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German Pages 987 [992] Year 2016
Sprache – Kultur – Kommunikation Language – Culture – Communication HSK 43
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer Mitherausgegeben (1985–2001) von Hugo Steger
Herausgegeben von / Edited by / Edités par Herbert Ernst Wiegand
Band 43
De Gruyter Mouton
Sprache – Kultur – Kommunikation Language – Culture – Communication Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft An International Handbook of Linguistics as a Cultural Discipline Herausgegeben von / Edited by Ludwig Jäger Werner Holly Peter Krapp Samuel Weber Simone Heekeren
De Gruyter Mouton
ISBN 978-3-11-022449-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-022450-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039371-2 ISSN 1861-5090 Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Dieses Handbuch unternimmt den Versuch, das nicht unproblematische Verhältnis von Linguistik und Kulturwissenschaft in einer sowohl analytischen als auch konstruktiven Perspektive in den Blick zu nehmen. Es hat also nicht den Anspruch, eine Subdisziplin, ein thematisches Feld oder ein methodologisches Paradigma der Linguistik darzustellen, sondern es versucht vielmehr vor dem Hintergrund vielfältiger innerdisziplinärer Ansätze einerseits und unübersehbarer Defizitbefunde andererseits die Konturen einer möglichen kulturwissenschaftlich begründeten Linguistik sichtbar werden zu lassen. Die konzeptionellen Erwägungen, die diesem Versuch zugrunde liegen, werden in der Einleitung ausführlich dargelegt. Als sehr verzögert abgeschlossenes Projekt hat das Handbuch eine auch für die Bände der HSK-Reihe ungewöhnlich lange Entstehungsgeschichte, die gegenüber den Autorinnen und Autoren und dem Verlag nur dadurch entschuldigt werden kann, dass es nun doch endlich seinen Abschluss gefunden hat und hiermit der Leserschaft vorgelegt wird. Bei den Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge in der Frühphase der Handbucharbeit eingebracht und die zwischenzeitlich die Hoffnung auf einen glücklichen Abschluss verloren hatten, möchten wir uns noch einmal in aller Form entschuldigen. Natürlich gab es im Verlauf der Projektgenese auch Arbeitsbeziehungen, in denen die Autorseite nicht unwesentlich an Verzögerungsprozessen beteiligt war. Schmerzlich ist dies insbesondere deshalb, weil sich diesem Umstand einige nicht mehr schließbare thematische Lücken verdanken. Freilich ist hier nicht der Ort, das weite Feld der Gründe für die Ausdehnung der Entstehungszeit des Handbuches auszubreiten. In gewissem Sinne heilt das glückliche Ende manche unglückliche Aberration, die den Verlauf der Arbeit beeinträchtigt hat. Überaus dankbar sind die Herausgeberin und die Herausgeber zunächst der von Geduld und fachlicher Expertise getragenen Kooperation der beteiligten Autorinnen und Autoren, die sich nicht nur auf das interdisziplinäre Projekt des Handbuchs, sondern auch auf die Wünsche und Vorschläge des Herausgeberteams bezüglich der Artikelschwerpunkte eingelassen haben. Schmerzlich war der unerwartete und allzu frühzeitige Tod von Wulf Oesterreicher, der die Endabnahme seines Artikels nicht mehr selbst vornehmen konnte. Danken möchten wir auch dem Verlag De Gruyter und hier insbesondere Barbara Karlson für ihre engagierte, kompetente, umsichtige, flexible, bei allen anfallenden Fragen geduldige und rundum angenehme Betreuung des Projektes. Sie stand von Anfang an und in allen Phasen der Entstehung stets für unsere Fragen zur Verfügung. Unser weiterer Dank gilt auf der Verlagsseite Birgit Sievert und nicht zuletzt Wolfgang Konwitschny, der auf der letzten Etappe den Herstellungsprozess ebenso kompetent wie besonnen betreut hat, sowie der Setzerei für die gründlichen Satzarbeiten. Dirk Michel (Mannheim) war für das Lektorat sowie die Manuskripteinrichtung verantwortlich. Wir sind ihm für seine überaus sorgfältige Arbeit sehr verbunden. Robert Koch (Aachen) danken wir für Übersetzungen ins Englische sowie für das zuverlässige Lektorat der meisten englischsprachigen Beiträge, Norbert Hornung und Michael Mertens (beide Aachen) für die Hilfe bei diversen redaktionellen Arbeiten.
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Preface Ein besonderer Dank gilt dem Reihenherausgeber Herbert Ernst Wiegand, auf dessen Anregung die konzeptionelle Idee des Handbuches zurückgeht. Die Herausgeber
Preface This handbook aims to examine the – rather problematic – relationship between linguistics and cultural studies from both an analytic and a constructive perspective. It does not lay claim to establishing a subdiscipline, a thematic area, or a methodological paradigm in linguistics, but rather seeks to outline the possible contours of a culturally founded linguistics, taking into account the numerous existing approaches as well as the obvious deficits of earlier research. The introduction to this volume will discuss in detail the conceptual foundations of this endeavor. The genesis of this handbook being unusually long and complex even for an HSK handbook project, we are truly happy to finally see it published, albeit with great delay, and wish to thank the contributing authors and the publisher for their patience. We would like to apologize again to those contributors who submitted their manuscripts early on and who may have lost hope, in the meantime, that this project would ever be completed. In some cases, it was contributors who let us down. In order to avoid further delays, we lastly had to accept a few painful thematic gaps. However, this is not the place and time to discuss the numerous reasons for why this publication got delayed. May the happy ending make up for the difficult and slow process and the hard work invested by all! The editors are highly grateful for the patience and expertise of all contributors, who were ready not only to get involved in this interdisciplinary handbook endeavor, but also to meet the editors’ wishes and suggestions concerning the structure and focus of their articles. For us all, the unexpected and untimely death of Wulf Oesterreicher came as a terrible shock, and although we are glad to be publishing his contribution, we regret that he was unable to complete the proof corrections himself. We also wish to thank De Gruyter publishers, above all Barbara Karlson, for her professional, competent, insightful, flexible, patient, and highly cooperative steering of this project. From beginning to end and throughout all phases of this endeavor, she provided valuable feedback and support. We are also grateful to Birgit Sievert, and not least to Wolfgang Konwitschny, who competently accompanied this volume in the final stages of production, as well as to the typesetters who worked very reliably and did a great job. We are deeply indebted to Dirk Michel (Mannheim), responsible for the copyediting and the formatting of the manuscript, who did an exceedingly careful job. Robert Koch (Aachen) provided translations and corrected most of the English articles, Norbert Hornung and Michael Mertens (both Aachen) assisted with other editorial tasks. Finally, a special thanks is owed to Herbert Ernst Wiegand, the HSK series editor, who provided the impulse for the conception of this handbook. The editors
Inhaltsverzeichnis/Contents Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.
I.
Einleitung · Ludwig Jäger, Werner Holly, Peter Krapp, Samuel Weber und Simone Heekeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V VI
1
Sprache – Wissenschaft – Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Language – discipline – culture: conceptual clarifications and disciplinary histories
2. Einführung: Sprache − Kultur − Wissenschaft · Helmuth Feilke
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9
Sprache und Wissenschaft: Disziplinenbildung, Disziplinierung Language and science: disciplining knowledge 3. 4. 5. 6.
Sprachwissenschaft Sprachwissenschaft Sprachwissenschaft Sprachwissenschaft
als Anthropologie · Jürgen Trabant . . . . und Philologie · Wulf Oesterreicher † . . . als Hermeneutik · Bernd Ulrich Biere . . . als Naturwissenschaft · Wolfgang Wildgen
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126 134 138 145
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156 164
Sprachbegriffe: Homogenisierungen – Ausblendungen Concepts of language: homogenizations and exclusions 7. 8. 9. 10.
Sprache und Sprachen · Iwar Werlen . . . . . . . . . Sprache und Schrift · Christian Stetter . . . . . . . . Sprache und Verständlichkeit · Eckhard Schumacher Sprache, Materialität, Medialität · Erika Linz . . . .
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Kulturbegriffe und Sprache Concepts of culture and language 11. Culture as sign/signifier/signifying · Samuel Weber . . . . . . . . . . . . . 12. Sprache und Kultur in der foucaultschen Diskurstheorie · Jürgen Link . . 13. Sprache in der bourdieuschen Kultursoziologie · Hans-Peter Müller und Eddie Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Clifford Geertz on language and theory of culture · James Siegel . . . . . 15. Sprache und Kultur in der Systemtheorie Luhmanns · Günter Burkart . . 16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften · Peter Krapp . . . 17. Die Rolle der Sprache in konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff · Hanjo Berressem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen · Friedrich Balke . . . .
VIII
Inhaltsverzeichnis/Contents
II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34.
Einführung: Kulturelle Semiosis · Dirk Hülst . . . . . . . . . . . . Semiotik · Ernest W. B. Hess-Lüttich . . . . . . . . . . . . . . . . . Rhetorik · Thomas Schirren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutik · Martin Gessmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theaterwissenschaft · Nikolaus Müller-Schöll . . . . . . . . . . . . Kunstwissenschaft (Bildkritik) · Gottfried Boehm . . . . . . . . . . Kybernetik · Michael Hagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationstheorie · Siegfried J. Schmidt . . . . . . . . . . . . Medienwissenschaft/Medientheorien · Georg Christoph Tholen . . Neue Kulturgeographie · Jeannine Wintzer und Doris Wastl-Walter Political science · James R. Martel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultursoziologie · Karl H. Hörning . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnologie · Heike Kämpf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie und Kognitionswissenschaft · Joachim Grabowski . . Psychoanalyse · Heinz Böker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . On the language of the history of science · Hans-Jörg Rheinberger
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179 191 211 224 234 244 259 267 274 283 294 301 315 322 330 341
35. Einführung: Kommunikation und Kulturalität · Angelika Linke . . . . . . . .
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III. Kulturen der Kommunikation Cultures of communication
Verfahren, Medien, Kommunikationsmodi in kulturellen Praktiken Procedures, media, and modes of communication in cultural practices 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49.
Performativität und Theatralität · Uwe Wirth . . . . . . . . . . Medialität, Intermedialität, Transkriptivität · Christine Domke Historizität · Jochen A. Bär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragen · Hartmut Winkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hybridisieren · Rainer Winter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archive and erasure · Sven Spieker . . . . . . . . . . . . . . . Verschlüsseln, verrätseln, verschweigen · Olaf Gätje . . . . . Literacy and narrative · Jens Brockmeier . . . . . . . . . . . . Mediale Kulturen: Bildlichkeit · Klaus Sachs-Hombach und Jörg R. J. Schirra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mediale Kulturen: Lautlichkeit · Cornelia Epping-Jäger . . . Mediale Kulturen: Audiovisualität · Werner Holly . . . . . . Digitalisieren · Wolfgang Ernst . . . . . . . . . . . . . . . . . Rituale · Christian Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mythologie/Mythos · Maria Moog-Grünewald . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis/Contents
IX
Diskursdomänen Domains of discourse 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60.
Wissenschaft/Bildung · Ekkehard Felder . . . Literatur · Joachim Jacob . . . . . . . . . . . . Kunst · Heiko Hausendorf . . . . . . . . . . . Architecture · Anthony Vidler . . . . . . . . . Religion · Hans-Georg Soeffner . . . . . . . . Politik · Ulrich Sarcinelli und Annette Knaut Justiz · Kent D. Lerch und Ralph Christensen Wirtschaft · Stephan Habscheid . . . . . . . . Sport · Helmut Digel . . . . . . . . . . . . . . Gesundheit · Florian Menz . . . . . . . . . . . Alltag · Angela Keppler . . . . . . . . . . . . .
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478 490 496 506 514 525 532 540 550 556 564
Erinnerungskulturen · Manfred Weinberg . . . . . . . . Wissenskulturen · Wolf-Andreas Liebert . . . . . . . . Intercultural communication · Jan D. ten Thije . . . . Genderdiskurse · Sabine Sielke . . . . . . . . . . . . . Politische Semantik/semantische Kämpfe · Josef Klein Sprachnormativität/Sprachnormen · Klaus Gloy . . . . Sprachkritik · Rainer Wimmer . . . . . . . . . . . . . . Politics and policies of language · Florian Coulmas . .
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571 578 587 600 607 617 625 635
69. Einführung: Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft · Dietrich Busse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
645
Metadiskurse Metadiscourses 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68.
IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Linguistics as the study of culture
Traditionen Traditions 70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung · Joachim Gessinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie · Jan Georg Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwandeltheorie · Dieter Cherubim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73. Kulturwissenschaftliche Orientierung in Dialektologie/Sprachgeographie · Helmut H. Spiekermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Grammatik/Syntax · Beatrice Primus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis/Contents 75. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik · Anja LobensteinReichmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der historischen Semantik · Ulrike Haß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Lexikologie · Heidrun Kämper 78. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Phraseologie · Harald Burger . 79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung · Hartwig Kalverkämper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Stilistik · Ulla Fix . . . . . . . 81. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Übersetzungswissenschaft · Radegundis Stolze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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730 737 748
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82. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Pragmatik · Frank Liedtke . . . 83. Culture and the notion of discourse · Wolfgang Teubert . . . . . . . . . . . . 84. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gesprächsforschung · Susanne Günthner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Textlinguistik · Kirsten Adamzik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Mündlichkeits-/ Schriftlichkeitsforschung · Uta M. Quasthoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Psycholinguistik · Clemens Knobloch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik · Thomas Niehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der linguistischen und sprechwissenschaftlichen Rhetorik · Norbert Gutenberg . . . . . . . . . . . . 90. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gestenforschung · Irene Mittelberg und Daniel Schüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gebärdensprachforschung · Gisela Fehrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Medienlinguistik · Ulrich Schmitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93. Cultural orientation in communication studies in the USA · Richard Fiordo . 94. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachdidaktik/ Transferlinguistik · Ingwer Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Computer- und Korpuslinguistik · Noah Bubenhofer und Joachim Scharloth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Neurolinguistik (Social Neurosciences) · Gisela Fehrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Linguistik · Werner Holly und Ludwig Jäger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
791 800
Neuorientierungen New directions
Index
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809 818 828 842 851 862 876 890 901 908 916 924 933 944 957
1. Einleitung 1. Ausgangssituation Dieses Handbuch legt seiner Konzeption einen wissenschaftshistorischen und systematischen Befund zugrunde, der im folgenden Abschnitt umrissen werden soll. Aus ihm leiten sich die Ziele (Abschnitt 2) und der Aufbau des Handbuchs (Abschnitt 3) ab. Die theoretische Wahrnehmung der Kulturalitätsdimension der Sprache fristete in der Geschichte der Sprachwissenschaft bis zu dem Verständniswandel, der sich in jüngerer Zeit abzuzeichnen beginnt, ein eher randständiges Dasein. In dem Maß, in dem sich die Sprachwissenschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts von ihrer philologischen Herkunft emanzipierte, machte sie sich zugleich ein disziplinäres Selbstverständnis zu eigen, das den Erkenntnisgegenstand Sprache aus dem kulturellen Bedingungsrahmen herauslöste, der am Beginn des Jahrhunderts noch für das frühe philologisch-hermeneutische Sprachverständnis etwa bei Wilhelm von Humboldt und Jacob Grimm bestimmend war. In einem fortschreitenden Entflechtungsprozess, der im Zuge einer allgemeineren disziplinären Ausdifferenzierung und Professionalisierung stattfand, wurden soziohistorische, kulturelle und mediale Szenarien sprachlicher und kommunikativer Verfahren zunehmend aus einem sprachwissenschaftlichen Forschungsfeld ausgegliedert, das in wachsendem Maß dazu tendierte, sich an naturwissenschaftlichen Standards zu orientieren. Zugleich wurden die abgespaltenen Dimensionen des Kulturellen von neu entstehenden kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen aufgenommen und in Subdisziplinen der Sprachwissenschaft verschoben, die immer mehr in die Peripherie des disziplinären Selbstverständnisses rückten. Aus diesem Grund hat die Sprachwissenschaft als Disziplin über einen langen Zeitraum an kultur- und medienwissenschaftlichen Debatten der Geistes- und Sozialwissenschaften nur zögerlich und insgesamt zu wenig teilgenommen. Freilich zeichnet sich hier gegenwärtig ein Wandel ab, der sich an verschiedenen Indizien ablesen lässt: etwa an der Thematisierung von Medialität und Intermedialität der Sprache im Rahmen der Jahrestagung 2009 des Instituts für Deutsche Sprache, an dem Sichtbarwerden kultur- und medienwissenschaftlich orientierter sprachwissenschaftlicher Fragestellungen im Forschungsrahmen der Semiotik und ihres Fachorgans Zeitschrift für Semiotik oder durch die linguistische Partizipation an kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsinitiativen wie etwa der Gründung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG) mit einer Sektion Sprache und kommunikative Praktiken sowie einer Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift (KWZ). Zu erwähnen wäre auch die Einrichtung des Netzwerks KULI – Kulturbezogene und kulturanalytische Linguistik. Perspektivisch skizziert wird dieser Wandel etwa durch das Themenheft Linguistik und Kulturanalyse der Zeitschrift für germanistische Linguistik (34[1/2] 2006). Gleichwohl kann, trotz dieser und weiterer Ansätze zu einer neuen kulturwissenschaftlichen Offenheit der Linguistik, allenfalls davon gesprochen werden, dass sich die strukturelle Lücke, die den Ort der Sprachwissenschaft auf dem kulturund medienwissenschaftlichen Diskursfeld lange markierte, in jüngerer Zeit zu schließen beginnt. Noch immer sind sprachwissenschaftliche Stimmen in der spätestens 1991 durch die Denkschrift Geisteswissenschaften heute von Frühwald und anderen angestoßenen kultur- und medienwissenschaftlichen Debatte nicht häufig zu vernehmen, während umgekehrt zahlreiche medien- und kulturwissenschaftliche Disziplinen die Anregung der
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1. Einleitung Denkschrift aufnahmen, den Zusammenhang von Sprache, Kommunikation und Kultur vor dem Hintergrund der durch moderne Kommunikationstechnologien bewirkten tiefgreifenden kulturellen Veränderungsprozesse in den Blick zu nehmen und zu reflektieren. Die Sprachwissenschaft dagegen erwies sich – vor ihrem disziplinengeschichtlichen Hintergrund nicht ganz unerwartet – auf theoretischer Ebene insgesamt doch einigermaßen indisponiert gegenüber Befunden, die die Verwebung kultureller, medialer und sprachlich-kommunikativer Prozesse sichtbar werden lassen. Sie verharrte lange in einer eigentümlichen Distanz zu jenem Ort kultureller Semiosis, der in den letzten Jahren in das Zentrum einer umfassenden kulturwissenschaftlich-interdisziplinären Analyse gerückt ist. Es ergibt sich also der bemerkenswerte Befund, dass es weithin die nicht genuin mit Sprache und Kommunikation befassten Disziplinen sind, die die Logik der kulturellen Semantik fokussieren, während umgekehrt die Sprachwissenschaft mit ihrer umfassenden fachlichen Expertise das Feld der kulturellen Semiosis entweder programmatisch als Gegenstand theoretischer Aufmerksamkeit ausblendet – oder es aber aus einem heterogenen Ensemble divergierender Perspektiven eher randständig in den Blick nimmt. Hier hat eine programmatische kulturalistische Integration etwa der soziolinguistischen, gesprächsanalytischen, mentalitäts- und kulturgeschichtlichen, textlinguistischen und sprachtypologischen Ansätze, um nur einige zu nennen, im Lichte eines integrierenden sprachtheoretischen Selbstverständigungshorizontes noch nicht stattgefunden. Auch wenn man einräumt, dass der die Debatte antreibende und bestimmende Begriff der Kultur, durch den die an ihr beteiligten Wissenschaften miteinander vernetzt sind, durch eine gewisse Unschärfe gekennzeichnet ist, bleibt es doch bemerkenswert, dass die Sprachwissenschaft nur allmählich und erst in jüngerer Zeit wieder damit beginnt, sich am Gespräch der Disziplinen über die symbolischen Ordnungen des Sozialen und die Netzwerke kultureller Kommunikation zu beteiligen und so einen Beitrag zur theoretischen und begrifflichen Klärung des Verhältnisses von Sprache und Kultur zu leisten. Insgesamt kann man sicher feststellen, dass dieses Problemfeld einen angemessenen Ort im disziplinären Horizont der Sprachwissenschaft noch nicht gefunden hat, obgleich ihm hier eine hohe theoretische und gegenstandskonstitutive Relevanz zukommt. Immerhin weist eine Reihe von jüngeren disziplinären Bewegungen darauf hin, dass sich die Konturen einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik abzuzeichnen beginnen. Ohne Zweifel darf deshalb eine umfassendere Reflexion sowohl der wissenschaftshistorischen und systematischen Gründe für die disziplinäre Distanz der Sprachwissenschaft zu den Kulturwissenschaften als auch der theoretischen Fragen des Verhältnisses von Sprache und Kultur als nicht unwichtiger Beitrag zur Herausbildung und Konsolidierung einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik angesehen werden. Einen solchen Beitrag möchte das vorliegende Handbuch in Ansätzen leisten und die Entwicklung eines sprachwissenschaftlichen Rahmens befördern und verstärken, der es erlaubt, die Kategorien Sprache, Kultur und Kommunikation theoretisch zu integrieren.
2. Ziele des Handbuchs Das zentrale Ziel des Handbuchs besteht vor dem Hintergrund der skizzierten Problemkonstellation darin, die kulturwissenschaftliche ‚Lücke‘ in der Sprachwissenschaft in
1. Einleitung ihrer wissenschaftshistorischen und systematischen Genese zu reflektieren sowie einen Beitrag zu ihrer Schließung zu leisten. Darüber hinaus möchte es im disziplinären Innenverhältnis der Sprachwissenschaft ein Diskursfeld markieren, auf dem die theoretische Modellierung eines ‚kulturalistischen‘ Sprachbegriffs ermöglicht und die Grundlagen einer Theorie der kulturellen Semiosis entwickelt werden können. Das Handbuch versucht hierbei, zumindest ansatzweise – und teilweise auch über die Grenzen der Geistes- und Sozialwissenschaften hinaus – eine Brücke zum internationalen Diskurs in den Kulturund Medienwissenschaften zu schlagen, soweit sich aus dieser Perspektive substanzielle Beiträge zu einem kulturalistischen Verständnis von Sprache erwarten lassen. Natürlich kann ein Handbuch nicht den Anspruch erheben, Paradigmenrevolutionen oder auch nur Richtungsänderungen disziplinärer Bewegungen zu bewirken. Seine zentrale Aufgabe besteht vielmehr darin, Perspektiven vorzulegen, die es erlauben, disparate Diskussionslinien und Wissensbestände historisch zu kontextualisieren und das Problemfeld Sprache, Kultur und Kommunikation systematisch zu profilieren. Die Artikel des Handbuchs sollen dazu beitragen, den Diskurs der Sprachwissenschaft mit den Kulturwissenschaften zu intensivieren, nicht zuletzt auch mit dem Ziel, die Linguistik wieder intensiver und über die bereits bestehenden Ansätze hinaus zu einem disziplinären Gesprächspartner auf dem Feld jener Kulturwissenschaften zu machen, die in der einen oder anderen Form die kulturelle Semiose als Erkenntnisgegenstand adressieren. Hiermit ist die Hoffnung verbunden, dass ein zugleich linguistisches und kulturwissenschaftliches Handbuch Sprache – Kultur – Kommunikation die Sprachwissenschaft auf dem Feld der Kultur- und Medienwissenschaften wieder näher an jenes Zentrum interdisziplinärer Diskurse rückt, das mitzubesetzen ihre Erkenntnisgegenstände eigentlich nahelegen.
3. Aufbau des Handbuchs Das Handbuch kann seiner Zielsetzung gemäß keinen strukturierend darstellenden Charakter disziplinär wohldefinierter Bereiche haben. Im Unterschied zu den klassischen HSK-Bänden dient es nicht der konzeptuellen Erschließung eines bestehenden fachlichen oder theoretischen Forschungsfeldes. Vielmehr intendiert es die historische und systematische Konturierung eines heterogenen Feldes an Theoriebeständen, die so aufeinander bezogen werden sollen, dass die Verwebungen von Sprache, Kultur und Kommunikation sichtbar werden. Das Handbuch besteht aus vier Abteilungen, die jeweils durch einen Kopfartikel eingeleitet werden. Dabei folgt die Anordnung der Abteilungen einer systematisch motivierten Zeitlogik: Abteilung I hat die Aufgabe, in historischer Einstellung die Voraussetzungen zu analysieren, denen sich der dem Handbuch zugrunde liegende Befund einer Dissoziierung von Sprache und Kultur verdankt. Die Abteilungen II und III dokumentieren aus zwei verschiedenen Perspektiven den Istzustand: die verschiedenen theoretischen Erfassungen des Verhältnisses von Sprache und Kultur (II) sowie das heterogene Feld ihres Zusammenhanges (III). Abteilung IV schließlich versucht eine perspektivische Bestandsaufnahme und macht auf ihrer Grundlage erste Konturen einer als Kulturwissenschaft zu konzipierenden Sprachwissenschaft sichtbar. Die Ziele und Fragestellungen der einzelnen Abteilungen werden im Folgenden erläutert.
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1. Einleitung
I. Sprache – Wissenschaft – Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Language – discipline – culture: conceptual clarifications and disciplinary histories Aufgabe der Abteilung I ist es, die wissenschaftshistorischen und systematischen Ursachen freizulegen, denen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein Prozess der Disziplinenbildung in der Sprachwissenschaft verdankt, der wesentlich bestimmt war durch die zunehmende Ausgliederung kultureller Bestimmungsmomente von Sprache aus den Versuchen ihrer Konzeptualisierung. In den Artikeln der Abteilung I sollen also die Entwicklungslinien der disziplinären Herausbildung der Sprachwissenschaft im Hinblick auf die Umstände analysiert werden, die zu einer Ausblendung soziohistorischer, kultureller und medialer Szenarien geführt haben. Die Disziplinenbildung der Sprachwissenschaft wird dabei entlang verschiedener fachlicher Traditionen – soweit sich in ihnen noch das Ganze der Verwobenheit von Sprache, Kultur und Kommunikation spiegelt – sowie im Hinblick auf die schrittweise Entflechtung dieses Beziehungsgeflechts nachgezeichnet. Kontextualisiert wird die Analyse dieses Prozesses darüber hinaus durch eine Darstellung verschiedener theoretischer und philosophischer Ansätze des begrifflichen Zusammenhangs von Sprache und Kultur.
II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines In Abteilung II wird die Frage nach der Kulturalität von Sprache, also die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Kultur als die Frage nach dem Stellenwert der sprachlichen Semiose im gesamten Feld kultureller Symbol- und Zeichenprozesse, gestellt. Die Artikel dieser Abteilung werfen aus der Perspektive verschiedener geistes-, sozial- und naturwissenschaftlicher Disziplinen Licht auf das Problem des Verhältnisses von Sprache zu anderen Zeichen- und Symbolsystemen, insbesondere im Hinblick auf ihren Beitrag zur Konstituierung von Kultur. Das Problemfeld reicht dabei von der Semiotik und der Kunstwissenschaft bis zur Ethnologie, der Soziologie, der Psychoanalyse sowie der Medientheorie, wobei sich trotz intensiven Bemühens der Herausgeber einige schmerzliche sachliche Lücken leider nicht schließen ließen.
III. Kulturen der Kommunikation Cultures of communication In Abteilung III wird der Zusammenhang von Kultur als einem Ensemble gesellschaftlicher Praktiken und den mit diesen Praktiken vernetzten Kulturen der Kommunikation unter drei strukturellen Gesichtspunkten thematisiert. Zunächst im Hinblick auf Verfahren und Medien kultureller Praxis, das heißt im Hinblick auf elementare Verfahren und Formen der Prozessierung von Zeichen sowie auf Medien und Kommunikationsmodi,
1. Einleitung die als Bausteine für die Bedeutungsgenerierung zur Verfügung stehen. Zum Zweiten soll die kulturelle Kommunikation in den Diskursdomänen dargestellt werden, in denen sie prozessiert wird: als Textsorten, in institutionellen Verfahren bzw. in kommunikativen Situationen – so etwa im Bildungswesen, in Literatur und Kunst, in Religion und Politik, in Wirtschaft und Justiz, in Sport und Gesundheit und im Alltag. Zum Dritten soll deutlich werden, dass in Kulturen der Kommunikation in Metadiskursen immer auch ihre Grundlagen reflektiert sowie Konflikte ausgehandelt werden: in Metadiskursen etwa, die die kulturelle Erinnerung verhandeln, oder in solchen, in denen etwa Sprachnormkonflikte oder semantische Kämpfe ausgefochten werden.
IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Linguistics as the study of culture Abteilung IV entwirft theoretische Umrisse einer kulturwissenschaftlich zu konzeptualisierenden Linguistik in einer zweifachen Perspektive: Zum einen nimmt sie kulturwissenschaftliche Traditionen in bestehenden Teiltheorien der Sprachwissenschaft in den Blick, die bislang mehr oder minder implizit geblieben sind; zum anderen fokussiert sie die Perspektiven einer entsprechenden Neuorientierung der Linguistik, wie sie in verschiedenen ihrer Subdisziplinen vor allem in jüngerer Zeit explizit vertreten worden sind. Es geht in diesen beiden Abschnitten der Abteilung IV ausdrücklich nicht darum, Subdisziplinen der Linguistik, in denen sich implizite oder explizite kulturwissenschaftliche Anteile auffinden lassen, in enzyklopädischer Manier darzustellen, sondern vielmehr darum, perspektivisch jenen Bestand in der Sprachwissenschaft sichtbar zu machen bzw. zusammenzuführen, von dem sich ein substanzieller Beitrag für das Programm einer kulturwissenschaftlichen Linguistik erwarten lässt. Den Abschluss der Abteilung IV bildet deshalb ein perspektivischer Artikel, in dem vor dem Hintergrund der Erträge des Handbuchs die Grundlagen für ein solches Programm noch einmal kurz umrissen werden. Ludwig Jäger, Aachen/Köln (Deutschland), Werner Holly, Chemnitz (Deutschland), Peter Krapp, Irvine (California, USA), Samuel Weber, Evanston (Illinois, USA), Simone Heekeren, Aachen (Deutschland)
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Language − discipline − culture: conceptual clarifications and disciplinary histories
2. Einführung: Sprache − Kultur − Wissenschaft 1. Sprache 2. Kultur
3. Wissenschaft 4. Literatur (in Auswahl)
„Wenn jemand dort anfangen müsste, wo Adam anfing, würde er nicht weiter kommen als Adam.“ (Popper [1967] 2000b: 55)
Der folgende Beitrag stellt im ersten Kapitel den Diskurs zu Sprache, Kultur und Wissenschaft in einer kursorisch problemgeschichtlichen Sicht auf die Sprachwissenschaft(en) im 19. und 20. Jahrhundert vor. Das zweite Kapitel referiert unter einem systematischen Aspekt Kernargumente für die These einer genuinen Kulturalität der Sprache. Das dritte Kapitel geht vor diesem Hintergrund auf die Diskussion zur Wissenschaftlichkeit einer Kulturfaktoren einbeziehenden Sprachforschung ein.
1. Sprache Sprache ist ein in exemplarischer Weise aspektheterogener Gegenstand: Sie ist individuell wie sozial geprägt, sie ist handlungsbezogen und zugleich hochgradig handlungsfern strukturiert, sie ist biologisches Merkmal der Gattung Mensch und zugleich in ihrer historischen Entwicklung grundlegend von soziokulturellen Faktoren bestimmt. Der Diskurs der Sprachwissenschaft in den letzten 200 Jahren ist gekennzeichnet von diesen Spannungsverhältnissen. Die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, dem biographisch Humboldt schon und dem de Saussure noch angehört, zeichnet sich vor allem in der zweiten Hälfte dadurch aus, dass außerhalb der Sprachwissenschaft in den Sozialwissenschaften (Durkheim, Marx), der Psychologie (Wundt, Herbarth) und der Biologie (Darwin) Schlüsseltheorien mit hohem Erklärungsanspruch auftreten, die nicht nur Denkmodelle auch für das Feld der Sprache liefern, sondern die die junge Sprachwissenschaft im Blick auf ihr Gegenstandsverständnis mit den methodologischen Prämissen einer empirisch-naturwissenschaftlichen Forschung konfrontieren. In dieser Hinsicht ist de Saussures beobachterreflexive, den Gegenstand explizit konstruierende und deduktivisolierende Methodologie (vgl. Scherer 1980: 73−76) schon zwei Generationen weiter als die im deutschen Idealismus verankerte und die anthropologisch-kulturelle Totalität der Sprache einbeziehende Sprachauffassung Humboldts, die nicht zuletzt wegen ihres methodisch offenen und philologisch-literarischen Weitblicks außerordentlich divergente Rezeptionstraditionen begründet hat (vgl. Trabant 1990). Das Programm der „Herauslösung der Sprachwissenschaft aus dem Dienstbotentrakt der Philologie“ (Maas 2010b: 132) kam − gewissermaßen zwischen Humboldt und de Saussure − mit dem naturwissenschaftlich inspirierten Forschungsprogramm der junggrammatischen Schule in Gang. Einhauser (2001) charakterisiert sie entsprechend als antiphilologisch, antikollektivistisch und antispekulativ. Die „Anti“-Attribute verweisen auf die Rolle der fachinternen methodischen Kontroversen als Movens der Entwicklung. Die externe Anpassungsrichtung wird positiv von den Erwartungen der sciences, d. h. der naturwissenschaftlich exak-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte ten Wissenschaften, vorgegeben: Empirizität und Messbarkeit der zugeschriebenen Eigenschaften, Formalisierung der Beschreibungssprache, prognostische Validität der Erkenntnis. Aber das Streben nach der Emanzipation von der Philologie − das als Topos bis in die pragmatische Wende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts wiederholt wird (vgl. Feilke 2000) − kann den im Kern positivistisch nicht fassbaren Gegenstand der Sprachwissenschaft, die Erklärung der Genese und der Organisationsformen sprachlicher Bedeutung, nicht einfach aufgeben. In dieser Hinsicht ist de Saussures Methodologie, die auf die Rekonstruktion der Sprache als semiotisches System zielt, dann wiederum als Gegenbewegung zu einer naturwissenschaftlich szientistischen Programmatik zu verstehen (vgl. Jäger 2010). Sie ist eine genuin kulturelle Theorie der Sprache als einer durch Zeichenprozesse erzeugten Bedeutungsordnung. Die kurze Erörterung verdeutlicht, dass die Gegenstandskonstitution, das methodische Selbstverständnis und das Streben nach institutioneller Autonomie der Sprachwissenschaft direkt ineinandergreifen. Dabei ist die Entwicklung früh durch ein Schema von Bewegungen und Gegenbewegungen zwischen verschiedenen Polen gekennzeichnet. Die Totalität der Sprache wird − mit jeweils explanatorischem Anspruch − modellbildend reduziert, entweder auf den Aspekt ihrer organismisch-individuellen Grundlagen, auf den Aspekt ihres Funktionierens als ein System von Zeichen oder auf den Aspekt ihrer soziopragmatischen Funktion im Sprechen (vgl. Feilke 1996: 15−32). Die Kulturalität der Sprache ist dabei primär ein Thema der beiden letztgenannten, d. h. der semiotischen und der soziopragmatischen Reduktionstraditionen. Es ist auffällig, dass im Fachdiskurs zur Kulturalität der Sprache zentrale Positionen und Argumente immer dann entwickelt worden sind, wenn es darum ging, auf das Gebiet der Sprache vordringende theoretisch und methodologisch szientistische Positionen zurückzuweisen. Unter Szientismus verstehe ich dabei ein Wissenschaftsverständnis, das sich nicht nur an Erkenntnisansprüchen und Methoden der Naturwissenschaften orientiert, sondern verbunden ist mit einem positivistischen Reduktionismus, der beansprucht, soziale und psychische Zustände nicht nur physikalisch beschreiben, sondern auch erklären zu können (vgl. Popper [1965] 2000a). Varianten des Szientismus reduzieren soziale und psychische Zustände auf biologisch-genetische bzw. neurobiologische des Nervensystems der beteiligten Organismen. Im Bereich der Analyse sozialer, d. h. nicht organismisch, sondern durch Kommunikation zustande kommender Ordnungen hat der Szientismus üblicherweise eine strikt auf den individuellen Organismus reduzierte Gegenstandsbestimmung und Erklärungsstrategie zur Folge. Begriffe wie Kommunikation, Gesellschaft, Kultur, Zeichen, Sprache, Text müssen danach nicht nur als Individuenzustände analysiert werden (z. B. als Wissen), sie müssen auch organismisch erklärt werden. Das führt zu der Paradoxie, dass in der Definition derartiger Konzepte, die nur durch ihre supraorganismische Funktion sinnvoll operationalisierbar sind, genau diese Funktion und mit ihr zusammenhängende Größen wie Historizität, Verhaltenskontexte, Materialität und Medialität, Verhaltensphänotyp etc. als sogenannte Epiphänomene aus dem Erklärungszusammenhang ausgegrenzt werden müssen. Dies motiviert Widerspruch und sichert einen den Diskurs antreibenden Antagonismus. Retrospektiv möchte ich drei Phasen der Rekonfiguration des kontroversen Feldes hervorheben, die im Blick auf den Diskurs zur Kulturalität der Sprache jeweils neue Fundamente gelegt haben. Die Phasen sind untereinander keineswegs durch Kontinuität verbunden; eher stellen sie im Rückblick exemplarische Kristallisationspunkte der Dis-
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft kursentwicklung dar. Jede Phase ist dabei durch den Zusammenhang einer szientistischen Bewegung und einer kulturalistischen Gegenbewegung gekennzeichnet. Phase 1 betrifft das junggrammatische Forschungsprogramm und die dadurch ausgelöste Diskussion über Gegenstand und Methoden der Sprachwissenschaft. In Absetzung vom historisch-spekulativen Biologismus Schleichers, der die Sprache selbst als lebenden Organismus sah, insistieren die Junggrammatiker auf einer streng am „menschlichen Sprechmechanismus“ und darauf bezogenen Beobachtungsdaten orientierten Forschung. Statt der philologischen Rekonstruktion einer indogermanischen Ursprache und der Konstruktion entsprechender „Stammbaumtheorien“ fordern sie die Orientierung am beobachtbaren Sprechen, das zu allen Zeiten gleichbleibenden „ausnahmslosen“ Lautgesetzen unterliegen müsse (vgl. Einhauser 2001). In dieser Hinsicht ist das kulturwissenschaftliche Programm von Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte ([1880] 1995) schon nicht mehr ohne Weiteres dem szientistischen Anspruch der Junggrammatiker zuzuordnen. Dafür spricht seine dezidierte Abwendung von der Idee einer Sprachwissenschaft, die sich als Gesetzeswissenschaft versteht, die Hinwendung zum Bedeutungswandel und ein Analogie- und Musterkonzept, das auf das Kriterium der sozialen Legitimität neuer Ausdrucksbildungen abstellt (vgl. dazu Feilke 1996: 95, 233). Nominell biographisch sind Philipp Wegeners Untersuchungen zu den Grundfragen des Sprachlebens (1885) dem Dunstkreis der Junggrammatiker noch zuzuordnen; faktisch bilden sie eine der oft zitierten Grundlagen für einen pragmatisch-kulturorientierten Sprachbegriff, der erstmals in die grammatische Analyse systematisch die Kontexte des Sprechens, bei Wegener „Situation der Anschauung“, „Situation der Erinnerung“, „Situation des Bewußtseins“, „Stimmungen“ und „herrschende Ideen einer Zeit“ und eben auch die „Cultursituation“, mit einbezieht (vgl. Wegener 1885: 21−27). Wegener wirkt dadurch weit in das 20. Jahrhundert hinein, direkt etwa auf Karl Bühler, aber auch auf die Kontextualisten Malinowski, Gardiner, Firth, die ihn zitieren (vgl. Nerlich 1986: 156; Nerlich and Clarke 1996). In dieser Hinsicht sind Paul und Wegener einerseits vom junggrammatischen Programm geprägt, werden jedoch zu jeweils eigenständigen Bezugspunkten eines kulturorientierten Sprachbegriffs, der sich davon gerade absetzt. Diese Absetzbewegung hat am deutlichsten de Saussure markiert. Zum weiteren Kontext der Gegenbewegung am beginnenden 20. Jahrhundert zählt dann vor allem auch die in der Romanistik einflussreiche Neuphilologie, wobei auch hier der Name Programm ist: Karl Voßler und Leo Spitzer etwa verstanden sich mit Forschungsfeldern wie Stilanalyse, künstlerische Sprache, Wortgeschichte und Kultur als philologische „Neuerer“ in der Tradition Humboldts (vgl. hierzu ausführlich Maas 2010b: 129−148). Phase 2 vollzieht sich nicht innerhalb der akademischen Linguistik, sondern mit einem Schwerpunkt in den 1920er-Jahren im Wesentlichen in der Psychologie mit einem Fokus auf Sprache und mit weitreichenden Folgen auch für die akademische Linguistik selbst. Bis heute nachhaltig wirksame Fundamente einer kulturorientierten Sprachauffassung werden in dieser Phase von George Herbert Mead, Karl Bühler und Lew S. Wygotski gelegt. Gegen das u. a. bei Humboldt prominente Verständnis des Sprechens als Gedankenausdruck des Sprechers setzen sie eine genuin pragmatische, auf die wechselseitige kommunikative Orientierung von Sprecher und Hörer und auf die entsprechende Spracherfahrung abstellende Konzeption. Damit wenden sie sich gegen die in der experimentellen Psychologie der Jahrhundertwende vorherrschende, von Wilhelm Wundt vorgetragene These des „psychophysischen Parallelismus“, nach der das physische Sprechen als unmittelbarer Ausdruck psychischer Zustände (Erlebnisse, Assoziationen, Begriffe,
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Gedanken) zu erklären sei. Alle drei genannten Autoren grenzen sich insbesondere aber auch explizit scharf ab vom szientistisch-behavioristischen Paradigma einer Erklärung individuellen Verhaltens ohne Rekurs auf die Kategorie Bedeutung. Stattdessen führen sie soziales Verhalten auf Bedeutungsverstehen und dieses − sprachstrukturell vermittelt − auf den in der Kommunikation intersubjektiv erarbeiteten und sozial objektivierten Handlungssinn zurück. Dabei unterscheiden sich Mead, Bühler und Wygotski untereinander vor allem in der Akzentsetzung: Für Mead geht es − im Sinn einer Antwort auf die darwinsche Evolutionstheorie − um die Bedingungen der Möglichkeit kultureller Evolution, insbesondere auch der Entwicklung von Werten, personaler Identität und intelligentem Geist. Grundlage dafür ist die Klärung der Frage, wie die soziale Genese signifikanter sprachlicher Symbole aus der Pragmatik einer vorsymbolisch gestischen Kommunikation erklärt werden kann. Bühler fokussiert insbesondere in seiner Sprachtheorie ([1934] 1982) im Unterschied zu Mead die sprachliche Struktur selbst. Sie ist für ihn ein im Gebrauch emergentes „Gebilde des objektiven Geistes“ (Bühler [1927] 2000: 85), wobei für ihn im Unterschied zur strukturalistischen Orthodoxie das Sprechen und seine Bedingungen den Zugang zum Verständnis der Zeichengestalt bilden. Wygotski schließlich ist derjenige, für den das Verhältnis von Soziogenese und Ontogenese in der Aneignung einer Sprache und einer Kultur zum Hauptthema wird. Mit der Akzentuierung der Rolle der Schrift und des schulischen Unterrichts ist er auch derjenige von den dreien, der explizit und in extenso genuin kulturelle Größen in die Theoriebildung mit einbezieht. Wygotski wird damit zum Hauptgewährsmann kulturtheoretisch argumentierender Konzepte in der Entwicklungspsychologie und Spracherwerbsforschung (vgl. z. B. Oerter 1998; Andresen 2005). Die sprachorientierte, von den Leistungen des Sprechens ausgehende psychologiekritische Haltung der Autoren findet exemplarischen Ausdruck in Bühlers Die Krise der Psychologie (1927), wo er schreibt: „Ich bin nicht ausgezogen, um die Psychologie zu reformieren, sondern um die Axiome der Sprachtheorie zu finden“ (Bühler [1927] 2000: 49). Für Bühler wie für Mead werden aus dem Spektrum individuell möglicher Verhaltensweisen und Ausdrucksgesten nur diejenigen zeichenhaft semantisch geladen, „die irgendwie kurzerhand das Benehmen anderer Gemeinschaftsglieder zu steuern berufen sind“ (Bühler 2000: 62). Bühler hebt abschließend hervor, was ihm das Argument bedeutet: „Soviel von dem ersten Leitgedanken einer Ursprungstheorie der Semantik“ (Bühler 2000: 62 [Hervorh. HF]). Hieran schließt sich eine an der sozial-kulturellen Selektivität wechselseitigen Verhaltens orientierte Aufgabenbestimmung für die Theorie des sprachlichen Handelns an. Sie hat die Frage zu klären, „wie sich aus dem unübersehbaren Reich sinnloser Möglichkeiten das System des sinnvollen Benehmens heraushebt“ (Bühler 2000: 68). Die Formulierung kann als programmatisch für die Fragestellungen einer kulturorientierten Linguistik gelten. Das erste und fundamentale Axiom der Sprachtheorie Bühlers von 1934 ist das Verständnis der Sprache als soziopragmatisch konstituiertes Zeichen mit Gestaltqualität im Sinn der Gestaltpsychologie. Bühler wendet dabei einerseits gestaltpsychologische Grundkategorien auf den Begriff des Sprachzeichens an, andererseits ist der erst soziopragmatisch aus der Sprechtätigkeit zu gewinnende und also nicht genuin psychologische Handlungssinn das integrative Moment sprachlicher Zeichen und ihrer Ordnungen. In der Sprachphilosophie der 1920er- und vor allem 1930er-Jahre entwickeln − inhaltlich affin zu Meads, Bühlers und Wygotskis sozial-konstruktivistischen Sprachbegriffen − vor allem Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Wittgensteins Phi-
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft losophische Untersuchungen nachhaltig einflussreiche Argumente und Konzepte zur kulturellen Kontextuierung des Sprechens. Cassirer interessieren Fragen der Epistemik und Wissenschaftstheorie und das jeweils kulturell spezifisch ausgestaltete Netz symbolischer Formen. Wittgensteins Konzepte des „Sprachspiels“ und der „Lebensform“ erlangen durch die Alltagsnähe seiner Argumentation, aber auch durch den biographischen Kontrast zur frühen akulturalistischen Sprachphilosophie seiner „Logisch-philosophische[n] Abhandlung“ breite Aufmerksamkeit. Phase 3 setzt ein mit Chomskys kognitivistischer Wende in der Sprachtheorie, deren philosophische Grundlagen und biologisch-organologischer Sprachbegriff einem kulturorientierten Sprach- und Kompetenzbegriff diametral entgegenstehen. Bemerkenswert ist dabei, dass die generativ-grammatische Reduktion der sprachlichen Kompetenz ihrerseits als rationalistisch-szientistische Reaktion auf die empiristisch-szientistische Methodologie des Behaviorismus entsteht. Die von Chomsky mit seiner Skinner-Rezension 1959 initiierte Kontroverse bezieht sich bei durchaus konkordanten methodischen Ansprüchen (Messbarkeit der Daten, formalisierte Beschreibungssprache, prognostische Validität) auf den Gegenstand selbst, der zum einen behavioristisch als individuelles Sprachverhalten (e-language) und zum anderen generativ als universalgrammatische Kompetenz des Individuums (i-language) bestimmt wird. Die von Chomskys rationalistischer Argumentation nahegelegte Analogie mathematischer und sprachlicher Strukturen legitimiert dabei zugleich die Zurückweisung empiristisch-positivistischer Ansprüche der Datenorientierung. Sprache wird deduktiv-theoretisch als biologisch verankerte universale und damit notwendig hochabstrakte geistige Struktur des individuellen Organismus definiert. Was auch immer Sprecher durch ihre Verhaltenskoordination an kulturell bedeutsamen Verhaltenskomponenten erstmals etablieren und selegieren mögen, es muss lediglich analysiert werden können als eine Projektion universalgrammatischer Möglichkeiten und Beschränkungen in den Gebrauch, die im Blick auf die empirischen Daten logischerweise unterbestimmt bleibt. Damit ist eine von außerhalb des Paradigmas kaum angreifbare, in gewisser Weise selbstimmunisierende Argumentationsposition gewonnen, die freilich seither vielfache Kontroversen außerhalb wie innerhalb der Linguistik provoziert hat (vgl. z. B. entwicklungstheoretisch und spracherwerbsbezogen: Piatelli-Palmarini 1980; KarmiloffSmith 1992; Tomasello 1995, 2003; philosophisch: Searle 1980; linguistisch: Suchsland 1992; Jäger 1993a, 1993b; Harris 1995; Elman et al. 1996; Kibbee 2010). Es ist nicht möglich, die in den letzten 50 Jahren durch die generative Grammatik provozierten kulturorientierten sprachtheoretischen und methodologischen Konzepte nur annähernd zu umreißen. Systematisch können vier kritische Argumente unterschieden werden. Das erste Argument sieht die Basisunterscheidung von Kompetenz und Performanz als theorieimmanent notwendige Folge eines nicht reflektierten Skriptizismus. Überdies lege die generative Theorie einen symbolzentrierten Sprachbegriff zugrunde, der die sprachmediale Qualität von Performanzen − etwa die Intonation bei der Disambiguierung strukturell ambiger Ausdrücke − theoretisch ausblendet (Harris 1980; Stetter 1997: 259− 269; Ágel 2003: 4−14). Das zweite Argument betrifft die bedeutungsgenerierende Rolle spezifischer Ausdrucksoberflächen. In der Konstruktionsgrammatik etwa lizensiert das Konstruktionsschema den Status der Komponenten und kann dabei auch kategorialgrammatische Beschränkungen ignorieren, etwa die Intransitivität oder auch die Nichtdirektionalität des Verbs in sogenannten caused motion constructions wie She sneezed the napkin of the table (vgl. zur Diskussion z. B. Feilke 2007; Knobloch 2009). Korpusanalysen belegen
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte das Gewicht kontextuell geprägter Oberflächen für die Erklärung des Gebrauchs (vgl. Léon 2010). Dies führt auch innerhalb der generativen Theorie zum Plädoyer für die Einbeziehung von Performanzbedingungen für die Erklärung grammatischer Strukturen (z. B. Culicover and Jackendoff 2005; Primus 2009). Das dritte Argument betrifft die Diachronie. Die Grammatikalisierungsforschung belegt einen über pragmatisch-kontextuelle Inferenzen vermittelten Übergang von Formen aus pragmatisch bestimmten Kontexten in grammatisch bestimmte Funktionen. Das widerspricht der Idee einer Universalgrammatik (zur Diskussion vgl. Haspelmath 2002; Christy 2010). Für eine historisch viable, explanative Sprachtheorie (vgl. Ágel 2001) ist es aber ein notwendig zu erklärendes Datum. Das letzte Argument bezieht sich auf die poverty-of-stimulus-Annahme, die auch als Platos Problem bekannt ist (vgl. z. B. Fanselow und Felix 1987: 114−127). Danach reicht der Input im Erwerb nicht aus, um den Grammatikerwerb erklären zu können. Vor allem Tomasello (1995, 2002, 2003) argumentiert hier, die generative Theorie berücksichtige als Folge des impliziten Skriptizismus nicht hinreichend die mit neuen Methoden nachweisbare Vielfalt non- und paraverbaler Strukturinformation (richness of stimulus), die das Kind verarbeitet. Zudem zeige sich, dass es im frühen Spracherwerb keine grammatische Symbolverarbeitung gebe und diese erst über Stadien eines Mustererwerbs im Sinn der Konstruktionsgrammatik aufgebaut werde. Diese Kritik an der generativen Grammatik steht exemplarisch für eine in den 1980er-Jahren einsetzende und bis heute andauernde Neuorientierung in der Linguistik, die vielfach auch unter das Signum eines cultural turn gestellt worden ist: Für eine explanativ adäquate Sprachtheorie wird u. a. gefordert, 1. dass sie den medialen language-bias (Harris 1980; Linell 2005) berücksichtigt und den empirisch nachweislichen Zusammenhang von Medialität und symbolischer Konzeptionalität der Sprache erklärt (Jäger und Linz 2004), 2. dass sie performanzorientiert vorgeht, um die faktischen Verschränkungen von (lexiko)grammatischer und pragmatischer Strukturierung erklären zu können (Ágel und Hennig 2006; Primus 2009), und 3. dass an die Stelle universalabstrakter Kategorien eine konsequent oberflächenbezogene Analyse tritt, um sowohl innersprachlichen Ordnungsaufbau im Erwerb als auch die situativen und kulturellen Kontextualisierungsleistungen des Gebrauchs erklären zu können (Gumperz 1982; Auer 1986; Tomasello 2002, 2003).
2. Kultur Das folgende Kapitel stellt die Diskussion zu Kultur, Natur und Sprache in einer systematischen Perspektive vor. In welchem Verhältnis stehen die Begriffe zueinander und wie sind die Abhängigkeitsbeziehungen zu sehen? Der erste Abschnitt thematisiert das Verhältnis natürlicher und kultureller Entwicklung. Im zweiten Abschnitt wird ein Verbund theoretischer Konzepte vorgestellt, die im Fachdiskurs zur Kulturalität der Sprache und ihren kulturkonstitutiven Leistungen eine grundlegende Rolle spielen.
2.1. Zur natürlichen Kulturalität der Sprache Kultur, Natur und Sprache sind „Totalitätsbezeichnungen“ (Hermanns 1999), die extensional schwer gegeneinander abzugrenzen sind. Der Diskurs zum Verhältnis der Konzepte
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft wird strukturiert durch den Gegensatz von Natur und Kultur. Nach dem Standpunkt der philosophischen Anthropologie ist die durch Handeln hervorgebrachte Kultur die „zweite Natur“ (Gehlen 1978: 38) des Menschen. Eine autonome kulturelle Entwicklung − auch der Sprache − ist danach eine direkte Folge der biologischen Konstitution des Menschen. Die Gattung ist nach dieser weithin unstrittigen Auffassung nur durch die kulturelle Formung der physischen, psychischen und sozialen Welt im Sinn Poppers überlebensfähig (vgl. Popper [1967] 2000b, [1977] 2000c). Natur und Kultur der Sprache sind unter dieser Prämisse nicht sinnvoll gegeneinander in Stellung zu bringen. Auch die seit 30 Jahren einflussreichen Theorien zur Selbstorganisation dynamischer Systeme sehen eine durch evolutionäre Differenzierung natürlicher und kultureller Evolution bestimmte Entwicklung (vgl. dazu z. B. Jantsch 1986: 221−251). Die Autonomie soziokultureller Evolution steht dabei außer Frage. Sprache ist als ein evolutionärer Möglichkeitsraum für Strukturbildung zunächst in wesentlicher Hinsicht biologisch präformiert. Biologisch-anthropologische Determinanten begrenzen das Spektrum möglicher Sprachen (vgl. Lenneberg [1967] 1977). Sprachen sind beispielsweise nicht notwendig phonetisch basiert, wie das Beispiel der Gebärdensprache zeigt, aber sie können phonetisch basiert sein. Kinder sind bis zum Alter von etwa einem Jahr in der Lage, phonetische Qualitäten zu unterscheiden, die in ihrer L1 nicht vorkommen (Blakemore und Frith 2006: 61). Ab dem ersten Lebensjahr dominieren die phonologischen Präferenzen der L1-Umgebung auch die Fähigkeit zur Lautunterscheidung. Dass Optionen dieser Art überhaupt existieren, ist wesentlich gattungsspezifisch-anthropogen und also biologisch bestimmt. Dabei scheint es wenig sinnvoll, stets nur von der Sprache in toto zu reden. Der seit den 60er-Jahren andauernde Streit, insbesondere mit der generativen Grammatik, zum Verhältnis von nature und nurture (vgl. Jäger 2009) betrifft im engeren Sinn nur die Syntax (vgl. etwa Suchsland 1992), während für lexikalisch-semantische und pragmatische Ordnungen die Handlungs- und Erfahrungsabhängigkeit auch der Kategorienbildung kaum in Abrede gestellt werden (vgl. Hickmann 2000; Hoff-Ginsberg 2000; Keller 2000; Menyuk 2000). Eine für das Verhältnis natürlicher und kultureller Determinanten kritische und kontrovers diskutierte Größe ist die menschliche Symbolfähigkeit. Sie steht zwischen nativer Präformierung und kultureller Evolution. Tomasello (2002: 23−70) − nativistischer Positionen unverdächtig − zeigt etwa, dass die Symbolfähigkeit zwar rudimentär auch bei Primaten ausgebildet ist, dass aber die für intentional kommunikatives Handeln zentrale Fähigkeit, beobachtete Folgebeziehungen von Ereignissen als kausale Wirkungen nicht beobachtbarer Ursachen zu interpretieren, gattungsmäßig für den Menschen exklusiv und damit biologisch präformiert ist. Aus der hier eingenommenen Perspektive folgt notwendig auch die komplementäre These. Danach ist Sprache in ebenso fundamentaler Hinsicht kulturabhängig, denn die auf genetischer Präformation beruhende biologische bzw. neurophysiologische Konstitution von Menschen ist „prinzipiell unterbestimmt“ (Stern, Grabner und Schumacher 2005: 30 ff.). Sie kann die stets ökologisch motivierte Ausprägung und Transformation von Kompetenzen, Verhaltensformen und sozialen Ordnungen nicht erklären. Während die genetische Ausstattung des Menschen seit etwa 40 000 Jahren unverändert ist, sind Varianz und Ausbau menschlicher Sprachen und sprachlicher Selektion und Kombination im Sprechen, das heißt ihr jeweiliges Sosein zu einem gegebenen Zeitpunkt, ohne jeden Zweifel Ergebnis kultureller Evolution. Evolutionstheoretisch geht es hier um den „geschichtlichen Anteil der Evolution“ (Küppers 1986: 223). Durch den Gebrauch bewertete
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Selektionen werden als pragmatische Bestätigungsinformation (vgl. Küppers 1986: 85− 94) historisch reproduziert und manifestieren sich in phänotypisch bestimmten funktionalen Ordnungen und Routinen (vgl. Feilke 1994: 246−259). Die historische Soziogenese wie auch die Ontogenese sprachlicher Kompetenzen sind danach wesentlich durch kulturelle Faktoren zu erklären. Während die Fähigkeit, Sprachen überhaupt zu erwerben, präformiert ist, ist der Erwerb selbst wesentlich entwicklungs- und erfahrungsabhängig (vgl. Ritterfeld 2000). Dieses Faktum legen auch generativ orientierte Spracherwerbsforscher ihren Arbeiten zugrunde (vgl. z. B. Tracy 1991, 2001). In dieser Perspektive ist auch Symbolfähigkeit kulturell emergent: Symbole und Symbolgebrauch entstehen in Umfang und Qualität des paradigmatischen Ausbaus von Ausdrucksklassen erst als eine Folge des Sprachgebrauchs. So ist z. B. das historische Aufkommen und die Differenzierung von Konjunktionen oder z. B. der epistemischen Modalverben im Deutschen eine Folge des verstärkten Gebrauchs vor allem schriftlicher Texte in kulturell spezifischen Schriftgebrauchskontexten (vgl. z. B. Ágel 1999; Gloning 2003). Der Sprachgebrauch ist von sozialem Wandel beeinflusst. Fundamentale kulturelle Parameter − etwa Höflichkeit (Haase 1994) − können ebenso wie etwa auch gesellschaftliche Umbrüche, z. B. die Französische Revolution (vgl. Schlieben-Lange 1983), grammatischen Wandel motivieren und prägen. Das heißt ausdrücklich nicht, dass grammatischer Wandel oder das Vorhandensein bestimmter grammatischer Formen im kausalen Sinn eine notwendige Folge oder eine Expression bestimmter kultureller Variablen sei. Die Prägung der Sprache durch das kulturell situierte Sprechen muss nicht in je kulturspezifisch zuschreibbaren Einflussgrößen gesucht werden; sie liegt auch dort vor, wo universale Effekte des Gebrauchs und die ihn bestimmenden Orientierungen der Sprecher strukturbildend verarbeitet und sprachlich integriert werden: Hier sind Begriffe wie konversationelle und konventionelle Implikatur (Grice [1975] 2000), Expressivität und Reproduktion (vgl. Keller 1990), Ausdruck und idiomatische Prägung (Feilke 1996), Variation und analogischer Ausgleich (vgl. Knobloch 2011: 222 ff.) anzuführen. Das jeweilige Sosein einer Sprache als sozialer Gestalt, das im Ausbau grammatischer und semantischer Klassen, in den distributionellen Unterschieden syntaktischer Oberflächenstrukturen von Ausdrücken (vgl. z. B. Eisenberg 1992), aber auch in den in erheblichem Umfang idiosynkratischen lexikogrammatischen Ordnungen des Gebrauchs (Sinclair 1991) manifest wird, ist Ergebnis einer kulturellen Evolution respektive eines kulturellen Lernens, das nicht durch die biologische Ausstattung determiniert ist. Darüber hinaus ist Sprache durchaus auch als Sprachfähigkeit, d. h. hinsichtlich der neurobiologischen Grundlagen zu Teilen durch eine erfahrungsabhängige Plastizität, gekennzeichnet. Eindrucksvolle Belege dafür liefert etwa die Forschung zur Rückwirkung der Schriftverarbeitung beim Lesen auf die Hirnorganisation (Blakemore und Frith 2006: 100−118). Der Großteil der für menschliches Verhalten relevanten Synapsen und Synapsenverbindungen bildet sich im Sinn des genetischen Strukturalismus Piagets, aber auch konstruktivistischer Positionen im weiteren Sinn epigenetisch als Folge von Verhaltensanpassung, Lernen und Kommunikation aus (Piaget [1967] 1974; Quartz and Sejnovski 1997; Wainwright 2004; Blakemore und Frith 2006: 176−196; Breidbach 2012). In diesem Sinn können im Bereich sprachlicher Kompetenzen alle diejenigen performativen Leistungen als im weiteren Sinn kulturell bestimmt gelten, die zur Erklärung ihres Zustandekommens und ihrer sprachlichen Form notwendig den Rekurs auf epigenetische Randbedingungen verlangen.
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft Das folgende Kapitel macht Vorschläge zur näheren Bestimmung dieser Randbedingungen, indem eine Folge von Thesen und Begriffen diskutiert wird, über die in der Fachdiskussion die Kulturalität von Sprache bestimmt wird. Dafür ist im Blick auf die Relation von Sprache und Kultur im Anschluss an Fritz Hermanns (1999) von einer inversen Teil-Ganzes-Beziehung auszugehen: Sprache ist einerseits ein Teil von Kultur. Das, was sie als kulturell definiert, lässt sich auch für nichtsprachliche Kulturtatsachen behaupten. Andererseits ist Sprache nicht irgendein Teil von Kultur, sondern aufgrund ihrer kulturelle Identität bildenden Potenziale ein kulturell konstitutiver Faktor (vgl. Hermanns 1999: 355).
2.2. Leitkonzepte von „Sprache als Kultur“ Die im Folgenden vertretene Sicht auf die „Sprache als Kultur“-Analogie sieht die Kulturalität der Sprache nicht darin, dass sie symbolisches Repräsentationssystem für ein kulturspezifisches Wissen ist, wie es etwa im Forschungsparadigma „Wörter und Sachen“ (vgl. Settekorn 2001) oder auch in der „Wortfeldtheorie“ der Fall war. Bereits Edward Sapir warnt in diesem Sinn eindrücklich vor dem Fehler, „[…] eine Sprache mit ihrem Konversationslexikon zu verwechseln“ (Sapir [1921] 1972: 194). Die Erkenntnis, dass z. B. Wortfelder des Ackerbaus, des Mediengebrauchs oder des Sports in diesem Sinn kulturspezifisches Wissen organisieren, ist zwar auch relevant, berührt aber nicht den Kern der Thematik. Der Kern der Thematik betrifft die beiden Fragen, 1. inwiefern der Sprachgebrauch nicht bloß symbolische Repräsentationen des Kulturellen liefert, sondern es mit hervorbringt und 2. inwiefern die Sprache und ihr Gebrauch selbst als genuine Kulturtatsachen zu analysieren sind. Hierfür ist das gesamte Spektrum des indexikalisch, ikonisch und symbolisch motivierten Sprachgebrauchs mit einzubeziehen. Der Fachdiskurs zur Kulturalität der Sprache zielt in diesem Sinn auf eine Erklärung sprachlicher Formen durch Faktoren, die dem Sprachgebrauch und den kulturellen Gebrauchsbedingungen zuzuschreiben sind.
2.2.1. Zeichen und Dialogizität Für alle „Sprache als Kultur“-Analogien grundlegend ist, dass Sprache − wie auch Kultur − als wesentlich zeichenhaft konzipiert wird. Eine Hauptreferenz dafür ist Humboldts Sprachkonzeption, in der das symbolische Repräsentationssystem Sprache kausal auf den Dialog zurückgeführt wird. „Denn die Sprache muss nothwendig zweien angehören und ist wahrhaft ein Eigenthum des ganzen Menschengeschlechts“ (Humboldt [1930− 1935] 1988: 437). Humboldts Argumentation ist hier klar: Das und bezeichnet kein koordinatives, sondern ein konsekutives Verhältnis. Durch den Dialog, wird die Sprache kulturell zum Gattungsmerkmal. Humboldt argumentiert anthropologisch: Die artikulierte Äußerung wird vom Sprecher sowohl sensorisch-individuell über das Gehör zurückempfunden als auch sozial über die Reaktion der anderen (Humboldt 1988: 426−430). Sie wird damit individuell und sozial objektiviert und repräsentiert auf diese Weise semantische Leistungen und ihre pragmatischen Bewertungen. Jedes Sprechen variiert, jedes Verstehen selektiert Bedeutung. Evolutionstheoretisch wirkt der jeweilige Gebrauch des-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte halb als pragmatische Bestätigungsinformation (vgl. Jantsch 1986: 309; Keller 1990: 182). Dies schränkt in keiner Weise die Autonomie der symbolischen Ordnung gegenüber kommunikativen Zwecken ein, was Humboldt ebenfalls über das Konzept der „inneren Form“ betont. Es schließt jedoch jede individualistisch-mentalistische Konzeption von Sprache als Privatsprache aus.
2.2.2. Performativität und Emergenz Symbolfähigkeit an sich ist keine exklusiv menschliche Qualität und kann damit auch nicht als Folge einer Mutation im menschlichen Erbmaterial angesehen werden (Tomasello 2002; Kiefer and Pulvermüller 2011). Symbolizität der Sprache ist eine emergente Größe; sie steht nicht am Anfang, sondern am Ende einer soziogenetischen respektive auch ontogenetischen Transformation gestischer zu symbolisch vermittelter Kommunikation. Nach der Position Meads muss die Sprache „unter dem Gesichtspunkt eines gestischen Verhaltens untersucht werden, in dem sie existierte, ohne als solche schon eine definitive Sprache zu sein“ (Mead [1934] 1995: 55−56). Jedes sprachliche Zeichen ist für Mead ausdrucksseitig zunächst eine signifikante Verhaltenssequenz in einem interaktiven Verhaltenszusammenhang. Es bezeichnet reflexiv primär diesen Verhaltenszusammenhang und die damit erreichte Koordinationsleistung selbst. Emergenz von Zeichenhaftigkeit betrifft dabei die semiotisch konstitutive Rolle des Zeichenprozesses und der performativen Bedingungen für die Zeichenbedeutung. „Die wesentliche Bedingung ist die Prozessierung des Zeichens im Rahmen der sozialen Semiose“ (Jäger 2009: 226 [Hervorh. HF]). Problemgeschichtlich rekonstruiert Jäger in diesem Sinn eine dynamische, gleichfalls im Sinn Meads gestisch basierte Zeichenkonzeption bei de Saussure. Soweit ein Äußerungssinn stets erst post hoc als Ergebnis eines situierten Verstehens dem jeweiligen Ausdruck zugeschrieben werden kann, gibt es sprachtheoretisch keine Möglichkeit für eine zweckrationale bzw. finalistische Erklärung von Ausdrucksstrukturen (vgl. Keller 1990: 105−121).
2.2.3. Materialität und Medialität Jede Äußerung ist performativ material und medial gebunden. Material wird sie unter Rückgriff auf den Ausdrucksstoff einer bestimmten historischen Sprache vollzogen. Der Ausdrucksstoff ist hier das bereits durch vorgängigen Gebrauch konnotativ qualifizierte und damit auch kulturell definierte sprachliche und nichtsprachliche „Rohmaterial“ (Maas 1985a: 99) des Handelns. Jedes Material verweist implizit (konnotativ) bereits auf eine Praxis: „Die Praxis ist nicht losgelöst von ihrem Rohmaterial: Dieses eröffnet ihr vielmehr Gestaltungsmöglichkeiten, begrenzt sie aber auch“ (Maas 1985a: 98). Die Semantik des Ausdrucksmaterials ist dabei nicht nur grammatisch und lexikalisch, sondern transkategorial als Stil bestimmt und betrifft das Gesamtverhalten im Sinn von Bourdieus Habitus-Konzept (vgl. Linke 2009; zu Bourdieu vgl. Artikel 13). Der mediale Aspekt tritt zum materialen hinzu. Dabei greift ein technischer Medienbegriff im Sinn von „Kulturtechnik“ zu kurz (vgl. Schneider 2006). Medialität betrifft jegliche Ausdruckssubstanz, in der Zeichen konstituiert und kommuniziert werden, seien
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft sie visuell ikonisch, etwa gestisch, phonisch oder graphisch. Das Medium wirkt unmittelbar auch auf den repräsentationalen Status der prozessierten Zeichen, mithin auf die Ausdrucksform im Sinn Hjelmslevs, zurück. Das heißt, die Sprachmedialität ist selbst formkonstitutiv. So begünstigt der Schriftgebrauch in besonderer Weise sozio- wie ontogenetisch nicht nur eine symbolgrammatisch analytische Auflösung des Sprachgebrauchs mit entsprechenden Wirkungen etwa auf phonologische und morphologische Bewusstheit, sondern auch eine kategorial-begriffliche Ordnung sprachlicher Bedeutung selbst (vgl. Scheerer 1993; Brockmeier 1997). „Die semantischen Gehalte von Sprachzeichen gehen […] ihrer Übermittlung durch Zeichenausdrücke nicht einfach voraus, sondern sie werden im medialen Modus performativer Vollzüge konstituiert. Insofern distribuieren sprachliche und andere Medien nicht nur die Inhalte der kulturellen Semantik, sondern sie sind auch wesentlich an ihrer Hervorbringung beteiligt“ (Jäger 2007: 21).
2.2.4. Aneignung und Unterrichtung In der Diskussion zum Kulturbegriff ist der definitorische Bezug auf die Aneignung bestimmter Verhaltensweisen und die resultierende, kulturell bestimmte Kompetenz der Individuen zentral. Maas (1985a: 92) zitiert hierzu Tylors Definition von 1871: „Kultur […] ist jenes komplexe Ganze, das das Wissen, den Glauben, die Moralauffassung, die Gesetze, die Sitten und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfaßt, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft aneignet“ (Hervorh. HF). Die Aneignung wird erstens durch den Bezug auf die schon vorhandene Kultur und zweitens durch Anleitung und Instruktion definiert (vgl. Graumann 1990). Im Aneignungsprozess sieht Maas den „Schlüssel zu einem kulturanalytischen Sprachverständnis“ (Maas 1985a: 94). Aneignung fasst linguistisch als Terminus − im Unterschied zu Erwerb − die Rekonstruktion der Sprachpraxis bzw. sprachlicher Praktiken in der Kompetenz des Individuums. Die Aneignung ist zunächst orientiert an den Oberflächen des beobachteten Verhaltens, rekonstruiert dessen Regelhaftigkeiten und zielt auf pragmatisch kompetentes Handeln im Sinn einer „behavioral mastery“ (Karmiloff-Smith 1992). Die Rekonstruktion des Kulturellen in der Aneignung kennzeichnet menschliche Entwicklung von Anfang an. Schwierig ist es, die grundsätzliche Konstruktivität der Aneignung im Verhältnis zur Rekonstruktivität zu bestimmen. Nach Hermann Pauls Position eines epistemischen Individualismus „[…] muss jede Seele ganz von vorn anfangen. Man kann nicht schon Gebildetes in sie hineinlegen, sondern alles muss in ihr von den ersten Anfängen neu geschaffen werden“ (Paul [1880] 1995: 14). So sehr diese Sicht einerseits grundlegend ist für das Verständnis der Konstruktivität kulturellen Lernens, so sehr blendet sie kulturelle Ressourcen sprachlichen Lernens und sprachliche Ressourcen kulturellen Lernens aus. Für Eugenio Coseriu ist es deshalb gerade „[…] die wichtigste soziale und kulturelle Leistung der Sprache […], daß nicht jedes Individuum die gesamte Kultur wieder von Anfang an aufbauen muß […]“ (Coseriu 1975: 142). Ein Lernen, das die kulturell emergenten sprachlichen Ordnungsleistungen hinreichend verlässlich replizieren kann, ist auf instruktionelle Kontexte, d. h. auf Unterricht, angewiesen: „Eine der bedeutendsten Dimensionen der menschlichen Kultur besteht darin, dass Erwachsene ihre Kinder aktiv unterrichten“ (Tomasello 2002: 99). Unterrichtung findet in didaktisch geschaffenen Lernkontexten statt. In diesen Kontexten wird
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte geteilte Aufmerksamkeit (joint attention) für relevante Aneignungsgegenstände und Wertschätzung für didaktisch exemplarisch kanonisierte und konstruierte Text- und Sprachressourcen erzeugt (Feilke 2012b).
2.2.5. Praxis und Praktiken Sprachliche Aneignungsprozesse vollziehen sich stets in kulturell im Blick auf kooperatives Handeln definierten Kontexten. Sie sind bezogen auf etablierte sprachliche Praktiken, die sich kulturell vorliegender sprachlicher Ressourcen bedienen. Der native speaker ist in dieser Sicht nicht von Geburt aus kompetent, dafür muss er erst ein Repertoire passender Verhaltenskomponenten aufbauen. Ein klassisches Paradigma für kulturelles Lernen ist seit Wygotskis Arbeit Denken und Sprechen der Schriftspracherwerb (vgl. Wygotski [1964] 1981; Brockmeier 1997). Gerade auch dort, wo Aneignung vermeintlich natürlich geschieht, z. B. in sogenannten Spontanschreibungen des frühen Schriftspracherwerbs, ist sie kulturell situiert. Das gilt für die möglichen Sinnhorizonte literalen Handelns, für entsprechend ausdifferenzierte Praktiken und Handlungsrollen wie auch hinsichtlich der materialen und semiotischen Mittel dieses Handelns. Erst dieses Fundament eröffnet die Chance zu einem generationenübergreifenden kumulativen Lernen − Tomasello (2002: 50) spricht von einem „Wagenhebereffekt“ der kulturellen Evolution −, das auch den Aufbau hochspezieller Sprachpraktiken, Sprachhandlungsmotive und sprachlicher Kompetenzen ermöglicht. Nicht zufällig kommt deshalb auch Utz Maas auf den literaten Sprachausbau und den Schriftspracherwerb zu sprechen: „Sprache ist etwas, das wir aus unseren natürlichen Ressourcen machen − und insofern ist sie nicht mit diesen gleichzusetzen; sie ist durch eine soziale Praxis definiert, in die jedes Kind hineinsozialisiert wird − als Sprache der Anderen […]: Sprache wird gelernt. Bei diesem Lernprozeß öffnen sich unterschiedliche soziale Horizonte: die Praxis wird dezentriert − und literate Strukturen bezeichnen die Rationale des dabei erschlossenen Ausbaus der gelernten sprachlichen Ressourcen“ (Maas 2010c: 37). Nicht die Kulturtechniken, etwa die Alphabetschrift oder das Schreiben von Texten an sich, sondern die mit ihnen verbundenen Praktiken des Schrift- respektive des Mediengebrauchs und des Umgangs mit Texten und die dadurch bestimmten Erwartungen an den Gebrauch führen zur Ausprägung bestimmter sozial-kognitiver und sprachlicher Kompetenzen bei den Individuen einer Kultur (vgl. Jäger 2004; Feilke 2016). Literale Praktiken werden als ein kulturelles Kapital vermittelt (Scribner and Cole 1981) und die Fähigkeit zu willkürlicher Kontrolle der literaten Strukturen bis hin zu ihrer wissenschaftlich-methodischen Untersuchung wird geschult. Die in kulturellen Praktiken situierte Aneignung − etwa der kontemplativen der scholastischen oder der wissenschaftlichen Lektüre (vgl. z. B. Illich 1991) − prägen das kulturelle Sprachlernen.
2.2.6. Gebrauch und Routine „Erst wo Sprechen und Verstehen auf Reproduktion beruht, ist Sprache da“, schreibt Hermann Paul ([1880] 1995: 187). Bei aller Kritik am Positivismus der Junggrammatiker
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft ist das Ernstnehmen des faktischen Sprachgebrauchs aus heutiger Sicht für einen kulturorientierten Sprachbegriff unverzichtbar. In diesem Sinn nimmt bereits Otto Behaghel Befunde der korpuslinguistisch gestützten Sprachpsychologie vorweg, wenn er schreibt: „Worte, Wortformen, Wortverbindungen sind uns umso verständlicher, bieten umso weniger Anstoß, je vertrauter sie uns sind, je mehr wir gewohnt sind, sie selber zu gebrauchen oder von anderen gebraucht zu sehen. Einzig der Sprachgebrauch ist es, was den Ausschlag gibt. Was gebräuchlich ist, ist sprachrichtig, was nicht gebräuchlich ist, widerspricht der Sprachrichtigkeit“ (Behaghel 1902: 88). Hier wird − durchaus schon im Sinn eines usage based approach (z. B. Croft 2001) − die Sprachnorm als Gesamtheit der praktisch bindenden Regeln des Symbolgebrauchs auf Vertrautheit oder familiarity als emergente verständnissteuernde Größe zurückgeführt. Hilfreich ist zur Erklärung der Rückgriff auf soziologische Kategorien: Für Max Weber ist das sprachliche Handeln ein „Einverständnishandeln“. Das heißt nicht etwa, dass Einverständnis sprachlich handelnd hergestellt würde, sondern, dass die Verständigung gerade deshalb funktioniert, weil der musterhafte Gebrauch implizite Ressourcen des Vorverständigtseins mobilisiert. So heißt es bei Weber: „Das Bestehen einer Sprachgemeinschaft bedeutet für uns […] ein Verhalten bei ‚Äußerungen‘, welches an bestimmten innerhalb eines Menschenkreises durchschnittlich bestehenden Chancen, sich ‚verständlich‘ zu machen sinnhaft orientiert ist und daher diesen Effekt im Durchschnitt auch erwarten ‚darf‘“ (Weber 1973: 129 [Hervorh. HF]). Nicht in der kollektiven Repräsentation abstrakter Symbole, sondern in der gebrauchsadäquaten Ko- und Kontextuierung von Äußerungen liegt die Chance, sich verständlich zu machen. Entsprechend definiert Rudi Keller in seiner Theorie des Sprachwandels: „Sprache ist ein Brauch, ein (mittlerweile) gigantischer Brauch, um bestimmte Dinge zu bewirken“ (Keller 1990: 65). Bei der Frage, was diesen Brauch sprachlich im engeren Sinn ausmacht, rückt die kulturelle Kontextualisierungsleistung idiomatisch geprägter Ausdrücke und Ausdrucksmuster ins Zentrum der jüngeren Sprachtheorie (vgl. Fillmore, Kay and O’Connor 1988; Feilke 1994, 1996; Corrigan et al. 2009). Für Penelope Brown wird die kontextuelle Prägung des Gebrauchs zum Definiens sprachlicher Kulturalität: „Culture is whatever makes us use language differentially in different contexts […]“ (Brown 2006: 72). Empirisch belegt die seit Beginn der 1990er-Jahre (Sinclair 1991) prosperierende korpuslinguistische Forschung die enorme Bedeutung der Kenntnis konventioneller Konstruktionen, Kollokationen, „collostructions“ (Stefanowitsch and Gries 2003), d. h. salienter „discourse patterns“ (Ariel 2008: 180−211), und Textroutinen (vgl. Feilke und Lehnen 2012) für die kompetente Performanz. Semiotisch entscheidend für das Funktionieren ist dabei keineswegs die ausdruckseitige Frequenz, sondern die Tatsache, dass die salienten Ausdrucksmuster im Sinn der Kontextualisierungstheorie kulturell relevante Sprachhandlungs- und Bedeutungsschemata indizieren können (Auer 1986; Feilke 2003, 2012a). Routine und strukturelle Kreativität bilden dabei keinen Gegensatz; im Unterschied zur pragmatisch ungerichteten Kreativität einer Universalgrammatik ist die Kreativität des Gebrauchs als Anspielungskreativität (vgl. Maas 1985a) zu interpretieren, die das konnotative Potenzial der „gebrauchten“ Sprache nutzt: „Die Kreativität kommt nicht aus der Tiefe, sondern sie schlummert auf der Oberfläche. Unsere generative Kapazität dürfte zum großen Teil darin bestehen, sprachliche Routinen nicht routiniert einzusetzen“ (Ágel 2009: 144). Das gilt − abgesehen von sprachspielerischer oder sprachästhetischer Kreativität − in besonderer Weise für emergente hybride Ordnungsbildung im Bereich von
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Sprachvariation und Sprachkontakt (vgl. z. B. Dirim und Auer 2004; Keim 2007; Wiese 2012).
2.2.7. Mentalität und Gedächtnis Mentalitäten im Sinn der Mentalitätsgeschichte sind kognitive, affektive und ethische Dispositionen. Sie betreffen Denken, Fühlen und Wollen der Individuen, was durch Kommunikation beeinflusst und verändert wird und damit auch zum Gegenstand einer „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte“ (Hermanns 1995) wird. Hermanns analysiert „Erwartungsbegriffe“ wie Demokratie und „Fahnenwörter“ wie Freiheit oder Einheit, die eine implizite positive Wertung tragen und ein für alle Sprecher verbindliches „lexikalisches Sollen“ (Hermanns 1995: 83) artikulieren. Während Hermanns in diesem Sinn auf ein Konzept der Begriffsgeschichte als Geschichte thematisch integrierter Diskurse abstellt, die über Begriffe Mentalitäten prägen, zeigt Angelika Linkes Untersuchung Sprachkultur und Bürgertum (1996) exemplarisch, wie Fühlen und Wollen einer soziokulturellen Formation historisch im Wandel eines ganzen Ensembles kommunikativer Praktiken hervorgebracht und verändert werden, ohne dass der Wandel notwendig als thematischer Wandel manifest werden müsste. Vielmehr ist der Wandel − ganz entsprechend Wittgensteins Konzept der Lebensform (Wittgenstein [1953] 1997: 241) − durch eine im Gebrauch sich durchsetzende Konkordanz unterschiedlicher Verhaltensweisen (z. B. Grußverhalten, Gesprächskultur, Schreibpraxis) bestimmt, die auch das Sprechen betreffen und in ihrer Gesamtheit die „Mentalität“ des Bürgertums im 19. Jahrhundert als ein kulturelles Schema indizieren. Schon die bei Jolles ([1930] 1972) getroffene Unterscheidung von „Sprachgebärde“ und (kollektiver) „Geistesbewegung“, die am Beispiel einfacher Formen wie Legende, Spruch, Rätsel, Witz etc. durchgeführt wird, zeigt, dass Mentalitäten als Diskursformationen (hier z. B. Nachfolge, Verrätselung, Komik) nicht nur thematisch, sondern sprachlich sehr stark prozedural − in diesem Fall über Textsortenmerkmale und die ihnen rezeptionsästhetisch zugeschriebene Wirkung auf den Adressaten − bestimmt werden (vgl. auch Fix 2000, 2006). Hier liegt die Verbindung auch zum Problemfeld des sozialen Gedächtnisses und seiner sprachlichen Konstituenz (vgl. Feilke 2014). Der Soziologe Dirk Baecker definiert Kultur „als Gedächtnis, das sich vergangenen Möglichkeiten als bestimmten Versionen der Ausführung eines Programms zuwendet“ (Baecker 2001: 156−157). Hier kommt der bereits angesprochene Zusammenhang von Musterhaftigkeit und Kultur zum Tragen. Das performative Muster − sei es eine grammatische Konstruktion, eine thematisch einschlägige Kollokation oder ein Gefüge textsortenindizierender Formeln − ist in dieser Sicht ein Appell an den Adressaten, sich an eine bestimmte sozial relevante Version z. B. des Begrüßens oder des Sprechens über ein Thema zu erinnern und sie als für die aktuelle Kommunikation gültig zu betrachten. Die seit Thomas Luckmanns (1986) Aufsatz zu „kommunikativen Gattungen“ prosperierende Forschung zum kommunikativen Haushalt von Gesellschaften stellt die rekonstruktive Funktion der Gattungen für das gemeinsame Erinnern ins Zentrum (vgl. Günthner und Knoblauch 1996). Die von Jan Assmann (2000) etablierte Unterscheidung von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis grenzt das z. B. in Gedenktagen, Archiven und Kanones schriftlich hinterlegte soziale Langzeitgedächtnis scharf ab von dem mündlich
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tradierten sozialen Kurzzeitgedächtnis dreier noch miteinander kommunizierender Generationen (Großeltern, Eltern und Kinder) (vgl. Welzer 2005). Im Unterschied zu Assmanns Abgrenzung betont Jäger (2002, 2003) die kontinuierlichen Umwandlungsprozesse im Verhältnis von Tradition und Aktualisierung. Er fasst das kulturelle Gedächtnis als Ergebnis medial vielfältig differenzierter und transmedialer Prozesse und Prozeduren einer fortwährenden Transkription − d. h. des dem jeweiligen Bedarf angepassten Erläuterns, Explizierens, Übersetzens, Kommentierens von Texten und Textbeständen.
3. Wissenschaft 3.1. Kultur und Sprache − Verstehen und Erklären Wie ist der wissenschaftliche Status einer kulturorientierten Linguistik zu bestimmen? Eine kulturorientierte Linguistik untersucht Sprache nicht in toto, sondern unter dem Aspekt ihrer im Gebrauch emergenten eigenen Ordnung und ihres Beitrags zum kulturell situierten Handeln. Der Bezug auf das Handeln und der jeweils sprachlich bestimmte Phänotyp des Sprechens sind dabei grundlegende Orientierungsgrößen. In Anlehnung an die methodologische Diskussion zu „Oberfläche und Performanz“ in Linke und Feilke (2009) weist die folgende Übersicht grob die Hauptbezugspunkte aus: kulturorientierte Ansätze sind nicht-universalistisch. Sie fragen oberflächenorientiert nach der Relevanz des je besonderen Zeichengebrauchs für das Handeln und für die emergente Wissensordnung. Handeln: performativ orientiert
Wissensordnung und Können: kompetenzorientiert
universalistisch tiefenstrukturell orientiert
z. B. Universalpragmatik
z. B. generative Grammatik
partikular oberflächenorientiert
z. B. Ethnomethodologie, interaktionale Linguistik
z. B. Kontextualismus
Die Vierfeldermatrix ist zur Verdeutlichung mit typischen Theoriebeispielen gefüllt, die ergänzt werden können. Dabei ist der strukturalistische Aspekt des Sprachsystems im Schema nicht ohne Weiteres einzuordnen. Er liegt gewissermaßen hinter der rechten Spalte, denn einerseits geht es beim Systemaspekt um jeweils phänotypisch bestimmte Einzelsprachen, andererseits liegt das Interesse − anders als etwa bei Firthʼ kontextualistischem Begriff der structure (vgl. Steiner 1983) − gerade nicht an den Oberflächenstrukturen, sondern an den in absentia gegebenen Paradigmata und deren internen und externen Systembeziehungen. Den Oberflächen aber kommt unter einer kulturorientierten Perspektive sowohl für die Erklärung des Handelns als auch für die Beschreibung und Erklärung der Sprache als Wissensordnung eine zentrale Rolle zu. Die Unterscheidung zwischen universalen und partikularen Orientierungen in der linken Spalte der Übersicht markiert einen Unterschied im Erkenntnisanspruch. Universelle Ansätze zielen auf generelle Erklärungen, partikulare Ansätze gehen aus vom Ein-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte zelfall, den sie zu verstehen versuchen. Seit den 1920er-Jahren ist kontrovers, ob die Differenz von Erklären und Verstehen letztlich in einer übergreifenden erklärenden „Einheitswissenschaft“ bzw. einer entsprechenden Wissenschaftstheorie aufzulösen ist oder ob die Differenz einen Methodendualismus genuin unterschiedlicher Erkenntniskulturen anzeigt (vgl. Schurz 1988, 2002). Paradigmatisch dafür steht Diltheys geisteswissenschaftliches Diktum „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“ (Dilthey 1924: 144; zit. nach Schurz 2002: 2). Wie ist hier eine kulturorientierte Linguistik zu verorten? Gegen die philologische Tradition des auf grammatische Beschreibung gestützten Textverstehens, das die deskriptive Grammatik zum bloßen Instrument der Hermeneutik macht, hatte schon Hermann Paul das Programm einer empirischen Erklärung des Sprachverstehens selbst gesetzt. Es geht nicht mehr um den einzelnen Text, sondern: „Das wahre Objekt für den Sprachforscher sind […] sämtliche Äusserungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung auf einander“ (Paul [1880] 1995: 24). Die von Paul theoretisch ins Zentrum gerückte kulturwissenschaftliche Fragestellung, „[…] worauf es denn eigentlich beruht, dass das Individuum, trotzdem es sich seinen Vorstellungskreis selbst schaffen muss, doch durch die Gesellschaft eine bestimmte Richtung seiner geistigen Entwickelung erhält“ (Paul 1995: 15), verlangt dabei auf der Grundlage empirischer Beobachtung allerdings einen gleichermaßen verstehenden wie erklärenden Zugang, wobei das Verstehen der Äußerung im Gebrauch die Voraussetzung für jede Erklärung ist. Erst in dem Maß, in dem Äußerungen als situativ und kulturell kontextuierte Handlungen verstanden werden, werden sie auch einer empirisch fundierten Erklärung unter Rückgriff auf Gebrauchsparameter zugänglich. Der sprachwissenschaftliche Impuls zur Empirisierung und Datenorientierung als Antwort auf die philologisch-hermeneutische Textwissenschaft motiviert also theoretisch wie methodisch die fortschreitende Einbeziehung weiterer relevanter Faktoren. Die beobachtbare empirische Ausweitung des Felds der zu berücksichtigenden Daten und die methodische Professionalisierung führen aber keineswegs dazu, dass die Unterscheidung von Verstehen und Erklären hinfällig würde und einer einheitswissenschaftlichen Konzeption weichen könnte. Inwieweit kann eine Sprachtheorie, die das kulturell situierte Handeln von Individuen und seine ordnungsbildenden Konsequenzen zum Gegenstand hat, erklärend sein? Eine Erklärung führt unter Angabe eines Gesetzes und bestimmter Randbedingungen bzw. Prämissen zur Ableitbarkeit des Explanandums. Im klassischen Hempel-Oppenheim-Schema wissenschaftlicher Erklärung fallen damit die Diagnose und die Möglichkeit zur Prognose zusammen. Es gibt danach − etwa für Karl Popper − keinen Unterschied zwischen Erklärbarkeit und Prognostizierbarkeit. Wenn ich etwas erklären kann, dann verfüge ich über alle notwendigen Komponenten auch für die Prognose. Keller (1990) argumentiert in seiner Theorie des Sprachwandels dagegen für eine Unterscheidung prognostischer und diagnostischer Erklärungen. Für die kulturelle Evolution der Sprache gelte − anders als in einer Naturwissenschaft − die „Nichtprognostizierbarkeit der Prämissen“ (Keller 1990: 100). Prognosen sind aufgrund der Nichtdeterminierbarkeit des Handelns und seiner Abhängigkeit von schwer kalkulierbaren Kontextbedingungen nur als Wahrscheinlichkeitsprognosen möglich. Exemplarisch hat etwa die Diskussion zu den „Konsequenzen der Literalität“ gezeigt, dass die von Goody, Watt und Gough (1986) der Alphabetschrift zugeschriebenen kognitiven Wirkungen stets nur in Abhängigkeit von weiteren kulturellen Randbedingungen gelten, die aber ihrerseits wieder kon-
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft tingent und vielfach gestuft wirksam sind. Schurz (2001) spricht deshalb von „normischen Hypothesen“. Eine Hypothese wie „Formales logisches Denken […] ist dem Vorgang des Schreibens selbst immanent, der eine überlegte Wahl und Komposition der Wörter fordert“ (Goody, Watt und Gough 1986: 19−20), gilt als empirische Feststellung nicht strikt, sondern „normisch“, d. h. unter bestimmten als normal oder typisch unterstellten individuellen und sozialen Randbedingungen (vgl. zur Diskussion in diesem Fall Scribner and Cole 1981; Brockmeier 1997: 169−210). Der unterstellte kausale Zusammenhang ist überdies „nichtmonoton“ (vgl. Schurz 2001), d. h., die Randbedingungen entfalten ihre Wirkung stufenweise-inkrementell und sind in diesem Prozess selbst wieder störanfällig. In der Konsequenz ist im Extremfall die Berücksichtigung aller kausal relevanten Faktoren nur als gleichfalls inkrementelle Rekonstruktion des Einzelfalls möglich, was in der grounded theory zum methodischen Prinzip wird (vgl. Strübing 2008). Keller argumentiert, der Wert entsprechender Theorien liege deshalb vor allem in der Diagnose: „Wir kennen das Explanandum, kennen die Gesetze und rekonstruieren die Prämissen“ (Keller 1990: 101). Kulturtatsachen werden in diesem Sinn ex post actu (vgl. Schurz 2002: 18) diagnostisch erklärt, was aber die Erkenntnis nicht notwendig als weniger wissenschaftlich ausweist.
3.2. Aussichten einer kulturorientierten Sprachwissenschaft Die Linguistik ist einerseits eine verstehende Wissenschaft, die sprachliche Bedeutung aus dem jeweiligen kulturell situierten Gebrauch rekonstruiert. Andererseits besteht ihr wissenschaftlicher Auftrag in einer grammatisch begründeten und nicht von beliebigen Bedingungen störbaren Erklärung der Bedeutung sprachlicher Äußerungen. Es ist schwierig, beiden Ansprüchen gleichermaßen zu genügen. So schreibt Maas schon 1985: „Die Schwierigkeit kulturanalytischer Sprachwissenschaft besteht darin, nicht von der Kritik an dem ungenügenden Apparat der Grammatikanalyse zum Agnostizismus eines ‚alles ist im Fluß‘ zu kommen“ (Maas 1985b: 101). 25 Jahre später diagnostiziert er eher pessimistisch: „Die Engführung auf Phonologie und Syntax in Verbindung mit einer Semantik, die als lnterpretation der so erzeugten Strukturen verstanden wird, bildet zusammen mit der entsprechenden Konzeptualisierung des Gegenstands im linguistischen main stream nach wie vor eine Art Bermudadreieck, in dem komplexe Gegenstände wie die der Schriftkultur verschwinden − bzw. Vertretern anderer Disziplinen (insbes. der Psychologie und der Sprachpädagogik) überlassen bleiben“ (Maas 2010d: 6). Im gleichen Sinn formuliert auch Jäger: „Die soziologischen, kulturellen und medialen Szenarien, in denen sich Sprache und Kommunikation prozessual entfalten, gehören für die Linguistik des postphilologischen Typus − zumindest in ihren Mainstreamvarianten − zu einer Peripherie, die für den wissenschaftlichen Blick auf Sprache unerheblich ist“ (Jäger 2006: 32−33). Er kommt im Blick auf die Rolle des Kulturellen in der Sprache zu einer Art Epiphänomenalisierungsthese und zu einer Beschreibung der wissenschaftlichen Entwicklung, nach der die bei Humboldt noch gegebene kulturelle Einheit des Gegenstandes zunehmend aufgelöst und einem szientistischen Mainstream preisgegeben werde (vgl. Jäger 2006: 32−36). Gegenüber diesen Diagnosen zum wissenschaftlichen Stand einer kulturorientierten Sprachwissenschaft bei Maas und Jäger seien abschließend die folgenden Überlegungen zur Diskussion gestellt:
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Aufgrund der Inkommensurabilität der sprachtheoretischen und damit auch der methodischen Prämissen können explizit rationalistische respektive mentalistische Sprachauffassungen die Fragestellungen einer kulturorientierten Sprachforschung nicht anders als wissenschaftlich randständig bewerten. Wie der Mainstream eines Fachs bestimmt werden kann und wieweit er im Blick auf die aktuelle Sprachwissenschaft empirisch untersucht und bestimmt ist, scheint mir eine offene Frage zu sein. Universitäre Repräsentanz, Forschungsförderung, Fachverbände, Fachpublikationen − etwa anerkannte Handbuchreihen − wären hier zu untersuchen. Die Publikation eines Handbuchs mit dem Titel „Sprache − Kultur − Kommunikation“, das in einer Reihe neben thematisch affinen Bänden etwa zu Schrift und Schriftlichkeit, zur Soziolinguistik, zur Text- und Gesprächslinguistik erscheint, ist zumindest ein Hinweis auf einen handbuchfähigen Forschungsstand − nach Ludwik Flecks ([1935] 1999) Wissenschaftstheorie das deutlichste Kriterium wissenschaftlicher Reputation. Nimmt man als Beispiel die Entwicklung der linguistischen Forschung zur Schriftlichkeit, zum medialen language bias und seinen sprachtheoretischen und sprachstrukturellen Implikationen seit etwa Mitte der 1970er-Jahre, scheint es mir nicht richtig zu sein, von einem „Verschwinden“ entsprechender schriftlinguistischer Gegenstände und Fragestellungen in der Linguistik zu sprechen. Eher ist das Gegenteil der Fall. Noch nie hat es eine solche lang anhaltende Konjunktur der Forschung zu Schrift und Schriftlichkeit in der Linguistik gegeben. Ein weiteres Beispiel ist die Forschung zum Zusammenhang von Kontext und Sprachstruktur. Während vor 50 Jahren die Einbeziehung des situativen Sprachgebrauchs, der Deixis und performativer Sprechakte als nicht wahrheitswertfunktionalen Komponenten des Gebrauchs zunächst eher die Segregation von Systemlinguistik einerseits und Pragmatik andererseits im Sinn einer Zwei-Reiche-Lehre begünstigte, ist seit Beginn der 1990er-Jahre mit der aufstrebenden computergestützten Korpuslinguistik und korrespondierenden Entwicklungen in der Sprachtheorie eine genau entgegengesetzte Tendenz festzustellen: Die sprachlichen Strukturen selbst sind kontextuell instruktiv. Die computergestützte Korpuslinguistik kann die Frequenz von Kookkurrenzen auf der Grundlage großer Datenmengen relativ zu Themen, Domänen, historischen Zeitabschnitten, Gendergesichtspunkten und anderem mehr untersuchen. Mit der Kopplung an Sprachtheorien, die genau solchen Mustern einen semiotisch autonomen Status zuweisen, eröffnet sie einer kulturorientierten Sprachforschung gänzlich neue Forschungsoptionen (vgl. z. B. Bubenhofer 2008; Bubenhofer und Scharloth 2010). Die hier nur exemplarisch zitierten Entwicklungen können meines Erachtens als Indizien einer fortschreitenden thematischen Differenzierung und methodischen Professionalisierung kulturorientierter Forschungsansätze in der Sprachwissenschaft gewertet werden. Ob sie die „Linguistik auf dem Weg zur Kulturwissenschaft“ (Auer 2000) zeigen, mag dahingestellt sein. In jedem Fall zeigen sie Perspektiven einer genuin linguistischen Forschung, die die Kulturalität der Sprache als Ressource für die Beantwortung der Frage nach dem Zustandekommen und den Formen der Organisation sprachlicher Bedeutung in Äußerungen, Texten und Diskursen nutzt.
2. Sprache – Kultur – Wissenschaft
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Helmuth Feilke, Gießen (Deutschland)
Sprache und Wissenschaft: Disziplinenbildung, Disziplinierung Language and science: disciplining knowledge 3. Sprachwissenschaft als Anthropologie 1. Der Mensch und seine Sprachen im Raum 2. Humboldt: das Sprachstudium als Zentrum der Anthropologie
3. Nach Humboldt: die moderne deskriptive Linguistik 4. Literatur (in Auswahl)
Sprachwissenschaft im Sinne einer universitären Disziplin ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sprachreflexion findet sich aber seit den Anfängen in den Grundtexten unserer Kultur (Bibel, griechische Philosophie) und die sprachbezogene Gelehrsamkeit richtet sich in der Antike auf die eigene Sprache, d. h. auf die Hoch- und Weltsprachen Griechisch und Latein (Grammatik, Rhetorik), ohne Berücksichtigung der Vielfalt menschlicher Sprachlichkeit. Erst seit der Renaissance − mit dem Aufstieg der europäischen Volkssprachen in die hohen Diskursdomänen des Lateinischen einerseits und mit der Öffnung des europäischen Geistes auf die Völker und Sprachen außerhalb Europas − geraten die verschiedenen Sprachen der Menschheit in den Fokus europäischer Gelehrter. Diese reagieren auf diese Entdeckung zunächst abwehrend, indem sie die Vielfalt der Sprachen historisch auf die Einheit der verlorenen Sprache der Vergangenheit (vor Babel) zurückzuführen versuchen. Diese Reduktion der Vielfalt auf Einheit in der Zeit bleibt das dominante Grundmotiv auch noch der wissenschaftlichen historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert. Seitdem Leibniz in der Vielfalt der Sprachen eine „wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes“ (Leibniz [1765] 1966: 293) erkannte, wächst aber auch das Verständnis für die Vielfalt der menschlichen Sprachen im Raum, dem sich die Herausbildung einer anthropologisch-vergleichenden Sprachwissenschaft (und damit der modernen Linguistik überhaupt) verdankt. Wilhelm von Humboldt erkennt die Sprache als den „Odem, die Seele der Nation selbst“ (Humboldt 1903−1936, III: 166), also als Herzstück der Kulturen der Menschheit, deren verschiedene „Charaktere“ das „vergleichende Sprachstudium“ zu verstehen versucht.
1. Der Mensch und seine Sprachen im Raum Wenn der junge Herder 1764 fordert, dass Philosophie Anthropologie werden soll, meint er damit ein Doppeltes: erstens, dass die Philosophie den Menschen in ihr Zentrum rücken müsse, und zweitens, dass die Philosophie den Menschen nicht nur vom Standpunkt des Allgemeinen und Universellen betrachten dürfe, sondern seine konkreten empirischen Erscheinungsformen mitdenken müsse. Die Betrachtung der empirischen Vielfalt des Menschen ist das, was „Anthropologie“ im 18. Jahrhundert meint, seitdem sie
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Johann Georg Walch in seinem Philosophischen Lexicon (1726: 106−107) sozusagen offiziell in die Philosophie eingeführt hatte. Dabei waren die beiden Weisen des konkreten Erscheinens des Menschen anfänglich noch nicht getrennt: die natürlichen und die kulturellen Verschiedenheiten. Anthropologie umfasste die „physischen“ Verschiedenheiten des Menschen (Geschlecht, Alter, Rasse) ebenso wie die „moralischen“. Wenn Kant in der wohl berühmtesten Anthropologie (1798) diese auf die „pragmatische Hinsicht“ einschränkt, so interessieren ihn die Letzteren, nämlich das, was der Mensch „als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (Kant [1798] 1977: IV). Allerdings ist bei Kant − im Gegensatz zu seinem Schüler Herder − Anthropologie gerade wegen der Betrachtung der empirischen Erscheinungsformen des Menschen nicht Philosophie. Nach der Abgrenzung von der Philosophie wird bei Kant auch die zweite Opposition deutlich, in der die Anthropologie steht: die Opposition zur Geschichte. Geschichte ist ja durchaus ebenfalls eine Betrachtung des Menschen in „pragmatischer“ Hinsicht, sofern auch Geschichte das erfasst, was der Mensch aus sich selbst macht, in der Dimension der Zeit. Die spezifische Dimension der Anthropologie ist aber der Raum (Marquard 1971: 364). Bei Kant wird die räumliche Dimension der Menschenbetrachtung zusätzlich auch noch dadurch betont, dass er seine anthropologischen Vorlesungen (aus denen die Anthropologie hervorging) abwechselnd mit den anderen Vorlesungen zum Raum, nämlich zur physischen Geographie, gehalten hat. In den Historiai („Erkundungen“) Herodots waren diese beiden Perspektiven der Menschenbetrachtung noch vereinigt, sofern es nicht nur um die Narration zeitlicher Abläufe ging, sondern auch um die Schilderung der verschiedenen Zustände an anderen Orten. Der Raum sollte aber erst im Zeitalter der kolonialen „Entdeckungen“ außereuropäischer Räume zu einer dominanten Dimension werden: Kolumbus bewegt sich im Raum, nicht in der Zeit. Das typische Forschungsinstrument der Anthropologie ist die Bewegung im Raum, die Reise. Dass diese Raumbewegung − als Reise zu den „Wilden“ − immer auch noch als Reise in der Zeit betrachtet wurde, in kulturelle Zustände vor unserer Zeit, verweist auf die ungeheure Stärke der Diachronie, der Historie, in der Betrachtung menschlicher Verschiedenheiten. Das ist auch in der Sprachbetrachtung der Fall: Die erste enzyklopädische Kompilierung des Wissens über die Sprachen der Welt, Gessners Mithridates von 1555, eigentlich ein eindeutig anthropologisches Unternehmen (das mit einem Blick auf die Sprachen der Neuen Welt endet, von denen Europa 1555 noch nicht viel weiß), kommt nicht ohne Bezug auf die Weltgeschichte der Sprachen aus: Gessner fragt nach der allen Sprachen zugrunde liegenden Ursprache. Auch der spätere Mithridates von Adelung und Vater (1806−1817), eine geographisch angelegte Reise durch alle Sprachen der Welt, kann sich von der historischen Betrachtung nicht freimachen: Er denkt die Reise im Raum − die in China beginnt − auch als eine Reise in der Zeit: Das räumlich weit entfernte Chinesisch ist als einsilbige Sprache auch die Sprache des Anfangs. Das als Anthropologie (science de lʼhomme) konzipierte Sprachprojekt der französischen „Menschenbeobachter“ (Société de lʼobservation de lʼhomme) konzipiert sogar ausdrücklich die Forschungsreise zu den „wilden Völkern“ als Reise in der Zeit: Der Forscher reist in die Vergangenheit: „il voyage dans le passé“ (Degérando [1800] 1994: 76). Und sogar noch das neue anthropologische Projekt der Sprachwissenschaft, Humboldts „vergleichendes Sprachstudium“, wird durch den Sog der Sprachgeschichte immer diachronischer. Jedenfalls ist die diachronische Betrachtung der Sprache die alte und siegreiche Perspektive, die die anthropologisch-diatopische zunächst in die zweite Reihe verweist, bevor diese sich ent-
3. Sprachwissenschaft als Anthropologie falten kann. Erst das große Projekt der modernen deskriptiven oder synchronischen Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert wird wieder „anthropologisch“, sofern es die zeitliche Entwicklung der Sprache unbeachtet lässt und eigentlich achronisch die Verschiedenheit der Sprachen im Raum betrachtet. Es wird dann allerdings seinerseits gleichsam von der inneranthropologischen Konkurrenz unterdrückt, nämlich von der physischen Anthropologie, der Betrachtung des Menschen als Naturwesen. Als solches erscheint der sprechende Mensch nämlich in der neueren biologisch gewendeten Linguistik oder Biolinguistik. Die moderne deskriptive Linguistik ist ganz entschieden aus dem Projekt der Anthropologie entstanden, wie es sich im 18. Jahrhundert zunehmend ausbildete, bzw. die deskriptive Sprachwissenschaft ist gerade wesentlich Anthropologie. Sie ist, wie man bei ihrem Begründer Wilhelm von Humboldt sehen kann, das Herzstück der Anthropologie.
2. Humboldt: das Sprachstudium als Zentrum der Anthropologie 2.1. Weltansichten Bei dem jungen Humboldt, der zur gleichen Zeit wie Kant an dem „Plan einer vergleichenden Anthropologie“ (Humboldt [1797] 1903−1936, I: 377−410) arbeitet, sind physische und „pragmatische“ Aspekte des Menschen zunächst noch ungeschieden: natürliche Verschiedenheiten, wie z. B. die Geschlechtsdifferenzen, interessieren ihn durchaus (vor allem, sofern sie kulturell überformt sind). Allerdings liegt das Augenmerk bei diesem Fragment gebliebenen Programmentwurf auf den kulturellen Schöpfungen und deren Differenzen. Aus heutiger Sicht ist dieser Plan einer vergleichenden Anthropologie gleichsam ein Aufriss aller Kulturwissenschaften. Die Räumlichkeit dieser Forschungen betont Humboldt dadurch, dass er erstens bei den Mitteln zur Datenerhebung die Reise hervorhebt und dass er zweitens selbst eine anthropologische Reise antritt: Sein Aufenthalt in Paris (1797−1801) gilt ausdrücklich dem Zweck der Menschenbeobachtung. Dabei kommt eine spezifische Eigenart des humboldtschen Projekts zum Ausdruck, die es deutlich von den anderen anthropologischen Projekten seiner Zeit und späterer Zeiten unterscheidet: Das Augenmerk Humboldts liegt auf dem höchstentwickelten Kulturzustand. Humboldts Reise nach Paris ist nicht, wie die anderen anthropologischen Reisen, eine Reise zu den „Wilden“ − und damit in die Vergangenheit, zum Ursprung −, sondern eine Reise zur avancierten Gegenwart. Insofern ist auch bei Humboldt die zeitliche Dimension nicht völlig neutralisiert, er hat aber deren Zukunft im Blick. Dieser Blick auf die höchste zivilisatorische Leistung des Menschen ist in der Sprachforschung, die aus der Anthropologie hervorgeht, dann gebunden an Texte und hoch entwickelte Literaturen. War noch im „Plan einer vergleichenden Anthropologie“ die Sprache nur einer der möglichen Gegenstände der Anthropologie, so rückt die Reise nach Paris, mehr aber noch die zweite und dritte anthropologische Reise, die Humboldt ins Baskenland führt, die Sprache ins Zentrum seiner anthropologischen Suche. Die Sprache wird für Humboldts Fortentwicklung der kantischen Philosophie der Kern des Menschseins: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ (Humboldt 1903−1936, IV: 15). Humboldt führt in der Konzentration auf Sprache seine philosophischen und seine anthropologischen
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Interessen eng. Einerseits, philosophisch, ist, der Kant-Kritik Hamanns und Herders folgend, nämlich die Sprache das „bildende Organ des Gedanken“ (Humboldt 1903−1936, VII: 53). Sie ist also nicht nur äußerliches Instrument zur Mitteilung des ohne Sprache erzeugten Gedankens, wie es bei Kant gemäß der alten aristotelischen Tradition noch der Fall war, sondern sie erzeugt selbst den Gedanken. Humboldt denkt die Sprachlichkeit des Denkens in der Systematik der kantischen Philosophie als Synthesis von Verstand und Sinnlichkeit, als „Arbeit des Geistes“ (Humboldt 1903−1936, VII: 46). Andererseits, anthropologisch, hängt diese Erzeugung des Gedankens von der Besonderheit der jeweiligen Sprache ab, denn Sprache erscheint immer als besondere Sprache: „Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten“ (Humboldt 1903−1936, IV: 21). Das Denken erzeugt sich in der Vielfalt der verschiedenen Sprachen des Menschen. Diese beiden Motive begründen das Projekt des vergleichenden Sprachstudiums, das damit der Erkundung der Erzeugung des menschlichen Denkens durch die Sprachen in ihrer Vielfalt, als verschiedener „Weltansichten“ (Humboldt 1903−1936, IV: 27), gewidmet ist. Humboldt macht sich daher auch auf den Weg, so viele Sprachen wie möglich kennenzulernen, er sammelt Grammatiken und Wörterbücher vieler Sprachen der Welt. Verglichen mit dem heutigen Kenntnisstand über die Sprachen der Welt ist die humboldtsche Sprachdokumentation natürlich noch bescheiden. Dennoch hat sein Bruder Alexander wohl recht, wenn er ihn als den Menschen bezeichnete, der zu seiner Zeit die meisten Einsichten in die Sprachen der Welt hatte, dem es vergönnt war, „tiefer in den Bau einer größeren Menge von Sprachen einzudringen, als wohl noch je von einem Geiste umfasst worden sind“ (Alexander von Humboldt 1836 in Humboldt 1903−1936, VII: 347).
2.2. Das vergleichende Sprachstudium Humboldt ([1820] 1903−1936, IV: 1−34) entwirft in seiner ersten Akademierede „Über das vergleichende Sprachstudium“ ein Forschungsprogramm, das im Wesentlichen aus zwei Arten von Untersuchungen besteht: einerseits aus Beschreibungen aller Sprachen der Welt, die die jeweils spezifische Struktur jeder Sprache zu erfassen suchen: „Monographien ganzer Sprachen“. Dabei geht es um die Erfassung der verschiedenen Sprachen in ihrer strukturellen Besonderheit als verschiedener Individualitäten des Denkens. Andererseits sollen sprachliche Kategorien, grammatische und lexikalische, durch alle Sprachen hindurch vergleichend erforscht werden. Humboldt selbst spielt dies einmal am Beispiel des Dualis durch, dessen Erscheinungsformen er in allen ihm bekannten Sprachen untersucht. Dabei wird an einem einzelnen sprachlichen Phänomen erneut die Verschiedenheit menschlichen Denkens deutlich. Mit diesen beiden Arten von Sprachuntersuchung zeigt das vergleichende Sprachstudium, „in welchem Umfang der Verschiedenheiten das Menschengeschlecht, und in welcher Consequenz ein einzelnes Volk seine Sprache bildet“ (Humboldt 1903−1936, IV: 11). Humboldt ist noch sehr vorsichtig bezüglich der strukturellen und historischen Vergleiche von Sprachen. Der historische Vergleich, die Rekonstruktion von genealogischen Zusammenhängen zwischen den Sprachen, steht ja noch am Anfang und wird dann die Erfolgsgeschichte der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Dem „typologischen“ Vergleich mit dem Ziel, strukturell unterschiedliche „Klassen“ von Sprachen zu unter-
3. Sprachwissenschaft als Anthropologie scheiden, steht Humboldt ausgesprochen skeptisch gegenüber, auch wenn immer auf Humboldt als den Begründer einer Typologie verwiesen wird, der flektierende, agglutinierende und isolierende Sprachen unterschieden habe. Diese zweifellos von Humboldt unterschiedenen morphosyntaktischen Verfahren haben bei Humboldt aber nur einen didaktisch charakterisierenden Status, sie begründen gerade keine Klassen von Sprachen. Denn Sprachen sind geistige Individualitäten und keine Klassen von physischen Objekten: „Aus zwei, die ganze Frage abschneidenden Gründen ist daher die so oft angeregte Eintheilung der Sprachen nach Art der Eintheilung der Naturgegenstände ein für allemal und für immer zurückzuweisen. Die Naturkunde hat es nie mit Geistigem und nie mit Individuellem zu thun, und eine Sprache ist eine geistige Individualität“ (Humboldt 1903−1936, VI: 150−151). Weil es um geistige Individualitäten geht, stellt sich das methodologische Problem der wissenschaftlichen Erfassung eines solchen Individuums. Humboldt ist sich dieser Problematik voll bewusst. Noch ist ja das aristotelistische Diktum in Kraft: de individuis non est scientia. Er schlägt zwei Zugänge vor: einen strukturellen und einen hermeneutisch-interpretierenden. In den erwähnten „Monographien“ der Sprachen soll zunächst der „innere Zusammenhang“ jeder Sprache studiert werden: Die erste Regel ist daher, zuvörderst jede bekannte Sprache in ihrem inneren Zusammenhange zu studiren, alle darin aufzufindenden Analogien zu verfolgen, und systematisch zu ordnen, um dadurch die anschauliche Kenntniss der grammatischen Ideenverknüpfung in ihr, des Umfangs der bezeichneten Begriffe, der Natur dieser Bezeichnung, und des ihr beiwohnenden, mehr, oder minder lebendigen geistigen Triebes nach Erweiterung und Verfeinerung, zu gewinnen. (Humboldt 1903−1936, IV: 10−11)
Humboldt denkt an Beschreibungen der Grammatik und des Lexikons einzelner Sprachen, wie er sie selbst zum Beispiel in der Mexicanischen Grammatik und im Mexicanischen Wörterbuch für das Nahuatl vorlegt. Aber solche strukturellen Beschreibungen sind noch keine befriedigende Erfassung von Sprachen, weil sich deren Individualität erst in der Textproduktion wirklich zeige. Diese Individualisierung aufgrund einer möglichst reich entfalteten Literatur nennt Humboldt den „Charakter“ einer Sprache. Hier begegnet uns in der deskriptiven Praxis des vergleichenden Sprachstudiums das typische Motiv der humboldtschen Anthropologie: die Hinwendung zu höchst ausgeformten Kulturen. In Bezug auf die Sprache ist Humboldt davon überzeugt, dass erst in der Literatur, im kreativen dichterischen Sprachgebrauch, eine Sprache zeigt, was sie kann. Deswegen formt sich ihr Charakter auch erst in einer möglichst ausgefächerten Textproduktion. Diesen aber zu erfassen, ist nach Humboldt ein hermeneutisches Wagnis, das vielleicht nicht mehr „wissenschaftlich“ zu nennen ist, das aber dennoch in Angriff zu nehmen ist. Humboldts anthropologische Linguistik ist noch nicht ganz erschlossen, da ein Großteil seines sprachwissenschaftlichen Werks zunächst unpubliziert geblieben ist und erst jetzt in der kritischen Edition seiner sprachwissenschaftlichen Schriften (Humboldt 1994 ff.) veröffentlicht wird. Dennoch sind die Grundzüge und Intentionen gut sichtbar. Humboldt hat sich im Verlauf seines Lebens mit einer großen Anzahl von Sprachen − nach einer einigermaßen plausiblen Aufstellung waren es ungefähr 75 − wissenschaftlich beschäftigt. Seine ersten linguistischen Arbeiten betreffen das Baskische (Humboldt 2012). Humboldt hat sich dann vor allem mit den amerikanischen Sprachen befasst, zu denen er eine große vergleichende Studie plante. Von diesen Arbeiten ist die Mexicani-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte sche Grammatik (Humboldt 1994) das beste und tatsächlich von ihm vollendete linguistisch beschreibende Werk. Inzwischen sind auch das Mexicanische Wörterbuch (Humboldt/Buschmann 2000) und die Grammatiken der süd-, mittel- und nordamerikanischen Sprachen erschienen (Humboldt 2009, 2011, 2013). Humboldt stand dabei im engsten Austausch mit der ersten Generation der nordamerikanischen Erforscher der Indianersprachen wie Duponceau und Pickering. Nach Studien zum Sanskrit und zu den ägyptischen Hieroglyphen hat sich Humboldt bis zu seinem Lebensende mit den austronesischen Sprachen beschäftigt. Das von seinem Sekretär Buschmann postum zu Ende geführte (nicht wirklich abgeschlossene) Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java (1836−1839) enthält nach einer allgemeinen philosophischen Einleitung und einem kulturhistorischen ersten Band die Fragmente einer vergleichenden Grammatik der austronesischen Sprachen.
3. Nach Humboldt: die moderne deskriptive Linguistik 3.1. Struktur Die triumphal erfolgreiche Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts ist aber nicht Humboldts anthropologisch-linguistisches Projekt, das die Erforschung der Verschiedenheit des menschlichen Geistes in seinen Sprachen beabsichtigt, sondern die historischvergleichende, wie sie von Bopp und Grimm begründet wurde und die sich vor allem mit den indoeuropäischen Sprachen beschäftigt, ein Paradigma, das bis in die 1950erJahre die Sprachwissenschaft − jedenfalls in Europa − beherrscht. Es geht dabei, grob gesagt, um die Erforschung der Genealogie der Sprachen, entweder mit dem Blick auf die Ausdifferenzierung bei bekannter Protosprache (wie im Fall der romanischen Sprachen) oder um die Rekonstruktion von gemeinsamen Protosprachen hinter verschiedenen Sprachen (wie bei den indoeuropäischen oder auch den germanischen Sprachen). Im Blick ist bei diesen Forschungen die historische Einheit einer Gruppe von Sprachen. Sprachwissenschaft wird in diesem erfolgreichen Mainstream − seit Bopp − zunehmend als Naturwissenschaft konzipiert. Bopp schließt ausdrücklich alles Geistige aus und reduziert die Sprache auf Lautliches. Schon die nächste Generation betrachtet die Sprache insgesamt als Naturgegenstand, der sich, analog zur Erdgeschichte, naturgesetzlich verändert. Die naturwissenschaftliche Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts fasst, wie Ferdinand de Saussure ([1916] 1975: 17) einmal spöttisch bemerkt, Sprache als „viertes Reich der Natur“ (quatrième règne de la nature). Die Dominanz dieser Richtung der Sprachwissenschaft hängt ursprünglich, vor ihrer naturalistischen Reduktion von Geschichte zu Diachronie, mit der gesellschaftlichen Aufgabe der Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert zusammen, nämlich mit der nationalen Selbstvergewisserung durch Geschichte. Die Erforschung der Verschiedenheit der Sprachen im globalen Raum dagegen, die sich ja auf nicht europäische Sprachen bezieht und damit sozusagen auf die Sprachen der „Wilden“, bildet zunächst einen minoritären Zweig der Sprachwissenschaft. In Deutschland sind die hier zu nennenden Namen Heyman Steinthal, der sich mit afrikanischen Sprachen beschäftigt hat (Steinthal 1867), der Indogermanist August Friedrich Pott, der auch über das Chinesische und über das Zigeunerische (Pott 1844) gearbeitet hat, und der Sinologe Georg von der Gabelentz (1881).
3. Sprachwissenschaft als Anthropologie Bei diesen Autoren gibt es immer auch einen Bezug auf das humboldtsche anthropologische Projekt des vergleichenden Sprachstudiums. Für den Paradigmenwechsel von der historisch-vergleichenden zur anthropologischvergleichenden Linguistik im 20. Jahrhundert sind vor allem die den nationalen und europäischen Rahmen überschreitenden globalen Perspektiven der großen Kolonialreiche verantwortlich: Frankreich, England, Russland und vor allem Amerika. Als vorbereitende Arbeiten können die Sprachbeschreibungen der europäischen (vor allem spanischen) Missionare im Gefolge der kolonialen Unterwerfung der Welt seit dem 16. Jahrhundert betrachtet werden. Die nordamerikanische Sprachwissenschaft tritt dann im Rahmen einer − ausdrücklich „Anthropologie“ genannten − Erforschung der Kulturen der unterworfenen autochthonen Völker als Deskription von Sprachen in Erscheinung und prägt das linguistische Paradigma des 20. Jahrhunderts bis heute. „Anthropologie“ ist in Amerika die Bezeichnung für die Erforschung „wilder“ Völker, die in Europa eher „Völkerkunde“ oder „Ethnologie“ genannt wird. Sofern der Ausdruck hier wie noch im 18. Jahrhundert auch auf die Erforschung physischer Eigenschaften verweist, präsupponiert er gleichsam auch eine „Geschichtslosigkeit“ oder „Natürlichkeit“ der beschriebenen Völker. Der Vater der amerikanischen Anthropologie, Franz Boas, war ein Spezialist für nordamerikanische Sprachen und sein Handbook of American Indian Languages (1911) nimmt gleichsam − auf der Basis eigener Feldforschungen − Humboldts nie geschriebenes Buch über die amerikanischen Sprachen (das gleichsam in der amerikanischen Abteilung der Schriften zur Sprachwissenschaften − Humboldt 1994 ff. − rekonstruiert worden ist) erneut in Angriff. Auch Boas‘ Schüler Edward Sapir hat zu nordamerikanischen Indianersprachen geforscht und Leonard Bloomfield, eigentlich ein Germanist, war auch ein Spezialist des Menomini, das zu den Algonkin-Sprachen Nordamerikas gehört. Gemeinsam ist diesen Sprachforschern, dass sie ihre Sprachforschungen „im Feld“, also immer im räumlichen Kontakt mit den diese Sprachen sprechenden Menschen und ihrer Kultur, anstellen. Ihre Sprachbeschreibungen sind daher oft von Textsammlungen begleitet, die über die jeweiligen Kulturen Auskunft geben. Die amerikanischen Begründer der modernen deskriptiven Linguistik haben sich auf Humboldt als einen Vordenker ihrer Intentionen berufen. Ähnlich war das auch in Russland, das sich − seit Katharina der Großen − mit den Sprachen der Völker des Riesenreiches befasste. Man kann sagen, dass die weltweite deskriptiv-linguistische Gemeinschaft das humboldtsche Projekt des vergleichenden Sprachstudiums kollektiv realisiert. Mit dem Projekt der strukturellen Beschreibung aller Sprachen der Welt geht ein vergleichender Blick auf die Sprachen einher. Dies ist, was mit „Typologie“ heute gemeint ist. Wenn Humboldt auch die Klassifizierung der Sprachen in Klassen nach Art der Naturgegenstände abgelehnt hat, so hat er in der Tat drei grundlegende grammatische Verfahren in den Sprachen unterschieden: „Isolirung der Wörter, Flexion und Agglutination“ (Humboldt 1903−1936, VII: 109), die dann nach Humboldt zur Bezeichnung von „Typen“ von Sprachen verwendet wurden. Über diese morphosyntaktischen Verfahren hinaus werden heute weitere grammatische Verfahren zur Charakterisierung von Sprachen benutzt. Eines der prominenten Beispiele einer solchen „typologischen“ Charakterisierung ist die in neuerer Zeit verwendete Bezeichnung von Sprachen als „Ergativ-Sprachen“. In diesen Sprachen werden das Agens eines intransitiven Verbs und das Patiens eines transitiven Verbs morphologisch gleich behandelt („Nominativ“ und „Akkusativ“ werden in diesen Fällen also nicht unterschieden), das Agens eines transitiven Verbs ist dagegen anders markiert (Ergativ).
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Das moderne anthropologisch-linguistische Paradigma greift in den Deskriptionen der Sprachen also durchaus Humboldts Sprachanthropologie auf. In einer bestimmten Richtung des Deskriptivismus, im amerikanischen Behaviorismus, der auch ein epistemologischer Materialismus war, hatte es allerdings insofern die zentrale humboldtsche Intention der Erfassung des „Geistes“ einer Nation in ihrer Sprache hinter sich gelassen, als es alle inhaltlichen oder „mentalen“ Einheiten als wissenschaftlich nicht greifbar ausschloss. Diesen behavioristisch-materialistischen Ansatz hat die Sprachwissenschaft aber überwunden.
3.2. Charakter Die Intention Humboldts, den Charakter von Sprachen durch die Erforschung der literarischen Produktion zu erfassen, ist in der sogenannten idealistischen Sprachwissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts durch Karl Vossler wieder aufgegriffen worden. Gegen das weitgehend naturalistisch vorgehende historische Paradigma hat Vossler in der Sprachgeschichte nach den Intentionen der Sprecher gesucht, die dem Sprachwandel zugrunde liegen. Er schreibt eine Geschichte des historischen Individuums „Französisch“. In dieser Geschichte der französischen (Literatur-)Sprache scheint wie in einer Biographie der „Charakter“ dieser Sprache auf. Hier wird der humboldtsche Fokus auf die „hohe“ Kultur nachvollzogen. Diese literarisch-ästhetische Annäherung an Sprache hatte aber in der insgesamt stramm szientifisch ausgerichteten sprachwissenschaftlichen Zunft keinen Erfolg und ist daher auch nicht weiter verfolgt worden. Denn spätestens seit Bopp (1833−1852) versteht sich die Sprachwissenschaft in ihren verschiedenen herrschenden Lehren vorwiegend als Naturwissenschaft und ist daher seitdem auch den naturwissenschaftlichen Forschungslogiken verbunden. Symptomatisch hierfür ist im 19. Jahrhundert die Position eines August Schleicher (1861/1862), der Sprachen als Naturgegenstände und Linguistik als Naturgeschichte betrachtete. Der Siegeszug der „Biolinguistik“ amerikanischer Prägung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat diese Naturalisierung der Linguistik vollendet und gesellschafts- oder kulturwissenschaftliche Ansätze zunehmend verdrängt. Eine Annäherung an die Sprache gar von der Literatur her hat in einem solchen wissenschaftlichen Umfeld keinen Ort. Gerade in ihrer Textbezogenheit manifestiert sich jedoch am deutlichsten das alternative Potenzial der von Humboldt entworfenen anthropologischen Wissenschaft von den Sprachen, an das eine hermeneutisch-kulturwissenschaftlich inspirierte Sprachwissenschaft auch heute noch anknüpfen kann. Das humboldtsche „vergleichende Sprachstudium“ geht aus von und läuft hinaus auf die Betrachtung der Sprache in ihrem Gebrauch. Die „verbundene Rede“ muss man sich „immer als das Wahre und Erste denken“ (Humboldt 1903−1936, VII: 46). Sprache ist Sprechen oder, nach dem berühmtem HumboldtWort: „Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia)“ (Humboldt 1903−1936, VII: 46). Sprache ist als Energeia also gerade kein Naturgegenstand − weder Natur, noch Gegenstand −, sondern menschliche Aktivität, kulturelle Produktivität, in konkreten historischen und sozialen Situationen. Humboldtsches „Sprachstudium“ ist ausdrücklich keine Naturwissenschaft, sondern emphatisch Kulturwissenschaft. Mit Kant gesprochen, ist diese anthropologische Sprachwissenschaft „pragmatisch“, sie betrachtet also Sprache als etwas, was der Mensch „als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (Kant 1977: IV). Als kulturwissenschaftliche Diszi-
3. Sprachwissenschaft als Anthropologie plin ist ein solches „Sprachstudium“ explizit Verbindung von „Zergliederung der Sprache“ und „Bearbeitung der Sprachdenkmäler“ (Humboldt 1903−1936, VII: 173−174) oder von „Linguistik“ und „Philologie“. Wir würden heute die „Sprachdenkmäler“ nicht auf die Literatur beschränken, sondern auf alle denkbaren Reden, Texte und Diskurse ausdehnen, die eine Sprachkultur ausmachen, und daher auch „Philologie“ weiter fassen als Humboldt. Entscheidend ist aber, dass die Wissenschaft von der Sprache vom lebendigen Sprechen her gedacht wird. Humboldt war sich der Tatsache bewusst, dass dies auch eine andere, nämlich hermeneutische Herangehensweise verlangt.
4. Literatur (in Auswahl) Adelung, Johann Christoph und Johann Severin Vater 1806−1817 Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten. 4 Teile. Berlin: Vossische Buchhandlung [Nachdr. Hildesheim: Olms 1970]. Boas, Franz 1911 Handbook of American Indian Languages. Vol. 1. (Bureau of American Ethnology, Bulletin 40.) Washington: Government Print Office. Bopp, Franz 1816 Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. Frankfurt a. M.: Andreä. Bopp, Franz 1833−1852 Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litthauischen, Gothischen und Deutschen. 6 Bde. Berlin: Dümmler. Degérando, Joseph-Marie [1800] 1994 Considérations sur les diverses méthodes à suivre dans lʼobservation des peuples sauvages. In: Jean Copans und Jean Jamin (Hg.), Aux origines de lʼanthropologie française. Les mémoires de la société des observateurs de lʼhomme, 73−109. Paris: JeanMichel Place. Gabelentz, Georg von der 1881 Chinesische Grammatik, mit Ausschluss des niederen Stils und der heutigen Umgangssprache. Leipzig: Weigel. Gessner, Conrad [1555] 2009 Mithridate. Mithridates, hg. v. Bernard Colombat und Manfred Peters. Genf: Droz. Grimm, Jacob 1819 Deutsche Grammatik. Erster Theil. Göttingen: Dieterich. Grimm, Jacob 1822−1837 Deutsche Grammatik. 4 Bde. Göttingen: Dieterich. Humboldt, Wilhelm von 1836−1839 Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java. 3 Bde. Berlin: Druckerei der Königlichen Academie. Humboldt, Wilhelm von 1903−1936 Gesammelte Schriften, hg. v. Albert Leitzmann u. a. 17 Bde. Berlin: Behr [zitiert mit Band- und Seitenzahl]. Humboldt, Wilhelm von 1994 ff. Schriften zur Sprachwissenschaft, hg. v. Kurt Mueller-Vollmer, Tilman Borsche, Bernhard Hurch, Jürgen Trabant und Gordon Whittaker. Paderborn: Schöningh.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Humboldt, Wilhelm von 1994 Mexicanische Grammatik, hg. v. Manfred Ringmacher. (Schriften zur Sprachwissenschaft III.2.) Paderborn: Schöningh. Humboldt, Wilhelm von und Eduard Buschmann 2000 Wörterbuch der mexicanischen Sprache, hg. v. Manfred Ringmacher. (Schriften zur Sprachwissenschaft III.3.) Paderborn: Schöningh. Humboldt, Wilhelm von 2009 Mittelamerikanische Grammatiken, hg. v. Manfred Ringmacher und Ute Tintemann. (Schriften zur Sprachwissenschaft III.4.) Paderborn: Schöningh. Humboldt, Wilhelm von 2011 Südamerikanische Grammatiken, hg. v. Manfred Ringmacher und Ute Tintemann. (Schriften zur Sprachwissenschaft III.5.) Paderborn: Schöningh. Humboldt, Wilhelm von 2012 Baskische Wortstudien und Grammatik, hg. v. Bernhard Hurch. (Schriften zur Sprachwissenschaft II.2.) Paderborn: Schöningh. Humboldt, Wilhelm von 2013 Nordamerikanische Grammatiken, hg. v. Micaela Verlato. (Schriften zur Sprachwissenschaft III.6.) Paderborn: Schöningh. Kant, Immanuel [1798] 1977 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Immanuel Kant, Werkausgabe. Bd. 12, hg. v. Wilhelm Weischedel, 395−690. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leibniz, Gottfried Wilhelm [1765] 1966 Nouveaux essais sur lʼentendement humain, hg. v. Jacques Brunschwig. Paris: Garnier-Flammarion. Marquard, Odo 1971 Anthropologie. In: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1, 362−374. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Pott, August Friedrich 1844 Die Zigeuner in Europa und Asien: ethnographisch-linguistische Untersuchung, vornehmlich ihrer Herkunft und Sprache, nach gedruckten und ungedruckten Quellen. Halle: Heynemann. Saussure, Ferdinand de [1916] 1975 Cours de linguistique générale, hg. v. Tullio De Mauro. Paris: Payot. Schleicher, August 1861/1862 Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. 2 Bde. Weimar: Böhlau. Steinthal, Heymann 1867 Die Mande-Neger-Sprache psychologisch und phonetisch betrachtet. Berlin: Dümmler. Trabant, Jürgen 1990 Traditionen Humboldts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Trabant, Jürgen 2003 Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. München: Beck. Trabant, Jürgen 2007 Von Wilden und Weltbürgern. Über die anthropologischen Wurzeln der Sprachwissenschaft um 1800. In: Daniel Jacob und Thomas Krefeld (Hg.), Sprachgeschichte und Geschichte der Sprachwissenschaft, 131−142. Tübingen: Narr. Vossler, Karl 1913 Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung. Heidelberg: Winter. Walch, Johann Georg 1726 Philosophisches Lexicon. Leipzig: Joh. Friedrich Gleditschens seel. Sohn.
Jürgen Trabant, Berlin (Deutschland)
4. Sprachwissenschaft und Philologie
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4. Sprachwissenschaft und Philologie 1. Sprachreflexion, Sprachforschung und Sprachwissenschaft 2. Zur Geschichte der Philologie und sprachbezogener Themen
3. Konklusion 4. Literatur (in Auswahl)
1. Sprachreflexion, Sprachforschung und Sprachwissenschaft Es besteht weithin Konsens darüber, dass die Sprachwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin erst im 19. Jahrhundert entstanden ist (Gardt 1999). Sie ist, wie andere Errungenschaften im Bereich des gesellschaftlich-sozialen Wissens der Rechts-, Geschichts-, Politik-, Kunstwissenschaft usw., als eine Frucht des durch das deutsche romantische Denken (Haym 1870; Gipper und Schmitter 1985) angeregten Historismus (Troeltsch 2008) zu betrachten. Natürlich bedeutet das nicht, dass es vor dem Prozess der Disziplinenbildung keine Beschäftigung mit Sprache und Sprachen gegeben hat; Sprachbetrachtungen dieser Art können allerdings lediglich als eine Vorgeschichte der Sprachwissenschaft angesehen werden. Bevor nun im Folgenden der Zusammenhang von Sprachwissenschaft und Philologie näher in den Blick genommen werden soll, bietet es sich an, vorgängig auf einige Unterscheidungen hinzuweisen.
1.1. Sprachreflexion und Sprachforschung Die sogenannte Sprachreflexion als ein Anthropologicum beruht auf der Reflexivität des menschlichen Bewusstseins, womit gesagt ist, dass natürlich auch Sprachliches selbst Gegenstand einer erkennenden Zuwendung sein kann. Diese Zuwendung zu Sprachlichem kann im gesellschaftlichen Kontext immer auch zu einer pragmatisch motivierten, unterschiedlich komplex systematisierten Sprachbetrachtung entwickelt werden, in der das verfügbare Wissen über Sprache und Sprachen zusammengeführt wird. Ein gegenüber diesen einfachen Formen anspruchsvollerer Begriff der Sprachreflexion liegt dann vor, wenn im Rahmen poetologisch-literarischer, juristischer, theologischer, psychologischer oder philosophisch-anthropologischer Fragestellungen und Interessen die jeweilige Rolle von Sprache und von Sprachlichem thematisiert wird. Und dies ist für unsere Fragestellung entscheidend: Bis zum Ende der Aufklärung, also noch im 18. Jahrhundert, erscheint Sprachliches in dieser Sprachforschung immer in derartigen ‚fremdbestimmten‘ Funktionalisierungen und kann damit nicht die Wissenschaftlichkeit einer wirklichen Disziplin beanspruchen. Damit ist eine für das Verhältnis von Philologie und Sprache grundsätzliche Problematik angesprochen: Es ist nämlich − und dies gilt nicht allein für die Sprachbetrachtung − strikt zwischen wissensgeschichtlichen Zusammenhängen und wissenschaftsgeschichtlichen Tatsachen, zwischen Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte zu unterscheiden − wobei keineswegs gesagt ist, dass diese grundlegenden Unterscheidungen im Einzelfall immer leicht zu treffen sind.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte
1.2. Sprachwissenschaft Wenn man danach fragt, was die Sprachwissenschaft von den angedeuteten Formen der Sprachbetrachtung vor 1800 unterscheidet, die in großer Gelehrsamkeit viele sprachliche Materialien zusammengetragen hat und auch zu wichtigen Erkenntnissen kam, dann kann man in Anlehnung an Thomas S. Kuhn (1973) sagen − und dies gilt für Wissenschaft überhaupt −, dass jetzt eine disziplinäre Matrix existiert, die für die wissenschaftliche Arbeit einer scientific community Prinzipien, Modelle, Werte und Methoden vorgibt. Für die Sprachwissenschaft seien hier vier Matrixkomponenten angedeutet: a) Der objekttheoretische Bereich ist in der Sprachtheorie als dem die linguistischen Sprachkonzeptionen betreffenden Teilbereich zentriert; dagegen beschäftigt sich b) die Theorie der Sprachwissenschaft als metawissenschaftlicher Bereich mit den je nach Interessenausrichtung unterschiedlichen Formalobjekten der Linguistik; c) die Theorie der Spracherforschung oder Methodologie beinhaltet alle den Gegenstand Sprache, so wie er in der Linguistik jeweils konzipiert wird, betreffenden heuristischen Verfahren der Erkenntnisgewinnung; d) die Theorie der Sprachbeschreibung oder Repräsentationstheorie schließlich beschäftigt sich mit allen Arten von (einfachen oder komplexen) auf den Gegenstand Sprache bezogenen Feststellungen, die sich in der Sprachwissenschaft treffen lassen und die mit unterschiedlichen Verfahren generiert werden; zur Theorie einer so verstandenen Sprachbeschreibung gehört gerade auch die Grammatiktheorie. Ein Instrumentarium, das eine solche mehrdimensionale, hierarchische Struktur berücksichtigt und das Gefüge ihrer verschiedenen Ebenen wissenschaftstheoretisch erarbeitet, kann als Maßstab für den Vergleich von Linguistikkonzeptionen dienen und vermag Entscheidungen über die Zugehörigkeit zu einem Paradigma im Sinne einer wissenschaftsgeschichtlichen Heuristik zu begründen; es versteht sich von selbst, dass sich für die vorwissenschaftliche Phase der Sprachbetrachtung die genannten Gesichtspunkte, allerdings mit negativen Resultaten, ebenfalls anwenden lassen. Es ist nämlich festzuhalten, dass die Sprachbetrachtung vor 1800 in zwei der genannten Konstitutionsbereiche grundlegende Defizite aufweist und damit Wissenschaftlichkeit grundsätzlich verfehlt: Erstens fehlt ein Begriff der Sprache, der die Geschichtlichkeit des Objekts Sprache hätte konzeptualisieren können, und, zweitens, liegt in der metadisziplinären Perspektive noch keine Autonomie vor; es gibt also keine Emanzipation von den angedeuteten heterogenen, ein Querschnittsthema wie die menschliche Sprache kennzeichnenden, unabschließbar-offenen Forschungsorientierungen. Eine derartige Autonomisierung, die nicht einfach als Reduktionismus misszuverstehen ist, muss für die Formalobjekte und die Werte, Modelle und Methoden einer wissenschaftlichen Disziplin als konstitutiv betrachtet werden. Neben diesen beiden notwendigen Bedingungen, die nach 1800 die Herausbildung der Sprachwissenschaft aus der Sprachforschung ermöglichten, sind für deren Entstehung zwei weitere, allerdings klar historisch-kontingente Bedingungen anzusetzen, die diesen Neubeginn erleichtern und befördern; es sind dies die Entdeckung des Sanskrit sowie die zeitgenössische Faszination durch Geschichte, speziell die Mittelalterbegeisterung in der deutschen Romantik. Wenn die Beschäftigung mit der menschlichen Sprache in dieser Linie konzipiert wird, tut sich ein unüberbrückbarer Widerspruch auf zwischen der Sprachwissenschaft als Disziplin und der sogenannten Philologie, die im Abendland seit der Antike als wichtiger Ort der praktischen und theoretischen wissensbezogenen Aktivitäten zu betrachten ist, an dem auch das sprachbezogene Wissen seinen Platz hatte. Es wird sich
4. Sprachwissenschaft und Philologie noch zeigen, dass die Erkenntnisinteressen der Philologie äußerst vielgestaltig sind und Philologie mit der Referenz auf Kultur einen empirisch schwer fassbaren und kaum wahrheitsfähigen Forschungsgegenstand hat.
1.3. Disziplinen, Fächer und Interdisziplinarität bei Querschnittsthemen Zur Klärung der Frage, wie sich nach 1800, also nach der Entstehung der Sprachwissenschaft, die Philologie zu den in ihr angesiedelten Disziplinen und wissenschaftlichen Aktivitäten verhält, sind weitere begriffliche Bestimmungen notwendig. Philologien sind heute im akademisch-universitären Bereich als Fächer, nicht aber als wissenschaftliche Disziplinen anzusehen: Wo dies nicht beachtet wird, ergeben sich Irrtümer und fatale fallacies. Dieser Hinweis ist deswegen so wichtig, weil gegenwärtig etwa auch die sogenannten Medienwissenschaften oder die Kulturwissenschaften keinen wissenschaftlichdisziplinären Status beanspruchen können (vgl. aber Böhme, Mattusek und Müller 2000); als an wichtigen sogenannten Querschnittsthemen interessierte Fächer gehen sie in einer interdisziplinären Forschung Verbindungen mit ganz unterschiedlichen Disziplinen ein.
2. Zur Geschichte der Philologie und sprachbezogener Themen 2.1. Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und europäische Aufklärung Die Etymologie des Wortes Philologie kann zunächst einen Einstieg in die Thematik bieten: Die Wortgeschichte beginnt mit Platon, der φιλόλογος verwendet, einmal sogar φιλολογία, wobei die Bedeutungen des λόγος-Begriffs, wie Horstmann feststellt, von der „Lust an philosophischen Gesprächen und Untersuchungen bis zum leidenschaftlichen Verlangen nach brillianter Rede“ reichen (Horstmann 1989: 552; für das Folgende vgl. Horstmann 1989: 551−554); der kulturell-textuelle und grammatisch-literarische Bezug zu Diskursen, rhetorisch überzeugender Rede und philosophischen Inhalten ist deutlich. Bis ins 3. vorchristliche Jahrhundert prägt die Beziehung zur Philosophie beide Begriffe, was gelegentlich auch in den synonymen Verwendungen der Verben φιλολογείν und φιλοσοφείν (also ‚disputieren‘ und ‚philosophieren‘) zum Ausdruck kommt. Im Hellenismus erweitert sich das Bedeutungspektrum von φιλόλογος dann generell hin auf ‚Wissenschaft und Bildung‘, was gerade auch naturkundliche Kenntnisse einschloss. Φιλόλογος bezeichnet seit dieser Zeit auch den Gelehrten schlechthin. Die lateinisch-römische Welt übernimmt die griechischen Bedeutungen von φιλόλογος und φιλολογία, was sich nach Ennius dann bei Cicero, Vitruv oder Plutarch genauer zeigen ließe; gelegentlich, etwa bei Cicero, scheint auch die Differenz des vom Tagesgeschehen entfernten gelehrten philologus zum homo politicus auf, wohingegen die am philosophisch angeleiteten ‚richtigen Leben und Handeln‘ interessierten Stoiker Seneca oder Epiktet die philologia als bloße Gelehrsamkeit kritisch sehen. Gelehrsamkeit steht auf jeden Fall in Kontrast zu Laienwissen. Wichtig sind die beiden Aspekte, die Liebe zum lógos und die daraus resultierende Gelehrsamkeit, die auch im 5. Jahrhundert bei Martianus Capella im wirkmächtigen allegorischen Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii zum Ausdruck kommen; die philologia erscheint als doctissima virgo. Von der
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Spätantike wird die enzyklopädische Wissenssystematik dieses Grundwerks von den septem artes liberales, also mit trivium − Grammatik, Rhetorik, Dialektik − und quadrivium − Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik −, ins Mittelalter und ihre Universitäten weitergegeben. Die italienische Renaissance benutzt nicht filologia, sondern studia litterae beziehungsweise honestae artes, was bei Petrarca, Salutati und Bruni − Letztere sprechen vor allem von den studia humanitatis − und bei Polizian, der den grammaticus dem philologus gegenüberstellt, deutlich wird (vgl. hierzu und für das Folgende Horstmann 1989: 555−561). Francesco Robortello sieht die philologia auch als ars sive ratio corrigenda antiquorum libros. Wie schon in der Antike wird bei Raffaello Volterrano Philologie wieder umfassender Sammelbegriff für alle Wissenschaften und Künste. Der französische Humanismus versteht Philologia, befördert vor allem durch Guillaume Budé, ebenfalls als eine alle anderen Wissensgebiete umfassende orbicularis doctrina der disciplinae liberales, durchaus auch mit neuem geistig-sittlichen Renaissance-Bezug. Für die Folgezeit wichtig ist die für Frankreich und Holland kennzeichnende polyhistorisch-enzyklopädische Öffnung der Philologie, die auch noch für Kant gültig ist; sie provoziert im aufklärerischen Frankreich aber interessante kritische Einschätzungen. So definiert die von Diderot und d’Alembert zwischen 1751 und 1768 herausgegebene Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de Lettres die philologie als „espèce de science composée de grammaire, de poétique, d’antiquités, d’histoire, de philosophie, quelquefois même de mathématiques, de médicine, de jurisprudence, sans traiter aucune de ces matières à fond ni séparément, mais les effleurant toutes ou en partie“ (Encyclopédie 1765. Bd. 12: 508, zit. n. Horstmann 1989: 556 f.). Damit ist ersichtlich, dass es sich bei der Philologie um keine Wissenschaft handelt; die zeitgenössische Faszination durch die Entwicklung der Naturwissenschaften Physik, Astronomie, Biologie und vor allem der Chemie ist als Hintergrund ebenfalls wirksam. Immerhin versucht man die polyhistorisch-materiale Offenheit durch die Konzentration auf die Sprachgestaltung klassischer Texte und ihre kontextualisierende Kommentierung enger zu führen, wobei im Unterschied zu Italien, wo die correctio als rhetorisch-humanistischer Wert wirksam ist, in Frankreich Texttreue fast keine Rolle spielt; in der theologischen Tradition der protestantischen Länder ist die Richtigkeit des Textes aber naturgemäß zentral, in den juristischen Traditionen wohl erst ab dem 19. Jahrhundert. Insgesamt bleibt aber strittig, wie das Verhältnis zur philologia sacra zu bestimmen sei, ob das Lateinische unverzichtbare Wissenschaftssprache bleiben soll oder ob und wie die Volkssprachen einbezogen werden können; auch das zeitgenössische Ideal der Geschmacksbildung durch klassische Werke, deren Kommentierung und Auslegung authentische Editionen erfordert, wird diskutiert. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte der Philologie als Wissensmodell nachzuzeichnen, für die seit der Frühen Neuzeit, vor allem auch im reformatorischen Kontext, signifikante Transformationen kennzeichnend sind: Die Spannungen zwischen allgemeinem Kulturbezug, einem zentral textuellen Interesse und empirischen Wissensbeständen bleiben dabei allgegenwärtig. Sprachbezogene Studien im Rahmen dieser Philologie oder im Kontakt mit ihr widmen sich, gerade auch mit editorisch-hermeneutischen Interessen, vor allem phonetischen und schriftbezogenen, lexikalischen und grammatisch-einzelsprachlichen Fragen; bei diesen Studien gibt es literarhistorisch-poetologische und rhetorische Ausgriffe, gelegentlich weisen sie auch einen philosophisch-universalistischen Zuschnitt auf, beziehen
4. Sprachwissenschaft und Philologie historisch-anthropologische Aspekte mit ein und versuchen genealogische oder typologische Klassifikationen. Insgesamt werden die grammatisch-sprachbezogenen Betrachtungen im Feld der Philologie und Philosophie artesbezogen verstanden. Die vage Vorstellung eines Gesamtfelds der Sprachforschung ist zwar vorausgesetzt, jedoch bleiben auch in den Artistenfakultäten Status und Strukturierung dieses sprachbezogenen Wissens undeutlich. Alle diese Bemühungen können auf keinen Fall als Sprachwissenschaft gelten, sondern sind der Vorgeschichte der Sprachwissenschaft zuzurechnen.
2.2. Philologie und Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert Es ist entscheidend, dass durch die Entstehung des historisch-vergleichenden Paradigmas in der Sprachbetrachtung, in dessen Rahmen sich die eigentliche Sprachwissenschaft konstituiert, auch Begriff und Zuschnitt der Philologie neu bestimmt wird. Allerdings verbleiben vor allem die Altertumswissenschaften und einige andere Philologien noch von der alten enzyklopädischen Ausrichtung geprägt. Dies soll kurz angesprochen werden (2.2.1), bevor dann systematisch auf die Sprachwissenschaft in den verschiedenen Nationalphilologien Bezug genommen wird (2.2.2).
2.2.1. Klassische Philologie und Altertumswissenschaft Bei der angeführten Kritik an der thematischen Beliebigkeit der Philologie ist gerade auch an die Klassische Philologie zu denken, die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland zwar durch die progressiv-innovativen institutionellen Aspekte des Seminars und dessen akademische Arbeitsformen auszeichnet. Bezeichnenderweise spricht Friedrich August Wolf nicht von Philologie, sondern von Alterthumswissenschaft bzw. Alterthumskunde (vgl. hierzu und zum Folgenden Horstmann 1989: 562−569), deren Fundierung in der Realienkunde die massiv enzyklopädische Ausrichtung determiniert; diese gegenstandsbezogene Offenheit kann auch nicht durch die Tatsache geheilt werden, dass die einbezogenen Wissensbereiche in der Klassischen Philologie im Blick auf Texte funktionalisiert und neuhumanistisch-bildungsbezogen bewertet werden. Kurz: Die Gegenstandsbestimmung bleibt defizitär, und so ist es auch kein Zufall, dass die Klassische Philologie sich, im Unterschied zu den philologischen Fächern Germanistik, Indogermanistik, Romanistik, Anglistik, Slavistik, Keltologie usw., kaum als im Sprachwissenschaftlichen zentriertes Fach konstituieren kann. Bemerkenswert ist insgesamt die Rolle der sogenannten Philologen und Schulmänner, die seit 1835 in einem Verein eine neuzeitliche höhere Bildung für das Gymnasium einfordern, auch mit den germanisch-mittelalterlichen Texten und den modernen romanischen Fremdsprachen und dem Englischen; genannt seien nur Karl Mager und der klassische Philologe Friedrich Wilhelm Ritschl. Die inhaltlichen Bestimmungen des Fachs Klassische Philologie oszillieren also zwischen Grammatik, Hermeneutik und Textkritik. Hauptziel ist das Studium der klassischen Welt als solcher, die Geschichte des klassischen Geistes und der antiken Gesamtkultur. Die scharfe Kritik, die Friedrich Nietzsche in Homer und die klassische Philologie äu-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte ßert, wenn er bezüglich der Rekonstruktion des idealen, ewig mustergültigen Klassischen von geborgten Erkenntnissen und Bildungsphilisterei spricht, bleibt folgenlos. Die auch noch im 20. Jahrhundert gültige Idee von Philologie formuliert Ulrich von WilamowitzMoellendorff: Die Philologie, die immer noch den Zusatz klassisch erhält, obwohl sie den Vorrang, der in dieser Bezeichnung liegt, nicht mehr beansprucht, wird durch ihr Objekt bestimmt, die griechisch-römische Kultur in ihrem Wesen und allen Äußerungen ihres Lebens […]. Die Aufgabe der Philologie ist, jenes vergangene Leben durch die Kraft der Wissenschaft wieder lebendig zu machen […]. Auch hier […] ist das Verwundern über das Unverstandene der Anfang; das reine beglückende Anschauen des in seiner Wahrheit und Schönheit Verstandenen ist das Ziel. (Wilamowitz-Moellendorf 1921: 1)
Warum in einer solchen Philologie keine disziplinär belastbare Sprachwissenschaft etabliert werden kann, wird im Folgenden deutlich.
2.2.2. Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft und die modernen Nationalphilologien Es ist bekannt, dass mit den Werken von Franz Bopp, Rasmus Rask und Jacob Grimm eine Wende in der Sprachbetrachtung eintritt, die Theodor Benfey, ein begeisterter Anhänger und früher Historiograph der neuen Sprachwissenschaft, in seiner Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland drastisch zum Ausdruck bringt, wobei die Breite der vorwissenschaftlichen Sprachforschung durchaus anerkannt wird: Das letzte Jahrhundert vollends, speciell die in der neuen Wendung zunächst vorhergegangenen Decennien, hatten eine ausserordentliche Theilnahme für alles entwickelt, was in ihr [sic!] Bereich gehört und zur Förderung derselben beizutragen vermag: Specialgrammatik, allgemeine Grammatik, Sprach-Philosophie, Physiologie der Laute, Forschungen über Ursprung und Entwickelung der Sprachen waren zu einer Lieblings-, fast zu einer ModeBeschäftigung geworden, und eine umfassende Erweiterung und Begünstigung der Sprachenkunde schien den sichersten Weg zur Vollendung dieser Wissenschaft gebahnt zu haben. Und dennoch war die Wendung, welche nun eintrat, eine so gewaltige, dass von allem, was früher geschehen war, fast kein Stein übrig blieb, dass der ganze Werth der vorhergegangenen Arbeit − selbst des darin richtigen, denn dieses erhielt ganz andere Unterlagen − zu einem rein historischen herabsank, dass die Sprachwissenschaft jetzt erst eine Wissenschaft zu werden begann und von diesem Gesichtspunkt aus mit Recht als eine der jüngsten betrachtet werden darf. (Benfey 1869: 332)
Die Veränderungen innerhalb der Sprachbetrachtung sind in der Tat grundstürzend. Bedingt durch die auf dem Vergleich der Texte des Sanskrit, Griechischen, Lateinischen und Persischen beruhende morphologische Revolution und die Formulierung von Lautgesetzen, können jetzt Erscheinungen des Sprachwandels nachgezeichnet und Sprachfamilien mit ihren Grundsprachen zweifelsfrei empirisch ermittelt werden; die Strahlkraft der neuen Wissenschaft in Europa ist ungeheuer (vgl. etwa Grotsch 1984).
4. Sprachwissenschaft und Philologie Damit geschieht auch wissenschaftssystematisch etwas ganz Neues: Die Sprachwissenschaften als inhaltlich und institutionell definierte Disziplinen bilden gewissermaßen Kristallisationskerne für Einzelphilologien, die sich in der Regel als Nationalphilologien konstituieren. In diesen Philologien als Fächern bleiben die von Editionstechnik und Literarhistorie behandelten Texte und ihre Wirklichkeitsbezüge weiter auch für die Sprachwissenschaft bedeutsam, weil die Gegenstände und Methodologien sich eben auf die flektierenden Schriftsprachen und die Texte in diesen Sprachen beziehen. Die notwendige Kooperation mit den Literatur- und Textwissenschaften wie Recht, Theologie usw. gilt jedoch nicht allein für die diachronisch orientierte Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern betrifft auch Teile der heutigen synchronisch und diachronisch arbeitenden Linguistik: Ohne dass dabei die spezifisch disziplinär formierten Methoden und Erkenntnisinteressen übergangen werden sollen, sei daran erinnert, dass bei so zentralen linguistischen Themen wie sprachlicher Ausbau, Diglossie und Plurizentrik, Sprachgeschichte, Sprachwandeltheorie und Grammatikalisierungsforschung, Innovation und sprachliche Kreativität, Varietätenlinguistik, Korpuslinguistik, Textverständnis und anderen mehr in der Sprachwissenschaft alle Diskurse und Texte interessieren müssen, die im kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft funktionieren; es ist evident, dass die Linguistik ganz pragmatisch hier auf systematische Kooperationen angewiesen ist, die eben in der Fachstruktur der Philologien beginnen können; es ist also völlig verfehlt, die Philologien gewissermaßen als vor sich hin dümpelnde altertümliche Schlachtschiffe zu diffamieren.
2.3. Philologie und zu philologische Methoden im 20. Jahrhundert und heute 2.3.1. Wissenschaftssystematische Aspekte Es ist sehr interessant, dass die Hochschätzung philologischer Methoden zusammen mit einem geschärften epistemologischen Blick auf die Sinnstrukturen unserer Lebenswelten nicht nur bei Literaturwissenschaftlern wie Peter Szondi (1975) oder in der berühmten interdisziplinär arbeitenden Konstanzer Gruppe Poetik und Hermeneutik (Jauß 1998), bei Juristen wie dem italienischen Romanisten Emilio Betti (1962), sondern auch bei französischen Autoren von Paul Ricœur (1974) bis Jean Bollack (Bollack und Llored 2000) eine große Rolle spielten. Entscheidend scheinen mir immer noch die wissenschaftssystematisch und wissenschaftstheoretisch bedeutsamen Arbeiten von Hans Georg Gadamer (1975), Hans-Otto Apel (1980) und Jürgen Habermas (1994) zu sein, die in der Philosophie zu einem renouveau einer hermeneutisch-philologischen Argumentation geführt haben, die allerdings nur sehr indirekt universitär-akademische Fachstrukturen betrifft; sie können aber durchaus mit den wissenschaftstheoretischen Überlegungen enggeführt werden, die im Anschluss an den von Theodor W. Adorno herausgegebenen Band Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (Adorno et al. 1978) eine öffentliche Debatte in den Geistes- und Sozialwissenschaften ausgelöst haben. Es ist nach wie vor eine der unverständlichen Entwicklungen der neueren Wissenschaftsgeschichte, dass diese Fragen gerade im drängenden Kontext der aktuellen wissenschaftssystematischen Probleme der Geisteswissenschaften erfolgreich verdrängt wurden. Weder in der Philolo-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte gie-Debatte, die Philologie als Wissensmodell oder als Kulturtechnik zur Diskussion stellt, noch auch in der Selbstpositionierung der Mainstream-Linguistik sind aktuell Fragen relevant, die in den sogenannten verstehenden, qualitativ arbeitenden Sozialwissenschaften durchaus diskutiert werden. Anzumerken ist hier noch, dass die Zentrierung der philologischen Methoden im Sprachlich-Diskursiven natürlich nicht gegen diejenigen Wissenschaften gerichtet ist, die sich mit anderen semiotischen Modi, vor allem etwa in der bildenden Kunst, beschäftigen. Allerdings dürfen die Sprach- und Textwissenschaften durchaus davon ausgehen, dass auch alle anderen symbolisch vermittelten Modalitäten der sozialen Semiotik erst im Medium des Sprachlich-Diskursiven ihre letzte historische Bestimmtheit gewinnen können.
2.3.2. Philologie als Kulturtechnik und als Lebens-Form? Eine ganz andere, theoretisch leider nicht immer sehr befriedigende Diskussion findet zurzeit in den Kulturwissenschaften und der literaturwissenschaftlichen Germanistik statt (Jäger 2013), wo ein Unbehagen an den exzessiv kulturwissenschaftlichen Öffnungen eine Neubewertung der Philologie als Kulturtechnik (Kelemen et al. 2011) befördert und auch Kulturwissenschaftler vorsichtig den negativ konnotierten Kampfbegriff einer Rephilologisierung immerhin zu diskutieren beginnen; man vergleiche etwa den Band des DFG-Symposiums Die Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Öffnung? (Erhart 2004). Wie wichtig der Diskussionszusammenhang Philologie insgesamt eingeschätzt wird, davon zeugen Titel von Büchern wie Die Macht der Philologie (Gumbrecht 2003), Das Ethos der Philologie (Laufhütte 2003), Die Verheißungen der Philologie (Alt 2008). Auch Toni Tholen geht, allerdings in anderer Richtung, sehr weit, wenn er 2009 in Philologie im Zeichen des Lebens davon spricht, „dass gegenwartssensible Philologen […] die Literaturwissenschaft nicht nur in Bezug auf Formen des Lebenswissens, sondern auch auf solche des Überlebenswissens auszurichten versuchen […]. In einer solch prekären Situation hat das Nachdenken über und das Eintreten für eine Philologie als Lebens-Form eine eminente kultur- und wissenschaftspolitische Funktion“ (Tholen 2009: 63). Die hier nur angedeutete Diskussion spiegeln übrigens die Beiträge recht gut wider, die zum 100. Jubiläum der Germanisch-Romanischen Monatsschrift 2009 unter dem Titel Philologie und Kultur von Renate Stauf und Cord-Friedrich Berghahn herausgegeben wurden (Berghahn und Stauf 2009). Sie machen teilweise auch deutlich, dass im philologischen Wissenskontext durchaus normative Fragen diskutierbar sind, während Normativität im wissenschaftlichen Kontext keinen Platz hat.
3. Konklusion Folgendes Ergebnis unserer Überlegungen sei festgehalten: Trotz aller disziplinärer und fachbezogener Differenzen, die nicht eingeebnet werden dürfen, sondern theoretisch reflektiert werden müssen, sprechen gute pragmatische Gründe für die angesprochene philologische Fachstruktur als universitäre Organisationsform, die linguistische und litera-
4. Sprachwissenschaft und Philologie turwissenschaftliche und eben auch textwissenschaftliche Forschungen beherbergt. Auf diese Weise solide verankert, können die Philologien als Fächer bei wichtigen medienund kulturwissenschaftlichen Querschnittsthemen dann jeweils auch echte interdisziplinäre Gespräche anleiten, wobei die geschilderten wissenschaftstheoretischen und wissenschaftssystematischen Zusammenhänge jeweils zu beachten sind: Dies würde auch der in der Regel pauschalen Kritik an den Philologien in beträchtlichem Maß die argumentative Grundlage nehmen.
4. Literatur (in Auswahl) Adorno, Theodor W., Ralf Dahrendorf, Harald Pilot, Hans Albert, Jürgen Habermas, Karl R. Popper 1978 Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 6. Aufl. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand. Alt, Peter-André 2008 Die Verheißungen der Philologie. Göttingen: Wallstein. Apel, Karl-Otto 1980 Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. Bonn: Bouvier. Berghahn, Cord-Friedrich und Renate Stauf (Hg.) 2009 Philologie und Kultur. Die Germanisch-Romanische Monatsschrift 1909−2009. (Themenheft zum 100. Geburtstag = Germanisch-Romanische Monatsschrift 1.) Heidelberg: Winter. Benfey, Theodor 1869 Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts mit einem Ru¨ckblick auf die fru¨heren Zeiten. München: Cottaʼsche Buchhandlung. Betti, Emilio 1962 Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften. Tübingen: Mohr. Böhme, Hartmut, Peter Matussek und Lothar Müller 2000 Orientierung Kulturwissenschaft. Reinbek: Rowohlt. Bollack, Jean und Patrick Llored 2000 Sens contre sens: comment lit-on? Entretiens avec Patrick Llored. Aubenas: La Passe du vent. Erhart, Walter (Hg.) 2004 Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart/Weimar: Metzler. Gadamer, Hans Georg 1975 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr. Gardt, Andreas 1999 Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York: Mouton de Gruyter. Gipper, Helmut und Peter Schmitter 1985 Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Tübingen: Narr. Grotsch, Klaus 1985 Von der „Natur der Sache“ zur Geschichte der Sprache. Der Übergang von der Sprachforschung zur Sprachwissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8, 205−217.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Gumbrecht, Hans Ulrich 2003 Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen 1994 Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haym, Rudolf 1870 Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin: Rudolf Gaertner. Horstmann, Axel 1989 Philologie. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7, Sp. 552−572. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Jäger, Ludwig 2013 „Return to Philology“. In: Hartmut Bleumer, Rita Franceschini, Stephan Habscheid und Niels Werber (Hg.), Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Themenheft der Zeitschrift für Linguistik und Literaturwissenschaft 43(172), 48−54. Jauß, Hans Robert 1998 Epilog auf die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. In: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.) in Zusammenarbeit mit Matthias Christen, Kontingenz. Die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. (Poetik und Hermeneutik 17.) München: Fink. Kelemen, Pál, Erno Kulcsár Szabó und Ábel Tamás (Hg.) 2011 Kulturtechnik Philologie: Zur Theorie des Umgangs mit Texten. Heidelberg: Winter. Kuhn, Thomas S. 1973 Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Laufhütte, Hartmut 2003 Vom Ethos der Philologie. In: Euphorion 97, 265−283. Ricœur, Paul 1974 Ein Versuch über Freud. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Szondi, Peter 1975 Einführung in die literarische Hermeneutik, hg. v. Jean Bollack und Helen Stierlin. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Tholen, Toni 2009 Philologie im Zeichen des Lebens. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 59(1), 51−64. Troeltsch, Ernst 2008 Der Historismus und seine Probleme. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 16: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hg. v. Friedrich Wilhelm Graf. Berlin: de Gruyter. Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich 1921 Geschichte der Philologie. In: Alfred Gercke und Eduard Noden (Hg.), Einleitung in die Altertumswissenschaften. Bd. 1(1), 1−80. Leipzig/Berlin: Teubner.
Wulf Oesterreicher, München (Deutschland)
5. Sprachwissenschaft als Hermeneutik
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5. Sprachwissenschaft als Hermeneutik 1. Einleitung 2. Wilhelm von Humboldts hermeneutische Sprachauffassung 3. Friedrich D. E. Schleiermacher und das Problem des Verstehens
4. Die Konstruktivität des Verstehens: „Jedes Verstehen ist zugleich ein Nicht-Verstehen“ 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Die Entwicklung der Sprachwissenschaft präsentiert sich seit dem 19. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Interessen, Gegenstände und Fragestellungen in einer erstaunlichen konzeptionellen und methodischen Vielfalt. Dies zeigt sich insbesondere in den verschiedenen disziplinären Zugriffen auf einen unterschiedlich konzeptualisierten und somit nicht identischen Gegenstand Sprache. Das, was „Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert“ ausmacht − von ihr soll im Folgenden vor allem die Rede sein −, lässt sich deshalb nicht unter einen einheitlichen Begriff subsumieren. Die thematische Vielfalt reicht von Friedrich Schlegels Arbeit Ueber die Sprache und Weisheit der Indier (Schlegel 1808) am Anfang des 19. Jahrhunderts über Humboldts Kawi-Werk mit der weitaus bekannteren Einleitung Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (Humboldt 1836) und Jacob Grimms Geschichte der Deutschen Sprache (Grimm 1848) bis zum Beginn des Jahrhundertprojekts des Deutschen Wörterbuchs in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts (Grimm und Grimm 1854 ff.) oder von Heymann Steinthals Grammatik, Logik und Psychologie (Steinthal 1855) über August Schleichers Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft (Schleicher 1863) und die Lautphysiologie Eduard Sievers’ (Sievers 1876) bis − gegen Ende des Jahrhunderts − zu den Junggrammatikern und Hermann Pauls Prinzipien der deutschen Sprachgeschichte (Paul 1880). Trotz dieses zunächst breiten Spektrums divergierender theoretischer Modellierungen des Gegenstandes Sprache ist für die Entwicklung der Disziplin Sprachwissenschaft eine perspektivische Verengung des gegenstandskonstitutiven Blicks charakteristisch: Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts überlagerte der wachsende Einfluss einer eher naturwissenschaftlich orientierten Disziplinenbildung die Tradition hermeneutischer Konzeptualisierungen von Sprache, wie sie etwa bei Humboldt und Schleiermacher ausgeprägt waren. Diese eher in die Peripherie der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung gedrängte Tradition soll im Folgenden näher ins Auge gefasst werden.
2. Wilhelm von Humboldts hermeneutische Sprachauffassung Das 19. Jahrhundert scheint auch in der Sprachwissenschaft der historische Ort zu sein, an dem es nach der zunächst zaghaften Überwindung des aufklärerischen Erkenntnisoptimismus bereits um die Mitte des Jahrhunderts kaum mehr möglich ist, jenseits der Vielfalt der Perspektiven noch konsensuell zu einem gemeinsamen Erkenntnisgegenstand,
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte zur Sache selbst, vorzudringen. So stellt sich etwa für Wilhelm von Humboldt die ansonsten in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts noch prominente „Frage nach der Existenz einer sprachunabhängig bestehenden Realität“ (Gardt 1999: 234−235) kaum mehr, weil es für ihn die Weltansichten der verschiedenen Sprachen sind, in deren je individuellen Horizonten sich plurale Wirklichkeiten allererst bilden. Humboldt plädiert deshalb programmatisch für eine vergleichende Sprachforschung, die „an den Punkt anschließt, in welchem die Sprache mit der Gestaltung der nationellen Geisteskraft zusammenhängt“ (Humboldt [1903−1936] 1968b: 14). Zwar mag seine These, dass die Sprache als die „äusserliche Erscheinung des Geistes der Völker“ (Humboldt 1968b: 42) aufgefasst werden muss, in einem weiten Sinne noch allgemein Zustimmung gefunden haben. Doch wenn „die Hervorbringung der Sprache“ verstanden wird als „ein inneres Bedürfniss der Menschheit“, wenn sie „nicht bloß ein äusserliches zur Unterhaltung gemeinschaftlichen Verkehrs, sondern ein in ihrer Natur selbst liegendes, zur Entwicklung ihrer geistigen Kräfte […] unentbehrliches“ Bedürfnis darstellt (Humboldt 1968b: 20), dann kann das Verhältnis von Sprache und Geist nicht mehr in einem dualistischen Sinn als bloßes Repräsentationsverhältnis betrachtet werden: Denn „ihre [der Völker] Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken“ (Humboldt 1968b: 42). Allerdings scheint man, folgt man Gardt (1999: 236), den „Sprachrelativismus Humboldts […] in zweierlei Hinsicht einzuschränken, zumindest präzisieren“ zu müssen: Einmal gehe nämlich Humboldt − so Gardt − durchaus von der Existenz „allgemeiner Gesetze des Denkens aus, die übereinzelsprachlicher Natur sind“, zum anderen vollziehe er die Implikationen des Relativitätsprinzips nicht in aller Radikalität nach (vgl. Gardt 1999: 237). In der Tat hat es den Anschein, als sei es Humboldt im Zuge der Einführung seiner Ergon-Energeia-Unterscheidung weniger um Sprachrelativismus, als vielmehr um die Begründung einer „genetischen“ Sprachdefinition zu tun, in der, anders als später im Strukturalismus, das „jedesmalige Sprechen“ (Humboldt 1968b: 46), die parole, gegenüber einer schriftbezogen verstandenen Sprache, der langue, ausgezeichnet wird: „Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig […] Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht“ (Humboldt 1968b: 45 f.). Freilich müssen „Sprachrelativismus“ und „genetische Sprachdefinition“ kein Widerspruch sein. Denn die „den Gedankenausdruck hervorbringende geistige Thätigkeit“ ist „immer zugleich auf etwas schon Gegebenes gerichtet, nicht rein erzeugend, sondern umgestaltend“ (Humboldt 1968b: 47). Der genetische Prozess der sprachlichen Gedankenerzeugung ist also immer eingelassen in die Relativität bestimmter sprachlicher Weltansichten. Neben der Ergon-Energeia-Unterscheidung prägt ein weiterer Dualismus Humboldts sprachtheoretisches Denken, insofern nämlich, als er Sprache einerseits im Sinne einer allgemeinen Sprachlehre oder philosophischen Grammatik als Gegenstand (sprach)philosophischer Reflexion und somit als ein Allgemeines konzeptualisiert, andererseits jedoch in der historisch-empirischen Praxis seiner vergleichenden Sprachforschung zum jeweils Historisch-Individuellen einer Einzel- oder Nationalsprache vorzudringen versucht. Auch diese Dualität muss allerdings nicht im Sinne sich wechselseitig exkludierender Alternativen verstanden werden: Denn das Ziel des „gesammte[n] Sprachstudium[s]“ (Humboldt 1968b: 620) ist es, „aus der Sprache (d. i. der Sprache im Allgemeinen und allen besondren Idiomen des Erdbodens) ein eignes […] Studium zu machen […]“
5. Sprachwissenschaft als Hermeneutik (Humboldt 1968b: 603). Es „muss daher das Allgemeinste umfassen, dem Tiefsten sich so sehr als möglich nähern, und zugleich so weit zum Besondren hinabsteigen, als der Verstand nach Analogie und Zusammenhang aufzufinden vermag […]“ (Humboldt 1968b: 620 [Hervorh. B.U.B.]). Auch für die theoretische Bestimmung der „Natur und Beschaffenheit der Sprache überhaupt“ (Humboldt 1968b: 52 ff.) ist ein begrifflicher Dualismus bestimmend: der nämlich von Subjektivität und Objektivität. Eine zentrale Leistung der Sprache − als eines Ausdrucksmediums − besteht nämlich darin, es der subjektiven Vorstellung zu ermöglichen, sich zu objektivieren und zum Begriff zu werden. „Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache“ (Humboldt 1968b: 55). Philosophisch betrachtet, wird Sprache in der Vermittlung von Objektivität und Subjektivität erst in einem zweiten Schritt „gesellschaftlich“, denn die Hinüberversetzung der Vorstellung in den Begriff ist bereits „eine nothwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit“ (Humboldt 1968b: 55). Wenn aber „der Mensch […] sich selber nur [versteht], indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat“, so ist die Entwicklung von Sprache schließlich „nur gesellschaftlich“ denkbar, denn „die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt. Der Subjectivität aber wird nichts geraubt“ (Humboldt 1968b: 55 f.). Die Objectivität ist also „erst vollendet, wenn der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist“ (Humboldt [1903−1936] 1968a: 380). Wenn schließlich für Humboldt „alles Sprechen, von dem einfachsten an, […] ein Anknüpfen des einzeln Empfundenen an die gemeinsame Natur der Menschheit [ist]“ (Humboldt 1968b: 56), so gelangt er zu einer weiteren Dichotomie, nämlich der von Einheit und Verschiedenheit − von Identität und Differenz, einer Dichotomie, die sich jedoch letzten Endes aufhebt, wenn die „Verschiedenheit der Einzelnen“ als nichts anderes verstanden wird als „die, sich nur in abgesonderte Individualitäten spaltende, Einheit der menschlichen Natur“ (Humboldt 1968b: 57). Und dies gilt gleichermaßen für das Sprechen wie für das Verstehen, die Humboldt beide als jeweils „eigene Thätigkeit“ (der Seele) auffasst: „Die gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar. In dem Verstehenden, wie im Sprechenden, muß derselbe aus der eigenen, innren Kraft entwickelt werden“ (Humboldt 1968b: 56). Wenn Humboldt dieses Wechselspiel von Sprechen und Verstehen, in dem es „jedem Menschen […] natürlich ist, das eben Verstandenen gleich wieder auszusprechen“, so deutet, „daß jeder ein […] geregeltes Streben besitzt, die ganze Sprache […] nach und nach aus sich hervorzubringen und hervorgebracht zu verstehen“ (Humboldt 1968b: 56 f.), zeichnet sich noch einmal sein dynamischer Sprachbegriff ab. Gleichwohl bleibt selbst im Horizont dieser energetischen Sprachidee „die Kraft des Einzelnen gegen die Macht der Sprache“ gering (Humboldt 1968b: 64), weil die „den Gedankenausdruck hervorbringende geistige Thätigkeit“ immer schon einen „Stoff“ vorfindet, den sie „von früheren Geschlechtern aus uns unbekannter Vorzeit empfangen hat“ (Humboldt 1968b: 47): „Es erzeugt sich in ihr [der Sprache] ein Vorrath von Wörtern und ein System von Regeln, durch welche sie in der Folge der Jahrtausende zu einer selbständigen Macht anwächst“ (Humboldt 1968b: 63), die als Gewalt der Abstammung „vorherrschend mächtig auf die ganze Individualität ein wirkt“ (Humboldt 1968b: 59). Aber auch diese Dichotomie ist im romantischen Denken vermittelbar. Zwar beschränkt die Macht der Sprache
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte die Kraft des Einzelnen, aber gleichwohl gilt: „Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit“ (Humboldt 1968b: 64). Sie erfährt zwar „die ganze Einwirkung des Individuums; aber diese Einwirkung ist schon in sich durch das, was sie wirkt und gewirkt hat, gebunden“ (Humboldt 1968b: 63). Und Humboldt scheut sich keineswegs, die sich daraus ergebende hermeneutische Konsequenz zu ziehen, dass „alles Verstehen […] daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen [ist]“ (Humboldt 1968b: 64), womit sich das Verstehen wie auch die Totalität der Sprache − geschichtlich wie prospektiv − in den romantisch-hermeneutischen Unendlichkeitstopos einfügt (s. Humboldt 1968b: 62). Ganz im Gegensatz zu Franz Bopp, der schon 1827 eine „Naturbeschreibung der Sprache“ (Bopp 1827: 251) fordert, weiß sich die humboldtsche Sprachauffassung den Grundannahmen (früh)romantischer Sprachreflexion und Hermeneutik verpflichtet. So erscheint es durchaus plausibel, dass der humboldtsche Versuch, „ein umfassend angelegtes System einer romantischen Sprachkonzeption“ zu entwickeln, auch deshalb „[…] im 19. Jahrhundert keine breitere Wirkung entfalten“ kann (Schmitter 1993: 99), weil er nicht dem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal huldigt, das sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend durchgesetzt hat. Aus diesem Grund war nicht Humboldts romantisch-idealistischem Ansatz, sondern „Bopps Methode an den neuorganisierten deutschen Universitäten […] ein durchschlagender Erfolg beschieden“ (Schmitter 1993: 99).
3. Friedrich D. E. Schleiermacher und das Problem des Verstehens Es verdankt sich vor allem Friedrich Schleiermacher, der 1809 in ihrer Gründungsphase an die Berliner Universität berufen wurde, dass sich im 19. Jahrhundert über die Ansätze bei den Brüdern Schlegel und Wilhelm von Humboldt hinaus eine Tradition hermeneutischen Sprachdenkens etablieren konnte. Schleiermacher ist dabei als Theologe und Philosoph nicht mehr nur an der praktischen Exegese des Neuen Testaments interessiert, sondern an einer allgemeinen Hermeneutik, die diese aus der dienenden Rolle als Hilfswissenschaft der Theologie wie auch der Philologie herauslöst und in den Rang einer allgemeinen Verstehenslehre erhebt, die als solche kein „Aggregat von Observationen“ (Schleiermacher [1838] 1977: 75) mehr ist, sondern dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügt. In der Auseinandersetzung mit jenem aggregathaften, lediglich auf „dunkle Stellen“ bezogenen Zustand der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts (Aufklärungshermeneutik) reklamiert Schleiermacher für eine allgemeine Hermeneutik (jenseits aller „speziellen Hermeneutiken“) als „wissenschaftlichen Begriff“ „die Kunst, die Rede eines anderen richtig zu verstehen“ (Schleiermacher 1977: 75). Der Begriff des Kunstmäßigen, wie auch der diesen begründende Begriff der Divination, verweisen freilich auf etwas Substanzielleres, was Manfred Frank (1977) in seiner Schleiermacher-Interpretation als das sprachtheoretische Substrat romantischer Hermeneutik freizulegen versucht hat. Schleiermacher sieht die hermeneutische Aufgabe primär darin, die grundsätzliche Problematik des Verstehens zu klären, auch wenn er mit der grammatischen und psychologischen Auslegung wie mit der Entfaltung eines divinatorischen und komparativen Verfahrens gleichwohl positiv Anleitung zum Verstehen und Auslegen geben möchte. Somit ist das Interesse der romantischen Hermeneutik ähnlich wie das der humboldtschen Sprachforschung weit gespannt von einem theoretisch-philosophischen Interesse
5. Sprachwissenschaft als Hermeneutik am Problem des Verstehens einerseits bis zu einer konkreten grammatischen Analyse und praktischen Auslegung von Sprache andererseits. In der „Analysis des Verstehens“ erweist sich dieses als eine „unendliche“ Aufgabe, womit auch Schleiermacher an den romantischen Unendlichkeitstopos anschließt (Humboldt 1968b: 62), als eine allgemeine Aufgabe, in der Verstehen weder auf Schrift noch auf kunstmäßige Rede noch auf einzelne dunkle Stellen wie in der Aufklärungshermeneutik des Chladenius ([1742] 1969) beschränkt werden kann. Verstehen wird „universal“ und hat zugleich den Charakter einer „Kunst“, der sich aus der Explikation eines auch sprachphilosophisch relevanten Regelbegriffs ableitet. Denn trotz positiver hermeneutischer „Regeln“ ist das Verstehen als Kunst nicht auf eine „Technik“ reduzierbar, weil „mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d. i. nicht mechanisiert werden kann“ (Schleiermacher 1977: 81). Ein Auslegungsbegriff im didaktischen-okkasionellen Sinn des Chladenius gehört für Schleiermacher nicht mehr in die Hermeneutik. Nur in einem anderen, eher epistemologischen Sinn hat der Begriff des Auslegens noch Platz in der Hermeneutik, nämlich in dem Sinn, dass alles Verstehen interpretativen Charakter hat, was Gadamer (1965: 380) später in der prägnanten Hypothese entfaltet: „Alles Verstehen ist Auslegen“ (s. Gadamer 1965: 375−382).
4. Die Konstruktivität des Verstehens: „Jedes Verstehen ist zugleich ein Nicht-Verstehen“ In dem Maß, in dem sich Verstehen der aufklärerischen Idee eines prinzipiell möglichen angemessenen, sinnadäquaten Verstehens entzieht, wird es bereits im 19. Jahrhundert im romantischen Kontext tendenziell „konstruktiv“ verstanden, was auch für Humboldt gilt (siehe oben). Eine romantische Konzeption von Sprache(n) und Kultur(en), von Sprechen und Verstehen eröffnet bereits einen theoretischen Raum, der mehr als ein Jahrhundert später theoretisch neu gefüllt werden sollte mit der dekonstruktivistisch radikalisierten Frage nach der Möglichkeit eines differenten bzw. der Unmöglichkeit eines letztlich immer nur auf Identität abzielenden Verstehens. Die dekonstruktivistische Perspektive sucht, ohne dass ihr freilich Humboldt und Schleiermacher gegenwärtig wären, keine „Ausgleichung“ mehr zwischen Individuellem und Allgemeinem, zwischen Differenz und Identität, sondern setzt die Differenz primär, wenn nicht absolut, indem sie mit der Qualifizierung jedes Verstehens als Missverstehen die Möglichkeit (richtigen) Verstehens grundsätzlich infrage stellt. Verstehen heißt anders verstehen. Eine vergleichbare Konsequenz hatten bereits Humboldt (Humboldt 1968b) und Schleiermacher gezogen, als sie im Gegensatz zur Aufklärungshermeneutik das Missverstehen als den Regelfall und das Verstehen als ein immer neu zu suchendes, immer nur approximativ zu erreichendes betrachteten. Mit der Unterscheidung einer „laxeren Praxis“ und einer „strengere[n] Praxis“ gesteht Schleiermacher (1977: 92) jedoch immerhin zu, dass es im alltäglichen Verstehen, in der „laxeren Praxis“, ein vormethodisch gewisses, d. h. ein vor jeder hermeneutischen Reflexion seiner selbst sicheres Verständnis geben könne, alltagspraktisch vielleicht sogar geben müsse. Die „strengere Praxis“ allerdings kann sich nicht mehr damit zufriedengeben, „Mißverstand“ zu vermeiden, sie muss vielmehr davon ausgehen, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (Schleiermacher 1977: 92). Der Unterschied zwischen die-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte sen beiden Praktiken ist darauf zurückzuführen, dass die „laxere Praxis“ die „Identität der Sprache und der Kombinationsweise in Redenden und Hörenden“ unterstellt, während die „strengere Praxis“ „von der Differenz der Sprache und der Kombinationsweise aus[geht], die freilich auf der Identität ruhen muß und nur das Geringere ist, welches der kunstlosen Praxis entgeht“ (Schleiermacher 1977: 92). Schleiermacher relativiert somit zwar die Tradition identifikatorischen Denkens, eine grundsätzliche Kritik des identifizierenden Denkens findet sich bei ihm jedoch noch nicht. Sein Denken zielt durchaus auf das Identische ab, wenn er dieses auch nicht mehr unproblematisch voraussetzt, wie es noch die Aufklärungshermeneutik in ihrem letztlich Identität implizierenden allgemeinen Vernunftglauben tut. Das Denken der Differenz als Differenz zielt dagegen explizit „auf das Verschiedene“ ab, das „nicht zurück[zu]führen [ist] auf dasselbe und das Gleichartige“ (Kimmerle 1992: 15). So kann es, wenn wir nicht mehr gewillt sind, „die traditionelle Begrifflichkeit als etwas Unentrinnbares hinzunehmen“ (Kimmerle 1992: 17) − und diese Konsequenz zieht erst Derrida −, nur noch eine Praxis des differenten Denkens geben. Freilich: Auch wenn Derridas Ziel also dezidiert nicht ein „Verstehen im Sinne einer Verschmelzung der Horizonte, sondern das Herausarbeiten der Unterschiede [ist], die nicht erneut in eine Einheit zusammengenommen werden“ (Kimmerle 1992: 52), so können auch hier diese Unterschiede doch nur „Differenzen“ im Hinblick auf etwas identisch Gesetztes sein, auch wenn dies identisch Gesetzte nur ein Wert (valeur) in einem differenziellen System ist, in dem alles (negativ bestimmt) seinen Platz im Spiel der Differenzen hat. Aber auch dies bleibt letzten Endes ein bestimmbarer Platz, weil in der Sprache − so scheint Schleiermacher bereits de Saussure zu antizipieren − „jedes Element auf eine besondere Weise bestimmbar ist durch die übrigen“ (Schleiermacher 1977: 80). Identität muss − entgegen der poststrukturalistischen Auffassung − in der Hermeneutik in dem Sinn „vorausgesetzt“ werden, dass sie aus verstehenspraktischen Gründen „gesetzt“ wird: zum einen im habermasschen Sinn als intersubjektiv identische Bedeutungszuschreibungen, zum anderen im schleiermacherschen Sinn als eine gemeinschaftliche Vorstellung von einem „Ding als Einheit“ (Schleiermacher 1977: 383), das wir gleichwohl von unterschiedlichen Standpunkten betrachten können, ohne dass hierdurch seine Einheit infrage gestellt würde. In diesem Sinn lässt sich Differenz als eine aus der jeweiligen Perspektive auf den praktisch als identisch konstruierten Gegenstand resultierende begreifen, wobei dem in diesem Sinn identischen Gegenstand in „verschiedene[n] Systeme[n] der Erkenntnis“ (Schleiermacher 1977: 383) durchaus divergierende Prädikate zugesprochen werden können. Neben den relativ frühen Konzeptualisierungen der Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft (Bopp 1827: 251) hat sich, wie gezeigt werden sollte, parallel, jenseits frühromantischer Tendenzen bei Schlegel, Novalis und anderen, eine hermeneutische Sprachidee etabliert, die sich im Wesentlichen dem Denken von Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt verdankt. Ihr Bestreben zielt allerdings weniger darauf ab, Sprachwissenschaft als Disziplin zu begründen, als vielmehr darauf, aus sprachvergleichender (Humboldt) wie aus hermeneutischer Perspektive (Schleiermacher) einen hermeneutischen Sprach- und Verstehensbegriff zu etablieren, der Eigenes und Fremdes, Sprach- und Kulturverstehen ein vorerst letztes Mal integrativ zu konzeptualisieren versucht.
5. Sprachwissenschaft als Hermeneutik
5. Literatur (in Auswahl) Adorno, Theodor W. 1966 Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Biere, Bernd Ulrich 2009 Ein Text ist kein Container − Textbedeutung und Textdeutung. In: Andrea BachmannStein, Stephan Merten und Christine Roth (Hg.), Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems, 31−44. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. Bopp, Franz 1827 Besprechung von Grimms Deutscher Grammatik, 1. und 2. Teil. In: Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. Berlin: Duncker und Humblot. Chladenius, Johann M. [1742] 1969 Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Reprint mit einer Einl. v. Lutz Geldsetzer. Düsseldorf: Janssen. Derrida, Jacques [1967] 1983 Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fischer, Hermann 2001 Friedrich Schleiermacher. München: Beck. Frank, Manfred 1977 Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gadamer, Hans-Georg 1965 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2. Aufl. Tübingen: Mohr. Gardt, Andreas 1999 Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York: Mouton de Gruyter. Gipper, Helmut und Peter Schmitter 1985 Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. 2. Aufl. Tübingen: Narr. Grimm, Jacob [41880] 1970 Geschichte der deutschen Sprache. Hildesheim/New York: Olms [reprografischer Nachdruck]. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm [1854 ff.] 1984 Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. München: Deutscher Taschenbuch Verlag [fotomechanischer Nachdruck]. Humboldt, Wilhelm von [1903−1936] 1968a Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus. In: Gesammelte Schriften [Werke], hg. v. Albert Leitzmann. 17 Bde., Bd. 5, 364−475. Berlin: Behr [fotomechanischer Nachdruck]. Humboldt, Wilhelm von [1903−1936] 1968b Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Gesammelte Schriften [Werke], hg. v. Albert Leitzmann. 17 Bde., Bd. 7, 1−344. Berlin: Behr [fotomechanischer Nachdruck]. Kimmerle, Heinz 1992 Derrida zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg: Rowohlt. Lenz, Max 1910 Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Erster Bd.: Gründung und Ausbau. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses.
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Bernd Ulrich Biere, Koblenz (Deutschland)
6. Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft 1. Die Sprachwissenschaft als mathematisch konzipierte Naturwissenschaft 2. Die Sprachwissenschaft im Kontext der neuround evolutionsbiologischen Forschungen 3. Literatur (in Auswahl)
Philosophisch stellt sich die Frage, ob Sprache ein Phänomen der Natur (der biologischen Gattung) oder ein Phänomen der Kultur (der Kunst, der menschlichen Erfindung) ist oder beides. Im Folgenden wird diese Frage zuerst theoretisch, dann empirisch erörtert, insgesamt aber offengelassen.
6. Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft
1. Die Sprachwissenschaft als mathematisch konzipierte Naturwissenschaft Die Naturphilosophie und die mathematischen Wissenschaften waren bereits in der Antike (etwa bei Platon, siehe seinen Dialog Timaios) orientierend für andere Disziplinen. Sie wurden aber später, besonders im religiös geprägten Mittelalter des Abendlandes und auch des Morgenlandes, eher als Hilfswissenschaften angesehen (etwa die Astronomie zu Festlegung des religiösen Kalenders). Ihre Aufwertung geschah parallel zur technischen Innovation und deren politisch-militärische Konsequenzen (etwa in der Ballistik nach Galilei) und mit dem Vordringen quantitativer Methoden, die die Welt berechenbar zu machen schienen. Die Wirkung auf die Geisteswissenschaften und Künste deutete sich in der Renaissance an (etwa bei Leonardo und Bruno), wurde aber erst deutlich sichtbar im 17. Jahrhundert (besonders bei Descartes, Locke und Leibniz). Die Sprachwissenschaft wird zumindest bei Leibniz (etwa in den „Nouveaux Essais“, 1704 abgeschlossen, 1765 posthum publiziert) als historische und auf die Vielfalt der Sprachen, deren Vergleich und die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ausgerichtete Disziplin umrissen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde besonders die Sprachproduktion zum Gegenstand technischer Simulationen, z. B. in von Kempelens Sprachmaschine (vgl. Brekle und Wildgen 1970). Als Naturwissenschaften werden in diesem Artikel jene Wissenschaften bezeichnet, die sich im Lauf des 17. Jahrhunderts herausbildeten und die den Erkenntnisidealen und methodischen Prinzipien von Galilei, Descartes und Newton verpflichtet waren. Im 18. Jahrhundert löste die Disziplin sich von der Philosophie und differenzierte sich in eine Vielfalt von Naturwissenschaften (insbesondere entstanden die Chemie und die Biologie); die newtonsche Physik wurde von Kant zum Ideal der wissenschaftlichen Erkenntnis erklärt. Die Mathematik wurde, wie ein geflügeltes Wort Galileis besagt, zur Sprache der Natur erhoben. Die Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert können nur im Kontext der Entwicklung mathematischer Systeme richtig verstanden werden, weshalb wir zuerst die Anwendung einer (in den Naturwissenschaften bewährten) Mathematik in der Sprachwissenschaft thematisieren.
1.1. Die Sprachwissenschaft als „Glottik“ bei August Schleicher Eine längerfristige Wirkung auf alle Humanwissenschaften hatte das Werk On the Origin of Species (1859) von Charles Darwin. Ich will mich exemplarisch mit August Schleicher und seiner Konzeption der Sprachwissenschaft (Glottik) als Naturwissenschaft befassen. August Schleicher (1821−1868) versuchte, die sich entwickelnden Naturwissenschaften als neuen Maßstab zu nehmen. Dabei galt sowohl für Schleicher als auch für die Junggrammatiker, die sich ansonsten gegen Schleichers Darwinismus aussprachen, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft mit ihrer Suche nach Gesetzen und in ihren akribischen Vergleichspraktiken dem naturwissenschaftlichen Qualitätsmaßstab entsprechen sollte (vgl. dazu Puschke 1969: 21 f.). Als Kollege des leidenschaftlichen Darwinisten Ernst Haeckel in Jena schrieb Schleicher 1863, also nur vier Jahre nach der Publikation von Darwins Buch über die Entstehung der Arten (und vor deren Anwendung auf den Menschen, 1871) einen Artikel, der die darwinsche Theorie auf die Sprache anwandte.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Er zieht die Konsequenz, dass es im Gegensatz zur Philologie eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Sprachwissenschaft gibt, die er 1850 „Linguistik“, 1863 „Glottik“ nennt (Ansatzpunkt: Biologie und Naturgeschichte): „ihre Methode ist im Ganzen und Allgemeinen dieselbe, wie die der übrigen Naturwissenschaften“ (Schleicher 1863: 7). Das naturhafte Werden der Sprache ist nicht mit Geschichte gleichzusetzen, es entspricht eher dem „Wachsen der Pflanze, des Thieres“ (Schleicher, 1850: 11, FN). Die Sprachen haben deshalb auch eine genealogische, evolutionäre Ordnung, einen Stammbaum: „Von Sprachsippen, die uns genau bekannt sind, stellen wir ebenso Stammbäume auf, wie dies Darwin für die Arten von Pflanzen und Thieren versucht hat“ (Schleicher 1863: 16). Erst im Werk von Joseph Greenberg und in der evolutionären Anthropologie wird heute diese Arbeit mit neuen Methoden und erweiterter Datenbasis erfolgreich weitergeführt. Insbesondere werden die Methoden der Kladistik parallel für genetische und sprachtypologische Daten eingesetzt (vgl. Cavalli-Sforza et al. 1996). Schleicher hat für die Morphologie (diesen Begriff führte er in Hinblick auf Goethes Biologie in die Sprachwissenschaft ein) eine mathematische Form vorgeschlagen, die auf arithmetische Notationen von Gauß (1801: Disquisitiones arithmeticae) zurückgreift. Die morphologische Kombination wird mit + bezeichnet. Einzelne Sprachen und Sprachtypen sind durch morphologische Formeln charakterisierbar. Damit führt Schleicher die algebraische Grundrelation ein, die im 20. Jahrhundert „Konkatenation“ genannt wird. Der frühe Tod von Schleicher im Jahr 1868 verhinderte einen weitreichenderen Einfluss auf die deutsche Sprachwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (sein politischer Liberalismus machte ich ihn außerdem suspekt). Sowohl die Analytic Syntax von Jespersen ([1937] 1984) als auch die mathematische Linguistik von Harris sollten diesen Faden wieder aufnehmen.
1.2. Charles Sanders Peirce und die naturwissenschaftliche Basis der Valenz Leibniz entwirft neben der allgemeinen Charakteristik, die eine logische Systematisierung des Wissens anstrebt, auch eine geometrische Charakteristik, die systematisch Raumverhältnisse erfasst und der Ausgangspunkt für technische Erfindungen sein soll. 1736 hat Leonhard Euler graphentheoretische Begriffe entwickelt, um das „Königsberger Brückenproblem“ zu lösen. Charles Sanders Peirce (1839−1914) steht mit seiner graphischen Logik in dieser Tradition. Dabei untersucht er die möglichen „Leerstellen“ einer Proposition (vgl. Peirce CP: 4.438): Gott gibt jedem Menschen ein Talent. (1) gibt (2) (3). Die Prädikate einer Proposition (z. B. das Verb) werden Rhemata genannt. Je nach Anzahl der Leerstellen erhält man: Monaden (ein Rhema), Dyaden (zwei Rhemata), Triaden (drei Rhemata). An dieser Stelle führt Peirce eine Analogie zur chemischen Wertigkeit (= Valenz) ein. Die maximale Wertigkeit ist für Peirce die Valenz 4: „Und dies ist der Grund, warum kein chemisches Element eine Maximalwertigkeit besitzt, die größer als 4 ist“ (Peirce [1906] 1993: 92). Die Analogie zur Chemie ist aber nicht zufällig oder oberflächlich: „Für Klassifikationen gilt allgemein, dass man es durchaus als erwiesen behaupten kann (wenn es jemals bezweifelt wurde), dass Form im Sinne von Struktur von höherer Bedeutung als Materie ist. Wertigkeit ist die Grundlage jeder externen Struktur“. (Peirce 1993: 92)
6. Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft Die Idee einer (chemischen) Wertigkeit von Sätzen wird zwar von Tesnière und in der Valenzgrammatik aufgegriffen, ihre naturwissenschaftliche und mathematische Vertiefung geschieht aber erst durch René Thom und in der katastrophentheoretischen Semantik (vgl. Wildgen 1982, 1994, 2015).
1.3. Die Rolle von Mathematik und Naturwissenschaft im europäischen Strukturalismus Ein halbes Jahrhundert nach Schleicher und noch zu Lebzeiten von Peirce, der allerdings sein Hauptwerk vor und um 1900 verfasste, benutzt Ferdinand de Saussure mathematisch-relationale Konzepte, indem er die Sprache mit einem Schachspiel vergleicht (Saussure 1968: 195, Ziff. 1461 ff.; er verwendet sogar den Begriff der „équation algébrique“; vgl. Jäger 2010). Die mathematische Spieltheorie, die John von Neumann 1928 entwickelte und gemeinsam mit von Morgenstern 1944 veröffentlichte, wurde in den Schulen des Strukturalismus (ab Mitte der 30er-Jahre entstanden) nicht berücksichtigt. Hjelmslev, Greimas und Eco begnügten sich mit einfachen logischen Konzepten wie Oppositionen, Kontradiktion, Listen von Merkmalen, semiotischen Quadraten (Greimas) usw. In seiner Kasustheorie postuliert Hjelmslev ([1935−1937] 1972) ein „sublogisches“ System, das sowohl der Sprache als auch der Logik zugrunde liegt. Die von ihm propagierte Logifizierung der linguistischen Analyse bliebe somit quasi sprachimmanent. Im Prager Strukturalismus/Funktionalismus wurden begrenzt Natürlichkeitsbedingungen, z. B. die phonetische Ähnlichkeit von Allophonen, gefordert. Bei diesen phonetischen Kriterien soll, wie Trubetzkoy ausführt, aber „die Grenze des unbedingt Notwendigen nicht überschritten werden“ (Trubetzkoy 1971: 17). Damit wird einer „Naturalisierung“ der Phonologie, d. h. einer Fundierung in phonetischen, d. h. naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten eine Absage erteilt. Dieser Strategie wird Ende des 20. Jahrhunderts ein Programm der Naturalisierung (siehe Petitot et al. 1999) entgegengesetzt. Selbstorganisations- und morphogenetische Modelle versuchen die Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaft zu überbrücken (vgl. Wildgen und Mottron 1987). Die bei Schleicher festgestellte Tendenz, die Grammatik durch mathematische Formeln zu beschreiben, wird von Jespersen weitergeführt. Jespersen ([1937] 1984) teilt uns in der Einleitung seiner Analytic Syntax mit, dass es seine Absicht ist, ein System von „succinct and in part self-interpreting syntactic formulas“ zu entwerfen, sodass die wichtigsten „interrelations of words and parts of words in connected speech“ (Jespersen 1984: 3) genau bezeichnet werden können.
1.4. Mathematik und Naturwissenschaften im amerikanischen Strukturalismus Die amerikanische Linguistik hat sich nach 1915 zunehmend von den philologischen Trends in Europa gelöst und in der anthropologischen Linguistik (siehe Franz Boas, 1858−1942, und Edward Sapir, 1884−1939) und der experimentellen Psycholinguistik (vgl. den Behaviorismus und das Werk von Skinner, 1904−1990) eine intensive Beziehung zu den Lebenswissenschaften entwickelt (vgl. Wildgen 2010: Kap. 7−9). Bloom-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte field versucht in A Set of Postulates for Linguistic Analysis (Bloomfield 1926), die Grundbegriffe der Linguistik hierarchisch deduktiv durch Axiome (Assumptions) und Definitionen zu bestimmen und damit zu einem kohärenten System zu formen. Als Grundlage dienen ihm die Begriffsbestimmungen in de Saussures Cours (bezogen auf die 2. Auflage, 1922) und Sapirs Language (1921). Bloomfield verweist auf Alfred Youngs Vorlesungen zur Algebra und Geometrie; direktes Vorbild ist aber eine Arbeit von Paul Albert Weiss, der ein vergleichbares System von Postulaten und Definitionen für die Psychologie veröffentlicht hatte (vgl. Weiss 1925). Eine „mathematische Linguistik“ entwickelt nach 1950 Zellig S. Harris. Nach ihm muss die Beschreibung der Sprache innerhalb der Sprache selbst geschehen. Mathematische Hilfsmittel sind auf ein Minimum zu beschränken und sie müssen in der Sprache strukturanalog vertreten sein. Konkret heißt dies, dass Eigenschaften der Sprache wie Diskretheit, Linearität, Arbitrarität, Kontiguität (Nachbarschaft von Elementen) ihre Entsprechung in diskreten Systemen der Mengenlehre, in den Kettenbildungen der Gruppentheorie und in Operator-Argument-Strukturen der Logik haben müssen, damit eine mathematische Linguistik möglich wird. Die Funktion einer Mathematisierung ist: „finding particular mathematical structures holding for particular aspects of the real world“ (Harris 1991: 147; vgl. hierzu Wildgen 2009, 2010: Kap. 14). Es sind besonders die Kookkurrenzbeschränkungen, die eine Mathematisierung nahelegen: „It is here that a mathematical formulation was most immediately indicated“ (Harris 1991: 146). Eine Konsequenz daraus ist die Autonomie der theoretischen Syntax, da sie jener Bereich der Sprache zu sein scheint, der einer Mathematisierung besonders offensteht: „no phonetic or semantic property of words is considered in determining what constraints on word combinations create sentences“ (Harris 1991: 146, FN 2). Diese Position wurde von Noam Chomsky radikalisiert. In seinem Buch Syntactic Structures von 1957, das den Beginn der generativen Bewegung markiert, führt er eine Hierarchie von Grammatiktypen ein, aus denen jede Grammatik lebender Sprachen zu wählen habe. Der Bereich menschlicher Grammatiken wird mathematisch (in Begriffen der Automatentheorie) eingeschränkt. Die Beschränkung wird in der Folge naturwissenschaftlich (physikalisch oder genetisch) begründet, ohne dass aber eine konsequente Naturalisierung erfolgt. An deren Stelle tritt die Umsetzung des Programms in technischen Kontexten (automatische Satzanalyse und Übersetzung). In der sowjetischen Linguistik wurden die strukturalistischen Systementwürfe (von Trubetzkoy bis Harris) zu einer algebraischen Linguistik ausgebaut (vgl. Marcus 1967). Ähnliche Tendenzen verfolgte Maurice Gross (vgl. Gross und Lentin [1967] 1971). Er tat sich auch als Kritiker der generativen Grammatik hervor, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die theoretische Linguistik weitgehend dominierte. Die ersten statistischen Sprachanalysen standen im Kontext der Frage nach dem Autor eines Textes (so schon bei T. C. Mendenhall 1887 angeregt durch Bemerkungen von Augustus de Morgan). Im 20. Jahrhundert waren es besonders Zipf (1949) und Herdan (1966), durch die die Lexikostatistik vorangetrieben wurde. Die Wahrscheinlichkeitstheorie wurde für die Linguistik relevant durch die Arbeiten des russischen Mathematikers Andrei A. Markov (1856−1922), der 1913 die Buchstabensequenzen in Werken der russischen Literatur berechnete. Die Markov-Ketten beschreiben die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Elementen (Phonemen, Silben, Morphemen, Wörtern) und deren Abhängigkeit von vorangehenden Ketten. Sie bilden die Grundlage der Informationstheorie, die Shannon 1948 zuerst formuliert hat, und stehen im Hintergrund nicht nur vieler sprachverarbeitender Systeme, sondern auch der konnexionistischen Modelle, die
6. Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft durch eine Modifikation von Übergangswahrscheinlichkeiten das System in vielen Lernschritten an ein vorgegebenes Ziel anpassen. Eine linguistische Anwendung ist die Optimalitätstheorie (vgl. Smolensky 1999). Eine andere Provinz der Mathematik, die Theorie dynamischer Systeme (Katastrophen- und Chaostheorie, statistische Dynamik, Synergetik), die sich ab 1950 stark entwickelt hat, konnte erfolgreich in den Naturwissenschaften angewandt werden. Linguistische Anwendungen der Katastrophentheorie wurden im Anschluss an die Modellvorschläge von René Thom ab 1979 systematisch entwickelt (vgl. Wildgen 1982, 1985) und mit Bezügen zur Chaostheorie weitergeführt (vgl. Wildgen und Plath 2005). Die Synergetik fand Anwendungen in der Soziolinguistik (vgl. Wildgen 1986) und Lexikostatistik (vgl. Köhler 1986). In Petitot (2011) wird die dynamische Modellbildung für ein kognitiv interpretierbares Modell der Wahrnehmung und der Syntax genutzt. Es zeigt sich generell, dass die mathematische Linguistik in einen naturwissenschaftlichen Kontext einzubinden ist, da sie sonst abstrakt und spekulativ bleibt (vgl. zur Mathematisierung in der Linguistik Wildgen 2009 und 2010: Kap. 14).
2. Die Sprachwissenschaft im Kontext der neuro- und evolutionsbiologischen Forschungen 2.1. Sprache aus der Sicht der Kognitionswissenschaften Obwohl es seit der Phrenologie im frühen 19. Jahrhundert ein Programm der Kartierung menschlicher Sprachfähigkeiten im Gehirn gab (Gall 1791) und mit den Arbeiten von Paul Broca (1884−1920) und Carl Wernicke (1840−1905) zwei Sprachareale im Gehirn ausgezeichnet wurden (Broca 1861; Wernicke [1874] 1974), blieb die Idee einer Grammatik, die neurologisch spezifiziert werden kann, ein Fernziel; Sprachverarbeitungsmodelle integrieren jedoch aktuelle neurologische Befunde (vgl. Friederici 2012). Für die konkrete Modellierung einfacher kognitiver Prozesse war die Arbeit A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Neural Nets von McCulloch und Pitts (1943) das Programm. 1947 gelang den beiden Forschern ein Durchbruch. Sie konnten einen Apparat für Blinde konstruieren, der diesen ermöglichte, eine gedruckte Seite mithilfe einer akustischen Umsetzung des Schriftbildes zu lesen. Ihr Schaltbild zeigte eine Analogie zur Struktur des Gehirns und sie entwickelten eine Theorie, die Eigenschaften der Anatomie und Physiologie des Sehzentrums mit einer technischen Simulation des Leseprozesses verband, d. h., von ihnen stammen die ersten neuronalen Netzwerke, abstrakte Analoga von Gehirnstrukturen in der maschinellen Simulation. Ende des 20. Jahrhunderts wurde das Interesse an einer gehirnanalogen Simulierung kognitiver (und sprachlicher) Prozesse wieder aktuell unter Stichwörtern wie massiv parallele Verarbeitung, neuronale Netzwerke und Neurocomputer (vgl. Minsky and Papert 1988: vi−xv). Ein zentrales Problemfeld der Grammatik betrifft das Kompositionsprinzip: Wie werden zwei (bedeutungstragende) Einheiten (Morpheme, Wörter, Sätze) zu einer neuen (höheren) Einheit verbunden? In der modernen Gehirnforschung nennt man diese Fragestellung das Bindungs(binding)-Problem. Wenn das Gehirn zwei Objekte oder Objektaspekte registriert, wie werden diese Muster zu einem neuen Gesamtmuster mit neuer, komplexerer Bedeutung zusammengefasst? In dieser Perspektive gewinnt das Phänomen
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte der kortikalen Synchronisation/Desynchronisation eine entscheidende Bedeutung. Für die Sprachverarbeitung hat dasselbe Problem die folgende Form: Gegeben seien zwei simultan verfügbare Inhalte (in der Wahrnehmung von Sprache oder im Gedächtnis), wie können sie so zusammengeführt werden, dass ein neues sinnvolles Ganzes entsteht. Dieses soll außerdem so stabil sein, dass es auch im Gedächtnis behalten und kommuniziert werden kann, d. h. zum Gedächtnisinhalt eines anderen wird. Ein zentrales Problem ist dabei die Komplexität des Ganzen, d. h., wenn die Zusammenfügung eine gewisse Schwelle der Komplexität überschreitet, wird das Ergebnis der Zusammenfügung instabil und somit für das Denken und die Kommunikation wertlos. Besonders relevant für die Synchronisierung ist das γ-Band (30−50 Hz); deshalb wird im Zusammenhang des Bindungsproblems auch von der 40-Hz-Problematik gesprochen (siehe Singer 1999: 62 sowie als Überblick Wildgen 2006).
2.2. Biolinguistik und die genetische Basis der Sprachfähigkeit Aus der modernen Evolutionsbiologie lässt sich die Kontinuität der Entwicklung auch der kognitiven Leistungen, besonders von Denken und Sprache, folgern. Insbesondere die moderne Genetik konnte diese Konzeption präzisieren. Die Hoffnungen, damit auch die genetische Basis der menschlichen Sprachfähigkeit näher bestimmen zu können, wurden bisher nicht erfüllt. Immerhin wurde mit dem Gen FOXP2 ein erstes Gen identifiziert, das durch Mutationen spezifische Sprachstörungen verursacht. Es wurde z. B. als Ursache der erblichen Sprachstörung in einer Londoner Familie diagnostiziert. Die Defizite ähneln denen von Broca-Aphasikern. Der exakte Weg der Verursachung ist aber noch nicht geklärt (vgl. Takahashi, Takahashi and Liu 2009). Neues Licht in die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sprachgemeinschaften haben Analysen der geographischen Verteilung von Blutgruppen, Rhesusfaktoren und anderen Faktoren gebracht, zu denen später auch die Verteilung von Allelen (Genvarianten) in verschiedenen Bevölkerungen kamen. Durch statistische Analyse der Verteilungen und anhand einer genetischen Uhr (der Mutationsrate) konnten Migrationswege und Faktoren der genetischen Zusammensetzung etwa der europäischen Bevölkerungen gefunden werden, die die linguistische Typologie und Genealogie bereichert und vertieft haben (vgl. Greenberg 2005; Cavalli-Sforza 2001). Parallel zu sprachtypologischen Stammbäumen haben die Forschungen der Genetiker um Cavalli-Sforza et al. (1996) genetische Stammbäume erzeugt, die mit den linguistischen verglichen werden können. Gemeinsam mit archäologischen Ergebnissen lässt sich jetzt ein wesentlich zuverlässigeres Bild der Sprachverzweigungen und Sprachkontakte erstellen. Insgesamt kann man festhalten, dass einerseits ständig Querverbindungen zwischen naturwissenschaftlichen Studien zum Menschen (in Physiologie, Genetik, Evolutionsbiologie, Neurologie usw.) zu neuen Ansätzen in der Sprachwissenschaft führen oder helfen, vorhandene Ansätze zu korrigieren bzw. zu verbessern. Andererseits stellen die Naturwissenschaften über die mathematischen und computertechnischen Fortentwicklungen im Kontext ihrer Forschungen ein konzeptuelles/technisches und methodisches Repertoire zu Verfügung, in dem sich die Sprachtheorie und die empirische Sprachforschung bedienen können, wobei natürlich schwierige Anpassungsprozesse zu bewältigen und Holzwege nicht ausgeschlossen sind. Mit der Entwicklung leistungsstarker Computer ab den 60er-Jahren wurde die Mathematisierung teilweise durch technische Implementie-
6. Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft rungen ersetzt, wodurch Ansätze zur Naturalisierung vorerst verdrängt wurden. Allerdings wurde seit der Entwicklung konnektionistischer Modelle und mit dem Fortschritt von Neurocomputern und anderen stärker analogen Simulationen die Verbindung zu den Naturwissenschaften (von der Physik bis zu den Kognitionswissenschaften) wieder verstärkt, sodass weitere Bereiche der Sprach- und Kulturwissenschaft mit naturwissenschaftlichen Methoden und Begrifflichkeiten erfasst werden können.
3. Literatur (in Auswahl) Bloomfield, Leonard 1926 A Set of Postulates for the Science of Language. In: Language 2, 153−164. Brekle, Herbert E. und Wolfgang Wildgen 1970 Einleitung. In: Wolfgang von Kempelen, Mechanismus der menschlichen Sprache nebst Beschreibung einer sprechenden Maschine, V−XLIII. Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromm [Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1791]. Broca, Paul 1861 Sur le siège de la faculté du langage articulé avec deux observations d’aphémie. In: Bulletin et mémoires de la société anatomique de Paris 36, 330−357. Cavalli-Sforza, Luigi Luca 2001 Gene, Völker und Sprachen: die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation. München: dtv. Cavalli-Sforza, Luigi Luca, Paolo Piazza Menozzi and Alberto Piazza Menozzi 1996 The History and Geography of Human Genes. Princeton, NJ: Princeton University Press. Chomsky, Noam 1957 Syntactic Structures. Den Haag: Mouton. Darwin, Charles 1859 On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Live. London: John Murray. Friederici, Angela D. 2012 The Cortical Language Circuit: From Auditory Perception to Sentence Comprehension. In: Trends in Cognitive Sciences 16, 262−268. Gall, Franz Joseph 1791 Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien: Gräffer. Gauß, Carl Friedrich 1801 Disquisitiones Arithmeticae. Leipzig: Fleischer. Greenberg, Joseph 2005 Genetic Linguistics: Essays on Theory and Method, ed. by William Croft. Oxford: Oxford University Press. Gross, Maurice 1979 On the Failure of Generative Grammar. In: Language. Journal of the Linguistic Society of America 55(4), 859−885. Gross, Maurice und André Lentin [1967] 1971 Mathematische Linguistik. Eine Einführung. Heidelberg: Springer. Harris, Zellig Sabatai 1991 A Theory of Language and Information. Oxford: Clarendon. Herdan, Gustav 1966 The Advanced Theory of Language as Choice and Chance. Berlin: Springer.
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Wolfgang Wildgen, Bremen (Deutschland)
Sprachbegriffe: Homogenisierungen − Ausblendungen Concepts of language: homogenizations and exclusions 7. Sprache und Sprachen 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Sprache und andere Semiotiken Sprache als historische Sprachen Empirie und Theorie Sprache von innen und von außen
6. Gleichheit und Verschiedenheit der Sprachen in der Sprachwissenschaft 7. Das Prinzip der sprachlichen Relativität 8. Zusammenfassung 9. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Die Festlegung eines Begriffes von Sprache greift aus der Fülle möglicher Eigenschaften als notwendig und zureichend definierte Merkmale heraus; damit werden zugleich andere Eigenschaften für akzidentell oder unwichtig erklärt; Sprachbegriffe homogenisieren also einerseits, blenden aber anderseits auch aus. Das gilt ganz generell auch für das Verhältnis von Sprache und (Einzel-)Sprachen: Alle Einzelsprachen sind Sprachen im Sinne des festgelegten Begriffs von Sprache. Aber das täuscht: Beide Termini, Sprache wie Einzelsprache, sind vieldeutig und vage. Ihr Verhältnis hängt unter anderem von Folgendem ab: 1. Sprache im weiten Sinn als Terminus für alle möglichen Ausdruckssysteme (oder Semiotiken, Hjelmslev 1961: 107), 2. Sprache im engeren Sinn als Kategorie für alle natürlichen Sprachen, 3. Sprache als Fähigkeit des Menschen und deren Relation zu Einzelsprachen und 4. Abgrenzungen, Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten von Einzelsprachen. Weitere Aspekte betreffen: empirischer versus theoretischer Zugang, Außensicht (etisch) und Innensicht (emisch), individuelle versus soziale Natur der Sprachen, Konzeption der Sprachen als Wissen, als Können, als Tätigkeit, als Handeln, als Zeichensystem oder als Organ, Funktionen der Sprache wie Kognition, Kommunikation, Konstruktion von Wirklichkeit, Handeln sowie Autonomie versus Heteronomie von Sprachen. Dass Sprache kein eindeutiger Terminus ist, hat Coseriu (1976: 21−35) verdeutlicht, dessen Begriff „historische Sprache“ sich anstelle von Einzelsprache eignet.
2. Sprache und andere Semiotiken In der westlichen Tradition der Sprachreflexion steht der Zeichencharakter der Sprache(n) im Vordergrund. Laute oder Schriftzeichen gelten − so etwa für Aristoteles in Peri Hermeneias − als Zeichen für sprachunabhängige Inhalte (Aristoteles 1994). Wie der Zusammenhang zwischen Zeichen und Inhalten beschaffen und was der Status der
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Inhalte genau ist, bleibt umstritten. Was sprachliche Zeichen von anderen Arten von Zeichen unterscheidet, wird in der Semiotik (vgl. Artikel 20; Chandler 2007) reflektiert, die sprachliche Zeichen entweder als Unterkategorie eines allgemeinen Zeichenbegriffes auffasst (Morris 1971) oder als zentrale Größe (Saussure 1968: 48 f.). Charakteristisch für sprachliche Zeichen sind traditionellerweise a) die Arbitrarität der Verbindung von Ausdruck und Inhalt, b) die Konventionalität dieser Beziehung und c) die Linearität des Ausdrucks; bei Ferdinand de Saussure allerdings sind Ausdruck (signifiant) und Inhalt (signifié) nicht eigenständig gesehen, sondern als zwei Seiten eines Ganzen, des sprachlichen Zeichens (signe) insgesamt (Jäger 2010: 138 f.). Bühler (1934: 28) variiert den Zeichencharakter im Kommunikationsakt, indem er Symbol für die Darstellungsfunktion, Signal für die Appellfunktion und Symptom für die Ausdrucksfunktion differenziert und weiter neben den „Nennwörtern“ des Symbolfeldes die deiktischen „Zeigwörter“ des „Zeigfeldes“ einführt (Bühler 1934: 80 f., 119 f.).
3. Sprache als historische Sprachen Sprachen im engeren Sinn sind historische Sprachen: Sie werden a) von Menschen gebraucht, die b) primär Laute verwenden, um damit etwas anderes auszudrücken oder zu verstehen zu geben (siehe aber zu Gebärdensprachen Fehrmann und Jäger 2004: 177), sie werden c) von Kleinkindern individuell aufgrund der Äußerungen ihrer sozialen Umwelt erworben, sind d) gegenseitig nicht verständlich und verändern sich e) in der Zeit, ohne dass die Sprachverwender das wissen und wollen (zu den Punkten a], b] und d] siehe Hoffmann 2007; zu c] Dittmann 2006; zu e] Keller 2003). Ausgeschlossen sind damit alle anderen Ausdruckssysteme. Die Verschriftung von natürlichen Sprachen (vgl. Artikel 8) ist − historisch gesehen − sekundär, für viele kulturelle und soziale Funktionen dagegen primär. Insbesondere sind schriftliche Zeugnisse in vielen Fällen die einzigen Daten für nicht mehr gesprochene Sprachen oder zeitlicher Vorgängerstufen heutiger Sprachen. Historische Sprachen verfügen über zwei Grundtypen von Elementen: die Phoneme (Laute) und die Morpheme (Wörter). Beide Typen werden nach einzelsprachlich unterschiedlichen Mustern oder Regeln zu größeren Einheiten kombiniert. Komplexe Inhalte werden zur Formulierung in linear angeordnete, syntaktisch strukturierte Einheiten „zerlegt“, aus denen der Rezipient die komplexen Inhalte wieder „zusammenbaut“. In dieser Hinsicht sind alle historischen Sprachen gleich. Was sie voneinander unterscheidet, sind a) die verwendeten Laut- und Lautmusterrepertoires (also die Phoneminventare und deren Phonotaktik; Maddieson 1984), b) die Beziehungen zwischen lautlichem Ausdruck und Inhalt (Lyons 2006), c) die Muster oder Regeln, die bei der Kombination der Einheiten zu komplexeren Größen verwendet werden (Croft 2009) und d) die grammatischen Kategorien, über die sie verfügen (Taylor 2009). Umstritten ist schließlich, ob die ausgedrückten Inhalte einzelsprachunabhängig sind oder nicht (Berlin and Kay 1969). Ein Beispiel: Dem deutschen Lautkontinuum [‘haos] Haus entspricht das französische [‘mɛsõ] maison; beide bedeuten etwa das Gleiche, abhängig vom Kontext. Deutsch und Französisch unterscheiden sich weiter in Konstruktionen wie das weiβe Haus versus la maison blanche − es werden Einheiten und Kategorien mitverwendet, die direkt nichts mit dem Inhalt von Haus und maison zu tun haben: Wortarten wie Nomen, Adjektiv
7. Sprache und Sprachen und Artikel, grammatische Kategorien wie Genus, Numerus und Kasus und syntaktische Phänomene wie die Kongruenz zwischen Nomen und Artikel, die Stellung des Adjektivs in Relation zum Nomen und zum Artikel. Auf anderer Ebene wäre zu klären, warum zum Beispiel eine schweizerdeutsche Form wie ds wiisse Huus (‚das weiβe Haus‘) zum Deutschen zählt, während das niederländische het witte huis nicht dazugehört. Die Abgrenzung einer Einzelsprache von anderen Einzelsprachen lässt sich nicht allein durch den Rekurs auf sprachliche Fakten im engeren Sinn vornehmen − es gibt hier auch soziale, politische, kulturelle und historische Aspekte zu berücksichtigen.
4. Empirie und Theorie Bei der Bestimmung von Sprachen ist zu unterscheiden zwischen Empirie und Theorie. Empirisch gesehen, sind Sprachen vor allem über Daten erfassbar − primär über schriftliche oder mündliche Texte oder Korpora. Für heute gesprochene Sprachen gibt es Techniken der Datenerhebung wie Elizitierung, Übersetzung, Benennung von Bildern, Erzählen von Geschichten etc. Metasprachliche Verfahren wie Sprecherurteile über grammatisch richtige oder akzeptable Konstruktionen sind ebenso anwendbar wie sozialpsychologische und soziolinguistische Erhebungen zur sprachlichen Variation, zu Einstellungen und Bewertungen. Psycholinguistische und neurolinguistische Verfahren können angewendet werden zur Überprüfung von Sprachverarbeitung, Spracherwerb und Sprachverlust. Positivistische und behavioristische Ausprägungen der Sprachwissenschaft wie der amerikanische Strukturalismus (Bloomfield 1933) haben sich aus methodologischen Gründen auf die Analyse von Sprachdaten in der Form von Korpora beschränkt. Auch wenn die Korpuslinguistik in den letzten Jahrzehnten zu einer eigenen, erfolgreichen Disziplin entwickelt wurde (McEnery and Hardie 2012), herrscht Übereinstimmung darüber, dass empirisch gegebene Daten nicht die jeweilige Sprache ausmachen können. Chomsky (zusammenfassend bei Smith 2004: 31−34) unterscheidet E-language und I-language, also die externale Sprache, die sich in Daten äußert, von der internalisierten Sprache, die in den Sprechern repräsentiert ist; nur die I-language kann, sagt Chomsky, Gegenstand einer linguistischen Theorie sein (was die Theorie schwierig empirisch überprüfbar macht). Auf der anderen Seite sind nicht mehr gesprochene historische Sprachen wie das Gotische oder das Sumerische nur durch ein geschlossenes Korpus an Texten dokumentiert − das Fehlen von lebenden Sprecherinnen und Sprecher der Sprache verhindert, dass neue Texte hinzukommen. Dennoch nimmt man an, dass es sich hier um vollständige historische Sprachen handelt. Daraus ergibt sich das Problem der Autonomie: Eine Sprache existiert irgendwie unabhängig von ihren Sprecherinnen und Sprechern. In der Theorie wird deswegen Sprache fast immer verschieden definiert. Zu unterscheiden sind psychologische, soziale und strukturale Definitionen. Bei den psychologischen wird das Sprachwissen und Sprachkönnen des Individuums (oder des Menschen schlechthin) in den Vordergrund gestellt (so z. B. Chomsky, vgl. Smith 2004), bei den sozialen der Sprachbesitz einer Sprachgemeinschaft (so z. B. de Saussure, der allerdings in seinen Notizen auch das Individuelle betont, vgl. insgesamt Jäger 2010), bei den strukturalen die abstrakte Struktur, losgelöst von Mensch und Gesellschaft (so z. B. Hjelmslev, vgl. Siertsema 1954). Weiter sind zu unterscheiden normative und deskriptive Definitionen. Normative legen fest, was zu einer Sprache gehört, und sie lehnen alles andere an Variation als nicht
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte normgerecht ab. Das gilt etwa für die klassisch griechisch-lateinische Grammatik. Solche normativen Regelwerke sind bis ins 20. Jahrhundert hinein Standard. Deskriptive Definitionen dagegen beschreiben das, was von den Sprecherinnen und Sprechern geäußert respektive akzeptiert wird, inklusive aller Arten von Variation. Dies gilt insbesondere für die deskriptive, synchrone Linguistik des 20. Jahrhunderts, die auf das Kategorieninventar der griechisch-lateinischen Grammatik verzichtet − wie etwa Bloomfield in der Beschreibung des Tagalog (Bloomfield 1917). Im 19. Jahrhundert dagegen gelten historisch, diachron orientierte Definitionen, in denen eine Sprache als Einheit verstanden wird, die sich entwickelt. Sprachen werden als Organismen, als Familien oder als Systeme begriffen, die ein überindividuelles Leben führen. Sprachverschiedenheit wird als Ergebnis der historischen Entwicklung innerhalb einer Sprachfamilie von den (bloß rekonstruierten) Ursprachen zu den Tochtersprachen verstanden, mitbeeinflusst vom Kontakt mit anderen Sprachen (Arens 1969). Das Verhältnis von individueller Sprachkenntnis und überindividuellem Sprachsystem wechselt mit der Auffassung dessen, was als wirklich gilt: Zum einen ist es einsichtig, dass das, was ein Mensch an Sprachwissen besitzt und anwenden kann, seine Sprache ist. Aber diese Sprache wird nicht vom Individuum allein erfunden oder gebraucht − sie wird in sozialem Kontext mit anderen erworben und aufgebaut und ständig weiterentwickelt. Das Individuum erhält also seine Einzelsprache von der Sprachgemeinschaft, mit der es in Kontakt steht, und es gibt seine Sprache durch diese Kontakte auch wieder an andere Menschen weiter. Ob also das Individuelle oder das Soziale stärker gewichtet werden, hängt von theoretischen Grundannahmen und Gesichtspunkten ab. So wird bei Chomsky dem Sprachwissen des Einzelnen als einer angeborenen Fähigkeit zentrales Gewicht zugemessen; der soziale Kontakt liefert nur den Input für jene Aspekte der Sprache, die nicht schon durch die Universale Grammatik festgelegt sind (zusammenfassend bei Smith 2004). Anders bei den Theorien des Sprachgebrauchs, hier steht der soziale Kontakt im Vordergrund; die mentalen Fähigkeiten des Individuums sind auf allgemeine Lernvorgänge ausgerichtet; für die Sprache zentral ist die Unterstellung, dass die anderen genauso Intentionen besitzende Wesen sind wie das Individuum selbst (Tomasello 2010). In interaktionistischen Theorien spielt der generalisierte Andere (Mead 1955) eine zentrale Rolle − es geht hier um eine sozial orientierte Theorie der Wechselwirkung von Individuen beim Aufbau ihrer eigenen Identität aufeinander.
5. Sprache von innen und von außen Pike (1967: 37) führte die Unterscheidung der emischen und der etischen Sicht von Sprachen (und Kulturen) ein. Der Gegensatz lässt sich am Beispiel des Genus der Nomina verdeutlichen: Im Deutschen gibt es (aus der Innensicht) drei Genera und jedes Nomen des Deutschen ist für eines dieser drei spezifiziert. Im Tagalog gibt es keine Genera. Die Nomina sind in dieser Hinsicht unspezifiziert. Aus der Sicht des Deutschen ist die Genuskennzeichnung der Nomina absolut notwendig; aus der Sicht des Tagalog ist sie inexistent. Von außen gesehen, sind Deutsch und Tagalog zwei Fälle eines komplexen Feldes von möglichen Genera und deren Verteilung auf die Sprachen, wie sie etwa im World Atlas of Linguistic Structures (Haspelmath, Dryer and Gil 2005) dargestellt sind. Entsprechend gibt es zwei Arten, Sprachverschiedenheit aufzufassen: Die emische ver-
7. Sprache und Sprachen gleicht Innensichten miteinander, die etische Merkmale, die mehr oder weniger stark ausgeprägt vorhanden sind. Die beiden Gesichtspunkte spielen auch eine Rolle bei der Definition dessen, was für eine Sprache zentral ist. Emisch orientierte Theorien sind etwa jene von Humboldt und von Saussure: in beiden Auffassungen wird die Einheit der Sprache (als Weltansicht bei Humboldt, als langue bei Saussure) betont. Etisch orientierte Theorien sind die traditionelle normative Auffassung und die Universale Grammatik von Chomsky: beide nehmen an, dass alle Sprachen im Prinzip gleich sind; die Unterschiede sind akzidentell. Die normativen Grammatiken schließen nicht akzeptierte Variation aus; bei Chomsky geht es um den idealen Sprecher-Hörer, der wohlgeformte von nicht wohlgeformten Ausdrücken unterscheiden kann. Hier ist auch auf die unterschiedliche Lesart von universal hinzuweisen: Während die Universale Grammatik bei Chomsky für alle Sprachen gleiche Ausgangsbedingungen mentaler Art annimmt, sind die empirischen Universalien der Sprachtypologie seit Greenberg ([1966] 2005) in der Form implikationaler (wenn eine Sprache Merkmal X hat, dann hat sie auch Merkmal Y, aber nicht umgekehrt) und statistischer Universalien (die überwiegende Anzahl der Sprachen hat Merkmal X) in den Vordergrund getreten (siehe auch Croft 2003).
6. Gleichheit und Verschiedenheit der Sprachen in der Sprachwissenschaft Worin liegt also die Verschiedenheit der historischen Sprachen? Ist sie fundamental oder oberflächlich, begrenzt oder unbegrenzt, generell oder spezifisch? Ohne auf den Babelmythos (Borst 1957−1963) einzugehen, lassen sich in der abendländischen Sprachwissenschaft vier Positionen unterscheiden.
6.1. Die Tradition: Verschiedenheit von Ausdrücken, Gleichheit von Inhalten Aristoteles begreift in Peri Hermeneias (Aristoteles 1994) die gesprochenen Worte als Zeichen für die mentalen Abbilder der Dinge in der Seele (modern gesprochen: im Geist) der Menschen. Die Verschiedenheit der Wörter bezieht sich nur auf den Ausdruck, nicht den Inhalt. Zwar vertreten andere Autoren andere erkenntnistheoretische Zugänge als Aristoteles, entscheidend ist aber, dass die Inhalte sprachunabhängig sind und die Ausdrücke ihnen einfach zugewiesen werden; die frühe Diskussion, ob diese Zuweisung von Natur aus geschehe (physei) oder aufgrund von Setzungen (thesei), wird weitestgehend zugunsten der Setzung entschieden. Eine vereinfachte Form verzichtet auf die mentalen Abbilder − sie nimmt an, dass es die Dinge, Eigenschaften und Prozesse in der Welt direkt sind, auf die sprachliche Zeichen verweisen (so etwa der Logische Positivismus des Wiener Kreises). Sprachverschiedenheit ist also bloß akzidentell, zufällig.
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6.2. Wilhelm von Humboldt: Verschiedenheit der Weltansichten Humboldt (vgl. Trabant 2012) sieht in den Sprachen nicht etwas Statisches, ein Werk (Ergon), sondern etwas Dynamisches, eine Tätigkeit (Energeia), die „sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“ (Humboldt 1998: 174). Diese Arbeit ist für Humboldt an den Nationalcharakter gebunden: Die Nationen sind es, in denen sich die Menschheit individualisiert. Die Verschiedenheit der Sprachen gilt ihm entsprechend als eine Verschiedenheit der Weltansichten (Di Cesare in Humboldt 1998: 52), was allerdings nicht nur für Nationen, sondern für alle Individualisierungen der Sprache gilt. In der inneren Form der Sprachen wird dies erkennbar. Sprachen entsprechen deswegen auch verschiedenen Typen; Humboldt nimmt an, dass die morphologischen Techniken, die er in den Einzelsprachen findet, etwas aussagen über die Weltansichten. Diese humboldtsche Sprachauffassung wird im sogenannten Neohumboldtianismus des 20. Jahrhunderts − etwa bei Weisgerber und Trier − wieder aufgenommen (vgl. Werlen 2002: 275−293).
6.3. Ferdinand de Saussure: radikale Arbitrarität Ferdinand de Saussures Denken wird breit in der Form des Cours de linguistique générale rezipiert (Kritik daran bei Jäger 2010: 9−16; zur Biographie Joseph 2012). Er konstituiert die Sprachwissenschaft durch einen ihr allein zugehörigen Gegenstand, die langue (im Gegensatz zur parole ‚Rede‘ und zum langage ‚Sprachfähigkeit‘), die er als System von sprachlichen Zeichen begreift. Diese Zeichen bilden ein untrennbares Ganzes von Ausdruck und Inhalt: Das signe (Zeichen) hat die beiden Seiten des signifié (Bezeichnetes) und des signifiant (Bezeichnendes). Die Zeichen bilden ein System, indem sie syntagmatische und assoziative Beziehungen eingehen. Dabei definiert das System den Wert (valeur) des einzelnen Zeichens aufgrund dieser Beziehungen. Die jeweilige Sprache wird damit gegenüber der Welt autonom: Sie organisiert die beiden unbestimmten Gebilde des Denk- und des Artikulierbaren in autonomer Art und Weise. Dies nennt Amacker (1975: 79) „l’arbitraire radical“ (in Anlehnung an die Formulierung im Cours de linguistique générale: „le lien de lʼidée et du son est radicalement arbitraire“ (Saussure [1922] 1972: 157) − die grundsätzliche Arbitrarität der Sprache: Weiter wird dieses System als soziale Tatsache (fait social) bezeichnet. Zwar gelangt die Sprache durch den sprachlichen Verkehr (le circuit de la parole) ins Individuum und daraus bildet sich sein Sprachwissen als System, aber das System qua Sprache ist unabhängig von dem, was der einzelne Sprachteilhaber davon besitzt. Saussure schwankt zwischen einer im engeren Sinne psychologischen und einer strukturellen Sichtweise; letztere ist vor allem von Hjelmslev (1961) radikalisiert worden, der eine Sprache als ein abstraktes System betrachtet. Hjelmslevs eigenes Beispiel zur unterschiedlichen Strukturierung des Farbwortschatzes (Hjelmslev 1961: 53) hat zu einer weit ausgreifenden Debatte über Farbwörter geführt (siehe Werlen 2002: 62−85).
6.4. Noam Chomsky: Universale Grammatik Chomsky ersetzt den Begriff der Sprache, die er für epiphänomenal hält, durch den „idealen Sprecher-Hörer“ (so in Chomsky 1965), dessen Kompetenz (competence) es
7. Sprache und Sprachen ihm erlaubt, zu entscheiden, ob ein erzeugter Satz grammatisch wohlgeformt ist oder nicht. Er ist dabei nicht beschränkt durch Faktoren der Performanz (performance) wie „begrenztes Gedächtnis, Zerstreutheit und Verwirrung, Verschiebungen in der Aufmerksamkeit […], Fehler […]“ (so in Chomsky 1965) etc. Zentral ist weiter die Annahme, dass die Menge der Sätze einer Sprache prinzipiell unendlich sei. Jede Theorie muss also einen Algorithmus bereitstellen, der a) von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch macht − bei Chomsky mit dem Mechanismus der Rekursion abgebildet − und der b) von jedem so erzeugten Satz entscheiden können muss, ob er zur Sprache gehört oder nicht. Chomsky sieht die Aufgabe des Sprachwissenschaftlers parallel zu jener eines sprachlernenden Kindes: Beide müssen aufgrund ungenügender Evidenz ein System bauen, dass alle und nur die wohlgeformten Sätze einer Sprache erzeugt. Das geht nur mit einer reichen kognitiven Ausstattung des Kindes, der Universalen Grammatik. Einzelsprachen werden so zu bloßen Instantiationen der Universalen Grammatik. Die Universale Grammatik und der Input, den das Kind bekommt, wirken zusammen, um jene Strukturen zu etablieren, die den kompetenten Sprecher kennzeichnen. Im Minimalismusprogramm (Chomsky 1995; Smith 2004: 86−90) wird diese Kompetenz restringiert auf das unmittelbar Nötige, um die Inhalte (genannt Logical Form) und die Ausdrücke (genannt Phonetic Form) zusammenzubringen. Die vier Theorieansätze lassen sich wie folgt charakterisieren: Bei Aristoteles sind es bloß die Zeichenausdrücke, die Einzelsprachen voneinander unterscheiden. Bei Humboldt prägen die gesellschaftlich vermittelten Weltansichten die verschiedenen Sprachen und umgekehrt bestimmen die Sprachen die Weltansichten. Bei Saussure formen autonome Zeichensysteme das sonst ungeformte Denken (auch das ein Topos der Tradition, der schon bei Humboldt radikal angewandt wird). Bei Chomsky verbindet ein formales System mit Optionen Inhalte und Ausdrücke − die Geltung der Optionen wird dem Input entnommen. Bei Humboldt und Saussure wird eine Verschiedenheit der Inhaltsseite angenommen − und diese Sicht wurde insbesondere von Benjamin L. Whorf weiter zugespitzt in seiner Annahme des Prinzips der sprachlichen Relativität.
7. Das Prinzip der sprachlichen Relativität Die Beschäftigung mit amerikanischen Sprachen führt Franz Boas und seine Schüler, darunter Edward Sapir, dazu, vorurteilslos alles zu akzeptieren, was in Sprachen empirisch überhaupt feststellbar ist. Vor allem Sapir (1921) aber betont, dass die Sprachen nicht einfach etwas Vorgegebenes abbilden, sondern die Wirklichkeit selbst (mit)konstruieren. Von Boas stammt das bekannte, oft falsch verstandene Schneebeispiel der Inuit (Boas [1911] 1969: 25−26). Was er an der Stelle zeigen möchte, ist einfach, dass jede Ethnie und jede Kultur sich die Lebenswelten aneignen, mit denen sie es zu tun haben. Radikalisiert (oder besser: popularisiert) wurde diese Auffassung dann von Benjamin L. Whorf, der von einem Prinzip der sprachlichen Relativität spricht (in Anlehnung an Einstein): „We are thus introduced to a new principle of relativity, which holds that all observers are not led by the same physical evidence to the same picture of the universe, unless their linguistic backgrounds are similar, or can in some way be calibrated“ (Carroll 1956: 214): Ein Beobachter wird so in seiner Weltsicht vom sprachlichen Hintergrund beeinflusst (oder − in einer weiter gehenden Interpretation − bestimmt, also determi-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte niert), über den er verfügt. Diese Sapir-Whorf-Hypothese besagt in ihrer (von niemandem wirklich ernsthaft vertreten) extremsten Form, dass eine Einzelsprache (oder eine Sprachfamilie) das Bild der Welt vollständig bestimmt, das die Sprecher dieser Sprache haben; in ihrer schwächeren Form wird angenommen, dass die Sprache die Weltsicht mitbestimmt. Entscheidend ist, dass Whorf sich dabei nicht so sehr auf lexikalische, sondern auf grammatische Unterschiede bezieht (Lee 1996; sie arbeitet insbesondere Whorfs gestalttheoretische Grundlage heraus). Whorfs Grundgedanken lösten eine lang andauernde Diskussion aus, deren Ergebnis sich als skeptische Annahme einiger whorfscher Effekte bei der sprachlichen Kategorisierung und in der Versprachlichung von Räumlichkeit zusammenfassen lässt (Werlen 2002: 31−35 und der einflussreiche Sammelband von Gumperz and Levinson 1996).
8. Zusammenfassung Das Verhältnis von Sprache und (Einzel-)Sprachen prägt den begrifflichen Zugang zu den Sprachen der Welt und ihrer Sprecherinnen und Sprecher seit dem Anfang der systematischen Reflexion der Sprache(n) im Kontext der griechisch-lateinischen Grammatik. Die (griechische) Grammatik bildet eine universale Basis, der jede gebildete und normative Sprache folgen muss, obwohl ihre Anwendung schon innerhalb der europäischen Sprachen und erst recht außerhalb dieser Sprachen misslingt. Wilhelm von Humboldt gelingt es am folgenreichsten, sich vom Korsett der griechisch-lateinischen Sprachauffassung zu lösen und den Sprachen mit anderem Sprachbau ihr Recht einzuräumen (was letztlich zur modernen Sprachtypologie führt). Auf der andern Seite ist es der rationalistische Sprachbegriff der Schule von Port-Royal, auf die sich Noam Chomsky (1966) beruft, um seine theoretische Position zu rechtfertigen. Ihm steht der Strukturalismus in seinen vielfältigen Ausformungen gegenüber, der jede Sprache als autonomes System sieht, das nur als System mit anderen Systemen vergleichbar ist: Sprachen sind hier letztlich grundverschiedene Semiotiken, mit Hjelmslev gesprochen (Hjelmslev 1961): Sie basieren zwar alle auf den gleichen Prozessen, ergeben aber verschiedene Systeme. Wie immer rächt sich jedoch das Ausgeblendete, indem es zu neuen Begriffen Anlass gibt: Die Geschichte der Sprachwissenschaft im 20. und 21. Jahrhundert lässt sich darum lesen als (Wieder-)Auferstehung des Verdrängten.
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8. Sprache und Schrift
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Iwar Werlen, Bern (Schweiz)
8. Sprache und Schrift 1. Die Schrift: Zeichen des Zeichens 2. Der Mythos der Repräsentation 3. Notationale Eigenschaften und Typenkonzepte
4. Die DeFrancis-These 5. Die Autonomiethese 6. Literatur (in Auswahl)
Das Verhältnis von Sprache und Schrift wird hier am Beispiel der Alphabetschrift erörtert. Dies insbesondere mit logischen Mitteln, die im Wesentlichen von Nelson Goodman im Rahmen seiner Symboltheorie entwickelt worden sind. Charakteristisch für die Alphabetschrift ist ihre logisch digitale Natur, die sie − in Opposition etwa zum System der Hanzì − als einen besonderen Typus von Schrift kennzeichnet: Denn auch, wenn sie aufgrund ihrer logischen Digitalität technisch universell kommunizierbar und − anders als die Hanzì oder Kanji − lesbar ist, so ist diese ihre Lesbarkeit andererseits an je eine besondere natürliche Sprache gebunden − im Gegensatz zu den Hanzì, die sich für eine riesige multilinguale Gesellschaft, die politisch zentral organisiert war, als optimale Problemlösung erwiesen haben. Aus Sicht der chinesischen literalen Kultur muss sich daher das Verhältnis von Sprache und Schrift kategorial anders darstellen, als es hier aus Sicht der alphabetschriftlichen Perspektive geschieht. Grundsätzlich stellt sich bei dieser Sachlage das Problem des Skriptizismus: Per se ist jede natürliche Sprache logisch analog organisiert, in ihrem Einheitenbestand literal dokumentiert werden kann sie jedoch nur in einem logisch digitalen System. Dies gilt auch für das Chinesische mit seinem System von bedeutungsdifferenzierenden sogenannten Tönen. Diese lassen sich literal zwar durch besondere Zeichen andeuten, nicht aber als solche darstellen.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte
1. Die Schrift: Zeichen des Zeichens „Es sind also“, so eine bekannte deutsche Übersetzung des Beginns von Aristoteles‘ Peri hermeneias, „die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird (ta en tē phōnē), Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen (tōn en tē psychē pathēmatōn symbola), und die Schrift (ta graphomena) ist wieder ein Zeichen der Laute“ (Aristoteles [21925] 1974: 95). Diese Übersetzung, so prominent sie ist, ist falsch: Die bekannteste englische Ausgabe übersetzt das „ta en tē phōnē“ richtig mit „words spoken“ und das „ta graphomena“ mit „written words“ − was durch den Beginn des zweiten Kapitels der Schrift zweifelsfrei bestätigt wird. Dass einem ansonsten hochkompetenten Übersetzer ein solcher Lapsus unterläuft, zeigt, dass hier ein mächtiger Mythos am Werk war: die Auffassung, die Alphabetschrift sei eine Lautschrift. Auch diese Auffassung − so weit verbreitet sie auch ist − ist falsch: Zwar beruht das Prinzip dieses Schrifttypus auf der phonematischen Analyse einer oralen Sprache, des Altionischen, die etwa im 8. Jahrhundert v. Chr. „fertig“ ist (Carpenter 1938), doch sie funktioniert nicht so. Vielmehr beruht ihr Funktionsprinzip auf einer abstrakten Kombinatorik: Dass nämlich für sich nichts bedeutende Elemente zu einem etwas bedeutenden Ausdruck zusammengefügt werden: zu einem Wort einer Schriftsprache. Denn Wörter sind die kleinsten in der Empirie, d. h. literalen Performanz, begegnenden Zeichen einer jeden Schriftsprache. Jeder moderne alphabetschriftliche Text demonstriert es ad oculos. Dies bedarf in verschiedenen Hinsichten der Erläuterung. Zum Ersten: Buchstaben fungieren als Zeichen nur in einem speziellen schulischen Sprachspiel, in dem graphische Abbildungen von Buchstabenfiguren wie A, a, B, b usw. als Namen für etwas verwendet werden, was in demselben Sprachspiel als „Laute“ bezeichnet wird, aus dem die Wörter der oralen Sprache bestehen sollen. Zu den Voraussetzungen der Phonologie gehört jedoch die Einsicht, dass die Silbe die kleinste, nicht weiter segmentierbare Einheit der gesprochenen Sprache ist (Jakobson 1969). Erst das macht ja aus dem Phonem die bedeutungsdifferenzierende (System-)Einheit, die es de facto in der klassischen Phonologie geworden ist. Genauer betrachtet, handelt es sich beim Phonem um eine abstrakte Relation. Deren Funktion besteht darin, eine Menge von phonologischen Oppositionen, etwa {/a:/ : /i:/ : /u:/} auf eine Menge von Wörtern abzubilden, die sich in ihrer Bedeutung systematisch unterscheiden: {/da:/ : /di:/ : /du:/, …}, also um nichts, was sinnlich wahrnehmbar wäre. Die auch unter Linguisten verbreitete Auffassung des Phonems als einer Spracheinheit verdankt sich offensichtlich einer Analogie, in der das als Buchstabenfolge geschriebene Wort als Modell für den Artikulationsmodus des gesprochenen genommen wurde und weithin bis heute genommen wird: das Grundmodell für das, was seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts als „Skriptizismus“ beschrieben worden ist (Stetter 1997; Krämer 1998; Dürscheid 2006). Zweitens: Als die kleinsten „bedeutungstragenden“ Einheiten einer Sprache gelten der systematischen Linguistik die Morpheme, lexikalische Morpheme wie sag-, in, baum-, … oder grammatische Morpheme wie -e, -st, -t, … Diese sind konzipiert als Systemeinheiten (Martinet 1963): als theoretische Konstrukte, die der Beschreibung und Erklärung der Wortbildung als eines sprachsystematischen Prozesses dienen. Die kleinsten Einheiten der aktualen Rede sind in jeder menschlichen Sprache die Wörter. Auch das bedarf keiner weiteren Erläuterung, das Faktum wird durch die Evolution eines Registers der Alphabetschrift bestätigt: der Getrennt- bzw. Zusammenschreibung von Wörtern, die sich ab dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert entwickelt. Dies belegt augen-
8. Sprache und Schrift fällig, wie das Wort als Grundeinheit der Sprache im Bewusstsein der Schriftkundigen Gestalt annimmt. Das Funktionsprinzip der Alphabetschrift beruht also auf einer abstrakten Kombinatorik, die analog zur subsemantischen Artikulation der oralen Sprache verfährt. Es gilt heute als das universelle Funktionsprinzip von Schrift überhaupt. Beleg dafür ist das Schriftsystem des Japanischen. Es umfasst neben dem welthistorischen Antipoden der Alphabetschrift, den Hanzì, im Japanischen Kanji, nicht nur eine aus diesen abgeleitete Silbenschrift, den beiden Registern der Kana: den kursiven Hiragana und den Katakana, die aus Fragmenten von Kanji bestehen. Diese unterscheiden sich zwar figürlich, sind aber in ihrem Wertebestand identisch. Heute ist dieses Schriftsystem durch ein weiteres Register ergänzt: die Romaji, das lateinische Alphabet, das − wie in China auch − zur Transkription insbesondere von Namen verwendet wird. Die offensichtlich gelungene „Kohabitation“ dieser verschiedenen Schriftregister in einem umfassenden Schriftsystem ist wohl eines der faszinierendsten Phänomene in der Evolution von Schriften, kulturhistorisch ebenso bedeutsam wie linguistisch oder soziologisch.
2. Der Mythos der Repräsentation Universell scheint das Funktionsprinzip der Alphabetschrift insbesondere deshalb zu sein, weil es auch in einem weiteren Sinn auf einem abstrakten Prinzip beruht: Jedes Wort einer Alphabetschrift stellt stets und allein die Form dieses Wortes dar, nicht seine Bedeutung. Bestätigt wird dies gerade durch eine Schriftsprache wie das Englische, das durch eine „tiefe“ Orthographie gekennzeichnet ist: Man kann der Buchstabenfolge eines Wortes nur selten die orale Lesart entnehmen. Hat man jedoch ein Grundrepertoire von Wörtern einmal gelernt, so wird man viele Texte des Englischen lesen und vorlesen können, ohne indessen die Bedeutung aller Wörter zu verstehen, ja es kann vorkommen, dass man etwa einen Fachtext zwar Wort für Wort zu lesen imstande ist, ohne jedoch seinen Sinn zu begreifen. Die Bedeutung eines Wortes lernt man, indem man erstens seine syntaktische Verwendung erlernt und zweitens, welche Bezugnahmegebiete mit den kategorematischen Wörtern der betreffenden Sprache eröffnet werden, den Nomina, Verben und Adjektiven, worauf also mit ihnen in der Regel referiert wird. Darauf gibt eine wie auch immer geartete Buchstabenfolge nie Hinweise − im Gegensatz zu den sogenannten ursprünglichen Bildern des Chinesischen wie 人, 女, 手, 曰, 月, …, Mensch, Frau, Hand, Sonne, Mond, die zumindest in der Frühphase der Entwicklung dieser Schrift wohl als Piktogramme, schematisierte bildliche Darstellung von Lebewesen, Gegenständen und anderem, gedient haben mochten. Die chinesische Schrift ist daher aus europäischem Blickwinkel traditionell als Ideographie begriffen worden, als eine Art Begriffsschrift − eine Auffassung, die zu Recht kritisiert und korrigiert worden ist (DeFrancis 1989; Sampson 1994; siehe auch Kapitel 4). Der linguistisch entscheidende Punkt dieser Debatte ist Folgendes: Ein Hanzì, gleich ob einfaches oder komplexes Zeichen, stellte offenbar schon in der Frühphase der Entwicklung dieser Schrift stets ein Wort der chinesischen Sprache dar − keineswegs einen Begriff, so wie jede durch zwei Spatien begrenzte Buchstabenfolge in einem deutschen, englischen, französischen, spanischen Text stets ein Wort der betreffenden Sprache darstellt − und dieses „darstellt“ ist hier nicht im repräsentativen Sinn zu lesen, sondern im exemplikativen: Jede entspre-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte chende Buchstabenfolge etwa auf dieser Seite dieses Textes exemplifiziert, ist also ein Muster für das, was ein Wort der deutschen Schriftsprache ist. Dies macht deutlich, wie irreführend der Topos des Repräsentativen ist, mit dem die Schrifttheorie geradezu kontaminiert ist. Wo wir ein Schriftverfahren verwenden, um tatsächlich Einheiten der oralen Sprache darzustellen, verwenden wir stets besondere Notationen, um anzudeuten, dass hier die Schriftelemente nicht in ihrer genuinen Funktion verwendet werden, sondern in einem „uneigentlichen“ Modus. Am deutlichsten zeigen dies die Lautumschriften in fremdsprachigen Wörterbüchern. Das orale Wort, das wir als „weiß“ schreiben, könnte man etwa als /vaes/ darstellen, ein Graphismus, der jedoch viele dialektale Varianten nicht erfasst, die im Deutschen von /ve:s/ bis /voas/ reichen. Also wiederum eine skriptizistische Weise der Darstellung, die einen bereits schriftlich geregelten Normaldialekt voraussetzt. Die Geschichte gleicht sehr der von Hase und Igel. Der Grund dafür muss in einem undurchschauten logischen Verhältnis von oraler und Schriftsprache liegen, das vom Repräsentationsmodell nicht erfasst wird. Wie ist also dieses Verhältnis logisch widerspruchsfrei zu denken?
3. Notationale Eigenschaften und Typenkonzepte Um dieses Problem zu lösen, muss man die unterschiedlichen logischen bzw. notationalen Eigenschaften von oraler Sprache und Schrift betrachten: Jedes alphabetschriftliche Wort ist darstellbar in einer logischen „Normalform“, die geradezu ideal durch ein mit einem Schreibprogramm erzeugtes Wort repräsentiert wird − wie etwa die Wörter dieses Textes. Denn die Erzeugung jeder Buchstabenfigur ist in einem Teilprogramm Pi eindeutig beschrieben, das verschieden ist von jedem Programm zur Erzeugung eines anderen Buchstaben. Dieses Programm Pi − z. B. Py, das Programm zur Erzeugung der Minuskel y − kann man als den „eigentlichen“ Typen y auffassen: eine − in philosophiehistorischen Termen ausgedrückt − realistische Version des Typenbegriffs. Der Typ gilt hier als das Urbild aller Kopien, die einander nicht nur ähnlich, sondern gleich sind. Dagegen sind die Tokens eines nominalistischen Typenkonzepts begriffen als Kopien eines wie auch immer beschaffenen Musters, die einander nur mehr oder weniger ähnlich, nie aber exakt gleich sind. Prototyp eines solchen Typenkonzepts ist das orale Wort: Es existiert stets und nur als Menge von dialektal mehr oder weniger verschiedenen Varianten, die einander kaum einmal exakt gleichen, selbst nicht in den Artikulationen derselben Person, denn die können ruhig oder erregt, laut oder leise, deutlich oder undeutlich gesprochen sein. Nelson Goodman hat im Rahmen seiner Symboltheorie die technischen Mittel bereitgestellt, den wesentlichen Unterschied logisch zu fassen, auf dem diese Sachlage beruht (Goodman 1968, 1997): Jedes Wort eines alphabetschriftlichen Textes, etwa dieses Satzes, besteht aus einer Folge von Figuren: J, e, d, s, W, … Qua Buchstabe ist jede davon Element einer Menge von Buchstabenfiguren MBF {A, a, B, b, …, Z, z, …}. Diese wird von Sprache zu Sprache leicht variieren, insbesondere aufgrund von Sonderzeichen wie ñ, ç, å, … Doch solange ein deutscher oder spanischer oder französischer oder … Text hinreichend deutlich geschrieben ist, wird man jede Figur als Element von MBF identifizieren und von Tintenklecksen, Fliegendreck oder anderen Erscheinungen in der betreffenden Inskription unterscheiden können. Jede so identifizierte Figur ist somit eindeutig
8. Sprache und Schrift einem bestimmten Figurentyp zugewiesen, ist also effektiv differenziert. Genau dies macht sie zu einem Buchstaben. Ist ein ganzes Inskriptionsschema, etwa ein Wort dieses Textes, durchgängig effektiv differenziert, dann ist es logisch digital. Dasselbe gilt aus den genannten Gründen für diesen ganzen Text. Die logische Eigenschaft der Digitalität einer Inskription, sei diese ein einzelnes Wort oder ein ganzer Text, ist die Voraussetzung dafür, ihn auch technisch digital erzeugen zu können. Nehmen wir dagegen ein Bild wie Klees „Schwarzer Fürst“, so ist kein „Element“ dieses Bildes, etwa die Striche, die in diesem Bild als Nase oder Lippen der dargestellten Figur „gelesen“ werden, als Element eindeutig einem Strichtyp zuzuordnen. Jede noch so genaue Kopie dieses Bildes wird in jedem Detail in irgendeiner Nuance vom Original abweichen. Es ist durchgängig nicht effektiv differenziert und damit logisch analog. In einer Alphabetschrift mit einer hinreichend „gefestigten“ Normorthographie − im Deutschen beginnen sich allmählich die Turbulenzen zu legen, die die Rechtschreibreform von 1995 erzeugt hat − lässt sich somit jedes Wort der betreffenden Sprache durch genau eine Buchstabenfolge digital darstellen. Eben dies macht die Entstehung exakter Homographen wie weiß, Kiefer usw. möglich. Dem literalen Wort des Deutschen lässt sich dann eine Menge oraler dialektaler Varianten zuordnen wie etwa /vaes/, /ve:s/, /voas/ usw. Keineswegs repräsentiert also ein schriftliches Wort ein orales: Vielmehr handelt es sich um die Abbildung einer insgesamt unüberschaubaren Menge oraler Varianten auf genau eine, weil digitale literale Wortform. Allein diese digitale Darstellung, die somit nicht die Repräsentation eines − wie auch immer gedachten − oralen Wortes ist, vielmehr die Exemplifikation eines literalen Musters, ermöglicht die Konstruktion eines Schemas, in dem per se jedem Wort der betreffenden literalen Sprache sein exakter Ort in einem zweidimensionalen, alphabetisch doppelt geordneten Schema zugewiesen ist: dem Wörterbuch. Das Verhältnis von oraler und Schriftsprache lässt sich also nur extensional fassen, als Abbildung einer unfassbaren Menge von dialektalen Varianten auf ein digital organisiertes, alphanumerisch geordnetes Wörterbuch. Erst diese Abbildung macht es ja möglich, eine Variante von x als Variante von x zu identifizieren.
4. Die DeFrancis-These Jede Alphabetschrift ist mithin − zumindest in ihrem Kernbestand an Buchstabenfiguren, orthographischen Zeichen usw. − logisch digital. Wie verhält es sich nun mit ihrem großen Antipoden, den Hanzì, den chinesischen Zeichen? Der Sinologe John DeFrancis hat in einem viel diskutierten Buch nicht nur die verbreitete Meinung widerlegt, die chinesische Schrift sei eine Art Begriffsschrift in dem von Leibniz beschriebenen Sinn einer ars characteristica: dass nämlich ihre Schriftzeichen direkt die Bedeutung des je betreffenden Hanzì wiedergebe. Vielmehr seien die Hanzì eine vollgültige Schrift in linguistischem Sinne: Jedes Zeichen repräsentiere ein Wort der chinesischen Sprache, die Hanzì seien also eine voll entwickelte Logographie − so wie jede moderne Alphabetschrift auch eine Logographie ist (siehe Kapitel 2). Darüber hinaus hat er die These vertreten, die chinesische Schrift beruhe wie jede andere Schrift auch auf einem phonetischen Prinzip (DeFrancis 1989). Dies ist von Geoffrey Sampson partiell bestätigt, als generelle These jedoch infrage gestellt, wenn nicht widerlegt worden (Sampson 1994). Er teilt mit DeFrancis die Datenbasis: Etwa 90 Prozent aller Hanzì, deren Gesamtzahl
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte auf über 90.000 geschätzt wird, sind komplexe Zeichen, die ihrerseits je aus zwei Hanzì bestehen, einem sogenannten Signifikum, das einen Hinweis auf die Bedeutung des Gesamtzeichens gibt, und einem zweiten Zeichen, dem „Phonetikum“, das die orale Lesart des Zeichens andeutet. Grundlage dafür sind zwei das orale Chinesische charakterisierende Fakten: Fast sämtliche Wörter dieser Sprache sind Einsilber und deren Anzahl ist entsprechend klein: Durchschnittlich entsprechen einer Silbe acht verschiedene Bedeutungen. Homonymie ist gleichsam der Normalfall im oralen Chinesisch. Auf diesem Faktum beruht die Evolution der komplexen Hanzì. Allerdings handelt es sich hier um einen weiten Begriff von Homonymie. Die Aussprache der betreffenden Wörter ist in den meisten Fällen nicht genau gleich, sondern einander „nur“ ähnlich. Dies nutzt das System der Hanzì aus: Das Phonetikum eröffnet sozusagen einen Spielraum von möglichen oralen Lesungen des Zeichens und dieser wird durch das Signifikum eingegrenzt. So besteht das Zeichen mit der Bedeutung Mutter, 妈, gesprochen „mā“, d. h. im sogenannten ersten Ton, aus dem Phonetikum 马, „má“ (Pferd), gesprochen im dritten Ton, und dem Signifikum 女 (Frau). Die Töne haben bedeutungsdifferenzierende Funktion. Beide Verfahren beruhen − wie unmittelbar zu sehen ist − auf Analogie. Das System der Hanzì ist so, von der Form- wie von der Bedeutungsseite her betrachtet, ein logisch analoges System. Natürlich lässt sich heute für jedes Hanzì eine digitale technische Normalform erzeugen, der ihrerseits verschiedene Formate zugewiesen werden können. Aber das digitale Gesamtsystem lässt sich nicht in ein alphanumerisches System übertragen, das für Menschen lesbar wäre. Daher auch die verschiedenen Ordnungssysteme für Hanzì- oder Kanji-Wörterbücher, die traditionell auf den sogenannten Radikalen beruhen. Die Mengen der Striche und Radikale und der Hanzì bzw. Kanji überschneiden sich jedoch: Logisch sind diese Systeme daher nicht in einen digitalen Zustand zu überführen. Dies ist auch die Basis für Sampsons Argument gegen DeFrancis: Er räumt ein, dass in den ersten Phasen der Entwicklung der Hanzì dank der Funktion des Phonetikums dieses Schriftsystem in der Tat auf einer phonetischen Basis beruht habe. Doch aufgrund der Lautwandelprozesse, die die Evolution des oralen Chinesischen als einer „natürlichen“ Sprache ebenso charakterisieren wie die jeder anderen oralen Sprache auch, sei dieser phonetische Grundcharakter des Systems der Hanzì mehr und mehr verschwunden und existiere heute de facto nicht mehr. Daher charakterisiert Sampson das heutige System der Hanzì als eine „Glottographie“ in dem Sinne, dass es eben ein vollgültiges Sprachsystem sei, und in näherem Sinn als eine „Logographie“, eine Wortschrift − eine Kategorisierung, die zweifellos zutrifft, aber eben nicht spezifisch für das System der Hanzì ist: Jedes alphabetschriftliche orthographische System, das über das Register der Getrennt- und Zusammenschreibung verfügt, ist trivialerweise eine Logographie, denn es trennt eben die Wörter durch Spatien. Jeder Text einer solchen Schriftsprache definiert somit diese rekursiv erneut als eine solche. Nur so konnte etwa mit der Differenz der Schreibungen sogenannt und so genannt ein Bedeutungsunterschied verbunden werden. Philosophisch ist Sampsons Argument hochbedeutend, weil es die logisch analoge Funktionsweise des chinesischen Schriftsystems so klar herausarbeitet, auch wenn Sampson selbst nicht diese Kategorisierung verwendet. Denn wenn wir mit Wilhelm von Humboldt oder Wittgenstein die Sprache als das Medium menschlichen Denkens begreifen, dann muss dies auch für die logischen medialen Eigenschaften von Schriftsystemen gelten. Medien sind der „Botschaft“ gegenüber, die sie vermitteln, nie neutral: Sie formen sie (Krämer 1998). Dass formales Denken intern mit der logisch digitalen Natur der
8. Sprache und Schrift Alphabetschrift zusammenhängt, demonstriert schon die dialektische Übung in Platons Parmenides (Stetter 1997: 331−355).
5. Die Autonomiethese DeFrancis wie Sampson verwenden in ihrer Argumentation den Begriff „phonetisch“ in einem weiten, vom üblichen linguistischen Sprachgebrauch abweichenden Sinn: Dort versteht man unter der phonetischen Beschreibung eines oralen Wortes die Darstellung seiner lautlichen Artikulation durch eine Art von „Partiturlesart“ (Stetter 2005: 127− 134), gebildet aus einem Buchstaben- und Zeicheninventar, der man die Aussprache des betreffenden Wortes ablesen kann. Gleiche oder ähnliche Artikulationen werden entsprechend auch gleich oder ähnlich dargestellt, weiß und weise etwa als /vaes/ und /vaeze/. Keinem Phonetikum eines komplexen Hanzì jedoch ist seine Aussprache abzulesen. Sein Graphismus enthält darüber keinerlei Information: Kein Fragment des Phonetikums 马 lässt sich als /m/ oder als /a/ lesen. Man muss stets die Lesung des Gesamtzeichens kennen. Das macht die Hanzì von jedem oralen chinesischen Dialekt in einer Weise unabhängig, wie sie für eine Alphabetschrift undenkbar wäre. Die Funktion der Repräsentation des oralen Wortes, der sie ihre Konstitution verdankt, fesselt sie sozusagen an dieses. Und doch deutet schon jede „tiefe“ Orthographie wie die des Englischen − und für Sprecher schwäbischer wie niederdeutscher Dialekte dürfte die Orthographie des Schriftdeutschen ähnlich „tief“ sein − darauf hin, dass eine Schriftsprache, je „älter“ sie wird, sich umso mehr von der engen Bindung an jeden oralen Dialekt emanzipiert. Das Verhältnis kehrt sich sogar um: Der „Hochdeutsch“ genannte heutige Normdialekt verdankt sich einer schriftlichen Normierung, die im 16. Jahrhundert beginnt und Ende des 19. Jahrhunderts „kodifiziert“ wird. Die Funktion der Repräsentation wandelt sich im Zuge dieser Entwicklung in die der Präskription. Die Schrift emanzipiert sich und gewinnt gegenüber der oralen Sprache eine gewisse Autonomie, die jedoch eine relative bleibt (Günther und Ludwig 1994, 1996; Enderle 2005: 11−16), nicht nur wegen der präskriptiven Funktion, die die literale Sprache gegenüber der oralen gewonnen hat, sondern insbesondere wegen des morphematischen Prinzips, das im Zuge ihrer Evolution in jeder Orthographie einer Alphabetschrift mehr oder weniger stark ausgebildet wird. Einerseits stattet es den kompetenten Leser seiner Schrift mit einer Art Autonomie gegenüber dieser aus (Stetter 2005: 145−147): Am Ende wird er jeden in seiner Schrift geschriebenen Text lesen können, auch wenn er möglicherweise nicht jedes Wort versteht. Andererseits bindet genau dies − jenseits der phonetischen oder phonematischen Repräsentationsfunktion − orale und literale Sprache auf einer strukturell höheren Ebene umso enger aneinander. Absolute Autonomie gegenüber der oralen Sprache gewinnt die Schrift erst in den sogenannten formalen Sprachen von Logik oder Mathematik, die ja Schriftsysteme sind. In diesen können Argumentationen und Beweise mit rein literalen Mitteln geführt werden, und dies ist nur insofern möglich, als jedes Zeichen eines derartigen symbolischen Systems und die mit oder über ihm möglichen Operationen wohldefiniert sind. Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Wahrheitstafelmethode der Aussagenlogik. Auch dies ist von hoher philosophischer Relevanz: Im Medium der Schrift eröffnen sich hier aufgrund seiner Pertinenz, die Definitionen von Sprachgebräuchen ebenso ermöglicht wie sie die
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Überprüfbarkeit des Textes garantiert, Argumentationsweisen und Erkenntnismöglichkeiten, die dem Medium der oralen Sprache aufgrund seiner Fluktuanz prinzipiell nicht gegeben sind. Je „älter“ ein Text wird, desto mehr „emanzipiert“ er sich von seinem Autor, gewinnt seinen Sinn je wieder selbst in Kontexten, an die sein Autor nie gedacht hatte oder hätte denken können. Die orale Sprache dagegen ist und bleibt unsere Sprache, genau genommen: die Sprache jedes einzelnen Menschen, sein Idiolekt im umfänglichsten Sinn des Wortes. Dessen Verfahren Syntax, Morphologie, Phonologie usw. sind durchweg logisch analog organisiert. Das macht ihre unglaubliche Variabilität aus und auf der beruht natürlichsprachliche Kreativität: die Fähigkeit, sich an verschiedenste Kommunikationssituationen wie Sachlagen anzupassen, ohne die menschliche kommunikative Kompetenz nicht denkbar wäre. Hier ist der Herrschaft der Schrift ihre definitive Grenze gesetzt.
6. Literatur (in Auswahl) Aristoteles [21925] 1974 Kategorien, Lehre vom Satz (Peri hermeneias). Übers., mit einer Einl. und erklär. Anm. vers. v. Eugen Rolfes. Unveränd. Nachdr. Hamburg: Meiner. Aristotle 1983 Aristotle in Twenty-three Volumes. Vol. I: The Categories, On Interpretation by Harold P. Cooke, Prior Analytics by Hugh Tredennick. Cambridge, MA/London: Harvard University Press. Carpenter, Rhys 1938 The Greek Alphabet Again. In: American Journal of Archeology 42, 58−69 [dt. 1968: Noch einmal das griechische Alphabet. In: Gerhard Pfohl (Hg.), Das Alphabet. Entstehung und Entwicklung der griechischen Schrift, 84−105. (Wege der Forschung LXXXVIII.) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. De Francis, John 1989 Visible Speech: The Diverse Oneness of Writing Systems. Honolulu: University of Honolulu Press. Dürscheid, Christa 2006 Einführung in die Schriftlinguistik. 3., überarb. und erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Enderle, Ursula 2005 Autonomie der geschriebenen Sprache? Zur Theorie phonographischer Beschreibungskategorien am Beispiel des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt. Goodman, Nelson 1968 Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis/New York: BobbsMerril. Goodman, Nelson 1997 Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übers. v. Bernd Philippi. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Günther, Hartmut 1995 Die Schrift als Modell der Lautsprache. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 51: Schriftaneignung und Schreiben, hg. v. Jakob Ossner, 15−32. Günther, Hartmut und Otto Ludwig (Hg.) 1994−1996 Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler For-
9. Sprache und Verständlichkeit
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schung. 2 Halbbde. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10.1 und 10.2.) Berlin/New York: de Gruyter. Jakobson, Roman 1969 Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Krämer, Sybille 1998 Das Medium als Spur und als Apparat. In: dies. (Hg.), Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, 73−94. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Martinet, André 1963 Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer. Pfohl, Gerhard (Hg.) 1968 Das Alphabet. Entstehung und Entwicklung der griechischen Schrift. (Wege der Forschung LXXXVIII.) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Ryle, Gilbert 1949 The Concept of Mind. London: Peregrine Books [dt. 1969: Der Begriff des Geistes. Stuttgart: Reclam]. Sampson, Geoffrey 1994 Chinese Script and the Diversity of Writing Systems. In: Linguistics 32, 117−132. Stetter, Christian 1997 Schrift und Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stetter, Christian 2005 System und Performanz. Symboltheoretische Grundlagen von Medientheorie und Sprachwissenschaft. Weilerswist: Velbrück.
Christian Stetter, Aachen (Deutschland)
9. Sprache und Verständlichkeit 1. Verständlichkeit als Selbstverständlichkeit 2. Verständlichkeitsforschung 3. Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
4. Hermeneutische Perspektiven 5. Über die Unverständlichkeit 6. Literatur (in Auswahl)
1. Verständlichkeit als Selbstverständlichkeit Überblickt man die seit dem 20. Jahrhundert vielfältig ausdifferenzierten Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache und Verständlichkeit, fällt als ein gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Theorieentwürfe, Konzeptualisierungen und Fragestellungen zunächst ein weithin geteilter Konsens auf. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Diskussion bedarf, wird häufig vorausgesetzt, dass Verständlichkeit im Rahmen sprachlicher Kommunikation prinzipiell wünschens- und erstrebenswert ist. So, wie über die Grenzen der Disziplinen hinweg die von Jürgen Habermas als eine der Voraussetzungen einer Theorie des kommunikativen Handelns angeführte Annahme geteilt wird, „Verständigung“ wohne „als Telos der menschlichen Sprache inne“ (Habermas 1988: 387), so wird auch Verständlichkeit als grundlegende Voraussetzung für gelingen-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte de sprachliche Kommunikation begriffen. „Unterschiede scheint es nur beim Einfallsreichtum zu geben, mit dem Verständlichkeit als selbstverständliche Forderung erhoben wird“, schreibt Karl-Heinz Göttert (1991: 1) mit Blick auf die lange Tradition dieser Auffassung. Wenn seit dem 18. Jahrhundert Verständlichkeit bestimmt werden kann als „die Eigenschaft, da ein Ding, besonders ein Wort oder Rede, verständlich ist, klare und deutliche Begriffe gewähret“ (Adelung 1970: 1147), zeigt sich nicht nur ein Fortwirken des kartesianischen clare et distincte, sondern auch eine Fundierung auf den aus der Rhetorik überlieferten Leitbegriffen der Klarheit und der Deutlichkeit (sapheneia, perspicuitas). Der Fokussierung auf Klarheit und Deutlichkeit korrespondiert dabei die ebenfalls bereits in der antiken Rhetorik ausgeprägte Forderung, Dunkelheit (obscuritas) und Ambiguität (ambiguitas) im sprachlichen Ausdruck zwar nicht zu vermeiden, aber doch so zu kontrollieren, dass sie dem Prinzip der Deutlichkeit untergeordnet werden. In der Tradition der Rhetorik (hierzu etwa Lausberg 1990) wie in vielen sprachtheoretischen Ansätzen seit dem 19. Jahrhundert gerät dabei gelegentlich aus dem Blick, dass Verständlichkeit, wie Göttert in seinem historischen Überblick hervorhebt, „keinen absoluten Wert“ darstellt, dass sich „Verständlichkeit oder auch Klarheit, Deutlichkeit, Durchsichtigkeit“ vielmehr häufig mit ihrem „Widerspiel“ überschneidet und „ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit nicht zu haben“ ist (Göttert 1991: 2). So zeigt sich in der einseitigen Ausrichtung auf die Maxime der Verständlichkeit, die bis in die gegenwärtigen Diskussionen um Sprache und Verständlichkeit zu beobachten ist, eine nicht unproblematische Ausblendung der vermeintlichen Gegenpole der Verständlichkeit. Die für philologisch-hermeneutische und kulturwissenschaftliche Ansätze relevante Einsicht, dass auch Ambiguität und Dunkelheit, dass auch Nichtverstehen und Unverständlichkeit als konstitutive Elemente sprachlicher Kommunikation zu begreifen sind, bleibt auf diese Weise ebenso ausgeblendet wie die Frage, ob Prozesse des Verstehens wie auch, allgemeiner, der Verständigung in ihrer Komplexität überhaupt hinreichend zu erfassen sind, wenn man immer schon voraussetzt, dass Verständlichkeit ein wünschenswertes Qualitätsmerkmal, Unverständlichkeit hingegen ein zu vermeidender oder zu behebender Fehler ist.
2. Verständlichkeitsforschung Die Tendenz zu einer einseitigen Fokussierung auf Verständlichkeit zeigt sich nicht zuletzt an den seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelten und bis in die Gegenwart weiter ausdifferenzierten Ansätzen zur Untersuchung von Textverständlichkeit. „Verständlichkeit ist eines der wichtigsten Textqualitätsmerkmale“, setzt eine aktuelle Überblicksdarstellung zu „Textverstehen und Textverständlichkeit“ ein, die entsprechend zugleich betont, dass „schwerverständliche Texte […] ihre Botschaft nur unzureichend oder gar nicht“ transportieren (Göpferich 2008: 291). Unabhängig davon, ob sie auf der Ebene des Textes, der Textproduktion oder der Rezeption bzw. Text-Leser-Interaktion verortet wird, erscheint Verständlichkeit in fast allen Überlegungen zur Textverständlichkeit als maßgeblicher Bestandteil, wenn nicht als Bedingung der Möglichkeit von gelingender Kommunikation. In der klassischen Lesbarkeitsforschung, die, beginnend in den 1930er-Jahren, den Lesbarkeitsgrad von Texten zu bestimmen versucht und insofern als Vorstufe der Verständlichkeitsforschung zu sehen ist (vgl. Groeben und
9. Sprache und Verständlichkeit Christmann 1989), ist dies ebenso zu erkennen wie in späteren Ansätzen zur Textverständlichkeit. Diese werden zunächst in der Psychologie entwickelt, etwa im empirischinduktiv begründeten Hamburger Verständlichkeitsmodell (Langer, Schulz von Thun und Tausch 1974), das Textverständlichkeit anhand von Textstrukturmerkmalen zu erfassen versucht, oder im theoretisch-deduktiven Konzept des Psychologen Norbert Groeben (1982), das von der Textfixierung abrückt und den interaktiven Charakter des Verstehensprozesses betont. Seit den späten 1970er-Jahren werden auch in der Linguistik verstärkt Theorien und Methoden zum Problem der Textverständlichkeit ausgearbeitet (Heringer 1979), die die Konzepte aus der Psychologie aufnehmen und mit Ansätzen aus der Pragmatik, der Gesprächsanalyse oder der Psycholinguistik weiterführen. Wichtige Weiterentwicklungen sind etwa im Bereich der kognitiven Linguistik zu verzeichnen, in der Textverständlichkeit ebenfalls als Eigenschaft der Text-Benutzer-Interaktion und mithin des Kommunikationssystems konzipiert wird (Strohner 2006), oder zuletzt mit dem Karlsruher Verständlichkeitskonzept, das Verständlichkeit als Qualität eines Textes an dessen kommunikative Funktion und deren Erfüllung koppelt (Göpferich 2008: 296). Wenn in der Linguistik wie in den korrespondierenden Kognitions- und Kommunikationstheorien Verstehen als eine Form der Informations- bzw. Textverarbeitung begriffen wird, zeigt sich die Ausrichtung auf Verständlichkeit nicht zuletzt in anwendungsorientierten Vorschlägen zur „Optimierung der Textverständlichkeit“ (Rickheit 1995: 26; Strohner 2006: 201) oder, in umfassenderem Sinn, zur „Kommunikationsoptimierung“ (Strohner und Brose 2002). In den jüngeren Theorieentwürfen zur Textverständlichkeit wird regelmäßig hervorgehoben, dass angesichts der komplexen Problematik sowohl in der Grundlagenforschung als auch in anwendungsorientierten Ansätzen nur interdisziplinäre Zugänge weiterführend erscheinen, dass Linguistik, Psychologie, Pädagogik und Kommunikationswissenschaft gemeinsame Forschungsansätze entwickeln und unter Berücksichtung neuer Technologien verfolgen sollten (Rickheit 1995: 26−27). Was die skizzierten, durchaus heterogenen Ansätze verbindet, ist neben der eindeutigen Fokussierung auf den als Qualitätsmerkmal gesetzten Wert der Verständlichkeit ein szientifisch orientiertes Wissenschaftsverständnis, das philologisch-hermeneutische Fragestellungen, die auf der Sachebene durchaus anschließbar wären, in der Regel nicht berücksichtigt (Biere 1991: 1, 4). Das „verständigungsorientierte, kommunikative Verständlichkeitskonzept“ des „Verständlich-Machens“, das Bernd Ulrich Biere (1989) im Rückgriff auf eben jene hermeneutischen Prämissen entwickelt, die in der Verständlichkeitsforschung weitgehend ausgeblendet oder ignoriert werden, unterstreicht, wie vielversprechend diese Form der interdisziplinären Verschränkung heterogener Ansätze sein kann − etwa, wenn man wie Biere die Aufmerksamkeit von der vermeintlichen Faktizität der Verständlichkeit auf die Potenzialität des „Verstehbaren“ bzw. der „Verstehbarkeit“ lenkt.
3. Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation Zunächst eher zögerlich rückt seit den 1990er-Jahren ein anderes Theorieparadigma in den Blick, wird auch in der Sprach- und der Kommunikationswissenschaft auf Konzepte aus der Systemtheorie zurückgegriffen (vgl. etwa Motamedi 1995). Die Anschließbarkeit entsprechender Ansätze wird aber schon dann deutlich, wenn in der Verständlichkeitsfor-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte schung davon abgesehen wird, Verstehen als Informationsübertragung zu begreifen, und an die Stelle überkommener Kommunikationsmodelle ein Ansatz gerückt wird, der Verstehen als selbstreferenziellen Prozess konzipiert, bei dem ein System selbst das hervorbringt, was es versteht, und sich im Prozess des Verstehens eine Zustandsveränderung vollzieht (Luhmann 1984: 193−201; vgl. Artikel 15). Dass Luhmann zufolge „Verstehen mehr oder weniger weitgehende Mißverständnisse als normal“ einschließt (Luhmann 1984: 196), wird in der Ausrichtung auf Verständlichkeit, zumal in den Ansätzen zur Optimierung der Verständlichkeit, jedoch weniger berücksichtigt. Die von Luhmann wiederholt hervorgehobene Annahme, dass Kommunikation grundsätzlich „unwahrscheinlich“ ist, dass es „unwahrscheinlich [ist], daß einer überhaupt versteht, was der andere meint“ (Luhmann 1991: 26), wird in den meisten Überlegungen zur Kopplung von Sprache und Verständlichkeit ebenso ausgeblendet wie die These, dass man „bei aller Kommunikation mit einer mehr oder weniger großen Verlustquote“ rechnen muss, „mit Unverständlichkeiten, mit Ausschussproduktion“. Nimmt man diese Überlegungen ernst, kann das „Bild eines zielstrebigen Fortschritts zu immer besserer Verständigung“ durchaus fragwürdig erscheinen, insbesondere dann, wenn man die hier einschlägigen medientheoretischen Aspekte mit einbezieht (vgl. Luhmann 1984: 216−225). Geht man davon aus, dass gelingende Kommunikation im Sinne von Verständigung durch Verständlichkeit nicht der Normalfall, sondern eine im alltäglichen Verstehen „unsichtbar gewordene Unwahrscheinlichkeit“ ist (Luhmann 1991: 26), erscheint die einseitige Ausrichtung von Verständlichkeit als zentrales Moment von Verständigung in eben dem Maß problematisch, in dem sich zugleich Möglichkeiten eröffnen, Nichtverstehen, Unverständlichkeit und andere häufig als Störung aufgefasste Aspekte auch als produktive Momente von Kommunikation zu begreifen. Dies haben insbesondere kulturwissenschaftliche und medientheoretische Ansätze der vergangenen Jahre hervorgehoben (vgl. etwa Albrecht et al. 2005). Und auch literaturwissenschaftliche Überlegungen haben verschiedentlich gezeigt, dass es produktiv sein kann, Prozesse des Verstehens wie der Verständigung auch und gerade mit Blick auf das Problem − und das kommunikative Potenzial − von Unverständlichkeit und Nichtverstehen zu erfassen, mit Blick auf das, was sich dem Verstehen wie auch dem Prinzip der Verständlichkeit zu entziehen scheint (vgl. etwa Fohrmann 1994; Hamacher 1998; Schumacher 2000).
4. Hermeneutische Perspektiven Hinsichtlich der Produktionsperspektive kann so etwa jene Reflexion „Zur Frage der Verständlichkeit“ besser in den Blick kommen, mit der Friedrich Nietzsche in den 1880er-Jahren betont, man wolle „nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiß auch nicht verstanden werden“. Es sei, schreibt Nietzsche, „noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers − er wollte nicht von ‚irgend jemand‘ verstanden werden“ (Nietzsche 1988: 633−634). Wichtiger als eine Berücksichtigung einer derartigen intentionalen Vermeidung von Verständlichkeit erscheinen jedoch − auch in Verbindung mit der These einer prinzipiellen Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation − philologisch-hermeneutische Reflexionen zu Verstehen und Nichtverstehen, zu Verständlichkeit und Unverständlichkeit. Im
9. Sprache und Verständlichkeit Zuge der Neuentwicklung eines neuen Verständnisses von Hermeneutik als allgemeiner Lehre vom Verstehen, an dem um 1800 insbesondere Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher gearbeitet hat, korrespondiert der Relativierung des Anspruchs auf ein vollkommenes Verstehen, der noch weite Teile der Auslegekunst der Aufklärungshermeneutik prägte, auch eine gleichsam grundlegende Ausrichtung auf das Nicht- und Missverstehen. So, wie Schleiermacher (1969: 96) davon ausgeht, dass „das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will“, ist das „Nicht-Verstehen“, wie Manfred Frank betont, „für Schleiermacher nicht mehr als Ausnahme des Umgangs mit fremder Rede zu behandeln, sondern muß grundsätzlich als Regelfall der Begegnung mit fremdkonstituiertem Sinn unterstellt werden“ (Schleiermacher 1977: 18). Wenn Werner Hamacher knapp 200 Jahre später die Frage aufwirft, „ob nicht alles Verstehen von eben dem in Atem gehalten werde, was sich − obgleich sprachliches oder sprachvermitteltes Faktum − dem Verstehen entzieht“, führt er Schleiermachers Überlegungen nicht nur fort, er überführt sie auch in die These, dass das „Nicht- oder Nicht-ganz-Verstehen, das von Rationalisten, die nicht nach der ratio ihrer Rationalität fragten, als Defizit verschrien oder schlicht verleugnet wurde, […] in Wahrheit die Ermöglichung des Verstehens“ sei (Hamacher 1998: 49, 24). Diese Überlegungen gehen über Schleiermachers Ansatz hinaus, Nichtverstehen und Unverständlichkeit nicht als Hindernisse, Fehler oder Störfälle, sondern als konstitutive Momente im Prozess des Verstehens zu begreifen. Vergleichbare Reflexionen finden sich aber auch schon um 1800, insbesondere − wie im Folgenden exemplarisch hervorgehoben werden soll − in Friedrich Schlegels Auseinandersetzungen mit dem Problem der Unverständlichkeit.
5. Über die Unverständlichkeit „Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde“, wendet sich Friedrich Schlegel (1967: 370) in seinem Essay „Über die Unverständlichkeit“ gegen jene rationalistischen Kritiker, die ihm die Unverständlichkeit seiner Texte vorgeworfen hatten. In hochironischen, zugleich aber genau reflektierten Einlassungen auf die Unterscheidung von Verständlich- und Unverständlichkeit entwickelt Schlegel ein Verständnis des Verstehens, dessen Potenzial für die theoretisch-konzeptuelle Erfassung des Verhältnisses von Sprache und Verständlichkeit erst im späten 20. Jahrhundert wiederentdeckt worden ist (vgl. dazu Schumacher 2000). Der Vorwurf der Unverständlichkeit wird von Schlegel als grundlegendes Problem des Verstehens umformuliert, das Produktion und Rezeption, das Autor, Text und Leser gleichermaßen betrifft und − hier könnten einige Ansätze der Verständlichkeitsforschung anschließen − nur in einer genauen Untersuchung der Autor-Text-Leser-Interaktionen zu erfassen ist. Dabei verbindet Schlegel die triviale, aber gleichwohl häufig ausgeblendete Einsicht, dass „alle Unverständlichkeit relativ“ sei, mit einem Konzept von Ironie, das als „Form des Paradoxen“ auf einem „unauflöslichen Widerstreit“ aufbaut, auf der „Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung“ (Schlegel 1967: 368). Unverständlichkeit erscheint aus dieser Perspektive nicht als Defizit im Prozess der Kommunikation, sondern als ein so grundlegendes wie abgründiges Problem, das die Möglichkeit, den Begriff und das Verstehen des Verstehens nachhaltig affiziert. So rät
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Schlegel Lesern, die immer noch „wie bisher über Unverständlichkeit klagen“, sie mögen „doch einmal anfangen […], das Verstehen zu verstehen“ − „so würdet Ihr inne werden, daß der Fehler gar nicht da liegt, wo Ihr ihn sucht“ (Schlegel 1967: 412). Es reicht Schlegel zufolge nicht aus, einen Text verstehen zu wollen, ihn als unverständlich zu verwerfen oder in die Ordnung der Verständlichkeit zu überführen. Denn auf diese Weise bleibe man dem „hohlen Gespenst von Verstehen und Nichtverstehen“ verhaftet, ohne die grundlegenden Konzepte von Verstand und Verstehen zugleich auch selbst dem Prozess des Verstehens ausgesetzt zu haben. Geht man allerdings wie Schlegel und auch Schleiermacher davon aus, dass ein absolutes Verstehen ebenso wenig möglich ist wie vollkommene Verständlichkeit, kann auch das Verstehen nicht absolut verstanden werden. So produziert und realisiert der Versuch des Verstehens des Verstehens als eine „Form des Paradoxen“ genau das, was Schlegel als einen entscheidenden Aspekt der Ironie bestimmt, was aus anderer Perspektive aber auch heute noch als ein relevanter Gedanke zur Relation von Sprache und Verständlichkeit und mithin ein wichtiger Impuls für die Verständlichkeitsforschung erscheint − die Einsicht, dass „die Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung“ (Schlegel 1967: 368) das Problem der Unverständlichkeit wie auch das der Verständlichkeit immer wieder erneut als Problem aufwerfen werden.
6. Literatur (in Auswahl) Adelung, Johann Christoph 1970 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Vierter Theil, von Seb−Z. Reprograph. Nachdr. der 2. Aufl. Leipzig [1801]. Hildesheim: Olms. Albrecht, Juerg, Jörg Huber, Kornelia Imesch, Karl Jost und Philipp Stoellger (Hg.) 2005 Kultur nicht verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung. Zürich/Wien/New York: Edition Voldemeer/Springer. Biere, Bernd Ulrich 1989 Verständlich-Machen. Hermeneutische Tradition − Historische Praxis − Sprachtheoretische Begründung. Tübingen: Niemeyer. Biere, Bernd Ulrich 1991 Textverstehen und Textverständlichkeit. Heidelberg: Groos. Fohrmann, Jürgen 1994 Über die (Un-)Verständlichkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68, 197−213. Göpferich, Susanne 2008 Textverstehen und Textverständlichkeit. In: Nina Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen, 291−312. Tübingen: Narr. Göttert, Karl-Heinz 1991 Ringen um Verständlichkeit. Ein historischer Streifzug. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65, 1−14. Groeben, Norbert 1982 Leserpsychologie. Textverständnis − Textverständlichkeit. Münster: Aschendorff. Groeben, Norbert und Ursula Christmann 1989 Textoptimierung unter Verständlichkeitsperspektive. In: Gerd Antos und Hans P. Krings (Hg.), Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick, 165−196. Tübingen: Niemeyer.
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Habermas, Jürgen 1988 Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hamacher, Werner 1998 Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heringer, Hans Jürgen 1979 Verständlichkeit. Ein genuiner Forschungsbereich der Linguistik? In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 7, 225−278. Langer, Inghard, Friedemann Schulz von Thun und Reinhard Tausch 1974 Verständlichkeit in Schule, Verwaltung, Politik und Wissenschaft. München: Reinhardt. Lausberg, Heinrich 1990 Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart: Steiner. Luhmann, Niklas 1984 Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas 1991 Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdeutscher Verlag. Motamedi, Susanne 1995 Verstehen und Verständlichkeit. Eine psycholinguistische Studie zum Verstehen von Führungsgrundsätzen in Wirtschaftsunternehmen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Nietzsche, Friedrich 1988 Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Teil 3: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag und Berlin/New York: de Gruyter. Rickheit, Gert 1995 Verstehen und Verständlichkeit von Sprache. In: Bernd Spillner (Hg.), Sprache. Verstehen und Verständlichkeit. Kongreßbeiträge zur 25. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e. V. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Schlegel, Friedrich 1967 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler. Bd. II. München/Paderborn/ Wien: Ferdinand Schöningh und Zürich: Thomas. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 1969 Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit e. Nachw. v. Carl Heinz Ratschow. Stuttgart: Reclam. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 1977 Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schumacher, Eckhard 2000 Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Strohner, Hans 2006 Textverstehen aus psycholinguistischer Sicht. In: Hardarik Blühdorn, Eva Breindl und Ulrich H. Waßner (Hg.), Text − Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Berlin/New York: de Gruyter. Strohner, Hans und Roselore Brose (Hg.) 2002 Kommunikationsoptimierung. Tübingen: Stauffenberg.
Eckhard Schumacher, Greifswald (Deutschland)
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte
10. Sprache, Materialität, Medialität 1. Einleitung 2. Materialität 3. Medien und Kommunikationsformen
4. Medialität 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung In der Linguistik wurden mediale Eigenschaften von Sprache lange Zeit weitgehend aus der Forschung ausgegrenzt. Im Horizont des strukturalistischen Paradigmas und des aus diesem hervorgegangenen kognitivistischen Paradigmas herrschte ein Blick auf Sprache vor, der sich allein auf formale Strukturen konzentrierte und die materiellen Erscheinungsformen ebenso wie den medialen Gebrauch von Sprache aus dem Gegenstandsbereich ausklammerte (Jäger 1994, 1997; Krämer 2002; Linz 2002). Über eine Trennung von Form und Substanz und die Konzeption rein syntaktisch definierter sprachlicher Einheiten wurde eine formale Beschreibungsebene propagiert, die sich frei von medialen Einflussfaktoren untersuchen lässt (Linz 2004). Aber auch in den Bereichen der Sprachwissenschaft, die sich nicht dem strukturalistischen oder kognitivistischen Paradigma verschrieben haben, wie etwa in der Sprachgeschichtsforschung oder der anwendungsorientierten Pragmatik, wurden Fragen der Medialität lange weitgehend marginalisiert. Als erster und bis heute oft einzig relevanter medialer Aspekt fand hier seit den 1980er-Jahren allein die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nennenswerte Beachtung (Halliday [1985] 1989; Biber 1988; Chafe and Tannen 1987). Jedoch wurde auch diese mediale Unterscheidung vor allem mit Bezug auf die Abgrenzung der Untersuchungsfelder von Text- und Gesprächslinguistik in den Blick genommen und weniger auf ihre medientheoretischen Implikationen hin hinterfragt (Schüttpelz 2004; Fehrmann und Linz 2009). Neben der Frage, inwiefern der Begriff des Textes auch auf mündliche Sprachproduktionen ausgedehnt werden kann (Ehlich 1984), galt das Interesse vor allem sprachstrukturellen und stilistischen Differenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, ohne dass diese allerdings in einen engeren Bezug zu ihren unterschiedlichen medialen Bedingungen gesetzt wurden. Dies zeigt sich exemplarisch an dem einflussreichen Modell von Koch und Oesterreicher (1985), das vor allem im deutschsprachigen Raum den Blick auf die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit prägt. Das bis heute auch für die Untersuchung des Sprachgebrauchs in digitalen Medien herangezogene Modell führt nämlich paradoxerweise zu einem Ausschluss medialer Aspekte aus dem linguistischen Untersuchungsbereich. Mit ihrer Unterscheidung einer medialen Ebene (phonischer vs. graphischer Code) und einer konzeptionellen Ebene (Sprache der Nähe vs. Sprache der Distanz) von Schriftlichkeit und Mündlichkeit postulieren Koch und Oesterreicher (1985: 17−24, 2007: 347−351) eine grundsätzliche Unabhängigkeit der sprachlichen Gestaltung einer Äußerung von ihrer medialen Realisierung. Beide erachten es geradezu als einen Vorzug ihres Modells, damit gegen „medial ‚kontaminierte‘ Definitionsversuche von ‚Mündlichkeit‘ und ‚Schriftlichkeit‘“ eine Beschreibungsebene entwickelt zu haben, in der die „Begriffe ‚gesprochen‘ und ‚geschrieben‘ als konzeptionelle Größe nun gar keine mediale Basis mehr besitzen“ (Koch und Oesterreicher 2007: 350). Koch und Oesterreichers Unter-
10. Sprache, Materialität, Medialität scheidungsraster erlaubt es dadurch, selbst bezogen auf Phänomene der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit medialitätsorientierte Fragen weitgehend auszuklammern (Fehrmann und Linz 2009). Erst seit den 1990er-Jahren gewinnen − wenn auch zunächst zögerlich − gegenläufige Forderungen an Bedeutung, die sich für eine Betrachtung von Sprache und Kommunikation unter medialen Gesichtspunkten einsetzen. Materialität und Medialität markieren zwei der zentralen Begriffe, unter denen das neue Interesse an Oberflächenphänomenen (Linke und Feilke 2009) konturiert wird. Während der bislang weniger ausdifferenzierte Begriff der Materialität eher in den kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen Verwendung findet, wird der Begriff der Medialität gerade auch mit Blick auf sprachwissenschaftliche Diskurse profiliert. Generell sind beide Begriffe bislang jedoch nicht systematisch voneinander abgegrenzt worden; teilweise werden sie sogar ohne nähere Bestimmung ihrer Differenz nebeneinandergestellt (vgl. etwa Greber, Ehlich und Müller 2002; Barsch und Gätje 2013).
2. Materialität Trotz seiner Relevanz für aktuelle medientheoretische und kulturwissenschaftliche Debatten ist dem Materialitätsbegriff bislang nur geringe theoretische Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Ihm mangelt es nicht nur an der „Würde einer Begriffsgeschichte“ (Pfeiffer 1988: 16), sondern auch − ähnlich wie dies Jäger noch 1997 für den Medien- und den Medialitätsbegriff diagnostiziert hat (Jäger 1997: 199−200) − an theoretischen Klärungsversuchen. In der geläufigsten Lesart wird Materialität als Oppositionsbegriff zu Immaterialität (insbesondere des Geistes) auf stoffliche Qualitäten, d. h. auf physisch Präsentes, bezogen und kann sowohl auf die Materie als auch auf das Material referieren. Auch die insbesondere in den Kognitionswissenschaften als Modalität bezeichneten unterschiedlichen sinnlichen Erscheinungsformen werden häufig unter dem Aspekt der Materialität verhandelt. Charakteristisch für die Verwendung des Begriffs ist eine einseitige Bedingungslogik, mit der Materialität primär als Voraussetzung und Träger von Texten, Bildern, Äußerungen etc. in den Blick gerät. Dieses Bedingungsverhältnis spiegelt sich auch in der programmatischen Dimension, die Gumbrecht und Pfeiffer dem Begriff unter dem Aspekt der „Materialität der Kommunikation“ in dem gleichnamigen Sammelband (1988) zuweisen. Gumbrecht und Pfeiffer verstehen Materialität als theoretischen „Suchbegriff“ (Gumbrecht 1988: 915, 2005: 144) und verfolgen mit dem Versuch seiner Etablierung das Ziel, gegen die verbreitete − wie es bei Latour (2002: 86) heißt − „Autonomisierung der Bedeutungssphäre“ eine neue Diskursperspektive zu initiieren, die die Frage „nach den selbst nicht sinnhaften Voraussetzungen, dem Ort, den Trägern und den Modalitäten der Sinn-Genese“ und damit „die Frage nach den Bedingungen für die Entstehung von Sinn“ (Gumbrecht 1988: 919) in den Vordergrund rückt. In jüngerer Zeit wird unter dem Fokus der Materialität vor allem in den Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften eine neue Untersuchungsperspektive verfolgt, die materielle Dinge als sozial relevante Entitäten und ihre Funktion als Akteure in die Analyse sozialer und kultureller Prozesse einbezieht (Latour 2002, 2010; Daston 2004; Hicks and Beaudry 2010; Samida, Eggert und Hahn 2014; Scollon 2001). Diese neue Aufmerksamkeit gegenüber der Materialität
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte hat gleichwohl bislang wenig an Gumbrechts resignativer Diagnose ändern können, dass der Begriff „[p]rägnante semantische Konturen, deren Umschichtungen sich beschreiben und geschichtlich deuten ließen, […] nie entwickelt [hat]“ (Gumbrecht 2005: 144). Während das sozial- und handlungstheoretische Interesse an den materiellen Dingen die Sprachwissenschaften bislang noch kaum erreicht hat, sind die materiellen Erscheinungsformen von Sprache inzwischen auch in den Fokus der linguistischen Forschung gerückt. Der Materialitätsbegriff bildet dabei trotz seiner mangelnden theoretischen Reflexion einen − wenn auch bislang eher implizit bleibenden − Angelpunkt, an dem sich die widerstreitenden Positionen des sprachwissenschaftlichen Mediendiskurses manifestieren. Sowohl die Diskussion um die Adäquatheit eines engen oder weiten Medienbegriffs (Habscheid 2000; Bergmann 2006: 13−14; Schneider 2006; Schneider und Stöckl 2011: 21−24; Stetter 2005: 67−74) als auch die damit verbundene Frage, inwiefern Sprache und andere Zeichensysteme unabhängig von einer technischen Vermittlung als mediale Kommunikationsformen zu betrachten sind (zusammenfassend Jäger 2014: 111−112; Schneider 2006), lassen sich als Frage danach reformulieren, inwiefern die Materialität sprachlicher Zeichen der Sphäre des Medialen zuzuordnen und in den Bereich medientheoretischer und medienlinguistischer Analysen einzubeziehen ist. Die Antwort auf diese Frage ist insofern relevant, als mit ihr nicht nur unterschiedliche Medienauffassungen, sondern auch unterschiedliche Annahmen über den Einfluss der Medialität auf die Konstitution von Sinn verbunden sind. Verdeutlichen lassen sich die unterschiedlichen Positionen anhand zweier zentraler Forschungsrichtungen, die sich im linguistischen Umfeld mit dem Zusammenhang von Sprache und Medien beschäftigen. Auch wenn sich beide Strömungen zunehmend durchkreuzen, entstammen sie doch zwei verschiedenen Traditionslinien, deren Differenzen bis heute erkennbar bleiben: a) eine pragmatisch ausgerichtete, anwendungsorientierte Perspektive, die sich vor allem aus der Angewandten Linguistik und den Kommunikations- und Publizistikwissenschaften entwickelt und in die Entstehung der Medienlinguistik als neue Teildisziplin mündet, sowie b) eine sprach- und medientheoretische Perspektive, die ihre Wurzeln in der Zeichentheorie, der kulturwissenschaftlichen Medien- und Performativitätstheorie sowie in der Oralitäts-/Literalitätsdebatte hat. Während sich erstere primär dem Gebrauch der Sprache und ihrem Zusammenspiel mit anderen Zeichensystemen in den Medien widmet, fragt letztere vor allem nach den erkenntnistheoretischen und wissenschaftsprogrammatischen Implikationen einer Betrachtung von Sprache als Medium (Jäger 2010: 201−202; Metten 2014: 110−118).
3. Medien und Kommunikationsformen Bestimmend für den pragmatischen Kontext der Medienlinguistik sind Ansätze, die der Untersuchung massenmedialer Kommunikationsformen entstammen und entsprechend einem engen Medienverständnis folgen, das − wie auch der Großteil des medientheoretischen Diskurses (dazu näher Jäger 2000) − Medien auf technische Medien eingrenzt: Die Face-to-Face-Kommunikation fällt unter dieser Definition als unmittelbare und direkte Kommunikation (Holly 2004: 2; Habscheid 2000: 136; Schmitz 2004: 22) ebenso aus dem Bereich der medialen Kommunikation heraus wie die Sprache selbst oder die Verwendung anderer, nonverbaler Zeichenarten (Dürscheid 2011: 94; Burger und Luginbühl
10. Sprache, Materialität, Medialität 2014: 4; Bergmann 2006: 13−14). Inzwischen wird zwar selbst unter Vertretern dieser Position wie auch in der Forschung zur gesprochenen Sprache kaum noch bestritten, dass die Face-to-Face-Interaktion ebenso wie die technisch vermittelten Formen der Kommunikation durch die materiellen Bedingungen ihres Vollzugs geprägt werden (z. B. Holly 2011; Fiehler et al. 2004; Schwitalla 2011; Auer 2000). Gleichwohl impliziert die Einschränkung von Medien auf „technische Einrichtung[en] zur Herstellung, Speicherung, Vervielfältigung und Übertragung von Zeichen“ (Perrin 2011: 41), selbst dort, wo sie operational verstanden wird, noch eine generelle Trennung zwischen der Ebene des Medialen und der Ebene der (sprachlichen) Zeichenprozessierung. Der Einfluss der Medien auf sprachliche Performanzen wird als eine sekundäre oder indirekte Beziehung betrachtet und vom Problem des Zusammenhangs zwischen Zeichenmaterialität und Sinnkonstitution entkoppelt. Exemplarisch lässt sich dieses Verhältnis zwischen Medien und Sprachverwendung am Begriff der Kommunikationsform verdeutlichen, der häufig zur Erklärung von medialen Einflussfaktoren auf die sprachliche Kommunikation herangezogen wird. In unterschiedlichen Definitionsvarianten dient der auf Ermert (1979) zurückgehende Begriff dazu, kommunikative Praktiken im Hinblick auf die medialen, situationellen und je nachdem auch kulturellen Bedingungen (Holly 2011), unter denen sie verwendet werden, unabhängig von funktionalen Gesichtspunkten zu spezifizieren (Brinker 2010: 128; Schmitz 2004: 61). Als prototypische Beispiele dienen u. a. das Face-to-Face-Gespräch, das Telefongespräch, die Rundfunksendung, der Brief, die E-Mail oder das Buch (z. B. Brinker 2010: 127−128). Auch wenn etwa Holly betont, dass die „dispositive Kraft der Medialität und der Medien in die Kommunikationsformen ein[geht]“ und diese als „strukturelle Arrangements“ natürlich auch Sinnpotenziale formen (Holly 2011: 148 f., 150), tendieren die bisherigen Definitionsversuche doch dazu, einer traditionellen Logik des Medialen Vorschub zu leisten und den Einfluss der Medialität einseitig als vorwiegend restriktiven Rahmen (Dürscheid 2005: 5, 11) einzubeziehen, der die jeweilige Kommunikationsform und damit − allerdings nur indirekt − auch die sprachliche Kommunikation prägt. Unberücksichtigt bleibt in solch einer Konzeption, die von inhaltlichfunktionalen Gesichtspunkten absieht, indes, a) in welcher Weise Medien und Zeichenmaterialität über „die jeweiligen strukturellen Bedingungen“ hinaus nicht nur „einen Einfluss auf die Gestaltung der Botschaft haben“ (Dürscheid 2011: 94), sondern konstitutiv an der Sinngenese beteiligt sind und b) inwieweit die sprachlichen Performanzen selbst wiederum Rückwirkungen auf Kommunikationsformen und Medien ausüben. Das Konzept der Kommunikationsform ist daher sowohl mit dem Problem einer nicht immer eindeutig vollzogenen Abgrenzung von Medium und Kommunikationsform (vgl. Schneider 2006: 84) als auch mit dem − ein einseitiges Bedingungsverhältnis implizierenden − Gedanken verbunden, dass die − meist technischen − Bedingungen eines Mediums bestimmte Kommunikationsformen nach sich ziehen (Schmitz 2004: 57).
4. Medialität Anders als die anwendungsorientierte Forschung, die sich auf die konkrete Analyse sprachlicher und nicht-sprachlicher Praktiken in den Medien konzentriert und die Materialität eher sekundär berücksichtigt, stellt der sprach- und medientheoretische Diskurs
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte mit dem Begriff der Medialität die Frage nach der Materialität der Kommunikation aus epistemologischer Perspektive in den Fokus (Jäger 1997, 2014: 113−117; Seel 1998; Krämer 2003). In Abgrenzung zu der auch noch mit dem Materialitätsbegriff verbundenen Tendenz, zwischen materieller und sprachlicher Ebene zu trennen, rückt das Konzept der Medialität die Interdependenzen zwischen Materialität und Sinnkonstitution in den Vordergrund. Medialität bezieht sich nicht nur auf die Voraussetzungen der Sinnhaftigkeit und die materielle Basis als Träger von Sinn, sondern fokussiert die Prozesse der Sinngenese in ihrer unhintergehbar medialen Verfasstheit. Während unter einem technischen Medienverständnis Sprache und Zeichenprozesse häufig als von Medien übertragene oder vermittelte Medieninhalte begriffen werden und als mode oder Code aus dem Bereich des Medialen herausfallen (Kress 2009; Klug und Stöckl 2014: 243−247; kritisch dazu Steinseifer 2011: 170−173), wird mit dem Medialitätskonzept die Medialität von Sprachzeichen zum Grundmodell medientheoretischer Reflexion, an dem sich in nuce jene Verfahren freilegen lassen, die Medien generell kennzeichnen (Jäger 1997, 2014; Krämer 2002). Die Frage, ob die Sprache als Medium zu betrachten ist, umfasst − so die mit dem Medialitätskonzept verbundene These − demnach weit mehr als das Problem der extensionalen Ausdehnung eines − engen vs. weiten − Medienbegriffs. Sie führt vielmehr zu der grundlegenden Frage, ob sich Sprache und kommunikative Prozesse generell überhaupt unabhängig von ihren materiellen Erscheinungsformen betrachten lassen. Wird Materialität im Horizont des Medialitätskonzepts betrachtet, so rückt sie in ihrer erkenntnistheoretischen und kommunikativen Funktion als Medium der Sinnbildung in den Vordergrund. Es werden dann vor allem zwei mediale Momente von Materialität herausgehoben: einmal der Umstand, dass die Zeichenmedialität nicht nur als materieller Träger immaterieller Informationen, mentaler Gehalte oder reiner Formen fungiert, sondern konstitutiv an der Hervorbringung des mediatisierten Sinns beteiligt ist; zum anderen der Umstand, dass auch die Wahrnehmung der Materialität selbst durch die Zeichenprozesse, in denen sie Verwendung findet, geprägt ist. Insbesondere Jäger und Krämer haben den Medialitätsbegriff anhand der Sprache theoretisch entwickelt und dabei gegen amediale Sprachkonzeptionen die Unhintergehbarkeit der Medialität von Sprache hervorgehoben (Jäger 1997, 2000, 2010; Krämer 2002). „Es gibt keine Sprache jenseits des raum-zeitlich situierten Vollzugs ihrer stimmlichen, schriftlichen oder gestischen Artikulation“ (Krämer 2002: 331; vgl. auch Stetter 2005; Schneider 2008). Gegen repräsentationale Auffassungen, die von einer prinzipiellen Unabhängigkeit kognitiver Gehalte von ihren materiellen Realisierungsformen ausgehen, entfalten sie die These, „daß sprachliche Zeichen nicht Mittel sind, vorsprachlich konstituierte, kognitive Gehalte darzustellen, sondern daß sie in einer relevanten Hinsicht als Konstitutionsmedien dieser Gehalte fungieren“ (Jäger 1994: 319). Bereits bezogen auf die basale Ebene des Sprachzeichens ist die Sinngenese unhintergehbar an die Zeichenmedialität gebunden. Die „in Zeichenhandlungen material erscheinende Medialität fungiert nicht lediglich als Transportmittel sprachunabhängiger, medienindifferenter mentaler Entitäten, sondern gleichsam als Möglichkeitsbedingung solcher Entitäten“ (Jäger 2000: 12). Der in Zeichen zum Ausdruck gebrachte Sinn hat keine zeichenunabhängige immaterielle Existenz, sondern wird in medialen Zeichenhandlungen allererst hervorgebracht (Jäger 1997, 2001, 2010; Fehrmann 2004; Koch und Krämer 1997: 12; Krämer 2002). Wie Jäger unter dem Begriff des „Spurtheorems“ im Anschluss an Humboldt und Saussure (Jäger 2001, 2010: 6−9) verdeutlicht hat, verfügt auch das einzelne
10. Sprache, Materialität, Medialität Individuum über keinen medialitätsunabhängigen Zugang zu seinen kognitiven Prozessen und semantischen Gehalten, es bedarf vielmehr einer sinnlich rezipierbaren Spur seiner mentalen Operationen, um sie bewusst erfahren zu können: „Medialität ist eine Möglichkeitsbedingung von Mentalität“ (Jäger 2000: 26). In epistemischer Hinsicht manifestiert sich der Einfluss der Sprachzeichenmedialität damit über die Ebene der Performanz hinaus auch auf kognitiver Ebene. Sprachphilosophische Entwürfe von Humboldt bis Cassirer und antirepräsentationale Zeichentheorien von Saussure und Peirce stimmen hier mit jüngeren neurowissenschaftlichen Forschungen zur embodied cognition im Hinblick auf die Erkenntnis überein, dass die Medialität von Zeichenverwendungen als perzeptuomotorische Spuren auch in kognitive Strukturen und Operationen konstitutiv eingeschrieben sind (Jäger 2001; Fehrmann 2004; Linz 2002; Jäger und Linz 2004). In performativer Hinsicht zeigt sich der Einfluss der Medialität darüber hinaus auch in den über die Sprache hinausgehenden Aspekten der je spezifisch verwendeten Zeichenmaterialität (wie z. B. Stimme, Prosodie, Typographie und Design), die unauflöslich in die jeweiligen kommunikativen Deutungsprozesse einfließen (Krämer 2002: 329−346, 2004, 2010; Spitzmüller 2013; Stöckl 2004). Verbunden mit der semiologischen Konturierung des Medialitätsproblems ist zudem ein veränderter Blick auf die Materialität kommunikativer Prozesse, der die „Figur der Vermittlung“ als Verfahren, in dessen Vollzug die vermittelten Elemente in einem gewissen Sinne erst hervorgebracht werden (Jäger 2014: 110), auch auf die materielle Seite von Zeichenverwendungen ausdehnt. Das Medialitätsparadigma greift damit ein Problem auf, das von Derrida (1988) als Iterabilität von Zeichen und von Foucault (1981: 149; vgl. Artikel 12) als Problem „wiederholbarer Materialität“ thematisiert wird. Für Foucault etwa wirft die Einsicht in die konstitutive Materialitätsgebundenheit von Aussagen zugleich die Frage auf, wie sich angesichts der Einmaligkeit jedes Einzelereignisses die „wiederholbare Materialität, die die Aussagefunktion charakterisiert“ (Foucault 1981: 153), d. h. die Möglichkeit, eine Aussage in unterschiedlichen materiellen Realisationen zu wiederholen, näher bestimmen lässt. Eine Antwort darauf findet sich bereits in der Zeichentheorie von Peirce, der diese Frage an den Zeichencharakter bindet und über die Dimension des type beantwortet. Häufig übersehen wird nämlich, dass Peirce den bekannten Unterscheidungen type (Legi- oder Famizeichen) und token (Sinzeichen) eine dritte Kategorie des tuone (Qualizeichen) zur Seite gestellt hat und mit allen drei Kategorien auf die „Materie des Zeichens“ (Peirce 1993: 216), d. h. auf das Zeichenmedium, Bezug nimmt. Unter tuone versteht Peirce die „materiellen Qualitäten eines Zeichens“, „die an sich zu ihm gehören und nichts mit seiner repräsentativen Funktion zu tun haben“ (Peirce 1967: 200). Die materiellen Zeichenqualitäten (tuone) verfügen zwar über eine Eigensinnigkeit, doch bleibt diese unabhängig vom Zeichen bloße Möglichkeit. Nur vermittelt über die vertraute Gestalt des Zeichentype wird sie in der performativen Konkretisierung einer individuellen Zeichenverwendung (token) als Qualität erkennbar (Peirce 1993: 216; vgl. auch Fehrmann und Linz 2004; Linz und Grote 2003). Diese bereits bei Peirce angelegte Figur einer doppelten Vermittlungsrelation, die einerseits jede Form der Erkenntnis an die sinnliche Gegebenheit von Zeichen bindet und andererseits die Wahrnehmung der Zeichenmaterialität als zeichenvermittelten Prozess freilegt, findet sich analog in der Zeichentheorie Saussures. Saussure entwickelt die These, dass der Zeichenausdruck als distinkter Signifikant ebenso wie der Zeicheninhalt erst über das Zeichen als Ganzes konstituiert wird und keine zeichenunabhängige Existenz besitzt. Die materielle Erscheinung des Zeichens in der Performanz existiert nicht unabhängig
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte vom synthetischen Zeichen als separate, abgrenzbare Lautgestalt. Sie wird vielmehr erst über die im Bewusstsein der Kommunikanden verankerte synthetische Einheit von Lautbild und Bedeutung als „lautliche Figur“ (Aposème) eines Zeichens identifizierbar. Insofern ist die Wahrnehmung der Materialität kommunikativer Prozesse immer schon eine durch Zeichen gedeutete Rezeption (vgl. dazu Jäger 2010: 150−163; Fehrmann 2004: 162−171; Fehrmann und Linz 2004: 90−104). Konsequenz eines solchen Medialitätskonzepts, das „die Formierungsleistung medialer Praktiken“ (Bartz et al. 2012: 9) gleichermaßen auf die semantische wie auch auf die materielle Ebene bezieht, ist die Ablösung essenzialistischer Medien- und Materialitätsauffassungen durch eine operationale Betrachtungsweise, die anstelle definitorischer Bestimmungsversuche die Wirkungen und Funktionsweisen der Medialität in kommunikativen und kognitiven Prozessen fokussiert. Der Begriff der Medialität adressiert somit die performativen Verfahren, in denen Materialität und Sinn in der Kommunikation prozessiert werden. Zugleich impliziert er die Abkehr von einer monomedialen Perspektive auf Sprache, in der diese unabhängig von nicht-sprachlichen Einflussfaktoren betrachtet werden kann. Insofern es weder eine neutrale Stimme noch eine neutrale, von ikonischen und paratextuellen Dimensionen befreite Schrift gibt (Krämer 2002, 2010), vollzieht sich jede Form der sprachlichen Performanz in einem Raum mehrdimensionaler medialer Bezugnahmen, bei der die Ebene des Sprachlichen immer schon mit der Ebene des Nichtsprachlichen und Ikonischen verwoben ist (Fehrmann und Linz 2009: 138−140; Fricke 2012). An die Stelle einer Trennung zwischen Multimodalität und Medialität setzt das Medialitätskonzept einen Ansatz, in dem die Einflüsse von Stimme, Geste, Blick und Körperhaltung auf die mündliche Kommunikation oder die von Typographie und Paratext auf die schriftliche Kommunikation keinen anderen analytischen Status aufweisen als die Auswirkungen technischer Bedingungen oder komplexer Text-Bild-Ton-Beziehungen auf die mediale Kommunikation. Das Problem der Sprachzeichenmedialität führt damit bereits auf der Ebene der vermeintlich unvermittelten Face-to-Face-Kommunikation zu vielschichtigen Konfigurationen von ‚Medien in Medien‘ und lenkt den Blick auf die komplexen Remediations- und Transkriptionsprozesse, in denen durch wechselseitige intra- und intermediale Bezugnahmen (Jäger, Fehrmann und Adam 2012) Sinn generiert wird. Während „der Gedanke der vermittelnden Medialität der Medien“ (Tholen 2005: 151) auch in den Sprachwissenschaften zunehmend in die theoretischen Reflexionen des Gegenstandes Sprache einfließt, ist seine Operationalisierung für konkrete linguistische Analysen in vielerlei Hinsicht noch Desiderat. Erst allmählich zeichnet sich hier die Produktivität eines Forschungsfeldes ab, das auch die sprachstrukturellen Implikationen von Medialität und Performativität in den Blick nimmt und die unhintergehbare Multimedialität der Kommunikation nicht mehr in der traditionellen Logik von Text und Kontext konzeptualisiert, sondern in ihren konstitutiven Interdependenzbeziehungen untersucht (vgl. dazu Artikel 37 und Artikel 46 in diesem Band).
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Erika Linz, Bonn (Deutschland)
Kulturbegriffe und Sprache Concepts of culture and language 11. Culture as sign/signifier/signifying 1. “Culture” as part of “language” 2. Peirce: the incursion of the present participle in the process of semiosis
3. Saussure: from “signifier” to “signifying” (signifiant) 4. Selected references
1. “Culture” as part of “language” To speak of “concepts of culture and language” it is helpful to begin by recalling that both “culture” and “language” themselves are “concepts”, which as such require something like “language” in order to be articulated meaningfully. It is clear that language, however defined, presupposes a cultural milieu in order to develop. But the notion that language either constitutes merely a part of “culture”, or that it can be clearly differentiated from it, ignores the fact that “culture” itself is a word, and as such a part of language. It defines itself with respect to a history that relates it to and against other words and concepts. And it does this in different ways depending on the specific language in which it is studied (here: English). Such an introductory remark may seem trivial. Until, that is, one realizes just how ambiguous and over-determined words like “culture” and “language” are. The word “culture”, like the word “nature” to which it is traditionally opposed, and through this opposition also conventionally defined, is anything but self-evident. The same can be said of the word “sign”. For any attempt to simply oppose culture to nature is called into question already by the etymology of the word, which suggests not something entirely different from natural phenomena, but rather as its extension. One of the earliest meanings associated with the word, and which still obtains in current speech, is that of “agri-culture” − the cultivation of the soil with the object of increasing its productivity. Its “non-natural” significance is a relatively recent acquisition, starting in the 15th century to mean the more intellectual side of social activity. As “cultivation” then “culture” develops out of the sense of supplementing, extending and caring for nature, rather than excluding it. As its meanings tend historically to remove themselves from a purely natural activity, “culture” begins to distance itself from “cultivation” and “caring-for”, and develops an increasingly independent series of meanings. Nevertheless, despite their multiplicity, and despite its growing distance from notions of “nature” and the “natural”, “culture” tends to retain a characteristic that is often attributed to its other, “nature”: that of being unified and homogeneous. If its dependence on “artifice” and “techniques” of all kinds tends to distinguish it from a notion of nature that traditionally at least is construed as deriving its being from its birth (hence its name, “nature”), “culture” nevertheless shares with this conception of nature the idea of a certain continuity of meaning, held capable of assimilating variety to self-identity and of organizing relatively stable order.
11. Culture as sign/signifier/signifying As a “sign”, then − and “culture” as a word is also inevitably a sign − “culture” displays some of the characteristics traditionally associated with the sign in general. As distinct from the “symbol”, the “sign” has conventionally been understood as bearing no “natural” affinity − which is to say, no intrinsic, perceptible − resemblance to what it signifies. And yet the sign, like culture, also in this traditional understanding is never entirely cut off from or opposed to that which it designates either. The decisive issue, however, is how that relationship is construed. In the case of the “symbol”, the relationship between “symbolizing” and “symbolized” is generally understood as rooted in a common set of characteristics or properties. In the case of the “sign”, the relationship is understood to be more discontinuous; and yet in order for the sign to be recognizable as a sign, that discontinuity cannot be total − it must be subordinated to a certain homogeneity. Otherwise the sign could signify anything, which would also mean that it could signify nothing at all. It is here that a certain relation between the “sign” and “culture” tends to impose itself, often in the form of “convention”. Things and people “come together” via the signs they share, and that sharing can be seen to constitute something like a common “culture”. If however it is “convention” alone that brings people and things together, then the precise mechanism and how they are “convened” remain a subject of debate. Two thinkers, writing in the first years of the 20th century, have laid the groundwork for the elaboration if not the resolution of this question: Charles Sanders Peirce and Ferdinand de Saussure.
2. Peirce: the incursion of the present participle in the process of semiosis Peirce is perhaps best known as the inventor of the term “pragmatism”, then popularized by William James. But in contrast to James, Peirce placed the theory of signs at the heart of his “pragmaticism”, as he often called it. Using a method he described as “abstractive observation”, which moves from the observation of known characters by abstraction to a speculative theory of what might be the more general laws that underlie their operations, Peirce developed a theory of signs that diverged from the traditional bipartite structure of signans and signatum. For Peirce, the semiotic process was quadratic, since he defined the sign as a “representamen, […] which stands to somebody for something in some respect or capacity” (Peirce 1955: 99). The “new” element in his analysis of the sign was precisely that the “standing for” of the sign was related not just to a ‘ground’ and an object, but to an addressee: “It (the sign) addresses somebody, that is, it creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign […] I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its object. It stands for that object, not in all respects, but in reference to a sort of idea, which I have sometimes called the ground of the representation” (Peirce 1955: 99). The sign, for Peirce, is thus not simply a representation or designation of an object per se, but only “in some respect or capacity”, which in turn is determined by the way it produces another sign in an addressee. The addressee is thus called upon to interpret the representamen, and it is only this quadratic process: representation − ground − address − interpretive response qua new sign (representamen) that constitutes the process of semiosis. Moreover, Peirce’s “quad” does not simply add two further elements to the conventional
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I. Language − discipline − culture: conceptual clarifications and disciplinary histories dyadic conception of the sign − it thereby changes its status, both consummating the process by which the first sign functions, but only by opening it through the introduction of new sign, qua interpretant. It is no accident that the key element in Peirce’s semiotical theory receives the name of a gerund as its title: interpret-ant. The suffix, -ant, in Latin as sometimes in English, designates a noun that is not simply formed from a verb, but from a particular form or tense of the verb: from the present participle. The present participle entails a form of “presence” that is very different from that of the present indicative. The present indicative, as its name indicates, invites “indication” and “indexical” thinking. As a tense it purports to present an event or an object that can be localized, delimited, situated and thereby pointed-to. The presence of the present indicative is held to be independent of time and space, identical to itself above and beyond situational relativities. This does not however hold for the present participle, which as its name also indicates, entails not indication but participation, and indeed, partitioning. Although its significance as a morphological form varies from language to language, in English what it articulates is a time that is often delimited by the process of its articulation. I am now writing English, you are now reading English − but each of us writes and reads English independently of its particular instantiation. The “interpretant” of Peirce does not merely “interpret” in a void: it is always interpreting, in an ongoing, iterative movement that precisely does not contain its delimiting force within itself, as for instance the oak tree can be said to be contained within the acorn. This has two consequences. First, that the movement described by the present participle can be arrested and named, qua gerund, but only abstractly. The noun, gerund, is itself a gerund, deriving from the Old Latin verb, gerere, to bear or carry (also related to gesture). The gerund, interpretant, is thus a bearing that allows the mechanism of semiosis to operate, but only by rendering its demarcations, delimitations and instantiations more like interruptions than like conclusions. Or like what Laurence Sterne, in Tristram Shandy (Book I, Chapter 20), calls “curious conclusions”. The representative function of the sign, which according to Peirce is always partial and situational, is activated only when it produces another sign in an addressee, which both displaces the process and perpetuates it, rendering it indefinite. The addressee is a function of the initial sign, which it in turn enables to function, but only by itself then appealing to a further response as a new representamen. If academic knowledge is informed by a notion of truth that places itself above the vicissitudes of spatial-temporal relativity, it is clear that the thinking of Charles Sanders Peirce will have to remain marginal − as indeed it largely has, with some notable exceptions.
3. Saussure: from “signifier” to “signifying” (signifiant) The relative instability of individual signs suggested by the Peircean theory of semiosis is no stranger to the second thinker who, together with Peirce, laid the groundwork for a radically different theory of signs, namely, Ferdinand de Saussure. If the publication of his lectures as the “Course in General Linguistics” became belatedly the inspiration for French Structuralism and, to a certain extent, also for its radical transformation into Post-Structuralism, an earlier reaction to this publication by the eminent British authors of The Meaning of Meaning indicates the affinity with Peirce, an affinity of which
11. Culture as sign/signifier/signifying Saussure was totally unaware: “A sign for Saussure is twofold, made up of a concept (signifié) and an acoustic image (signifiant) […] Without the concept, he says, the acoustic image would not be a sign. The disadvantage of this account is […] that the process of interpretation is included by definition in the sign!” (Ogden and Richards 1923: 5, fn. 3). The exclamation point that concludes this remark indicates what for the authors is the self-evident absurdity of Saussure’s position, which like Peirce, includes, they assert, “the process of interpretation” in the very “definition of the sign”. Their remark is of interest, because it is not at all evident from a cursory reading of the published Course […], that interpretation is included in the process of semiosis. It is, however, although surely not in a manner that even Ogden and Richards were fully aware of. The irreducible principle of the sign, whether as signifier or signified or, more properly, as their interaction, is for Saussure that of difference: they are different not just from what they designate, i. e. from their external referent or concept, but from each other − and ultimately, from themselves. For Saussure, as for Peirce, the representative aspect of the sign is irreducible, but also not sufficient to explain the functioning of the sign − a function that however for Saussure depends on the ability of the sign to be recognized as a sign, which for him means, as distinct from other signs. It is only this capacity to be distinguished, to be differentiated, that allows an acoustic image − or a graphic image or any other material or psychic element − to signify. An example from the relatively recent history of American English. In the 1950’s, trucks on the highway often bore the inscription “inflammable” to indicate that they were carrying combustible materials. Then, beginning around 1970, this designation was increasingly replaced by the neologism, “flammable”. Why? Because the “in-“ of “inflammable” overlapped with the prefix “in-“ that often signifies a negation. In-flammable was thus ambiguous, because not fully distinguishable from “non-flammable”. And so another word had to be substituted for it. This illustrates the Saussurian principle of linguistic difference as the constituent principle of semiosis: something can only represent, stand for something else, to the extent that it is first distinguishable from other signs belonging to the same system − in this case, to that of American English. When that is not the case, the signifying function is impaired. But where then is the Peircean “interpretant” in this account? It is somewhat hidden, but in an illuminating manner. For what Peirce describes as the “addressee”, suggesting an individual person, listener or reader, is for Saussure a collective consciousness that recognizes “in-“ as a potentially negative prefix, and that therefore requires another sign to eliminate that ambiguity. The “interpretant” in this case, where the communication is one of potential danger, and which therefore seeks to reduce ambiguity to a minimum, is the conventional understanding of signs in American English − an understanding that of course is always relative to the myriad groups that compose the speakers and listeners, writers and readers of that language. The relativity of this Saussurean “interpretant” is however rooted in another term, which like the Peircean one, is also a gerund. It is the word, signifiant. This is usually translated into English as “signifier” (although in the more recent translation by Roy Harris it is rendered, inexplicably, as “signal”). But even the word “signifier” loses the morphological resonances of the French word, which it “stabilizes” by giving it a more “active” aspect: the “signifier” is that which presumably engages in or even produces signification. But Saussure, who was extremely attentive to the language he used, and to the problem of coming up with adequate terms to describe the complexities of language as he saw them − Saussure insisted on using the Scholastic
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I. Language − discipline − culture: conceptual clarifications and disciplinary histories term, signifiant, and therein resides perhaps the truly innovative dimension of his linguistic thinking. For in insisting on the “double nature of language” as composed both of signifé and of signifiant, Saussure was not, as it might appear, simply repeating the dyad of traditional semiotics. He was changing its structure, opening it to an irreducible heterogeneity. It is articulated in the morphological distinction between a past perfect (signifié) and a present participle (signifiant). The past perfect suggests that the operation is over and done with: something has been signified. It is essentially past, which for most thinkers of language prior to Saussure had meant that it was grounded in the selfidentity of its designatum. Such self-identity was considered to be over and done with in the sense of preceding and grounding the process of its being-designated. It is precisely however such an assumption of self-identity that Saussure consistently rejects, especially wherever language is concerned. “In language,” he repeatedly insists − not so much in the Course in General Linguistics, as in his many notes that were unpublished in his lifetime − “there are no givens”. And therefore, “The science of language is in a unique position, in that the objects that it has before it never have any reality in themselves, or apart from other objects to be considered; they have absolutely no substratum to their existence outside of their difference […]” (quoted in Jäger 2013: 64). Thus, a correct if somewhat uncanny rendering of Saussure’s key term, “signifiant”, would be not signifier − much less signal − but signifying. And yet, as soon as one realizes this, one also realizes why the English translators of Saussure would want to avoid this literal translation − precisely because of its uncanny, unstable character qua gerund, suspended between a process of signifying that cannot be brought to a halt out of internal forces, but only through external intervention; and that is situated only by its quasi-simultaneity, quasi-contemporaneity with the process it describes, but in the sense of performing rather than that of designating. Signifying then names both the one component of language qua sign, and the process that informs that component, and with it, language itself. But this also tends to dissolve the borders of language as a delimitable object, which is probably one of the chief reasons why Saussure never reached the point of being able to publish his magnum opus, on which he struggled for so many years. Two of Saussure’s most productive and insightful readers have described, succinctly, two of the most far-reaching consequences of the dissymmetry that lurks within the Saussurean “double nature” of language, opening it to an internally indeterminable process of semiosis as differential signifying: Jacques Lacan and Jacques Derrida. For Lacan, the Saussurean notion of the signifiant defined the ongoing process of the Unconscious as a language. He contrasted the signifying with the traditional notion of the sign: “The sign,” he wrote, “represents something for someone; the signifier represents the subject to another signifier” (Lacan 1966: 819). Any attempt to make Saussure’s insistence on the “psychological” reality of linguistic processes his last word would do well to recall that the Unconscious, as both Freud and Lacan understand it, constitutes that part of consciousness that is not accessible to self-consciousness, precisely because of its irreducible disunity. As Ludwig Jäger puts it: “The identity of the sign thus emerges as the iterative result of an interminable semiosis, a procedure of semiological difference-formation in which the sign-identities emerge ‘out of the complex play and the concluding equilibrium” (Jäger 2010: 161). The “equilibrium” is never definitive, but draws its relative stability from the force of social and historical conventions −
12. Sprache und Kultur in der foucaultschen Diskurstheorie conventions which then form the point of departure for ongoing semiotic transformation, the production of new “interpretants”. It is precisely this relation between transformative signifying and stabilizing traditions that Jacques Derrida recalls at the conclusion of his discussion of Saussure in De la grammatologie. His remark can also provide a curious conclusion to this article: “This reference to the sense of a signified that would be thinkable and possible outside of every signifier remains dependent upon the onto-theo-teleology previously evoked. It is thus the idea of the sign that must be deconstructed […] That the signified should be originarily and essentially […] trace, that it should be always already in the position of signifying − this is the apparently innocent proposition where the metaphysics of the Logos, of presence and of consciousness must reflect writing as its death and its resource” (Derrida 1966: 108).
4. Selected references Derrida, Jacques 1966 De la grammatologie. Paris: Editions de Minuit. Jäger, Ludwig 2010 Ferdinand de Saussure. Zur Einführung. Hamburg: Junius. Jäger, Ludwig 2013 La science du langage. Les notes de l’orangerie et leur signification pour la théorie saussurienne du langage. In: Arena Romanistica 12, 48−84. Lacan, Jacques 1966 Ecrits. Paris: Editions du Seuil. Ogden, Charles Kay and I[vor] A[rmstrong] Richards 1923 The Meaning of Meaning. New York: Harcourt-Brace. Peirce, Charles Sanders 1955 Philosophical Writings, ed. by Justus Buchler. New York: Dover.
Samuel Weber, Evanston (Illinois, USA)
12. Sprache und Kultur in der foucaultschen Diskurstheorie 1. Foucaults kulturhistorische Rekonstruktion eines Wissens von der Sprache 2. Foucaults „Aussage“-Begriff in Abgrenzung zur Systemlinguistik 3. Definitionsvorschläge zu Grundbegriffen mit Blick auf linguistische Nachbarschaften
4. Von der „Archäologie“ zur „Genealogie“ − vom „Diskurs“ zum „Dispositiv“? 5. Literatur (in Auswahl)
Es dürfte mit Foucaults − sicherlich nicht frei von Ironie so formuliertem − Bekenntnis zu einem „glücklichen Positivismus“ (Foucault 1971b: 72, 1991: 44) zusammenhängen, dass längere systematische, gar monografische Texte rein theoretischen Charakters bei
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte ihm erstens selten und zweitens meistens nachträglich sind − nächträglich bezüglich „positiver“ (empiriegesättigter) historischer Diskursanalysen.
1. Foucaults kulturhistorische Rekonstruktion eines Wissens von der Sprache Das gilt insgesamt auch für eine systematische Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen Diskurs und Sprache, obwohl ja eine Definition von Diskurs ohne eine Bestimmung seines Verhältnisses zur Sprache unmöglich wäre. Dem entspricht die Tatsache, dass die einzige längere systematische theoretische Monografie (Archäologie des Wissens) neben der Antrittsvorlesung am Collège de France (Die Ordnung des Diskurses) diese Fragestellung am ausführlichsten berührt. Auch diese Monografie ist allerdings nachträglich: Sie versucht, die implizite Theorie der vorhergehenden historischen Analysen (Wahnsinn und Gesellschaft, Die Geburt der Klinik und vor allem Die Ordnung der Dinge) sozusagen in systematischer Form nachzuliefern. Auch dabei geht es nicht primär um das Verhältnis von Diskurs und Sprache, sondern um die Systematisierung einer „Archäologie“ genannten Wissensgeschichte, deren radikale Differenz von der (französischen) „Ideengeschichte“ (ihr entspräche die deutsche „Geistesgeschichte“) und jeder sonstigen Form von „Historizismus“ scharf herausgearbeitet wird. Die Schärfe dieser Abgrenzung erklärt sich aus dem Umstand, dass Die Ordnung der Dinge teilweise als geistesgeschichtlich (bzw. geistestypologisch) missverstanden worden war (Foucault 1973: 29): Man hatte die Kategorie der „Episteme“ (die Foucault deshalb hinfort fallen ließ) im Sinne eines Geistestyps mit tiefensemantischem „Kernsinn“ der jeweiligen Epoche interpretiert. Foucaults Negation gilt vor allem drei Implikationen des Historizismus: der Unterstellung eines tiefensemantischen „Kernsinns“, dessen bloßer „Ausdruck“ die empirischen Aussagen wären, der Unterstellung eines kontinuierlichen Geschichtsprozesses entlang einer teleologischen (inclusive „dialektischen“) Linie sowie der expliziten oder impliziten Unterstellung eines transzendentalen Subjekts des Prozesses. Dagegen postuliert Foucault den Primat der empirischen „Aussagen“ in ihrer „Streuung“ sowie einen diskontinuierlichen, großenteils kontingenten Prozess, in dem die empirischen Subjekte allererst vom Diskurs als solche konstituiert werden statt umgekehrt. Das Theorem der historischen Diskontinuität ist das Resultat der Beschreibung zweier großer Diskontinuitäten in Die Ordnung der Dinge: um 1650 und um 1800. Auf diese Diskontinuitäten wird bei der Erörterung der Kategorie eines „diskursiven Ereignisses“ noch einmal zurückzukommen sein. Hier ist zunächst zu konstatieren, dass (auf der Ebene der historischen Deskription) drei (bzw. vier) diskursive Formationen eine privilegierte Rolle spielen, deren Objekt die Sprache ist: die Auffassung von der Sprache als „Distribution der Ähnlichkeiten und Signaturen“ in der Renaissance, die „allgemeine Grammatik“ in der Aufklärung (bei Foucault: „klassische Episteme“) und die historische „Philologie“ des 19. Jahrhunderts. (Der französische Originaltitel Les mots et les choses privilegiert die Sprache sogar als dominantes Ordnungsprinzip aller behandelten Diskurse.) Unter anderem an den historischen Gestalten eines Wissens von der Sprache und ihrer chronologischen Abfolge expliziert Foucault sein Theorem der Diskontinuität. Wie er plausibel macht, handelt es sich bei den Innovationen um 1650 und um 1800 in keiner Weise um „Fortschritte“ auf einem tiefensemantischen Kontinuum, sondern um radikale,
12. Sprache und Kultur in der foucaultschen Diskurstheorie kontingent erscheinende Nova bzw. „Emergenzen“ (nicht „dialektische Vorwärts-“, sondern „Seitensprünge“). Aus dieser Rekonstruktion ergibt sich also keinerlei „implizite Linguistik Foucaults“. Gilt das auch für das vierte, auf die Aktualität des 20. Jahrhunderts bezogene Sprachwissen, das im Schlussteil eher spekulativ skizziert wird? Sehr tentativ wird dort eine linguistische „Wissenschaft“ erwähnt (nicht explizit, sondern konnotativ offensichtlich eine Systemlinguistik im Anschluss an Saussure), von der Foucault sich einen definitiven Bruch mit den „Humanwissenschaften“ erhofft und die er solidarisch mit einer avantgardistischen, die Sprache autonom behandelnden Literatur sieht. Die Rekonstruktion historischer Diskursformationen (Wissensformen) über die Sprache zielt also weder auf eine Linguistik noch auf eine an Linguistik anschließbare Definition von Sprache und Diskurs. Sehr wohl aber geht es um eine kulturtheoretische und kulturhistorische Einordnung quasilinguistischer Diskursformationen: So bildet die „allgemeine Grammatik“ mit ihrer taxonomischen Grundstruktur einen Musterfall der Episteme der „Repräsentation“ − wie andere Diskursformationen der Epoche und womöglich noch deutlicher als sie bewirkt sie ein Denken in matrixähnlichen Anordnungen und Serien, das einen wichtigen Sektor der Aufklärungskultur beherrscht. Insofern lässt sich die foucaultsche Diskurstheorie von Anfang an als eine spezifische Kulturtheorie (mit engen Anschlüssen an Mentalitäten, Habitus und „Systeme“) auffassen.
2. Foucaults „Aussage“-Begriff in Abgrenzung zur Systemlinguistik In der Archäologie des Wissens hat Foucault also nachträglich versucht, Sprache und Diskurs definitorisch zu kontrastieren: So erscheint das Vorhaben einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten. Diese Beschreibung kann man leicht von der Analyse der Sprache unterscheiden. Freilich kann man ein linguistisches System (wenn man es nicht künstlich konstruiert) nur feststellen, wenn man ein Korpus von Aussagen oder eine Sammlung von diskursiven Fakten benutzt; es handelt sich dann aber darum, ausgehend von dieser Menge, die den Wert einer Mustersammlung hat, Regeln zu definieren, die eventuell die Konstruktion anderer Aussagen als jener gestatten: sogar wenn sie seit langem verschwunden ist, wenn niemand sie mehr spricht und man sie auf Grund seltener Fragmente restauriert hat, bildet eine Sprache stets ein System für mögliche Aussagen: es ist eine endliche Menge von Regeln, die eine unendliche Zahl von Performanzen gestattet. Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit [actuellement] begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind; sie können durchaus zahllos sein, sie können durch ihre Masse jegliche Aufnahme-, Gedächtnis- oder Lesekapazität übersteigen: sie konstituieren dennoch eine endliche Menge. Die von der Sprachanalyse hinsichtlich eines beliebigen diskursiven Faktums gestellte Frage ist stets: gemäß welchen Regeln ist eine bestimmte Aussage konstruiert worden und folglich gemäß welchen Regeln könnten andere ähnliche Aussagen konstruiert werden? Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage: wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle? (Foucault 1973: 41 f., französisch Foucault 1969: 38 f.)
Auch ohne Verweis ist evident, dass Foucault den strukturalistischen Systembegriff der Sprache in der generativen Version Noam Chomskys benutzt, worin die Systembegriffe
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte von Saussure, Peirce, Hjelmslev und Harris aufgehoben gedacht werden können (vgl. auch das Resümee: Foucault 1969: 269, 1973: 295, wo für „Performanz“ statt „Kompetenz“ optiert wird). Der Verweis auf tote Sprachen impliziert zweierlei: Das dominante Paradigma ist die natürliche Sprache und: Die Historizität der Sprache wird als longue durée gefasst. Da der Begriff des Diskurses im Folgenden ausführlich behandelt werden soll, sei hier nur so viel vorweggenommen: Offenbar ist ein Diskurs sowohl synchronisch wie diachronisch sehr viel enger zu fassen als eine Sprache. Foucault weist demnach der Sprachanalyse, das heißt der Linguistik, die Aufgabe zu, eine Sprache als System von generativen Regeln zu beschreiben, mit denen beliebig viele korrekte bzw. „akzeptable“ Sätze gebildet werden können − offensichtlich mit dem Schwerpunkt auf Phonologie, Syntax und Lexikon bzw. Semantik. Dabei führt Foucault auch das topische Beispiel für einen lediglich semantisch „inakzeptablen“ Satz an: „Colorless green ideas sleep furiously“ (Foucault 1973: 131). Dieser Satz wäre, wie sich zeigen wird, ein Musterbeispiel für eine diskursive Aussage, nämlich ein Paradigma des struktural-generativen linguistischen Diskurses. Foucault stellt die naheliegende Frage, ob es sich bei dieser Nonsensformel nicht z. B. um die (dann sinnvolle) Aussage eines literarischen Diskurses handeln könnte. Er hätte daran aber auch die „Positivität“ seines Diskursbegriffs exemplifizieren können: Die Frage wäre dann schlicht und einfach, ob diese Aussage tatsächlich, empirisch, in einem literarischen Kontext auftaucht oder nicht (und zwar zunächst einmal natürlich vor Chomsky). Zur Abgrenzung des foucaultschen Diskursbegriffs von der Linguistik gehört ferner natürlich insbesondere die Unterscheidung zwischen seinem Diskursbegriff und dem seither in der Linguistik weitverbreiteten Begriff einer discourse analysis im Sinne einer Konversationsanalyse oder einer Analyse alltäglicher bzw. öffentlicher Redegenres bzw. Problemdebatten (wenn etwa Chats auf ihre Dialogstruktur hin untersucht werden oder wenn vom „Migrationsdiskurs“ oder vom „Umweltdiskurs“ die Rede ist). Die Archäologie des Wissens lag zum einen chronologisch zu früh, um auf diese linguistischen Entwicklungen reagieren zu können (sie erschien 1969), zum anderen hat sich Foucault de facto auf Diskurse des Wissens im engen Sinne spezialisiert und Alltags- bzw. Öffentlichkeitsdiskurse ausgespart. Zudem sind seine Beispiele im Wesentlichen aus älteren historischen Epochen gewählt (hauptsächlich vom 16. bis 19. Jahrhundert, dann auch aus der Antike), sodass aktuelles Material, etwa aus mediopolitischen oder mediounterhaltenden Diskursen, fehlt. Foucault berührt diesen Bereich allenfalls am Rand, wo er zwischen Aussagen als kleinsten Elementen von Diskursen (ich schlage vor, von „diskursiven Aussagen“ oder „Diskursaussagen“ zu sprechen) einerseits und „Sprechakten“ im Sinne der Pragmatik anderseits unterscheidet (Foucault 1973: 120 ff., 1969: 110 ff.). Eine foucaultsche „Aussage“ ist dagegen positiv als Element einer „diskursiven Formation“, also einer historisch spezifischen Formation von Wissen, bestimmt − insofern sind auch „eine Graphik, eine Wachstumskurve, eine Alterspyramide“ (Foucault 1973: 120) „Aussagen“. Dass die Diskursaussage ferner natürliche Sprachen übergreifen kann, ist ebenso evident: Die Zuordnung eines Symptoms zu einer bestimmten Krankheit im Rahmen der Schulmedizin („klinisch-medizinischer Diskurs“) ist in englischer Sprache die gleiche Diskursaussage wie ihre deutsche oder französische Version. Als Element einer „diskursiven Formation“ ist die Aussage durch eine spezifische historische Situation gekennzeichnet: Sie bezieht sich auf spezifische Gegenstände, die sie stets mit konstituiert − sie kann nur von bestimmten Sprecherpositionen effektiv geäußert werden (zum Beispiel von „Ärzten“ oder anderen „Experten“), sie verwendet
12. Sprache und Kultur in der foucaultschen Diskurstheorie spezifische Begriffe und selegiert das Wissen nach bestimmten „Strategien“, wodurch wiederum anderes mögliches Wissen strikt „ausgeschlossen“ (unsagbar und unwissbar) wird. Die systemtheoretische „Selektivität“ ist in der Diskurstheorie demnach eine Funktion der „Strategien“, besonders der diskurskonstituierenden. In seiner Definition von „Diskurs“ (als Kurzform für „diskursive Formation“) betont Foucault mithin die historische Spezifik und Spezialität des jeweiligen Wissens: „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören. Und so werde ich von dem klinischen Diskurs, von dem ökonomischen Diskurs, von dem Diskurs der Naturgeschichte, vom psychiatrischen Diskurs sprechen können“ (Foucault 1973: 156, 1969: 141).
3. Definitionsvorschläge zu Grundbegriffen mit Blick auf linguistische Nachbarschaften Es folgt nun eine freie, möglichst systematische Definition, die auch die spätere machtanalytische („genealogische“) Entwicklung Foucaults bereits einbezieht.
3.1. Diskurs Diskurse sind im Unterschied zu natürlichen Sprachen historisch-kulturell sehr viel stärker variabel und legen (sprachübergreifend) jeweils spezifische Sagbarkeits- und Wissensräume sowie deren Grenzen fest. Es sind institutionalisierte, geregelte Redeweisen als Räume möglicher Aussagen, die an Handlungen gekoppelt sind. Dazu gehört insbesondere die Konstitution von spezifischen historischen Objektivitäten und Subjektivitäten: − Objektivitäten im Sinne sozialer Gegenstände und Themen, Begriffe, Klassifikationen
und Argumente (Foucault 1973: 61−103); − Subjektivitäten im Sinne von legitimen Sprecherpositionen (Foucault 1973: 75−82)
sowie (wie zu ergänzen wäre) Gender- und anderen Sprecher- und Rezipientinnenrollen einschließlich spezifischer körperlicher Prägungen (Habitus). Aus der Eingrenzung von Sag- und Wissbarkeit, der Sprechersubjektivität sowie den Kopplungsflächen zur Handlung generiert sich der Machteffekt der Diskurse (dazu Die Ordnung des Diskurses). Zu dieser, der foucaultschen Systematik möglichst eng folgenden Definition gehört also nicht eine dialogische Grundstruktur (Debatte, Kontroverse usw.), wie sie häufig in der Linguistik vorausgesetzt wird. Eine solche Debatte wäre nach Foucault vielmehr ein „diskursives Ereignis“ innerhalb eines Diskurses (bzw. Interdiskurses) als Sagbarkeitsraum („Formation“).
3.2. Diskursive Ereignisse Jede Diskursaussage produziert effektiv (mit dem Begriff der Pragmatik „performativ“) ein Wissenselement der entsprechenden Kultur, und zwar direkt (ohne tiefenhermeneuti-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte sche Extraktion eines „Kernsinns“). Das ist mit der „Positivität“ gemeint. Die Aussage wird also nicht interpretiert, sondern auf ihren „Ereignis“-Charakter und ihre „Streuung“ hin analysiert: Wo taucht sie auf und wann − wo gehäuft − wie oft (Wiederholung) − zusammen mit welchen anderen Aussagen (Kombination) − in welcher hierarchischen Position (Strukturbildung). Jede einzelne Aussage stellt insofern also bereits ein (mikroskopisches) „diskursives Ereignis“ dar. Wichtiger sind natürlich Aussagen mit hoher Frequenz (Serienbildung) und kombinatorisch-hierarchischer Dominanz (z. B. „Themen“, „Begriffe“). Besonders wichtig sind (im Kontext der „Strategien“) Aussagenkomplexe, die symptomatisch die Grenzen der Sagbarkeit und Wissbarkeit eines Diskurses markieren (besonders unaufhebbare Widersprüche von Aussagen im gleichen Diskurs wie exemplarisch die Aporien der „empirischtranszendentalen Dublette“ in den Humanwissenschaften [Foucault 1971a: 384 ff.]). Exemplarische Symptome von Grenzen der Sagbarkeit in humanwissenschaftlichen Diskursen sind die Widersprüche zwischen Aussagen, in denen die Subjekte als intentionale Schöpfer ihrer Diskurse gelten, und umgekehrt solchen, in denen eine transsubjektive Dynamik der Diskurse statuiert wird (diesem diskurshistorischen Befund entspricht die viel diskutierte „subjektkritische“ Position Foucaults). Das empirische Material eines Diskurses in seiner Gesamtheit (idealiter die strukturierte Gesamtheit seiner Aussagen) nennt Foucault sein „Archiv“ (wobei ähnlich wie in einer Korpuslinguistik Umfang und Selektion problematisch sind). An dieser Stelle eine kurze Zwischenbemerkung zu einer weitverbreiteten, bereits oben erwähnten Verwendungsweise des Diskursbegriffs: Wenn etwa von „Migrationsdiskurs“ oder „Umweltdiskurs“ im Sinne einer gegenstandsbezogenen öffentlichen Debatte die Rede ist, so handelt es sich im foucaultschen Sinne nicht um „Diskurse“ als spezifische Räume von Sagbarkeit, sondern um diskursive Ereignisse sozusagen mittlerer Reichweite (zwischen einzelnen Aussagen und epochalen Diskontinuitäten). Selten schließlich geht es um diskursive Megaereignisse wie die in der Ordnung der Dinge beschriebenen epochalen Einschnitte von 1650 und 1800. Solche diskursiven Großereignisse kennzeichnet Foucault mit terminologischen Anleihen bei der Evolutionstheorie auch als „Emergenzen“ (dazu Sarasin 2009). Idealtypisch wird dabei eine diskursive Formation durch eine vollständig andere (mit einem neuen Aussagentyp und einem neuen Sagbarkeitsraum und neuen Sagbarkeitsgrenzen) ersetzt (z. B. taxonomische Repräsentation durch historische Filiation). Das schließt selbstverständlich eine Aufnahme und Umfunktionierung früherer Aussagen nicht aus (wie die Verwendung von Wissen der Repräsentation in den Humanwissenschaften). Der Vorwurf (etwa Sartres) gegen Foucault, er denke „unhistorisch“, kann daher heute kaum noch begriffen werden (dazu ausführlich Brieler 1998). Vielmehr hat Foucault eine Kulturgeschichte begründet, die ohne die inzwischen allgemein als irrig betrachtete lineare Teleologie auskommt.
4. Von der „Archäologie“ zur „Genealogie“ − vom „Diskurs“ zum „Dispositiv“? Während die Frage, ob sich in Foucaults Entwicklung in den letzten Jahren vor seinem Tod ein neuerlicher epistemologischer Einschnitt (hin zu einer subjektzentrierten „Ästhe-
12. Sprache und Kultur in der foucaultschen Diskurstheorie tik der Existenz“) ereignet habe, umstritten ist und hier offenbleiben soll, ist ein solcher Einschnitt seit Überwachen und Strafen unübersehbar. Markierende Kategorien sind „Genealogie“ und „Dispositiv“ (die gehäuft in neuen Aussagen „emergieren“). Der von Nietzsche entlehnte Begriff einer „genealogischen“ Analyse zielt auf eine Erweiterung der „archäologischen“ Diskursanalyse durch eine Machtanalyse und ging biografisch mit dem politischen Engagement seit 1968 einher (dazu Brieler 1998). Es handelt sich, wenn auch nicht um ein diskursives Megaereignis, so doch um ein Ereignis „mittlerer Reichweite“. Die „archäologische“ Diskurstheorie wird nicht ersetzt, wohl aber erweitert und dabei teilweise umfunktioniert. Die Aufmerksamkeit der Archäologie für die Grenzen der Sagbarkeit der Diskurse hatte durchaus machtanalytische Aspekte impliziert − ebenso wie die Betonung der Sprecherpositionen und die der Kopplung des Diskurses an Handlungen im Begriff der „diskursiven Praxis“. Besonders diese Betonung, etwa in der Geburt der Klinik, ging weit über die Pragmatik britischer Provenienz hinaus. Dennoch stellte die Einführung und die Handhabung des Dispositivbegriffs eine bedeutsame Innovation im Denken Foucaults dar. Die ausführlichste Definition findet sich in dem Gespräch mit Jacques-Alain Miller und anderen Vertretern des Teams Psychoanalyse der Universität Paris-VIII (1977), das ein Resümee der analytisch-deskriptiven Verwendung in Überwachen und Strafen darstellt und insofern parallel zu der nachträglichen Definition von „Diskurs“ in Archäologie des Wissens steht (Foucault 2003: 391 ff.): Das was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist erstens eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann. Zweitens ist das, was ich im Dispositiv festhalten möchte, gerade die Natur der Verbindung, die zwischen diesen heterogenen Elementen bestehen kann. So kann irgendein Diskurs mal als Programm einer Institution, mal im Gegenteil als ein Element erscheinen, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen oder zu verschleiern, die selbst stumm bleibt, oder er kann auch als Sekundärinterpretation dieser Praktik funktionieren und ihr Zugang zu einem neuen Rationalitätsfeld schaffen. Kurz, zwischen diesen diskursiven oder nicht-diskursiven Elementen gibt es gleichsam ein Spiel, gibt es Positionswechsel und Veränderungen in den Funktionen, die ebenfalls sehr unterschiedlich sein können. Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art − sagen wir − Gebilde (formation), das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. [Diese erste Übersetzung (aus Foucault 1978: 120) ist nun wirklich entschieden besser als die neue in Dits et Écrits („einer dringenden Anforderung nachzukommen“) − état d’urgence ist bekanntlich der Notstand.] Das Dispositiv hat also eine dominante strategische Funktion (fonction stratégique dominante). Dies konnte zum Beispiel die Aufnahme einer unsteten Bevölkerungsmasse sein, die eine Gesellschaft mit einer Ökonomie von im Wesentlichen merkantilistischer Art lästig fand: Es hat damit einen strategischen Imperativ gegeben, der als Matrix für ein Dispositiv funktionierte, das nach und nach zum Dispositiv für die Kontrolle und Unterwerfung [besser die alte Übersetzung: Subjektivierung-Unterwerfung (assujetissement)] des Wahnsinns, der Geisteskrankheit und der Neurose wurde. (Foucault 2003: 392 f.)
Auch in den weiteren Ausführungen dieses Interviews wird − erstens − immer wieder die dominant strategische, also disponierende Funktion des Dispositivs betont (was im
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Übrigen auch der dominierenden Bedeutung im französischen Alltag entspricht). Eine zweite wichtige Eigenschaft ist die Kombination mehrerer verschiedener Diskurse (die interdiskursive Funktion), eine dritte die Kombination zwischen diskursiven und praktischen, darunter auch nicht-diskursiven (wie architektonischen) Elementen sowie viertens die Kombination von Elementen des Wissens mit solchen der Macht. Deutlich ist dabei dennoch die Kontinuität der Diskurstheorie in dem neuen, erweiterten Ansatz, die gerade auch die wichtige Kategorie der „Strategie“ betrifft. Wie Foucaults Ausführungen in dem Interview (wie auch die Verwendung in Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen) belegen, unterscheidet sich ein Dispositiv von einem Diskurs also im Wesentlichen durch drei Modifikationen: 1. Erstens handelt es sich um einen begrenzten, auf eine konkrete historische Herausfor-
derung antwortenden Komplex (und nicht um eine kulturelle Dimension mit systemartiger Ausdehnung). 2. Zweitens sind die diskursiven Elemente des Dispositivs interdiskursiv und transdiskursiv (mit nicht-diskursiven Elementen) kombiniert. 3. Drittens spielt nun neben der interdiskursiven Dimension des Wissens, die man sich bildlich als horizontal vorstellen kann, die sozial stratifikatorische Dimension der Macht eine konstitutive Rolle (die als vertikal zu verbildlichen wäre). Es handelt sich also um ein spezifisches, historisch relativ stabiles Kopplungskombinat aus einem spezifischen interdiskursiven Kombinat (horizontal) sowie einem spezifischen Machtverhältnis (vertikal). Diese sozusagen gleichrangige Berücksichtigung der vertikalen Machtdimension ist die entscheidende Innovation der Genealogie gegenüber der Archäologie. Die Fallstudien betreffen das Gefängnis- und das Sexualitätsdispositiv. Dabei umfasst das interdiskursive Kombinat Wissenselemente aus operativen Spezialdiskursen, insbesondere aus natur- und humanwissenschaftlichen einschließlich der spezifischen Techniken, während das vertikale Machtverhältnis sich längs einer Polarität von disponierender und disponierter Subjektivität aufbaut: Justiz/Polizei − Krimineller, Arzt − Patient, Psychiater − Neurotikerin, Pädagoge − Zögling, allgemein Experte − Laie. Gleichzeitig damit expliziert Foucault im Begriff des Dispositivs also die vertikale Dimension der Sagbarkeit als Wissensmonopol monopolistischer Sprecher (Experten) − so, wie er die subjektbildende Effektivität der Diskurse betont, was ebenfalls die vertikale Dimension einschließt: das disziplinierte oder sexualisierte Subjekt als freiwilliges Ansatzprofil spezifischer Machtwirkungen (sujet als Subjekt und Unterwerfungsobjekt gleichzeitig). So werden beispielsweise im Sexualitätsdispositiv horizontal Spezialdiskurse wie Medizin, Psychologie, Pädagogik, Hygiene und Demografie kombiniert, denen wissensmonopolisierende Intelligenzgruppen (Experten mit disponierender Subjektivität), diskursive Rituale (wie provozierte Geständnisse) und produzierte abschreckende typische Subjektivitäten („Hysterikerinnen“, „Masturbanten“, „unfruchtbare Familien“, „Perverse“ [Foucault 1977: 126 ff.]) entsprechen, deren Funktion in der Produktion normaler Sexualität e contrario liegt. Dabei betont Foucault die „produktive“ Funktion solcher „mikrologischer“ Machtverhältnisse auch für die disponierten Subjektivitäten. Das Wissen-MachtVerhältnis des Dispositivs eröffnet immer einen Raum von Sag- und Wissbarkeit und unterscheidet sich also von einem bloß einseitig gerichteten „Repressions“-Verhältnis. Es kann den Disponierten daher die Möglichkeit der Umwertung und der Resistenz
12. Sprache und Kultur in der foucaultschen Diskurstheorie ermöglichen. Obwohl Foucault sich häufig kritisch auf Hegel bezieht, drängt sich hier eine gewisse Analogie zu Hegels Dialektik von Herrn und Knecht auf. Diskursaussagen (im Sinne der Archäologie: als Vehikel eines performativen Wissens) spielen also weiterhin eine wesentliche Rolle − als Elemente von Dispositiven steigert sich ihr machtvoller Impakt nicht nur durch interdiskursive Kopplungen, sondern durch Kopplungen an materielle Elemente wie Gebäude, Raumordnungen, Perspektiven, Körperdressuren, Arbeitsordnungen, Geständnisrituale und Ähnliches. Durch die Erweiterung der Diskurstheorie mittels des Dispositivbegriffs entsteht endgültig eine Kulturtheorie (und Kulturgeschichte), in der die sozialen und politischen Dimensionen der Diskurse integraler Bestandteil ihrer Analyse und Beschreibung sind − eine Theorie, in der die Subjekte, bevor sie in Diskursen und Dispositiven handeln können, zuvor allererst von Diskursen und Dispositiven als spezifische Subjekte einer spezifischen Kultur produziert worden sein müssen − eine Theorie schließlich, die den populären Slogan „Wissen ist Macht“ ohne jede idealistische, anthropologische oder transzendentalistische Implikation als Motor der Geschichte zu begreifen erlaubt.
5. Literatur (in Auswahl) Brieler, Ulrich 1998 Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker. Köln: Böhlau. Foucault, Michel 1966 Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard. Foucault, Michel 1969 L’archéologie du savoir. Paris: Gallimard. Foucault, Michel 1971a Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel 1971b L’ordre du discours. Paris: Gallimard. Foucault, Michel 1973 Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel 1977 Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel 1978 Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Foucault, Michel 1991 Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay v. Ralf Konersmann. Frankfurt a. M.: Fischer. Foucault, Michel 2003 Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. III: 1976−1979. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Link, Jürgen 1998 Von der „Macht der Norm“ zum „flexiblen Normalismus“. Überlegungen nach Foucault. In: Joseph Jurt (Hg.), Zeitgenössische französische Denker. Eine Bilanz, 251−268. Freiburg i. Br.: Rombach. Link, Jürgen 2008a Dispositiv. In: Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault Handbuch. Leben − Werk − Wirkung, 237−242. Stuttgart/Weimar: Metzler. Link, Jürgen 2008b Sprache, Diskurs, Interdiskurs und Literatur (mit einem Blick auf Kafkas Schloß). In: Heidrun Kämper und Ludwig Eichinger (Hg.), Sprache − Kognition − Kultur. Sprache
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, 115−134. Berlin/New York: de Gruyter. Link, Jürgen 2009 Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 4., erw. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Sarasin, Philipp 2009 Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Jürgen Link, Hattingen (Deutschland)
13. Sprache in der bourdieuschen Kultursoziologie 1. Einleitung 2. Der Entwurf einer Soziologie der Sprache 3. Sprache und symbolische Macht
4. Ausblick 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Obgleich Pierre Bourdieu bereits früh versuchte, sich dem komplexen Gegenstand Sprache aus soziologischer Perspektive zu nähern, hat er die in den 1970er-Jahren skizzierten Ansätze zur Sprachsoziologie später kaum systematisch weiterentwickelt. Wie Bourdieu selbstkritisch in seinem soziologischen Selbstversuch einräumt, kamen diese Ansätze über das Stadium eines Forschungsentwurfes nie hinaus (2002: 78), eines Forschungsentwurfs, den er im Jahr 1982 in der unter dem Titel Ce que parler veut dire erschienenen berühmten Aufsatzsammlung (deutsch 1990) entwickelt hatte. Den programmatischen Tenor dieser Ausgabe bildet die kritische Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus und seinen Vertretern aus dem Bereich der Linguistik, namentlich mit den Sprachtheorien von Ferdinand de Saussure und Noam Chomsky. Der dazugehörige Untertitel − die Ökonomie des sprachlichen Tausches − entstammt ursprünglich einem Artikel, den Bourdieu 1977 in der Zeitschrift Langue française veröffentlicht hat und in dem er seine Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Linguistik und Soziolinguistik skizziert (Bourdieu 1977). „Alles ist sozial“, behauptete Bourdieu in einem Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Pierre-Marc de Biasi und brachte damit den Universalitätsanspruch treffend zum Ausdruck, den er vehement mit seinem Konzept der Soziologie verknüpfte (Bourdieu 1992: 110). Auch sein Entwurf einer Soziologie der Sprache zielt primär darauf ab, die verborgenen Mechanismen von Macht und Herrschaft aufzudecken, die das Sprechen als gesellschaftliche Handlung konstituieren. Dieser Entwurf richtet sich insbesondere gegen jene Vertreter der sprachwissenschaftlichen Zunft, die ein theoretisches Modell der Sprache unabhängig von einer Soziologie des Sprechens zu bestimmen versuchen. Dieser Vorwurf, den Bourdieu in seinem Entwurf einer Theorie der Praxis noch vorsich-
13. Sprache in der bourdieuschen Kultursoziologie tig formuliert, steigert sich in einem gemeinsam mit Luc Boltanski verfassten Artikel von 1975 unüberhörbar zu einer Polemik gegen die „Illusion des sprachlichen Kommunismus“ (Bourdieu und Boltanski 1975), bevor er schließlich in Ce que parler veut dire in einer radikalen Kritik an die Adresse der Sprachwissenschaftler gipfelt: Wer wie die Sprachwissenschaftler von der Sprache spricht, ohne sie näher zu bestimmen, übernimmt unausgesprochen die offizielle Definition der offiziellen Sprache einer bestimmten politischen Einheit: diejenige Sprache nämlich, die innerhalb der territorialen Grenzen dieser Einheit allen Staatsangehörigen als die einzig legitime vorgeschrieben ist, und zwar um so zwingender, je offizieller (ein Wort, das das formal der englischsprachigen Sprachwissenschaftler recht gut wiedergibt) die Sprechsituation ist. (Bourdieu 1990: 20−21)
Die Reaktionen der Sprachwissenschaft auf diese Kritik reichten von totalem Unverständnis bis hin zu Indifferenz (Encrevé 2003). Der Dialog zwischen beiden Seiten war fortan so sehr von Missverständnissen und gegenseitigem Misstrauen geprägt, dass eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen einer Sprachsoziologie bourdieuscher Provenienz und den Sprachwissenschaften nicht mehr zustande kam. Angesichts des inzwischen gut 30 Jahre zurückliegenden rendez-vous manqué zwischen der bourdieuschen Kultursoziologie und den Sprachwissenschaften stellt sich die Frage, inwiefern Bourdieus sprachsoziologische Überlegungen dazu beitragen können, die den Diskurs der Sprach- und Kommunikationswissenschaften nicht selten prägende Herauslösung des Erkenntnisgegenstands Sprache aus seinem soziokulturellen Bedingungsrahmen aus soziologischer Perspektive kritisch zu reflektieren. Dieser Frage wollen wir im Folgenden nachgehen.
2. Der Entwurf einer Soziologie der Sprache In der Konstitutionsphase seiner Soziologie beansprucht Bourdieu, jene Dichotomien zu überwinden, die das zeitgenössische sozial- und geisteswissenschaftliche Denken maßgeblich prägen − die Dichotomien von Individuum versus Gesellschaft über Subjekt versus Objekt bis hin zu Handeln versus Struktur. Bourdieu wählt mit dem Begriff des Habitus einen Weg, der eine „Alternative zwischen Sozialphysik und Sozialphänomenologie“ (Bourdieu 1987: 255), das heißt zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen subjektivem Entwurf und objektiver Determination des Handelns aufzeigen soll. Seine Kritik an der strukturalen Linguistik stellt folglich den Versuch dar, die Aufhebung dieser begrifflichen Oppositionen auf den Bereich der Sprachtheorie auszuweiten. Zu diesem Zweck stellt Bourdieu jenes Prinzip radikal infrage, auf dem besonders die strukturale Linguistik − im Anschluss an Saussure − ihr disziplinäres Selbstverständnis gründet: eine Wissenschaft der Sprache zu sein, die es mit einem autonomen Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung zu tun hat (vgl. Trabant 2002; 2003: 291), aus dem die gesellschaftlich-sozialen Bedingungen, in die der Gebrauch von Sprache notwendig eingebettet ist, ausgeblendet sind. Der blinde Fleck der Sprachwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin entsteht demnach dort, wo diese die Strukturhaftigkeit der Sprache unabhängig von der Sozialität ihres Gebrauchs zu bestimmen versucht. Den Ausgangspunkt dieser unheilvollen Entwicklung verortet Bourdieu bei Saussure:
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Das ganze Schicksal der modernen Sprachwissenschaften entscheidet sich nämlich mit jenem Gewaltstreich, mit dem Saussure einleitend die ,äußere‘ von der ,inneren‘ Sprachwissenschaft trennt und − den Titel Sprachwissenschaft dieser letzteren vorbehaltend − alle Forschung aus ihr ausschließt, die Beziehungen zwischen der Sprache und der Ethnologie, der politischen Geschichte ihrer Sprecher oder auch der Geographie ihrer Ausbreitung herstellt, weil diese nichts zur Kenntnis der Sprache an und für sich beitrügen. (Bourdieu 1990: 7−8)
Die Folge dieses saussureschen „Gewaltstreichs“ sieht Bourdieu in einem, so seine berühmte Wendung, intellektualistischen Fehlschluss, der das Modell einer idealisierten Sprache mit ihrem praktischen Realisat, dem gesellschaftlichen Sprechen, verwechsle − und zwar in Gestalt der Langue bei Saussure oder später der Kompetenz bei Chomsky. Bourdieus Intellektualismusvorwurf fordert die Sprachwissenschaftler auf, nicht zu vergessen, dass auch das Sprechen einer „Ökonomie der Praxisformen“ (Raphael 1987) unterliegt − einer „Ökonomie des sprachlichen Tausches“ eben. Die Ökonomie der sprachlichen Güter stellt demnach nur einen Sonderfall der Ökonomie der symbolischen Güter dar. Mit anderen Worten: Bourdieu hält der Sprachwissenschaft vor, sie hätte in ihrem Modell einer idealisierten Sprache den Machtaspekt des Sprechens übersehen. Sprache kann demnach nicht unabhängig von ihrem Gebrauch in konkreten Sprechsituationen betrachtet werden, weil sonst dabei der zentrale Aspekt von Sprache unterzugehen droht: dass sie in erster Linie Sprechen und Sprechen soziales Handeln ist. Bereits in den späten sprachphilosophischen Arbeiten von Ludwig Wittgenstein, der einen großen Einfluss auf Bourdieu ausübte (Bouveresse 1993; Gebauer 2005), findet man diesen Perspektivenwechsel von der logisch-grammatischen zur semantisch-pragmatischen Ebene des Sprechens. Noch wichtiger für Bourdieu aber ist die Sprechakttheorie von John L. Austin (1979, 1986). Die von Austin eingeleitete sprechakttheoretische Wende, nach der Sprache sich nicht nur referenziell auf die Welt bezieht, sondern vielmehr ein soziales Geschehen in der Welt ist, das Sprechen sich gleichsam als ein Handeln zeigt, dient Bourdieu als Anstoß für seine kritischen Überlegungen zum etablierten sprachwissenschaftlichen Kanon. Folgerichtig stellt er Austins Begriff der Performativität ins Zentrum seiner sprachsoziologischen Überlegungen und gewinnt damit ein Konzept, mit dem sich sprachliche Äußerungen nicht länger durch ihre logisch-semantischen Wahrheitsbedingungen charakterisieren lassen, sondern vielmehr durch ihre sozialen Geltungsbedingungen. Genau dies hat Bourdieu im Sinn, wenn er von Performativität als „performativer“ oder auch „sozialer Magie“ spricht: eine durch die Komplizenschaft von Habitus und sozialer Welt erzeugte Anerkennung spezifischer sprachlicher Praktiken und Klassifikationen, in denen die herrschende Auffassung von der Verfasstheit der sozialen Welt wirkungsvoll zur Geltung kommt. Die performative Magie der (legitimen) Sprache trägt maßgeblich dazu bei, dass die darin enthaltene Sicht auf die soziale Welt zur gesellschaftlich anerkannten Wirklichkeit derselben wird. Das praktische Verhältnis von Habitus und Welt ist in erster Linie ein Erkenntnisverhältnis zwischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata einerseits und sozialer Ordnung andererseits. Als gesellschaftliches Anerkennungsverhältnis bildet es die Grundlage für eine sozial delegierte „Macht zur Durchsetzung von Bedeutung“ (Schwingel 1993: 104) − und zwar stets unter weitgehend unbewusster Mitwirkung der dieser Macht Unterworfenen. Nur so kann die soziale Ordnung ihre eigene Soziodizee hervorbringen (Bourdieu 2001).
13. Sprache in der bourdieuschen Kultursoziologie
3. Sprache und symbolische Macht Sprachliche Verhältnisse, so ließe sich die sprachsoziologische These Bourdieus zuspitzen, sind immer als Verhältnisse der symbolischen Macht zu begreifen, „durch die die Machtverhältnisse zwischen den Sprechern und ihren jeweiligen sozialen Gruppen in verwandelter Gestalt aktualisiert werden“ (Bourdieu und Wacquant 1996: 177). Für Bourdieu stellt die Sprache also einen Sonderfall symbolischer Macht dar. Die sozialen Machtverhältnisse liegen in Form von historischen Machtverhältnissen selbst noch im scheinbar einfachsten sprachlichen Austausch verborgen. Sie begründen dessen Ökonomie. Gleichzeitig werden sie durch den sprachlichen Austausch „in verwandelter Gestalt“ aktualisiert: Da die Machtverhältnisse in aller Regel unerkannt bleiben, kommt es zur Aufrechterhaltung und Reproduktion einer herrschaftlichen Ordnung, in die der Gebrauch von Sprache immer schon eingelassen ist. Die vom Symbolischen und somit insbesondere von der Sprache organisierte (Selbst-)Verständlichkeit der sozialen Welt sorgt dafür, dass die Herrschaftsordnung dauerhaft stabil bleibt. Hieraus ergibt sich für Bourdieu ein enger Zusammenhang zwischen Sprache und symbolischer Gewalt. Die Durchsetzung von Bedeutungen und deren Anerkennung als legitim bei gleichzeitiger Verschleierung der dieser Anerkennung zugrunde liegenden gesellschaftlichen Machtbeziehungen stellen für ihn einen Akt der symbolischen Gewalt dar. Schließlich beruht die performative Magie der Sprache auf einer kollektiven Anerkennung, die immer zugleich einen Verkennungsakt darstellt, da sie das Produkt von verinnerlichter Gesellschaftsordnung ist. Jede Form des gesellschaftlichen Gebrauchs von Sprache unterliegt somit einem sozialen Gewaltverhältnis, das die Sprechenden als Herrschende und Beherrschte in eine Machtbeziehung setzt. Dabei bildet der Dualismus von Herrschenden und Beherrschten nicht den Ausgangspunkt, sondern vielmehr das Resultat einer symbolisch anerkannten und letztlich immer schon verkannten gesellschaftlichen Machtbeziehung (vgl. Schmidt und Woltersdorff 2008: 12; Hartmann 2011, 2012). Dieser Zusammenhang zwischen Sprache und symbolischer Macht, die Bourdieu in mannigfachen Zusammenhängen studiert hat, sei nur an zwei vermeintlich gegensätzlichen Beispielen illustriert, der philosophischen Sprache und der Umgangssprache. In seiner Auseinandersetzung mit Martin Heidegger versucht Bourdieu (1976b) zu zeigen, dass Heidegger, indem er sich der „reinen Philosophie“ verschreibt und eine eigene, existenzphilosophische Sprache schafft, die politischen Positionen der „konservativen Revolutionäre“ gleichzeitig ausdrückt und kaschiert. Diese „Doppelstruktur“ signalisiert die Werte der konservativen Revolution in einer höchst artifiziellen, abstrakten Sprache, die gleichwohl von den Eingeweihten verstanden wird; zugleich erscheint sie als das Werk einer neuen Existenzialphilosophie des Daseins, das durch und durch unpolitisch zu sein scheint, weil es eben im Gewand der „reinen Philosophie“ daherkommt: In jeder seiner gleichermaßen politischen und philosophischen Stellungnahmen die doppelte Wahrheit der Position zum Ausdruck bringend, die er geschaffen hat, aber nicht hätte schaffen können, wäre sie nicht für ihn wie er für sie geschaffen worden, bildet Heidegger den praktischen Operator der Homologie, die sich über ihn herstellt zwischen einer philosophischen und einer politischen Position, auf der Grundlage der Homologie von philosophischem und politischem Feld. Vom Werk Heideggers angemessen Rechenschaft abzugeben heißt folglich, die Transformationsregeln (sowie die Regeln, denen gemäß diese im Lauf der Zeit sich selbst transformieren) zu rekonstruieren, die der ganz und gar einzigartige und doch exemplarische philosophische Habitus, deren Produkt jenes ist, dann praktisch ins Werk
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte setzt, wenn er die politische Notwendigkeit − bis zu ihrer Unkenntlichkeit − in eine philosophische Notwendigkeit verwandelt, wenn beispielsweise der Philosoph, der Politik nicht anders denken und über sie nicht anders sprechen kann als unter Zuhilfenahme der Denkschemata und des Vokabulars der Ontologie − und dies in immer stärkerem Maße, je mehr sich der Habitus über seine eigene Zwangsläufigkeit schließt −, wenn dieser Philosoph also die Rede eines nazistischen Rektors zu einem metaphysischen Glaubensbekenntnis umstilisiert und derart aus seiner philosophischen Ernsthaftigkeit das Prinzip einer ungewöhnlichen Zweideutigkeit gewinnt. (Bourdieu 1976b: 97)
Auf dem Kongress der Association Française des Enseignants de Français (AFEF) in Limoges 1977 nimmt Bourdieu mit einem Beitrag zu der Frage Stellung, ob man den Unterricht in der Umgangssprache halten soll. Er spitzt dieses Problem auf die Frage zu, wer denn den „Sinn für die Akzeptabilität“ (Bourdieu 1993: 94) eigentlich definiert. Der Lehrer? Sicher, im Prinzip gilt: „Der Lehrer ist eine Art Jugendrichter für Sprachsachen: Er hat das Korrektur- und Benotungsrecht für die Sprache seiner Schüler“ (Bourdieu 1993: 95). So kann man höhere Bildungsanstalten danach unterscheiden, welche Rolle das orale „gute Französisch“ spielt − Lehrer- und technische Berufe legen weniger Wert, Institutionen wie Sciences-Po und ENA, die auf politische Laufbahnen vorbereiten sollen, legen mehr Wert auf einen geschliffenen Sprachstil. Am anderen Ende des Spektrums, in Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus Unterschichten, sieht die Situation ganz anders aus, da die Kinder ihren milieuspezifischen Sprachstil in der Klasse durchsetzen können. Dort steht nicht nur der traditionelle Französischlehrer auf verlorenem Posten, sondern „Verlierer“ sind auch jene Schüler, die an „gutem Französisch“ interessiert sind. Die Gretchenfrage lautet daher: „In welchem Ausmaß aber kann der Lehrer, ohne in die größten Widersprüche zu geraten, die Gesetze der Akzeptabilität manipulieren, solange die allgemeinen Gesetze der Akzeptabilität unverändert sind? Das nämlich macht das Experiment mit der Umgangssprache so spannend“ (Bourdieu 1993: 96). In letzter Instanz geht es um einen revolutionär zu nennenden Strukturwandel des Bildungssystems selbst: „Kann man die Sprache im Schulsystem ändern, ohne sämtliche Gesetze zu ändern, die den Wert der sprachlichen Produkte der verschiedenen Klassen auf dem Markt bestimmen; ohne die Herrschaftsverhältnisse im Bereich der Sprache, und das heißt die Herrschaftsverhältnisse überhaupt zu ändern?“ (Bourdieu 1993: 97). Bourdieu betrachtet die Sprache als eine tragende Säule der Symbolsysteme, auf denen soziale Ordnungen in Form von verkannten gesellschaftlichen Machtbeziehungen beruhen. Im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses steht dabei die soziale Genese dieser Symbolsysteme, nicht etwa deren abstrakte Modellierung oder gar die Rekonstruktion von unsichtbaren universellen Strukturen, auf die sich alle empirisch beobachtbaren Symbolsysteme (bzw. „Kulturen“) zurückführen ließen. Eine solche objektivistische Erklärungsabsicht verbirgt sich beispielsweise hinter der strukturalen Anthropologie eines Lévi-Strauss (Müller 2014: 27 ff.), an der Bourdieu ebenfalls auszusetzen hat, sie reduziere soziales Handeln auf die Ausübung eines theoretisch entworfenen Modells und unterliege deshalb genau jenem intellektualistischen Fehlschluss, den die strukturalistische Sprachwissenschaft im Anschluss an Saussure systematisch begehe: Die Theorie des Handelns als einer einfachen Ausübung des Modells (in seiner zweifachen Bedeutung als Norm und wissenschaftliche Konstruktion) stellt nur ein Beispiel unter anderen für jene imaginäre Anthropologie dar, die der Objektivismus erschafft, wenn er, in Marx’ Worten ‚die Sache der Logik‘ für die ‚Logik der Sache‘ ausgebend, die objektive Bedeutung
13. Sprache in der bourdieuschen Kultursoziologie der Praxisformen und Werke zum subjektiven Zweck des Handelns der Produzenten dieser Praxisformen, Praktiken und Werke erhebt […]. (Bourdieu 1976a: 164)
4. Ausblick Fassen wir abschließend noch einmal zusammen: Bourdieus sprachsoziologisches Anliegen ist es, die Abhängigkeit der Genese unserer Sprachlichkeit von der Sozialität ihres Gebrauchs hervorzuheben, um so die „der Sprache inhärente symbolische Macht“ (Schwingel 1993: 177) ins Zentrum der analytischen Perspektive rücken zu können. Dieses Forschungsanliegen lässt sich unseres Erachtens rückblickend im Licht zweier unterschiedlicher Lesarten betrachten. Eine radikale Lesart liefe darauf hinaus, dieses Abhängigkeitsverhältnis als einen formativen Zusammenhang zu denken. Aus dieser Perspektive wäre die Bildung der Struktur von Sprache schlechthin als abhängig von ihrem gesellschaftlichen Gebrauch zu begreifen. Sprache käme folglich ausschließlich als empirisch beobachtbarer, an soziale Körper (bzw. Sprecher) gebundener Bestandteil symbolischer Ordnungen in den Blick − mit der Konsequenz, dass die Ausblendung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen per se als folgenreicher Fehlschluss zu deuten wäre. Diese Lesart liefe jedoch Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Eine solche sprachsoziologisch motivierte „Vermachtung des Sozialen“ tendiert dazu, eine primär aufklärerisch gemeinte, ideologiekritische Maxime irrtümlich als sozialtheoretisches Axiom zu deuten. Die machtkritische Reduktion sozialer Phänomene auf historische Machtkonstellationen aber birgt unweigerlich die Gefahr begrifflicher Vereinseitigungen, die das Erklärungspotenzial einer analytischen Perspektive, wie Bourdieu sie im Rahmen seines sprachsoziologischen Ansatzes entwickelt, in Mitleidenschaft zu ziehen drohen. Eine moderate Lesart seines Ansatzes würde dagegen versuchen, das Abhängigkeitsverhältnis von symbolischer Macht und Sprache als einen selektiven Zusammenhang zu begreifen: Erst die soziokulturellen Prozesse und die aus ihnen hervorgehenden sozialen Handlungen (re)produzieren das, was wir als Aspekte einer Struktur − in diesem Fall der Sprache − beobachten können. Die Fokussierung der analytischen Perspektive auf historisch-spezifische Strukturen, mit dem Ziel, innerhalb dieser den Teilbereich von Macht, Herrschaft und „strategisch orientierte[r] Praxis“ (Müller 1992: 347) zu untersuchen, ließe sich zweifelsohne auch im Hinblick auf den Gegenstandsbereich der Sprache als eine Art produktiver Reduktionismus fruchtbar machen − und zwar insofern, als dadurch der soziologisch relevante Zusammenhang von gesellschaftlichem Sprachgebrauch und der Verfestigung handlungseinschränkender Möglichkeitsräume in den Mittelpunkt der Analyse rückte (Hartmann 2006). Erst in der stets habitualisierten Konkretion von Machtwirkungen in Form von performativen Praktiken gibt sich der dynamische Aspekt von sozialer Macht zu erkennen: „Macht wird vor allem dort sichtbar, wo mit Hilfe von performativer Magie in ritualisierten Handlungsabläufen Praxis gestaltet wird. Das Performative […] zeigt sich vor allem in autoritären und autorisierten Sprachritualen, in denen eine Koinzidenz von Normativität und Konstativität, von Moralität und Essenialität, erzeugt wird: Menschen sollen zu denen werden, die sie sind“ (Wulf, Göhlich und Zirfas 2001: 17). Eine als nicht kontingent erlebte und anerkannte Sicht auf die soziale Welt ist nicht zuletzt durch den sozial organisierten Gebrauch von Sprache immer schon auf die Erzeugung von „paradigmatischen Erkenntnisgrenzen“, auf die Zuschreibung
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte sozialer Rollen und Identitäten und auf die Einführung „grundlegender Unterscheidungen“ ausgerichtet (vgl. Wirth 2002: 36). In dieser sprachtheoretischen bzw. sprachkritischen Position liegt unseres Erachtens der substanzielle Kern der von Bourdieu entwickelten sprachsoziologischen Perspektive, die sich als durchaus anschlussfähig für all jene wissenschaftlichen Bemühungen erweisen dürfte, die das komplexe Verhältnis zwischen Sprache und Kultur soziologisch näher zu bestimmen trachten. Der sprachsoziologische Ansatz von Bourdieu erweist sich dabei als vielversprechender Ausgangspunkt für eine zu entwickelnde Praxeologie der Sprache, die ihr Augenmerk auf den Entstehungszusammenhang des Sprechens als wirklichkeitskonstituierende Dimension des Sozialen richtet.
5. Literatur (in Auswahl) Austin, John Langshaw 1979 Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam. Austin, John Langshaw 1986 Performative Äußerungen. In: ders., Gesammelte philosophische Aufsätze, übers. u. hg. v. Joachim Schulte, 305−327. Stuttgart: Reclam. Bourdieu, Pierre 1976a Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 1976b Die politische Ontologie Martin Heideggers. Frankfurt a. M.: Syndikat. Bourdieu, Pierre 1977 Lʼéconomie des échanges linguistiques. In: Langue française 34, 17−34. Bourdieu, Pierre 1987 Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 1990 Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller. Bourdieu, Pierre 1992 Tout est social. Gespräch mit Pierre-Marc de Biasi. In: Magazine littéraire 303, 104−111. Bourdieu, Pierre 1993 Was sprechen heißt. In: ders., Soziologische Fragen, 91−106. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 2001 Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 2002 Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre und Luc Boltanski 1975 Le fétichisme de da langue. In: Actes de la recherche en sciences sociales 4, 2−32. Bourdieu, Pierre und Loïc Wacquant 1996 Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bouveresse, Jacques 1993 Was ist eine Regel? In: Gunter Gebauer und Christoph Wulf (Hg.), Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, 41−56. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Encrevé, Pierre 2003 La Parole et son Prix. In: Pierre Encrevé und Rose-Marie Lagrave (Hg.), Travailler avec Bourdieu, 257−266. Paris: Flammarion. Gebauer, Gunter 2005 Praktischer Sinn und Sprache. In: Catherine Colliot-Thélène, Etienne François und Gunter Gebauer (Hg.), Pierre Bourdieu. Deutsch-Französische Perspektiven, 137−164. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
13. Sprache in der bourdieuschen Kultursoziologie Hartmann, Eddie 2006 Praxeologie als Sprachkritik. Ein kritischer Beitrag zur Sprachsoziologie Pierre Bourdieus. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Hartmann, Eddie 2011 Strategien des Gegenhandelns. Zur Soziodynamik symbolischer Kämpfe um Zugehörigkeit. Konstanz: UVK. Hartmann, Eddie 2012 Der Forscher als Exot. Fremdheit als Ressource praxeologischer Feldforschung. In: Stefan Bernhard und Christian Schmidt-Wellenburg (Hg.), Feldanalyse als Forschungsprogramm. Bd. 1: Der programmatische Kern, 243−264. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Müller, Hans-Peter 1992 Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs u¨ber soziale Ungleichheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Müller, Hans-Peter 2014 Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung. Berlin: Suhrkamp. Raphael, Lutz 1987 Die Ökonomie der Praxisformen. Anmerkungen zu zentralen Kategorien P. Bourdieus. In: Prokla 68, 152−172. Schmidt, Robert und Volker Woltersdorff (Hg.) 2008 Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Konstanz: UVK. Schwingel, Markus 1993 Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Bourdieus. Hamburg: Argument. Trabant, Ju¨rgen 2002 Das tote Gerippe und die Arbeit des Geistes. Überlegungen im Anschluss an Humboldt. In: Ekkehard König und Sybille Krämer (Hg.), Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, 76−96. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Trabant, Ju¨rgen 2003 Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. München: C. H. Beck. Wirth, Uwe 2002 Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität. In: ders. (Hg.), Performanz − Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, 9− 60. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wulf, Christoph, Michael Göhlich und Jörg Zirfas (Hg.) 2001 Grundlagen des Performativen − Eine Einfu¨hrung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim/Mu¨nchen: Juventa.
Hans-Peter Müller, Berlin (Deutschland) und Eddie Hartmann, Potsdam (Deutschland)
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I. Language – discipline – culture: conceptual clarifications and disciplinary histories
14. Clifford Geertz on language and theory of culture 1. Ethnography in the light of history 2. From domesticating the other to listening without understanding 3. Selected references
1. Ethnography in the light of history Clifford Geertz began his career in the 1950’s, during the time of decolonization. He first worked in Java with a group of anthropologists and a linguist, making studies of a range of cultural topics: religion, kinship, economic life and so on. The culture of Java was studied with something close to completeness. But certain topics were not included. There was little reference to Javanese texts by comparison with previous Dutch studies. Later, textual studies under the sign of orientalism were said to offer frozen, ahistorical pictures, leaving aside in particular the lives of those lower on the social scale. And there was nothing about material culture, which had had a secure place in an earlier anthropology that had originated in museums. There was nothing similar to Franz Boas’ Primitive Art (1927). Boas had been the most important figure of his time in the discipline and was Geertz’ most important precursor. Primitive Art, mainly about the art of the American Northwest Coast, uncovered principles of the relation of elements to each other in pictorial representations. A reader could make sense of Indian imagery by seeing that its reference to the ordinary visual world was secondary to a logic specific to a particular culture (Paul Rabinow develops the comparison of Boas and Geertz [Rabinow 2011: Chapter One]). The encyclopedic quality of Geertz’s first studies would have pleased Boas. But the assumptions of Geertz and his colleagues were quite different. There was nothing in Boas like Geertz’ attempt to find a source of economic take off in a modernist Islam that, as he saw it, contained tendencies similar to those described in Weber’s Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism. Decolonization demanded that one see culture as part of history. Geertz’s Agricultural Involution (1973) showed that not merely the patterns of Javanese social structure but the quality of life within them depended on political and historical circumstances. Dutch policies based on a dual economy − on the one hand, the economy of the world market, on the other, the subsistence economy of peasants − were an attempt to keep Javanese confined to the latter- their labor aside − shielded from the modernizing influences of the first. The result was fragmentation of labor practices and rights to land use. Social relations were hollowed out and less viable. The shell of the original forms of relation persisted, propped up by a colonial policy. Had the Javanese been allowed to take part fully in the market economy, there would have been a gradual transformation of social structure. In place of an underlying cultural logic which persisted throughout time, the patterns of Java had to be seen as historically produced, thus subject to change. Boas’ holistic approach to culture allowed culture to be understood by clarifying the internal logic of a culture. Geertz and others of his time showed that forces of the same nature as those pertained in the place where the interpretation was made were at work in the places studied. In place of fixed codes − either cultural or those of a universal logic − other cultures made sense in terms
14. Clifford Geertz on language and theory of culture that were familiar to his readers. In his famous essay on the Balinese cockfight Geertz showed that what seemed to be merely the battle of two cocks on which Balinese men bet showed the Balinese what it meant for a “man to be brought low […]” in their strictly hierarchical society (Geertz [1972] 2005). He saw this as a way the Balinese had for telling themselves essential qualities of their society in specifically Balinese terms. These terms were made available also to readers in distant cultures. The foreignness of others was ameliorated by being made readable. The nature of the forces at work was not codified. One does not find structuralist oppositions or the like underlying Geertz’s observations. He was closer to Boas than one might have thought: culture was everywhere and the forms it took seemed infinitely various. But this formulation grievously neglects the richness of Geertz’s interpretations, his ability precisely to pull references distant from each other close together. Few if any before him or since have found classically connotated forms in Bali.
2. From domesticating the other to listening without understanding From the start anthropology has been a domesticating enterprise, showing that peoples whose presumed wildness sometimes put their very humanity in doubt had a place in human society. Geertz, as one of the chief figures bringing the peoples of the earth into history, thus making them comparable to those who studied them in contemporary terms, can be seen as part of an evolving mission animating anthropology. In the generation before Geertz, one could find books with titles such as Our Primitive Contemporaries (Murdoch 1934). In the assumptions of the time, primitives lived in their own terms apart from “us”. Anyone brave enough to visit them would need an anthropologist to explain what they were about. Language would have been a secondary difficulty, translation remaining unproblematic. Their lives were often taken as survivals of a sort, as the title of Murdoch’s book suggested. Comprehending their words could lead simply to bewilderment unless one could reach to an underlying pattern of some sort. Such a pattern would have been considered stable for long periods of time had it not been disrupted by “contact” with people like “us”. Once a political question arose, such peoples were found to need someone to speak for them. Even under colonialism, anthropologists had filled this role. Ethnographers’ explanations of the aims of peoples’ lives could reinforce colonial rule but they eventually worked against it. The means of doing this were not in themselves necessarily political. The force of their efforts depended not so much on interpreting political aims but on finding points which were certain to be misunderstood if taken at face value by those foreign to the culture, impeding support for such peoples. A spectacular example is the defense of witchcraft made by British anthropologists in Africa, made to protect peoples practicing it against colonial authorities. Geertz’s equivalent was his presentation of difference of beliefs as confrontation. The capacity of social science to absorb what anthropologists found was brought to a limit. At its strongest, in The Religion of Java he showed himself listening to someone telling him of the magical powers of his grandfather. Dutch authorities arrested this man during the revolution. Brought to jail accompanied by his pupils, he was put in a cell. His pupils returned home, ready for a lesson.
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I. Language – discipline – culture: conceptual clarifications and disciplinary histories He was there waiting for them and simultaneously he was in his cell. Had Boas collected this story he would have put it under the category myth or perhaps discarded it as singular or ephemeral. Geertz’s account, however, begins “I talked to Djojo on the corner the other night about his marvelous grandfather […]” (Geertz 1960: 89). Geertz’ story is told as heard in a context abstracted from the formal settings of the recitations of myth. The corner we know only to be in the town where Geertz made his study. It is a public place, given a definition, an articulation of streets, that belongs as much to Boston as to Modjokuto. “The other night” has no date. The phrase conjures up a listener to the story who knows Geertz. Geertz’ story of hearing a story is part of his notes, addressed to himself to be used later. We are not told that Geertz, the person who listened to Djojo, questioned Djojo about the event. He does not ask how was it possible. Nor does the Geertz who listened to himself relate what happened “the other night” as he wrote his notes do anything but record. But the record he writes lacks the neutrality of a tape recording. There is a person who remembering what happened to him a short time before tells himself first of all about it. The opportunity to speculate on how such an event was possible is passed over. By whom? How could Geertz tell of an experience that he expects no one who reads his account will believe and not show his own disbelief? But Geertz, who read what he wrote later as he constructed the book for unnamable persons who, for that matter, still read the story, shows not the slightest sign of cynicism. At best, it is as though Geertz, oceans away from those for whom he writes and who might read it a century or longer afterwards says, listen to this. But even this supposition has to be discarded if it is taken to mean that Geertz the teller distinguishes himself from any of his listeners, first of all another version of himself and after that from any one of his possible listeners at any time. For this reason the tonality of his account is indescribable. Tonality could locate him socially and personally. The lack of it here does not leave dryness. Rather there is the tension between senders and receivers as all of them take in what they cannot believe. Djojo himself should be included in the last formulation. He is not an example of how Javanese think or believe. The chapter in which he occurs is titled “Curing, Sorcery and Magic”. But the story occurs in the book because of the accident of Djojo wanting to tell him about “his marvelous grandfather.” The book is as much about the arbitrariness of classification as it is about what, arranged in classes, people said that, in the end, amounts to the religion of Java. The Djojo Geertz runs into on a street corner is not first of all believer in Javanese religion (if indeed there is such a thing.) There is an accidental meeting, Djojo speaks, Geertz listens. If you can take in what Djojo said you might learn about the religion of Java or you might not be able to say what you learned. The incredible account is easily dismissed as their belief. But Geertz wrote that book in order to show that the categories of religious belief could not be assured. He included vast amounts of his notes to show that whatever generalizations about the religion of Java one made started in moments such as this one. These moments could only be confusing unless one catagorized them. In this instance, Geertz went on to speak of the place of magicians in Java. The story itself however stands as the point where categorization falsely or at least arbitrarily originates. Geertz certainly did not believe the story but he did not challenge it, nor at that point did he domesticate it by classifying it. He allows Djojo to be assured of its truth, thus to stand firm in his assumptions. The difference between Geertz and Djojo is widened from that between any two individuals to two persons infinitely separated by a
14. Clifford Geertz on language and theory of culture cultural divide. Anthropology sometimes is said to be “the study of the other”. Here otherness itself and not its content is bared. Nonetheless, something passed between other and I and that happened again in different settings as the story is retold. There is no indication of understanding nor of misunderstanding. There was a willingness to hear what could not make sense. Out of this relation and others like it, a book appeared which more than a half-century later remains necessary for anyone interested in Indonesia. The story creates sympathy. The reader no doubt envies Geertz the possibility of standing on that street corner at that moment, enjoying what chance brought him. It is not the analysis that matters but the possibility of inclusion of someone so other that many would have diverted attention from the moment of no understanding by speaking of mysticism or magic or perhaps thought of it as not worth analysis − a mere fait divers, the story lacking significance. Geertz leaves the story alone, not even drawing attention to the chance nature of the encounter even though a truly unbelievable story can only be come across by chance. Such a story would be mere exoticism except that one sees Geertz taking it in and grants him the possibility of doing so and so finds oneself in his situation. The result is the inclusion in the mind of the reader of the other despite the impossibility of understanding him. The aim of anthropology is accomplished by side skirting theory and the differences between languages. Geertz spoke Javanese in this story while his paraphrase made some time soon after he heard it is in English. Some of the later stories contained more Javanese than English. The Javanese was translated into English for publication (Geertz 1960: 385). The question of language raised is not translation or the differences between Javanese and English, but language itself as that which operates between the two in a pure form, carrying forward something not capable of being understood then or later in any serious sense and yet somehow accepted. Had Geertz belonged to a later generation perhaps he would have questioned this possibility. As it stands, his reliance on language, on listening and, in doing so, generating a text, rested on Geertz’ remarkable capacity to hear what others missed. It stands in place of the certainty and the clarity of a method and with it a theory of culture that a method might have generated. Geertz moved away from ethnography after working in Java, Bali and Morocco. He developed ideas of hermeneutic interpretation that influenced literary studies. His study of culture retained codes specific to particular places and times. The transmissibility of language ultimately made his hermeneutics an epiphenomenon.
3. Selected references Boas, Franz 1927 Primitive Art. Oslo: Aschehoug & Co./Cambridge, MA: Harvard University Press. Geertz, Clifford 1960 The Religion of Java. Glencoe, IL: The Free Press. Geertz, Clifford 1963 Agricultural Involution. The Process of Ecological Change in Indonesia. Berkeley: University of California Press. Geertz, Clifford [1972] 2005 Deep Play. Notes on the Balinese Cockfight. In: Daedalus 134(4), 56−86.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Murdock, George Peter 1934 Our Primitive Contemporaries. New York: The Macmillan Company. Rabinow, Paul 2011 The Accompaniment. Assembling the Contemporary. Chicago: University of Chicago Press.
James Siegel, Paris (France)
15. Sprache und Kultur in der Systemtheorie Luhmanns 1. Einleitung 2. Kommunikation 3. Medien
4. Sprache 5. Kultur 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Welchen Stellenwert haben Sprache und Kultur in der Systemtheorie von Niklas Luhmann? Während Sprache als ein wichtiges Medium der Kommunikation gilt − und Kommunikation ist der zentrale Grundbegriff für die Bestimmung sozialer Systeme −, kommt dem Kulturbegriff nur eine marginale Bedeutung zu. Sprache und Kultur werden von Luhmann nicht als System gefasst, weder als Zeichensysteme noch als Systeme von Bedeutungsträgern oder Regeln (Grammatik). Nur Bewusstseinsprozesse (psychische Systeme) und Kommunikationsprozesse (soziale Systeme) haben Systemcharakter. Die Grundoperation sozialer Systeme ist Kommunikation. Sie bedient sich verschiedener Medien, insbesondere der Sprache. Sprache ist wichtig als Medium, um die Wahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation zu erhöhen. Vor allem für kleine Sozialsysteme (Interaktionssysteme, etwa flüchtige Begegnungen) ist gesprochene Sprache das wichtigste Medium. Bei sozialen Systemen mit Organisationscharakter rückt die verschriftlichte Sprache in den Vordergrund, bei großen Funktionssystemen (Wirtschaft, Recht usw.) werden Sprache und Schrift durch sogenannte Erfolgsmedien ergänzt. In der Theorie Luhmanns sind Systeme keine statischen Gebilde mit starren Strukturen, sondern aktive, dynamische Gebilde, die operieren. Das gilt für lebende Systeme (biologische Organismen) genauso wie für Sinnsysteme (soziale und psychische Systeme). Der „Sinn“ von Systemen ergibt sich daher vor allem im Vollzug der Elementaroperationen in der Zeit: Nur solange Systeme eine zeitliche Ausdehnung haben, existieren sie. Ihr „Sinn“ besteht zunächst einfach darin, weiter zu operieren und damit Gesellschaft in Gang zu halten. Luhmanns Theorie kann als Differenztheorie bezeichnet werden: Systeme entstehen durch eine Operation, mit der eine Differenz zwischen System und Umwelt markiert wird. Operationen können beobachtet werden; mit Beobachtungen wird ebenfalls eine Differenz markiert.
15. Sprache und Kultur in der Systemtheorie Luhmanns Kommunikation ist strikt sozial, Luhmann grenzt soziale Systeme (mit Kommunikation als Basisoperation) von psychischen Systemen (mit Bewusstseinsakt als Basisoperation) ab, beides sind jedoch Sinnsysteme. Kommunikation ist nicht, wie in anderen Theorien, nach einem Sender-Empfänger-Modell der Übertragung von Informationen konzipiert. Vielmehr ist Kommunikation für Luhmann ein mehrstufiger Prozess, dessen Elemente mit den Begriffen Information, Mitteilung und Verstehen umschrieben werden. Erst wenn ein Kommunikationsversuch zu Anschlusskommunikation führt, ist er erfolgreich. Sprache ist das wichtigste Medium der Kommunikation. Als solches hat sie die Funktion der „symbolischen Generalisierung von Sinn“ (Luhmann 1984: 137). Als wichtige Eigenschaft der Sprache hebt Luhmann die Möglichkeit der Ja/Nein-Unterscheidung hervor (Luhmann 1984: 513). Trotz ihrer großen Bedeutung für die Ausdifferenzierung von Kommunikation gehört Sprache jedoch nicht zu den systemtheoretischen Basisbegriffen. Auch Kultur ist kein elementarer Grundbegriff der Systemtheorie. Luhmann hat geradezu vermieden, den Kulturbegriff in sein systemtheoretisches Vokabular aufzunehmen. Er hat sich weder der Bestimmung von Talcott Parsons angeschlossen, Kultur als ein Teilsystem der Gesellschaft (mit der wichtigen Funktion der Wertetradierung und Konsensbeschaffung) zu konzipieren, noch der verbreiteten Auffassung, Kultur als Symbolsystem zu begreifen. Moderne Kultur ist vor allem Kontingenz und Relativität. Alles Kulturelle könnte auch anders sein und fordert deshalb zum systematischen Vergleich heraus. Daher gibt es auch keine Favorisierung einer bestimmten Kultur, weder als Hochkultur noch als „westliche“ Kultur. Im Folgenden werden vor dem Hintergrund der einleitenden Bemerkungen wichtige Elemente der luhmannschen Systemtheorie näher erläutert: Kommunikation, Medien, Sprache und Kultur.
2. Kommunikation Es sind nicht die Menschen (oder Subjekte oder Individuen), die kommunizieren. Der Mensch kann nicht die Basiseinheit von sozialen Systemen und damit von Gesellschaft sein. Für Luhmann ist der Mensch keine Ganzheit; als lebendes Wesen ist er ein biologisches System und als wahrnehmendes und denkendes Subjekt ist er ein psychisches System. In beiderlei Hinsicht kann er nicht kommunizieren, ist aber notwendige Voraussetzung für die Entstehung von sozialen Systemen, d. h. von Kommunikationssystemen. Psychische Systeme − oder gar individuelle Gehirne − können nicht direkt miteinander kommunizieren (sozusagen von „Geist zu Geist“ bzw. von „Hirn zu Hirn“), sondern erst durch ihre Kopplung an soziale Systeme. Soziale Systeme prozessieren, entstehen und erhalten sich durch Kommunikation. Luhmann spricht jedoch von Personen als Adressaten der Kommunikation oder benutzt die Terminologie Alter/Ego, sodass man in einem umgangssprachlichen Sinn von zwei miteinander kommunizierenden Einheiten sprechen kann. Aber Kommunikation ist keine „Handlung“ von Personen oder Akteuren, sondern entwickelt sich als eigenständige Systemebene, die sich gewissermaßen der Personen bedient. Kommunikation erfolgt nur im sozialen System nach dessen Eigenlogik (Autopoiesis), lässt sich aber von psychischen Systemen bzw. von Personen anregen, irritieren
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte und stimulieren. Ein Mensch, der (im umgangssprachlichen Sinn) kommunizieren will, kann also nur einen Impuls geben, den das soziale System aufgreifen und nach seiner Eigenlogik verarbeiten kann. Das „Ergebnis“ der Kommunikation ist niemals identisch mit den Absichten von Individuen und erzeugt immer einen Sinnüberschuss gegenüber den Gedanken der beteiligten Personen. Kommunikation wird nicht nach dem Sender-Empfänger-Modell der Informationstheorie konzipiert, sondern als dreistufiger Prozess. Die Bestandteile dieses Prozesses sind Information, Mitteilung und Verstehen. Information ist der übermittelte Sinngehalt, während Mitteilung meint, dass Ego bei Alter eine Mitteilungsabsicht erkennt. Verstehen bedeutet, dass Ego die Differenz von Information und Mitteilung versteht, also unterscheiden kann zwischen einem Informationsgehalt und einem Kommunikationsangebot. (Man könnte auch an die Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsaspekt bei Watzlawick denken.) „Verstehen“ bezieht sich also nicht auf den semantischen Gehalt einer Äußerung, sondern nur auf das Erkennen, dass eine Äußerung sowohl ein Kommunikationsangebot ist als auch einen Inhalt hat. Dies schafft Motivation für Anschlusskommunikation, etwa wenn man neben dem Inhalt einer Äußerung („Es ist kalt draußen“) die besorgte Anteilnahme des Ehepartners erkennt.
3. Medien Medien der Kommunikation haben die Aufgabe, die Emergenz und das Gelingen von Kommunikation sicherzustellen, die auf einer elementaren Ebene unwahrscheinlich sind (Luhmann 1984: 216 ff.). Die Annahme der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation geht aus vom Problem der doppelten Kontingenz: Wie kann Alter wissen, was Ego beabsichtigt, und wie kann Ego wissen, ob Alter weiß, was Ego beabsichtigt? − und umgekehrt. Wie können unter diesen Umständen Lebewesen ihre Weltsicht koordinieren? „Versetzt man sich auf den Nullpunkt der Evolution zurück“ (Luhmann 1984: 217), dann ist das Gelingen von Kooperation − von koordinierter Selektivität von Kommunikationsoptionen − unwahrscheinlich. Anders gesagt: Die Kommunikation muss Hindernisse überwinden, damit sie überhaupt zustande kommt (Luhmann 1984: 217). Drei Formen von Unwahrscheinlichkeiten lassen sich drei Arten von Medien zuordnen. Die erste Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Problem, wie man (in einer face-to-face-Situation) überhaupt verstanden werden kann, wo doch jedes Individuum seine eigene, ganz idiosynkratische Wahrnehmungswelt (Bewusstsein) hat. Erfolgreiche Kommunikation wird auf dieser Ebene wahrscheinlicher durch das Medium der Sprache. Die zweite Unwahrscheinlichkeit bezieht sich auf das Erreichen von Adressaten der Kommunikation, wenn diese nicht unmittelbar in der Situation anwesend sind. Hier helfen Verbreitungsmedien, die Kommunikation wahrscheinlicher zu machen: Schrift, Buchdruck, Massenmedien, Internet. Sie verstärken die Wahrnehmung der Differenz zwischen Information und Mitteilung (Luhmann 1984: 223): Die Mitteilungsabsicht eines Briefes ist unabhängig von seinem Inhalt deutlich. Die dritte Unwahrscheinlichkeit der Initiierung und des Erfolgs von Kommunikation bezieht sich, unter Bedingungen der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, auf die Frage, wie in spezifischen Funktionssystemen − Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. − Anschlusskommunikation erleichtert wird. Dazu dienen die symbolisch generalisierten
15. Sprache und Kultur in der Systemtheorie Luhmanns Kommunikationsmedien, auch „Erfolgsmedien“ genannt. Die Grundidee hierzu stammt von Talcott Parsons. Im Wirtschaftssystem ist Geld dieses Medium, in der Politik ist es Macht, im Intimsystem ist es Liebe. Diese Medien erleichtern Kommunikation, weil sie in ihrem jeweiligen Kontext direkte sprachliche Kommunikation überflüssig machen. In Bezug auf intime Beziehungen bedeutet dies, dass sich spezifische kulturelle Formen von Liebe (und Sexualität) erst entwickeln, wenn sich ein entsprechendes Medium mit zugehöriger Semantik entwickelt hat: Ohne Liebesromane und Liebesfilme hätten die Menschen größere Schwierigkeiten, das Gefühl der Liebe bei sich zu entdecken.
4. Sprache Luhmann hat keine eigenständige Sprachtheorie ausformuliert (Luhmann 1997: 112). Er behandelt Sprache vorwiegend als grundlegendes Medium der Kommunikation (Luhmann 1997: 205 ff.) mit der Funktion, das Zustandekommen von Kommunikationsprozessen wahrscheinlicher zu machen. Sprache ist unentbehrlich zur Ausbildung von sozialen Systemen (Luhmann 1984: 210). Zwar gibt es auch sprachlose Kommunikation − aber, sie zu verstehen, wäre ohne die Erfahrungen mit Sprache kaum möglich (Luhmann 1997: 205). Während gesprochene Sprache für das Gelingen der Kommunikation in flüchtigen Sozialsystemen ausreicht, bedienen sich komplexere Systeme zusätzlich der schriftlichen, der visualisierten Sprache (sowie weiterer Medien). Luhmann grenzt sich von denotativen Zeichentheorien ab. Zwar ist Sprache auch für ihn durch Zeichengebrauch charakterisiert, doch ihr Sinn besteht nicht in der Verweisung auf eine nichtsprachliche Realität. Die eigentliche Funktion der Sprache „liegt in der Generalisierung von Sinn mit Hilfe von Symbolen, die − im Unterschied zur Bezeichnung von etwas anderem − das, was sie leisten, selbst sind (Luhmann 1984: 137). Damit ist gemeint, dass Laute und Worte ihre Bedeutung nur im Kontext von Kommunikationsprozessen erhalten. „Nur in ihrer Funktion als Kommunikationsmedium ist die Sprache an Codierung, also an akustische bzw. optische Zeichen für Sinn gebunden“ (Luhmann 1984: 137). Die Sprache wird von Luhmann also nicht als eigenständiges Zeichensystem mit einer Verweisungsfunktion auf die nichtsprachliche Welt betrachtet. „Sprache hat keine eigene Operationsweise, sie muss entweder als Denken oder als Kommunizieren vollzogen werden“ (Luhmann 1997: 112). Deshalb ist Sprache kein System im luhmannschen Sinn. Sie ist auf soziale oder psychische Systeme angewiesen. Wenn dieser Bezug auf Kommunikationsprozesse ausbliebe, „würde sofort jedes Sprechen aufhören und bald darauf auch nicht mehr sprachlich gedacht werden können“ (Luhmann 1997: 112). Sprache wird von (sozialen und psychischen) Systemen genutzt, um deren eigene Operationen (Kommunikation, Gedanken) zu strukturieren und Reflexivität zu gewinnen (Baraldi, Corsi und Esposito 1997: 183). Sprache bildet außerdem das Scharnier zwischen Bewusstsein und Kommunikation. Mit Sprache können psychische Systeme (Bewusstseinssysteme) an soziale Systeme (Kommunikationssysteme) strukturell gekoppelt werden (Luhmann 1997: 108). Sie ist das Medium sowohl der Kommunikation (in sozialen Systemen) als auch der Formulierung von Gedanken (in psychischen Systemen). Mittels Sprache kann das psychische System an Kommunikationen teilnehmen. Die grundlegende Operation des psychischen
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Systems ist aber nicht sprachlich, ist nicht Kommunikation: Denken ist nicht „inneres Reden“ mit einem zweiten Ich (Luhmann 1984: 367). Sprache hilft jedoch, Gedanken zu strukturieren. Luhmann betont, mit Verweis auf Humboldt, dass die Gedanken eines psychischen Systems, das sich an Kommunikation beteiligt, nie ganz übereinstimmen mit der Kommunikation oder gar den Gedanken anderer an der Kommunikation Beteiligter (Luhmann 1997: 109). Als besonders wichtig hebt Luhmann die binäre Ja/Nein-Codierung der Sprache hervor. Sprachliche Kommunikation kann angenommen oder abgelehnt werden (Luhmann 1984: 513, 1997: 113), jede Aussage kann negiert werden. „Aller Sinn kann in einer Ja-Fassung und in einer Neinfassung ausgedrückt werden“ (Luhmann 1997: 113). Das schafft die Möglichkeit der Verdopplung aller Aussagemöglichkeiten (Luhmann 1984: 602). Das schafft vor allen Dingen Möglichkeiten für Anschlusskommunikationen, für Widerspruch und Einwände, für Reflexion und Ausdruck von Skepsis (Luhmann 1997: 221 ff.). Ohne die Negationsmöglichkeit jeden Sinns wäre soziokulturelle Evolution kaum vorstellbar. „Wir übertreiben nicht, wenn wir festhalten: Die Sprachcodierung ist die Muse der Gesellschaft“ (Luhmann 1997: 225). Die Möglichkeit, „Nein“ zu sagen, ist eine Fähigkeit der Sprache, nicht eine Fähigkeit des subjektiven Bewusstseins. Die Wahrnehmung von psychischen Systemen kann nicht negatorisch sein: Was man nicht wahrnehmen kann, kann man eben nicht wahrnehmen − aber man kann dies in der Sprache formulieren: „Ich sehe keine Wolken“ oder „Das Auto war nicht blau“. Die „Erfindung der Negation“ bzw. die Ja/Nein-Codierung ist der wesentliche Variationsmechanismus in der Evolution von Sprache (Luhmann 1997: 459) − und Sprache ist der Variationsmechanismus der Evolution von Gesellschaft: Sie erlaubt ständige und unendliche Erweiterungen von Kommunikationen. Aus der Negationsmöglichkeit leitet Luhmann seine Kritik an der Konsenstheorie (etwa jener von Habermas) ab. „Das schließt es, ernst genommen, aus, aus der Sprache selbst eine Idealnorm des Bemühens um Verständigung abzuleiten“ (Luhmann 1997: 229). Für gelingende Kommunikation ist nach dieser Auffassung nicht der Konsens wichtig, sondern der Dissens, der zu kommunikativen Auseinandersetzungen führt: Nur die Negation treibt die Kommunikation immer wieder an und hält damit Gesellschaft in Gang. Dies macht auch deutlich, dass für Luhmann soziale und psychische Systeme durch Bewegung und „Unruhe“ gekennzeichnet sind, nicht durch Stabilität, Ordnung und Konsens.
5. Kultur Wie schon erwähnt, gehört der Kulturbegriff nicht zu den Grundbegriffen der Systemtheorie. Die Systemtheorie ist insofern keine „Kulturtheorie“ (Burkart 2004, 2007). Luhmann hat sich zum Kulturbegriff nur an wenigen Stellen seines umfangreichen Werkes geäußert − und dann eher skeptisch, was die Brauchbarkeit des Begriffs angeht. „Kultur“, so heißt es einmal, sei einer der „schlimmsten“ Begriffe, die je gebildet wurden − und die Beobachtung von Religion oder Kunst als Kultur habe „verheerende Folgen“ gehabt (Luhmann 1995b: 341). Der Kulturbegriff wird von Luhmann zunächst als historischer Begriff analysiert, der für die Selbstbeschreibung der modernen Welt wichtig wurde. Im Zentrum dieses
15. Sprache und Kultur in der Systemtheorie Luhmanns modernen Kulturbegriffs, der im 18. Jahrhundert aufkam, stehen nicht Symbole oder Werte, sondern Unterscheidungen und damit die Operation des Vergleichens. Es entsteht ein allgemeines Interesse am Vergleich: Alles wird zu Kultur, wenn es nur vergleichend beobachtet wird. Damit rückt Kontingenz in den Vordergrund. Kultur könnte immer auch anders sein. Der moderne Kulturbegriff − in der luhmannschen Interpretation − betont die Relativität von Sinn. Mit „Kultur“ ist also weder eine Nationalkultur gemeint noch ein Sachbereich, dessen historische Ausdifferenzierung beobachtet werden könnte, wie etwa Literatur oder Kunst, sondern eher eine Haltung der Moderne − eine Grundhaltung der Kontingenz und Relativität, die eine sachliche Fixierung des Gegenstandsbereichs Kultur gerade verhindert (Luhmann 1995a: 51, 54). Aber auch eine Haltung, der das Risiko innewohnt, das Authentische, das Ursprüngliche, das Eigentliche durch Relativierung und Reflexion zu zerstören. Im Rahmen der Theorie sozialer Systeme wird Kultur zunächst als „Themenvorrat“ für kommunikative Prozesse definiert. Statt von „Kultur“ ist von Semantik die Rede, wenn Themenvorräte für Kommunikationszwecke aufbewahrt werden (Luhmann 1984: 224). (Gelegentlich ist auch von gepflegter Semantik die Rede, wenn es um besonders bewahrenswerte Semantik geht [Luhmann 1980: 19].) Kultur ist somit eine Art Sinnfilter, ein Selektionsinstrument für anschlussfähige Themen. Kultur ist, solange nicht kommuniziert wird, nur ein Potenzial − erst durch Aktualisierung von thematisch gebündeltem „Rauschen“ entsteht Sinn. Kultur wird gesellschaftlich also erst relevant in der Aktualisierung, als Gegenstand von Kommunikation. Luhmann hat weitere Termini entwickelt, die zwar nicht im engeren Sinne zur Theorie sozialer Systeme gehören, aber gleichwohl Platzhalter oder Synonyme für „Kultur“ sind. Dazu zählt der Begriff Ideenevolution, mit dem plausibel gemacht werden soll, dass − als Zusammenspiel von Gesellschaftsstruktur und Semantik − die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen und die Entwicklung der Verbreitungsmedien (Schrift, Buchdruck, Massenmedien) tief greifende Veränderungen der Semantik nach sich gezogen haben (Luhmann 1997: 536 ff.). Von Semantik und Ideenevolution führt ein direkter Weg zu Selbstbeschreibungen. Damit sind Texte bezeichnet, die eine Vielzahl von Selbstbeobachtungen des Gesellschaftssystems koordinieren und bündeln (Luhmann 1997: 866 f., 879 ff.). Wenn Gesellschaft die Gesamtheit aller Kommunikationen ist, dann ist Kultur die Gesamtheit der diese Kommunikationen begleitenden Selbstbeschreibungen, die seit dem 18. Jahrhundert immer bedeutsamer geworden sind. Auf der Suche nach einem systemtheoretisch erneuerten Kulturbegriff spricht Luhmann in den späten Schriften von Kultur als dem Gedächtnis der Gesellschaft und schafft damit Anschlussmöglichkeiten an die inzwischen breit gefächerte Gedächtnisdebatte − die allerdings für das Festhalten am Speicherbegriff kritisiert wird (Luhmann 1997: 578). Gedächtnis ist kein Archiv oder Wissensspeicher, es geht nicht um ein Hinabsteigen oder Zurückgehen in die Vergangenheit, um „dort“ etwas zu suchen und heraufzuholen. „Gedächtnis“ ist vielmehr eine Operation des Systems − bei sozialen Systemen also eine Kommunikation − und als solche immer nur in der Gegenwart möglich, auf Basis der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Seine Hauptfunktion liegt im Vergessen, „im Verhindern von Selbstblockierungen des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen“ (Luhmann 1997, 579). Gedächtnis ist ein Instrument zur Konsistenzprüfung, das soziale Systeme zur Herstellung von als identisch wahrnehmbaren, wiederholbaren Ereignissen heranziehen können. Das Gedächtnis testet alle anlau-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte fenden Operationen, um zu unterscheiden, was zum bewahrenswerten Themenvorrat gehören soll und was zurückgelassen werden kann, und setzt so durch Vergessen Kapazitäten frei. Kultur (als Gedächtnis der Gesellschaft) ist keine Lagerhalle der Symbole, sondern ein Seismograph der Zukunft. Deshalb hat die Systemtheorie Schwierigkeiten mit jedem Kulturbegriff, der sich vor allem als Bestand von Tradition − Kultur im Museum, in den Bibliotheken − versteht. Auch die Gleichsetzung von gespeicherten Informationen (z. B. im Internet) mit Gedächtnis der Gesellschaft wäre verfehlt. Ein Computer hat kein Gedächtnis, er kann nicht vergessen, deshalb kann er sich auch nicht erinnern. Eine weitere, von Luhmann nur angedeutete Bestimmung ist, Kultur als eine Art Universalmedium des sozialen Systems Gesellschaft anzusehen − so wie Sinn ein Universalmedium für soziale und psychische Systeme ist (Hahn 2004). „Im Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien − der Sprache, der Verbreitungsmedien und der symbolisch generalisierten Medien − kondensiert das, was man mit einem Gesamtausdruck Kultur nennen könnte“ (Luhmann 1997: 409). Hintergrund dieser Idee sind Überlegungen zu Kondensierung und Konfirmierung (Luhmann 1997: 408 ff.). Der Grundgedanke dabei ist, dass Wiederholung von semantischen Strukturen (mittels sprachlicher Symbole) Gleichartigkeit sichtbar macht und damit Identitäten verfestigt. Wiederholung wird als Wiederholung wahrnehmbar, es kommt zu rekursiver Verfestigung von semantischen Strukturen und Themen. Luhmann betont im Unterschied zu Spencer Brown, von dem er diese Begriffe übernimmt, die Bedeutungsverschiebung bei der Wiederholung, die semantische Variation, die Neuartigkeit des in neuen Kontexten Wiederholten. Dadurch entsteht Anreicherung mit Sinn. Kultur ist das Ergebnis dieses Prozesses der Sinnverfestigung, die doch immer zugleich Strukturtransformation darstellt − der Verweisungsüberschuss von Sinn drängt das Kommunikationssystem zur permanenten Veränderung. Kultur wird so zu einer Art Umgangstechnik mit dem Sinnüberschuss und Kulturentwicklung stellt sich als Zunahme von Vergleichs- und Kontrollmöglichkeiten dar. Luhmann skizziert schließlich eine historische Abfolge von drei „Kulturformen“, die auf die „Erweiterung der Vergleichs- und Kontrollmöglichkeiten“ durch Schrift, Buchdruck und schließlich Computer jeweils unterschiedlich reagieren und mit dem Problem des Verweisungsüberschusses jeweils anders umgehen.
6. Literatur (in Auswahl) Baraldi, Claudio, Giancarlo Corsi und Elena Esposito 1997 GLU: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Burkart, Günter 2004 Niklas Luhmann: Ein Theoretiker der Kultur? In: ders. und Gunter Runkel (Hg.), Luhmann und die Kulturtheorie, 11−39. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Burkart, Günter 2007 Luhmann als Kulturtheoretiker? In: Iris Därmann und Christoph Jamme (Hg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, 331−367. München: Fink. Burkart, Günter und Gunter Runkel (Hg.) 2004 Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hahn, Alois 2004 Ist Kultur ein Medium? In: Günter Burkart und Gunter Runkel (Hg.), Luhmann und die Kulturtheorie, 40−57. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften Luhmann, Niklas 1980 Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas 1984 Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas 1995a Kultur als historischer Begriff. In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, 31−54. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas 1995b Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas 1997 Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Günter Burkart, Lüneburg (Deutschland)
16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften 1. Einleitung 2. Britische Cultural Studies 3. Cultural Studies in Australien und den USA
4. Kulturwissenschaften im deutschen Sprachraum 5. Zusammenfassender Vergleich 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Kulturwissenschaften und Cultural Studies sind trotz der gleichklingenden Titel nicht allzu nahe verwandt − und doch sollte es sich lohnen, sie im Vergleich nach dem jeweiligen Stellenwert von Sprache zu beleuchten. Wie bei vielen vermeintlich semantisch parallelen Ausdrücken zeigen sich Differenzen zwischen Kulturwissenschaft und Cultural Studies. Beiden liegt die Annahme eines cultural turn zugrunde, den die jeweiligen Formationen jedoch sehr anders datieren und entfalten. Der Begriff der Kultur deckt unter anderem Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Gebrauch und andere soziale und historische Gepflogenheiten ab − inklusive dessen, was mit Sprache gemacht wird und welchen Stellenwert welcher Sprachgebrauch hat. Im deutschsprachigen Raum wird die Etymologie von Kultur für die Definition der kulturellen Wende oft direkt auf den Begriff der Pflege zurückgeführt, wie er sich in Agrikultur, in Körper- und Geistespflege ebenso tradiert hat wie etwa in den Künsten (Kroeber and Kluckhohn 1963). Der kultivierte Mensch gilt seit Kant, Herder und Humboldt als aufgeklärt, wissensbegierig und durch Kulturkontakt Neuem offen. Ein nächster Impuls geht von der linguistischen Wende aus, die sich vom Werk Wittgensteins und de Saussures herleitet und betont, wie sehr sich der Mensch über den Sprachgebrauch versteht und das Vorstellen nicht als eine mentale, sondern als eine sprachliche Tätigkeit denkt (Rorty 1991). Die kulturelle Wende
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte wiederum behauptet nicht mehr die Sprachabhängigkeit menschlicher Erkenntnis, sondern erweitert diese Entwicklung auf jede Art von Kommunikation; im deutschsprachigen Raum spricht man daher von Kulturwissenschaften in akademischen Disziplinen sowohl der Geistes- als auch der Sozialwissenschaften, die ansonsten weder methodisch noch ideologisch sehr nahe verwandt sind. − Dank ihrer vielfältigen und interdisziplinären Wurzeln und Ausprägungen ist es nicht einfach zu definieren, was im englischsprachigen Raum Cultural Studies eigentlich sind. Cultural Studies in der angloamerikanischen (sowie australasiatischen) Fassung widmen sich nicht nur einer neuen Wendung in der Literaturwissenschaft, die politisches Engagement betont, sondern zugleich einer Soziologie der Massenkultur und Medienkultur, einer Kritik der Kunstgeschichte und allgemein einer politischen Ökonomie des kulturellen Konsums. Betont wird in den Cultural Studies ein politisches Programm, das sich direkt auf Feminismus, Marxismus und kritische Theorien über ethnische und kulturelle Differenzen bezieht. Als akademisches Phänomen etablierte sich im anglophonen Raum die Dreifaltigkeit von „race, class, gender“ als Kategorien, die in anderen Analysen von Kultur und Konsum weniger im Vordergrund standen. So gesehen, geht es den Cultural Studies nicht nur um die Frage, wer über Kultur spricht, sondern wie man über Kultur spricht − und zunehmend auch worüber man innerhalb der Cultural Studies spricht.
2. Britische Cultural Studies Der Gründungslegende nach entstehen die britischen Cultural Studies 1965 am Centre for Contemporary Cultural Studies der Universität Birmingham, das zunächst von Richard Hoggart geleitet wurde, der Cultural Studies als Demokratisierung des literarischen Geschmacks intendierte. Hoggart beklagte die Massenmedien noch als Amerikanisierung der britischen Arbeiterklasse (Hoggart 1957) und in den 50er- und 60er-Jahren bezogen sich die Pioniere der angelsächsischen Kulturanalyse noch direkt auf Matthew Arnold und die Idee, dass Kultur meist Hochkultur bedeutet. Zielpublikum für Hoggart waren allerdings nicht akademisch gebildete Leser, sondern die „intelligenten Laien“, in der Hoffnung, dass Lehrer und Reformer Ideen aus dem Elfenbeinturm ins Volk tragen würden. Die Sprache der Literatur versprach das Gegenmittel zur Massenkultur zu sein; literarische Lektüre war die letzte Bastion der bürgerlichen Erziehung. Doch vier Jahre nach seiner Gründung unter Hoggart wurde die Direktion des Centre for Contemporary Cultural Studies von Stuart Hall übernommen, einem Mitbegründer der Zeitschrift New Left Review, der Cultural Studies als politische Bewegung populären Widerstands verstand (Hall 1964). In Abgrenzung von der ebenfalls politisch links orientierten Frankfurter Schule lehnten es die Cultural Studies in Großbritannien ab, von der fundamentalen Unterscheidung zwischen Kulturproduzenten und -konsumenten auszugehen. Vor dem Hintergrund des historischen Befundes, dass etwa Shakespeares Dramen zu ihrer Zeit eine herausragende Instanz der englischsprachigen mündlichen Kultur waren − voll eingebettet in einen performativen und politischen Kontext und aufgeführt vor einem nicht elitären Publikum −, gleichwohl aber im Verlauf von vier Jahrhunderten zu bloß schriftlichen Dokumenten verehrter Hochkultur schrumpften, wollten Cultural Studies diese Tendenz umkehren. Hall und Whannel setzen daher für Cultural Studies das Ziel, die fortschreitende Entfremdung der Hochkultur von der Populärkultur zu beenden; diese expli-
16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften zite Pädagogik nahm sich vor, die Sprache zu „reinigen“: „It is part of the purpose of education to cleanse the language“ (Hall and Whannel 1964: 334). Sprachreinigung war also ursprünglich das transdisziplinäre Gründungsprogramm der Cultural Studies. Bekennende Marxisten wie die Briten Raymond Williams und Terry Eagleton verstanden Cultural Studies als den Versuch, den blinden Fleck einer Kultur zu erhellen: „Every culture then has an internal blind spot where it fails to grasp or be at one with itself, and to discern this is […] to understand that culture most fully“ (Eagleton 2000: 96). Um diesen blinden Fleck zu erhellen und zu erobern, galt es nicht etwa, ihn zu neutralisieren, sondern ihn vielmehr emphatisch zu zelebrieren. Williams, der an der Universität Cambridge in der Theaterabteilung unterrichtete, doch 1973 als Gastprofessor der Politikwissenschaften nach Stanford eingeladen wurde, ist für seine Formulierung des kulturellen Materialismus bekannt (Williams 1958). Kultur, schrieb Williams, ist ein realisiertes Zeichensystem mit seinem eigenen Prozess der Produktion und Reproduktion. Dieses Zeichensystem ist jedoch nicht direkt semiotisch verfasst. Halls einflussreiche Formulierung eines Kommunikationsmodells ist zwar beeinflusst von Barthes und Eco, formalisiert jedoch in ganz eigener Weise die Codierung und Decodierung von Nachrichten wie etwa im Fall des Fernsehens: „The ,object‘ of production practices and structures in television is the production of a message: that is, a sign-vehicle or rather sign-vehicles of a specific kind organized, like any other form of communication or language, through the operation of codes, within the syntagmatic chains of a discourse“ (Hall 1973: 1). Hall unterscheidet zwischen vier Codierungen − dem dominanten oder hegemonischen Code, den es zunächst zu erkennen gilt, dem professionellen Code, der zumeist den hegemonischen reflektiert oder verstärkt, dem verhandelten Code, der Platz für Ausnahmen macht, und zu guter Letzt dem Code des Widerstands, der oppositionell und global konträr verfährt. Hall zufolge ist die Bedeutung einer Botschaft nie fixiert, kann immer umcodiert werden und wird nicht von einem (aktiv gedachten) Sender an (passiv gedachte) Empfänger übermittelt. Somit können Zuschauer oder Zuhörer aktiv an der Interpretation einer gegebenen Kommunikationshandlung mitwirken, indem sie soziale Kontexte und kollektive Referenzen heranziehen. Der direkte Nachfolger von Hall in Birmingham, der Historiker Richard Johnson, sah Cultural Studies wiederum als eine Version des historischen Materialismus. Die Werkzeuge, mit denen die Kultur der Massen studiert werden sollte, sind geliehen von Anthropologie, Literaturkritik, Soziologie, politischer Ökonomie und aus den Schriften von Marx und Engels, von Historiographie und Geographie, von den bildenden Künsten und der Werbung. Worüber man in den Cultural Studies spricht, wird markiert, indem der eigene Standpunkt als Identität betont und gefeiert wird: Man spricht nicht aus einer vermeintlich neutralen Position, sondern immer schon etwa als Frau und als Feministin, als Fan und als Teilnehmer, als politisch engagiert und als identifiziert mit antihegemonischen Interessen.
3. Cultural Studies in Australien und den USA Cultural Studies wandelten sich bald unter dem Einfluss ihrer globalen geographischen Verbreitung. Die Geschichte der Cultural Studies lässt sich, fair oder unfair, anhand gewisser Autorennamen und Filiationen skizzieren. Lawrence Grossberg etwa, der als Student in Birmingham mit Cultural Studies in Kontakt kam, wurde eine ihrer führenden
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Stimmen in den USA. John Hartley, der sich seit den frühen Siebzigerjahren den Cultural Studies (zunächst in Großbritannien, später in Australien) verschrieben und als Herausgeber des International Journal of Cultural Studies fungiert hatte, bietet in seiner kurzen Geschichte der Cultural Studies kein Kapitel über Textanalyse an: Stattdessen betont er Fernsehen, Journalismus, Einkaufen und Tourismus als Gebiete, die für Cultural Studies interessant seien. In Australien sowie den USA machten Cultural Studies eine schnelle universitäre Karriere − nicht so sehr als Methode des Widerstands gegen andere akademische Arbeitsweisen und pädagogische Programme, wie es in England der Fall war, sondern als Auffächerung sozialer Differenzen im Hinblick auf Geschlechter, Klassen, Ethnizitäten, Regionen, Altersgruppen, Nationen, Lebensstile. Cultural Studies bekunden Respekt für Phänomene des Alltagslebens und insbesondere für alles, was in den etablierten Diskursen (über Literatur, Kunst, Musik, öffentliches und privates Leben, aber zunehmend auch in anderen diskursiven Bereichen) marginalisiert oder verschwiegen wird. Cultural Studies forderten akademisches Interesse für Unterhaltungskultur und Pop, mit Betonung auf dem Aspekt des Konsums, da die Zuschauer und Zuhörer im herkömmlichen Diskurs über Musik, Literatur, Fernsehen oder Film weniger wichtig waren. Cultural Studies fordern auch einen kulturellen Wandel in Institutionen, gerade denen der Erziehung. Trotz ihrer Wurzeln in einer radikalen Kritik an Disziplinen sind Cultural Studies in den USA zu einer Disziplin geworden. Ein einflussreiches Dokument der amerikanischen Cultural Studies ist der Band Marxism and the Interpretation of Culture, herausgegeben von Grossberg und Cary Nelson 1988, auf der Basis einer Konferenz an der University of Illinois in Champaign-Urbana 1983. Während dieser Sammelband den Begriff des Aktivismus im Vergleich zu britischen Cultural Studies relativ eng definierte, erweiterte er den Zuständigkeitshorizont der Cultural Studies als einer marxistischen Analyse auf „the entire field of cultural practices“, alle diskursiven Formationen intellektuellen Lebens: „from political discourses to art, from beliefs to social practices, from the discourse of psychology to the discourse of economics − and, of course, by continuing to revise and enlarge a body of theory with multidisciplinary implications“ (Nelson and Grossberg 1988: 1). Diese Absicht, das Territorium neu zu definieren, zeigt sich auch in Toby Millers Sammelband, der neben einer dezidierten Interdisziplinarität explizit die Diskurse der Rechtswissenschaft, Soziologie, Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Museumskunde, Politikwissenschaft, Archäologie, Anthropologie und Medienwissenschaften adressiert. Die charakteristischen Impulse der Cultural Studies − Marxismus, Feminismus, Queer Theory, Postkolonialismus − will Millers Einleitung in all die „magnetisch angezogenen“ Disziplinen injizieren − ja, er erklärt Cultural Studies gar zur „master trope“ der Geistesund Sozialwissenschaften (Miller 2001: 1). Er definiert sie deshalb als „transdisziplinäre Tendenz“, deren politische Signifikanz sich am deutlichsten im Studium von Subkulturen zeigen ließe. Das Werk von Andrew Ross ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sich im nordamerikanischen Universitäts- und Verlagskontext das Gebiet, über das Cultural Studies spricht, allmählich ausweitet: War es zunächst noch eine neue Art der Diskussion über Literatur, Musik, Kunst, Medien und Öffentlichkeit, so wurde die Praxis der Cultural Studies schon bald eine Diskussion der Arbeitsbedingungen in Fabriken oder den neuen Medien, der Konstitution von Wissen in Labordisziplinen, der Geschichte des Wetters etc. Miller ist daher versucht, auszugrenzen, was Cultural Studies nicht sind: In einer Tabelle zeigt er, wie seines Erachtens die kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen einerseits von Cultural Studies unterwandert werden und doch andererseits
16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften teilweise intakt bleiben (Miller 2001: 8). So ist ethnographische Methode Teil der Cultural Studies, doch Anthropologie ist es nicht; politische Ökonomie ja, neoklassische Volkswirtschaft nein; Feminismus ja, Biologie nein; postmoderne Kunst ja, Kunstgeschichte nein; populäre Musik ja, doch nicht Musikwissenschaft. Die Summe unter dieser Tabelle zieht Miller, indem er suggeriert, dass gewisse Publikationen die Tendenz zu Cultural Studies zeigen: Sie sind politische Projekte mit offenen Ausschreibungen, die sich über mehrere Disziplinen verbreiten (z. B. Social Text, camera obscura, Radical History Review) − nicht aber professionelle Zeitschriften, die einen universalen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, externe Gutachter heranziehen und den Interessen ihrer professionellen Mitgliedschaften innerhalb einer Disziplin dienen (z. B. PMLA, Cinema Journal, American Historical Review). Von Australien und den USA haben sich die Cultural Studies über Asien verbreitet − in Taiwan mag man amerikanische, in Singapur britische und australische Einflüsse erkennen; bald schon gibt es Organe wie das Journal Inter-Asia Cultural Studies, wobei sich die Sprache der Cultural Studies zunehmend lokalisiert; neue Sammelbände werden merklich entweder an geographischen, disziplinären oder identitätsgebundenen Spezialisierungen orientiert. Graeme Turner hat eine der ersten Geschichten der Cultural Studies vorgelegt und ihm folgten John Storey, Nick Couldry, Chris Barker und John Hartley (Turner 1990; Stoery 1997; Couldry 2000; Barker 2000; Hartley 2003). Letzterer beschreibt Cultural Studies als „a field of academic, intellectual and activist inquiry, analysis and criticism“ − ein Gebiet akademischer, intellektueller und aktivistischer Forschung, Analyse und Kritik; weiter beschreibt er Cultural Studies als „assemblage of intellectual concerns about power, meaning, identity and subjectivity in modern societies“ (Hartley 2003: 3). Doch das definiert noch keinen Unterschied zu anderen solchen Formationen. Selbstironisch fasst Hartley zusammen, was an Cultural Studies oft kritisiert wird: zu politisch oder nicht politisch genug; es fehlt an Methode, an einem Objekt, an Disziplin; sie haben kein Prestige an Universitäten, sie sind zu englisch oder zu amerikanisch, zu akademisch und zu aktivistisch oder auch umgekehrt. Darüber hinaus beschreibt er Cultural Studies als Symptom der Skepsis angesichts der nicht eingelösten Versprechen, die Wahrheit, Fortschritt, Wissenschaft, Verstand, Wohlstand und Sicherheit hießen. Doch als Konsequenz der Skepsis, die den Cultural Studies Hartley zufolge zugrunde liegt, bietet sich keine verbindliche Definition von Kultur an, keine sichtbare Abgrenzung des Fachgebiets; ihre Methoden sind flexibel und ihre Geschichte selbst bleibt ein blinder Fleck. Hartley bestreitet etwa, dass das Centre for Contemporary Cultural Studies der Universität Birmingham eine ausschlaggebende Rolle spielte, und beschreibt den blinden Fleck als stolze Selbstverweigerung des Disziplinären, als grundlegende Ablehnung jeglicher Institutionalisierung. Dennoch ist unabweislich, dass Hall, Williams und auch Hartley selbst Institutionen aufgebaut haben, die Cultural Studies im Titel tragen und der Verbreitung von Cultural Studies dienen (Hartley war zum Beispiel einer der Initiatoren der nicht sehr erfolgreichen Idee einer internationalen Association for Cultural Studies). Minderheitsphänomene wurden die Markenzeichen der Cultural Studies. So waren etwa, wie Hartley bemerkt, australische Cultural Studies mehr am Strand und Strandleben interessiert, als man dies angesichts der australischen Bevölkerung rechtfertigen kann: „Most Australians, most of the time, were not on the beach nor likely to be heading that way. But for cultural studies the beach was a symbol of culture and national identity, and that needed investigation“ (Hartley 2003: 123−124). Anders als skrupulöse anthropologische Beobachter, die sich des Umstandes bewusst sind, dass sie durch ihre teilneh-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte mende Beobachtung möglicherweise die ethnographische Perspektive verschieben, gilt es in den Cultural Studies nicht als Problem, sich selbst als Fan und Mitautor der beobachteten und zu beschreibenden Kulturform zur Schau zu stellen. Hierin mag ein Grund liegen, warum die Praxis der Cultural Studies oft die Rolle der Sprache ausblendet oder vernachlässigt: aufgrund ihrer Abneigung nämlich, die eigene Sprache selbstkritisch infrage zu stellen. Doch zugleich sollen dominante Codes hinterfragt und mehrheitsfähige Ausdrucksformen politisch und moralisch kritisiert werden. So kam es, dass amerikanische Cultural Studies die scheinbar essenziellen Werte des amerikanischen Lebensstils anzweifeln mussten: Freiheit schien erkauft durch militärische Macht und beschmutzt durch Unterstützung von Diktaturen in der Dritten Welt, Demokratie schien negiert durch monopolistische Unternehmen und Korporationen, Technologie und Wissenschaft schienen nicht mehr dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, sondern dem Militär und der Pharmaindustrie. So war es unausweichlich, dass die wachsende Präsenz von Cultural Studies an amerikanischen Universitäten zum Spielball der politischen Rhetorik wurde. Die problematische Rolle solch provokativer Sprache in den Cultural Studies führte im Jahr 1996 zu einem Eklat. Dem Physiker Alan Sokal gelang es, eine als ernsthaften Beitrag fingierte Parodie des Jargons der Cultural Studies in der Zeitschrift Social Text zu publizieren, nur um dann seine Täuschung in einem Enthüllungsartikel für die Zeitschrift Lingua Franca (Sokal 1996) auffliegen zu lassen. Sokals Demonstration sollte beweisen, dass es den Cultural Studies nicht um verifizierbare Hypothesen oder nachvollziehbare Argumente geht, sondern um ein vorhersehbares Vokabular und um Variationen der Behauptung, dass physische Realität im Grunde ein soziales und linguistisches Konstrukt ist. Indem er seinen Hoax mit Zitaten von häufig zitierten Beiträgern zu Social Text (und von kanonischen Texten der Cultural Studies) spickte, trat Sokals Essay einem Zitatkartell bei, das er dann genüsslich in seinem Bericht über den Betrug enthüllte: „Would a leading North American journal of cultural studies publish an article liberally salted with nonsense if a) it sounded good and b) it flattered the editorsʼ ideological preconceptions?“ (Sokal 1996). Sokals Satire hatte kurzerhand behauptet, dass Quantenphysik progressive politische Implikationen habe sowie Lacans psychoanalytische Spekulationen untermauern könne, dass Wissenschaft politischem Kalkül unterliegen müsse und dass der Kanon der Mathematik emanzipiert und revidiert werden müsse. Wie er allerdings zugleich in seinem Enthüllungsessay beobachtet, bot die Social-Text-Parodie weder logische Schlüsse noch Argumente, sondern nichts als Zitate, Wortspiele, Analogien und Behauptungen − eine Collage von Cultural-Studies-Publikationen. Indem Sokal sowohl die Sprache der Cultural Studies zu sprechen schien als auch die Referenzen der Cultural Studies exakt nachahmte, gelang es ihm, einen Nonsensartikel in eine etablierte akademische Zeitschrift einzuschleusen. Dies war eine schmerzliche Lektion, nicht nur für die Redakteure von Social Text und für Apologeten einer Ausweitung von Cultural Studies auf die Naturwissenschaften qua „Science Studies“, sondern auch für Sokal selbst, der sich politisch ebenfalls zur Linken bekennt. Andererseits haben viele der von Sokal kritisierten Philosophen, Sozialtheoretiker und Geisteswissenschaftler betont, dass keineswegs erwiesen ist, wie viel Sokal von der Sprache der Cultural Studies verstanden hat, die er erfolgreich parodierte. Und wie Bérubé richtig beobachtet, gilt zwei Jahrzehnte nach dem SokalSkandal, dass die relativistische und spekulative Sprache der Wissenschaftsskepsis vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien und Australien, zunehmend von der
16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften politisch Rechten bedient wird, und sie ist nicht mehr direkt mit der politisch Linken assoziiert wie zur Blüte der Cultural Studies (Bérubé 2011).
4. Kulturwissenschaften im deutschen Sprachraum Eine kulturelle Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften findet man auch im deutschsprachigen universitären Diskurs: im Sinne eines erweiterten Kulturverständnisses, das einerseits Gegenstände zu adressieren erlaubt, die zuvor nicht als Teil der (Hoch-)Kultur gezählt wurden, und andererseits die hergebrachten Werte von Kultur infrage stellt. War es für Adorno zum Beispiel noch leicht, Sport fast als das Gegenteil von Kunst zu verstehen, so geht es nach der kulturellen Wende darum, zu erkennen und zu diskutieren, wie Sport als massenwirksame Populärkultur sich durch Medien, Wettbewerb, Werbung und die Spannung zwischen Teilnahme und Professionalisierung strukturiert. Hier verliert die überlieferte Unterscheidung von Hochkultur und Populärkultur ihre Schärfe und wird ersetzt durch die Fokussierung auf einen Kulturbegriff, der sich sowohl von der Geltungsmacht der linguistischen Wende als auch von der Politisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften im britischen Kontext der Cultural Studies absetzt. Böhme, Matussek und Müller (2000) etwa unterscheiden die Kulturwissenschaft im Singular als Disziplin der Reflexion und Kritik übergreifender kultureller Zusammenhänge von den pluralisierten Kulturwissenschaften, die einzelne Geisteswissenschaften auf ein aktivistisches Programm summiert. Diese Konzeptualisierung der Kulturwissenschaft umreißt semiotisch und historisch das symbolische Universum einer Kultur, lehnt aber die Spaltung der Wissenschaften in „erklärende“ Naturwissenschaften und „verstehende“ Geisteswissenschaften ab. Nach Böhme, Matussek und Müller (2000) verzögerte sich im deutschsprachigen Raum die Einführung sozialhistorischer, strukturgeschichtlicher und mentalitätsgeschichtlicher Ansätze im 19. Jahrhundert, und die Nazidiktatur blockierte wiederum die Rezeption von Anstößen aus der französischen Annales-Schule. Auch das Exil von wichtigen Denkern wie Cassirer, Freud, Adorno und vielen anderen hatte für die Entwicklung einer systematischen Diskussion von Kultur offensichtliche und weniger offensichtliche Folgen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Völkerkunde entnationalisiert sowie internationalisiert und der Begriff der Kultur grundlegender zum Vergleichsgegenstand. Kultur als Kontingenz zu denken, ist hier der Neueinsatz; indem Kultur aber abstrakt und vergleichend zum Text oder Objekt der intellektuellen Neugierde wird, weicht die Kulturwissenschaft sowohl von historiographischen und ethnographischen Beschreibungen als auch von linguistisch oder semiotisch orientierter Hermeneutik ab. Stattdessen bezieht sich Kulturwissenschaft auf die Diskussion um die Möglichkeiten einer „Völkerpsychologie“ und Kulturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, auf Theorien symbolischer Formen, auf Psychoanalyse als Kulturtheorie (die bei den Cultural Studies fast überhaupt nicht vorkommt) und auf die kritische Theorie der Frankfurter Schule. Wichtige Referenzen für eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung im deutschsprachigen Raum sind daher Georg Simmel und Ernst Cassirer in der Philosophie sowie Max Weber in der Soziologie und Aby Warburg in der Kunstgeschichte. Assmann (2006) gehört zu denen, die solche Quellen der Kulturwissenschaft betonen − ihre genealogische und konzeptuelle Herleitung umreißt deren Relevanz für Stichworte wie Zeichen und Me-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte dien, Raum und Zeit, Körper und Gedächtnis, ohne jedoch (trotz allen literaturwissenschaftlichen Vorbaus) direkt auf Fragen des Imports und Exports von Paradigmen zwischen Cultural Studies und Kulturwissenschaft im Einzelnen einzugehen. Friedrich Kittlers Versuch einer Kulturgeschichte der Kulturwissenschaften (2000) hingegen funktioniert als unverhohlene Polemik gegen „das Verenden im Kulturmanagement“ und gegen das Vergessen der eigenen Geschichte, gegen die „Ignorierung aller kanonischen Texte“. Im Rekurs auf Vico, Hegel, Nietzsche und Heidegger entsteht Kittlers Skizze einer diskursiven Herleitung des kulturwissenschaftlichen Verfahrens als theoretisches Projekt. Zwar sind Kittlers Vorlesungen so gedruckt worden, wie er sie im Frühjahr 1998 hielt, doch haben sich dennoch seither Rezensenten und Leser produktiv mit dieser Polemik auseinandergesetzt, selbst, wo sie abreißt oder aphoristisch verkürzt. Kittlers Kronzeugen einer kulturgeschichtlichen Anamnese der Kulturwissenschaft sind in der Tat immer noch relevant. So ist Vico (1725) zum Beispiel nicht nur bekannt für seine Konstruktion des zivilisatorischen Prozesses und des kulturellen Wissens (gegen Descartes), sondern auch für den Einfluss seiner gesellschaftlichen Analyse auf einschlägige Autoren von Marx bis Dilthey und von Hayden White bis Edward Said. Doch Kittler gelten auch Herders Anthropologie und Hegels Ontologie als zentral, selbst Heideggers Sein und Zeit gilt ihm als „elementare Kulturwissenschaft“, während er weder Simmel noch Cassirer, weder Weber noch Warburg einbezieht. In dieser Ausrichtung (gegen „soziologische Einverleibung“) steht er in der Kulturwissenschaft eher allein und seine Leser bemängelten auch, dass die Vorlesungen enden, bevor er zu seiner eigentlichen Kernkompetenz, der Kultur unter den Bedingungen von Computertechnologie, kommt. Doch auch anderen Stimmen in der deutschsprachigen Diskussion geht es um das Vermeiden des Dilettantismus bei der Entgrenzung von Kulturwissenschaft; Assmann betont, dass es sich bei Kulturwissenschaft nicht etwa um eine neue methodische oder theoretische Wende handelt, sondern um Reflexion auf bestimmte gesellschaftliche Umwälzungen und deren Einfluss auf die Wissenschaft. So bettet die Kulturwissenschaft sich in den eigenen kulturellen Kontext ein und reflektiert nicht nur konzeptuelle, sondern auch im weiteren Sinne „kulturelle“ Praktiken, die Wissen produzieren, lagern und verteilen. Als Versuch einer Vermittlung schließlich zwischen dem vermeintlichen oder realen „Technodeterminismus“ der Diskursanalyse und Mediengeschichte und der vermeintlichen oder realen Infrastrukturblindheit der Cultural Studies sei ein Hinweis auf den in deutschsprachigen Kulturwissenschaften im letzten Jahrzehnt ausgebildeten Begriff der Kulturtechniken erlaubt, wie er von Krämer, Siegert, Engell und anderen profiliert wird: als Versuch, die Begriffe Medien, Kultur und Technik gemeinsam zur Disposition zu stellen (Krämer 2008; Engell und Siegert 2010). Hier geht es vor allem im Anschluss an Bruno Latour um Akteurnetzwerke, die technische Objekte und Handlungsketten hervorbringen, und nicht bloß um symbolischen Gebrauch von Bild, Zahl oder Schrift (Latour 2004). Ebenso einbegriffen sollen hier Körpertechniken sein, wie sie von Anthropologen und anderen beobachtet werden, Gesten und Riten, Systeme und Gewohnheiten, indem darauf insistiert wird, dass Kultur nicht nur eine Angelegenheit des Geistes und der Sprache ist, sondern sowohl im Schreiben, Lesen und Rechnen als auch in anderen Abrichtungen des gelehrigen Körpers immer schon vermengt ist mit Gegenständen, Instrumenten und technischen Relationen.
16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften
5. Zusammenfassender Vergleich Im Vergleich zum angloamerikanischen universitären Kontext ist der relative Anteil von Absolventen deutschsprachiger Hochschulen in ihrem jeweiligen Jahrgang geringer, was unter anderem bedeutet, dass Kulturwissenschaft nicht den breiten Anspruch auf eine radikale erweiterte Erwachsenenbildung erheben kann, wie es die Cultural Studies tun. Kulturwissenschaft kündigt sich an als Studium nicht nur geschriebener Quellen, sondern auch anders verkörperter und eingebetteter Formen und Symbole über ihre ethnischen und historischen Grenzen hinweg. Auch den Cultural Studies geht es weniger um Sprache als um Interpretationen von audiovisuellen und anderen symbolischen Repräsentationen von Kultur. Darüber hinaus verfolgen Proponenten von Cultural Studies das Studium von Subkulturen, ideologische Auseinandersetzungen über den repräsentationalen Anteil von Frauen, Minderheiten in den Medien sowie dezidiert soziologische oder ethnographische Beschreibungen von Kulturen. Die institutionelle Geschichte der Soziologie kann als Pendant zu der der Cultural Studies gedacht werden, und in gewisser Weise ererben die Cultural Studies einen Großteil des akademischen Raums, den die Soziologie auf ihrem Höhepunkt einmal eingenommen hatte. Wo die Kulturwissenschaft die Geschichte der Technik und die Medientheorie in den Vordergrund rückt, gilt dies den Cultural Studies schon fast als „technischer Determinismus“, und deren Betonung fällt somit nicht auf Infrastrukturen und Bedingungen derer Möglichkeiten, sondern auf den Adressaten, die Teilnehmer, Leser und deren dezentralisierter Position. In der Betonung des Marginalen, des Unbeachteten oder gar Verachteten in der Kultur sehen Cultural Studies ihre profane und politische Rolle. Demgegenüber sind die Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum zunächst unpolitisch im weiteren Sinn und beschränken ihren Anspruch auf einen Perspektivwechsel im akademischen Betrieb. Natürlich ist diese artifizielle Gegenüberstellung hinfällig, sobald Studenten und Lehrende an deutschsprachigen Universitäten die Publikationen der britischen, amerikanischen, australischen oder asiatischen Cultural Studies wahrnehmen, mit jenen Kollegen auf Kongressen diskutieren und ihre Argumente importieren − oder vice versa. Dennoch ist im Nachhinein zu erkennen, dass auch heute noch wenige deutsche Kulturwissenschaftler die Ausweitung ihres Kompetenzbereichs auf science studies oder politischen Aktivisimus verfolgen, und dass nach wie vor wenige in den amerikanischen, australasiatischen oder britischen Cultural Studies sich direkt auf Kant, Herder oder Humboldt beziehen, geschweige denn auf Vico, Nietzsche oder Cassirer. Zudem kann konstatiert werden, dass innerhalb der Cultural Studies ein Unbehagen am „Präsentismus“ laut wird, während die Kulturwissenschaft(en) auf dem Grundkonzept des kulturellen Gedächtnisses aufbaut und mit der Vergangenheit weder institutionell noch politisch überall bricht. Sowohl Cultural Studies als auch Kulturwissenschaft(en) haben mit gelegentlichen Vorwürfen des Eurozentrismus zu kämpfen; aber wo Cultural Studies auf eine geographische und programmatische Diversität pochen, ist die deutschsprachige Kulturwissenschaft heute weder eine Lokalisierung solcher globalen Tendenzen noch eine Abgrenzung jenen gegenüber. Weder in der Kulturwissenschaft noch in den jeweils anders ausgeprägten Cultural Studies geht es um eine Transformation von theoretischen Paradigmen (wie Strukturalismus − Poststrukturalismus − Dekonstruktion − Diskursanalyse), eher kann man in der Popularität von Cultural Studies und Kulturwissenschaften eine Abgrenzung gegen die philosophischen Wurzeln und konzeptuellen Komplexitäten der theoretischen Geisteswissenschaften erkennen. Statt ihrer bieten Cultural Studies eine pädagogisch und politisch engagierte
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Botschaft, die sich bewusst an jene wendet, die kein philosophisches Vorwissen haben müssen − was auch Konsequenzen für die Rolle der Sprache in den Cultural Studies hat −, während die Kulturwissenschaft noch einen explizit akademischen Horizont und Sprachgebrauch voraussetzt, auch wenn dieser nicht mehr strikt disziplinär ausgerichtet ist.
6. Literatur (in Auswahl) Assmann, Aleida 2006 Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt. Bachmann-Medick, Doris (Hg.) 2004 Kultur als Text. Die kulturanthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen: Fink. Bachmann-Medick, Doris 2014 Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Rowohlt: Reinbek. Barker, Chris 2000 Cultural Studies. Theory and Practice. London: Sage. Bérubé, Michael 2011 The Science Wars Redux. In: Democracy Journal 19, 64−74. Blänkner, Reinhard 2008 Historische Kulturwissenschaften im Zeichen der Globalisierung. In: Historische Anthropologie 16(3), 341−372. Böhme, Hartmut und Klaus R. Scherpe (Hg.) 1996 Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek: Rowohlt. Böhme, Hartmut, Peter Matussek und Lothar Müller 2000 Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek: Rowohlt. Brantlinger, Patrick 1990 Crusoeʼs Footprints: Cultural Studies in Britain and America. New York: Routledge. Couldry, Nick 2000 Inside Culture: Re-imagining the Method of Cultural Studies. London: Sage. During, Simon 2003 The Cultural Studies Reader. 2nd ed. New York: Routledge. Eagleton, Terry 2000 The Idea of Culture. Oxford: Blackwell. Engell, Lorenz und Bernhard Siegert (Hg.) 2010 Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1: Kulturtechnik. Faulstich, Werner 1991 Medien und Kultur. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium der Universität Lüneburg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Frow, John and Meaghan Morris (eds.) 1993 Australian Cultural Studies. A Reader. Sydney: Allen & Unwin. Gipper, Andreas und Susanne Klengel (Hg.) 2008 Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften. Würzburg: Königshausen & Neumann. Grossberg, Lawrence, Cary Nelson and Paula Treichler (eds.) 1992 Cultural Studies. New York: Routledge. Hall, Stuart 1973 Encoding and Decoding in the Television Discourse. Birmingham: Centre for Contemporary Cultural Studies.
16. Sprache in Cultural Studies und Kulturwissenschaften Hall, Stuart 1980 Cultural Studies: Two Paradigms. In: Media, Culture, and Society 2, 57−72. Hall, Stuart and Paddy Whannel 1964 The Popular Arts. London: Hutchinson. Hansen, Klaus P. 2011 Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Francke. Hartley, John 1992 The Politics of Pictures. The Creation of the Public in the Age of Popular Media. London: Routledge. Hartley, John 2003 A Short History of Cultural Studies. London: Sage. Hoggart, Richard 1957 The Uses of Literacy. London: Chatto and Windus. Hoggart, Richard 1969 Contemporary Cultural Studies. An Approach to the Study of Literature and Society. Birmingham: Centre for Contemporary Cultural Studies. Hunter, Ian 1988 Culture and Government. The Emergence of Literary Education. London: Macmillan. Jäger, Friedrich, Burkhard Liebsch, Jörn Rüsen und Jürgen Straub (Hg.) 2011 Handbuch der Kulturwissenschaften in drei Bänden. Stuttgart: Metzler. Johnson, Richard 1986/1987 What Is Cultural Studies Anyway? In: Social Text 16, 38−80. Kittler, Friedrich 2000 Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaften. München: Fink. Kittsteiner, Heinz Dieter 2004 Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. Paderborn: Fink. Krämer, Sibylle 2008 Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kroeber, Alfred and Clyde Kluckhohn (eds.) 1963 Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York: Vintage Books. Latour, Bruno 2004 Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern. In: Critical Inquiry 30(2), 225−248. List, Elisabeth und Erwin Fiala (Hg.) 2004 Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien. Tübingen/Basel: Francke. Maye, Harun und Leander Scholz (Hg.) 2011 Einführung in die Kulturwissenschaft. München: Fink/UTB. Miller, Toby (ed.) 2001 A Companion to Cultural Studies. Oxford: Blackwell. Nelson, Cary and Lawrence Grossberg (eds.) 1988 Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana: University of Illinois Press. Rorty, Richard 1991 The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method. Chicago: University of Chicago Press. Smith, Paul 1991 A Course In „Cultural Studies“. In: The Journal of the Midwest Modern Language Association 24(1) (Cultural Studies and New Historicism), 39−49. Sokal, Alan 1996a A Physicist Exeriments with Cultural Studies. In: Lingua Franca May/June, 62−64.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Sokal, Alan 1996b Transgressing the Boundaries. An Afterword. In: Philosophy and Literature 20(2), 338− 346. Sokal, Alan 1996c Transgressing the Boundaries. Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity. In: Social Text 46−47, 217−252. Storey, John 1997 What is Cultural Studies? A Reader. New York: St Martin’s. Turner, Graeme 1990 British Cultural Studies. London: Routledge. Turner, Graeme 1993 Nation, Culture, Text. Australian Cultural and Media Studies. London: Routledge. Vico, Giambattista 1725 Principi di Scienzia Nuova. Neapel: F. Mosca. Williams, Raymond 1958 Culture and Society 1780−1950. Harmondsworth: Penguin. Williams, Raymond 1985 Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. Oxford: Oxford University Press.
Peter Krapp, Irvine (California, USA)
17. Die Rolle der Sprache in konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff 1. Der erweiterte Kulturbegriff 2. Leben als Assemblage 3. Emergenz und Semiotik
4. Die Logik des Sinns 5. Konzepte erfinden 6. Literatur (in Auswahl)
1. Der erweiterte Kulturbegriff Im Rahmen dieses Artikels sollen Repräsentanten von Denkrichtungen in den Blick genommen werden, die sich dem Problem der Sprache aus einer nicht prioritär kulturtheoretischen Perspektive nähern, ohne dass sie deshalb eine geschlossene Schule bildeten. Es handelt sich eher um eine heterogene Ansammlung, deren Mitglieder − oft lediglich implizit und aus der Perspektive unterschiedlicher Wissensgebiete − ähnliche konzeptuelle Tendenzen hinsichtlich der menschlichen Sprache und ihrer Rolle vertreten. Im Folgenden werde ich versuchen, diese Tendenzen etwas genauer zu konturieren. In diesem Unterfangen sind zentrale Elemente die Konzeptualisierung eines erweiterten Kultur-, Sprach- und Subjektbegriffs sowie die einer Ökologie unterschiedlicher, verschachtelter Zeichen- und Sprachsysteme. Viele unproduktive Missverständnisse können vermieden werden, wenn man realisiert, dass Sprache auch im Licht konzeptueller Alternativen zum Kulturbegriff niemals
17. Die Rolle der Sprache in konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff ohne den Begriff der Kultur gedacht wird. Dies hervorzuheben, erscheint insbesondere im Licht der deutschen Rezeption einiger der Vertreter solcher konzeptuellen Alternativen wie etwa Gilles Deleuze und François Lyotard wichtig, denen früh vorgeworfen worden war, in ein gänzlich kultur- und sinnloses Delirium zu verfallen bzw. ein solches zu idealisieren (Frank 1984: 406−407). Ziel der alternativen Ansätze ist jedoch nicht der Ausschluss der menschlichen Kultur, sondern deren Öffnung hin zu anderen Kulturen. Dies macht eine terminologisch-begriffliche Ausdifferenzierung nötig: In den Geistesund Kulturwissenschaften steht der Begriff Kultur meist unhinterfragt für menschliche Kultur und er steht im Gegensatz zum Begriff der Natur. In anderen Wissensformationen, insbesondere in den Natur- und Lebenswissenschaften, ist dies nicht zwingend der Fall. So ist in der Biologie von tierischen oder auch bakteriellen Kulturen die Rede; Kultur meint nicht lediglich menschliche Kultur, sondern allgemein die (Selbst-)Organisationen lebender Elemente zu größeren Systemen. Man könnte daher sogar so weit gehen, von molekularen Kulturen zu sprechen, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze dies tut. Ziel konzeptueller Alternativen zum Kulturbegriff ist demnach nicht, menschliche Kultur aus der Konzeptualisierung auszublenden, sondern dem erweiterten Schriftbegriff Jacques Derridas einen erweiterten Kulturbegriff zur Seite zu stellen. Mit diesem Projekt unmittelbar verbunden ist die Konzeptualisierung eines erweiterten Sprachbegriffs, denn obwohl die Semiotik ebenso wie Teile der Linguistik schon seit Langem nichtmenschliche Sprachen in den Blick genommen haben, meint Sprache in der Regel immer noch menschliche Sprache, ähnlich wie Kultur begrifflich zumeist auf menschliche Kultur eingeschränkt ist. Hier impliziert eine erweiterte Perspektive, Formen der Informationsübertragung in die Konzeptualisierung von Sprache einzubeziehen, die parallel zu der in sich geschlossenen Zeichensystematik der menschlichen Sprache ablaufen. Man denkt also weiter aus der Perspektive des Menschen, jedoch nicht oder zumindest weniger anthropozentrisch. Mit anderen Worten: Man denkt ökologischer. Wie es der Anthropologe Gregory Bateson ausgedrückt hat: „In the pronoun we, I of course included the starfish and the redwood forest, the segmenting egg, and the Senate of the United States“ (Bateson 1979: 4). Viele der alternativen Ansätze haben sich an den Rändern dessen entwickelt, was man gemeinhin den Poststrukturalismus nennt; insbesondere in den Schnittmengen zwischen Poststrukturalismus, Lebenswissenschaften und Kybernetik. Obwohl sich Wissenschaftler wie Jacques Lacan und Jacques Derrida in ihrem Werk dezidiert auf den linguistic turn berufen und sich daher − insbesondere vor dem Hintergrund der Sprachtheorie Ferdinand de Saussures − eher auf der Seite der menschlichen Kultur und der menschlichen Sprache positionieren, beziehen auch sie das Nichtmenschliche in ihre Denkfiguren ein, so z. B. Lacan bei seiner Konzeptualisierung des Lichts (Lacan [1964] 1980) oder bei Derrida in seinem späten Interesse an Tieren (Derrida 2010). Dennoch interessieren sich Lacan und Derrida weniger für die Wissensfelder, in denen das Nichtmenschliche − außer in seiner Funktion als Ausgeschlossenes − thematisiert wird. Auf der Seite eines erweiterten Kultur- und Sprachbegriffs stehen Wissenschaftler wie der Soziologe Jean Baudrillard, der Philosoph Gilles Deleuze und der Wissenschaftshistoriker Michel Serres. Symptomatisch beschäftigen diese sich intensiv mit den Wissensbereichen der Disziplinen, die in den Kultur- und Geisteswissenschaften meist nur als je distinkt organisierte Diskursfelder verhandelt werden wie die Physik, die Chemie und die Biologie. Sowohl bei Serres als auch bei Deleuze geht es dabei weniger um die Verortung dieser Bereiche innerhalb eines diskursiven Feldes und ihre
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte kulturelle Wirkmächtigkeit − zum Beispiel die des medizinischen Diskurses −, sondern um Denkfiguren, die in diesen Feldern entwickelt werden.
2. Leben als Assemblage Um die Bedeutung der Sprache aus dieser Perspektive zu beleuchten, ist es notwendig, ihren Bezug zu Lebewesen und zum Leben insgesamt in den Blick zu nehmen; ein Bezug, der den Vertretern eines erweiterten Ansatzes des Öfteren den unreflektierten Vorwurf eines unreflektierten Vitalismus bzw. Naturalismus eingetragen hat. In der Definition von Lebewesen sind viele der Vertreter, die hier zur Debatte stehen, von wissenschaftlichen Konzepten inspiriert, wie sie zuletzt von den chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela vertreten wurden; als Vertreter eines biologischen Sprachbegriffs, der sich an evolutionären und biologischen Parametern orientiert, bezeichnen sie Lebewesen als autopoietische Systeme. „Wenn die primäre Operation für die Herstellung eines sprachlichen Bereiches die ontogenetische Strukturenkoppelung ist, dann sind die primären Bedingungen für die Entstehung der Sprache im Prinzip allen autopoietischen Systemen in dem Maße gemeinsam, in dem sie strukturell plastisch sind und rekursive Interaktionen durchlaufen können“, so Maturana (1982: 259). Nach Heinz von Foerster sind autopoietische Systeme „organisatorisch geschlossene […], energetisch (thermodynamisch) aber offene […] Systeme“ (Foerster 1993: 296 [Hervorhebung durch Verf.]). Niklas Luhmann (vgl. Artikel 15) nennt dies „die Einheit der Differenz von System und Umwelt“ (Luhmann 1986: 21). Diese grundlegende Prämisse besagt, dass Lebewesen kognitiv und organisatorisch von ihrer Umwelt unterschieden, dass sie jedoch gleichzeitig auf vielfältige Weise durch strukturelle Kopplungen (Maturana and Varela 1980) an ihre jeweilige Umwelt angeschlossen sind. Maturana/ Varela und von Foerster repräsentieren zwei der Gebiete, in denen alternative Ansätze entwickelt wurden: Lebenswissenschaften und Kybernetik. Die paradoxe Vorstellung von zugleich geschlossenen und offenen lebenden Systemen/Maschinen hat Niklas Luhmann dazu inspiriert, die Systemtheorie zu entwickeln, wobei er sich fast vollständig auf die Systeminnenseite konzentriert und damit auf die Bereiche der Information und des Sinns sowie auf den Bereich der menschlichen Sprache: „Auf der Ebene der eigenen Operationen gibt es keinen Durchgriff auf die Umwelt, und ebenso wenig können Umweltsysteme an den autopoietischen Prozessen eines operativ geschlossenen Systems mitwirken“ (Luhmann 1997: 92). Vielen der anderen Vertreter geht es demgegenüber darum, eine irritierende bzw. perturbierende Umwelt mit einer bedeutenden Innenwelt zu korrelieren, ohne dass dabei eine natürliche, d. h. unvermittelte Beziehung zwischen diesen Ebenen postuliert würde. Die Frage ist demnach die nach der Beziehung von Sprache bzw. Sprachen als systeminternen Operationen zur Umwelt des Systems. An dieser Stelle erweitert sich die Fragestellung auf die Konzeptualisierung des menschlichen Subjekts, denn die Beziehung von Mensch, Sprache und Umwelt wird dadurch weiter verkompliziert, dass der Mensch, wie jedes lebende System, aus einer großen Anzahl von organischen Untersystemen zusammengesetzt ist: Lebewesen sind komplexe Assemblagen. Schon Leibniz, auf den sich sowohl Serres als auch Deleuze explizit berufen, hat dies u. a. im Rückgriff auf Antoni van Leeuwenhoeks Mikroskop
17. Die Rolle der Sprache in konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff in der Monadologie gezeigt: „[…] [J]eder Anteil der Materie kann als ein Garten voller Pflanzen und wie ein Teich voller Fische begriffen werden. Jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Lebewesens, jeder Tropfen seiner Säfte ist jedoch wiederum ein solcher Garten oder ein solcher Teich“ (Leibniz 2002: 139). Jede Ebene in diesem Beispiel hat ihre eigenen Kulturen mit den dazugehörigen Informationskanälen und Codierungen. Deleuze hat diese Rekursivität des Lebendigen in seinem Buch Die Falte: Leibniz und der Barock aufgenommen und mit der Idee einer beseelten Natur verbunden: „Wenn die Welt unendlich ausgehöhlt ist, wenn es Welten in den winzigsten Körpern gibt, dann darum, weil überall Spannkraft in der Materie ist […]“ (Deleuze 1995: 17). Am Ende des Spektrums dieser Verschachtelungen der lebendigen Materie liegt das, was Deleuze in seinem posthumen Text Die Immanenz: ein Leben ein „unpersönliche[s] und dennoch singuläre[s] Leben“ (Deleuze 1996: 31) nennt, ein organloser, d. h. unorganisierter Körper von Molekülen. Giorgio Agamben hat dieses anonyme Leben zoe genannt, wobei er es lediglich ex negativo aus der Perspektive des bios denkt. Leibniz’ Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass autopoietische Systeme sowohl selbst als Ökosysteme verstanden werden müssen als auch als Agenten innerhalb eines größeren ökologischen Feldes, ihrer Umwelt. In letzter Zeit hat sich insbesondere Bruno Latour, der bedeutendste Schüler Serres’, mit diesem ökologischen Aspekt auseinandergesetzt. Sein Konzept nichthumaner Agenten bezieht sich auf genau die Ebenen nichtmenschlicher Assemblagen und auf die Modi, in denen diese in das Feld menschlicher Information transferiert bzw. transcodiert werden. Die Frage ist, wie die Wissenschaft durch Beobachtung Lebewesen begreift, aber auch, wie sie den Menschen im Feld dieser Lebewesen verortet, dem er immanent ist.
3. Emergenz und Semiotik Vor diesem Hintergrund stellt sich aus zeichentheoretischer Sicht die Frage, auf welche Weisen und wie tief menschliche Sprache in die rekursiven Assemblagen des Lebens eingebaut und verstrickt ist: Auf jeder Ebene der Assemblage gibt es Kognition und damit Modi der Informationsübertragung, für die spezifische mediale Übertragungs- und Übersetzungsmechanismen benötigt werden; Kanäle und Codes, innerhalb derer Transkriptionen vorgenommen werden. Maturana geht so weit, Leben mit dieser Art der Kognition zu identifizieren: „Living systems are cognitive systems, and living as a process is a process of cognition. This statement is valid for all organisms, with and without a nervous system“ (Maturana and Varela 1980: 13). Es gibt im Reich des Lebenden somit unterschiedlichste Medien und Medienökologien, wobei jedes Medienmilieu seine je eigenen medialen Parasiten hat − für die Logik der Kommunikation und für deren Funktionieren wichtige Störelemente −, deren unterschiedliche Operationen Serres in seinem Buch Der Parasit genau untersucht. Innerhalb dieser komplexen Architektur von Transkriptionssystemen ist Sprache im Sinne Saussures die, sieht man von der rein formalen Sprache der Mathematik ab, abstrakteste Variante. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Sinn (die Ebene des Signifikats) in der Regel strikt vom Ausdrucksmaterial (der Ebene des Signifikanten) getrennt ist. Nichts anderes besagt das Postulat der Arbitrarität der Sprachzeichen. Hegel hatte diese Arbitrarität als höchste Errungenschaft des menschlichen Geistes hervorgehoben, da sie dessen größtmögliche Freiheit bedeutet (Hegel
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte [1830] 1970, 270 [§ 458]); Luhmann hat sie in der Beziehung von Form und Medium situiert. Erweiterungen dieses arbiträren Sprachbegriffs haben sich aus verschiedenen Perspektiven entwickelt, unter anderem aus der der Psychoanalyse. So hat Julia Kristeva nichtarbiträre Momente der Sprache als das Semiotische für die Beschreibung der expressiven Kraft poetischer Sprache fruchtbar gemacht (Kristeva 1978). Ähnliche Modifikationen hat Roland Barthes aus semiologischer Perspektive mit seinen Konzeptualisierungen der gekörnten Stimme oder der Geste vorgenommen (Barthes 2002). Diese Interventionen zeigen, dass, wenn man von der Rekursivität, d. h. von der Verschachtelung, verschiedener Informationskanäle, Codes und Transkriptionsmechanismen in lebenden Systemen ausgeht, die meisten Codes nicht arbiträr im Sinne Saussures sind und sich viele nicht zu arbiträren Zeichen verhärten. Dennoch sind sie ausnahmslos artifiziell. Insbesondere in Hermes II und Genesis hat Serres die Entwicklung vom Informationssturm des reinen Chaos zur Emergenz komplexer Codierungsarchitekturen im Detail nachgezeichnet, wobei ein wichtiger Referenztext − sowohl für Serres als auch für Deleuze in Logik des Sinns − Lukrez’ Lehrgedicht De Rerum Natura ist. In Hermes IV hat Serres aus dieser medialen Verschachtelung die Idee unendlich vieler materiell-informativer Unbewussten bzw. Informationsebenen entwickelt, die, wiederum in Rückgriff auf Leibniz, als das jeweils Uncodierte verstanden werden, wobei auch die Ebenen, die codiert sind, von der menschlichen Warte aus als uncodiert erscheinen: Das Unbewußte ist nichts anderes als das, worüber wir zunächst keine Informationen besitzen. […] Jede Informationsebene funktioniert für die umgebende globale Ebene wie ein Unbewußtes. […] Was nicht gewußt wird und auch nicht ins Bewußtsein tritt, das ist, am Anfang der Kette, das Getöse der Energieumwandlungen. Und es kann nicht anders sein, denn dieses Getöse ist per definitionem bar jeden Sinns als Ensemble reiner Signale, als Ensemble von Zufallsbewegungen; diese Zufallspakete werden nun Ebene für Ebene von jenem subtilen Transformator gefiltert, den der Organismus darstellt. […] Es sieht so aus, als wäre das klassische Unbewußte nichts anderes als die letzte Black-box. Die für uns am klarsten ist, weil sie im vollen Sinne sprachlichen Charakters ist. (Serres 1993: 282−283)
Eine solche Konzeptualisierung des Wahrnehmungssystems als rekursive Integrationsmaschine liegt auch der Idee unbewusster Wahrnehmungen bei Deleuze und Guattari zugrunde. In Tausend Plateaus merken sie an: „[E]s gibt immer eine Wahrnehmung, die feiner als die eure ist, eine Wahrnehmung eures Unwahrnehmbaren […]“ (Deleuze und Guattari 1992: 390). Viele Ebenen der Codierung werden vom Bewusstsein nicht wahrgenommen und erscheinen daher als automatisch bzw. natürlich; wobei das Problem darin liegt, dass natürlich oft fälschlicherweise als nichtartifiziell und als geistlos verstanden wird. Genau gegen diese Annahme wenden sich die hier zur Diskussion stehenden Ansätze.
4. Die Logik des Sinns In seinem Buch Die Logik des Sinns hat Deleuze vor diesem Hintergrund und aus einer dezidiert philosophischen Perspektive ein Konzept der Sprache entworfen, bei dem Zei-
17. Die Rolle der Sprache in konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff chen nicht lediglich auf andere Zeichen verweisen, wie es bei Lacan in der Figur der Signifikantenkette und bei Derrida in den Konzepten der Differance und der Spur stark gemacht wird. Wiewohl sich Sinn und Bedeutung als systemimmanente Komponenten erweisen, weisen sie dennoch auch eine Beziehung zur Umwelt auf. Mit anderen Worten: Die Sprache erschöpft sich nicht in Selbstreferenz. Gleichzeitig wird jedoch weder bei Serres noch bei Deleuze Selbstreferenz durch eine idealisierte bzw. naturalisierte Fremdreferenz ersetzt. Beide wissen um die Geschlossenheit kognitiver Systeme. Sie wissen aber auch, dass jedes virtuelle Denk- bzw. Sinnsystem, d. h. jede Kognition verkörpert ist − und zwar nicht nur in der Materialität der Zeichen, sondern auch in einem denkenden System. Bezieht man dieses Postulat auf die Logik autopoietischer Systeme zurück, ergibt sich folgendes Bild: Es geht bei der Sprache um die Resonanz zwischen virtuellem Denksystem und aktuellem Körpersystem und darum, wie das Gesamtsystem eine Resonanz zwischen den beiden herstellen kann. An dieser Stelle wird die ökologische Dimension der Frage deutlich: Wie kann Sprache mit den anderen Sprachen einer nicht natürlichen Natur in Resonanz treten? Denn diese Resonanzbeziehung ist Bestandteil menschlicher Sprache als verkörperter Sprache, d. h. als lebender Sprache. In Die Logik des Sinns bezeichnet Deleuze den Bereich der Sprache, der sich auf die Sprache selbst bezieht, als Feld der Repräsentation. Sprache hat jedoch weiterhin einen Bezug zum lebenden Körper, d. h., es geht nicht nur um virtuelle Repräsentation, sondern um Ausdruck und Medium. Hieraus erklärt sich Deleuzes und Guattaris Bevorzugung von Hjelmslev vor Saussure; eine Bewegung gegen den „Gegensatz Form − Inhalt“ (Deleuze und Guattari 1992: 64) hin zur Konzeptualisierung einer „Mannigfaltigkeit von doppelten Gliederungen, die mal den Ausdruck und mal den Inhalt durchziehen“ (Deleuze und Guattari 1992: 66). Deleuze und Guattari fügen hinzu: „[W]enn man die signifikante Semiotik als Semiologie bezeichnet, dann ist die Semiologie nur ein Zeichenregime unter anderen, und nicht das wichtigste“ (Deleuze und Guattari 1992: 156). Die Privilegierung der Dualität von Signifikant und Signifikat bei gleichzeitigem Ausschluss des Referenten ist aus einer evolutionären Perspektive nur eine unter vielen Lösungen des Problems der Kommunikation. So betonen Deleuze und Guattari: „Eine solche Semiotik ist nicht nur nicht die erste, es gibt unter dem Gesichtspunkt einer abstrakten Evolutionstheorie auch keinen Grund, ihr ein besonderes Privileg zuzugestehen“ (Deleuze und Guattari 1992: 163). Erhebt man die Sprache „zur ausschließlichen Ausdrucksform“ (Deleuze und Guattari 1992: 247), werden weniger arbiträre, „heterogene […], polyvoke […] und primitive“ Ausdrucks- und Signifikationssysteme ausgeblendet „zugunsten einer Semiotik der Signifikanz und der Subjektivierung“ (Deleuze und Guattari 1992: 247). Die beiden Autoren thematisieren hier ein Problem, das heute unter dem Schlagwort Performativität wieder wichtig geworden ist: dem Körper angeschlossene Semiotiken. Eine „präsignifikante Semiotik, die den natürlichen Codierungen, die ohne Zeichen geschehen, sehr viel näher steht“ wie etwa „Gestik, Rhythmus, Tanz“ (Deleuze und Guattari 1992: 163). Es geht den Autoren darum, in der Beziehung zwischen Worten und Dingen den Signifikationsprozess neu zu modellieren. „Kurz gesagt, man sollte Wörter niemals den Dingen gegenüberstellen, denen sie angeblich entsprechen sollen […]“ (Deleuze und Guattari 1992: 95), so Deleuze und Guattari in kritischer Wendung gegen die Logik der klassischen Semiotik. Was man gegenüberstellen sollte, sind vor dem Hintergrund der Theorie nichtlinearer Dynamik: „unterschiedliche Formalisierungen im Zustand eines instabilen Gleichgewichts“ (Deleuze und Guattari 1992: 95).
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Sprache dient dazu, mittels eines habituell erstellten Codes mit Mitmenschen bzw. Mitlebewesen über die Umwelt und deren Beobachtung zu kommunizieren. Dies dient dazu, sich in dieser Umwelt zurechtzufinden und dazu Wissen mittels Beobachtungen erster und zweiter Ordnung zu vergleichen. Dazu ist Sprache wiederum nicht das einzige Mittel. Wie auch Heinz von Foerster betont: „Die Sprache kann […] als ein emergentes Verhaltensmuster, als ein Eigenverhalten, als ein fremdartiger Attraktor oder besser als ein konstruktiver Transaktor verstanden werden, der zwei Autonomien zu einer verschmilzt“ (Foerster 1993: 298). Dennoch, obwohl die menschliche Sprache im Sinne der Evolution ein wichtiges Hilfsmittel ist, ist sie für Lebewesen insgesamt nicht für das Überleben notwendig: „Die Sprache, behaupte ich, ist ein solcher Eigenwert, ein Eigenverhalten. Wir reden − und es funktioniert tadellos. Aber es gibt viele Eigenlösungen“ (Foerster 2008: 53). Wie Vilém Flusser in seiner Fabel über den Vampyroteuthis Infernalis gezeigt hat, gibt es auch rein materielle Eigenlösungen, um zu kommunizieren, z. B. durch den Transfer von Strängen von DNA. Eine Kommunikation über die Welt ist lediglich dann erfolgreich − von Glaserfeld hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Wahrheit durch den der Viabilität ersetzt −, wenn sich die Sprache so nah wie möglich an diese Umwelt annähert, d. h., wenn sie sich in Resonanz mit dieser Umwelt verhält, denn schon die Stoiker, so Deleuze, haben gesehen, dass „[a]lles [sich] ereignet […] an der Grenze zwischen den Dingen und den Sätzen“ (Deleuze 1993: 24). Der Bereich des Sinns weitet sich somit aus auf alle Lebewesen; dementsprechend ist die Logik des Sinns eine Ökologik. Die Sprache erstellt Begriffe aus dem Konkreten, die Abstraktion der Begriffe kann nun jedoch entweder als Kulturleistung angesehen werden, wie Hegel dies in seiner Sprachphilosophie vertritt, sie kann aber auch als eine immer weitere Entfernung von der sich stets ändernden konkreten Dynamik der Welt gelesen werden: Logik des Sinns.
5. Konzepte erfinden Es gibt viele Perspektiven, aus denen man die Rolle der Sprache in konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff beschreiben kann: als das Treffen des kulturellen Konstruktivismus mit dem radikalen Konstruktivismus; als das Treffen des linguistischen und des materiellen Unbewussten; als das Treffen des Virtuellen und des Aktuellen bzw. des Intensiven und des Extensiven. Allen diesen Perspektiven ist zu eigen, dass sie die Operationen menschlicher Sprache nicht verneinen bzw. diese kritisieren, sondern, dass sie versuchen, die menschliche Sprache als verkörperte Sprache zu verstehen; als Sprache, die einem generellen Ökosystem immanent ist, aus dem sie emergiert. Man mag dies als Biologismus bzw. Vitalismus abtun, dies würde jedoch die natürliche Welt als natürlich ansehen und dies ist sie, allem wissenschaftlichen, künstlerischen und philosophischen Anschein nach, nicht. Die Natur ist nicht natürlich, sie ist eine Assemblage aus lebenden Maschinen, von der molekularen Ebene bis hin zur Ebene menschlicher Kultur. In der Perspektive der skizzierten konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff besteht eine Funktion der Sprache darin, diese Assemblage am Leben zu erhalten und für sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Lebewesen als lebenswert zu erhalten. Dies ist die ethische Dimension dieser konzeptuellen Alternativen. Foerster hat diese Dimension in der ihm eigenen lakonischen Art (die Mathematik ist immer lakonisch) folgenderma-
17. Die Rolle der Sprache in konzeptuellen Alternativen zum Kulturbegriff ßen formuliert: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird“ (Foerster 1993: 234). Übersetzt man diesen Imperativ einer radikalen Ethik in ökologische Register, so heißt dies: Handle stets so, dass die Diversität größer wird. Dies gilt auch für die Regimes der Zeichen und der Sprachen.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Maturana, Humbert R. and Francisco Varela 1980 Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living. Dortrecht: D. Reidel Publishing. Serres, Michel 1993 Hermes. Bd. IV.: Verteilung, übers. v. Michael Bischoff. Berlin: Merve.
Hanjo Berressem, Köln (Deutschland)
18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen 1. Die Herstellung staatlich autorisierter Einsprachigkeit 2. Die Sprachpolitik der „innern Grenze“
3. „Sprachkreuzung“ und Kontaktlinguistik: die Zurückweisung der Kongruenz von Sprache und Kultur 4. Literatur (in Auswahl)
1. Die Herstellung staatlich autorisierter Einsprachigkeit So sehr die griechisch-römische Zivilisation sich der Sprache als eines − im Zuge der Einführung von Schrift − grammatisch beschreibbaren und rhetorisch nutzbaren Mediums bewusst war, so verzichtete sie jedenfalls zunächst darauf, die Sprache selbst als ein Medium zur Politisierung ihrer Kultur einzusetzen. Zwar liegt der Verachtung der Barbaren insofern eine sprachliche Dimension zugrunde, als sich ihr Nichtgriechentum unmittelbar an ihrem Gestammel zu erkennen gab, also an der Schwierigkeit, sich Griechen verständlich zu machen. Aber die Sprache spielt im Spiel der Selbstdefinition und Abgrenzungsbestrebungen keineswegs die führende Rolle, an ihre Seite treten politische und religiös-kultische Eigenheiten, auf die die Griechen ihren kulturellen Narzissmus gründeten, um sich von den anderen abzugrenzen. Erst mit der Entstehung imperialer politischer Zusammenhänge unter Alexander und später im Imperium Romanum transformiert sich die zunächst räumlich verstandene Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren in eine „Bildungsantithese“ (Koselleck 1984: 224) und damit in ein funktional bewegliches, von bestimmten existierenden Gruppen oder Völkern ablösbares Dual: „Hellene war jeder Gebildete, gleich ob Grieche oder Nichtgrieche, wenn er nur das rechte Griechisch zu sprechen verstand, der Rest war Barbar. […] Das Bildungskriterium war übertragbar, dem folgend auch der Ausdruck Hellene immer neue Menschengruppen erfaßt“ (Koselleck 1984: 224). Wenn also die Griechen auch als die Erfinder des Politischen in Europa zu gelten haben, so gründen sie die Polis doch nicht auf Institutionen, die die Zugehörigkeit einer bestimmten Bevölkerung zu einer offiziellen Sprache hervorbringen und auf dem Weg bestimmter organisierter Sozialisationsprozesse dauerhaft zu garantieren versuchen. Erst mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten und ihrer hoheitlichen Bemühung um die Durchsetzung eines offiziellen und standardisierten Idioms kann man von einer Politisierung der Kultur sprechen, die sich der Sprache als eines zentralen Mediums bedient. Die Entste-
18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen hung des modernen Nationalismus ist in kultureller Hinsicht der Effekt einer autoritativen Zuordnung von Sprache und Raum bzw. Sprache und staatlich abgestecktem Territorium. Ein komplexes Zusammenwirken von staatlich lizensierten Agenten und Agenturen trägt dafür Sorge, dass die Vielfalt der in einem sozialen Raum anzutreffenden Sprachspiele und Sprechweisen zwar nicht beseitigt wird, aber sich fortan doch an einer verbindlichen Norm zu messen hat, die allen Sprechern ihren jeweiligen Abstand zur verbindlichen Hochsprache vor Augen führt. Die Etablierung einer staatlichen Standardsprache geht mit der Zurückdrängung aller übrigen volkstümlichen Redeformen in den Stand von mundartlichen oder vulgären Sondersprachen einher, deren Verwendung sich insbesondere bei offiziellen Anlässen sowie überhaupt in institutionalisierten Domänen strikt verbietet. Die Politisierung bzw. Verstaatlichung des Sprechens ist ein Vorgang, der der Sprache im linguistischen Sinne − verstanden als systematischer Regelzusammenhang, der jedem Sprecher als Kompetenz zur Verfügung steht − nicht äußerlich bleibt. Die universelle Sprechfähigkeit muss daher strikt von der gesellschaftlich bedingten Art und Weise ihrer Realisierung unterschieden werden: „Die Sprachkompetenz, die ausreicht, um Sätze zu bilden, kann völlig unzureichend sein, um Sätze zu bilden, auf die gehört wird, Sätze, die in allen Situationen, in denen gesprochen wird, als rezipierbar anerkannt werden können“ (Bourdieu 2005: 60; vgl. Artikel 13). Die Differenz zwischen Grammatikalität und sozialer Akzeptabilität markiert den Grad der Politisierung bzw. Verstaatlichung einer Sprache. Die Sprachgemeinschaft, von der in der Linguistik häufig in dem Sinne gesprochen wird, als sei die Sprache ein allen zum freien Gebrauch überantworteter Zeichenschatz, der jede sozial selektive Aneignung oder gar Monopolisierung ausschließt, ist eine fictio iuris, die die staatlichen bzw. behördlichen Maßnahmen und Techniken ihrer Fabrikation verbirgt. Autoren, die über Schreibautorität verfügen, Grammatiker, die die sprachlichen Formen analysieren und kodifizieren, Lehrer, denen die Aufgabe obliegt, im Umgang mit der jeweils neuen Generation von Sprechern die korrekte Sprachbeherrschung einzuüben, also falsche Redewendungen und Aussprachefehler als Verstöße zu sanktionieren: Sie alle wirken mit an der Herstellung und dauerhaften Reproduktion des normierten Produkts der Hochsprache, die sich immer wieder aufs Neue von der Vielzahl der spontan gesprochenen Idiome, Dialekte oder Varietäten unterscheiden und abgrenzen muss. Die Kodifizierung der Sprache vollzieht sich in einem zweifachen Sinne, der sich auf lexematischer Ebene beispielhaft an der Praxis der Wörterbücher ablesen lässt: Zum einen werden Äquivalenzen zwischen Wörtern bzw. Wortfolgen und Bedeutungen hergestellt und festgeschrieben; zum anderen wird der Kontingenz dieser Zuordnungen insofern Rechnung getragen, als die legitimen Verwendungen von Wörtern zusammen mit den illegitimen (aber sprachperformatorisch möglichen und verbreiteten) Verwendungen aufgeführt werden, wobei die illegitimen Varianten mit Ausgrenzungsmarkern versehen werden, die ihre umgangssprachliche, vulgäre, gaunersprachliche oder in anderer Hinsicht abweichende Qualität hervorheben. Wenn es auch stimmt, dass mit der Konstituierung des modernen Territorialstaates die Bedingungen für die Entstehung eines „einheitlichen, von der offiziellen Sprache beherrschten sprachlichen Marktes geschaffen“ wird (Bourdieu 2005: 50), sind es doch keineswegs allein die im staatlichen Bildungswesen, in den öffentlichen Verwaltungen und den politischen Institutionen agierenden Schulmeister, Juristen und Staatsbeamten, die die Anerkennung einer herrschenden Sprache durchsetzen. Damit die staatlichen Versuche einer umfassenden Codierung des Sprechverhaltens erfolgreich sein kann, müssen
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte sich zunächst eine Reihe von religiösen und medialen Transformationen ereignen: Zum einen kann die Arbeit an der offiziellen Sprache von den Lehrern, Grammatikern und Juristen erst dann aufgenommen werden, wenn das Medium der vorausgegangenen „heiligen Sprache“, die allen klassischen Großgemeinschaften bzw. Sakralkulturen zugrunde liegt, zerfallen bzw. in seiner Autorität entscheidend geschwächt ist. Heilige Sprachen übergreifen nicht nur regionale und nationale Gliederungen sozialer Gemeinschaften, sie unterscheiden sich von den späteren staatlichen Offizialsprachen vor allem dadurch, dass ihre Grundlage nicht die gesprochene, sondern die geschriebene Sprache, nicht der Laut, sondern das Zeichen ist. Sprachen wie das Kirchenlatein, das klassische Arabisch oder das Mandarinchinesisch sind „Wahrheitssprachen“ (Anderson 1988: 23), die, gerade weil sie stumme Sprachen sind, an keinen Ort, keine Region oder kein Territorium gebunden sind und daher auch keiner Gemeinschaft als ihr exklusives Eigentum gehören. Drei Entwicklungen liegen der Entmachtung der heiligen Sprache des Latein in Europa zugrunde: Zum einen verändert sich die Verwendungsweise des Lateinischen selbst, das im Zeitalter des Humanismus immer akademischer wird und sich vom kirchlichen ebenso wie vom alltäglichen Leben entfernt, um in der Hinwendung zu den Sprachdenkmälern des klassischen Altertums eine esoterische Qualität anzunehmen; die Erfindung des Buchdrucks und der in seinem Gefolge entstehende Buchmarkt statten die Reformation mit neuen Kommunikationskanälen aus, die eine Massenleserschaft für volkssprachliche Bibelübersetzungen und die religiöse Propagandaliteratur erzeugen und zugleich jeden Versuch einer zentralen Kontrolle der neuen Verbreitungsmedien verhindern; die Durchsetzung je besonderer Landessprachen schließlich war ein Anliegen der entstehenden absolutistischen Staaten, die den Fürsten ein Instrument an die Hand gaben, das der gewünschten Zentralisierung der Verwaltungen diente. Während es vor der Entstehung der modernen Nationalstaaten keinem Herrscher je gelang, die lateinische Sprache zu monopolisieren und in eine exklusive Staatssprache zu verwandeln (weshalb der religiösen Autorität des Lateinischen niemals eine politische entsprach), zielen die von Staats wegen betriebenen sprachpolitischen Bemühungen allesamt auf die Kongruenz von politischem System und offizieller Sprache. Die neuen Landesssprachen wurden jedoch zunächst nur von den Bürokratien benutzt, ohne dass die Herrscher daran dachten, sie den verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf ihren Territorien aufzuzwingen. Nicht die Staaten, sondern das Zusammenwirken von Buchdruck und kapitalistischem Buchmarkt ermöglichen jene Politisierung der Sprache, die sie als das privilegierte Medium nationaler Homogenität funktionieren lässt. Der Buchdruck übt eine Selektionswirkung auf die reale Differenzierung innerhalb der gesprochenen Sprachen aus, insofern er die unterschiedlichen Idiome zu einer bestimmten Anzahl von Schriftsprachen zusammenfasst, weil ansonsten das Druckgewerbe, „hätte es jeden potentiellen Markt der verschiedenen mündlichen Umgangssprachen auszunutzen versucht, keine bedeutenden Dimensionen hätte erlangen können“ (Anderson 1988: 50). Elisabeth Eisenstein betont neben der Funktion der Zusammenfassung verwandter Umgangssprachen zu einer mechanisch reproduzierten Schriftsprache, die sich über den Buchmarkt verbreitet, das heißt, hinreichend große Lesermassen rekrutieren konnte, den Standardisierungs- und Fixierungseffekt, der von der Druckschrift ausgeht, insofern sie dem Geschriebenen eine unveränderliche Form verleiht, die nicht länger den „individualisierenden und ‚unbewußt modernisierenden‘ Einflüssen klösterlicher Kopisten unterworfen“ (Anderson 1988: 51) waren, sodass sich der Wandel der Schriftsprachen konsequenterweise verlangsamte: „Die Typographie stoppte ein sprachliches Fluktuieren, bereicherte
18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen und standardisierte die Landessprachen und bereitete den Weg für die überlegtere Reinigung und Kodifizierung aller wichtigen europäischen Sprachen“ (Eisenstein 1997: 75). Eisenstein weist ebenfalls auf die Rolle von pädagogischer Spracherziehungsliteratur, der sogenannten Elementarbücher, für die Entstehung eines spezifischen „Nationalgefühls“ hin: „Während der Jahre, in der das Kind am aufnahmefähigsten ist, sah das Auge zum ersten Mal eine standardisierte Version dessen, was das Ohr zuerst gehört hatte“ (Eisenstein 1997: 76). Nachdem an Lateinschulen zunehmend landessprachliche anstelle von lateinischen Texten für den Leseunterricht herangezogen wurden, „wurden die sprachlichen ‚Wurzeln‘ und wurde die Verwurzelung im eigenen Heimatland gefestigt“ (Eisenstein 1997: 76). Fixierung, Standardisierung und Homogenisierung des Sprechund Schreibverhaltens dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neuen Machtsprachen die lokalen Dialekte und Idiome nicht auslöschen, sondern ihnen den Status einer nur mehr gesprochenen Sprache bzw. einer Zwangsmündlichkeit zuweisen. Es gehört zur kulturellen Dynamik nationaler Bewegungen, dass überall dort, wo die Nationalsprachen von großen Teilen der Bevölkerung nicht gesprochen werden oder wo standardisierte Hochsprachen über politische Grenzen hinweg verwendet werden, Minoritäten oder Unternationalitäten ihre kulturell subalterne Position dadurch zu überwinden versuchen, dass sie ihre Sprache in die Domäne zunächst der Druckmedien und heute der elektronischen Medien (Radio, Fernsehen, Internet) einzuschleusen versuchen. Um zu verstehen, wie Verwaltungseinheiten im Lauf der Zeit als Vaterländer betrachtet und mit quasireligiöser Inbrunst verehrt werden konnten, muss man der entscheidenden Leistung der nationalen Machtsprachen Rechnung tragen, die darin besteht, unterhalb der vormaligen Universalsprachen, aber oberhalb der nur gesprochenen Umgangssprachen ein Kommunikationsmedium zur Verfügung zu stellen, dass es Hunderttausenden oder Millionen Lesern ermöglicht, sich als eine Gemeinschaft zu imaginieren, deren „,ersichtliche‘ Unsichtbarkeit“ (Anderson 1988: 51) das innerweltliche Pendant der religiösen Manifestation Gottes ist. Hegels Satz, dass dem modernen Menschen die Zeitung als Ersatz für das Morgengebet dient, verweist auf die quasireligiöse Dimension massenmedialer Praktiken, deren Funktion darin besteht, jedes Individuum, das an ihnen teilnimmt, davon zu überzeugen, dass es an einer Zeremonie beteiligt ist, die gleichzeitig tagaus, tagein von Tausenden oder Millionen anderer vollzogen wird, von deren Identität es nichts wissen muss.
2. Die Sprachpolitik der „innern Grenze“ Die Staaten können nur dann zu Nationalstaaten werden, wenn sie sich das Heilige aneignen − und zwar nicht auf der Ebene verfassungsrechtlicher Nachfolgekonzepte für die vormalige monarchische Souveränität, sondern vor allem auf der „Alltagsebene der Legitimation und mithin Kontrolle der Geburten und Sterbefälle, der Eheschließungen und ihrer Substitute, der Erbschaften und so weiter. Sie entziehen diese Dimension tendenziell den Sippen, den Familien und vor allem den Kirchen oder religiösen Sekten.“ Sie müssen den zivilgesellschaftlichen Organisationen (Familien, Zünften und Berufsständen, Kirchen) darüber hinaus die „Verwaltung der ‚Kommunikation‘, die Definition von Kultur und Nationalsprache“ (Balibar 2003: 46) sowie die komplexe Regelung der anerkannten sozialen Hierarchien und Verhältnisse zwischen verschiedenen Qualifikatio-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte nen (Einführung der Schulpflicht und staatlich anerkannter Bildungstitel) streitig machen. Diese institutionelle Seite der Kompetenzübertragungen und Machtmonopolisierungen des modernen Staates hat ihr Pendant in einer kulturellen Überformung der subjektiven Primäridentitäten (die Standes- oder Klassenidentitäten, regionale, sprachliche, religiöse, familiale und geschlechtliche Identitäten umfassen) in sekundäre (nationale, staatsbürgerliche) Identitäten. Wenn hier von einer „Überformung“ die Rede ist, dann, um das nationalstaatliche Streben nach einer vollständigen Kongruenz von sekundärer Identität und Herkunftsidentität (Monokulturalismus) als Generator fortwährender Spannungen zu markieren, die bis in die Gegenwart die Debatten und Konflikte um Leitkulturen oder Multikulturalismus prägen. Bestimmte hochgradig emotionsgeladene symbolische Vorfälle etwa, die durch religiöse Objekte, Haltungen oder Zeichen in schulischen Institutionen ausgelöst werden (Kruzifixe in bayerischen Klassenzimmern, islamische Kopftücher französischer Schülerinnen), oder auch staatliche Versuche zur Etablierung einer national-laizistischen Kleiderordnung, die beispielsweise das Tragen der Burka in der Öffentlichkeit verbietet, zeigen, dass die „Nationform“ − eine historisch spezifische „Artikulation von administrativen und symbolischen Staatsfunktionen“ (Balibar 2003: 42) − ein Modell von kollektiver Zugehörigkeit stiftet, das zu keinem Zeitpunkt unangefochten ist − weder von innen noch auch von außen. Diese Form zielt auf die doppelte Reduktion einer inneren wie äußeren Fremdheit oder Heterogentiät ab: Der kulturelle Fetischismus, der ihr zugrunde liegt, beschränkt die Zirkulationsmöglichkeiten von Dingen, Personen und Zeichen, die sich an einer Grenze ausweisen müssen, um Zutritt zum Territorium zu erlangen; er arbeitet darüber hinaus an einer im strikten Sinne imaginären Aufhebung jener Gegensätze, Konflikte und soziokulturellen Disparitäten, die jede Gesellschaft von innen heimsuchen und die damit zugleich die strukturellen „Grenzen der Gemeinschaft“ (Plessner 2002) aufzeigen. Für die nationale Politisierung der Kultur gilt, was Jacques Lacan für die Struktur des Imaginären und die Gewalt der wahnhaften Selbstidentifizierung insgesamt feststellt: Sie funktioniert nach dem Modell der projektiven Identifikation mit einem Bild, „ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt“ (Lacan 1975: 67) − mit dem Resultat, dass die Gesellschaft, die mit sich identisch sein will, indem sie sich eine fiktive Ethnizität bescheinigt oder als substanzielle Gemeinschaft auftritt, um so ihre „ursprüngliche Zwietracht“ (Lacan 1975: 66) zu kaschieren, jede Heterogenität als ihr anderes sich unterordnen, aneignen oder ausschließen muss und genau dadurch in „eine unabschließbare Rivalität mit sich selbst und mit allem anderen gerät“ (Weber 1978: 87). Die aggressive Spannung, die Lacan für den Vorgang der Ichbildung im Rahmen seiner Theorie des Spiegelstadiums diagnostiziert, wiederholt sich auf der Ebene der Nationform insofern, als alle Aufrufe zur Autochthonie, Autarkie, Undurchlässigkeit und Feindschaft der Nationen bezeugen, dass diese Form „von der Verleugnung und der Verkennung ihrer strukturellen Abhängigkeit vom anderen“ lebt (Weber 1978: 87). Das maßgebliche nationalpädagogische Manifest einer durch das Medium der Sprache politisierten Kultur hat Johann Gottlieb Fichte in seinen 1807/1808 gehaltenen Reden an die deutsche Nation vorgelegt. Die geläufigen ideologiekritischen Lektüren der Reden, die sie im historischen Kontext des intellektuellen antinapoleonischen Widerstands verorten, sind zwar gut gemeint, aber verfehlen den entscheidenden Punkt der Argumentation Fichtes, der darauf abzielt, die Kontingenz und Arbitrarität einer politischen Ordnung und des ihr entsprechenden Herrschaftsraums in eine Wirklichkeit zu verwandeln,
18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen die von den Subjekten verinnerlicht und gelebt wird. Fichtes Konzept der „innern Grenzen“ (Fichte 1978: 207) kommt hier entscheidende Bedeutung zu, da mit seiner Hilfe die äußeren, institutionell fixierten Grenzen eines politischen Territoriums, die hoheitlich garantiert werden, in eine sprachliche Wirksamkeit übersetzt werden, die die affektive Anerkennung durch die Bürger erzwingen soll. Eine Sprache zu sprechen, nimmt hier die Form einer totalen Identifikation des Sprechenden mit dem Medium an, weil sie zugleich die Bedingung seiner Konstitution als Subjekt ist (Balibar 1997: 152). Das Band, das die Bürger vereint, kann weder durch geographische Grenzziehungen (natürliche Grenzen) noch auch durch staatlichen Befehl oder durch einen fiktiven Vertrag aller mit allen hervorgebracht werden. Das einzige Medium, das dieses Band zu stiften vermag, ist nicht territorialer oder institutioneller, sondern linguistischer Art: „Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur mit einer Menge von unsichtbaren Banden aneinandergeknüpft; es versteht sich untereinander, und ist fähig, sich immerfort klärer zu verständigen, es gehört zusammen, und ist natürlich Eins, und ein unzertrennliches Ganzes“ (Fichte 1978: 207). Nicht die Mythisierung der Sprache zu einer Naturkraft, also die durchgängige Verleugnung ihres Zeichencharakters zugunsten ihrer Konzeption als „Sinnbild“ − die Sprache „hängt keineswegs von willkürlichen Beschlüssen und Verabredungen ab“, vielmehr bilden sich Begriffe zu Lauten auf dieselbe zwingende Weise wie Figuren und Farben in der Wahrnehmung erscheinen (Fichte 1978: 61) −, ist die entscheidende philosophische Operation, die Fichtes „Betrachtungen über das Wesen der Sprache“ vornehmen. Eine solche Auffassung ließe sich linguistisch ebenso leicht kritisieren wie der komplementäre Rückgriff auf eine „Ursprache“ und ein „Urvolk“, das sie gesprochen hat und über Generationen hinweg „ohne Sprung“ weitergibt (Fichte 1978: 63). Die sprachpolitische Aggressivität der „innern Grenze“ kommt in einer doppelten Exklusionsgeste zum Ausdruck, die das Spektrum mehr oder weniger gewaltsamer Verleugnungen der konstitutiven Multikulturalität aller Kulturen − also noch vor jeder programmatischen Stellungnahme für oder gegen den Multikulturalismus − bis heute maßgeblich bestimmt. Die Fiktion sprachlicher Homogenität eines Volkes erzeugt ein umfassendes Verstehen nach innen, dessen Kehrseite das Verbot der Vermischung mit Völkern „anderer Abkunft und Sprache“ ist: Angehörigen solcher Völker ist die Aufnahme grundsätzlich zu versagen, da ansonsten der „gleichmäßige Fortgang“ der Bildung des aufnehmenden Volkes gestört würde (Fichte 1978: 207). Diese Form einer rigiden Fernhaltung derer, die nicht zum „unzertrennlichen Ganzen“ gehören, stellt Fichte eine komplexere Form der Abweisung zur Seite, die das Faktum der Migration nicht leugnet, sondern durch sprachpolizeiliche Maßnahmen in seinen Auswirkungen zu begrenzen versucht. Wenn sich die Zirkulation von Menschen, Dingen und Zeichen über institutionalisierte Grenzen hinweg schon nicht vermeiden lässt, wenn, mit anderen Worten, Kommunikation jene Grenzregime immer schon ignoriert, die der Nationalstaat errichtet und im Namen des Volkes administriert, dann kommt für das nationalpolitische Projekt, dem sich Fichte verschreibt, alles darauf an, die unvermeidliche Überwindung der äußeren Grenzen durch die Errichtung der „innern Grenzen“ zu kompensieren. Weil im Binnenraum der Nationalkultur nur solche sprachlichen Zeichen zirkulieren dürfen, denen eine „wirklich erlebte Anschauung des Volkes“ entspricht (Fichte 1978: 66), muss die Präsenz anderer Völker auf dem Gebiet des eigenen Volkes, wenn sie denn schon nicht verhindert werden kann, zum Anlass genommen werden, ihren Anschauungen jeden Einfluss auf die Fortentwicklung der Sprache des sogenann-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte ten Stammvolkes zu untersagen: „so bleiben diese stumm in der Gemeine, und ohne Einfluß auf die Sprache, so lange, bis sie selbst in den Umkreis der Anschauungen des Stammvolkes hineingekommen sind, und so bilden nicht sie die Sprache, sondern die Sprache bildet sie“ (Fichte 1978: 66 f.). Die Errichtung der „innern Grenze“ wendet sich jedoch nicht nur gegen diejenigen, die als Angehörige fremder Staaten und Sprachen identifizierbar sind, sondern verlangt zudem fortlaufende Maßnahmen zur Produktion jenes „unzertrennlichen Ganzen“, das die Reden Fichtes immer schon voraussetzen. Auf die Sprache allein, die das „Eine Volk“ (Fichte 1978: 207) spricht, mag sich Fichte in letzter Instanz nicht verlassen, denn diese Sprache überbrückt keineswegs die politisch virulente Spaltung zwischen herrschenden und beherrschten Schichten oder Ständen. Dem nationalsprachlichen Integrationsdiskurs muss Fichte daher ein nationalpädagogisches Dispositiv zur Seite stellen. Der kulturellen Trennung des (vermeintlich sprachlich geeinten und daher homogenen) Volkes in gebildete und bildungsferne Schichten begegnet er mit der Aufgabenstellung einer „neuen Erziehung“, die das „Durchgreifen bis in die Wurzel der Lebensregung und -bewegung“ (Fichte 1978: 23) fordert. Das Volk nämlich, auf dem „das gemeine Wesen recht eigentlich ruht“, wurde, so Fichte, bislang „von der Erziehungskunst fast ganz vernachlässigt, und dem blinden Ohngefähr übergeben“ (Fichte 1978: 23). Es firmiert in dieser Argumentation stets als der ambivalente Teil, der nicht ohne Weiteres ins Ganze eingeschlossen werden kann, dem es doch de jure angehört: Die Zuwendung zu diesem Volk erfolgt daher stets in der Perspektive seiner Abschaffung auf dem Weg erzieherischer oder kulturpolitischer Maßnahmen (vgl. dazu Agamben 2002: 186−189; Bauman 1996). Mit seiner Leitunterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft als Grundkategorien einer „reinen Soziologie“ führt Ferdinand Tönnies Fichtes Konzept der „innern Grenze“ in die entstehende Wissenschaft vom Sozialen ein: Das Leben in Gemeinschaft wird mit all den imaginären Werten des Unmittelbar-Erlebnishaften, Vertrauten, Heimlichen und Exklusiven aufgeladen, die Fichte der Zugehörigkeit zum „Nationalkörper“ (Fichte 1978: 58) zugeschrieben hatte, während die Gesellschaft auch terminologisch als „die Fremde“ und „die Welt“ (Tönnies 1979: 3) aufgefasst wird, als öffentlicher, anonymer und tendenziell globaler Raum, in den man sich nur widerwillig begibt. Alle Formen sozialer Verbundenheit, die im Raum der Gesellschaft möglich sind, heben nicht die fundamentale Trennung auf, in der das Subjekt dort zu existieren gezwungen ist. Anders als Fichte betont Tönnies jedoch die verwandtschaftlichen Bande sowie die häusliche und territoriale Grundlage der Gemeinschaft so stark, dass er das „Verständnis“ (Tönnies 1979: 18), das diese Existenzform hervorbringt, nicht länger wesentlich von der Sprache und ihrer Fortentwicklung abhängig macht. In Tönnies‘ „reiner Soziologie“ gibt es keinen Ort mehr für die Fähigkeit eines Volkes, „sich immerfort klärer zu verständigen“ (Fichte 1978: 207), da das Verständnis, in dem die Menschen in der Gemeinschaft leben, seinem „Wesen nach schweigend“ und sein Inhalt „unaussprechlich, unendlich, unbegreiflich“ ist (Tönnies 1979: 19). So signifikant diese Differenz im Hinblick auf die linguistische Fundierung der Nationform bzw. des Konzepts der Gemeinschaft auch sein mag, so muss andererseits festgehalten werden, dass Fichtes Vorstellung einer zeichenfreien, sinnbildlichen Sprache wie bei Tönnies einen Raum des kollektiven Verständnisses abgrenzt, der anderen Sprachgemeinschaften genauso fremd und exklusiv gegenübersteht wie bei Tönnies die Gemeinschaft der Gesellschaft. Die metaphysische Großunterscheidung von Leben und Tod, Organismus und Mechanismus codiert beider Diskurse; ihr Unterschied besteht darin, dass bei Tönnies die für Fichte entscheidende Spannung
18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen und Rivalität zwischen den Sprachgemeinschaften entfällt. Fichte erträgt nicht, dass sie gleichberechtigt zueinander oder gar in einem unkontrollierten Austausch miteinander stehen. Um die Gefahr abzuwehren, durch unbesehen übernommene Begriffe aus einer „toten Sprache“ (unter diesen Kampfbegriff subsumiert Fichte sämtliche neulateinischen, also romanischen Sprachen, weil sie von einem nicht länger gesprochenen klassischen Latein abstammen) vom rechten Verständnis abgelenkt zu werden, verschreibt sich Fichte einem hermeneutischen Imperialismus: Allein eine lebendige Sprache, deren Paradigma das Deutsche ist, verfügt über die Kapazität zur Übersetzung und „Prüfung“ (Fichte 1978: 71) dessen, was „der Ausländer“, der in seiner Sprache eingeschlossen bleibt, niemals verstehen kann. Die tote Sprache ist dadurch definiert, dass sie ihren Sprechern den Sinn dessen, was sie eigentlich sagen, notwendig verbirgt. Umgekehrt können die Besitzer einer lebendigen Sprache, „den Ausländer immerfort übersehen, und ihn vollkommen, sogar besser, denn er selbst, verstehen“ (Fichte 1978: 73).
3. „Sprachkreuzung“ und Kontaktlinguistik: die Zurückweisung der Kongruenz von Sprache und Kultur Fichtes nationallinguistisches Projekt einer geschlossenen Sprache, wie man in Analogie zu seinem ökonomischem Theorem vom „geschlossenen Handelsstaat“ sagen könnte, radikalisiert bestimmte Voreingenommenheiten einer Linguistik, die die Sprache als System unangreifbarer und unveränderter Normen konzipiert. Valentin N. Vološinov hat in einer klassischen sprachphilosophischen Studie die Denkzwänge der Systemlinguistik auf ihre undurchschaute philologische Ausrichtung zurückgeführt: „Über den Kadavern geschriebener Sprachen ist dieses Denken entstanden und gereift; alle seine grundlegenden Kategorien, Ansätze und Verfahrensweisen wurden durch die Wiederbelebung dieser Kadaver herausgearbeitet“ (Vološinov 1975: 127). Dieser Zug ist ironischerweise auch Fichtes Konzept einbeschrieben, das sich zwar im Zeichen des sprachlichen Lebens den toten Sprachen entgegensetzt, aber in der Abweisung jeder linguistischen Vermischung und damit der Errichtung eines expliziten sprachlichen Kontaktverbots zu einer monströsen Monumentalisierung dieses sprachlichen Lebens gelangt. Vološinov gelingt es, im Rahmen einer komplexen Theorie der „Sprachkreuzung“ (Vološinov 1975: 133) die Rolle des „fremden Wortes“ in der Kulturgeschichte Europas als den entscheidenden Generator linguistischen Wissens und institutioneller Erfindungen zu bestimmen. Statt der Beschäftigung mit den toten Sprachdenkmälern die Konzentration auf das lebendige Wort entgegenzusetzen, kommt es darauf an, „die grandiose organisierende Rolle des fremden Wortes, das immer Hand in Hand mit einer fremden Macht und Ordnung ging“ (Vološinov 1975: 132), anzuerkennen und in seiner kulturellen Produktivität zu analysieren. Dass gerade das „fremde ausländische Wort“ „Licht, Kultur, Religion und politische Organisation“ brachte (Vološinov 1975: 132), ist in den Augen Fichtes die Schande, die durch das Phantasma einer eigenen Sprache, die allein dem Volk, das sie spricht, gehört, getilgt werden muss. Vološinov trägt diesem von Fichte philosophisch ausgearbeiteten und verstärkten Effekt der Reduktion der Sprache auf ein Medium der kollektiven Selbstexpression Rechnung, wenn er feststellt: „Das Wort der Muttersprache ist ein ‚Kumpel‘, es wird empfunden, wie die Kleidung, an die man gewöhnt ist, oder besser, wie die gewohnte Atmosphäre, in der man lebt und atmet. Es birgt keine Geheimnisse“ (Vološi-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte nov 1975: 132). Erst im „fremden Mund“ könnte es zum Geheimnis werden, und eben gegen diese Möglichkeit einer Enteignung des eigenen Ausdrucksmediums und dem damit verbundenen Effekt der sprachlichen Ent-Fremdung richtet sich die Argumentation Fichtes. Vološinovs sprachphilosophische und sprachsoziologische Zurückweisung aller linguistischen Bemühungen um eine „Isolierung“ sprachlicher Phänomene − auf welcher Untersuchungsebene auch immer − zugunsten einer Rekonstruktion der sozialen „Akzentuiertheit“ (Vološinov 1975: 139) allen Sprachmaterials, das nicht von der Dynamik seiner Verwendungskontexte ablösbar ist, legt die Voraussetzungen des Sprachnationalismus offen, wenn er deren Philosopheme auf die Vorstellung zurückführt, dass es „ein Volk gäbe, das nur seine eigene Muttersprache kennt“, und für dieses Volk „das Wort eins wäre mit den vertrauten Wörtern aus seinem Leben“ (Vološinov 1975: 131). Das notwendige „Empfinden für das fremde, anderssprachige Wort“ (Vološinov 1975: 131) hat Anlass zur Entwicklung einer Subdisziplin der gegenwärtigen Sprachwissenschaft gegeben, die unter dem Titel der „Kontaktlinguistik“ angetreten ist, den Sprachgebrauch auf allen seinen Ebenen von der Fixierung auf ein Standardsprachmodell abzulösen und an seine Stelle das Konzept einer irreduziblen Vielheit und strukturellen Interaktion der Sprachen (Polyglossie) anzusetzen. Das Empfinden für das fremde, anderssprachige Wort beschränkt sich in diesem Forschungszweig nicht nur auf die Untersuchung bi- oder multilingualer Kompetenzen bei bestimmten Sprachbenutzern oder ganzen Sprachgemeinschaften; die Fremdheit des Wortes zu beschreiben und zu theoretisieren, setzt voraus, den sprachperformativen Techniken und Operationen auf den Grund zu gehen, durch die der Sprachkontakt zu einer mutuellen Transformation der Sprachen bzw. Sprachvarietäten führt, die miteinander in Kontakt geraten. Die Sprachentwicklungstheorie wird damit von der Vorstellung einer grundsätzlich im Rahmen gesetzter Standardsprachen verbleibenden, organischen Bildungsgeschichte gelöst und öffnet sich insbesondere der Erforschung aller Spielarten von linguistischer Hybridisierung und Kreolisierung auf phonologischer, morphologischer und syntaktischer Ebene. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstehen erste linguistische Arbeiten, die Vielsprachigkeit und Sprachkontakt mithilfe des Konzepts der sprachlichen Interferenz zu beschreiben versuchen (Oksaar 1996: 3). Das Forschungsfeld der Kontaktlinguistik erhält dann mit den Untersuchungen von Uriel Weinreich und Einar Haugen (Oksaar 1996: 3−4) aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts erstmals einen theoretischen Rahmen, der die Vorstellung reiner Sprachen zurückweist und eine Linguistik kritisiert, die durch die Wahl ihrer theoretischen Modelle, die auf monolingualen Normen basiert, die Tatsache ignoriert, dass „es in der Welt viel mehr Multilinguale als Monolinguale gibt“ (Clyne 1996: 13). Für die entstehende Kontaktlinguistik ist daher nicht die Mehrsprachigkeit, sondern die Einsprachigkeit der Sonderfall (Lüdi 1996a: 234): „Die Fiktion einer einheitlichen, systematisch insgesamt beschreibbaren oder gar festlegbaren Sprache muß um so schneller aufgegeben werden, je genauer und differenzierter man die sprachlichen Phänomene zur Kenntnis nimmt und erforscht“ (Weisgerber 1996: 258). Ethnographische, soziologische und psychologische Fragestellungen erweitern die linguistische Perspektive um jene Faktoren, ohne deren Berücksichtigung zentrale Antriebskräfte des Sprachkontakts nicht erklärbar sind. Obwohl die Entstehung kontaktlinguistischer Forschungen zweifellos auch der Erosion nationalstaatlicher Sprachaneignung und transnationaler Kommunikationsnotwendigkeiten Rechnung trägt, vermag sie ihre Fragestellung jedoch auch sprach- und kulturgeschichtlich durch die Berücksichtigung der vormodernen linguistischen Situation zu situieren. So ist die gesamte öffentliche Kultur des Mittel-
18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen alters und der frühen Neuzeit durch den Umgang mit einer „Diglossiesituation“ (Eichinger 1996: 90) geprägt, wie man insbesondere an der literarischen Mehrsprachigkeit jener Zeit ablesen kann: „So dichten nicht nur dieselben Autoren, als sich das seit dem 12. und 13. Jahrhundert durchsetzt, in der Volkssprache und im Lateinischen, es werden auch volkssprachige Dichtungen ins Lateinische übersetzt, ja letztlich wird die volkssprachliche Literatursprache nach dem lateinischen Muster geformt“ (Eichinger 1996: 90). Die Komplexität von Diglossiesituationen ermisst sich im Übrigen an den unterschiedlichen Relationen, die zwischen den dauerhaft in Kontakt stehenden Sprachen herrschen. Wenn Philosophen betonen und als ein regelrechtes „Axiom“ aufstellen, es sei einer „Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist“ (Derrida 1992: 12) bzw. mit sich differiert, dann versteht man das multikulturelle Pathos dieser Formulierung nur vor dem Hintergrund der nationalstaatlichen Schließung der Kultur − ein von vornherein zum Scheitern verurteilter Vorgang, der die historischen Dokumente und sprachlichen Indizien ignoriert, die davon zeugen, „daß alle großen Staatengebilde in der Menschheitsgeschichte mehrsprachig waren und Strategien entwickelten, um das Nebeneinander unterschiedlicher Sprachen zu regeln und auszunutzen“ (Lüdi 1996a: 237). Während Diglossie zunächst terminologisch als „stabile komplementäre funktionelle Verteilung“ (Lüdi 1996a: 237) zweier Sprachvarietäten konzipiert wurde (wobei eine offiziell gelernte Standardvarietät mit höherem sozialen Prestige einer mündlichen Spontanvarietät gegenüberstand, die als Muttersprache erworben und für alltägliche Funktionen zur Verfügung steht), ist die Verwendung des Begriffs heute nicht länger für die Beschreibung linguistischer Binnendifferenzierungen reserviert (Hoch- bzw. Schriftsprache vs. Umgangssprache: „in-disglossia“), sondern stellt die Existenz unterschiedlicher Sprachen auf demselben Territorium („out-disglossia“) in Rechnung, Sprachen, die einander nicht äußerlich bleiben, sondern zu umfangreichen wechselseitigen Entlehnungen und Mischungen auf allen strukturellen Niveaus einer Sprache führen. Die Mehrsprachigkeit hat eine ambivalente Auswirkung auf die Kultur, für die sie konstitutiv ist: Solange sie von den linguistischen Subkategorisierungen wie Standardsprache, Umgangssprache oder Dialekt erfassbar ist, ist sie funktional oder domänenabhängig regulier- und begrenzbar. Ein Sprecher, der über verschiedene Sprachvarietäten verfügt, weiß, welche Sprache welcher Situation angemessen ist und kann in Abhängigkeit von dem, was die jeweilige Situation erfordert, seine Sprache wählen. Solange es eine stabile Relation zwischen Sprachvarietäten und Domänen, also bestimmten Lebens- und Themenbereichen bzw. institutionellen Feldern gibt, ist die politische Funktion der Mehrsprachigkeit für die Kultur von grundsätzlich stabilisierender oder konservierender Art. Anders verhält es sich, wenn Migranten nicht als Folge unzureichender Sprachkenntnisse, sondern durch die virtuose Mischung zweier oder mehrerer sprachlicher Ressourcen zweisprachig oder multilingual sprechen. Das Code-Switching führt dann nicht zu einem kompletten Wechsel der jeweiligen Sprache oder Sprachvarietät, sondern zu einer Einbettung von sprachlichen Elementen und Strukturen einer Sprache in die andere, sodass die „transkodischen Markierungen“ − verstanden als die „Gesamtheit aller formalen Spuren des Sprachkontakts“ − offen in der Kommunikation zutage treten (Lüdi 1996b: 322). Das Code-Switching kombiniert aber nicht nur verschiedene Sprachen oder sprachliche Varietäten in ein- und derselben sprachlichen Äußerung unter grundsätzlicher Wahrung der grammatischen Strukturen der jeweiligen Sprachen (Maas 2008: 102−103). Es kann darüber hinaus auch sprachstrukturelle Innovationen, für die es kein Modell in den jewei-
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte ligen Referenzsprachen gibt, generieren (Maas 2008: 91; zum Konzept einer „Geolinguistik“, die nicht Codes, sondern „kollektive Aussagegefüge“ und ihre Transformationseffekte in den Mittelpunkt stellt, vgl. Deleuze 2005: 63−67). Ein solches konstitutiv zwei- oder mehrsprachiges Sprechen ignoriert die sprachsystemischen Vorgaben und Normen der Herkunfts- wie auch der Aufnahmegesellschaft und führt auf diese Weise zu einer Lockerung kultureller Identifizierungszwänge im Prozess des kommunikativen Handelns. Die Kontaktlinguistik stößt an dieser Stelle, an der es um die genuine Zwei- oder Mehrsprachigkeit geht, auf das Gebiet der „fremden Rede“ vor, das Vološinov erstmals in seiner ganzen linguistischen Tragweite entfaltet hat. Er nannte sie ein „produktives ‚Knotenphänomen‘“, das die Sprachwissenschaft bislang „völlig unterbewertet“ habe und das ein „außerordentliche[s] methodologische[s] Interesse“ beanspruchen könne. Nicht die Wiedergabe fremder Äußerungen als solcher, sondern deren „Einbeziehung eben als fremde Äußerungen in einen zusammenhängenden monologischen Kontext“ (Vološinov 1975: 177) stellt dabei jenes Phänomen dar, das einer kontaktlinguistischen Problematisierung zugänglich wird: Denn bei der fremden Rede geht es um eine tiefer gehende als lediglich thematische Bezugnahme der eigenen auf eine andere Rede. Die fremde Rede ist von der Metasprache dadurch unterschieden, dass sie „sozusagen in eigener Person, in die Rede und ihre syntaktische Konstruktion als ihr besonderes konstruktives Element eingehen“ kann. Dabei bewahrt die fremde Rede „ihre Sinnselbständigkeit, ohne das Sprachgewebe des Kontextes, der sie aufgenommen hat, zu zerstören“ (Vološinov 1975: 178). Dass man in der eigenen Rede weiterhin den „Körper der fremden Rede“ spürt (Vološinov 1975: 179), dass sich also in den Formen der Wiedergabe der fremden Rede „die aktive Beziehung einer Äußerung zu einer anderen“ ausdrückt − und zwar vorthematisch in spezifischen „konstruktiven Formen der Sprache selbst“ (Vološinov 1975: 179) −, wird von der Sprachkontaktforschung bestätigt, die im Rahmen ihrer Theorie der transkodischen Markierungen den ganzen Reichtum an formalen Mitteln analysiert (Interferenzen, Spontanentlehnungen, Juxtapositionen, Code-Switching etc.), die die diskursive Manifestation einer genuinen Zwei- oder Mehrsprachigkeit ermöglichen. Die Vorstellung einer Zuordnung von Kulturen zu bestimmten geographisch abgrenzbaren Räumen und daraus abgeleiteten stabilen kollektiven Identitäten („Kulturkreise“) kann sich zu ihrer Rechtfertigung immer weniger auf ein monolinguales Konzept von Sprache stützen, dessen institutionelle Autorität zu keinem Zeitpunkt die Phänomene der sprachlichen Überlagerungen eigener und fremder Reden in derselben Äußerung, also die „Reden in den Reden“, zum Verschwinden brachte.
4. Literatur (in Auswahl) Agamben, Giorgio 2002 Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Anderson, Benedict 1988 Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a. M.: Campus. Balibar, Étienne 1997 Fichte et la frontière intérieure. À propos des Discours à la nation allemande. In: ders., La crainte des masses. Politique et philosophie avant et après Marx, 131−156. Paris: Galilée.
18. Sprache und Politisierungen von Kulturbegriffen Balibar, Étienne 2003 Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg: Hamburger Edition. Bauman, Zygmunt 1996 Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer. Bourdieu, Pierre 2005 Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Mit einer Einführung von John B. Thompson. Wien: Braumüller. Clyne, Michael 1996 Sprache, Sprachbenutzer und Sprachbereich. In: Hans Goebl, Peter H. Nelde, Zdeněk Starý und Wolfgang Wölck (Hg.), Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 12−22. Berlin/New York: de Gruyter. Deleuze, Gilles 2005 Linguistische Zukunft. In: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975−1995, 63−67. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques 1992 Das andere Kap. Erinnerungen, Antworten und Verantwortungen. In: ders., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, 9−80. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eichinger, Ludwig M. 1996 Literaturwissenschaft, Philologie und Kontaktlinguistik. In: Hans Goebl, Peter H. Nelde, Zdeněk Starý und Wolfgang Wölck (Hg.), Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 89−97. Berlin/New York: de Gruyter. Eisenstein, Elizabeth I. 1997 Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa. Wien/New York: Springer. Fichte, Johann Gottlieb 1978 Reden an die deutsche Nation. Hamburg: Meiner. Koselleck, Reinhart 1984 Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 211−259. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lacan, Jacques 1975 Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß der Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949. In: ders., Schriften 1, 61−70. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lüdi, Georges 1996a Mehrsprachigkeit. In: Hans Goebl, Peter H. Nelde, Zdeněk Starý und Wolfgang Wölck (Hg.), Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 233−245. Berlin/New York: de Gruyter. Lüdi Georges 1996b Migration und Mehrsprachigkeit. In: Hans Goebl, Peter H. Nelde, Zdeněk Starý und Wolfgang Wölck (Hg.), Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 320−327. Berlin/New York: de Gruyter. Maas, Utz 2008 Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle Dimension. Göttingen: V&R unipress, Universiätsverlag Osnabrück. Oksaar, Els 1996 The History of Contact Linguistics as a Discipline. In: Hans Goebl, Peter H. Nelde, Zdeněk Starý und Wolfgang Wölck (Hg.), Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 1−12. Berlin/New York: de Gruyter.
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I. Sprache − Wissenschaft − Kultur: Begriffsklärungen und Disziplinengeschichte Plessner, Helmuth 2002 Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Tönnies, Ferdinand 1979 Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Weber, Samuel M. 1978 Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Entstellung der Psychoanalyse. Frankfurt a. M./ Berlin/Wien: Ullstein. Vološinov, Valentin N. 1975 Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, hg. u. eingel. v. Samuel M. Weber. Frankfurt a. M./Berlin/ Wien: Ullstein. Weisgerber, Bernhard 1996 Mundart, Umgangssprache, Standard. In: Hans Goebl, Peter H. Nelde, Zdeněk Starý und Wolfgang Wölck (Hg.), Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 258−271. Berlin/New York: de Gruyter.
Friedrich Balke, Bochum (Deutschland)
II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines
19. Einführung: Kulturelle Semiosis 1. Einleitung: Semiotik und kulturelle Semiosis 2. Soziologisch: Sprache − die fünfte Dimension 3. Zeichenarten und Zeichenschichtungen 4. Zeichenprozesse − sozialkulturelle Konstruktionen
5. Kulturelle Einheit − sozial getragenes Bedeutungsgewebe 6. Soziale Signifikanz von Zeichen 7. Folgerungen 8. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung: Semiotik und kulturelle Semiosis Die Semiotik oder Zeichentheorie ist die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Beschaffenheit und den zentralen Erscheinungsformen jedes möglichen Zeichenprozesses (Semiosis) befasst (Peirce 1970: 486; Eco 1990: 26). Während die allgemeine Semiotik die Untersuchung der grundlegenden menschlichen Signifikationsaktivität (die sich z. B. in Form der Sprache ausprägt) und die Versuche der Entwicklung eines allgemein akzeptierbaren Zeichenbegriffs umfasst, wird als spezielle Semiotik die Lehre von den Zeichensystemen (wie Verkehrszeichen, Bilderschrift, Formeln, Sprache, Riten) und ihren Beziehungen zu den dargestellten Gegenständen (vgl. Morris 1978: 92−96) bezeichnet. Wenn Semiotik sich mit der Distribution von Zeichen und Zeichensystemen aller Art mit dem Ziel befasst, allgemeine formale Strukturen und Regeln aus allen möglichen Zeichenoperationen als deren universelle Organisationsprinzipien zu destillieren (vgl. Jakobson 1992; Chandler 2002; Posner 2003), und wenn das Kompositum Kultursemiotik (Eco 1977: 185 f.) in seiner begrifflichen Fassung darauf verweist, dass es auch außerhalb kultureller Kontexte Zeichenoperationen gibt, beispielsweise von nicht sprachbegabten Organismen, die zum Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung gemacht werden können, dann sollen mit dem Untersuchungsbereich kulturelle Semiosis alle Formen der Produktion und Distribution von Zeichen und Zeichensystemen in allen durch Kommunikation konstituierten und belebten gesellschaftlichen Bereichen bezeichnet werden. Untersuchungen der Prozesse und Strukturen kultureller Semiosis richten sich auf die unterschiedlichsten symbolisierenden Medien von den einfachsten Signalsystemen bis hin zu den natürlichen und künstlichen Sprachen, aber auch auf besondere Symbolsysteme (z. B. Riten, Höflichkeitsformen, Geld, Wahlen), die soziale Beziehungen ausdrücken und ermöglichen. Damit wird herausgestellt, dass Sprache nur eine Ausdrucksmöglichkeit unter anderen verkörpert (Saussure 1967: 19), die ein überpersönlich geltendes System von Zeichen umfasst, mit dessen Hilfe geistige Vorstellungen zwischen Menschen mehr oder weniger verständnisvoll ausgetauscht werden können. Dennoch bildet das Bestehen von Sprache vor allen weiteren Zeichensystemen die zentrale Voraussetzung für den individuellen seelischen und mentalen Prozess, der als Produzent und Träger der kulturellen Semiosis zu gelten hat.
2. Soziologisch: Sprache − die fünfte Dimension Als erste Soziologen haben Durkheim und Mauss ([1902] 1987) auf die sozial bestimmte Fähigkeit und zugleich Notwendigkeit der in Gesellschaft zusammenlebenden Menschen
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen hingewiesen, Dinge zu unterscheiden. Mit dieser grundlegenden geistigen Kraft, die in den Verhältnissen der Einzelnen ihren Ursprung hat, werden alle Arten und Formen von Bezeichnungen und Klassifikationen hervorgebracht (zu sprachlichen Klassifikationsleistungen vgl. Keller 1995: 93 ff.). Sie erzeugen, ihrerseits kulturtypisch zu differenzieren, Regelmäßigkeit und Ordnung in Wahrnehmung und Denken sozialer Gruppen bis hin zu ganzen Gesellschaften. So erklärt sich die Macht der Benennung: Sprachliche Zeichen lassen sich jedem Objekt zuweisen, über das Menschen zu sprechen wünschen. Und, was nicht auf irgendeine Weise semiotisch präsent gemacht werden kann (einfaches Wissen), hat für den betreffenden Augenblick keine Realität und für die Zukunft keine Berufungsinstanz. Symbolisierende Bezeichnungen (Unterscheidungen) schaffen vermittelt durch Kommunikation und gegenseitige Anpassung des Verhaltens im Raum der sozial geteilten Bedeutungen zuvor noch nicht präsente Objekte. Für sie gibt es außerhalb der kooperativen Gemeinschaft, in der die Semiose erfolgte, keine sinnvolle Existenz, sie verlieren jenseits dieses Sozialzusammenhangs ihre Bedeutung. Symbolbildung als besondere Leistung von Subjekten bringt, gestützt auf Vorwissen und mehr oder weniger bewusste Regeln, durch Improvisation, Spiel oder Variation neue Kombinationen von Zeichen und Bedeutungen hervor. Für die Fähigkeit des Menschen, geistige Bilder im Horizont je spezifischer eigentümlicher Weltansichten sprachlich zu erzeugen und zu kombinieren, hatte Wilhelm von Humboldt den Begriff der inneren Sprachform (Humboldt [1830−1835] 1968: 86, 94) geprägt und damit zum Ausdruck gebracht, wie Geist und Sprache an der Gestaltung von seelischen Impulsen zu Sprachobjektivationen produktiv zusammenwirken. Cassirer, der den Menschen als animal symbolicum bezeichnet, spricht von Synthesen des Bewusstseins, von geistigen Netzwerken, die Erfahrungsdetails zu Gestalten zusammenhängender Bedeutung verdichten (Cassirer [1923] 1994: 38). Zeichen sind aus diesem Grund weder als Bilder noch als Spiegel der Realität aufzufassen, weder Fenster zur noch Vorhänge vor der Wirklichkeit, sie imitieren ihre Gegenstände (Dinge, Erinnerungen, Gedanken, Zeichen, Geister, Fiktionen etc.) nicht und sie bilden sie nicht ab − sie repräsentieren sie (Cassirer [1923] 1994: 5 f.), genauer: Sie sind „die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen“ (Cassirer [1923] 1994: 41), weshalb auch Nichtreales (Vorurteile, Hirngespinste, mythische oder mystische Zusammenhänge, Einhörner, Engel und vieles andere mehr) vorgestellt werden kann. Wegen ihrer Bedeutung im und für das soziale Leben hat Norbert Elias (1991) etwa ein Jahrhundert nach Durkheim und Mauss die symbolischen und symbolbildenden (also semiotischen) Prozesse einer Gesellschaft (bzw. aller Gesellschaften) als fünfte Dimension (neben Raum und Zeit) des menschlich-sozialen Seins charakterisiert. Elias’ soziologischer Denkweg beginnt mit der Explikation des evolutionsgeschichtlichen Sinns von Zeichen, Sprache und Symbolsystemen, mit der Beschreibung ihrer Funktion im Zusammenhang der biologischen und gesellschaftlichen Entstehung und Entwicklung der Gattung Mensch, ihrer Reproduktion. So werden Gesellschaft und alle weiteren Bedingungen menschlichen Daseins als Ergebnis von Veränderungen begriffen, die den Prozess der natürlichen Evolution als emergente Phänomene auf einer neuen, höheren Stufe der Integration des Lebens fortsetzen. Wie auch immer die Entstehung der geistigen Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und zu benennen, anthropologisch erklärt werden mag, als genetisch verankerte Anlage oder funktionale Notwendigkeit des Überlebens, als Resultat der Evolution oder Soziogenese, unbestritten ist, dass ohne Ordnung der Dinge und Erscheinungen, ohne Festlegung
19. Kulturelle Semiosis von Beziehungen zwischen den Dingen und ohne Kombination einzelner Wahrnehmungsaspekte zu komplexen Strukturen gedanklich erzeugter Ganzheiten, die kooperative menschliche Welt, Gesellschaft, Kultur, Ökonomie nicht hätten entstehen können. Und diese Fähigkeit wird beständig in und durch Institutionen wie Sprache, Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Staat weiter entfaltet. Die Realität, in der die Menschen leben, die ihre Gedanken, Wünsche, Antriebe, Befürchtungen, Ängste, Verdrängungen und vor allem ihr Verhalten und ihre Handlungen beeinflusst, beruht auf einem Netzwerk von mehr oder weniger zwingenden sozialen Beziehungen, Bedeutungen und technischen Strategien, der mehr oder weniger erfolgreichen Bearbeitung der äußeren und der inneren (Körper, Psyche, Identität) Natur. Die in der Semiosphäre (Lotmann 1990, 2010) aufgeschichteten Zeichengewebe bilden den Hintergrund für das Gesamt möglicher Erfahrung.
3. Zeichenarten und Zeichenschichtungen Semiotische Prozesse sind in Sozialzusammenhänge eingebettet und die Gelegenheiten, zu denen Zeichen produziert werden, wandeln sich mit den kulturellen Räumen, in denen sie stattfinden (Religion, Wissenschaft, Werbung, Zeichenindustrie, Medien, Spielwelten usw.) und mit den Eigenschaften ihrer Kreationen (Götter, Figuren, Neologismen, Akronyme, Icons, Logos, Avatare usw.). Für Kulturbegriffe gilt (vgl. die Artikel 11 bis 18), dass das Sprachzeichen Kultur nicht eine von ihm unabhängige gesellschaftliche Gegebenheit (die Kultur) bezeichnet, sondern dass es im Rahmen gesellschaftlicher Diskurse als Teil einer Praktik (s)einen Sinn zugesprochen erhält (Kroeber und Kluckhohn können 1952 mehr als 150 Kulturbegriffe nachweisen; vgl. auch Ort 2003), weshalb die in kulturellen Praxen (gesellschaftlichen Handlungsfeldern) angesiedelten Kulturbegriffe die jeweils als kulturell bezeichnete Aktivität und ihre Bewertung beeinflussen. Ebenso gilt auch für die Semiose, dass Zeichen, als Resultate eines sozialen Konstruktionsprozesses, der konventionellen und kulturellen Bedeutungszuschreibung im Rahmen von Praxen oder Diskursen unterliegen. Hier berühren und beeinflussen sich mehrere analytisch zu unterscheidende Ebenen der kulturellen Semiosis: Bereits ein flüchtiger Blick auf Texte, deren Autoren sich bemühen, die verschiedenen in der sozialen Welt grassierenden Zeichenarten in ihrem Verhältnis genauer zu bestimmen (de Saussure, Cassirer, Peirce, Hjelmslev, Morris, Jakobson, Barthes, Eco, Firth und andere), belegt, dass für diesen Zweck offenbar keine logisch schlüssige Abgrenzung zu finden ist. Peirce, Morris und Firth beispielsweise verwenden Zeichen als Oberkategorie und unterscheiden Symbol, Index, Signal und Icon als differentia spezifica. Leach schlägt eine Ordnung vor, in der Index als Oberbegriff fungiert, während Symbol und Zeichen Unterklassen bilden (Leach 1978: 21). Eco rät, den Begriff Symbol nicht im Sinne von Zeichen zu verwenden (Eco 1985). Wie sehr sich die Bemühungen, das terminologische Wirrwarr zu durchforsten, auch unterscheiden − eine Voraussetzung ist allen gemeinsam: Zeichenprozesse im Allgemeinen und die Sprache im Besonderen lassen sich grundsätzlich als Symbolisierungen (im Sinn von Humboldt, Cassirer, Saussure, Elias) beschreiben, die verschiedene Formen einer mehr oder weniger expliziten, mehr oder weniger sozial verbindlichen und mehr oder weniger verständlichen Weise des geistigen Austauschs zwischen Menschen ermög-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen lichen und die als (bisweilen mehrfach geschichtete, durch Übersetzungen vermittelte) Aspekte der Semiosis in unterschiedlichen kulturellen Kontexten unterschiedlich bestimmt werden.
4. Zeichenprozesse − sozialkulturelle Konstruktionen Seit Peirce wird der innere Aufbau von Zeichenprozessen mittels der drei Komponenten Zeichen, Bezeichnetes und Interpretant unterschieden. 1. Zeichen im engeren Sinne (das Designans, Eco: der Signifikant); sämtliche materiel-
len Transportmittel, die als Tinte-, Blei-, Tuschezeichnungen, auch Worte (Schallwellen und anderes) gestaltet sind; 2. die bezeichneten Gegenstände (seien sie Dinge oder Bewusstseinsinhalte, die Designata, Eco: das Signifikat), die ihr Bezugsobjekt ausmachen, und 3. der Interpretant: Gedanken, die das Zeichen interpretieren, die eine Zuordnungsbeziehung anwenden, die das Zeichen mit seinem Objekt in Verbindung bringen (Peirce 1967: 198). Der Fluss der Interpretanten kann durch Zuordnungsregeln (Konvention, Schlussverfahren, Absprachen, Codes etc.) kanalisiert werden. Das Signifikat wird von Eco als „kulturelle Einheit“ (1972: 75) bestimmt, als eine von den Personen, die das Zeichen gemeinsam benutzen, geteilte Bedeutung, also eine kulturelle Übereinkunft dieser Gruppe, unter Voraussetzung gelungener Kommunikation. Der Begriffsumfang des Signifikats ist von Übereinkünften abhängig, weshalb die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat nicht als selbstverständliche Entsprechung zwischen dem Zeichen und dem von ihm Bezeichneten gelten kann. Sie wird durch Verweise auf Interpretanten geregelt, den „semiotischen Mechanismus, durch den von einem Signifikanten ein Signifikat prädiziert wird“ (Eco 1977: 171). Daher ist es problemlos möglich, dass ein Zeichen verschiedene Bedeutungen, ein Signifikant verschiedene Signifikate aufweisen kann. Auch Interpretanten sind als (veränderliche) kulturelle Einheiten, „die das Universum der Kommunikation anstelle der Dinge in Umlauf gebracht hat“ (Eco 1985: 59), aufzufassen, deren jeweilige Gestalt sich mittels geeigneter Untersuchungen empirisch (beispielsweise in Form der Beschreibung durch wissenschaftliche Interpretanten) erfassen lässt. Das Signifikat, der vom Signifikanten bezeichnete geistige Gegenstand (eine Sinneinheit, ein Objekt des Weltwissens: Gegenstand, Name, Begriff, Idee, Gefahr, Ereignis, Fantasie, Utopie etc.) wird vom Bewusstsein nur auf dem Weg der Umschreibung oder Substitution durch andere (kulturell bedeutsame) Zeichen, konventionell verankerte, signitive Verweisungen konstruiert: ein approximativer Prozess, dessen Fortschritt vom Umfang kulturellen Wissens abhängt und der in anderen kulturellen Kontexten zu anderen Resultaten führen kann beziehungsweise muss. Interpretanten sind vom Zeichen ausgelöste Folgezeichen, eine zweite (dritte, vierte …) Repräsentation, die sich auf das gemeinte Objekt (Designatum) bezieht, das jeweilige geistige Bild näher erläutert und seine Bedeutung zu erklären versucht, weshalb die Wahrheit oder die Gültigkeit der Bedeutung eines Zeichens nicht durch vergleichende Kontrolle mit den Strukturen realer Objekte, den klärend überprüfenden empirischen Zugriff auf Designata festgestellt werden kann. Die Bedeutung eines sprachlichen Zei-
19. Kulturelle Semiosis chens ist, wie Jakobson im Anschluss an Peirce formuliert, „die Übersetzung eines Zeichens in ein anderes Zeichen“ (Jakobson 1992: 104). So bleiben Rückgriffe auf die empirische Realität, das für die Lebenswelt und die Wissenschaften konstitutive Problem der Realitätsangemessenheit der Zeichen- und Symbolsysteme, für die funktionalen Prozesse des semiotischen Systems entbehrlich, weshalb Eco pointiert: „Die Idee des Interpretans macht […] die Semiotik zu einer strengen Wissenschaft der Kulturphänomene, weil sie sie von der Metaphysik des Referens befreit“ (Eco 1972: 77; vgl. auch Eco 1973). Das Leben selbst, die durch Praxis, Versuchsanordnungen oder pragmatische Zugriffe anderer Art repräsentierte Realität, ist damit nicht zu erfassen − Erleben wird entweder erlebt oder durch Symbolisierungen als sozial und semiotisch konstruierte Wirklichkeit kommuniziert. Das semiotische Geschehen ist und bleibt ein Signalaustausch, der auf Übersetzungen (z. B. einer Zeichnung, eines Fotos, von Messwerten oder von Wörtern) beruht und der, unabhängig von der Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung, Verhaltensweisen auslösen oder provozieren kann.
5. Kulturelle Einheit − sozial getragenes Bedeutungsgewebe Wenn die allgemeine Semiotik Zeichenphänomene ohne ihren Bezug zur realen Welt untersuchen kann, so gilt das für die Wissenschaften nicht, in deren Objektbereich (Sozialwelt, Literatur, Kunst, Politik, Medizin usw.) die Bedeutung von Zeichen (ihr Signifikat) wie die Zeichen selbst (hier: Symptome) interpretiert, gestaltet oder kontrolliert werden bzw. werden müssen. Die jeweilige Form und Technik der Symbolisierung beeinflusst soziale Wirklichkeit, wirkt auf Praxen ein und erzeugt damit außersprachliche Effekte, die ihrerseits zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden können. Alle am Sinn der Handlung des jeweiligen Gegenübers orientierten Handlungen (der zentrale Bezugspunkt der Sozialwissenschaften nach Max Weber) setzen Verständigungsprozesse, die Bezugnahme auf gemeinsame, nur in gewisser Bandbreite variierbare Bedeutungen der verwendeten Kommunikationsobjekte (Laute, Zeichen, Worte, Gesten etc.), voraus, weshalb sprachliche Codierungen (Sprachspiele, frames etc.) den Intentionen der Handelnden, ihrer Darstellung und Realisierung weitgehend vorgeordnet bleiben. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, zwei für alle empirischen Sozialwissenschaften bedeutsame Funktionen und entsprechende Bezugssysteme zu unterscheiden: die Funktion von Zeichen im semantischen und die Funktion von Zeichen im sozialen Raum. Den unbegrenzten Kombinationsmöglichkeiten und Interpretationsketten des semantischen Raums steht die Menge der sozial kontrollierten und abgesicherten, mehr oder weniger rigide codierten Interpretanten des sozialen Raums gegenüber. Sie finden ihren Schnittpunkt im Subjekt; in jedem einzelnen Individuum einer Sozialität überlagern sich die Kreise der semantischen und der sozialen Wirklichkeit: die Bedeutungsordnung der Zeichen und die Bezeichnungsordnung der Dinge. Der Sinn der einzelnen Zeichen wird sowohl durch ihren Ort im Bezugssystem aller kulturell bestimmten Einheiten festlegt wie auch durch die „Lebensform“ (Wittgenstein 1984: 250), die in Praxen verfasste soziale, materielle, gesellschaftliche Wirklichkeit der Menschen, die zur Gestaltung ihres Lebensprozesses auf Übereinkünfte angewiesen sind, diese aus der Tradition übernehmen oder verändern. Wenn der Zeichengebrauch be-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen stimmt, was bedeutet wird, dann ist Bedeutung eine semiotische Kategorie und, wenn Kommunikation bestimmt, was jeweils gemeint ist, wird Bedeutung zu einer in Praxen generierten und bekräftigten sozialen Kategorie. Und die Vielfalt möglicher sprachlicher Deutungs- und Übersetzungsoperationen eröffnet Raum für situationsbezogene Variation: Abschattierung, Spezifizierung, Variation, Invention, Negation und viele weitere realitätsgerechte oder unrealistische, praktische oder unpraktische Sinnverschiebungen. Die Funktionsweise von Interpretanten lässt sich anhand einiger Überlegungen von Alfred Schütz differenzieren, der erläutert, welche Aspekte das menschliche Bewusstsein der konkreten Wahrnehmung symbolischer Objekte intuitiv hinzufügt, und damit einen gestaffelten Set von Horizonten aufruft, der auf vorgängige Erfahrungen verweist. Die Bedeutung eines konkreten Objekts changiert zwischen mehreren Ebenen (Schütz 1971: 345−350): Ein bestimmter Gegenstand (z. B. ein goldener Ring) gilt 1. als Element der Gruppe von Metallen (sein Gegenstandsbereich); er fungiert 2. als Träger signitiver Zuordnung (Wertobjekt: Appräsentation); er verweist als Geschenk 3. auf ein Versprechen oder eine Forderung sozialer Wertschätzung (Verweisungsschema) und er muss 4. einem Rahmenschema zugeordnet werden (das Deutungsmuster), das den sozialen Kontext (Norm, Sitte oder Brauch) bezeichnet, innerhalb dessen die Verweisung (unter 3) Sinn ergibt. Die Versetzung des Objekts in ein anderes, ungewohntes Rahmenschema (Verfremdung: ein Ehering beim Pfandleiher, ein Bischofsring im Museum etc.) eröffnet den Blick auf die Funktion derartiger Schemata. Die in signitiven Verweisungsbeziehungen befindlichen Gegenstände (jener, der als Zeichen fungiert, und jener, auf den verwiesen wird) werden also nicht als isolierte Dinge begriffen − sie gehören zu Klassen zusammenhängender Erfahrungsbestandteile oder Zeichenordnungen. Die Sprachzeichen gehören zum Gesamtsystem der Sprache (oder einem Subsystem spezifischer, auch mystisch oder religiös gerichteter Fachterminologie) und die durch Worte bezeichneten Dinge bilden ihrerseits übergreifende Realitätsbereiche: die Natur, das Wissen, die Technik, die Geschichte und weitere.
6. Soziale Signifikanz von Zeichen Da der semantische Horizont der jeweils gesprochenen Wörter allein nur selten eindeutiges Verstehen ermöglicht, wird die Deutung des semantischen Gehalts von Aussagen durch direkten Bezug auf Information aus der pragmatischen Situation, ihrem Handlungskontext, angereichert, wozu bereits erlebte Routinen, das Wissen (bzw. die Annahmen) der Kommunikationspartner über ihre Intentionen und der aktuellen Situation gegebenenfalls vorausgehende Aushandlungsprozesse gehören. Weltwissen (Wettler 1980: 3), das den Kommunikationspartnern gemeinsame Wissen oder der wechselseitig unterstellte Bestand an relevantem Voraussetzungswissen (Clark and Schober 1992) konstituieren den Deutungshintergrund für das Verstehen: „What we know influences the way we interpret the world around us, put our experiences in context, and plan our actions“ (Smith 1998: 392). Weiteres situationsübergreifendes Hintergrundwissen besteht in Sinnstrukturen und Handlungsroutinen, die Kommunikations- und Interaktionsverläufe steuern, ohne dass einzelne Module einer Handlung immer wieder neu erfunden werden müssten. Hinter Sprachprozessen wirksame Verstehensimpulse thematisiert auch die Psychoanalyse: Lebensgeschichtlich bedeutsame Erlebnisse werden als Szenen abgespeichert
19. Kulturelle Semiosis und später wieder − zumeist unbewusst − als Deutungsfolien aktualisiert (vgl. Lorenzer 1977, 2006). Aus dieser Darlegung ergeben sich drei relevante, zum Teil miteinander konfligierende Konsequenzen: − Deutungsschemata beliebiger Kommunikationsteilnehmer sind niemals identisch, da
jedes durch die Biographie und die zugehörigen Relevanzsysteme seiner Anwender wesentlich mitbestimmt wird; − je stärker die Sprache und die Situationen, in denen Deutungen erfolgen, formalisiert sind, umso leichter ist Verständigung möglich, weil persönliche Beimengungen ausgefiltert werden (z. B. in Fachterminologien oder sozialen Standardsituationen); − gelingende Kommunikation kann sich nur unter der Voraussetzung annähernd gleicher Relevanzsysteme der beteiligten Personen, Gruppen, kulturellen Einheiten, Ethnien, Nationen etc. vollziehen. Die Chance der Verständigung nimmt mit dem Verschiedenheitsgrad der die Bedeutungszuordnungen kontrollierenden Regeln ab, bis schließlich zwischen allzu unterschiedlichen Bedeutungsordnungen eine gemeinsame Sprache nicht mehr gefunden werden kann (vgl. Schütz 1971: 373). Mit dem Begriff der Relevanz bringt Schütz (1982) einen Gesichtspunkt ins Spiel, dessen Wirkung nicht innerhalb von Zeichensystemen sinnvoll aufzuweisen ist (interessant die gegenteilige Auffassung: Jäger 2004). Dieser pragmatische Aspekt der Auswahl bzw. Konstruktion von passenden Unterscheidungen wird bereits von Peirce betont, der die Semiose von vornherein in den Zusammenhang der sozialen Praxis stellt, in der Wissbegier aus dem Unsicherwerden, der Erosion des Alltagswissens entsteht und Erkenntnisbemühungen darauf gerichtet sind, Probleme durch neu zu gewinnende Unterscheidungen zu lösen (Peirce 1967: 301). Wie Peirce fasst auch Mead Wahrnehmungsobjekte nicht als Resultate der Konfrontation eines unabhängigen menschlichen Erkenntnisvermögens, Geist, mit einer bewusstseinsunabhängigen Realität (Mead 1969: 74), sondern als Aspekte einer gesellschaftlichen Verhaltensbeziehung der Menschen. Geistige Arbeit wird daher nicht primär der individuellen Wissbegier zugerechnet, sondern dem gesellschaftlichen Lebensprozess, in dem die grundsätzlich instabilen Beziehungen der Menschen für immer aufs Neue zu begreifende Verhältnisse verantwortlich zeichnen (vgl. Mead 1969: 64). Aus diesem Grund entsprechen Relevanz und Bedeutung von physikalischen und sozialen Objekten, gleichsam als ihre affektiv besetzten subjektiven Repräsentationen, den mentalen und realen Verhaltensmustern des durch sie affizierten Organismus gegenüber diesen Objekten (Mead 1968: 155). Die Bedeutung von Zeichen wird also zugleich handlungspraktisch und körperlich repräsentiert (vgl. Mead 1968: 233). Historisch-anthropologisch gesehen, bestehen die Sozialzusammenhänge der Menschen (neben Kampf und Herrschaft) vor allem aus Formen kooperativer Bezugnahmen aufeinander, die zur Bewältigung von Anforderungen des täglichen Lebens (ihrer Reproduktion) mehr oder weniger erfolgreich vollzogen werden. Für diese Interaktionen ist die Entwicklung von Zeichen, auf die die Beteiligten sich wechselseitig beziehen und verlassen können, die also signifikant, weil sozial geteilt, sind, unerlässlich. Die von Mead erläuterte Hereinnahme der Perspektive von anderen auf der Basis signifikanter Symbole und ihrer innerpsychischen Verknüpfung mit Reaktionsbereitschaften wird sozialkonstruktivistisch als nukleare Form einer Institutionalisierung (siehe Berger und Luckmann 1987) aufgefasst, wodurch es ermöglicht wird, die Erzeugung
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen und Stabilisierung gesellschaftlicher Zeichenkonstruktionen (Semiosen) und zugehöriger sozial konstituierter Verbindlichkeit in einer Stufenfolge darzustellen. Sie beginnt als eine situationsbezogene Externalisierung von Sinn (z. B. einer lautlichen oder physischen Objektivation: Gebärde, Laut, materielles Symbol etc.) durch die Beteiligten einer Interaktion. Diese wird gegebenenfalls wiederholt und habitualisiert (strukturbildende Redundanzen von Handlungen und Deutungen) und kann dann als Sinnkonzept/Erwartung der Akteure (z. B. in Form von Wortbedeutungen, Attributionen, frames, Typisierungen oder Rollen usw.) in Sozialisationsprozessen an Dritte (vor allem die jeweils nachfolgende Generation) weitergegeben werden. Von Zeichen und Zeichensystemen transportierte Bestände sozialen Wissens, Alltagswissen, Überzeugungen, Fachwissen, Mythen und andere, sind mit handlungspraktischen Folgen verbunden, die Realitäten schaffen, auch wenn sie auf unzutreffenden Annahmen gründen (Thomas and Thomas 1928: 572). Unter Bezugnahme auf Überlegungen von Marcel Mauss und Norbert Elias stellt Pierre Bourdieu (vgl. Artikel 13) die Beziehung zwischen Praxen, (Sprach-)Zeichenbedeutungen und ihrer sozialisatorischen Verankerung in den Sprachhorizonten der Individuen (Bourdieu 1979) durch eine spezifische Definition des Begriffs Habitus heraus. Seine Praxistheorie beschreibt, wie durch sprachvermittelte körperliche und geistige Erziehung Strukturen der sozialen Ordnung dauerhaft in die menschlichen Körper eingetragen (inkorporiert) werden, dort als Präsentation strukturellen Zwangs in Form von nur geringfügig veränderbaren Dispositionen (Bourdieu 1997: 59−78) vorherrschen und Denken und Tun der Menschen in engen Grenzen strategischer Variation gestalten. Die in Sprache gefassten Unterscheidungen und Klassifikationen bilden den semiotischen Ausdruck der realen sozialen Ordnung und bewirken Verhalten, durch das die soziale Überlieferung von Bedeutungen (die Interpretanten sozial relevanter Distinktionen) und diese selbst als natürlich und legitim bekräftigt werden. So erscheint die Welt der Tatsachen in großem Umfang sozial konstruiert. Die zugrunde liegenden Konstruktionsprozesse lassen sich durch begrifflich-theoretische Konstruktionen zweiter Ordnung (Diskurse von Religion, Politik, Wissenschaft etc.) repräsentieren, die ihrerseits auf die Wirklichkeit der Überzeugungen in einer kultursemiotischen Kreisbewegung bekräftigend oder verändernd zurückwirken, deren veränderte Gestalt dann wiederum in weiteren Konstruktionen erfasst werden kann. Etwas anders gerichtet, akzentuiert die Praxistheorie von Schatzki (1996) und Reckwitz (2008) Sozialität als Wirkung der vielfältigen praktischen Verhaltensroutinen (Sexualität, Arbeiten, Handwerken, Kochen, Einkaufen etc.): Soziale Praktiken bestehen aus körperlichen und geistigen Routinen, die durch Lernprozesse an semiotischen Sedimenten sozialer Traditionen, der Eigenart von Rohstoffen (vgl. Latour 1991) und der jeweils der angewandten Technik inhärenten, dinglich-strategischen Zwänge strukturiert werden. Neben diesen sogenannten integrativen Praktiken erläutert Schatzki (1996) „dispersed practices“, die routinisierte Tätigkeiten umfassen wie Beschreiben, Erklären, Befragen, Berichten, Begutachten, Imaginieren. Auch die mentalen Praxen verdeutlichen, dass sozial überlieferte Routinen individueller Kreativität insoweit vorausgehen, als Sprachzeichen, Zeichensysteme und Gedanken durch kulturell festgelegte Interpretanten oder Pyramiden von Interpretanten charakterisiert, vorgezeichnet und eingeschränkt werden. Ihrer Genese in sozialen Kontexten entsprechend, transportieren Routinen pragmatisch verbindliche, handlungsbezogene Taxonomien, klassifizierende Ordnungen oder umfassendere Sinnstrukturen (symbolische Ordnungen). Als allgemeingültige Erwartun-
19. Kulturelle Semiosis gen werden sie zu semantischen Institutionen, die Wissensvorräte abgelöst von ihrem Entstehungszusammenhang bewahren und tradieren und als legitimierte Regelkomplexe für Handeln (Luckmann 2002) weder ihren geschichtlichen Ursprung noch ihre situationsbezogene Konstruiertheit offenbaren. Zeichenbedeutungen (Interpretanten) als Institutionen, mehr oder weniger stabile bzw. flexible Einrichtungen zur Bewahrung und Vermittlung von kulturellen Sinngehalten, bilden die Gesamtheit der „Bedeutungsbestände“ (Luckmann 1998: 19 f.) einer Kultur; sie entstehen in historischen Kontexten und werden, sofern sich die Kontexte verändern, reinterpretiert und angepasst. Als dynamische Konstrukte bleiben sie, trotz relativer Stabilität und Konstanz, jederzeit möglichem Wandel unterworfen oder sie verlieren ihre Relevanz und ihren Sinn für eine Gemeinschaft und verblassen.
7. Folgerungen „Yet a culture is not only a body of intellectual and imaginative work, it is also and essentially a whole way of life“ (Williams 1958: 325).
Die Kultur einer Gesellschaft ruht auf den vielfältigen Bestandteilen einer realen Lebensform (Wittgenstein), einem Fundament wirkmächtiger, nichtsprachlicher Voraussetzungen, Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auf eingeschliffenen und tradierten Praxen und Verhaltensordnungen, auf Situationslogik, Hintergrundwissen, tacit knowledge und konjunktiver Erfahrung (Mannheim 1980: 155 ff.) der zusammenlebenden Menschen. Auf diesem Untergrund operieren die Prozesse der kulturellen Semiosis der sozialen Welt, kombinieren die Menschen Zeichen und Symbolsysteme und errichten Beziehungen zwischen diesen und dem, was sie jeweils als Wirklichkeit begreifen. Im Rahmen der den besonderen Funktionsbereichen und Praxen einer Gesellschaft zugehörigen Diskurse bringt kulturelle Semiosis besondere sprachliche und symbolische Formen der Repräsentation hervor. Sie bilden den Ausdruck und Katalysator der Auseinandersetzung mit den schon immer als Herausforderung bestehenden existenziellen Fragen (Sinn des Lebens, Liebe, Tod, Werte etc.), mit den Unzulänglichkeiten der jeweils überkommenen symbolischen Codierungen in Sprache und Verhalten oder den in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen jeweils neu aufkommenden Problemen der Koordination der materiellen Voraussetzungen mit den institutionellen Ordnungen, Praxen und technologischen Fortschritten. Ihre Leistung lässt sich an der spezifischen Art der Semiosis der unterschiedlichen Funktionsbereiche von Gesellschaften (Politik, Wissenschaften, Theater, Subkulturen, Künste, Religionen und vieles andere mehr) ablesen, indem rekonstruiert wird, wie diese ihrer Teilwirklichkeit durch Zeichen, Symbole und symbolische Handlungen in jeweils besonderen Ordnungen, Medien und Ritualen Ausdruck und Gestalt geben und welche gegenseitigen Anleihen, Verweisungen und Abgrenzungen sie als Aspekte eines sozial-kulturellen und semiotischen Gesamtsystems sichtbar werden lassen. Kulturelle Semiosis bezeichnet den Oberbegriff für die differenziellen Anstrengungen der Menschen, ihre in der Auseinandersetzung mit Natur und Gesellschaft aufkommenden Probleme zu benennen, darzustellen und praktisch (materiell und geistig) zu bearbeiten.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
8. Literatur (in Auswahl) Barthes, Roland 1988 Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann 1987 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 6. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer. Bourdieu, Pierre 1979 Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 1997 Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld. In: ders., Der Tote packt den Lebenden, 59− 78. Hamburg: VSA. Cassirer, Ernst [1923] 1994 Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Chandler, Daniel 2002 Semiotics − The Basics. London: Routledge. Clark, Herbert H. and Michael F. Schober 1992 Asking Questions and Influencing Answers. In: Judith M. Tanur (ed.), Questions about Questions. Inquiries into the Cognitive Bases of Surveys. New York: Russell Sage Foundation. Durkheim, Emile und Marcel Mauss [1902] 1987 Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen. In: Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, 169−256. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eco, Umberto 1972 Einführung in die Semiotik. München: Fink. Eco, Umberto 1973 Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eco, Umberto 1977 Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eco, Umberto 1985 Semiotik und Philosophie der Sprache. München: Fink. Eco, Umberto 1990 Über Spiegel. In: ders., Über Spiegel und andere Phänomene, 26−61. München: dtv. Elias, Norbert 1991 The Symbol Theory. London: Sage. Firth, Raymond 1973 Symbols − Public and Private. London: Allen and Unwin. Geertz, Clifford 1987 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hjelmslev, Louis 1974 Prolegomena zu einer Sprachtheorie. München: Hueber. Humboldt, Wilhelm von [1830−1835] 1968 Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: ders., Gesammelte Schriften, im Auftrag der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Albert Leitzmann [„Akademieausgabe“]. Bd. VII, 1−344. Berlin: de Gruyter [Nachdr. d. Ausg. 1903−1936. Berlin: Behr].
19. Kulturelle Semiosis Jäger, Ludwig 2004 Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, 35−74. München: Fink. Jakobson, Roman 1992 Semiotik. Ausgewählte Texte 1919−1982, hg. v. Elmar Holenstein. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Keller, Rudi 1995 Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen/Basel: Francke. Kroeber, Alfred and Clyde Kluckhohn 1952 Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York: Random House. Latour, Bruno 1995 Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Akademie. Latour, Bruno 2007 Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft − Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leach, Edmund R. 1978 Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lorenzer, Alfred 1977 Sprachspiel und Interaktionsformen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lorenzer, Alfred 2006 Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten, hg. v. Ulrike Prokop. Marburg: Tectum. Lotman, Jurij M. 1990 Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12(4), 287−305. Lotman, Jurij M. 2010 Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Berlin: Suhrkamp. Luckmann, Thomas 1998 Gesellschaftliche Bedingungen geistiger Orientierung. In: ders. (Hg.), Moral im Alltag. Sinnvermittlung und moralische Kommunikation in intermediären Institutionen, 19−45. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung. Luckmann, Thomas 2002 Zur Methodologie (mündlicher) kommunikativer Gattungen. In: ders., Wissen und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 1981−2002. Hrsg., teilw. übers. u. eingel. v. Hubert Knoblauch, Jürgen Raab und Bernt Schnettler, 183−201. Konstanz: UVK. Mannheim, Karl 1980 Strukturen des Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mead, George Herbert 1968 Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mead, George Herbert 1969 Die Philosophie der Sozialität. In: ders., Philosophie der Sozialität, 229−324. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Morris, Charles 1978 Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik der Zeichentheorie. Frankfurt a. M./Berlin/ Wien: Fischer. Nünning, Ansgar und Vera Nünning (Hg.) 2003 Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen − Ansätze − Perspektiven. Stuttgart: Metzler.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Ort, Claus-Michael 2003 Kulturbegriffe und Kulturtheorien. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen − Ansätze − Perspektiven, 19−38. Stuttgart: Metzler. Peirce, Charles S. 1967 Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Peirce, Charles S. 1970 Schriften II. Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Posner, Roland 2001 Im Zeichen der Zeichen. Sprache als semiotisches System. In: Oswald Panagl, Hans Goebl und Emil Brix (Hg.), Der Mensch und seine Sprache(n), 77−107. Wien: Böhlau. Posner, Roland 2003 Kultursemiotik. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen − Ansätze − Perspektiven, 39−72. Stuttgart: Metzler. Reckwitz, Andreas 2008 Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: Transcript. Saussure, Ferdinand de 1967 Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: de Gruyter. Schatzki, Theodore R. 1996 Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social. Cambridge: Cambridge University Press. Schütz, Alfred 1971 Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft. In: ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 1, 331−411. Den Haag: Nijhoff. Schütz, Alfred 1982 Das Problem der Relevanz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Smith, Eliot R. 1998 Mental Representation and Memory. In: Daniel T. Gilbert, Susan T. Fiske and Gardner Lindzey (eds.), The Handbook of Social Psychology. Vol. I, 391−445. 4th ed. Boston, MA: McGraw-Hill. Thomas, William Issac and Dorothy Swaine Thomas 1928 The Child in America. Behavior Problems and Programs. New York: Knopf. Wettler, Manfred 1980 Sprache, Gedächtnis, Verstehen. Berlin/New York: de Gruyter. Williams, Raymond 1958 Culture and Society 1780−1950. London: Chatto & Windus. Wittgenstein, Ludwig 1984 Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914−1916, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Dirk Hülst, Marburg (Deutschland)
20. Semiotik
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20. Semiotik 1. 2. 3. 4.
Einleitung: Zum Begriff Semiotik Zeichen Syntaktik Semantik
5. Pragmatik 6. Kulturalität und Sprache, Medialität und Methode 7. Literatur (in Auswahl)
Of course, nothing is a sign unless it is interpreted as a sign. (Peirce, CP 2.308)
1. Einleitung: Zum Begriff Semiotik Semiologie (Zeichentheorie; abgeleitet von altgr. σημεῖον sēmeĩon ‚Zeichen‘, ‚Signal‘; engl. semiotics; span. semiótica; frz. sémiotique, sémiologie) ist die Wissenschaft von Zeichen, Zeichensystemen, Zeichenprozessen, von deren Ursprung und Gebrauch (semiosis) in Natur und Kultur. Da solche in allen wissenschaftlichen Disziplinen eine zentrale Rolle spielen, ist Semiotik grundsätzlich trans- und interdisziplinär. Als Bezeichnung für die Zeichenwissenschaft hat sich − nach aus sem(e)io- bzw. sema abgeleiteten terminologischen Vorläufern bzw. mit divergierenden Epistemologien verknüpften Richtungen wie Semasiologie (Gomperz), Sematologie (Smart; Bühler), Semantik (Bréal), Signifik (Welby), Semiologie (de Saussure; Barthes) und anderen − der Begriff Semiotik international durchgesetzt (vgl. Nöth 2000: 1 ff.; Jäger 2010: 137 ff.). Zeichen sind Objekte, die auf etwas verweisen, die jemandem etwas bezeichnen (mitteilen), also eine triadische Relation konstituieren zwischen dem Zeichenträger, seinem Inhalt (Sinn, Bedeutung, Botschaft) und dessen Interpreten. Zeichenprozesse (Peirce, Morris: Semiosen) sind durch Zeichen und Interpreten definierte Vorgänge; Zeichensysteme sind die Menge der zu Texten sortierten Zeichenexemplare, deren Gestalt und Gehalt von Interpreten kontextbestimmt verstanden wird. Gegenstand der Semiotik ist demnach das Funktionieren von Zeichen in Zeichenprozessen im Rahmen von Zeichensystemen (vgl. Posner 2008: 39). Insoweit Semiotik den Gebrauch von Zeichensystemen in der Kultur (in einer Kultur, in Kulturen) bzw. Kulturen als Zeichensysteme untersucht (Cassirer: Kultursemiotik), interessiert sie, was diese von natürlichen Zeichen, -systemen, -prozessen unterscheidet, was Interpreten kultureller Zeichen von solchen natürlicher Zeichen unterscheidet, was Genese, Identität und Extension einer Kultur (symbolisch) definiert, was Kulturwandel (symbolisch) manifestiert.
2. Zeichen Die Wissenschaftsgeschichte der Semiotik umfasst allein in Europa mehr als zwei Millennien. Die Entwicklung von Zeichentheorien, -begriffen, -modellen seit der Antike bis
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen zum 21. Jahrhundert wird in semiotischen Handbüchern (z. B. Sebeok 1994; Posner, Robering und Sebeok 1997−2004; Bouissac 1998; Nöth 2000; Kalverkämper 2007; Trifonas 2015) und Einführungen in die Semiotik (z. B. Trabant 1996; Chandler 2001; Volli 2002; Deely 2005) mehr oder weniger ausführlich nachgezeichnet. Üblicherweise werden den sogenannten dyadischen Zeichenmodellen − mit dem Akzent entweder auf der Bezeichnungsfunktion (von Augustinus über Albert den Großen bis zu Carnap, Wittgenstein und Goodman) oder auf der Bedeutungsfunktion (von Port Royal über Saussure und Hjelmslev bis zu Cassirer, Bühler und Jakobson) − die triadischen (von Platon und Aristoteles über Bacon und Leibniz bis Peirce, Husserl und Morris) gegenübergestellt, wobei Saussures Ansatz seinen Handschriften zufolge heute auch als triadisch betrachtet wird (Jäger 2010: 157). Der amerikanische Philosoph, Logiker, Mathematiker Charles S. S. Peirce (1839− 1914) gilt neben dem Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857− 1913) als Begründer der modernen Semiotik. Während Saussures sémiologie générale als „une science qui étudie la vie des signes au sein de la vie sociale“ (Saussure 1955: 33; siehe Jäger 2010: 137) vor allem für die Linguistik relevant wurde, sollte Peirce‘ semeiotic die Repräsentations- und Erkenntnisfunktion von Zeichen holistisch erfassen, wobei sein Ansatz weniger System- als Prozesscharakter hat (Nagl 1992: 15). Er war sich der mit einer Beschreibung von Zeichen und Zeichenprozessen verbundenen Probleme durchaus bewusst: „[...] I am, as far as I know, a pioneer, or rather a backwoodsman, in the work of clearing and opening of what I call semeiotic, that is, the doctrine of the essential nature and fundamental varieties of possible semiosis“ (Peirce 1958 = CP 5.488; siehe Hess-Lüttich und Rellstab 2005). Seine verstreuten Aussagen zum Zeichen sind vielfältig und nicht immer konsistent, wenn er zum Beispiel am Zeichen (sign) die drei Aspekte des Zeichenträgers, der Bedeutung und des Objekts unterscheidet (CP 2.228), den Zeichenträger als representamen jedoch zuweilen ebenfalls als sign bezeichnet (CP 2.274). Aus Gründen begrifflicher Klarheit wird Zeichen im Folgenden auf die dreistellige Relation bezogen und representamen auf den Zeichenträger (vgl. Kruse 1997: 130). Manchmal wird auch Charles W. Morris (1901−1976) als „der eigentliche Begründer der modernen Semiotik“ bezeichnet (so Burkhard 1993: 546). Dessen Dreiecksmodell des Zeichens bezieht sich auf die syntaktische, semantische und pragmatische Dimension der Semiose (Morris [1938] 1972: 20−28). Die Einteilung wird − diesseits erkenntnistheoretischer oder ideologischer Prämissen − axiomatisch aus den drei an Semiosen beteiligten Instanzen Zeicheninterpret, Zeichenträger, Referenzobjekt abgeleitet (Münch und Posner 1998: 2208). Man kann dies darstellungstechnisch auch ohne Nachvollzug der behavioristischen Konsequenzen bei Morris als Ausgangspunkt für die Gliederung von Überlegungen zum Zeichenbegriff nehmen, weil sich damit Fragen nach der Materialität des Zeichenträgers und seiner medialen Verfasstheit, nach der Indexikalität seiner Verweisfunktionen, nach dem Zusammenhang zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer klären lassen, ohne das Ziel ihrer pragmatischen Integration als plausibler Modellierung semiotischer Prozesse im Sinn von Peirce aus dem Auge zu verlieren (Apel 1981: 56).
3. Syntaktik In der syntaktischen Dimension von Zeichensystemen wird nicht nur die lineare Verkettung von Zeichen organisiert, sondern auch über auch die Kombinierbarkeit der Zeichen-
20. Semiotik träger entschieden (Trabant 1996: 70), über die Relationen zwischen den Zeichenträgern, über die sie unterscheidenden Merkmale und formalen Eigenschaften und damit über die konstitutiven Elemente von Zeichenträgern sowie über die Gesetze, nach denen sie gebildet werden (Posner 1985: 77, 81−83). In neuerer Zeit wurde dies systematisch zunächst in der Linguistik untersucht, weil Sprache als „le plus complexe et plus répandu des systèmes dʼexpression“ das charakteristischste aller semiologischen Systeme sei (Saussure [1916] 1955: 101, 1968: 154; vgl. Jäger 2010). In der Phonologie (bzw. Phonemik) wurden Regeln formuliert, nach denen lautliche Elemente zu signifikanten Zeichenträgern kombiniert werden. Einer der Ausgangspunkte (neben Bloomfield) war dabei die Überlegung Saussures in seinem Cours, dass das sprachliche Zeichen − dyadisch definiert als aus image acoustique und concept, aus signifiant und signifié zusammengesetzte Einheit (Saussure [1916] 1955: 97 ff., 158 ff.) − sich qua negativer Ausdifferenzierung im System sprachlicher Zeichen (langue) konstituiere. Das einzelne Zeichen erhalte seine Identität erst im relationalen Zusammenhang des Zeichensystems aufgrund seiner Differenz zu den anderen Zeichen: „On pourrait appeler la langue la domaine des articulations [...]: chaque terme linguistique est un petit membre, un articulus où une idée se fixe dans un son et où un son devient le signe dʼune idée“ (Saussure [1916] 1955: 162 f.). Die Konstitution der signifiants wird im Cours unabhängig von der Beschaffenheit der Lautmaterie beschrieben. So kann der strukturale Ansatz alsbald auch auf nichtsprachliche Zeichen angewandt werden (Todorov 1995: 268). Hjelmslev zum Beispiel versucht in seiner Glossematik eine allgemeine Zeichenwissenschaft zu entwickeln, in der nicht die Elemente primärer Gegenstand der Theorie sind, sondern (im Sinne des logischen Positivismus) nur deren formale Relationen (Hjelmslev 1963: 74; vgl. Carnap 1966: 7−21; Ungeheuer 1972: 143, 152; Werlen 1982: 74). So abstrahiert er beim Zeichenträger dessen relevante Gestalt von der materiellen Substanz und setzt sie als unabhängige Form des Signifikanten dem ungeformten Material gegenüber; entsprechend abstrahiert er vom Inhalt des Signifikats und schafft damit in der Inhaltsform ein Gebilde, „das nur die Struktur, die formalen Beziehungen, die Klassifikationsschemata“ der Zeicheninhalte zusammenfasst (Ungeheuer 1972: 151); das Verhältnis zwischen Form und Substanz ist als „‚Determinations‘-Funktion“ definiert (Hjelmslev 1963: 50; vgl. Trabant 1970: 54). Roman Jakobson zeigt dagegen in seiner Phonologie, dass die relevante Gestalt auch sprachlicher Zeichenträger nicht unabhängig von der verwendeten Materie sein kann. Er widerlegt damit die von Hjelmslev postulierte Priorität der Form über die Substanz, die aus der Form ein platonisches εἶδος zu machen droht, und zeigt, dass selbst in der Sprache Form und Materie sich gegenseitig insofern bedingen, als die Phoneme einer Sprache nicht allein negativ definiert werden können, sondern sich aus distinktiven Merkmalen konstituieren, die in Opposition zu anderen distinktiven Merkmalen einer Einzelsprache stehen und erst so die Identität des Phonems konstituieren. Damit werden die distinktiven Merkmale als positive Eigenschaften relevant, als sinnliche Qualitäten (Jakobson 1971a: 423; vgl. Holenstein 1975: 80). Die Form des Zeichenträgers kann also nicht unabhängig von dem Material entstehen, in dem sie sich manifestiert (Jakobson 1971a: 475). Gliederungsprinzipien der Sprache können demnach nicht tale quale auf Zeichenträger anderer Materialität übertragen werden. Die Konstitution von Zeichenträgern ist nicht nur von den Gliederungsmöglichkeiten der Materie abhängig, in der sie sich manifestieren, sondern auch von den Möglichkeiten der Wahrnehmbarkeit der Unterschiede, aufgrund derer sie ihre Identität erhalten. Jakobson überwindet damit den Primat des
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Sprachlichen, der lange die semiotischen Theorien des 20. Jahrhunderts in Europa beeinflusst und sich nach Ecos Urteil als „eine der größten Behinderungen bei semiotischen Untersuchungen in Vergangenheit und Gegenwart“ erweist (Eco 1987: 235; vgl. Culler 1988b: 217). Da die formalen Eigenschaften der Zeichenträger sich je nach ihrer Materialität unterscheiden, differenziert Peirce zwischen Aspekten des Zeichenträgers, die er Qualizeichen (qualisign), Sinzeichen (sinsign) und Legizeichen (legisign) nennt (CP 2.244−2.247) und Kategorien der Erstheit (Firstness), Zweitheit (Secondness), Drittheit (Thirdness) zuordnet, auf die er die zehn Kategorien des Aristoteles und die zwölf Kategorien Kants reduziert (vgl. Johansen 1996: 66; Oehler 1918: 20). Die Kategorie der Erstheit umfasst, was ist, wie es eindeutig und ohne Beziehungen auf etwas anderes ist, „qualities“ etwa oder „feelings“ (CP 1.343; vgl. Arroyabe 1982: 60). Unter die Kategorie der Zweitheit fällt, wessen Seinsmodus aus seiner Bezogenheit auf ein Zweites resultiert: Ihr Charakteristikum ist die Relation. Während Erstheit monadisch ist und sich nur approximativ beschreiben lässt, gehören zur Kategorie der Zweitheit „actual facts“ (CP 1.419), deren Wesen Peirce auch als „hereness and nowness“ beschreibt (CP 8.266). Zweitheit ist die Selbstindikation der existierenden Dinge in der Sinneserfahrung, es sind die Signale einer Realität, „that jabs you perpetually in the ribs“ (CP 6.95; vgl. CP 5.52, 1.332, 1.432). Zur Kategorie der Drittheit gehört, was so beschaffen ist, dass es als Vermittler zwischen einem Ersten und einem Zweiten fungiert, Erstes und Zweites über ein Drittes zueinander in Beziehung setzt, Zeichenrelationen etwa, in denen ein Zeichenträger über einen Interpretanten zu einem Objekt in Beziehung gesetzt wird (vgl. Arroyabe 1982: 65−69). Qualizeichen oder tones sind die intrinsischen Qualitäten, die in jeder materiellen Realisierung eines Zeichenträgers enthalten sind: die Intonation in der Realisierung eines vokalen Zeichenträgers, der Farbton oder das Material eines visuellen Zeichenträgers, die Tondauer eines akustischen Zeichenträgers. Sie sind − als Aspekt eines realisierten Zeichenträgers oder Sinzeichens − auf Verkörperung angewiesen (CP 2.244 f., 4.537). Ein Zeichenträger (Sinzeichen), der nach einer bestimmten Regel gebildet wird, ist das token (oder replica) eines types oder Legizeichens: „A Legisign is a law that is a Sign. This law is usually established by men. Every conventional sign is a legisign (but not conversely). It is not a single object, but a general type which, it has been agreed, shall be significant“ (CP 2.246). Das Wort einer Sprache als „definitely significant form“ (CP 4.537) ist so ein Legizeichen. Peirce erläutert nicht näher, welches genau die Regeln seien, nach denen types generiert würden, aber er geht davon aus, dass ein Zeichenträger sich von anderen Zeichenträgern unterscheiden müsse, damit dieser seine Funktion ausüben könne (CP 7.356). Das Prinzip der Differenzialität, wie es erst von Saussure systematisch ausgearbeitet wird, ist also konstitutiv für den gemäß konventionellen Regeln gebildeten type, wie der signifiant von Saussure das (ideale) Modell des Zeichenträgers, auf das sich jede Realisierung eines Zeichenträgers bezieht (Köller 1977: 39; vgl. Walther 1974: 56 f.). Die Konstitution eines types kann nicht unabhängig von der Materialität des Zeichenträgers erfolgen, da ein type immer tokens enthält, die ihrerseits wiederum tones beinhalten, mit anderen Worten setzt Drittheit Zweitheit und Erstheit voraus (CP 2.245 f., 1.353; vgl. Schönrich 1990: 126). Das Konzept der types unterscheidet sich freilich von Saussures Modell ebenso wie von Jakobsons. Posner weist zu Recht darauf hin, dass eine Gleichsetzung des types mit dem signifiant nicht nur deshalb unzulässig sei, weil die Unterscheidung zwischen type
20. Semiotik und token bei Peirce nicht der von Form, Substanz und Materie entspreche, sondern, weil es auch möglich sei „de distinguer tokens de types en substance de signes et en matières de signes“ (Posner 1985: 82); type könne nicht nur die „significant Form“ eines Wortes sein, sondern zum Beispiel auch ein konventionalisiertes Satz- bzw. Textmuster oder die Struktur einer Melodie (Peirce 2000 = SS 3: 216 f.; vgl. Köller 1977: 40). Der gewichtigere Unterschied zwischen Peirce und der strukturalistischen Semiotik besteht darin, dass Peirce nicht von einer Einheit type und Bedeutung ausgeht. Bei Saussure wird die Einheit von signifiant und signifié durch langue und discours gestiftet; bei Jakobson sind Ausdruck und Bedeutung die korrelativen Seiten eines jeden sprachlichen Zeichens, das heißt, die Lautverbindungen erhalten ihre Form gerade im Hinblick auf eine Bedeutungsfunktion und könnten ohne Rekurs auf diese gar nicht definiert werden (Holenstein 1975: 83 f.). Bei Peirce dagegen kann der type nicht für die Identität seiner Bedeutung einstehen (CP 2.292), weil diese ihm je neu verliehen werden muss (Johansen 1996: 117, 72; auch für Saussure muss das Zeichen in jedem Gebrauch re-ediert werden: Jäger 2010: 159). Das figurative Erkennen eines types ist nur ein Teilakt im Verstehensprozess (Köller 2004: 56). Diese Bestimmung des Verhältnisses zwischen type und token und dessen Funktion innerhalb der Semiose ist adäquater als diejenige der Strukturalisten, denn sie verweist bereits auf die ko- und kontextuelle Konstitution von Bedeutung und damit die pragmatische Dimension des Zeichenprozesses. Das Erkennen eines types in einem token ist eine interpretative Leistung des Rezipienten. Die Identifizierung eines tokens als Realisation eines types kann nicht einfach automatisch erfolgen, weil zwei Realisierungen eines types insofern nie vollkommen identisch sein können, als in jedem token per definitionem immer auch tones enthalten sind (SS 3: 216). Peirce nimmt mit dem Aspekt des tones der Zeichenträger eine Beobachtung vorweg, die von Derrida gut sechzig Jahre später zu einem der wichtigsten Argumente gegen die Vorstellung einer unproblematischen Zeichenverwendung angeführt wird: „Lʼitération suppose une restance minimale (comme une idéalisation minimale quoique limité) pour que lʼidentité du même soit répétable et identifiable dans, à travers et même en vue de lʼaltération. Car la structure de lʼitération, autre trait décisif, implique à la fois identité et différence“ (Derrida 1990: 105). Allerdings findet sich die Vorstellung von der Unmöglichkeit einer vollständigen Iteration im Grunde auch schon bei Saussure (vgl. Jäger 2006). Man hat ihn deshalb gelegentlich den besseren Dekonstruktivisten genannt, denn die Dekonstruktion der Präsenz lasse sich an der Sprache ebenso vollziehen wie an der Schrift (Fehr 1992: 52; Gumbrecht 2004). Mit seiner Kategorie des tone reflektiert Peirce, was Derrida den Einfluss der Äußerlichkeit nennt, jenes kontingente Moment, das durch die Materialität in den Zeichenprozess eindringt und das er mit seinem Begriff der écriture zu fassen sucht, weil der Schrift (im Gegensatz zur mündlichen Sprache) in der Geschichte der Philosophie immer schon das Moment der Äußerlichkeit zugeschrieben wurde (Derrida 1998: 53−77; vgl. Wellbery 1993: 342 f.). So kritisiert Derrida an Hegel, er habe den materiellen Aspekt des Zeichenträgers zugunsten seiner Bedeutung praktisch annulliert: Dans le signe, le signifiant (extérieur) est relevé par la signification, par le sens signifié (idéel), la Bedeutung, le concept. Le concept relève le signe qui relève la chose. Le signifié relève le signifiant qui relève le référent. [...] La langue ne sʼaccomplit, ne devient donc signifiante quʼen relevant en elle le signifiant (sensible, extérieur), le traversant et le niant en vue du concept. (Derrida 1974: 15)
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Anders als Hegel, anders aber auch als Husserl, bei dem Derrida (1979: 137−144) dieselbe Überlegung wiederfindet (vgl. Wellbery 1993: 341 f.), nimmt Peirce mit seiner Kategorie der tones den Bereich des Äußerlichen explizit in seine Theorie auf und zieht die Möglichkeit in Betracht, dass tones auf die Bedeutung einwirken, also zu Zeichen generiert werden können (vgl. Saussures Theorie des Aposèmes: Jäger 2010: 157 f.). Das „Mitsprechen der Materie“ ist deshalb „nie völlig zum Schweigen zu bringen, sondern nur in Latenz zu halten“, der materielle Aspekt des Zeichens niemals kategorisch insignifikant, sondern immer mehr oder weniger kosignifikant (Assmann 1995: 147). Wird nun in einem weiteren Schritt die Zeichenproblematik auf Kommunikation bezogen, muss der Begriff des Zeichenträgers um den des Textträgers als der materiellen Basis des Textes erweitert werden. Wenn Menschen miteinander kommunizieren, dann tun sie das auf der Basis von Texten. Ein Textträger ist ein Zeichenkomplex (oder Superzeichen), im Wortsinne (lat. textus) ein strukturiertes Gewebe oder Geflecht von Elementen (Zeichenträgern nicht unbedingt nur einer Materialität), die nach den Regeln der Syntaktik einander zugeordnet werden. Zu ihrer Generierung und Rezeption bedürfen Textträger einer Technologie im weitesten Sinne, also eines Mediums, das (nicht im Sinne der Publizistikwissenschaft) verstanden wird als Mittel zwischen Konstruktionshandlungen (Hess-Lüttich 1981). So gestalten zum Beispiel die menschlichen Artikulationsorgane unterscheidbare Laute, die vom Hörer als vokale Zeichenträger rezipiert und zu Zeichen generiert werden. Der menschliche Leib ermöglicht als „Sitz der Kommunikationsorgane“ selbst die Realisierung verbal-sprachlicher Textträger (Weinrich 1995: 80 f.). Bei der Schrift bedarf es dagegen einer mehr oder weniger glatten und beständigen Oberfläche, die vom Schreibenden mithilfe bestimmter „Manipulationsmittel“ bearbeitet wird (Ehlich 1994: 29 f.). Die Elemente schriftlicher Textträger sind also in zwei Dimensionen der Zeit und des Raumes organisiert, was zu dem „semiotic paradox of the spatial nature of the text“ führt (Wenz 1997: 577), die mit der Linearität und Temporalität des Sprechens kontrastiert (Hess-Lüttich 1998; Hess-Lüttich and Müller 1994; Hess-Lüttich and SchliebenLange 1998). Das Medium betrifft die syntaktische Dimension der Semiose in besonderer Weise. Das Theater etwa, „the [...] multidisciplinary art par excellence“ (Bal 1991: 52), integriert eine Pluralität der unterschiedlichsten Zeichenträger, die verbalen und vielleicht musikalischen der Schauspieler, die kinesischen ihrer Gesichts- und Körperbewegungen, die musikalischen des Orchesters, die räumlichen des Theaterraums, der Dekorationen, Requisiten und Lichteffekte, und verknüpft sie zu komplexen Textträgern (Hess-Lüttich 1994: 115). Neuere Medien oder Tertiärmedien wie der Film können jeweils auch neue Strukturierungsmöglichkeiten hervorbringen, was den sowjetischen Filmemachern schon vor hundert Jahren bewusst war und sie in ihrer ästhetischen Theorie und Praxis geleitet hat.
4. Semantik Das donnernde Wort, der lächelnde Mund, die Geste zur Illustration oder rhythmischen Gliederung, die dunkle Wolke am Himmel als Zeichen eines aufkommenden Gewitters oder zornigen Gottes − stets handelt es sich um Verweise auf ein anderes, um Zeichen
20. Semiotik für etwas Drittes: „But in order that anything should be a Sign, it must ‚represent‘, as we say, something else, called its Object“ (CP 2.230). Zeichen ist alles, was als für etwas anderes stehend interpretiert werden kann: „a sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity“ (CP 2.228). „The most fundamental (division of signs) is into Icons, Indices, and Symbols“ (CP 2.275). Diese Unterscheidung qualitativer Beziehungsmöglichkeiten zwischen Zeichenträger und Zeichenobjekt ist aus philosophischer wie aus linguistischer oder kunsttheoretischer Sicht kritisiert worden (z. B. Barthes 1965: 1486; Goodman 1997: 437− 447). Aber diese „unhaltbare Trichotomie“ (Eco 1987: 238) erlaubt immerhin, alle Arten von Zeichen, die in der Geschichte der Semiotik je behandelt wurden, in eine Theorie zu integrieren, und hat manches zuvor Übersehene bewusst gemacht. Historisch betrachtet, wurde der Begriff des σεμειον zunächst übrigens nur für Indizes gebraucht, im Sinne von Symptomen in der medizinischen Diagnostik; in der Mantik bedeutet er so viel wie Vorzeichen; Aristoteles verwendet ihn dann in seiner logischen Schlusslehre; Sextus Empiricus versteht darunter „die in einer wahren Implikation vorangehende maßgebliche Aussage, die den Nachsatz zu enthüllen vermag“ (Borsche 1994: 48); erst der laut Coseriu (1996: 105) „größte Semiotiker der Antike“, Augustinus, verbindet die Theorie der Zeichen mit der der Sprache: „verba signa esse“ (Augustinus Aurelius 1998 = De magistro 2, 3; vgl. Hülser 1996: 62). Ein ikonisches Zeichen („hypoicons“) bezeichnet nach Peirce sein Objekt aufgrund einer Ähnlichkeit, die es mit dem bezeichneten (repräsentierten) Objekt gemeinsam hat (CP 2.247, 2.276). Die Ähnlichkeit kann qualitativer Art sein wie bei Bildern, struktureller Art wie bei Diagrammen oder metaphorischer Art wie im sprachlichen Bild − wobei Peirce Metaphern allgemeiner definiert als „those which represent the representative character of a representamen by representing a parallelism in something else“ (CP 2.277), also nicht nur auf Sprache bezieht (Johansen 1996: 101−105). Ein indexikalisches Zeichen ist dagegen eines „which refers to its object not so much because of any similarity or analogy with it, nor because it is associated with general characters which that object happens to possess, as because it is in dynamical (including spatial) connection both with the individual object, on the one hand, and with the senses or memory of the person for whom it serves as a sign, on the other hand“ (CP 2.305). Die Verbindung zwischen Zeichen und Objekt kann natürlicher Art sein (Rauch und Feuer, Eis und Kälte usw.) oder konventionalisiert wie bei Pronomen, Präpositionen, Eigennamen und adverbialen Bestimmungen, die − als symbolische Zeichen − eine indexikalische Funktion haben können: anaphorische oder kataphorische Verweisfunktionen innerhalb eines Textes oder als Verweise auf Objekte bzw. Sachverhalte außerhalb des Textes (CP 2.283, 2.287, 2.290). Auch Synekdoché und Metonymie sind indexikalische Zeichen (Bal 1991: 84). Indexikalität sieht Peirce im Kern eines jeden Kommunikationsprozesses, denn keine Äußerung könne sinnvoll sein, „unless there is some designation to show whether the universe of reality or what universe of fiction is referred to“ (CP 8.368, Anm. 23; vgl. CP 2.337). Ein symbolisches Zeichen weist zwischen Zeichenträger und Objekt eine gewohnheitsmäßige Verbindung auf (CP 2.297). Das symbolische Zeichen beruht auf einer Konvention wie zum Beispiel beim Wort: „the word man has no particular relation to men unless it be recognized as being so related. That is not only what constitutes it a sign, but what gives it the peculiar relation to its object which makes it significant of that peculiar object“ (Peirce 1902 = L 75: 146). Die strukturale Semantik beschränkt sich
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen dagegen auf die systeminternen Relationen der Zeichen untereinander und legitimiert damit zunächst den Ausschluss des Referenten (Benveniste 1974: 61−68) oder deklassiert ihn zum „gefährlichen Eindringling, der die theoretische Reinheit der Theorie kompromittiert“ (Eco 1987: 91), denn: „semiotischer Gegenstand einer Semantik ist der Inhalt, nicht der Referent, und der Inhalt muss definiert werden als kulturelle Einheit (bzw. als Bündel oder System zusammenhängender kultureller Einheiten)“ (Eco 1987: 93). Dabei geht die Einsicht verloren, dass (nach Saussures Metapher aus der Ökonomie) der Wert einer Münze nicht nur von ihrer Relation zu anderen Münzen abhängt, sondern auch von der Menge Brot, die damit gekauft werden kann (Saussure 1961: 166; vgl. Johansen 1996: 52). Die Unterscheidung der drei Zeichenmodi hat, bei aller Kritik, fruchtbare Diskussionen ausgelöst. Roman Jakobson (1971b: 345−359) widmet sich indexikalischen und ikonischen Zeichen der natürlichen Sprache mit dem Ziel, die saussuresche These von der Arbitrarität der Sprache zu widerlegen (vgl. Short 1998: 89−122). Charles Morris (1973: 293) untersucht verschiedene Grade der Ikonizität. Thomas A. Sebeok unterscheidet Index- von Symptom-Zeichen, um dem Ursprung der Semiotik aus der antiken Medizin seine Reverenz zu erweisen (Sebeok 1979: 100, 162). Nelson Goodman hebt hervor, dass Ähnlichkeit allein noch kein hinreichendes Kriterium zur Herstellung einer ikonischen Zeichenrelation sei (Goodman 1972: 438). Das ist freilich auch Peirce bereits bewusst (CP 2.280; Short 1998: 106; Eco 1987: 285). Damit wird die Unterscheidung zwischen ikonischen und symbolischen Zeichen keineswegs aufgehoben und etwa nur noch die zwischen indexikalischen und symbolischen Zeichen aufrechterhalten, die der traditionellen Einteilung der Zeichen in natürliche und nicht-natürliche gleichgesetzt werden könnte (Scholz 1991: 150). Auch indexikalische Zeichen werden in einem interpretativen Akt konstituiert und sind damit nur bedingt natürlich; ikonische Zeichen müssen als dem bezeichneten Objekt ähnlich interpretiert werden, symbolische nicht; zwischen beiden Zeichenmodi besteht ein Unterschied im „articulatory fit“ (Johansen 1996: 120). Aber ein Zeichen kann alle drei Modi in sich vereinen, wie Peirce in einer Bemerkung über Porträts erläutert (CP 2.276, 2.306; vgl. Johansen 1996: 95). So unterläuft er die traditionelle Vereinfachung, nach der sprachliche Zeichen nur symbolische, Bilder nur ikonische Zeichen seien. Auch in Bildern lassen sich symbolische Zeichen ausmachen, verbale Texte können zu ikonischen Zeichen werden (Titzmann 2003: 3030 ff.). Die Relation zwischen Zeichenträger und Zeichenobjekt ist bei Peirce also nicht (wie in der Wahrheitsproblemen im Sinne einer adaequatio conceptus ad rem gewidmeten Zeichentheorie) als aliquid stat pro aliquo konzipiert, sondern bei allen Zeichenmodi (nicht nur symbolischen wie bei Aristoteles) als vermittelte, indirekte Relation (Eschbach 1980: 44). Seine Zeichenkonzeption trägt der Einsicht Rechnung, dass Zeichen nie fix sind, dass sie immer als etwas anderes repräsentierend interpretiert werden, also immer auch anders interpretiert werden können − eine Vorstellung, die dem Strukturalismus (zumindest bestimmten seiner Strömungen) eher fremd war. Nach der Edition des Cours rückt das Interpretationsproblem ins Zentrum der Saussure-Diskussion. Die Auffassung von der Bedeutung eines Zeichens als eines gesellschaftlichen Produkts verstelle den Blick auf die individuell und kontexuell bedingten Bedeutungsabweichungen im alltäglichen Zeichengebrauch der Menschen und damit auf die „possibilité essentielle et irréductible dʼincompréhension“ (Derrida 1990: 270; vgl. Eschbach 1981: 31). In einer Art semiotischem Positivismus werde stattdessen dem Zei-
20. Semiotik chen ein ontologischer Status zugeschrieben, das Zeichen zum „wahren Ding“ hypostasiert und als berechenbar, diskret und „intrinsically static“ betrachtet (Bal 1991: 15). Einer solchen Konzeption von Zeichen wird indes schon früh widersprochen, von Bachtin (1979: 128) etwa bereits 1924: „Die einzelne konkrete Äußerung steht immer in einem wertmäßig-sinnhaften kulturellen Kontext [...]; die Linguistik sieht in ihnen [den Äußerungen] jedoch lediglich eine Erscheinung der Sprache, bezieht sie auf die Einheit der Sprache, keineswegs auf die Einheit des Begriffs, der Lebenspraxis, der Geschichte, des Charakters einer Person u. dgl. m.“ Das Problem individueller Unterschiede im Zeichengebrauch sucht Hjelmslev mit dem Konzept der Konnotation zu lösen. Externe Informationen über Sprecher und Hörer würden sichtbar als immanente Qualitäten des Zeichens selbst, als zusätzliche Information, die sich über das denotative Zeichen wölbt (Hjelmslev 1963: 114−119; vgl. Trabant 1981: 160). Auch Jakobsons Unterscheidung zwischen dem systemischen Code (= langue) und der Pluralität darin enthaltener Subcodes hält an dem Postulat einer vom Code definierten Bedeutung fest, deren jeweiliger Sinn sich dann als Abweichung davon darstellt (Jakobson 1971a: 631−658). Das Dilemma der strukturalen Semantik liegt darin, dass sie bei der Suche nach der gesellschaftlichen Bedeutung sprachlicher Zeichen nie auf letzte semantische Einheiten stößt (analog den letzten distinktiven Merkmalen des Zeichenträgers), sondern immer wieder nur auf andere Zeichen (Hjelmslev 1963: 62 f.; vgl. Johansen 1996: 46 f.). Eco zieht daraus den Schluss, dass das signifié sich nur mittels „kontinuierlicher Verschiebungen, die von einem Zeichen auf ein anderes Zeichen oder eine Kette von Zeichen zurückverweisen“, nur „in asymptotischer Form“ umschreiben, aber nie direkt berühren lasse (Eco 1987: 105). Das entspricht zwar Saussures Bestimmung des Bedeutungswerts eines sprachlichen Zeichens als einer rein differenziell sich ergebenden Summe von Negationen der Form: „x = ¬a, ¬b, ¬c, ¬d, ... ¬n“, die sich nie ganz erfülle, sondern als nicht prognostizierbarer Prozess zu denken sei (Vigener 1979: 66; siehe Saussure 1968: 261, 264; vgl. Derrida 1985: 44 f.). Aber das Problem der Denotation-Konnotation-Dichotomie, nach der gewisse Anteile der Bedeutung als richtige, andere als abweichende identifiziert werden (was die Möglichkeiten der Bedeutungsgenerierung a priori einschränkt), löst Eco damit nicht, weil er (wie er einräumt) die Frage, wann in diesem Prozess der Verschiebung von einem Zeichen auf das nächste endlich Denotation, wann zusätzliche Konnotation erreicht sei, nicht beantworten kann (Eco 1987: 125; vgl. Fischer-Lichte 1979: 73 f.). Wer das Verhältnis daher umkehrt und wie in poststrukturalistischer Rede die Denotation zur letzten der Konnotationen erklärt, die die Interpretation begründet und abschließt (Barthes 1994: 561), begnügt sich mit dem „unendlichen Fluktuieren der Bedeutung“ (Rusterholz 2003: 2331).
5. Pragmatik Ecos Idee der Bedeutungsgenerierung als ein infiniter Verweis von Zeichen auf Zeichen gründet auf dem peirceschen Konzept des Interpretanten, das auch Derrida für seine Bemühungen um eine Dekonstruktion des transzendentalen Signifikats in Anspruch nimmt, das „letzten Endes dem Verweis von Zeichen zu Zeichen immer eine feste Grenze“ setze (Derrida 1998: 85). Als „proper significate effects“ des Zeichens (Peirce 1967 =
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen MS 318: 156) öffnet der Interpretant einen Interpretationshorizont, unter dem sich die Relation zwischen Zeichenträger und Zeichenobjekt konstituiert (CP 1.553, 2.274; vgl. Köller 1977: 45). Er nimmt die Stellung der Bedeutung ein, ist aber ein weiteres Zeichen, das die Relation zwischen Zeichenträger und Zeichenobjekt interpretiert und damit die Objektkonstitution determiniert. Da jedoch der Interpretant wiederum ein Zeichen ist, das seinerseits von einem Zeichen interpretiert werden muss, ist der Interpretantenbildungsprozess prinzipiell als infiniter Verweis eines Zeichens auf ein anderes zu verstehen. Jedes Zeichen steht mit weiteren Zeichen in einem kontinuierlichen Zusammenhang (CP 2.274, 2.303), und dies über die unterschiedlichen Zeichenmodi hinaus: symbolische Zeichen können durch ikonische interpretiert werden und umgekehrt; als Interpretant eines Bildes kann immer auch ein Wort dienen und umgekehrt. Ein Wort evoziert im Rezipienten primär ein ikonisches Zeichen als Interpretanten, die weiteren Interpretanten können dann indexikalische und schließlich symbolische sein (CP 2.295, 2.435, 3.433, L 75: 323). Das Konzept basiert auf erkenntnistheoretischen Überlegungen, wonach menschliches Denken immer auf Zeichen angewiesen sei (CP 5.313): Denkprozesse sind Zeichenprozesse. Die Realität könne dem Menschen nur zeichenvermittelt entgegentreten, also als (möglicherweise falsch) interpretierte (MS 681: 38 f.). Deshalb sei zu unterscheiden zwischen dem unmittelbaren Objekt, wie es innerhalb eines einzelnen Semioseprozesses als je vorläufiges semiotisches Konstrukt erscheine, und dem dynamischen Objekt, das unabhängig von irgendwelchen Repräsentationen den Zeichenprozess initiiere und einen regulativen Einfluss auf die Interpretantenbildung innerhalb des Zeichenprozesses ausübe, jedoch erst nach einem Prozess unendlicher Interpretantenbildungen erfasst werden könne und damit letztlich nicht erkennbar sei (CP 8.133). Interpretantenbildungsprozesse ereignen sich in Zeichenverwendungszusammenhängen; ein Zeichen, das nicht verwendet wird, ist bloße Möglichkeit, also Erstheit. Der ihm (z. B. dem type) inhärente unmittelbare Interpretant ist die hypothetische Möglichkeit der Interpretierbarkeit eines Zeichens (Johansen 1996: 166 f.): „the Quality of the Impression that a sign is fit to produce“ (CP 8.315), „the lowest grade of meaning“ (CP 8.174; SS 3: 224). Seinen signifikativen Effekt erhält ein Zeichen erst in der aktuellen Anwendung; erst im hic et nunc werden tokens interpretiert und dynamische Interpretanten generiert (SS 3: 225). Dynamische Interpretanten können dabei emotionale, energetische oder logische sein: Gefühle, Reflexe, Kognitionen. Logische Interpretanten interpretieren die Relation zwischen Zeichen und Objekt als Rhema, Dicent oder Argument (MS 318: 32−34; CP 5.475 f.; vgl. Fitzgerald 1966: 78 f.). Rhematische Interpretanten sind die kleinsten Elemente des logischen Interpretanten und noch nicht wahrheitsfähig wie der Dicent, aber erst das Argument, der Schluss, zielt auf Wahrheit ab, es ist jederzeit falsifizierbar, auch wenn es sich dem hypothetisch finalen Interpretanten annähern sollte, dem „ultimate effect of the sign“ (CP 8.315), „which would finally be decided to be the true interpretation if consideration [!] of the matter were carried so far that an ultimate opinion were reached“ (CP 8.184; vgl. Fitzgerald 1966: 82; Nagl 1992: 54). Der finale Interpretant erst könnte das dynamische Objekt in toto erfassen, aber er ist ein Ideal, ein telos, auf das der Zeichenprozess sich unendlich zubewegen sollte, das er aber nie erreichen wird, „the third grade of meaning“ (CP 8.176): But besides the consequences to which the person who accepts a word knowingly commits himself to, there is a vast ocean of unforeseen consequences which the acceptance of the
20. Semiotik word is destined to bring about, not merely consequences of knowing but perhaps revolutions of society. One cannot tell what power there may be in a word or a phrase to change the face of the world. (CP 8.176)
Insofern jede Wahrheitssuche zeichenvermittelt ist, ist sie fallibel. Das Prinzip menschlicher Fallibilität widerspricht der Hoffnung auf letztgültige Erkenntnis und absolute Sicherheit. Das mindert in keiner Weise den Wert der Wissenschaft und die Geltung ihrer Regeln (CP 7.553 f.), aber der erkenntnistheoretische Skeptizismus (auf den auch Derrida sich beruft) ist zugleich von erheblicher kommunikationstheoretischer Bedeutung (vgl. Ungeheuer 1987a). Aus kommunikationstheoretischer Perspektive ist entscheidend, dass es in konkreten Zeichenverwendungszusammenhängen zu je vorläufigen Konsolidierungen im Interpretantenbildungsprozess der Konturierung des immediaten Objekts kommt, Konsolidierungen, die als Basis für bestimmte praktische Zwecksetzungen mit den jeweils erreichten Bedeutungsmodifikationen gelten. Diese vorläufigen Konturierungen können zur Etablierung von Interpretationsgewohnheiten und Regeln der Interpretation führen. In kontextuell situierten Interaktionen werden Gewohnheiten und Regeln der Interpretation von Welt entwickelt, die die Bedingungen der Möglichkeit alltäglicher Verständigung etablieren. Die dadurch sich bildenden stabilisierenden Faktoren sind notwendige Voraussetzung jeglicher Verständigung (MS 612: 2 f.; CP 2.246; vgl. Johansen 1996: 164; Frank 1980: 173). Sind aber Interpretanten die „tatsächliche Wirkung“ auf einen Interpreten (SS 3: 224), so bleiben die Interpretationsgewohnheiten letztlich ans Individuum, den „given interpreter“, zurückgebunden. Sie sind als „outcome of social interaction“ (Johansen 1996: 262) zugleich dessen individuelle semiotische Kompetenz (nicht im Sinne Chomskys, eher im Sinne des „réservoir individuel“ der Saussureschen langue: vgl. Saussure 1968: 383 f.), die bei zwei Individuen nie vollständig identisch sein kann. Peirce betrachtet das Selbst des Individuums als prinzipiell zeichenvermittelt, es könne nur mithilfe von Sprache entworfen werden; es ist damit immer schon gesprochen (Kristeva 1969: 8). Dies überwindet die cartesianische Annahme der Möglichkeit einer zeichenfreien Ichkonstitution mit der darin implizierten „Selbstpräsenz“ (Derridas présence à soi): Two things here are all-important to assure. The first is that a person is not absolutely an individual. His thoughts are what he is saying to himself [...]. When one reasons, it is that critical self that one is trying to persuade; and all thought is a sign, and is mostly of the nature of language. The second thing to remember is that the manʼs circle of society (however widely or narrow this phrase may be understood), is a sort of loosely compacted person, in some respects of higher rank than the person of an individual organism. (CP 5.421)
Dies präludiert die von Humboldt bis Mead geläufige Vorstellung vom Individuum (und seinem Selbst), das in Prozessen sozialer Interaktion (Zeichenprozessen) entsteht und sich entfaltet (vgl. Mead 1976: 251). Es versinkt weder in einer Flut von Zeichen und Texten wie bei Kristeva (1969: 113, 1978: 69) oder Barthes (1994: 561, 1682), noch geht es auf in dem „circle of society“ und dessen Codes wie bei Eco (1977: 165), noch verschwindet es in der Lücke der différance wie bei Derrida (1998: 114−129; vgl. Frank 1980: 197, 1983: 262). Auch bei einer sich in Form eines Zeichenprozesses fortwährend entwickelnden Selbstkonzeption kommt es zu vorläufigen Konsolidierungen und damit zur Ausbildung eines je vorläufigen Selbst als der potenziellen Ausgangsbasis zu dessen
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen weiterer Entwicklung, wenn auch nicht in nezessitierender Weise, wie Frank (1988: 19) im Tone Schleiermachers meint (vgl. CP 5.315; Lauretis 1984: 180). Im Unterschied zum Strukturalismus und Poststrukturalismus beruhen Zeichenprozesse bei Peirce immer auf Erfahrungen, „collateral experiences“ (CP 7.439), die keine zwei Menschen exakt und in toto teilen können. Allen Zeichenprozessen eignet daher immer schon ein individuelles Moment: „[N]o manʼs interpretation of words is based on exactly the same experience as any other manʼs“ (CP 5.506; vgl. CP 5.314). Insofern „the word or sign the man uses is the man himself“ (CP 4.314), ist es intersubjektiv und sozial vermittelt. Es bleibt aber zugleich das je eigene, denn „my language is the sum total of myself “ (CP 5.314). Im Zeichen wohnen keine Monster des Stereotyps (Barthes 1994: 801−814), sondern neue Erfahrungen führen zu neuen Interpretantenbildungen (CP 5.313). In solchen Positionen trifft sich Peirce nicht nur mit Einsichten der hermeneutischen Sprachphilosophie von Humboldt bis Schleiermacher (vgl. Humboldt 1907: 64 f.; Jäger 1988), sondern auch mit Gerold Ungeheuer. Das Problem der Individualität kommentiert dieser aus kommunikationstheoretischer Perspektive: „Wird zwischen Menschen Gleichheit von Erfahrungsinhalten angenommen, so ist sie vermittelt, erarbeitet, geglaubt oder konstituiert, wie es Menschen eben möglich ist. Die Behauptung aber, jede Erfahrung sei individuell in diesem Sinne, gehört zu den ersten Beschreibungselementen, auf denen Kommunikation aufbaut“ (Ungeheuer 1987a: 208; vgl. Ungeheuer 1987b: 74). Dies heißt, dass nicht alle Angehörigen derselben Kommunikationsgemeinschaft, derselben Kultur oder Subkultur dieselben Zeichenträger mit denselben Interpretanten verknüpfen müssen, nicht jeder einen im Zeichenprozess bezeichneten Gegenstand in derselben Weise wie sein Gesprächspartner interpretieren muss (CP 5.42, 8.187). Das individuelle Verständnis wird damit zur beständigen Grenze der Bedeutungskonvention sowohl im positiven Rahmen ihrer Anwendung als auch im negativen ihrer Anfechtung (CP 5.447; vgl. Frank 1980: 193). Ist die Wiederholbarkeit von Zeichen mit dem Merkmal ihrer möglichen Bedeutungsveränderung versehen, ist ihnen immer schon ein Moment der Differenz eingeschrieben (Derrida 1990: 105). Die Bedeutung eines Zeichens innerhalb bestimmter Kontexte bleibt hypothetisch (Vigener 1979: 95). Wenn gilt, dass „every symbol is a living thing, in a very strict sense that is no mere figure of speech“ (CP 2.222), dann erfordert jede Wiederholung eines Zeichenträgers in neuen Ko- und Kontexten eine je neue Interpretation und diese kann nur als Prozess gedacht werden, der zwar durch Interpretationsgewohnheiten, den Ko- und Kontext, motiviert wird, letztlich aber schöpferisch bleibt. Selbst wenn die Regel gegeben ist, kommt die Validierung des Urteils, zumindest prinzipiell, nicht zum Abschluss (CP 5.448; vgl. Frank 1980: 173−175, 1988: 21; Vigener 1979: 100). Die Generierung der Bedeutung und die Konstituierung der Referenzbeziehung wird von Peirce damit als dynamischer Prozess beschrieben, der über die immer auch problematische Identifizierung eines tokens hin zur nicht minder problematischen Konstituierung von Interpretanten und damit einer Konturierung des unmittelbaren Objekts innerhalb einer bestimmten Situation führen kann, ein Prozess, der letztlich immer von einem Individuum durchgeführt wird, das diese Zeichen im Rahmen seiner Interpretationsgewohnheiten oder -schemata interpretiert und damit unter Umständen auch einem token einen anderen Interpretanten zuordnet, als sein Kommunikationspartner dies tun würde (vgl. Köller 1977: 56; Fehr 1992: 52; Gumbrecht 2004).
20. Semiotik
6. Kulturalität und Sprache, Medialität und Methode Kollektive von Individuen formieren sich als Zeichenbenutzer zu Kommunikationsgemeinschaften, zu sozialen Gesellschaften, deren symbolische Formen ihre Kultur ausmachen (vgl. Cassirer 1923−1929). Gegenstand der Kultursemiotik sind die Zeichensysteme in einer Kultur als auch die Kultur als Zeichensystem, also die in einer Gesellschaft gebräuchlichen Zeichenprozesse, Codes und Medien einerseits, die Individuen bzw. Institutionen, Artefakte und Mentefakte einer Gesellschaft andererseits, materialiter zugänglich in Texten (Posner 2008). Dieser kultursemiotisch definierte Textbegriff ist anwendbar auf codierte funktionale Artefakte gleich welchen Mediums (vgl. Lotman 1981) und hervorgegangen aus einem engeren Textbegriff, der lineare Zeichenketten (wie Sprache, Logik, Mathematik) umfasst, seinerseits eine Verallgemeinerung des auf sprachliche Zeichenkomplexe bezogenen philologischen Textbegriffs (zunächst nur Schrift, dann auch Rede): „Eine Kultur als Zeichensystem besteht aus individuellen und kollektiven Zeichenbenutzern, die Texte produzieren und rezipieren, durch die mit Hilfe konventioneller Codes Botschaften mitgeteilt werden, welche den Zeichenbenutzern die Bewältigung ihrer Probleme ermöglichen“ (Posner 2008: 54). Thema des kultursemiotisch geprägten Textbegriffs ist die „(Un-)Wiederholbarkeit von Sinn“ (Knobloch 2005: 26). Er überwindet die strukturlinguistischen Reduktionismen und trägt der spezifischen Kombination von Materialität und Immaterialität symbolischer Formen Rechnung, zum Beispiel im Verhältnis von Sprache und Schrift, Text und Bild, Musik/Tanz und Notation usw. (vgl. Ehlich 2012). Nachdem der Textbegriff nicht mehr nur auf die lineare Struktur von Zeichenketten bezogen wurde, sondern zweidimensional auf Rahmen und Fläche von Zeichentexturen, dreidimensional auf deren komplexe Organisation in Raum und Zeit, wurde schon früh (wenn auch zunächst methodisch folgenlos) die Forderung erhoben, der Multimodalität symbolischen und insbesondere sprachlichen Handelns in allen seinen Erscheinungsformen die gebotene Aufmerksamkeit zu schenken (Hess-Lüttich 1978, 1982, 2004). Erst die moderne Diskursforschung (in ihren verschiedenen sozial- oder textwissenschaftlichen Ausprägungen: vgl. Kämper und Warnke 2015) trägt dieser Forderung systematisch Rechnung und zieht daraus die nötigen methodischen Konsequenzen, indem sie sich dafür öffnet, das in Diskursen sedimentierte Symbolverhalten des Menschen transdisziplinär zu thematisieren und methodischen Pluralismus zuzulassen (multimethodische Triangulation bei Beachtung der wissenschaftstheoretisch geprüften Kompatibilität der Ansätze). Für die Fortentwicklung klassischer Zeichenbegriffe in der Tradition von Peirce und Saussure böte die Kultur- und Symboltheorie Ernst Cassirers nicht den schlechtesten Ausgangspunkt, zumal, wenn sie dabei auch neue Modellbildungen in Mathematik und Naturwissenschaften (Morphodynamik, Chaostheorie, fraktale Geometrie, Synergetik) nicht ignoriert (Wildgen 2016a, b).
7. Literatur (in Auswahl) Apel, Karl Otto 1981 Charles W. Morris und das Programm einer pragmatisch integrierten Semiotik. In: Achim Eschbach (Hg.), Zeichen über Zeichen über Zeichen. 15 Studien über Charles W. Morris, 25−82. Tübingen: Narr.
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Ernest W. B. Hess-Lüttich, Berlin (D) / Bern (CH) / Stellenbosch (ZA)
21. Rhetorik
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21. Rhetorik 1. Rhetorik als kulturelles Phänomen (der Antike) 2. Redeanlässe als Focus rhetorischen Handelns 3. Rhetorische Beweisführung als Frage nach der Beglaubigung
4. 5. 6. 7. 8.
Stil: Das Wie der Rede System der Rhetorik Rhetorik und Literatur Das moderne Interesse an Rhetorik Literatur (in Auswahl)
1. Rhetorik als kulturelles Phänomen (der Antike) Während neuere und neueste Forschungen immer wieder darauf verweisen, dass der Ursprung der europäischen Kultur sich auch als eine Transformationsleistung altorientalischer Mythen und Denkmuster vollzieht, in der aus Narrativen philosophische Thesen und Begründungen entwickelt werden, scheint die Rhetorik eine autochthone Erfindung der Griechen zu sein. Dies ist insofern erstaunlich, als sich in der antiken Theoriebildung der treffende Hinweis findet, dass Grundoperationen der Rhetorik wie verbale Verteidigung und Angriff, Beratung und Lob von jedem Menschen tagtäglich angewendet werden, indes die rhetorische techne durch Beobachtung der jeweils erfolgreichen Persuasionsstrategien eine Methode entwickelt hat (Aristoteles, Rhetorik 1,1,1−2, wo die Rhetorik in Parallele mit der Dialektik gesetzt wird). Es wäre also zu erwarten gewesen, dass die Rhetorik, ähnlich wie andere sprachliche Semiosen (Dichtung oder Philosophie), kulturell universal agiert. So sehr sie dies aus heutiger Sicht ohne Zweifel tut, so deutlich ist aber dieses sprachliche Handeln durch die griechisch-römische Tradition kulturell determiniert. Die heutige Ubiquität ist also letztlich eine Rezeptionsleistung besonderer Art. Archegeten dieses Rhetorikkonzeptes waren die Sophisten, deren Anspruch auf universale Könnerschaft sich durch τέχναι/technai/artes formuliert hat. Die Rhetorik wurde in diesem Zusammenhang als eine Art von Supertechne angesehen (Platon, Gorgias 458 e8−459 c6 und Philebos 58 a−b; vgl. auch Schirren und Zinsmaier 2003).
1.1. Die Rolle des Redners für die gesellschaftliche Kommunikation Rhetorisches Handeln findet in der und für die Gesellschaft statt. Zwar kann rhetorisches Handeln auch im privaten Bereich wirksam sein, jedoch nur mehr als ein abgeschattetes Phänomen. Mag sich auch die private Kommunikation rhetorischer Mittel bedienen, die auch der öffentliche Redner nutzt, so bleiben dies sekundäre Phänomene. Der Orator − im Folgenden wird dieser Terminus in Anlehnung an Knape (2000) ohne Festlegung auf das Geschlecht des bzw. der Redenden verwendet − als ein sprachlich Handelnder ist ein gesellschaftliches Subjekt im Rahmen der allgemeinen Kommunikation. Nur hier lässt sich herausheben, was das rhetorische Proprium ist. In der antiken Kultur ist dieses Bewusstsein immer präsent: Der öffentlich auftretende Orator steht unter einem besonderen Erwartungsdruck, da er sich öffentlichen Interessen zuwenden und in einer allgemein akzeptablen Form kommunizieren muss (Cicero, De oratore I, 12; I, 34; Schirren 2000: 229). Die Sprache ist somit das eigentlich und zuerst gesellschaftlich wirksame Medium, das dem Menschen überhaupt erst ermöglicht, in sozial strukturierten Gemeinschaften
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen zu leben. Sprachlichkeit ist mithin auch als Form der Rationalität bestimmt: Denn gesellschaftliche Kommunikation kann überhaupt nur funktionieren, wenn jeder Sprecher sich grundsätzlich in den Grenzen der gesellschaftlich akzeptierten Rationalität bewegt (Solmsen 1932; in der Antike findet sich dieser Gedanke in Aristoteles’ Politika 1,2 1252 b27−53 a29, und Cicero, De inventione 1,1,2−3). Darin liegt einmal die Fähigkeit, einen eigenen Standpunkt zu einer Sachfrage einzunehmen, ihn für andere einsichtig zu formulieren und dafür zu werben; jedoch auch, andere Positionen zu berücksichtigen und in ein Verhältnis mit der eigenen zu setzen, um beide (oder mehrere) in Hinsicht auf die je gesetzten Leitaspekte (siehe Abschnitt 2) zu evaluieren. Diesen engen Zusammenhang von Rede und Rationalität hat die rhetorische Theoriebildung immer wieder an zentralen Begriffen wie griechisch logos (‚Rede‘, ‚Sinn‘, ‚Vernunft‘) und lateinisch ratio bzw. oratio zu verdeutlichen gesucht (vgl. Aristoteles, Rhetorik 1,1,12 1355 a33; Cicero, De oratore 1,12 und 34; Cicero, De inventione 1,1,2−3; Cicero, De officiis 1,16,50; Quintilian, Institutio oratoria 10,7,8−10 und 11,1,15; vgl. auch Aristoteles, Politika 1,2). Aber auch die Narrative von den ersten Rednern, die kraft ihrer Fähigkeit die verstreut lebenden Menschen zusammenbrachten und so zu Kulturstiftern stilisiert wurden, sind Ausdruck dieser Auffassung: Rhetorik wird dadurch zur Grundlage einer sozial komplex organisierten Gemeinschaft, in der alle anderen kulturschaffenden Leistungen überhaupt erst ermöglicht werden: Gottesdienst, Rechtsprechung und politische Versammlungen gehen, so die Vorstellung, auf die Redner als Vermittler und Hersteller sozialer Einheit zurück. Das bekannte Konzept des orator perfectus, das Cicero in De oratore vorstellt, geht bereits auf Isokrates zurück (Barwick 1963).
1.2. Die Rolle der Rede und ihr Verhältnis zur Faktizität (res − verba) Zwar mag diese idealisierende Vorstellung nun auch darauf abzielen, der ars oratoria im Kanon anderer Künste (den artes liberales) eine besondere Bedeutung zuzuweisen, doch bleibt festzuhalten, dass Wirkungsmächtigkeit und gesellschaftliche Relevanz der Rhetorik einerseits schon sehr früh belegt ist, andererseits aus einer Applikation und Radikalisierung ontologischer Reflexion resultierte: Bereits das homerische Epos kennt den Wert des greisen Nestor für die politische Beratung wie auch die listenreiche Rede des rhetorischen Tricksters Odysseus (vgl. Platon, Phaidros 261 b; Quintilian, Institutio oratoria 12,10,64−65; Lohmann 1970). Im einen Fall wird der sprachlichen Semiose ein Höchstmaß an Realitätsnähe, im anderen Fall ein Freiraum zur Umdeutung eben dieser Realität zugesprochen. Das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem oszilliert somit in der Frühphase zwischen realer oder nur scheinbarer Identität. Die eleatische Philosophie affirmiert nun die Identität: Man kann nur Seiendes sagen, Nichtseiendes ist weder sagnoch denkbar. Wenn postuliert wird, dass man das Erkennen nicht ohne das Seiende finden werde, „in welchem es ausgesprochen ist“ (Diels/Kranz 1952, Parmenides B 8,35−36), dann wird (wahres) Sagen im Seienden verankert. Lüge und Irrtum im Sprechen (vgl. Hesiod, Theogonie 27 ff.) wird dagegen nicht als Sprechen im eigentlichen Sinne aufgefasst. Diese Identifikation wird vom Protorhetoriker Gorgias nun dahin umgedeutet, dass sich das Reden seinen Gegenstand selbst schafft, der von jeglicher semantischer Funktion befreit ist: der „Logos sagt sich selbst“ (Buchheim 1986: 32). Es ist diese Referenzlosigkeit, die dem Rhetoriker Gorgias Sprache zur Manipulationsmaschinerie werden lässt. Als Seiendes kann Sprache wirken wie Drogen: Der Rezipient
21. Rhetorik ist diesem technisch aufbereiteten Gegenstand ausgeliefert wie anderen Dingen in der Welt. Die antike Rhetorikhistoriographie verlegt den Ursprung der Rhetorik nach Sizilien, in eine Zeit, da es nach dem Zusammenbruch der dortigen Tyrannis zu Besitzstreitigkeiten kam (Schöpsdau 1969; Schindel 1992; Rabe 1931 für die Prolegomena, in denen diese Geschichten erzählt werden). Da Urkunden gefehlt hätten, habe man sich mit Wahrscheinlichkeitsargumenten behelfen müssen. Das Wahrscheinliche (εἰκός/eikos) wird als eine Möglichkeit entdeckt, in defizitären Situationen eine Orientierung zu geben. Gemäß der sophistischen Theorie ist dieses Wahrscheinliche als Produkt der Rede von eigener ontologischer Valenz. Gleichwohl oder deshalb hat sich gegen diesen Ansatz stets eine philosophische Position gewandt, die die Ontologie solchen Manipulationen nicht aussetzen wollte.
1.3. Dialogtheorie und wissenschaftlicher Diskurs Der utopische Gegenentwurf einer philosophischen Rhetorik, wie ihn Platon unternimmt, verabschiedet sich von der klassischen Rolle des Orators und präferiert das Modell des Dialoges. Nur in der engen Face-to-Face-Situation sei es möglich, individuell auf das Gegenüber einzugehen und sowohl Thema wie Wortwahl zu moderieren. Der Dialog erscheint so als philosophische Methode der Wissensvermittlung, die aber auf einen sehr kleinen Personenkreis beschränkt bleiben muss (Platon, Phaidros 261 a7−b2; 265 c8− 266 b1; 271 c10−272 b4). Da auch das Denken als Dialog der Seele mit sich selbst definiert wird (Sophistes 263e), ist der interpersonale Dialog eigentlich ein gemeinsames Nachdenken. Das rhetorische Ziel der Persuasion wird bewusst ausgeblendet; an dessen Stelle tritt der Erkenntnisprozess. Dieser regelt die Geltung von Argumenten und Beweismitteln. Aristoteles betont (Rhetorik 3,1,5−6), dass für rein wissenschaftliche Fragen die Rhetorik entbehrlich sei, da alle vom gleichen Niveau aus argumentieren und keiner Hilfen bedürften, die außerhalb des reinen Sachbeweises lägen. Das Ideal eines herrschaftsfreien, rein sachbezogenen Diskurses ist bis in die Gegenwart immer wieder beschworen worden; so geht auch Habermas (1981) explizit von Idealsituationen aus, in denen das dialogische Prinzip in der Tradition Platons gilt. Aus rhetoriktheoretischer Perspektive erscheint dieses Ideal freilich lebensfern, da es psychosoziale Gegebenheiten unterschätzt. Die Rhetoriktheorie geht von einer Fülle von Interessen und komplexen Machtstrukturen aus, die in jeder Kommunikation virulent werden, und entwickelt eine Strategie, wie dennoch eigene Interessen selbst bei einem negativen Machtgefälle durchgesetzt werden können. Aristoteles bringt dies an derselben Stelle (Rhetorik 3,1,5−6) auf die prägnante Formel, dass die rhetorischen Beweismittel nur aufgrund der verbreiteten Schlechtigkeit der Menschen erforderlich, aber gerade deshalb unabdingbar seien, nicht zuletzt, um auch und gerade philosophische Ziele erreichen zu können, die dem Laien mit Sachargumenten allein nicht einsichtig zu machen sind.
1.4. Rede als Handlung Im Gegensatz zum philosophischen Diskurs muss rhetoriktheoretisch immer im Blick bleiben, dass die (rhetorisch wirksame) Rede Handlung ist und Handlung nach sich zieht.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Nicht zufällig finden sich bei den alten Sophisten bereits Ansätze zu einer Theorie der Sprechhandlungen (Bitte, Befehl etc.), die als „Grundlagen der Rede“ (Diels/Kranz 1952, 254 = Protagoras A1,53−54) bezeichnet werden (Schirren 2009a). Die sprachliche Semiose wird so zu einer Handlung oder Handlungsanweisung. Diese Grundoperation kann sich sowohl in Mikro- wie in Makroeinheiten vollziehen: Mit Ausrufen oder Interjektionen kann der Orator die Rezipienten gezielt auf Sachverhalte hinweisen, die emotional konnotiert werden, um einen Handlungsimpuls auszulösen (Sprechhandlung). Das Generalziel der Redehandlung muss immer eine Entscheidung sein, die im Sinne der eigenen Interessen ausfällt (Texthandlung). Sprachliche Persuasion bedeutet folglich Vorbereitung und Hinführung zu einer Entscheidung. Aristoteles betont daher, dass im Unterschied zu wissenschaftlichen Diskursen die rhetorischen Ethos hätten, das heißt von einem charakterlich qualifizierten Redner performiert werden (Aristoteles, Rhetorik 3,16 1417 a15−25). Deshalb sind für ihn rhetorische Beweismittel all jene, die den Rezipienten entsprechend disponieren, den fraglichen Sachverhalt in diesem oder jenem Licht zu betrachten. Eine Definition der rhetorischen Kunst lautet demnach, dass die Rhetorik dasjenige betrachtet, was die Rezipienten so bewegen kann, dass sie die Entscheidung im Sinne des Orators fällen (Aristoteles, Rhetorik 1,2 1355 b26−35).
2. Redeanlässe als Focus rhetorischen Handelns Die Rhetoriktheorie hat schon früh dafür gesorgt, dass die unüberschaubar große Fülle möglicher Redesituationen auf eine geringe Anzahl von Grundtypen oder Modellsituationen reduziert wird. Der Nutzen einer solchen technisch induzierten Reduktion von Wirklichkeit liegt in der klareren Bestimmung, welche Leitaspekte der Orator zu verfolgen hat. In der Reduktion und Systematisierung als solcher wird ein Grundzug der Techne überhaupt greifbar. Rhetorische Techne verändert damit auch die Wahrnehmung der Welt durch den Redeproduzenten.
2.1. Die drei Genera als Modellsituationen Die Dreizahl dieser Modellsituationen ist im Lauf der Rhetorikgeschichte erstaunlich stabil (Aristoteles, Rhetorik 1,3; Quintilian, Institutio oratoria 3,3,15−4,16). Die im Mittelalter aufkommenden artes dictaminis und praedicandi sind Spezialrhetoriken, die den Bedarf an konkreten Regeln für Briefstellerei und Predigt decken sollen und so Applikationen der Modellsituationen darstellen. Selbst in der Gegenwart tut man sich schwer, diese zu erweitern oder zu modifizieren.
2.2. Gericht: Frage der Norm Der Orator spricht über Fragen der Normübertretung: Solche Themen werden üblicherweise vor Gericht verhandelt (daher lateinisch genus iudiciale) unter der Frage, ob dies oder jenes gerecht erscheint. Die Kodifizierung von Rechtsvorschriften in Form von
21. Rhetorik Gesetzen macht es erforderlich, zu prüfen, ob ein darzustellender Sachverhalt einem juristischen Tatbestand zuzurechnen ist oder nicht. Das fragliche Faktum liegt in der Vergangenheit.
2.2.1. Beratung: Frage der berechtigten Interessen Die gesellschaftlich unabdingbar virulenten Interessengegensätze erfordern eine Diskussion, wenn es darum geht, welche partikularen Interessen am ehesten mit denen der Allgemeinheit übereinzubringen sind. Infolgedessen berät man (lateinisch genus deliberativum) stets über Zukünftiges und versucht, die zu verhandelnden Fragen und Sachverhalte als nützlich für alle, insbesondere aber für die direkten Rezipienten zu erweisen.
2.2.2. Fest: Emergenz des sozialen Gefüges Die dritte Redegattung, die Fest- oder Vorzeigerede (lateinisch genus laudativum oder demonstrativum), unterscheidet sich von den anderen darin, dass weniger die Herbeiführung einer wirklichen Entscheidung über etwas als vielmehr eine Affirmierung des immer schon so Gesehenen und Akzeptierten Aufgabe des Redners ist. Worauf alles zu beziehen ist, muss dasjenige sein, was alle immer schon als richtig und schön (bzw. deren Gegenteile) beurteilen. Diese Redegattung bestätigt das allgemeine Urteil, doch schafft sie damit zugleich eine Form gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit im Horizont dieses von der Gemeinschaft so Beurteilten. Regelung von Vergangenem, Planung des Zukünftigen und Deutung der Gegenwart sind also die drei Grundformen oratorischen Handelns. Doch wie gelingt dies in der Praxis?
3. Rhetorische Beweisführung als Frage nach der Beglaubigung Die erwähnten Beweismittel (griechisch πίστις, pistis, Plural pisteis) des Redners sind nun keineswegs nur solche zur Sache (griechisch logos). Entsprechend dem rhetorischen Ziel, nämlich der Persuasion nach den Gegebenheiten der rhetorischen Ausgangslage, kommen zwei weitere hinzu, deren Wirkung kaum überschätzt werden kann.
3.1. Ethos als sprachliche Darstellung der rednerischen Kompetenz Die Adressaten einer Rede werden immer dann dem Gesagten eine besondere Relevanz beimessen, wenn sie den Eindruck haben, der Redner spreche auf der Grundlage besonderer Kompetenz. Zustimmung wird der Redner darüber hinaus erlangen, wenn er sich als jemand darzustellen vermag, der den Zuhörern wohlgesinnt ist und selbst den allgemein akzeptierten Verhaltensnormen weitgehend entspricht. Der Redner muss diesen Eindruck technisch gesehen allein durch die sprachlich performierte Darstellung seiner
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen selbst erreichen und keineswegs durch Momente, die außerhalb der Rede liegen. Die sprachliche Semiose, auf der dies alles beruht, muss demgemäß nicht nur Sachaspekte des Redegegenstandes verfolgen, sondern auch und gerade ein Persönlichkeitsbild performieren. Dies kann dadurch gelingen, dass der Redner seine elocutio (Sprachform) oder auch das körperliche Agieren (actio) bewusst darauf abstimmt, ein bestimmtes Persönlichkeitsbild seiner selbst zu generieren. Sprachlicher und körpersprachlicher Code fungieren in dieser Situation beide als Beweismittel. Der so modellierte Charakter des Redners muss nichts mit seinem sonstigen Verhalten zu tun haben, sondern allein in der rhetorischen Handlungssituation plausibel erscheinen (Aristoteles, Rhetorik 1,2,3−6; 2,1,5−7 1378 a6−19).
3.2. Pathos als sprachliche Einwirkung auf die Affekte der Zuhörer Der modellierten Selbstdarstellung des Redenden entspricht nun auch auf der anderen Seite eine kalkulierte Einwirkung auf die Emotionen der Rezipienten, denn unter Gefühlseinflüssen fallen Sacheinschätzungen und Entscheidungen grundsätzlich anders aus, als wenn diese fehlen. Der Redner muss dafür aber die grundlegenden Verhaltensmuster seiner Zuhörer in Rechnung stellen, die sich ihrerseits nach bestimmten Typen differenzieren lassen (Junge, Alte, Männer, Frauen etc.; Aristoteles, Rhetorik 2,1,8−9; 2,12−14). Als emotionale Beweismittel gelten z. B. Entrüstung, Mitleid, Zorn und andere affektive Zustände, die der Redner an sich selbst erkennen lassen muss, um sie durch einen komplexen sympathetischen Übertragungsprozess auch bei den Zuhörern wecken zu können. Entscheidend ist dabei jedoch, dass diese Emotionen aus der Sache selbst zu entspringen scheinen. Nur so können sie auch die Einschätzung der zu verhandelnden Sache modifizieren, andernfalls täte man sie als sachfremd ab.
3.3. Logos als interessegeleitete Darstellung/Argumentation des Sachverhaltes Neben der Modellierung des rhetorischen Akteurs und der affektischen Disposition der Rezipienten muss aber auch der Sachgegenstand parteiisch dargestellt, das heißt modelliert werden. Schon früh hat man anhand von Erschließungsfragen, deren Relevanz später auch für die Hermeneutik erkannt wurde, ein Raster entwickelt, um die jeweils beste Verteidigungs- bzw. Angriffsstrategie argumentativ umzusetzen: die sogenannte Statuslehre (Schirren 2009b). Rhetorisch gesehen muss es immer darum gehen, solche Sachaspekte in das Zentrum der Argumentation zu stellen, die in der jeweiligen Situation vermittelbar sind und die ein Höchstmaß an Erfolg sicherstellen.
4. Stil: Das Wie der Rede Nach diesen die Auffindung des Redeinhalts betreffenden Arbeitsschritten (lateinisch inventio) misst die Rhetorik aber auch der sprachlichen Form (griechisch λέξις/lexis,
21. Rhetorik lateinisch elocutio) eine hohe Bedeutung in der Redeproduktion zu (Aristoteles, Rhetorik 3,1; Schirren 2009c). Die sprachliche Form differenziert sich zunächst in drei Grundformen des sprachlichen Codes: eine einfache, die weitgehend auf ornatus (Sprachschmuck) verzichtet, eine besonders durch ornatus ausgezeichnete und eine moderate Mischung aus beidem. Man könnte die extremen Codes auch nach markiert und unmarkiert differenzieren; später wurden die Vertreter der beiden Stile in Attizisten und Asianisten getrennt, in deren scharf geführte Stilkontroverse vor allem Cicero hineingezogen wurde (Müller 2009; Dihle 1992). Der markierte Code steht im Dienst einer eindringlichen und gegebenenfalls auch affektischen Darstellungsform (durch Einsatz von Figuren oder Tropen), der unmarkierte will sich scheinbar auf die Information der Sachlage beschränken. Das Applikationskalkül wird vom Angemessenen (lateinisch aptum) bestimmt. Angemessen ist das, was man nicht als aufgeputzt empfindet, sondern als genau so gestaltet, wie es die Sache erfordert. Von diesem Regulativ aus ist auch die Dichotomie von markiert/unmarkiert zu betrachten: Auch der markierte Stil soll nicht als solcher, rhetorisch aufgeputzter erfahren werden, da der Rezipient sonst leicht den Eindruck der Manipulation erhält, was rhetorischen Erfolg grundsätzlich erschwert (Aristoteles, Rhetorik 3,2,4 1404 b18−21). Die Mischung der einfachen und der figurativ aufgeladenen Sprache wird als mittlerer Stil bezeichnet. In der Tradition des Aristoteles wird überhaupt nur das Mittlere zwischen zwei zu meidenden Extremen als die richtige Sprachwahl definiert; darin ist er einem Grundkonzept seiner Ethik verpflichtet (Aristoteles, Rhetorik 3,2,1 1404 b1− 5). Indem betont wird, dass der Sprachstil den zugrunde liegenden Sachen angemessen sein soll, also zwischen Signifié und Signifiant ein ganz bestimmtes sachlich-ästhetisches Verhältnis bestehen soll, erweist sich, dass Aristoteles nicht schlechthin ein Vertreter des mittleren Stiles war, sondern die aurea mediocritas als Applikationskalkül verstand, das gegebenenfalls auch einen besonders markierten Stil erforderlich machen konnte.
4.1. Tropik und Figuren Technischer Kern der elocutio ist die Figuration des sprachlichen Ausdrucks. Gemäß der klassischen, geradezu kanonischen Auffassung legt man dabei eine Nullstufe zugrunde, von der durch gezielte Veränderungen in Form von Figuration (Figuren und Tropen) abgewichen wird (Schirren 2009d und 2009e). Diese Devianztheorie ist systematisch zwar nicht unwidersprochen, doch bietet sie ein klares Modell, wie Figurationen zunächst fassbar und taxierbar sind. Die Versuche einer Taxonomie gehen von einer Art Bauanleitung aus (sogenannte quadripertita ratio: Hinzufügung, Wegnahme, Austausch, Umstellung), die aber nicht die tatsächliche Erfindung einer Figur bezeichnen kann, sondern ein nachträgliches Ordnungsraster ist, das freilich vom Prinzip der Produktion ausgeht. Trotz anderslautender Versicherungen übernehmen auch moderne Darstellungen zum ornatus dieses Raster mehr oder weniger explizit (Ax 2000). Der Ursprung der Figuration liegt allerdings jenseits des rhetorisch Fassbaren bereits in der allgemeinen Sprachfähigkeit begründet. Wie auch in anderen Bereichen nutzt die Rhetorik diese Gegebenheiten und unterzieht sie einer Optimierungsstrategie. So bilden Metaphern ein Grundmoment der Semantik überhaupt aus, doch die Rhetorik setzt dieses Vermögen für das rhetorische Kalkül ein. Wenn man von einer imaginären rhetorischen Nullstufe ausgeht, dann sind die figural vorgenommenen Abweichungen eigentlich Fehler, die nur
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen deshalb als rhetorische Kunstmittel kategorisiert werden können, weil sie einen spezifischen, gewollten Effekt haben. Wortwiederholungen z. B. sind grammatisch fehlerhaft, aber rhetorisch dann sinnvoll, wenn der Sprecher emphatisch formulieren will (emotionale Geste). In der Moderne hat man die Möglichkeiten der figuralen Veränderung eines Sachgehaltes als eine Art Textgenerierungsmaschine gedeutet, in der aus vorgegebener Information ein Text mit rhetorischem Strickmuster verfertigt wird (Barthes 1988).
5. System der Rhetorik Rhetorisch gesehen ist der gesellschaftliche Raum von divergierenden Interessen bestimmt; das gesellschaftliche Leben erscheint deshalb als dauernder Kampf um begrenzte Ressourcen. Die rhetorische Kunst versieht den Techniten mit einem Inventar zur Durchsetzung seiner Interessen auf dem Feld der sprachlichen Kommunikation; das muss nicht bedeuten, dass konkurrierende Interessen rücksichtslos beschnitten werden. Vielmehr liegt in den Formen einer rational bestimmten Auseinandersetzung durchaus auch die Anerkennung anderer Interessen, mit denen ein rationaler Ausgleich angestrebt wird. Doch vielfach hat der Orator in einem Umfeld zu agieren, das der rationalen Argumentation nicht aufgeschlossen oder durch anderweitige irrationale Einflüsse modifiziert ist. In solchen Fällen bietet die rhetorische Beweistrias Möglichkeiten, rational defizitäre Widerstände zu überwinden. Grundsätzlich ist die Trennungslinie zur Manipulation schwer zu ziehen, da wiederum nur aus dem rhetorischen Setting heraus zu entscheiden ist, wo im Einsatz dieser Mittel aufseiten des Redners berechtigte Gegenmaßnahme, wo unbillige Vorteilsnahme durch falsche Information des Publikums vorliegt.
5.1. Folgen für die Lebenswelt Die Rhetorik sieht den Menschen entweder als Mangelwesen, das mithilfe symbolischer Interaktion intersubjektive Wahrscheinlichkeit dort zu etablieren sucht, wo Letztbegründung und Wahrheit nicht möglich scheinen (Blumenberg 1981), oder als von der Schöpfung besonders ausgestattetes Wesen, das durch Sprache und Vernunft sich von anderen Wesen unterscheidet. Der Orator erfüllt unter solcher anthropologischer Vorgabe das Menschsein in besonderer Weise. Semiologisch betrachtet jedoch wird in beiden Fällen der sprachliche Raum, den der Mensch sich schafft, einer Dynamisierung und Intensivierung unterzogen. Während die Dichtung die Welt markant wiederholt oder zur Darstellung bringt − Aristoteles stellt daher in der Poetik den Begriff der Mimesis in das Zentrum seiner Überlegungen zur Dichtung: Dichtung überhaupt ist Mimesis −, möchte die Rhetorik die Welt verändern, und zwar in parteiischem Interesse. Sprachliche Semiose ist der Rhetorik nicht Mittel zur bloßen Kommunikation, sondern zur Einwirkung und stellt somit einen Sonderfall der Kommunikation dar. Die Versuche, die rhetorische Standardsituation aus dem Gespräch heraus zu erklären, lassen allzu leicht diese Grenzen verschwinden. Auch in der alltäglichen Gesprächskommunikation wechseln sich Unterhaltung und persuasive Absichten dauernd ab. Rhetorisches Handeln kann hier nicht leicht aufgewiesen werden. Dies ist auch ein Grund, weshalb es methodisch schwierig ist, das Wesen einer Gesprächsrhetorik zu bestimmen. Zunächst ist auf die enge Ver-
21. Rhetorik wandtschaft von Rhetorik und Dialektik zu verweisen (siehe Abschnitt 1.), die Aristoteles betont hat. Auch Platon hatte in seinem Konzept der Psychagogie eine philosophisch orientierte Gesprächsführung eingefordert, die statt monologischer Reden auf das Wechselgespräch mit kurzen dialektisch strukturierten Redebeiträgen setzt (διαλέγεσθαι/dialegesthai, vgl. Platon, Gorgias 449b−c; Quintilian, Institutio oratoria 3,4,10 und siehe Abschnitt 1.3). Doch hierbei handelt es sich um Kommunikationsformen, die von jeglichem rhetorischen Telos absehen und sich ganz der Sachklärung verschreiben. Anders liegt der Fall, wenn die Kommunikatoren bereits mit bestimmten Absichten in ein Gespräch treten. Denn nun haben sie strategisch vorzugehen, um unter den Bedingungen eines turn taking, also eines Wechsels der Oratorrolle unter den Kollokutoren, diese durchzusetzen. Die aristotelische Pististrias ist dementsprechend zu adaptieren, vor allem aber sind das Beobachten und das schlagfertige Reagieren entscheidend. Hier freilich gibt es auch schon Überlegungen aus der klassischen Rhetorik (siehe Quintilian, Institutio oratoria 6,1,4−6; 12,3,3), denn natürlich gehört eine aufmerksame Beobachtung des Publikums auch schon zu den Pflichten des monologischen Orators. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass insbesondere in der Zeit der rhetorischen Virtuosen, der kaiserzeitlichen Rhetorik, der epideiktische Vortrag als eine Unterhaltung (διάλεξις) bezeichnet wurde, obwohl es eine monologische Rede war. Doch wurde der Redetext auf momentane Reaktionen des Auditoriums hin optimiert. Knape (2009: 27) hat folgende officia des Gesprächsorators ermittelt: 0. Intellektion; 1. Invention; 2. Verlaufsobservation; 3. Verlaufsintervention; 4. Handlungskalkulation; 5. Intervention. Natürlich steht und fällt diese unter hohem Druck erfolgende Interaktion der Kollokutoren mit einer akribischen Vorbereitung des Sachfeldes wie auch der Einschätzung der gegenwärtigen soziopsychologischen Befindlichkeit der anderen Gesprächsteilnehmer. So kann im Bedarfsfall auf eine Topik zurückgegriffen werden, die ja ihre Entstehung gerade dem dialektischen Gespräch verdankt.
6. Rhetorik und Literatur Das Verhältnis von Rhetorik und Poetik ist somit klar zu bestimmen: Sie sind durch das Kriterium der Handlung geschieden. Während auf der Ebene der Inventio und Elocutio klare Verbindungen zu konstatieren sind, das heißt, im formalen Bereich der Textproduktion beide artes aus demselben Fundus schöpfen können, entsteht durch die Pragmatisierung des zu produzierenden Textes im Kontext sozialer Interessenräume rhetorisches Handeln. Dessen Intentionen müssen erkennbar und bestimmbar sein, auch wenn sie möglicherweise den primären Adressaten nicht deutlich geworden sind, denn gerade dies wird der Orator nicht immer explizit machen wollen oder können. Freilich finden sich aufgrund der Verwandtschaft von Rhetorik und Poetik immer wieder literarische Texte, die rhetorisiert erscheinen. Damit meint man gemeinhin, dass die Oberfläche durch ornatus besonders gestaltet ist. Eine rhetorische Handlung, das Spezifikum der Rhetorik, muss das aber keineswegs implizieren. Andererseits sind typisch rhetorische Textsorten wie etwa Verteidigungs- oder Anklagereden nicht automatisch rhetorisch. Sie können nämlich auch ohne konkreten Handlungszusammenhang konzipiert worden sein und bilden dann nur ein sogenanntes Progymnasma (Übungsform), in dem bestimmte Formalien eingeübt werden sollen (Deklamationspraxis).
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
7. Das moderne Interesse an Rhetorik Zwar steht Roland Barthes sicherlich nicht am Anfang des modernen Interesses an der Rhetorik, aber er hat in seinem „semiologischen Abenteuer“ wichtige Impulse für die sprachliche Semiose der Rhetorik gegeben (Barthes 1988). Auffallend ist dabei der Rekurs auf das System der Rhetorik, in dem spezifische Praktiken aufgewiesen werden: Technik als Regelwerk, Unterricht, Wissenschaft, Moral, gesellschaftliche Praxis, Praxis des Spiels. Das semiologische Interesse an der Rhetorik hebt also das Ineinander von Systemlehre und Gesellschaftssystem hervor und fragt nach den Zeichen, die darin systembildend sind. So ermöglicht die Doppelkonnotation der rhetorischen Zeichen (sprachlich und stilistisch) eine Unterscheidung in solche Menschen, die reden können, und solche, die es nicht können. Auf solche Repressalien wiederum reagiert man mit Verächtlichmachung der Kunstlehre etc. (angebliche Immoralität der Rhetorik). Die Semantik der Zeichen hätte also immer auch noch eine soziologische Dimension und genau dieser gilt die Aufmerksamkeit einer Wissenschaft, die Funktion und Bau der Zeichen untersuchen will. Dieser Rekurs vollzieht sich nun als eine historisch orientierte Darstellung der Rhetorik als Maschinerie der Codierung. Als Konnotationsebene produziert die Rhetorik durch den Stil Signifikate, die Barthes in die Gruppe der Metabolen (im Wesentlichen Tropen und der Parataxen) unterteilt. Letztere sind Codes, die die normale syntaktische Folge stören (Anakoluth, Aposiopese, Ellipse, Amplifikation durch Wiederholung). Diese Einteilung ist eigenwillig und zeigt die Perspektive des Semiologen: Er sondert nach der Kategorie paradigmatische versus syntagmatische Achse, die ja eigentlich die Auswahl der Signifikanten in der Rede steuern soll. Eine engere Beziehung besteht zwischen Rhetorik und Hermeneutik (Schirren 2008); bezeichnenderweise erschienen Gadamers Wahrheit und Methode und Lausbergs Kompendium im selben Jahr: In einer berühmten Rezension ist auf das eigentlich rhetorische Potenzial der Hermeneutik hingewiesen worden, da Grundoperationen des Hermeneuten mit denen des Orators vergleichbar seien (Dockhorn 1966). Beide stehen unter einem konsensorientierten Wahrheitsbegriff und lehnen den strengen der Naturwissenschaft ab. Dennoch muss im Blick bleiben, dass die Rhetorik eine Produktionstheorie ist, während der Hermeneut primär rezeptiv verfährt. Das von Gadamer geprägte bonmot der Ubiquität der Rhetorik ist freilich nicht nur von Vorteil für diese: Die Bereiche, die sich der Rhetorik entsinnen, sind zahlreich, von der Homiletik bis zur Jurisprudenz, und so hat es die Rhetorik als Disziplin schwer, sich ein eigenes Profil zu schaffen. Bezeichnenderweise ist das Tübinger Seminar für Allgemeine Rhetorik in Europa immer noch einzigartig, trotz vielfacher Beteuerungen, wie wichtig diese sei. Im akademischen Kontext jedoch findet das Fach nicht leicht seinen Platz zwischen den Philologien, die sie einst suspendiert haben. Die Wiedergeburt wird denn auch nicht durch das historische Interesse eingeleitet (das nicht nur Barthes angeregt hat, sondern auch eine internationale Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Rhetorik [ISHRh], die auch ein eigenes Organ zur Publikation unterhält); ausschlaggebend scheint vielmehr die Umstellung auf das Bachelor-/Master-Studienprogramm, in dessen Verlauf berufliche Schlüsselqualifikationen erworben werden sollen. Dazu zählt auch und gerade, wie die vielen Rhetoriktrainer beweisen, rhetorische Kompetenz, die nach Anwendungsgebieten differenziert wird: Verhandlungsrhetorik, Gesprächsrhetorik, Verkaufsrhetorik sollen die jeweils als erforderlich erachteten Kompetenzen sicherstellen. Auf unteren Ebenen gibt man den Schülern nur mehr Textbausteine an die Hand, die es ihnen erlauben sollen, in Standardsituationen kontrolliert zu reagieren; für das höhere Management wird Einzelunterricht mit
21. Rhetorik Coaches angeboten, der eine umfassende Veränderung der gesamten Persönlichkeit verspricht (Kirchner 2007). Stand in der Antike ein strenger Drill auf dem Programm der Schüler, der sicherstellen sollte, dass nach einem klassischen Stilcode gesprochen würde, so stehen heute gerade persönlichkeitsbildende Maßnahmen im Vordergrund. Rhetorische Kompetenz ist Ausdruck einer Persönlichkeit, die rhetorisch sich selbst ausagieren soll. Das geht deutlich über klassische Oratorkonzepte hinaus, in denen technische Fertigkeiten den Redner ausmachen. Natürlich bleibt die Frage, wie Persönlichkeitsbildung empirisch nachgewiesen werden kann und welche psychologisch-therapeutischen Kompetenzen beim Lehrer vorausgesetzt werden. Andererseits haben wir viele Berichte aus der Antike, in denen psychisch induzierte Sprechblockaden eine Oratorkarriere jäh beendeten. Während man dies in der Antike durch äußere Faktoren und Einwirkungen erklärte, setzt die Moderne beim Individuum an, das selbst, oder zumindest sein rhetorisches Handeln, zu optimieren ist. Schließlich zeigt auch die moderne Argumentationstheorie ein breites Interesse an Rhetorik. Seit Perelman (Perelman und Olbrechts-Tyteca 1958) das Reich der Rhetorik als Argumentationstheorie entdeckte, spielt die Topik in Jurisprudenz und philosophischer Logik eine herausragende Rolle, insbesondere für die Frage, wie Handlungsoptionen unter Bedingungen von Kontingenz und Wissensdefizit vernünftig begründbar sind (siehe Abschnitt 5.1). Dazu greift Perelman eine alte Unterscheidung auf, die seit den Anfängen rhetoriktheoretisch diskutiert worden war: nämlich die zwischen Überzeugen und Überreden. Diese Formen rhetorischen Handelns vollziehen sich vor unterschiedlichen Publika: den partikularen, die nur mit den für sie spezifischen Argumenten und Codes überredet werden können, und dem „universalen Publikum“, das durch allgemein vernünftige Argumente, ohne partikulare Interessen, überzeugt wird. Nun ist aber das universale Publikum empirisch nicht erreichbar. Dennoch hat diese Begriffsfiktion eine prozedurale Funktion, indem sie die stückweise Annäherung des partikularen Publikums an das universale anleitet. Als eine solche Instanz kann sie sogar beim Selbstgespräch fungieren, indem man vor dem Richtstuhl der Vernunft seine eigenen Motive erwägt (vgl. Abschnitt 1.3). Perelman hat damit eine Antwort auf die Frage moderner Begründungsformen versucht. Sie wäre zwischen dem Universalismus Kants einerseits und dem Modell materialer Wertethik des Aristoteles andererseits anzusetzen. An die Stelle einer rigorosen Pflichtethik träte so eine Reflexion über die möglichen Gewinne, die freilich im Rahmen einer prozeduralen Diskursethik zu finden sind. Metaphysische Kategorien wie etwa das „gute Leben“ können somit unberücksichtigt bleiben, weil sich im besten Fall das Gute aus einer zunehmend vernünftiger werdenden Argumentation ergibt (Annäherungsmoment). Darin ist die Theorie mit der Diskurstheorie von Habermas vergleichbar, denn vor dem universalen Publikum wird die Überzeugung allein mit Argumenten einer Vernunft möglich, die sich nur auf die allgemeinen Interessen richtet. Für die Belange und Bedürfnisse der modernen Gesellschaft zeigt sich hierin, dass die einst von der Philosophie bekämpfte und totgesagte Rhetorik sich als vernünftige Konsensstrategie empfiehlt, um gesellschaftliche Interessen in einen Ausgleich zu bringen.
8. Literatur (in Auswahl) Aristoteles 1956 ff.
Werke in deutscher Übersetzung, begr. v. Ernst Grumach, fortgef. v. Hellmut Flashar, hg. v. Christof Rapp. Berlin: Akademie.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Ax, Wolfram 2000 Lexis und Logos. Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik. Stuttgart: Steiner. Barthes, Roland 1988 Die alte Rhetorik. In: ders. (Hg.), Das semiologische Abenteuer, 15−101. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Barwick, Klaus 1963 Das rednerische Bildungsideal Ciceros. (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse 54[3].) Berlin: Akademie. Blumenberg, Hans 1981 Anthropologische Annäherung an die Rhetorik. In: ders. (Hg.), Wirklichkeiten, in denen wir leben, 104−136. Stuttgart: Reclam. Buchheim, Thomas 1986 Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg: Meiner. Cicero 1986 De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln. Kommentar u. Übersetzung v. Heinz Gunermann. Stuttgart: Reclam. Cicero 1998 Über die Auffindung des Stoffes/Über die beste Gattung von Rednern. (Sammlung Tusculum.) Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler. Cicero 1997 De Oratore/Über den Redner. Lateinisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Harald Merklin. 3., erw. Aufl. Stuttgart: Reclam. Diels, Hermann 1952 Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch u. Deutsch v. dems., hg. v. Walther Kranz. 3 Bde. 6. Aufl. Berlin: Weidmann [= Diels/Kranz]. Dihle, Albrecht 1992 Attizismus. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1, 1163− 1176. Tübingen: Niemeyer. Dockhorn, Klaus 1966 Rezension von H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1960). In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 218, 169−206. Gadamer, Hans-Georg 1960 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr. Habermas, Jürgen 1981 Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hesiod 1999 Theogonie. Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam. Kirchner, Alexander 2007 Rhetorik, angewandte. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 8, 1−15. Tübingen: Niemeyer. Knape, Joachim 2000 Was ist Rhetorik? Stuttgart: Reclam. Knape, Joachim (Hg.) 2009 Rhetorik im Gespräch. Ergänzt um Beiträge zum Tübinger Courtshiprhetorik-Projekt. Berlin: Weidler. Lausberg, Heinrich [1960] 1990 Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. 3. Aufl. München: Hueber. Lohmann, Dieter 1970 Die Komposition der Reden in der Ilias. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 6.) Berlin: de Gruyter.
21. Rhetorik Müller, Wolfgang G. 2009 Epochenstil/Zeitstil. In: Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 2, 1425−1444. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.2.) Berlin: de Gruyter. Perelman, Chaim und Lucie Olbrechts-Tyteca 1958 Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique. Paris: Presses Universitaires de France [dt. 2004: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren, hg. v. Josef Kopperschmidt. Stuttgart: Frommann-Holzboog]. Platon 1990 Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, übers. v. Friedrich Schleiermacher, hg. v. Gunther Eigler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Quintilian 1988 Marcus Fabius Quintilianus. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. 2 Bd., hg. und übers. von Helmut Rahn. 2., durchges. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Rabe, Hugo 1931 Prolegomenon sylloge. Accedit maximi libellus de obiectionibus insolubilibus. Leipzig: Teubner. Schindel, Ulrich 1992 Ursprung und Grundlegung der Rhetorik in der Antike. In: Carl J. Classen und HeinzJoachim Müllenbrock (Hg.), Die Macht des Wortes. Aspekte der Rhetorikforschung, 9− 27. (Ars rhetorica 4.) Marburg: Hitzeroth. Schirren, Thomas 2000 Campus oratorum, vatum nemora. Apers und Maternus’ Kontroverse im Dialogus de oratoribus im Lichte einer Topographie der eloquentia. In: Christoff Neumeister und Wolf Raeck (Hg.), Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen. Kolloquium Frankfurt a. M. 14.−16. 10. 1998, 227−248. Möhnesee: Bibliopolis. Schirren, Thomas 2008 Hermeneutik und Rhetorik: Man kann über alles reden, und alles, was einer sagt, sollte man verstehen. In: Joachim Knape, Olaf Kramer und Peter Weit (Hg.), „Und es trieb die Rede mich an …“. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding, 243−268. Tübingen: Niemeyer. Schirren, Thomas 2009a Sophistik und Philologie. Hat das Subversive auch Methode? In: Jürgen P. Schwindt (Hg.), Was ist eine philologische Frage?, 112−136. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1943.) Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schirren, Thomas 2009b Redesachverhaltsfeststellung (Statuslehre). In: Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 1, 610−620. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.1.) Berlin: de Gruyter. Schirren, Thomas 2009c Niveau der Textgestaltung (Dreistillehre/genera dicendi). In: Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 2, 1425−1444. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.2.) Berlin: de Gruyter. Schirren, Thomas 2009d Figuren im Rahmen der klassischen Rhetorik. In: Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 2, 1459−1485. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.2.) Berlin: de Gruyter.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Schirren, Thomas 2009e Tropen im Rahmen der klassischen Rhetorik. In: Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 2, 1485−1498. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.2.) Berlin: de Gruyter. Schirren, Thomas 2015 Texttheorie. In: Rüdiger Zymner (Hg.), Handbuch Literarische Rhetorik, 399−432. (Handbücher Rhetorik 5.) Berlin: de Gruyter. Schirren, Thomas und Thomas Zinsmaier (Hg.) 2003 Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch/Deutsch. Stuttgart: Reclam. Schöpsdau, Klaus 1969 Antike Vorstellungen von der Geschichte der griechischen Rhetorik. Dissertation Saarbrücken. Solmsen, Friedrich 1932 Drei Rekonstruktionen zur antiken Rhetorik und Poetik. In: Hermes 67, 133−154.
Thomas Schirren, Salzburg (Österreich)
22. Hermeneutik 1. 2. 3. 4.
Hermeneutik Hermeneutik Hermeneutik Hermeneutik
als als als als
kulturelles Phänomen Mantik Auslegungskunst Wissenschaft
5. Hermeneutik als Humanisierung der Wissenschaft 6. Hermeneutik als Weltaneignung 7. Literatur (in Auswahl)
1. Hermeneutik als kulturelles Phänomen Insofern es Hermeneutik mit dem menschlichen Verstehen und seinen Schwierigkeiten zu tun hat, scheint sie eine Disziplin zu sein, die es im Grunde zu jeder Zeit und überall schon gegeben haben müsste. Dem gegenüber steht die Einsicht, dass Hermeneutik als eine Antwort auf die spezifisch abendländische Kulturentwicklung verstanden werden muss, die im Griechenland der Antike ihren Ursprung hat in Form einer Auslegungskunst und ihre volle Entfaltung als philosophische Disziplin erst in der Neuzeit, besonders seit dem frühen 19. Jahrhundert, bekommen konnte. Motiviert ist das Auftreten der Hermeneutik im Wesentlichen durch drei Faktoren der Kulturentwicklung: die Verschriftlichung von Sprache, ihre analytische Durchdringung und ihre Rolle bei der Fixierung gesellschaftlicher Normen. Hinsichtlich dieser drei Aspekte wird Sprache zum einen auffällig, insofern sie als ein Medium wahrgenommen wird, das vom Autor einer Aussage prinzipiell ablösbar ist und deshalb auf sich allein gestellt erscheint, wenn es darum geht, vom Autor Gemeintes angemessen verständlich zu machen. So stellt Sokrates in Platons Phaidros fest, verschriftlichte Rede könne sich „nicht selbst helfen“ (Platon 1997: 275e). Neben der medialen Eigenständigkeit von Sprache wird zum anderen zum Problem, dass das Medium zugleich in seiner technischen und logischen Anlage wahrgenommen wird
22. Hermeneutik und jene technisch-logische Durchdringung der Sprache auch die Möglichkeit ihrer Manipulation eröffnet. Protagoras bringt dies auf die Formel, den „schwächeren Logos zum stärkeren“ (Protagoras 1906) machen. Als Vorwurf formuliert, richtet sich diese Einsicht gegen die besondere Kunst der Sophisten, sich mit dem Einsatz von Rhetorik strategische Vorteile zu verschaffen. Schließlich wird die mediale Eigenständigkeit und technischlogische Manipulierbarkeit zum generellen und allgemein verbindlichen Problem, sobald die in der Sprache festgelegte Kodifizierung von gesellschaftlichen Sachverhalten ihre orientierende und stabilisierende Wirkung einbüßt. Einer notwendig allgemein gehaltenen Formulierung einer Norm können immer sophistische und damit interessierte Ausdeutungen zur Seite gestellt werden. So stellt Platon wiederum fest, die beste Staatsverfassung sei (entgegen moderner Staatsrechtslehren) nicht durch ein möglichst umfangreiches und ausgeklügeltes Korpus von Gesetzen und Verordnungen zu erstellen, sondern durch einen Philosophenkönig, der es versteht, möglichst wenige und allgemein gehaltene Staatsgrundsätze möglichst klug anzuwenden (Platon 1991: 473c−d, 2008: 294a−b).
2. Hermeneutik als Mantik Obwohl die zitierten platonisch-sokratischen Analysen und Konterstrategien schon auf philosophische Konzepte der Hermeneutik vordeuten, bleibt der Wortgebrauch bei Platon wie auch bei Aristoteles noch beschränkt auf klassische und konservative Vorstellungen von Hermeneutik als einer Kunst des Verkündens, Dolmetschens, Erklärens und Auslegens. ἑρμηνεύειν (hermeneúein) meint bei Platon grundsätzlich das, was bei der Befragung eines Orakels geleistet werden muss, insofern aus einer für den profanen Menschen gerade noch unverständlichen Äußerung eine gerade eben einsehbare Botschaft wird. Die hermeneutai im Politikos treten dementsprechend als jene Interpreten auf, die „para theon anthropois“ (Platon 2008: 290c) genannt werden (Schleiermacher übersetzt mit „Dolmetscher“), weil sie ein besseres und geschulteres Sensorium für die göttlichen Wahrheiten haben. Die Volksetymologie zumindest bringt die Wahrsagekunst der Hermeneuten deshalb in Verbindung mit dem Götterboten Hermes, der zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen zu vermitteln hat. „Die Leistung der H. besteht“ dann „grundsätzlich immer darin, einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt‘ in die eigene zu übertragen“ (Gadamer 1974: 1062). Aristoteles schließt an diesen Gedanken an, indem er mit der Hermeneutik eine stark säkularisierte Fassung jener Übertragungsleistung benennt. Περὶ ἑρμηνείας (peri hermeneias) wird gemeinhin mit der „Lehre vom Satz“ übersetzt, und in jener Lehre geht es darum, die logischen und semantischen Voraussetzungen zu benennen, die korrekt formulierte Urteile über Sachverhalte in der Welt möglich machen. Wer solche Sätze formuliert, ist demnach ebenfalls ein Hermeneut, jedoch nicht einer, der Naturphänomene als göttliche Zeichen deutet und als solche in menschliche Sprache übersetzt, sondern physische und kosmische Gegebenheiten faktentreu zur Sprache bringt und damit auf seine Weise Fakten schafft. Hermeneutik ist noch verwandt mit der Mantik, ob sie vom Orakelpriester oder vom Naturkundler betrieben wird, insofern sich beide unvermittelt auf die jeweils zugänglichen Fakten beziehen und verlassen dürfen. Verbunden mit jener kunstlosen Unvermitteltheit der Übertragung ist zugleich die unbedingte Autorität des Dargestellten. Rückfragen, auf die methodisch zu antworten wäre, verbieten sich. Hermeneut wie Hermeneutik erscheinen weisungsgebun-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen den. Die Geltung der Aussage geht auf das Numinose und Unbezweifelbare der Herkunft der Wahrheit zurück, sei es ein Gott oder der Kosmos.
3. Hermeneutik als Auslegungskunst Zu einer echten Kunst wird Hermeneutik jedoch erst, sobald sie der rhetorisch-sophistischen Herausforderung von Sinnentstellung durch kunstvolle Mittel der Sinnermittlung begegnet. Die Kunst, die zur Verstellung geführt hat, soll dabei zugleich die Mittel bereitstellen, jene Verstellung wieder aufzuheben. So wird Hermeneutik als eine Form von reverse engineering konzipiert, die im Prinzip nur den Vorgang des Verfertigens einer Rede umkehrt und damit zurückverfolgt vom fertigen Wort bis zu ihrem ideellen Ursprung. Sobald eine Rede als verselbstständigt, womöglich manipuliert und zuletzt absichtsvoll irreführend erscheint, kann die Hermeneutik zum Antidot werden, insofern man auf den wahren Gedanken des Autors zurückschließt. Platon und Aristoteles gehen noch davon aus, dass es gerade bei den eminenten Texten der Theologie, der Literatur und der Rechtsordnungen keinen einfach dingfest zu machenden Autor gibt. Was der historische Autor sinnstiftender Sätze und Normen tatsächlich im Sinn hatte, ist zumindest zweitrangig gegenüber deren fortlaufender Bewährung und Anpassung in kontingent auftretenden Situationen. Bis heute ist es ein Zug der Rechtshermeneutik geblieben, dass die Anwendung und Auslegung des Rechts immer zugleich auch dessen rechtspositiv anzunehmende Veränderung bedeutet. Demgegenüber hat vor allem die theologische Wende zum Christentum eine passende Lehre hervorgebracht, unter deren Voraussetzung die Hermeneutik zu einer echten Kunst der Rückverfolgung des Sinns zum Ursprungsgedanken werden konnte. Insofern Gott bei Augustinus mit den Attributen der Allmacht, der Allgüte und der Allwissenheit versehen ist, wird es zur Hauptaufgabe der Theologie, in allen Belangen sich nicht nach den äußeren, weltlichen Umständen mehr zu richten zum Verständnis der christlichen Normen und ihrer Weltordnung, sondern sich allein und ausschließlich um das von Gott damit Gemeinte zu kümmern. So bringt Augustinus die Vorstellung von einem „verbum interius“ (Augustinus, De trinitate: Buch XV, 11, 20; 15, 25) ins Spiel, dem es in der Auslegung des geschrieben Wortes nachzuspüren gilt. Text und Sinn verhalten sich wie Körper und Seele. Zum inneren Wort, das sagt, wie Gott es gemeint hat, führt die Auslegung regelgerecht durch die Unterscheidung zwischen wörtlich gemeintem und übertragenem Sinne (vgl. Augustinus, De doctrina christiana: Buch III, 1, 2 ff.). Dogmatisch widerstreitende Stellen der Heiligen Schrift lassen sich so harmonisieren. Letztes Kriterium für das Gelingen der Auslegung ist die Wiedererlangung der Seelenruhe (vgl. Augustinus, Confessiones: 1, 1). Theologische Kontroversen im Anschluss an die Patristik differenzieren das Schema weiter und unterscheiden zuletzt einen vierfachen Schriftsinn (vgl. Cassian 1879: XIV, 8). Zu einer echten Spezialdisziplin des Verstehens, die auch den Namen Hermeneutik in die Geistesgeschichte einführt, wird jene Linie der Auslegungskunst erst im 17. Jahrhundert und damit unter neuzeitlichen Voraussetzungen. Nach dem Vorbild Descartesʼ kommt es darauf an, die Skepsis gegenüber der Textaussage methodisch weiter zu radikalisieren, um im Anschluss daran wieder im auslegenden Subjekt bzw. zuletzt in Gott einen unbezweifelbaren Sinngaranten zu finden. Johann Konrad Dannhauer formuliert
22. Hermeneutik in diesem Sinne 1654 seine Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum. Methodisches Vorbild für die Ursachenforschung ist anders als bei Descartes jedoch nicht die Geometrie, sondern die Physiologie und Medizin. Im Zuge des nachfolgenden Rationalismus überlagert das Interesse an logisch grammatischer Schulung die Ausrichtung auf die Klärung klassischer Heilsfragen. Hermeneutik wird damit zu einer logischen Spezial- und Hilfswissenschaft, die es zur gelegentlichen Klärung dunkler Textstellen heranzuziehen gilt, stilbildend bei Christian Wolff (1740: Teil 3, Abschn. 3, Kap. 6, 7) und Johann Martin Chladenius ([1742] 1969).
4. Hermeneutik als Wissenschaft Der Übergang von der Hermeneutik als einer Kunst der Auslegung zur Wissenschaft und Methodenlehre ist das Ergebnis einer lang anhaltenden Vertrauenskrise. Er dokumentiert den Vertrauensschwund infolge der auslegungstechnischen Bemühungen, von einem Subjekt und Autor der Rede eine letzte Beglaubigung fraglicher Textstellen und -inhalte zu bekommen. Die theologisch inspirierte Textlehre hatte sich auf die Einsicht verlassen, am Anfang stünde das göttliche Wort, die rationalistische Hermeneutik auf einen Anfang aller Sinngebung bei dem menschlichen cogito. Beide Erwartungen werden enttäuscht. Die Oberhand behält Gottes trügerisches Double in Descartes’ malin génie wie auch unter den menschlichen Akteuren Dannhauers maliziöser Sophist (Dannhauer [1656] 2010). Das Barock liebt den Schein. Die andere dann noch verbleibende Option besteht in dem gegebenen Schema der Auslegung in folgender Umstellung: Wenn nicht der Autor die Wahrheit des Textes beglaubigen kann, muss es der Text selbst tun. Anstatt auf eine Umkehrung der rhetorischen Redetechnik setzt die moderne Hermeneutik nun auf das Konzept einer radikalen Selbstauslegung des Textes. Drei Entwicklungsstufen sind hierbei zu durchlaufen. Ein theologisches Vorspiel hat die neue Texthermeneutik in Martin Luther. Der (heilige) Text ist nun „sui ipsius interpres“ (Luther 1897: 97), der Interpret seiner selbst. Möglich wird jene auslegungspraktisch paradoxe Maxime durch eine radikale Rückwendung der Hermeneutik zum Wortsinn und damit durch eine Abwendung von allegorischer Auslegung eines möglichen Hintersinns der Schrift. Der „literalis sensus, der thuts“ (Luther [1919] 1967: 45, Nr. 5285). Das wörtliche Verständnis bedingt den Selbstbezug der Schrift, der Selbstbezug die Unparteilichkeit und neue Verlässlichkeit der Bibelauslegung. Ziel ist eine reflexive Selbstdarstellung der Heilsordnung. Sie wird zur Bedingung der Möglichkeit, sich als Christ in der Welt zurechtzufinden. Die „normative Selbständigkeit der Schrift“ (Dilthey 1969: 119) kann man schließlich aus der Sicht Luthers als eine geistesgeschichtliche Reaktion verstehen, aufseiten der Intellektuellen nicht dem Skeptizismus der Nominalisten nachzugeben, aufseiten der Amtskirche nicht dem Dogmatismus der mit dem Ablass Geschäfte machenden Bibelausleger. In der zweiten Entwicklungsstufe knüpft Immanuel Kant im Namen der Spätaufklärung an jene Rückwendung der Texthermeneutik auf sich selbst an. An die Stelle einer Selbstauslegung der Heiligen Schrift tritt eine ebensolche der weltbezogenen Vernunft und damit des menschlichen Erkenntnisvermögens. Aus der biblischen Welt- und Heilsordnung wird die transzendentale Bedingung der „Möglichkeit von Erkenntnis“ (Kant, KrV: B 80). Strategisch ist auch sie wiederum der Ausweg aus der Alternative von Dogmatismus oder Skeptizis-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen mus, wie es Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft zu verstehen gibt mit Blick auf einen in seinen Augen unlösbaren Streit von Rationalismus und Empirismus im 18. Jahrhundert (Kant, KrV: A X). Auf der dritten Entwicklungsstufe der modernen Texthermeneutik wird diese schließlich mit Hegel historisiert und endgültig zur Wissenschaft erklärt. Es ist nun die Selbstauslegung des „Weltgeistes“, die vom Philosophen so methodisch und damit notwendig nachvollzogen wird, dass sie als begriffliche „Logik“ alles wesentliche Verstehen vorbestimmt. Luther wird für Hegel im Rückblick zur methodischen Zäsur der philosophischen Moderne (vgl. Hegel 1971: 292), das Wechselspiel von Dogmatismus und Skeptizismus zur dialektischen Grundoperation der Geistesgeschichte. Die hermeneutischen Bedingungen dafür, wie es zu jener finalen Selbstreflexion des Weltgeistes kommen konnte, werden als negative wie positive Faktoren ihrer Herausbildung selbst noch Teil eines dialektisch gewendeten Heilsplanes.
5. Hermeneutik als Humanisierung der Wissenschaft Friedrich Schleiermacher gilt in der Philosophiegeschichtsschreibung und besonders in der Selbstbeschreibung der Hermeneutik als der eigentliche Begründer ihres Status als einer philosophischen Disziplin. Erst mit ihm sei die Hermeneutik von einer Hilfswissenschaft zu einer Grundlagenwissenschaft aufgestiegen, erst mit ihm habe sie ihre bloße Einzelfallfunktion überwunden, dunkle Textstellen zu verstehen und zu erklären, und mit ihm habe sie auch ihre ursprünglich praktische Funktion verloren, den dermaßen verbesserten Texten zu Geltung und Wirkung zu verhelfen. Als Grundlagenwissenschaft hat es Hermeneutik nach Schleiermacher erstmals damit zu tun, das Verstehen selbst und seine Bedingungen der Möglichkeit zu thematisieren und zu analysieren (vgl. Gadamer 1974: 1064). Mit zunehmendem Abstand zur Hochzeit der klassisch gewordenen Hermeneutik Gadamers wird jene Rollenzuschreibung jedoch fraglich. Die Wende zur Wissenschaft hat die Hermeneutik offenbar methodisch schon früher genommen, insofern sich der deutsche Idealismus wesentlich umfassender, methodischer und dem eigenen Anspruch nach auch wissenschaftlicher um die Grundvoraussetzungen der menschlichen Erkenntnis gekümmert hat und dabei auf das kritische Vokabular einer möglichst objektiven Selbstauslegung der begrifflichen Schemata zurückgriff. Schleiermacher zum Gründervater der modernen Hermeneutik zu stilisieren, hat offenbar auch damit zu tun, das Nachgeordnete und Reaktive seines Tuns zu verdecken, um auch das Nachgeordnete und Reaktive der klassisch gewordenen Hermeneutik nicht in den Vordergrund zu stellen. Nachgeordnet jedoch erscheint Schleiermachers Initiative aus heutiger Sicht, indem es ihm schon nicht mehr primär um die Konstitutionsbedingungen für Wissenschaft überhaupt ging, sondern bereits um die Rückbindung jener reinen Erkenntnisformen an die Endlichkeit menschlicher Einsicht. Schleiermachers Hermeneutik ist so bereits unter dem Stichwort der Anthropologisierung zu verstehen, die als eine Maßnahme des frühen 19. Jahrhunderts in Form einer Nachbesserung erscheint. In dieser Hinsicht sind die Leistungen der Transzendentalphilosophie und der hegel’schen Logik zwar korrekt und in ihrer nüchternen Vorgehensweise nicht überbietbar, jedoch wird die dort dargestellte Autonomie der begrifflichen Weltcodierung bereits als ein Problem wahrgenommen. Denn die Art und Weise, wie unabhängig von den endlichen menschlichen Bedürfnissen unsere
22. Hermeneutik Weltzugänge und -umgänge sozusagen über unsere Köpfe hinweg strukturiert, organisiert und implementiert werden, erscheint zuletzt als zutiefst inhuman. In dieser Linie lassen sich zumindest kulturkritische Ansätze verstehen, die über Marx, Nietzsche und Heidegger bis Foucault (vgl. Artikel 12) reichen. Dessen strukturalistische Fassung einer Ordnung der Dinge soll deutlich werden lassen, wie der Mensch in der Moderne seine kreativen Anlagen notwendig verliert. Hermeneutik wird zur „Archäologie“, weil schon der Code der eigenen Kultur ebenso fremd geworden ist wie jener längst vergangener Zeiten (Foucault 1969). Gemäß der neuen Maxime einer Humanisierung methodischen Verstehens findet Schleiermacher das Motiv des Endlichen und Kreativen in einem Moment hermeneutischer Begeisterung wieder. Hermeneutik hat es demnach nicht nur mit einer „grammatische[n]“ und „technische[n]“ Analyse zu tun (Schleiermacher 1977: 170), sondern ebenso sehr mit einer „psychologische[n]“ (Schleiermacher 1977: 79), die Ursache für das Poetische bei der Relektüre von Texten und Reden sein soll. Einem frühromantischen Spinozismus verpflichtet, sieht Schleiermacher eine Seelenverwandtschaft am Werk, die es dem Rezipienten erlaubt, eine „subjektiv divinatorisch[e]“ (Schleiermacher 1977: 94) Ahnung zu entwickeln dahingehend, was schon den Autor einstmals inspirierte, um damit zugleich das „Individuelle“ (Schleiermacher 1977: 80) des Verstehens zu fassen, das „nicht dem Kalkül unterworfen“ ist. Jene Einfühlungshermeneutik hat Schleiermacher vonseiten Gadamers den Tadel eingebracht, es handele sich um eine Form von Irrationalismus und Romantik. Freilich erscheint die Begeisterung im Nachfühlen des ursprünglich Gemeinten bei Schleiermacher nur als eine Form, die objektive Fortschreibung der Texte einer von Hegel ausgehenden Konzeption von Wirkungsgeschichte durch eine subjektive Fassung zu ergänzen, die zeigen soll, wie sich die endliche Psyche im anonymen Fortschreiben der Begriffe noch einmal wiederfinden kann. Die berühmte Formel jedenfalls, nach der es gilt, „die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“ (Schleiermacher 1977: 94), nimmt im Grunde nur eine kantische Einsicht der Transzendentalphilosophie auf (vgl. Kant, KrV: A 314/B370) und wendet sie noch einmal ins menschlich Einleuchtende und poetisch Nachvollziehbare. Im weiteren Verlauf einer Hermeneutik, verstanden als der Versuch einer Humanisierung der Wissenschaft, können zwei Phasen unterschieden werden. In der ersten Periode erscheinen die hermeneutischen Nachbesserungen noch als mehr oder weniger äußere Zutaten, die, würde man im Jargon der philosophy of mind sagen, auf der Privatheit der 1.-Person-Erlebnisse bestehen gegenüber den objektiven Einstellungen der 3. Person. Dilthey geht so vor, indem er in der Beschreibung einzelpsychologischer Tatsachen, später Erlebnisse, zugleich eine Alternative zu den exakten Wissenschaften sieht und hebt damit das Konzept der modernen Geisteswissenschaften aus der Taufe (Dilthey 1982). August Boeckh hatte parallel dazu für die Philologie, Gustav Droysen und Jakob Burckhardt für die Geschichtsschreibung, Vorstellungen des sich Hineinversetzens in den Geist vergangener Zeiten methodisch stark gemacht. Die Lebensphilosophie nimmt mit Hans Lipps und Georg Misch den Faden im 20. Jahrhundert wieder auf und geht davon aus, dass die kreative Dynamik in allen Lebensprodukten Anlass geben kann für ein tieferes Einverständnis der Kulturagenten über Räume und Epochen hinweg. In einer zweiten Periode, die nach dem 1. Weltkrieg mit Martin Heidegger beginnt, erscheinen jene Versuche eines langen 19. Jahrhunderts als hoffnungslos ungenügend, insofern der objektive Gang der Wissenschaften (nun auch technikkritisch) vernichtend erscheint und dessen nur subjektive Spiegelung in den Geisteswissenschaften als voll-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen kommen ungenügend. Heideggers Konzept einer „Fundamentalontologie“ gibt dies zu verstehen, insofern nun vonseiten der Geisteswissenschaft den exakten Wissenschaften kein Beiwerk mehr, sondern ein Fundament geliefert werden soll. Demnach muss vor aller wissenschaftlichen Betrachtung ein Horizont lebensweltlicher Bedeutung aufgespannt werden, in dem es bereits mit den Dingen zunächst und zumeist eine „Bewandtnis“ hat. Jene Bewandtnis, die derart den wissenschaftlich-technischen Schematisierungen vorangeht, wird für den Heidegger von Sein und Zeit noch gestiftet durch einen „Entwurf“ der Existenz (Heidegger 1984: 260 ff.), später ergänzt von einem dazu passenden metaphysischen „Ereignis“ (vgl. Heidegger 1989). Ihre wechselseitige Ergänzung führt zu einem „Zirkel“ des Verstehens (Heidegger 1984: 314, vgl. auch §§ 4, 7), in dessen epochaler Ausformulierung sich das Sein der Dinge mit der Zeit wesentlich verändert. Nach Heideggers Kehre ist der hermeneutische Verstehenszirkel nicht mehr im Zusammenspiel subjektiver Faktoren wiederzufinden, sondern nur noch in einer „Lichtung“ des Seins und seines Verständnisses aus sich selbst heraus. Kunsterfahrung öffnet die dazu passenden Horizonte des Verstehens. Die Heidegger-Nachfolge nach dem 2. Weltkrieg gibt sich in ihrem kulturkritischen Anspruch bescheidener. Gadamer geht zwar weiter von der Kunsterfahrung als Paradigma der Hermeneutik aus, nimmt die mit ihr verbundene Aussicht auf eine alternative Weltsicht aber entschieden zurück. Hermeneutische Wahrheit darf nicht in Generalopposition zur Welt der Technik und Wissenschaft wie ihrer Methoden veranlagt werden. Der Zirkel des Verstehens ist für Gadamer dementsprechend weiter zu fassen. Er darf nicht mehr nur einem metaphysischen Ereignis immanent gedacht werden, sondern muss sich öffnen zu einer Wechselbeziehung zwischen methodischer Verstellung und wahrheitsmäßiger Durchdringung. Wahrheit und Methode von 1960 schafft in den Augen Gadamers jene Verbindung, als deren Produkt und Kernkonzept zugleich die „Wirkungsgeschichte“ gilt. Sie entsteht entlang einer fortlaufenden Auslegungsgeschichte im nachvollziehbaren Wechsel von dogmatischer Fixierung und kritischer Aneignung des eigentlichen Textsinnes. Während die rechtsrheinische Hermeneutik jenes Methodenkonzept seit den 1970erJahren weiter ausdifferenziert und auf Konsolidierung dringt − im Sinne einer literarischen Rezeptionshermeneutik (Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser), einer politischen Theorie (Rüdiger Bubner) −, zielt die linksrheinische Hermeneutik weiter im Sinne Heideggers, Freuds und Nietzsches darauf, die subversiven Potenzen unserer Lektürepraxen methodisch stark zu machen. Jacques Derridas Grammatologie versteht sich demnach als eine Anleitung, die Grammatik des Strukturalismus von innen her aufzubrechen. Hermeneutik wird hierbei verstanden im Sinne einer „Hermeneutik des Verdachts“, wie Ricœur es wendet. Sie ist als solche eine Kunst fortgesetzter Verunsicherung, die das Verstörende und Mehrdeutige in jeder grammatischen und semantischen Präzision zum Vorschein bringt, paradoxerweise immer dort beständig, wo die sprachliche Vereindeutigung unüberbietbar scheint. Eine erstaunliche Karriere hat die nach diesem Prinzip vorgehende Dekonstruktion in den Jahrzehnten des ausgehenden 20. Jahrhunderts in den literature departments Amerikas gefunden, wo sie als eine skeptische Fortsetzung und Vertiefung des close reading der 1930er-Jahre rezipiert wurde.
22. Hermeneutik
6. Hermeneutik als Weltaneignung Einen (vorerst) letzten Entwicklungsschritt hat die Hermeneutik zu gehen, wenn schließlich das Selbstverständnis der Hermeneutik als einer Nachhut des Humanismus in der Spätmoderne so nicht mehr haltbar ist. Voraussetzung für jenen Sinneswandel ist es, dass die klassisch gewordene Opposition zu einer durchtechnisierten und wissenschaftlich schematisierten Welt infrage gestellt wird. Dies geschieht zum einen durch Evidenzen, die die Hermeneutik in dem vergangenen halben Jahrhundert selbst hervorgebracht hat. So haben sich die philosophischen Konzepte der Moderne in der Herausforderung durch eine historisierende Begriffsgeschichte und anarchische Dekonstruktion als weit flexibler erwiesen, als es die Vorstellung unbeugsamer Diskursmächte und Dispositive zulassen dürfte. Auch kann der Erfolg gesellschaftlicher Konzepte zu denken geben, die wie Habermasʼ herrschaftsfreie Diskurse ursprünglich nur an den Rändern von Wirtschaft und Verwaltung wirken konnten, nach einem jahrzehntelangen Gang durch die Institutionen jedoch inzwischen im Zentrum politischer Macht angekommen sind. Die Ausgangssituation der 1960er-Jahre, in denen die aufkommenden Maschinencodes nach dem Muster der Lochstreifen noch menschliche Kommunikation und Kooperation im Sinne zunehmender Automatisierung bedrohten und verzerrten, darf jedenfalls als überwunden gelten. Es hat dazuhin den Anschein, als würde der hermeneutischen Sinnkritik nicht nur nachgegeben, sondern von wissenschaftlich-technischer Seite auch entgegengearbeitet. Seitdem die Vorstellung allseitiger Vernetzung ganz offenbar zur Leitmetapher des frühen 21. Jahrhunderts geworden ist, erscheinen die technisch bedingten Barrieren, die bisher zwangsläufig zu einseitiger Kommunikation führten, prinzipiell ebenso überwindbar wie die Blockaden, die sich dem Denken selbst in seiner Analogie zu den Computern und Rechenmaschinen ergeben hatten. Mit solcherlei Evidenzen im geistesgeschichtlichen Rücken hat der späte Paul Ricœur ein neues Zutrauen zu Formen der Narration gefunden, die in der Lage sind, zumindest unsere Erzählsprache als in der Lebenswelt fest verankert zu denken (vgl. Ricœur 1988−1991); Jean Grondin zielt seinerseits auf eine Wendung der Hermeneutik zur Objektivität, insofern sie ihre Grundüberzeugungen bis in die Sphären der Theologie hinein wieder affirmieren kann (Grondin 2009). Methodisch scheinen jene Tendenzen der Gegenwart darauf hinauszulaufen, sich künftig weniger an den Verzerrungen sprachlichen Sinns im Medium technischer Formen der Codierung zu stoßen und im Sinne einer Wirkungsgeschichte vergangene Defizite nachträglich aufzuarbeiten. Vielmehr erscheint die Hermeneutik in der aussichtsreichen Lage, das Verstehen in seinen lebenspraktischen Formen ernster als bisher zu nehmen. Sie wird so zur Grundlage einer Gesprächskultur, deren mögliches Gelingen die größere Beachtung gegenüber den Möglichkeiten ihres technischen Scheiterns findet. Die Zukunft der Hermeneutik hat so womöglich mit einer Hermeneutik der Zukunft zu tun (Gessmann 2012).
7. Literatur (in Auswahl) Augustinus 1888 Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus (Confessiones). Übers., eingel. und mit Anmerkungen vers. v. Otto F. Lachmann. Leipzig: Reclam [zitiert als Confessiones].
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Augustinus 2002 Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übers., Anm. u. Nachw.: Karla Pollmann. Stuttgart: Reclam [zitiert als De doctrina christiana]. Augustinus 2003 De trinitate. Lateinisch − deutsch. Neu übers. u. m. e. Einl. hg. v. Johann Kreuzer. Hamburg: Felix Meiner [zitiert als De trinitate]. Boeckh, August 1828−1843 Corpus inscriptionum graecarum. 2 Bde. Berlin: Reimer. Burckhardt, Jacob 1860 Die Cultur der Renaissance in Italien. Basel: Schweighauser. Cassianus, Johannes 1879 Sämtliche Schriften des ehrwürdigen Johannes Cassianus aus dem Urtexte übersetzt. 1. Bd.: Vierundzwanzig Unterredungen mit den Vätern − Collationes patrum. Kempten: Kösel. Chladenius, Johann Martin [1742] 1969 Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Photomech. Nachdr. d. Ausg. Leipzig. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen. Dannhauer, Johann Konrad 1654 Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum. Straßburg: Staedelius. Dannhauer, Johann Konrad [1656] 2010 Idea boni Disputatoris et malitiosi Sophistae, hg. v. Walter Sparn. Unter Mitw. v. Heiner Kücherer, Stephan Meier-Oeser und Markus Matthias. Hildesheim/Zürich/New York: Olms-Weidmann. Dilthey, Wilhelm 1970 Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. 9. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dilthey, Wilhelm 1982 Gesammelte Schriften, hg. v. Helmut Johach und Frithjof Rodi. Bd. 19: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Droysen, Johann Gustav 1875 Grundriß der Historik. 2. Aufl. Leipzig: Veit. Foucault, Michel 1966 Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard [deutsch 1974: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp]. Foucault, Michel 1969 L’Archéologie du savoir. Paris: Gallimard. Gadamer, Hans-Georg 1960 Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr. Gadamer, Hans-Georg 1974 Hermeneutik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karl Gründer und Gottfried Gabriel. Bd. 3. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gessmann, Martin 2012 Zur Zukunft der Hermeneutik. Paderborn/München: Fink. Grondin, Jean 2009 Hermeneutik. Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1971 Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heidegger, Martin 1984 Sein und Zeit. 15. Aufl. Tübingen: Niemeyer.
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Heidegger, Martin 1989 Gesamtausgabe, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Bd. 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Iser, Wolfgang 1976 Der Akt des Lesens − Theorie ästhetischer Wirkung. Paderborn/München: Fink. Jauß, Hans Robert 1991 Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel 1971 Kritik der reinen Vernunft. Nach der 1. und 2. Orig.-Ausg. neu hrsg. von Raymund Schmidt. Nachdr. der 2., durchges., um ein Namensreg. verm. Aufl. Hamburg: Meiner [zitiert als KrV]. Lipps, Hans 1936 Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. Frankfurt a. M.: Klostermann. Luther, Martin 1897 Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abteilung 1, Bd. 7. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger. Luther, Martin [1919] 1967 Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abteilung 2: Tischreden, Bd. 5. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger. Misch, Georg 1931 Lebensphilosophie und Phänomenologie. Bonn: Teubner. Platon 1991 Politeia/Der Staat, hg. v. Karl Vretska. Stuttgart: Philipp Reclam. Platon 1997 Phaidros. Übers. und Komm. v. Ernst Heitsch. 2., erw. Aufl. [Werke 3,4.] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Platon 2008 Politikos. Übers. und Komm. v. Friedo Ricken. [Werke 2,4.] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Protagoras 1906 Fragment 80B 6. In: Hermann Diels und Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Bd. 2. Berlin: Weidmann. Ricœur, Paul 1988−1991 Zeit und Erzählung. 3 Bde. München: Fink [Orig. 1983−1985: Temps et récit I− III. Paris: Éditions du Seuil]. Schleiermacher, Friedrich 1977 Hermeneutik und Kritik, hg. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wolff, Christian 1740 Philosophia rationalis, sive logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. 3. Aufl. Frankfurt a. M./Leipzig: Officina Libraria Rengeriana.
Martin Gessmann, Offenbach (Deutschland)
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
23. Theaterwissenschaft 1. Fachgeschichte 2. Die gegenwärtige Theaterwissenschaft − ein Fach im Umbruch
3. Sprachwissenschaftliche Fragestellungen in der Theaterwissenschaft 4. Literatur (in Auswahl)
1. Fachgeschichte Seit Platon und Aristoteles gibt es ein Nachdenken der Theorie über das Theater. Doch erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert sich Theaterwissenschaft als eine eigenständige Disziplin an der Universität. Diese grenzt sich im deutschsprachigen Bereich zunächst von der von Dilthey geprägten Literaturwissenschaft, aus der sie hervorgeht, durch die Begrenzung ihres Forschungsinteresses auf Theaterpublikum, Bühne, Schauspielkunst und künstlerische Leitung oder allgemeiner gesprochen: den Gegenstand der „Aufführung“ ab (vgl. Herrmann 1914: 3 f.). Sie korrespondiert dabei der gleichzeitigen Herausbildung von Theater als einer Kunst sui generis in den Theateravantgarden um 1900, speziell bei Max Reinhardt (Fischer-Lichte 1994: 15−17, 2010: 16−19). Nach einer ersten Phase, die speziell durch die Arbeiten des Germanisten Max Herrmann, des 1942 in Theresienstadt ermordeten Gründervaters der Disziplin im deutschsprachigen Raum, geprägt ist (vgl. Corssen 1997; Klier 1981), entwickelt sich das Fach, in dem erst in den 1930er-Jahren ordentliche Professuren geschaffen werden, bis Ende der 60er-Jahre vor allem als ein historisch und philologisch-hermeneutisch geprägtes, dessen Interesse in erster Linie einer überwiegend anekdotisch angelegten Geschichtsschreibung und einer geschmäcklerischen Kritik des Theaters gilt. Einer mit Ablösung der in den 30er- und 40er-Jahren auf ihre Lehrstühle gelangten Gründergeneration verbundenen Neuausrichtung des Faches seit den frühen 1970er-Jahren zum Trotz gehörte es noch bis in die späten 1980er-Jahre zu seiner Selbstbeschreibung, dass eine den Nachbardisziplinen vergleichbare „Selbstreflexion“ in ihm noch nicht wirklich stattgefunden habe, ja, dass es selbst Minimalanforderungen der Wissenschaftstheorie wie derjenigen, dass ein Gegenstandsbereich zu definieren sei, nicht genüge (vgl. Lehmann 1989: 29). Aus der in den 70er-Jahren einsetzenden Methodendiskussion in den Geisteswissenschaften heraus entwickelt sich allerdings auch in der Theaterwissenschaft eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Faches. Es erlebt im deutschsprachigen Bereich einen wahren Boom, der sich in der Gründung einer eigenen Fachgesellschaft, in der Ausweitung der Angebote an den Universitäten im deutschsprachigen Raum und speziell in der erheblichen Förderung durch umfangreiche Mittel aus öffentlicher Hand niederschlägt, die vor allem in die Erforschung der „Theatralität“ und der „Performativität“ bzw. des „Performativen“ fließen, damit aber in Bereiche, die den Theaterbegriff in Richtung auf cultural performance (Singer 1959) bzw. performance studies (Schechner 2003) verschieben. Die damit verbundene Entgrenzung des Faches zu einem interdisziplinären „Forschungsfeld“ (Fischer-Lichte 2014: 376), das heute neben dem traditionellen Bereich der Kunstwissenschaft auch einen eher kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich, ethnoszenologische (Pavis 1996a: 126) und medienwissenschaftliche (Schoenemakers et al. 2008) Fragestellungen sowie anwendungsbezogene, den Bereich von Theorie und Praxis verbindende Ansätze umfasst, geht allerdings nur bedingt mit
23. Theaterwissenschaft einer Klärung der eigenen epistemischen Voraussetzungen einher. Nicht von ungefähr diskutierte deshalb ein ganzer Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft im Jahr 2013 unter dem Thema der „Episteme des Theaters“, was überhaupt die Gegenstände und Grundlagen des Faches sein könnten (Haß 2014: 3−8). Unter einer pragmatischen Perspektive betrachtet, wird unter Theaterwissenschaft heute die Beschäftigung mit Geschichte und Theorie des Theaters sowie mit der Analyse von Inszenierungen oder Aufführungen (Balme 2014: 8) begriffen, und zwar in einer methodisch strukturierten Form. Dabei ist die gegenwärtige Fachdiskussion von der hinter ihr liegenden umfangreichen Methodendiskussion der 1970er- und 1980er-Jahre geprägt: Damals hielten zum einen Methoden und Fragestellungen Einzug in das Fach, wie sie speziell in Frankreich, den Vereinigten Staaten und in der Tschechoslowakei in Semiologie, Semiotik und Strukturalismus entwickelt worden waren, d. h. Fragen nach den oberflächlichen Manifestationen unterliegenden Tiefenstrukturen und Systemen (Fischer-Lichte 1983; Pavis 1996b). Zum anderen wurden anthropologische (Schechner 1990), soziologische und phänomenologische Herangehensweisen sowie medientechnologische Fragestellungen in das Fach integriert. Texte, Inszenierungen und Aufführungen wurden − sei es wissentlich, sei es unwissentlich − unter hermeneutischen, dramaturgischen und semiologischen Aspekten als gleichermaßen prinzipiell les- und beschreibbare, in letzter Instanz intentionale und souveräne Gestaltungen betrachtet und von ihrer Produktions-, Rezeptions- oder Kommunikationsseite her analysiert.
2. Die gegenwärtige Theaterwissenschaft − ein Fach im Umbruch Dagegen ist die heutige Forschungsdiskussion in allen Teilbereichen maßgeblich durch Fragestellungen geprägt, die sich aus den Aporien und Paradoxien der früheren systematischen Versuche ergeben haben. So hat sich die Theatergeschichtsschreibung hin auf eine Theaterhistoriographie verschoben, die über ihren geschichtlichen Gegenständen, wie ihr Name es bereits ausdrückt, niemals die Tatsache von deren sprachlicher und kultureller Konstitution und Fundierung vergisst (Hulfeld 2007; Lazardzig, Tkaczyk und Warstat 2012: 5). Die Analyse der Aufführungs- und Inszenierungspraxis reflektiert in neueren Arbeiten ihre eigene Tradition in einer Praxis der literaturtheoretisch begriffenen Lektüre (Müller-Schöll 2009) oder kunstwissenschaftlich fundierten Ekphrasis, der Aufzeichung der Kunst als Kunst der Aufzeichnung, und sensibilisiert sich dabei ebenfalls für die Sprachlichkeit der Konstitution ihres Gegenstandes (Brandstetter 1995; Wortelkamp 2006). Gleichzeitig erscheinen die Gegenstände auf eine in keiner Weise restlos objektivierbare Weise an eine Erfahrung gebunden, in die sich die immaterielle Aufführung übersetzt, um von ihr aus auf Begriffe gebracht zu werden (Lehmann 2014: 20). Eine unter Rückgriff auf ein von Brecht geäußertes Desiderat sich als „angewandte Theaterwissenschaft“ definierende Praxis künstlerischen oder szenischen Forschens verbindet die Theorie des Theaters mit einer in praktischen Übungen sie ergänzenden und revidierenden Praxis, der dabei ein prinzipielles Einspruchsrecht gegen jede Methode eingeräumt wird (Matzke, Weiler und Wortelkamp 2006). Begleitet werden diese Verschiebungen durch übergreifende Untersuchungen auf dem Gebiet der Theatertheorie, die grundlegende Parameter des Theaters betreffen: Der als spatial (Soja 1989) oder besser topographical turn (Weigel 2002) in den Geistes- und Sozialwissenschaften diskutierten
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen neuen Aufmerksamkeit für Raumfragen (Dünne und Günzel 2006; Günzel 2007, 2009) korrespondieren in der Theaterwissenschaft Untersuchungen, die den Raum nicht länger als Container, sondern vielmehr als Existential begreifen (Haß 2005; Brandstetter und Wiens 2010; Eke, Haß und Kaldrack 2014), Untersuchungen der Zeit lösen diese aus einem die Zeitwahrnehmung ausblendenden uniformierten Verständnis heraus (Lehmann 1999: 309−361), die jüngere Diskussion der Illusionsbildung begreift Illusion nicht länger als einen in den Oppositionen von Realismus und Verzeichnung oder Fiktion begreifbaren falschen Schein oder Trug, sondern eher im Sinne des frühen Marx als Ideologie oder notwendige Täuschung (Müller-Schöll 2007: 152). Im Einklang mit neueren philosophischen Ansätzen (Butler 2007; Nancy 2007) wird der Körper in der theatralen Darstellung nicht länger instrumentell begriffen (Heeg 2007) und die Rolle des Zuschauers als eine historisch wandelbare betrachtet, als Episteme, die sich in der heute noch geläufigen Form Ende des 18. Jahrhunderts herausbildet, um im Verlauf des 20. Jahrhunderts in eine Krise zu geraten (Rancière 2008; Müller-Schöll 2009; Kammerer 2012). Technik wird mit Heidegger, Kittler, Ronell und anderen (Heidegger 1962; Kittler 1987; Ronell 1989) nicht länger als äußerliche Voraussetzung des theatralen Ereignisses angesehen, sondern als dessen kooriginale oder primordiale Veränderung (Schramm et al. 2003; Schramm, Schwarte und Lazardzig 2008). Untersuchungen des Probenprozesses legen neue Praktiken der Gemeinschaftsbildung im und durch Theater frei (Hinz und Roselt 2011; Matzke 2012), mit Blick auf die französische Unterscheidung von le und la politique (das Politische und die Politik) wird das Verhältnis von Theater und Politik radikal neu bestimmt (Lehmann 2002; Müller-Schöll und Gerstmeier 2006; Deck und Sieburg 2011; Müller-Schöll et al. 2012). Erweitert wird die überkommene Theaterwissenschaft darüber hinaus durch eine zunehmende Ausdehnung in Richtung auf eine vergleichende Theaterwissenschaft, die das lange Zeit − und sei es unreflektiert − als Maßstab genommene abendländisch-europäische Theater in den Kontext anderer Kulturbereiche rückt und die vielfältigen Ausprägungen theatraler Praxis in Bereichen wie Musiktheater, Tanz, Performancekunst, Happening sowie Figuren- und Puppentheater in ihre Untersuchungen mit einbezieht, sowie in Richtung auf eine allgemeine Theaterwissenschaft, die sich den mit Theater verbundenen grundlegenden (und zum Teil die Grundlagen erschütternden) philosophischen Fragen zuwendet. Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen der Fachdiskussionen, die ihrerseits nicht zuletzt mit grundlegenden Veränderungen dessen, wie Theater überhaupt begriffen wird, einhergegangen sind, soll nun versucht werden, das Verhältnis von Theater und Sprache in der gegenwärtigen Theaterforschung genauer in den Blick zu nehmen.
3. Sprachwissenschaftliche Fragestellungen in der Theaterwissenschaft Mit Blick auf die neueren Entwicklungen des Faches zu einer Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft nimmt die Reflexion der von der Sprachwissenschaft entwickelten Einsichten, die im Allgemeinen leicht missverständlich unter dem Begriff eines linguistic turns (Rorty 1992) diskutiert werden, eine zentrale Rolle ein. Theater, so könnte man sie, zunächst grob verkürzt, formulieren, ist uns nur vermittelt durch ein Medium, durch Sprache, zugänglich. Dieser Einsicht korrespondiert nun allerdings in
23. Theaterwissenschaft der neueren Theaterwissenschaft eine zweite, auf die speziell die Erforschung der „theatricality“ oder „théatralité“ in den USA (Weber 2004) und Frankreich (Derrida 1988a, 1988b, 1989) neue Aufmerksamkeit gelenkt haben: Das sprachliche Medium ist nicht im Sinne eines Instruments, mit dem etwas gesagt werden kann, zu begreifen, und auch nicht als „begreifbarer Gegenstand“, sondern viel eher „als ein höchst problematischer Vorgang, in den wir verstrickt, ja eingeschrieben sind“ (Lacoue-Labarthe, Nancy und Weber 1980: 234). Was hierbei als „Verstrickung“ bezeichnet wird, kann aber auch mit Derrida, Nancy und Lacoue-Labarthe als Architheatralität, Dialogizität (Lacoue-Labarthe und Nancy 2006) oder schlichter als das anfängliche unhintergehbare Theater in jeder sprachlich verfassten Äußerung bezeichnet werden: Diese findet sich von Beginn an in einer ihr gleichursprünglichen, zeiträumlichen und materialen Anordnung vor, die sie zugleich verändert, wie sie auch von ihr verändert wird. Sprache und Theater, so könnte man von daher formulieren, lassen sich nur ausgehend von ihrer wechselseitigen Beziehung betrachten: Theater ist nur sprachlich vermittelt zugänglich, Sprache jedoch immer schon theatral konstituiert. Missverständlich kann die Bezeichnung eines linguistic turn für diese Erkenntnis − des Verstricktseins von Sprache in Theater, Theater in Sprache − erscheinen, weil sich bei genauerer Betrachtung speziell literarischer Quellen kaum mehr ausmachen lässt, wann dieser „turn“ denn noch nicht stattgehabt hat. Eher scheint es also, dass in wiederholter Einmaligkeit der mit diesem „turn“ bezeichnete Wechsel in der Perspektive vollzogen und als nicht mehr hintergehbar erkannt wurde: Bei Platon, bei Rousseau, Kant, Hölderlin, Nietzsche, Freud, Benjamin, Heidegger, Blanchot, Levinas und zuletzt vor allem im Umkreis des „Poststrukturalismus“ bzw. der „Dekonstruktion“ Paul de Mans (Man 1983, 1986, 1996) und Jacques Derridas (Derrida 1967, 1989). Exemplarisch für eine auf einer grundlegenden Auseinandersetzung mit Sprache basierenden, wenngleich nur bruchstückhaft als eine solche entwickelte Theatertheorie kann diejenige begriffen werden, die Walter Benjamin, aufbauend auf seiner Auseinandersetzung mit dem barocken Trauerspiel, vor allem in seiner Auseinandersetzung mit der Theaterarbeit Bertolt Brechts Anfang der 30er-Jahre entwickelt hat (Nägele 1001; Müller-Schöll 2002; Weber 2008). Ihre Aktualität wird deutlich, stellt man sie in den Kontext der Überlegungen zu Theater und Philosophie, die sich in Derridas Schriften und Interviews des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts finden (Derrida 2013). „Oberste Aufgabe einer epischen Regie“, so Walter Benjamin in seinem Was ist das epische Theater? übertitelten ersten großen Aufsatz über Brecht, „ist, das Verhältnis der aufgeführten Handlung zu derjenigen, die im Aufführen überhaupt gegeben ist, zum Ausdruck zu bringen“ (Benjamin 1980 II/2: 529). Auf den ersten Blick beschreibt dieser Satz lediglich Brechts heute allzu bekannte Technik der Verfremdung. Er verweist auf Brechts Anweisungen an die Schauspieler, den Wiederholungs- oder Zitatcharakter des Gezeigten, seine Gebundenheit an das Hier und Jetzt einer theatralen Darstellung bzw. Bühnensituation, nicht vergessen zu lassen. Und er kann insofern aus heutiger Sicht als Aufforderung gelesen werden, sich mit dem eigenen „Dispositiv“ auseinanderzusetzen (Müller-Schöll 2004, 2014). Benjamin präzisiert dabei Brecht in einer für ihn charakteristischen Weise: In der Unterscheidung zwischen aufgeführter Handlung und Handlung des Aufführens „überhaupt“ geht es ihm weder um diese noch um jene Handlung − in heutiger Terminologie gesprochen: weder um die referentielle, noch um die performative Funktion der Aufführung, sondern vielmehr um nichts als den Ausdruck der Differenz zwischen beiden, den Ausdruck ihres „Verhältnisses“. Dieses zum Ausdruck zu bringen-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen de „Verhältnis“ ist eines in beständiger Bewegung, das Prinzip der Veränderbarkeit selbst. Im Kontext von Benjamins Schriften spielt dieser Satz über die Ausführung und Inszenierung von Brechts Anliegen hinaus in Gestalt des kleinen Wörtchens „überhaupt“ auf eine denkwürdige Unterscheidung an, die sich bereits im Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 1916 findet, auf diejenige zwischen der „Sprache überhaupt“ und der „Sprache des Menschen“ (Benjamin 1980 II/1: 140). So wenig Sprache für Benjamin ein bloß menschliches, dem Menschen unterworfenes, für ihn restlos verfügbares Vermögen ist, so wenig ist es das Theatralische. Die Spaltung zwischen „Bühnenverhalten“ und „Bühnenvorgang“ (Benjamin 1980 II/2: 529) korrespondiert derjenigen zwischen dem bloßen Sprachvermögen und dem Sprechen in Benjamins Sprachtheorie seit dem frühen Sprachaufsatz von 1916. Diesem zufolge hatte die Sprache „nach dem Fall“ sich als eine in sich gespaltene entwickelt: Jede sprachliche Mitteilung setzt ein Vermögen der Mitteilung voraus, ein Material der Sprache, das selbst nicht oder anders spricht, und gleichsam der Träger der Mitteilung ist. Dieses Vermögen lässt sich entsprechend des Sprachaufsatzes als „Mitteilbarkeit“ (Benjamin 1980 II/1: 145, 154) bezeichnen. Ihm entspricht in späteren Aufsätzen Benjamins die „Übersetzbarkeit“ (Benjamin 1980 IV/1: 10) als Vermögen der Übersetzung, die „Reproduzierbarkeit“ (Benjamin 1980, VII/1: 350 ff.) als Vermögen der Reproduktion und im Zusammenhang der Arbeiten zur Bühne das „mimetische Vermögen“ (Benjamin 1980 II/1: 210), das Benjamin später als „Nachahmbarkeit“ bezeichnen wird: Es ist dasjenige, was die Elemente der Mitteilung, Übersetzung, Reproduktion und eben der Nachahmung oder allgemeiner Darstellung zugleich anordnet und verbindet, wie auch in dieser Anordnung bereits wieder gegeneinander setzt und voneinander trennt. Dieses Vermögen wird lediglich nachträglich und modo negativo erkennbar: im Zusammenbruch von Kalkulationen auf allen Ebenen − inhaltlich, formal, im Raum des Theaters − und dem dabei sichtbar werdenden Rest, der in keiner Konzeption, sei sie künstlerischer, sei sie politischer Natur, aufgeht. Ausgehend von der im Hervortreten des Rests gemachten Grenzerfahrung korrigiert Benjamin in der fragmentarischen Theatertheorie seines Essays den traditionellen Begriff des Autors wie auch die Begriffe des Werks und der Geschichte. Erscheint am Autor hier wie im ungefähr gleichzeitigen Essay über Paul Valery als die letzte Tugend des methodischen Prozesses, dass er „den Forschenden über sich selbst hinauszuführen“ (Benjamin 1980 II/1: 390) in der Lage ist, so wird damit gleichzeitig auch der Werkbegriff entgrenzt: Das Über-sich-selbstHinausführen deutet im konstruktiven Prozess auf dasjenige, was sich, obwohl es unverzichtbare Voraussetzung der Darstellung ist, dieser fortwährend entzieht. Diesen Entzug der Darstellung thematisiert aus der Warte des Denkens Jacques Derrida, wenn er in einer ganzen Reihe ähnlich lautender Äußerungen davon spricht, dass für ihn, wenn er etwas schreibe, „sogar, wenn es sich dabei um einen sehr klassischen Text der Philosophie“ handle, „das Wichtigste nicht der Inhalt“ sei, „die Lehre, sondern vielmehr die Inszenierung, die Verräumlichung“ (Derrida 2002: 38). An einer Stelle begründet er seine allgemeine Annahme einer unausweichlichen theatralischen Dimension in der Philosophie damit, dass es „coups de théâtre“ in der Philosophie gebe, Augenblicke, die dem ähneln, was Kierkegaard beschrieb, als er sagte: „Der Moment der Entscheidung ist eine Verrücktheit“ (Derrida 1993). Es handle sich hier um Augenblicke, die untrennbar zu Theater und Philosophie gehörten, zur Philosophie im Theater und zum Theater in der Philosophie.
23. Theaterwissenschaft Die Annahme einer Untrennbarkeit oder Verwischung von Theater und Philosophie oder die Rede davon, dass er bei welchem Thema auch immer das Im-Theater-Sein voraussetze, ist nun aber Derridas Denken nicht äußerlich. Vielmehr ist darin einerseits, mit seinen Worten gesprochen, eine Form der Dekonstruktion der „hegemonialen Geste“ der Philosophie zu sehen (Derrida 1994: 24), andererseits ein Verweis auf sein Verständnis der „Geschichte des Abendlands“ als eines „wirkungsvollen Widerhalls“ der auf Platon zurückgehenden Trennung von Theater und Philosophie (Derrida 1993: 2). Die Frage, die Derrida an anderer Stelle unter Verweis auf Heidegger Aufsatz Die Zeit des Weltbildes (Heidegger [1938] 1980a: 73−110) für ein Denken des Theaters aufwirft, ist dabei die folgende: Wie lässt sich anders als in Form einer Szene der Repräsentation bzw. der Vorstellung, anders als in einer Szene des Subjekts und insofern einer Szene des Menschen, jene Geschichte denken, die ein denkendes Theater, ja allgemeiner: eine denkende Kunst interpretiert haben muss, wenn sie selbst als denkende begriffen werden soll. Derrida legt nahe, dass der geschichtliche Moment, der mit Heideggers Aufsatz aus dem Jahr 1938 bezeichnet wird, derjenige einer Krise und Öffnung des vorstellenden Denkens der Neuzeit ist, einer Öffnung auf das hin, was das vorstellende Subjekt vergessen musste, um sich ins Bild zu setzen, der Moment einer Erfahrung der geteilten „Anwesenheit“, des Dem-Zwiespalt-ausgesetzt-Seins. Diese Öffnung wird von Derrida als Theater oder Tragödie dieses Zwiespalts bezeichnet. Diese Erfahrung gehört noch nicht zur Szene der Darstellung oder Repräsentation, stellt vielmehr deren nonjektive, ajektive, weder objektive noch subjektive, noch projektive Eröffnung dar (Derrida 2012: 122). Es ist, mit einem anderen zentralen Begriff neuerer Theorie gesprochen, der Moment einer Öffnung hin auf das Singuläre (Nancy 2005; Weber 2014). Bezogen auf das Theater lässt sich das Singuläre vielleicht am besten ausgehend von verschiedenen Szenen gegenwärtigen Theaters beschreiben, die an seiner Entdeckung arbeiten: Entdeckung, denn es ist nicht etwas, was sich der Intention, dem Telos einer Aufführung, der voluntaristischen Setzung verdankt, auch nicht etwas, was mit den Begriffen des Spiels, der Performanz, der Inszenierung oder des Handelns zu begreifen wäre, sondern vielmehr in Aufführung wie Spiel dasjenige, was ermöglichend von Beginn an dabei ist − als Träger, Material, Geste, Haltung, Rauheit der Stimme, Körper −, was aber zugleich seiner Tendenz nach der mit ihm umgesetzten Intention, dem mit ihm verbundenen Telos entgegenwirkt, die voluntaristische Setzung nolens volens entsetzt und in Spiel, Performanz, Inszenierung und Handeln mitspielt, exszeniert und die Handlung aufschiebt, aussetzt und gleichsam skandierend unterbricht. Entdeckt wird es jedoch nicht ohne eine Arbeit, der es um die Auflösung ihres eigenen Tuns zu tun ist, nicht ohne einen Moment des Desouvrements, wie Blanchot im Anschluss an die Frühromantik es formuliert hat (Blanchot 1987: 116), nicht, mit Benjamin, Adorno oder Lacoue-Labarthe (Benjamin 1980 II/2: 530; Adorno 1991: 113; Lacoue-Labarthe 2003: 66) gesprochen, ohne die Erfahrbarmachung einer Dialektik in der Dialektik, die gleichsam überholt und unterminiert, was die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem etabliert hat. Wenn eingangs betont wurde, dass es eine Theaterwissenschaft erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gibt, ein Nachdenken über das Theater aber bereits seit der Antike, so wäre mit Blick auf das in ihr wie über sie hinaus aufgetauchte Problem des Singulären zu betonen, dass sich aus heutiger Sicht nicht sagen lässt, ob diese Begründung von Dauer sein wird oder ob sie mit Blick auf die in ihr vorübergehend vergessene Krise des Gegenstandes nur eine Form der Verdrängung dessen darstellt, was unter dem Namen
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen des Theaters seit der Antike das Denken von Sprache wie Philosophie immer wieder von Neuem heimsucht. Eine Theaterwissenschaft, die es mit dem Singulären aufnehmen will, muss in jedem Fall, darin der über ihr Ende nachdenkenden Philosophie (Adorno 1988: 400; Heidegger [1946] 1980b: 340; Hamacher [1984] 2013: 16) verwandt, zu allererst die mit ihrem Namen gesetzten Voraussetzungen − das Theater wie die Wissenschaft − radikal infrage stellen. Eine am Singulären orientierte Theaterwissenschaft ist eine solche, die sich dieser Infragestellung und insofern ihres Hervortretens aus einem abendländischen Denken und einer Tradition des Ästhetischen bewusst ist, damit aber einer Tradition der Auflösung, der sie sich im Einklang mit den Künsten um den Preis des Subalternen, Kunstgewerblichen und Kunstbetrieblichen nicht entledigen kann, der sich zu stellen zunächst aber heißt, um der Gegenstände und ihrer Fragen willen die Zertrümmerung aller vermeintlichen Grundlagen, von denen ausgegangen werden könnte, hinzunehmen. Wenn es von daher nicht sicher sein kann, ob es überhaupt eine Wissenschaft vom Theater geben kann, so lässt sich doch mit Sicherheit sagen, dass jede gegenwärtige Theaterwissenschaft, sofern sie die Erfahrung der Sprache, an die hier exemplarisch vom Denken Benjamins und Derridas her erinnert wurde, nicht vergessen will, von dieser Unsicherheit ihren Ausgang zu nehmen hat.
4. Literatur (in Auswahl) Adorno, Theodor W. 1988 Negative Dialektik. 5. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 1990 Skoteinos oder Wie zu lesen sei. In: ders., Drei Studien zu Hegel, 84−133. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Balme, Christopher 2014 Einführung in die Theaterwissenschaft. 5. Aufl. Berlin: Erich Schmidt. Benjamin, Walter 1980 Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blanchot, Maurice 1987 Das Athenäum. In: Volker Bohn (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie, 107−120. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brandstetter, Gabriele und Birgit Wiens (Hg.) 2010 Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater. Berlin: Alexander. Butler, Judith 2007 Körper von Gewicht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Corssen, Stefan 1997 Max Herrmann und die Anfänge der Theaterwissenschaft in Deutschland. Tübingen: Niemeyer. Derrida, Jacques 1988a Grammatologie. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques 1988b Signatur Ereignis Kontext. In: ders., Randgänge der Philosophie, 291−314. Wien: Passagen. Derrida, Jacques 1989 Die Schrift und die Differenz. 4. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
23. Theaterwissenschaft Derrida, Jacques 1994 The Spatial Arts: An Interview with Jacques Derrida. In: Peter Brunette and David Wills (eds.), Deconstruction and the Visual Arts: Art, Media, Architecture, 9−32. Cambridge/ New York/Oakleigh: Cambridge University Press. Dünne, Jörg und Stephan Günzel 2006 Raumtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eke, Norbert Otto, Ulrike Haß und Irina Kaldrack 2014 Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn: Fink. Fischer-Lichte, Erika 1983 Semiotik des Theaters: eine Einführung. Bd. 1−3. Tübingen: Gunter Narr. Fischer-Lichte, Erika 1994 Theatergeschichte und Wissenschaftsgeschichte: Eine bedenkenswerte Konstellation. Rede zur Eröffnung des Ersten Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. in Leipzig. In: Erika Fischer-Lichte, Wolfgang Greisenegger und Hans-Thies Lehmann (Hg.), Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, 13−24. Tübingen: Gunter Narr. Fischer-Lichte, Erika 2010 Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. Tübingen/Basel: A. Francke. Fischer-Lichte, Erika 2014 Theaterwissenschaft. In: dies., Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, 375−382. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler. Gerstmeier, Joachim und Nikolaus Müller-Schöll (Hg.) 2006 Politik der Vorstellung. Theater und Theorie. Berlin: Theater der Zeit. Günzel, Stephan (Hg.) 2007 Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript. Günzel, Stephan (Hg.) 2009 Raumwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hamacher, Werner [1984] 2013 Reparationen. In: Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hg.), Mediengeschichte nach Friedrich Kittler. München: Fink. Haß, Ulrike 2005 Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München: Fink. Haß, Ulrike 2014 Episteme des Theaters. In: Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Abstract-Band zum Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 2014, 3− 8. Bochum. Heeg, Günther 2000 Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld. Heidegger, Martin 1991 Die Frage nach der Technik. In: ders., Die Technik und die Kehre, 5−36. 8. Aufl. Pfullingen: Neske. Heidegger, Martin [1938] 1980a Die Zeit des Weltbildes. In: ders., Holzwege, 73−110. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin [1946] 1980b Der Spruch des Anaximander. In: ders., Holzwege, 317−368. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Hinz, Melanie und Jens Roselt (Hg.) 2011 Chaos + Konzept. Proben und Probieren im Theater. Berlin: Alexander.
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Müller-Schöll, Nikolaus 2014 Raum-zeitliche Kippfiguren. Endende Räume in Theater und Performance der Gegenwart. In: Norbert Otto Eke, Ulrike Haß und Irina Kaldrack (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater, 227−249. Paderborn: Fink. Nägele, Rainer 1991 Theater, Theory, Speculation. Walter Benjamin and the Scenes of Modernity. Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press. Nancy, Jean-Luc 2007 Corpus. Zürich/Berlin: Diaphanes. Pavis, Patrice 1996a Études théâtrales. In: ders., Dictionnaire du Théâtre, 126−127. Paris: Dunod. Pavis, Patrice 1996b L’analyse des spectacles. Paris: Nathan. Rancière, Jacques 2008 Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen. Ronell, Avital 1989 The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech. London: University of Nebraska Press. Rorty, Richard 1992 The Linguistic Turn: Essays in Philosophical Method. Chicago: University of Chicago Press. Roselt, Jens 2008 Phänomenologie des Theaters. München: Fink. Soja, Edward 1989 Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London/ New York: Verso. Schechner, Richard 1990 Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek: Rowohlt. Schechner, Richard 2003 Performance Theory. London/New York: Routledge. Schoenemakers, Henri, Stefan Bläske, Kay Kirchmann und Jens Ruchatz (Hg.) 2008 Theater und Medien. Grundlagen − Analysen − Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld: transcript. Schramm, Helmar, Hans-Christian von Herrmann, Florian Nelle, Wolfgang Schäffner, Henning Schmidgen und Bernhard Siegert (Hg.) 2003 Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Berlin: Dahlem University Press. Schramm, Helmar, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig (Hg.) 2008 Spuren der Avantgarde: Theatrum Machinarum. Berlin: de Gruyter. Singer, Milton (ed.) 1959 Traditional India. Structure and Change. Philadelphia: American Folklore Society. Weber, Samuel 2004 Theatricality as Medium. New York: Fordham University Press. Weber, Samuel 2014 Inquiétantes singularités. Paris: Hermann Éditeurs. Weigel, Sigrid 2002 Zum „topographical turn“ − Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2(2), 151−165.
Nikolaus Müller-Schöll, Frankfurt a. M. (Deutschland)
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
24. Kunstwissenschaft (Bildkritik) 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung: Linguistik und iconic turn Die Revision des Laokoon-Paradigmas Ansätze der Bildkritik Gebärdensprache und Medialität Eine Sprache, die keine Sprache ist
6. 7. 8. 9. 10.
Die ikonische Differenz Im Bild. Der Raum der Bedeutsamkeit Die Rolle der Temporalität Resümee Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung: Linguistik und iconic turn Erst seit dem „iconic turn“ (1994) und dem „media turn“ − ausgehend von M. McLuhan − entstand zwischen Linguistik und Kunstwissenschaft eine produktive Diskussion, die zuvor nicht existiert hatte (Boehm 1994a, 1994b; McLuhan 1992). Erst jetzt konnten Sprache und Bild als „gleichursprünglich“ gelten. Die Einsicht begann sich durchzusetzen, dass auch Bilder ein „bildendes Organ“ (Humboldt 1968, 7: 53) darstellen und damit mehr und anderes sind als ein „gebildetes“, d. h. gemachtes Ding (ergon), nicht nur ein Träger von Eigenschaften, die ihm kulturell von außen zugeschrieben und oft mithilfe ikonographischer Verfahren identifiziert werden (Humboldt 1968). Die ihnen zuerkannte Artikulationskraft ließ sie der Sprache vergleichbar erscheinen, ohne sich ihr zu subordinieren. Die nun einsetzende Bildkritik, Bildtheorie bzw. Bildwissenschaft wies den „Alleinvertretungsanspruch“ der Sprache zurück, für den so viel zu sprechen schien, wie sich unter anderem am „linguistic turn“ (Rorty) bzw. dem sogenannten abendländischen „Logozentrismus“ ablesen lässt, der eine metaphysische Einheit von Wort und Sinn privilegiert (Derrida 1974). Hegel hatte diesen Gedanken realisiert, indem er eine autonome Intelligenz erst dort gegeben sah, wo der Inhalt der Anschauung in eine „bildlose Allgemeinheit“ überführt worden war (Hegel 1986: 277). Wobei ein extrem defizitäres Bildverständnis zum Zuge kommt, dessen Maxime in bloßer Nachbildung anschaulicher Gegebenheiten lag, währenddessen die Sprache imstande sei, selbsttätig mit willkürlichen Zeichen zu agieren. Das Bild dagegen wird in dieser Sicht als ein lunares Medium ohne eigenes Licht verstanden, das deshalb stets auf die Sonne der Sprache angewiesen bleibt, „ein Zweitding von minderem Realitätsstatus“ (Marin 2007: 12). Diese traditionelle Unterordnung des Eikons unter den Logos hatte alle weiterführende Diskussionen unterbunden, in denen es um eine genuine „Logik“ des Bildes geht bzw. um eine weitgefasste „Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks“ (Plessner [1967] 1982: 459 f.). Wenn Bildern nun aber die Qualität eines ganz anders konzipierten Logos zugeschrieben werden kann, dann bedarf die gängige Auffassung, die ihn auf das verbum festgelegt hatte, einer gründlichen Überprüfung und Revision (Lohmann 1965: 245). Auf einer allgemeinen, plakativen Ebene betrachtet, erweist sich der homo sapiens nicht länger nur als ein homo loquens, sondern − dank seines Bildvermögens − auch als ein homo pictor. Wobei das Verhältnis beider homines infrage steht. Beabsichtigt ist aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive jedenfalls nicht, die Hierarchie lediglich umzukehren, dem Bild gegenüber der Sprache eine Priorität zuzuweisen. Wohl aber ist beabsichtigt, Logos jetzt so zu denken, dass in ihm ein ikonisches Moment zum Zuge kommt. Insofern ist die Rede von einem „ikonischen Logos“ gerechtfertigt. Sie reflektiert, dass die Welt nicht schon erfahren und verstanden ist, wenn sie in Begriffe gebracht
24. Kunstwissenschaft (Bildkritik) bzw. satzweise prädiziert wurde. Nichtlinguale, symbolische Systeme und „sprachlose Räume“ (Plessner [1970] 1980: 351−367) als eigenwertige Zugänge zur Welt anzuerkennen, fällt der Philosophie − trotz Cassirer, Husserl oder Goodman − immer noch schwer. Die eminente Rolle der Kognition kann gar nicht bestritten werden, doch ist ebenso offensichtlich, welche Bedeutung im Alltag der Blick, die Geste, die Bewegung, der Tanz, die Musik oder eben das Bild besitzen, wenn es darum geht, sich unter Menschen in der Welt einzurichten.
2. Die Revision des Laokoon-Paradigmas Der neuen Auffassung des Laokoon-Paradigmas, die sich auf einen komplexen Veränderungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts stützt, war − in Gestalt der horazischen „ut pictura poesis“-Formel − ein seit der Antike eingebürgertes poetologisches Vorspiel vorangegangen (Horaz 1971), das − allerdings auf dem Terrain der Sprache − ein „So-wie“ (ut pictura − ut poesis) zwischen Bild und poetischer Rede etabliert hatte. Lessing nahm diesen Faden auf und transformierte die Vergleichbarkeit in eine Subordination der bildnerischen „Raum“-Künste unter die dichterischen „Zeit“-Künste (Lessing 1990: 116 f.). Lessings überaus „mageres“ Argument (Barner 1990: 665) hatte eine gleichwohl erstaunlich prägende Kraft. Zwar verfolgte er primär poetologische Absichten, die sich gegen eine damals grassierende „malende Dichtung“ wandten. Auf Dauer wirksam waren jedoch − neben der kunstkritischen Erörterung der Laokoon-Skulptur, auf die der Untertitel deutlich verweist − die auf wenigen Seiten zusammengerafften systematischen Überlegungen. Sie kleiden sich in schulmäßige Lehrsätze, nach denen die Malerei mit Figuren und Farben im Raum operiere, die Poesie dagegen mit Tönen in der Zeit. Eine koexistente Simultaneität tritt in Opposition zur Sukzession oder − anders beschrieben − malerische Zeichen bestehen aus Körpern, poetische dagegen aus Handlungen bzw. Geschehnissen. Nur an einer Stelle verbindet sie Lessing miteinander, wenn er einräumt, dass Körper als bewegte auch in der Zeit erscheinen, sodass es darauf ankomme, diese Punktualität der Berührung genügend „fruchtbar“ und das heißt lebendig und auslegungsfähig zu wählen, dem Spiel der Einbildungskraft zu erschließen (Lessing 1990: 32). Lessings Modell blendete auch die Kunstgeschichte, die es hätte besser wissen können, mit der Folge, dass Zeit als eine womöglich leitende Größe des statischen Bildes weitgehend außer Betracht blieb. Auch die ganz anderen Bewegtbilder des Films blieben an der Peripherie der kunsthistorischen Methodik. Erst 1964(!) diskutierte Gombrich (1964: 293−306) auf exemplarische Weise mögliche Verfahren einer temporalen Analyse statischer Bilder.
3. Ansätze der Bildkritik Damit sind auch schon Ansätze der Bildkritik bzw. Bildwissenschaft vorgezeichnet. Sie war, wie gesagt, gehalten, mediale Hierarchien oder Oppositionsverhältnisse abzubauen, die widerspruchsvolle, gleichzeitige Nähe und Distanz von Bild und Sprache neu zu fassen, über Fragen des Eigensinns der Medien bzw. der Bilder nachzudenken. Und zwar
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen in einem erweiterten Rahmen, der nicht nur die Bilder der Kunst umgrenzt, sondern auch andere, zum Beispiel kognitive, technische oder alltägliche Bildtypen, einschließlich der bildgebenden Verfahren und der digitalen Neufassung von Bildlichkeit. Wobei es darauf ankam, eine lediglich sekundäre, illustrierende Rolle der Bilder, die von einer Isomorphie mit der Realität ausging und Darstellungen in der Art von Spiegeln verstand, abzubauen. Umso mehr, als die damit verbundene Einschätzung sich großer Popularität erfreut, sosehr sie die eigentlich produktiven Möglichkeiten der Bilder verfehlt. Die wissenschaftliche Diskussion durchlief verschiedene Phasen und Positionen. Neben die erwähnte Einsicht in die grundsätzliche ikonische Temporalität trat ein Interesse an den strukturellen Prämissen von Bildern, die Intention, ihre nichtlingualen Vollzugsformen begrifflich zu rekonstruieren und zu verstehen (Waldenfels 2001: 14 f.; Krois 2001a: 210 f.). Eckpfeiler dieser Theorieansätze waren insbesondere Phänomenologie und Semiotik, Formen von Anthropologie (Belting 2001; Jonas 1994: 105−124) sowie sprach- bzw. körperphilosophisch gestützte Argumente. Horst Bredekamp beispielsweise spricht vom Bild als einem Akt, mit einem subjektähnlichen Status, der ihn als kulturellen Agenten ausweise (Bredekamp 2010). Vergleichbar argumentiert William John Thomas Mitchell, der den Bildern eine Willentlichkeit zuschreibt, wenn er mit einem seiner Buchtitel fragt: „What do pictures want?“ (Mitchell 2005). Weniger dezidiert performativ erscheint der Anschluss an die Metapher von den hundert Augen der Bilder, die Georges Didi-Huberman, auf Lacan gestützt, in eine Blickkorrespondenz verwandelt hat: „Was wir sehen, blickt uns an“ (Didi-Huberman 1999). Gemeint sind dabei stets bildnerische Werke. Zuvor schon hatte die Phänomenologie, ausgehend von Husserl, Merleau-Ponty bzw. Waldenfels, bildtheoretische Vorstöße angeregt, die zum Teil aber auch Überlegungen Heideggers oder Lacans (Blümle 2005) aufnahm bzw. durch eine kognitionswissenschaftlich gewendete Philosophie verstärkt wurden (Kiverstein 2012). Die Frage, ob sich phänomenologische bzw. semiotische Zugangsweisen ausschließen oder − so unter anderen Martin Seel − ergänzen, ist lange Zeit nicht selten polemisch diskutiert worden (Nöth 2005; Abel 2005: 13−19; Halawa 2008: 43 f.; Scholz 2002; Majetschak 2005; Kulenkampff 2005: 185−201; Wiesing 2005: 26 f.; Elkins 1998: XI f.). Doch spricht vieles dafür, beide Zugangsweisen miteinander zu verbinden, denn: „zwischen phänomenologischer und semiotischer Bildtheorie besteht kein echter Widerstreit“ (Seel 2000: 281). Dies gilt erst recht, wenn man weiß, dass Charles S. Peirce, der wohl wichtigste Stammvater semiotischen Denkens, seine Zeichentriade (Ikon, Index, Symbol) aus einer eigens entwickelten „Phaneroskopie“, das heißt Phänomenologie, hergeleitet hat (Pape 2012: 88; Boehm 2013a: 98). Die behauptete Ausschließlichkeit der Positionen verliert dabei ihre Basis und ihre Plausibilität. In den Vordergrund tritt stattdessen das Problem, wie und mit welchen Mitteln die logische und anschauliche Eigenart des Bildes erfasst werden kann und welche Rolle eine allgemeine Medientheorie dabei spielt (Steinseifer 2011).
4. Gebärdensprache und Medialität Einen überaus interessanten Probierstein, der im Übrigen auch Linguistik und Kunstwissenschaft zu verbinden vermag, stellen die in jüngerer Zeit verstärkten Forschungen zu
24. Kunstwissenschaft (Bildkritik) den Gebärdensprachen der Gehörlosen dar. Ihre Einsichten reichen weit und lassen sich in der Feststellung zusammenfassen, dass Menschen mit dem Mund und der Hand, mit Gesicht und Gebärde über zwei sprechende Organe verfügen, deren engste Koordination bzw. Konvergenz auch von der Gehirnforschung bzw. der Evolutionsbiologie nachgewiesen wurden (Jäger 2006: 2−24; Fehrmann und Linz 2010: 387−407). Damit ist dann auch der defizitäre und wohlbegründete Abschied vom Laokoon-Paradigma definitiv vollzogen. Wittgenstein hatte die Differenz von Sagen und Zeigen scharfsinnig analysiert und schon Karl Bühler (1974) mit einer deiktischen Fundierung der Sprache argumentiert. Mittlerweile ist, darüber hinaus, von ihrem „gestischen Ursprung“ die Rede (Corballis 1999: 138 f.). Die Einsicht in die Doppelbestimmtheit des menschlichen Sprachvermögens eröffnet des Weiteren die Möglichkeit, Übergänge zwischen den unterschiedlichen kulturellen Medien ins Auge zu fassen, sie nicht länger unvermittelt gegeneinanderzustellen. Dies berührt auch die Bildtheorie unmittelbar. So beharrt etwa Ludwig Jäger auf einer unabdingbaren Einheit der semiotischen Vernunft, die separate Logiken oder gar Medialitäten ganz ohne Code nicht zulasse. Besonders gegen das Phantasma einer zeichenunbedürftigen, anschaulichen Unmittelbarkeit, dem sich Roland Barthes in seiner Fototheorie ausliefere (Barthes 1989), richtet sich seine Kritik. Davon betroffen sieht er auch bildtheoretische Versuche, den ikonischen Logos aus der Welt der semiologischen Diskurse auszugrenzen (Jäger 2012: 102 f.). Es gibt in dieser Perspektive keinen festgefügten sprachtranszendenten Sinn, der lediglich in unterschiedlichen medialen Vermittlungen als derselbe konfirmiert würde. Die moderne Welt hat sich seit Descartes von der aristotelischen Annahme semiotischer Analogien zwischen Zeichen und Realitäten verabschiedet. Auch die neuere Sprachphilosophie bewegt sich auf dem Boden der durch Kant vollzogenen Wende. Die Universalität der auf menschlichen Konstruktionen beruhenden Zeichenprozesse manifestiere sich in den inter- und intramedialen Transkriptionen und in deren Regeln. Gleichwohl: Jene universelle semiotische Vernunft stößt auf die inneren Grenzen ihrer Endlichkeit, die transmediale Allgemeinheitssphäre trifft auf das, was Wilhelm von Humboldt bzw. Friedrich Schleiermacher mit dem Stichwort „Unübertragbarkeit“ des Sinnes markiert haben (Jäger 2013: 3−19). Transkriptivität vermittelt sich mit „Unübersetzbarkeit“ bzw. der generellen hermeneutischen Einsicht, dass mit dem Verstehen stets Nichtverstehen einhergeht. Sinn bleibt an die jeweilige Form, in der er aufblüht, zugleich auch gebunden. Inferenzielle Prozesse semantischer Produktivität sehen sich, im Fall der Bilder, auf träge Materialitäten verwiesen. Verständigungshandlungen bleiben deshalb prekär und verschattet, weil ihre Evidenz an jeweilige Vollzüge und deren Kontingenzen bzw. an Situativität gebunden sind. Das Modell des Spiegels ist mithin ungeeignet, den Vorgang der Transkription zu kennzeichnen. Jäger spricht sogar von einer konstitutiven „Störung“ (Jäger 2002, 2004: 35 f.), die Transkriptivität und Unübersetzbarkeit aber allererst verbindet. Medialer Sinn impliziert Latenzen, die sich nicht nur als unauflöslich erweisen, deren Potenzialität vielmehr als Bedingung evidenten Sinnes gelten darf. Auch die treffendste und erhellendste Formulierung steht bei anderen Gelegenheiten zur Revision an. Nicht, weil sie falsch wäre, sondern, weil andere Evidenzen des Gleichen zum Zuge kommen. Das gilt, cum grano salis, auch für die Bildtheorie, wenn sie darauf insistiert, mit dem Bild genuine Qualitäten des Ausdrucks und der Erfahrung zu verbinden. Was sich zeigt, lässt sich nur so zeigen, Ekphrasen (eine der eingeführten Weisen sprachlicher Transkription von Bildern) sind deshalb dann gelungen, wenn sie ikonische Eigenschaf-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen ten nicht in Worte zu übertragen versuchen, sondern imstande sind, das Auge auf seine eigenen Wege zu lenken (Boehm 1995: 231). Wobei im Fall der Bilder die durch die Materialität erzeugte Widerständigkeit zur Geltung kommt, die allererst ermöglicht, was als ästhetisch-aisthetische Wahrnehmung von der Diskursivität der Medien unterschieden wird. Darauf ist auch der gängige bildtheoretische Begriff der Opazität gemünzt. Die stets verschattete Hellsichtigkeit transkriptiven Sinnes erweist sich nicht zufällig unter historischen bzw. institutionellen Vorzeichen als fruchtbar. Sie wird im Gebrauch erschlossen, in Museen, Sammlungen oder Bilderbüchern, begleitet von Gesprächen und Kommentaren, begleitet vom ganzen hermeneutischen bzw. wirkungsgeschichtlichen Kometenschweif, der der Manifestation ikonischen Sinnes folgt. Über diesem Terrain leuchtet der Fixstern „Urteilskraft“ und nicht die Sonne schlechthinniger Kognition. Womit auch schon gesagt ist, dass semiotische Prozesse, wie oft angenommen, nicht ausschließlich der Erkenntnis oder der Wirkung dienen. Die Gebrauchnahme von Werken, die zum Beispiel in Ausstellungen oder Konzertsälen erfolgt, hat einen stark partizipatorischen Charakter. Was schon deshalb unverächtlich ist, weil so der eigentliche Adressat von Werken erreicht wird, der seine affektiven, wie immer erhellenden oder beunruhigenden Erfahrungen macht. Wenn Jäger die Grenzen von Sinn ganz in den inferenziellen Selbstbezug verlegt, dann stellt sich aber doch auch die Frage, wie er sich mit der menschlichen Lebensrealität wieder vermittelt. Wie wird der inferenzielle Selbstbezug zu einem Ereignis im Gefühls- oder Wahrnehmungshaushalt von Individuen? Wie stellt sich in ihnen Geltung von Sinn her?
5. Eine Sprache, die keine Sprache ist Bisherige Bildtheorien schlossen in der Regel an bestehende Philosophien an, um daraus geeignete Argumente zu ziehen. So wurden unter anderen Peirce, Wittgenstein, Cassirer, Husserl, Merleau-Ponty und Heidegger (samt seiner französischen Adepten wie Derrida, Lacan, Nancy oder Deleuze), aber auch Benjamin, natürlich Goodman, auch Luhmann (vgl. Artikel 15) und ferner Kognitionswissenschaft sowie Körperphilosophie in diesem Sinn herangezogen (Boehm 1994: 60−89; Mersch 2002; Gebauer 2009; Schürmann 2000; Pape 2012; Krois 2011b; Bredekamp, Lauschke and Arteaga 2012; Weigel 2015; Nancy 2006). Nichts spricht selbstverständlich gegen intensive Dialoge, allerdings ist zu beachten, dass die Genannten die eigentliche Leitfrage der neueren Bilddiskussion, die da lautet: Was ist ein Bild?, nicht gestellt und deshalb auch nicht beantwortet haben (Mitchell 1984; Boehm 1994; Polanyi 1994). So erscheint die Suche nach verborgenen Bildtheorien im Bestand der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition nicht als der richtige Weg. Denn zum ersten Mal in der Wissensgeschichte geht es darum, dem souveränen Bild, dem ikonischen Logos, der „Kraft des Bildes“ (Marin 2007: 13) eine angemessene Grundlage zu verschaffen. Sie auf dem Weg der Rekonstruktion aus historischen Positionen herzuleiten, erweist sich am Ende als nicht tragfähig. Die Grundlagen der Bildkritik sollten aus den Phänomenen selbst gewonnen werden. Deshalb steht eine sorgfältige und ausgreifende Recherche am Anfang, eine Recherche dessen, was „Bild“ war, ist oder zu sein prätendiert. Die Bildgeschichte ist schon deshalb ernst zu nehmen, weil sie das Feld der Untersuchung absteckt, sicherstellt, was als hinreichender Ausweis des eigentlichen Gegenstandes der Bildtheorie zu gelten hat. Sie umfasst selbstverständ-
24. Kunstwissenschaft (Bildkritik) lich auch zeitgenössische Wissensbilder (Stjernfelt 2007; Hinterwaldner 2010). Zusammengeraffte, oft zufällige oder banale Exempel, aus den Untiefen der Bildung der jeweiligen Autoren geholt, genügen dazu nicht. Sie belegen nur die Einschätzung, dass es auf Singularitäten gar nicht erst ankommt. Der vorgetragene theoretische Allgemeinheitsanspruch sorgt schon dafür, dass es „passt“. Ein breit auf Phänomene gestütztes Procedere ist auch deshalb empfehlenswert, weil es klären hilft, unter welchen Erscheinungsformen sich der ikonische Logos überhaupt manifestiert, jene „Sprache“, die keine Sprache ist und sich doch auf spezifische Art artikuliert, eigene Zugänge zur Welt schafft. Die zentrale Aufgabe der Bildtheorie besteht deshalb darin, das uralte abendländische Dogma, dass Sinn stets „gesagt“ ist, ausschließlich mittels Prädikation (oder anderen lingualen Formen) zu kommunizieren und schon gar zu verifizieren ist, kritisch zu prüfen und − darüber hinaus − die Modi ikonischer Sinngenese offenzulegen. Dabei tritt die Deixis samt ihrer Valenzen ins Zentrum der Aufmerksamkeit (Mersch 2002). Als das eigentlich staunenerregende Ursprungsgeschehen der Bildgeschichte und jedes aktuellen Anfangs mit dem Bild − jetzt und jetzt und jetzt − erweist sich eine signifikante Metamorphose, eine geregelte Wandlung, der Übergang innerhalb der ikonischen Differenz. In der Aufklärung dieses Plusultra liegt die zentrale Herausforderung des neuen Bilddenkens (Boehm 2013a: 94−98). Jeder Bildermacher, aber auch jeder Bildbetrachter, trifft auf diesen Punkt, er sieht wie Materialien manipuliert, ausgewählt, hergerichtet oder mit anderen Materialien beschichtet werden, von Praktiken der Gebrauchnahme begleitet. In dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit steckt freilich ein großes Rätsel: Wie entsteht aus Material plus Material plus Handgriff eine bedeutungsvolle, eine „immaterielle“ Ansicht? Bildwerke sind zugleich Objekte der Welt und Objekte über die Welt (Seel 2000: 278), sie sind selbst präsent und sie repräsentieren, bieten sich als ein materieller Grund dar, der etwas zeigt. Zustande kommen Zugänge zur Welt, die nicht den Bahnungen der Kategorien folgen, die von Aristoteles bis Peirce und darüber hinaus die abendländische Philosophie determinierten. Eine profunde Erkenntnischance des Bilddenkens! Existiert gar, in Anlehnung an Kants Lehre vom Schematismus in der Kritik der reinen Vernunft, der von der Anschauungspflichtigkeit der Begriffe handelt − und der Begriffspflichtigkeit der Anschauung −, ein ikonischer Schematismus, der sich in der Differenz der Materialität selbst herausbildet (Boehm 2013b: 16 f.)? Wer so fragt, den stellt der Verweis auf die semiotische Verfasstheit der Bilder am Ende nicht wirklich zufrieden. Denn die Semiotik bietet − nach dem Bekunden ihrer linguistischen Protagonisten − den Rahmen einer Theorie und unterlegt dem so ausgegrenzten Feld die allgemeinen Spezifikationen dreier Kategorien, die, als Ikon, Index und Symbol bezeichnet, bildaffine Namen tragen. Sind sie deswegen aber auch schon geeignet, das theoretisch Eingerahmte, nämlich das jeweilige Bildfeld in seiner komplexen aisthetischen Eigenart, zu erfassen, was sowohl seine Individualität als auch seine regelhafte Struktur anbelangt? Ist die ikonische Logik identisch mit derjenigen der semiotischen Medialität? Bildermacher rekurrieren in aller Regel nicht auf Zeichenwissen, sondern allenfalls auf eine Zeichenpraxis, die seit unvordenklichen Zeiten auf Handgriffen beruht und deren fortlaufender Vervollkommnung, immer unter Bezug auf ein jeweiliges Material. Diesen unerhörten Reichtum mittels der drei peirceschen semiotischen Kategorien zu erschließen, heißt, ihn aufzugeben. Was „Bild“ sein kann, ist seit der Vorgeschichte und
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen bis zu heutigen transgressiven Praktiken immer wieder neu erfunden worden. Mit stupenden Resultaten. Wenn sich tatsächlich verifizieren lässt, dass bereits der homo erectus, der vor etwa 1,2 Millionen Jahren aufgetreten ist, mit dem Faustkeil nicht nur ein brauchbares Instrument, sondern zugleich auch eine sinnträchtige Darstellung verfertigt hat, dann gewinnt das Ikonische einen neuen Stellenwert, weit über bildtheoretische Interna hinaus (Le Tensorer 2001: 57−75). Das Ikonische wäre dann, auf eine bis dahin undenkbare Weise, an der Herausbildung des Menschen beteiligt, lange bevor das, was wir Sprache nennen und mit dem homo sapiens verbinden, entstanden war. Für eine solche Möglichkeit sprechen nicht nur die Forschungen zur Gebärdensprache, sondern auch jene zur gestischen Kommunikation der Primaten (Tomasello 2009: 339 ff.), desgleichen Beiträge der Gehirnforschung (Niemitz 1981; Arbib 2000). Wiederum tritt Deixis in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und es gehört zu den erfreulichen Resultaten der Bildkritik, ihre Funktionsweise weiter aufgeklärt zu haben. Ein visuelles Objekt zeigt noch nichts. Erst, wenn sich an ihm ein Grund ausbildet, der etwas zum Erscheinen bringt, etwas sichtbar macht, kann von der Kapazität des Zeigens gesprochen werden. Näher betrachtet, impliziert der materielle Grund ein Potenzial, zu dem unter anderem eine Bildern eigentümliche Inversion gehört − der oft beschriebene Eindruck, als blickten sie auf den Betrachter zurück oder generierten jene fundamentale Lebendigkeit, die die bildliche Evidenz auszeichnet. Die Rede von einer ikonischen Logik spezifiziert sich in diesen und anderen deiktischen Prozessen, die nicht denkbar sind ohne ihre Grundierung in der körperlich-gestischen Struktur derjenigen, die sie realisieren. Sie etabliert eine situative leibliche Ordnung, die räumliche Vorgaben, zum Beispiel Richtungen, entfaltet, die sich der Ordnung der Bilder mitteilen. Das vom Subjekt her gedachte „AugeHand-Feld“ prägt den bildlichen Bedeutungsraum (Plessner [1970] 1980: 333 f.).
6. Die ikonische Differenz Zur Lösung der anstehenden Fragen und als argumentatives Dispositiv dient die Denkfigur der „ikonischen Differenz“, in einer doppelten Ausprägung (Boehm 2011: 170−176). In einer kontextbezogenen, lateralen Hinsicht ermöglicht sie es, Bilder von Bildern zu unterscheiden, auf spezifische Anordnungsweisen wie Bilderfolgen, Serien, Hyperbilder oder räumliche Installationen einzugehen, schließlich: Bilder von Nichtbildern abzusetzen. Dabei entsteht nicht zuletzt eine Vorstellung vom Umfang des Ikonischen und von der Vielzahl lebenspraktischer, zum Beispiel sozialer, politischer, religiöser oder ästhetischer Funktionen, die auf Aussehen und Funktionsweise erheblichen Einfluss nehmen können. Keineswegs trivial ist die Frage: Was ist „noch“ ein Bild und was ist es „nicht mehr“? Wo lassen sich Grenzen des Ikonischen ziehen? Sind sie trennscharf oder muss man mit Latenzen bzw. Bastardisierungen rechnen? Bereits diese Kennzeichnungen setzen ein provisorisches und flexibles Konzept des Bildlichen voraus, das freilich in angemessener Form nicht in Umlauf ist: weder im Alltag noch unter Gebildeten oder Wissenschaftlern. Stattdessen gilt die unkritische Meinung, nach der es sich bei Bildern um flache, womöglich gerahmte Objekte handelt, die auf etwas verweisen, was sie selbst nicht sind. Dieses Etwas aber, oft „Referenz“ genannt, repräsentiere die eigentliche ikonische Raison. Sie entstammt nicht aus Strukturen des Bildes, sondern aus der Welt und wird in ihm auf irgendeine Weise wiedererkannt. Ist diese Fähigkeit, visuelle Objekte,
24. Kunstwissenschaft (Bildkritik) die wir im Prinzip kennen, aufzurufen, ist die Vergegenwärtigung des Abwesenden, selbst der Toten, nicht auch der privilegierte Entstehungsgrund des Ikonischen, mehr noch: sein eigentlicher Triumph? Nämlich dieses oder jenes Reale als eine flache Konserve anschaubar, verfügbar und haltbar zu machen, die Abbildlichkeit als Definitionskriterium in die Bildtheorie einzuführen? Mit der ikonischen Differenz kommt ein Gegenmodell ins Spiel, das die Relation zwischen der Darstellung (einschließlich ihrer Bedingungen) und dem jeweils Dargestellten ins Zentrum rückt. Genauerer Betrachtung entgeht nämlich nicht, dass selbst illusionistische Bilder − und gerade sie − artifizielle Konstrukte darstellen, die sich dem Spiel der Inferenzen verdanken. Es geht mithin um jene konstitutive Unterscheidung, die jedes Bild ermöglicht und die ein differenzielles Wechselspiel in Gang setzt, das der Wahrnehmende realisiert. Die dem „bildenden Bild“ zuerkannte Souveränität verweist auf einen zweiten, gleichsam vertikalen Gebrauch der ikonischen Differenz. Ihre wichtigste Eigenschaft, auch für die Theorie, besteht nämlich darin, dass sie von jedwedem Betrachter an welchen Bildern auch immer erkannt werden kann, jedenfalls realisiert wird. Was er sieht, die Struktur der ikonischen Darbietung samt ihrer sensoriellen Eigenschaften, bringt jene Bezugnahme ins Spiel. So unterschiedlich Bildwerke auch aussehen mögen, sie implizieren stets eine sichtbare Relation zwischen einem sich durchhaltenden Kontinuum und den unter seinen Vorzeichen erscheinenden Distinktionen, die sich keineswegs als selbstgenügsam erweist. Denn alles, was uns an Sinn, an Referenziellem entgegenkommt, stammt aus dem Wechselverhältnis zwischen einer überschaubaren Totalität und der Fülle der dargestellten Vielfalt. Mit der ikonischen Differenz lässt sich das weite und kaum erkundete Feld der ikonischen Logik erschließen, in dem jener „Eigensinn“ entsteht, dessen Unübertragbarkeit auch die wechselseitige Unersetzbarkeit der Medien (einschließlich der Sprache) ausmacht. Wenn wir von ikonischer Differenz reden, meinen wir eine in Materialitäten aufweisbare „Überkreuzung“ bzw. „Verflechtung“ (Chiasmus) (Merleau-Ponty 1986: 176 f.), die sich als „Reversibilität“ bzw. als Kontrast manifestieren, wobei die beiden zuletzt genannten Begriffe nur dann zuträglich erscheinen, wenn man sie stets auf den Akt des Differenzierens selbst bezieht, durch den die Differenz allererst zu einem „Perzept“ wird und eine jeweilige Bahnung ausbildet, ihr Gesicht tatsächlich zeigt. Dabei kommt eine signifikante Teilung der Aufmerksamkeit ins Spiel. Sie organisiert sich innerhalb der beschriebenen Bezugnahme zwischen dem sich durchhaltenden Kontinuum und den ausgeformten Distinktionen. Wobei „Teilung“ nicht nur Unterscheidung meint, sondern zugleich eine im Prozess der Differenzierung selbst in Gang gebrachte Anteilnahme (Partizipation). Gewiss: Bildermacher bzw. Betrachter verkürzen diesen Prozess nicht eben selten, indem sie zum Beispiel das in der Differenz liegende Beziehungsspiel auf das dargestellte Sujet hin reduzieren. Diese Akzentuierung des Dargestellten, d. h. der Abbildlichkeit, ist eine in der ikonischen Differenz selbst angelegte, defizitäre Option. Das Sehen von Bildern unterscheidet sich also grundsätzlich vom Sehen von Objekten. Max Imdahl hat zum Beispiel ein alltägliches „wiedererkennendes Sehen“ von einem „sehenden Sehen“ unterschieden (Imdahl 1981: 14). Danach war auch von einem „erinnernden Sehen“ die Rede (Boehm 1985: 37 f.). Es bedarf mithin geeigneter Modi der Realisierung, um den Sinn eines Bildes nicht zu verfehlen (zu dem gewiss auch oft ein ikonographisches oder historisches Wissen gehört). Diese Realisierung der Differenz wird − auf der Basis physiologischer, psychologischer oder neurologischer Dispositio-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen nen − in der frühkindlichen Sozialisierung gelernt und dann um historisch-kulturelle Inhalte erweitert. Erforderlich ist also eine „Schule des Sehens“ (die unter anderem in der kunstwissenschaftlichen Ausbildung betrieben wird); es bedarf einer öffentlichen Sehkultur, die sich im gesellschaftlichen Wandel ihrerseits wandelt, ohne dass dabei die konstitutive ikonische Differenz selbst außer Geltung käme.
7. Im Bild. Der Raum der Bedeutsamkeit Die Rede von einer „Logik“ der Bilder und ihrer Eigenart muss freilich auch darlegen können, was im Bild an die Stelle sprachlicher Prädikation tritt, über die es nicht gebietet. Bilder verfügen weder über Mund noch Stimme und sind gleichwohl „sprechend“ bzw. sinnträchtig. Worin also besteht das ikonische Substitut des Satzes (bzw. anderer sprachlicher, z. B. metaphorischer Strukturen)? Bilder existieren nicht in und mit der Zeit (worin Lessing ihren Mangel festmachte), sie sind nicht flüchtig wie der Klang der Stimme, sondern ein für alle Mal an einen trägen materiellen Ort gebunden. Das wirkt sich auch auf die Struktur ihrer Artikulation aus. Sie kennzeichnen nicht etwas als etwas, sondern entfalten, was sie zeigen, auf oder in einem „Schauplatz“ (Paul Klee). Richard Wollheim sprach deswegen von einem Etwas in etwas (Wollheim 1982: 192 f.). Mit anderen Worten: Zwischen dem Kontinuum und seinen Distinktionen öffnet sich ein Raum der ikonischen Bedeutsamkeit. Das Bild als Ort der Signifikanz bietet etwa Ansatzpunkte, um die völlig eigenartige Form der ikonischen Negation verständlich zu machen, eine Negation, die nichts mit der zweiwertigen Logik von Sätzen zu tun hat (Boehm i. V. [2016]). Schließlich wäre auszuführen, dass sich der bildliche Sinn stets in jenem Licht zeigt, das die Darstellung selbst eröffnet. Zur spezifisch chiastischen Kontrastlogik des Zeigens gehört die Potenz, etwas in ein jeweiliges ikonisches Licht zu stellen und darin zu plausibilisieren. Licht aber verbindet sich sowohl mit dem diffusen Kontinuum wie mit den distinkten Formen. Damit gehen bestimmte „Färbungen“ einher: zunächst der bildliche Kolorismus selbst, dann aber auch affektive Resonanzen, der ganze Haushalt der Gefühle, der auf die eine oder andere Art in Darstellungen bewirtschaftet wird. Zurück zu Farbe und Licht im engeren Sinne: Die koloristische Gradation ist ein integraler Bestandteil der ikonischen Differenz und damit auch der bildlichen Sinngenese. Nahezu alle bislang vorgelegten Bildtheorien glaubten diesen Aspekt vernachlässigen zu können, frönten einer verbreiteten Chromophobie, die in der europäischen Denkgeschichte ihrerseits eine ausgeprägte Tradition besitzt (Batchelor 2002). Die Welt erscheint nicht farblos wie Begriffe, sondern als ein farbiges, womöglich buntes Kontinuum im Umkreis des Horizontes. Entsprechend erweist sich Farbe auch nicht als eine entbehrliche Dreingabe, sondern als ein unverzichtbares Moment der ikonischen Sinngenese. Der bildliche Raum der Bedeutsamkeit ist situativ, immer ausgehend von einem „Hier“, einem „Von-wo-aus“ entworfen, eine Origo, die man mit einem Subjekt oder mit einem Brennpunkt der Bildordnung verbinden kann. Innerhalb der ikonischen Differenz repräsentieren das Kontinuum bzw. der Grund diesen Horizont. Er lenkt − in beträchtlicher historischer Variationsbreite − das jeweilige System der Orientierung, das man der gebotenen Kürze wegen mit Kants Kennzeichnung der „Gegenden im Raume“ charakterisieren kann, die − wie er sagt − stets von einem menschlichen Körper aus geordnet
24. Kunstwissenschaft (Bildkritik) werden (Kant 1960: 991 f.). Diese Orientierung haben sich die Bilder auf verschiedenste Art angeeignet, ihrerseits unterschiedliche „Gegenden“ entworfen, die von Asymmetrien, zum Beispiel zwischen links und rechts, von vorn und hinten etc., beherrscht werden (Pichler 2009; Ubl 2014: 169 f.). Die „flache Tiefe“, die Bilder repräsentieren, erweist sich als multivalent − was man angesichts des überwältigenden historischen Erfolgs der Zentralperspektive nicht vergessen darf. Ein kurzer Blick schon auf die aperspektivischen Welten der modernen Kunst erhellt diesen Umstand.
8. Die Rolle der Temporalität Der Bedeutungsraum des Bildes ist stets temporal besetzt und er erweist sich als anisotrop, als ein Substrat zeitlicher Kräfte und Effekte. Die Kritik an Lessings LaokoonParadigma hat dazu geführt die Rolle der Zeit im Bild neu zu bestimmen. Der Ort an dem und mit dem sie sich entfaltet, lässt sich jetzt als der Bedeutsamkeitsraum der ikonischen Differenz präzisieren. Sie schafft nämlich die Voraussetzung dafür, dass das materielle Bild, träg und starr, wie es ist, zugleich auch den Anschein von Bewegung zu entwerfen vermag, Bewegung aber nicht nur als die Fortbewegung oder die Haltung von Körpern, sondern auch im Sinne affektiver Bewegung bzw. Rührung bzw. jener erwähnten omnipräsenten Veränderlichkeit des Lichtes. Warum ist die ikonische Differenz der Quellpunkt von Temporalität? Schlicht deswegen, weil sie ein unerschöpfliches Potenzial impliziert, das aus zwei konträren, streng genommen unvermittelbaren Realitäten aufgebaut wird, die mit- und gegeneinander arbeiten. Die stetige, ununterbrochene Ganzheit des Kontinuums und die distinkten Formen repräsentieren ganz unterschiedliche ontologische Zustände. Das Bild ordnet ihr Gegen- und Miteinander und verbindet sie zu einer Einheit, sodass das Gegenstrebige als ein Bild angeschaut werden kann. Die ikonische Differenz hat − in einer technischen Metapher gesprochen − die Eigenschaften eines Reaktors, in dem sich Kräfte abstoßen und dadurch einen Fluss von Energien in Gang setzen. Zeit war in der älteren Kunsttradition an Bewegungsmotiven abgelesen worden. So argumentierte auch noch Lessing vor dem Hintergrund theatralischer Aktionen, die er im Laokoon verdichtet sah. Die Zeitanalyse war deshalb für ihn eine Rekonstruktion der inhärenten Geschichte. Die weitere bildgeschichtliche Entwicklung hat aber gelehrt, dass Temporalität nicht nur eine Sache von Figur und Aktion ist, sondern im Grunde jeden Quadratmillimeter der Bildfläche betrifft. Das temporale Potenzial ist wie das ikonische Licht kontinuierlich organisiert − was nun freilich nicht bedeutet, dass es sich nicht auch diskontinuierlich zu mobilisieren vermag. Das wurde spätestens an nichtfigurativen Bildern der Moderne erkannt. Besonders gut an Autoren wie zum Beispiel Mondrian, Pollock oder Rothko. Was sich daran ablesen lässt, gilt aber auch retrospektiv: Wir erkennen heute sehr viel besser auch die temporalen Potenziale der alten Kunst. Diese grundsätzliche Dynamik des ikonischen Systems erscheint als „unbewegter Beweger“, ein Begriff, den Aristoteles freilich auf einen ganz anderen, göttlichen Sachverhalt gemünzt hatte (Stoellger 2008: 183−222). Temporalität betrifft aber nicht nur die Struktur der Bilder, sondern auch die ihrer Realisierung, d. h. der geteilten Aufmerksamkeit, wobei eine gängige Unterscheidung ins Spiel kommt. Schon lange war geläufig, dass sich ein Sehen praktizieren lässt, das sich
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen am Bildlichen Totum orientiert, es zum Beispiel von den Rändern her simultanisiert. Während das Sehen sonst fokussiert, einzelne Distinktionen oder Details fixiert und sukzedierend wahrnimmt. Beide Leistungen kommen im gleichen Sinnesvermögen zusammen, was eine Art inneren Sinn für das Bild annehmen lässt. Die beiden Aspekte der Aufmerksamkeit realisieren sich in nichts anderem als der ikonischen Differenz samt ihrer inhärenten Spannungen.
9. Resümee Der Sinn für das Bild trägt in der deutschsprachigen Tradition den Namen „Einbildungskraft“. Damit verbindet sich eine Neufassung des alten Begriffs der Fantasie bzw. imaginatio. Kant nannte ihn eben Einbildungskraft und verbindet damit aber auch eine strukturelle Veränderung. Er beschrieb Einbildungskraft als konstitutiven Grund jeglicher Erkenntnis, vor allem in seiner Lehre vom Schematismus in der Kritik der reinen Vernunft. Wir hatten bereits angedeutet, dass sich dieses Konzept auf den Kontext des Bildes übertragen und neu fassen lässt: Aus der Mitte der opaken, in sich differenten Materialität heraus schematisieren sich jene Ansichtigkeiten, in denen die Bilder ein Gesicht und einen immateriellen Sinn gewinnen. Dabei spielt Zeit eine fundamentale Rolle, so, wenn Kant vom „inneren Zeitcharakter der transzendentalen Einbildungskraft“ redet (Heidegger 1956: 156). Im Ikonischen steckt aber auch ein kontrafaktisches Potenzial, es bestätigt nicht nur Referenzen, sondern erweist sich als eigenmächtig und souverän, als „bildendes Bild“. Mit ihm lassen sich Wege erkunden, die über den Umkreis des Gewussten weit hinausweisen, in der Kunst, der Wissenschaft und der Philosophie bzw. in der Kultur. Sie ermöglichen, das „Neue“ in die Welt zu bringen, dem „Unwahrscheinlichen“ Existenz zu geben, das Mögliche im Wirklichen freizusetzen. Die Bildkritik beginnt, auch diesbezüglich unser Verständnis zu erweitern, ein verändertes Problembewusstsein zu schaffen. Das spiegelt sich, formelhaft, in der Kunstfigur des homo pictor, durch die die Aufmerksamkeit auf nonverbale Zugänge zur Welt gelenkt wird. Es geht darum, die klassische Priorität des homo loquens zu revidieren, sie umzudeuten. Mehr als je vermutet, verbindet sich die Genese und das Bewusstsein von Humanität mit dem Bildvermögen und der Bildpraxis.
10. Literatur (in Auswahl) Abel, Günter 2005 Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder. In: Stefan Majetschak (Hg.), BildZeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, 13−25. München: Fink. Arbib, Michael A., Aude Billard, Marco Iacoboni und Erhan Oztop 2000 Synthetic Brain Imaging. Grasping, Mirror Neurons and Imitation. In: Neural Networks 13, 975−997. Barner, Wilfred 1990 Kommentar zu Lessing, Laokoon: oder die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe. Bd. 5(2): Werke 1766–1769, hg. v. Wilfried Barner, 665. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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25. Kybernetik
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Wollheim, Richard 1982 Sehen als, sehen-in und bildliche Darstellung. In: ders., Objekte der Kunst, 192−210. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Gottfried Boehm, Basel (Schweiz)
25. Kybernetik 1. Einleitung 2. Die kybernetische Modellierung des Gehirns als Computer 3. Der Mensch als nachrichtentechnisches Wesen: die Kybernetisierung der Sprache 4. Kybernetik und die Transformation des Humanen
5. Das Ende der Kybernetik als Ordnungs-, Deutungs- und Orientierungsinstrument 6. Ausblick 7. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Der Begriff Kybernetik, abgeleitet vom griechischen κυβερνήτης (Steuermann), wurde 1948 von Norbert Wiener in dem gleichnamigen Buch geprägt, um eine Theorie zu bezeichnen, die Methoden der statistischen Mechanik für die Regulierung von Kommunikations- und Kontrollprozessen in Maschinen und lebenden Organismen fruchtbar machen sollte (Wiener 1948). Der epochale Bruch dieses Ansatzes bestand darin, dass er sich nicht mehr − wie noch im Materialismus des 19. Jahrhunderts − auf den Kraftbegriff der Mechanik oder den Energiebegriff der Thermodynamik stützte, sondern auf den Informationsbegriff: „Information is information, not matter or energy“ (Wiener 1948: 155). Mit der Implementierung dieses und ähnlicher Begriffe wie Kontrolle, Steuerung, Rückkopplung, Selbstorganisation oder Nachricht in technische, biologische und auch soziale Systeme gab sich die Kybernetik einen universalistischen Anstrich, der das Versprechen enthielt, eine neue Einheitswissenschaft zu begründen (Bowker 1993), die Mensch, Wissenschaft und Gesellschaft für die Anforderungen des anbrechenden Computerzeitalters nach dem Zweiten Weltkrieg präparieren sollte. Die humanwissenschaftliche Dimension der Kybernetik bestand darin, den Menschen als komplexen Funktionsmechanismus zu verstehen, dessen Verhaltensweisen sich nicht prinzipiell von Maschinen unterschieden. Zwar stand eine solche Engführung seit dem 18. Jahrhundert auf der Tagesordnung von Philosophie und Wissenschaft, doch sind die Voraussetzungen, unter denen die Kybernetik Mensch und Maschine aus derselben Perspektive betrachtete, in Forschungen zu sehen, die seit den 1930er-Jahren in so unterschiedlichen Feldern wie Neurophysiologie, Regelungstechnik, symbolischer Logik, Rechenmaschinen und Kriegswissenschaft stattgefunden hatten. Wiener selbst lieferte in Cybernetics eine kurze Genealogie, mit der er die historische Einordnung der Kybernetik zum Bestandteil derselben erklärte.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
2. Die kybernetische Modellierung des Gehirns als Computer Gemeinsam mit dem Ingenieur Julian Bigelow hatte Wiener im Zweiten Weltkrieg an einem Flugabwehrsystem gearbeitet, das die Bewegungen feindlicher Flugzeuge vorausberechnen sollte und dazu den Feind als Hybrid von Mensch und Maschine konstruierte (Galison 2001). Diese Arbeiten waren ein völliger Fehlschlag, führten aber zu einer neuen Deutung des Teleologie-Begriffs, der besagte, dass zielgerichtetes, absichtsvolles Verhalten bei Maschinen und Organismen das Resultat einer Steuerung durch positive oder negative Feedbackmechanismen sei (Rosenblueth, Wiener and Bigelow 1943). Komplementär zur Theorie des Servomechanismus bei Lenkraketen verstand Wiener den Homöostase-Begriff des Physiologen Walter Cannon, der die adaptiven und selbstregulativen Fähigkeiten des Organismus ins Zentrum der Lebensfunktionen rückte (Cannon 1932). Ein weiteres theoretisches Kernstück der Kybernetik war die zuerst von Alan Turing entwickelte These, dass Maschinen- und Geisteszustände gleichermaßen nach logischen Prinzipien verstanden werden können (Turing 1937). Diese Überlegung aufgreifend, unternahmen Warren McCulloch und Walter Pitts in bahnbrechenden neurophysiologischen Untersuchungen den Versuch, die Vorgänge im Nervensystem als logische Operationen zu kennzeichnen. Dabei charakterisierten sie die neuronale Informationsweitergabe im Sinne der Logik als Konjunktion (Summation von Impulsen in Neuronen), Disjunktion (Alles-oder-nichts-Charakter nervöser Entladung) oder Negation (inhibitorische Neuronen, die entsprechende Impulse aussenden) und nahmen an, dass der Aktivitätszustand einer einzelnen Nervenzelle mit dem simpelsten psychischen Akt korrespondierte (McCulloch and Pitts 1943). Die Vorstellung, dass solche Operationen auch in anderen Strukturen als Nervenzellen realisiert werden konnten, bildete den Gravitationspunkt für das kybernetische Verständnis des Gehirns als Computer. Die außerordentliche Bedeutung, die die Beschäftigung mit dem Gehirn für die Kybernetik hatte, wurde bei den ab 1946 stattfindenden sogenannten Macy-Konferenzen deutlich, die von McCulloch organisiert wurden und zum Aufeinandertreffen ganz verschiedener Denk- und Forschungsansätze führten. Zu den Teilnehmern gehörten Physiker, Mathematiker und Ingenieure wie Wiener, Claude Shannon, John von Neumann und Heinz von Foerster sowie Mediziner, Psychologen, Ökonomen und Anthropologen wie Lawrence Kubie, Grey Walter, Kurt Lewin, Oskar Morgenstern, Margaret Mead und Gregory Bateson (Pias 2003/2004). Bei den dortigen Diskussionen galt das Gehirn nicht länger als Organ, in das Intelligenz und Gefühle, Denken und Triebe an verschiedenen Orten eingeschrieben wurden, sondern als System, das Informationen verarbeitet, kommuniziert und Probleme löst. Es ging nicht mehr um zerebrale Strukturen oder topographische Konstellationen, sondern um dynamische Zustände, Verdrahtungen und Verschaltungen, bei denen es gleichgültig war, ob diese durch organische Substanzen wie Nervenzellen, mechanische oder elektrische, analoge oder digitale Maschinen realisiert wurden (Hagner 2006). Rückblickend auf die Macy-Konferenzen fasste McCulloch zusammen: „Wir betrachteten Turings Universalmaschine als ‚Modell‘ für das Gehirn“ (McCulloch 2003). Dieser cognitive turn weckte Hoffnungen auf den Bau künstlicher Gehirne, was nach Ross Ashby nicht viel mehr als „time and labor“ (Ashby 1948: 382) erforderte. Die kybernetische Fokussierung auf das Gehirn zeigte nicht nur ein genuines Interesse an biologischen Vorgängen − tatsächlich lehnte die damals entstehende Molekularbiologie sich eng an kybernetische Begriffe und Konzepte an (Kay 2000) −, sondern der
25. Kybernetik Organismus wurde auch als eine Art Scharnier verstanden, das zwischen der Welt der Maschinen und der Gesellschaft vermitteln sollte. Die paradigmatische Orientierung an Information und Kommunikation, Steuerung und Selbstorganisation, Nervenfunktionen und Relaisschaltungen, Logik und Symbolverarbeitung hatte Konsequenzen für die Theorien, in denen das Soziale und das Politische durchgearbeitet wurden. Auch wenn Wiener sehr wohl die Schwierigkeiten einer kybernetischen Theorie sozialer Vorgänge und der Gesellschaft sah, ging es ihm darum, die Kybernetik als umfassende Leitwissenschaft des Informationszeitalters zu installieren. Die mathematische Behandlung von Informationsbegriff, Regelvorgängen und Rückkopplungsmechanismen schloss keineswegs aus, dass Kybernetik auch eine Weltvision bedeutete, die auf der Polarität von Ordnung und Unordnung, Kontrolle und Chaos basierte. Für Wiener waren die Destruktionen, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte („the world of Belsen and Hiroshima“, Wiener 1948: 38), die entscheidende Herausforderung, um die Kybernetik zu einer pazifistischen Wissenschaft zu machen, die die Neuordnung der Welt mit hoher moralischer Würde und mathematischer Strenge in Angriff nehmen sollte. Ein solcher normativer Anspruch der Kybernetik war für Wiener darin begründet, dass lernfähige Maschinen und die mit den Prinzipien von Kommunikation, Regulation und Feedback vertrauten Experten gemeinsam in der Lage sind, die politische Ordnung in einer demokratischen Gesellschaft zu gewährleisten.
3. Der Mensch als nachrichtentechnisches Wesen: die Kybernetisierung der Sprache Die Besonderheit von Wieners Anthropologie liegt darin, dass er dem Menschen zwar gegenüber der Maschine keine Sonderstellung mehr einräumt, sehr wohl aber gegenüber dem Tier, und das begründet er mit der Sprache: „What does differentiate man from other animals in a way which leaves us not the slightest degree of doubt, is that he is a talking animal“ (Wiener 1950: 2). Selbst radikale Deprivationen wie Blindheit und Gehörlosigkeit vermögen nichts daran zu ändern, dass Menschen einen Impuls haben, mit anderen zu kommunizieren. Diese Qualifizierung ist kartesianisch, indem sie den Menschen kategorial über das Tier erhebt, zugleich aber auch antikartesianisch, indem Sprachfähigkeit auch den von Menschen hergestellten Maschinen zugebilligt wird. Maschinensprache ist letztlich nichts anderes als die Folge eines „innate interest in coding and decoding, and this seems to be as nearly specifically human as any interest can be“ (Wiener 1950: 95). Das Kommunikationstier Mensch wird damit zu einem Endgerät („terminal machine“), in das alle Kommunikation mündet: „All communication systems terminate in machines, but the ordinary communication systems terminate in the rather special sort of machine known as a human being“ (Wiener 1950: 88). Solcherart als genuin nachrichtentechnisches Wesen begriffen, das verschlüsselt und entschlüsselt, wird der Mensch zum Modell für alle weiteren nachrichtentechnischen Apparaturen, wobei die Formalisierbarkeit von Sprache eine Voraussetzung für ein Denken in Begriffen wie Code und Codierung, Sender und Empfänger, Steuerung und Kontrolle, Übertragung und Rauschen darstellt. In dieser Perspektive sollten die Kommunikationsprozesse zwischen Mensch und Maschine und zwischen Maschinen untereinander studiert werden,
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen was Wiener wiederum als essenzielle Voraussetzung für ein Verständnis der Informationsgesellschaft ansah. Allerdings verleitete die Kybernetisierung der Sprache Wiener nicht dazu, den kritischen bzw. aufklärerischen Aspekt von Sprache aus den Augen zu verlieren. Seine Kritik am amerikanischen Bildungssystem der Nachkriegszeit begründete er sogar mit einem allgemeinen Desinteresse an Sprachen und einer Verkümmerung der literarischen Kultur, die eine gefährliche Selbstgenügsamkeit der amerikanischen Intellektuellen mit sich bringe. Damit schaltete die Kybernetik sich bereits ein Jahrzehnt vor C. P. Snow in die Debatten um die zwei Kulturen der Natur- und der Geisteswissenschaften ein. Wiener identifizierte „two orders of the priests of communication“ (Wiener 1950: 144), die durch eine tiefe Kluft und gegenseitiges Desinteresse voneinander getrennt sind, was letztlich beide außerstande setze, den Herausforderungen des Computerzeitalters angemessen zu begegnen. Gegen diese Art von Elfenbeinmentalität stellte Wiener den Typus des technisch und naturwissenschaftlich ausgebildeten Ingenieurs, der ein aktives Interesse an den anfallenden Problemen der Welt haben und gleichzeitig eine lebhafte Neugierde für Literatur, Musik und Philosophie besitzen sollte, um sich auf dieser Grundlage den anfallenden technologischen, politischen und sozialen Problemen zu stellen (Wiener 1950: 161). Damit wurde eine neue kybernetische persona postuliert, die den Intellektuellen und den Experten miteinander verknüpfte.
4. Kybernetik und die Transformation des Humanen Die breite Streuung solcher Anwendungsoptionen war für die Wissenschafts- und Geistesgeschichte der Nachkriegszeit von eminenter Bedeutung, weil damit Begriffe, Konzepte und Werte bereitgestellt wurden, die dazu beitrugen, das breite und uneinheitliche Feld der Humanwissenschaften neu zu bestellen. Diese „Transformation des Humanen“ (Hagner und Hörl 2008) wurde aus unterschiedlichen Positionen heraus als maßgebliches Moment der neuen Nachkriegsordnung identifiziert, und weil die konzeptuellen, ideologischen, politischen und diskursiven Voraussetzungen, unter denen die Kybernetik adaptiert wurde, so unterschiedlich waren, führte das zwangsläufig zu divergierenden Einschätzungen im Hinblick auf deren Bedeutung für die weitere historische Entwicklung von Mensch und Gesellschaft. In genau dieser Spannbreite ist ein wesentlicher Grund für die historische Wirkmacht der Kybernetik zu sehen. Es war nicht so, dass Techniker, Geistes- und Naturwissenschaftler über die Kybernetik in ein anhaltendes Gespräch miteinander kamen, doch die schiere Möglichkeit, über einen solchen noch zu erweiternden konzeptuellen Werkzeugkasten für die als dringend notwendig erachtete Annäherung der Wissenschaftskulturen zu verfügen, verschaffte der neuen Wissenschaft weit über die USA hinaus ein erhebliches Ansehen. Als die Kybernetik in Deutschland 1950 nicht mehr als ein Begriff war, sprach Gottfried Benn bereits von einer neuen „Schöpfungswissenschaft“, mit der „nahezu alles, was die Menschheit heutigen Tages noch denkt, denken nennt, bereits von Maschinen gedacht werden kann“ (Benn [1949] 1991: 71). Für Max Bense war die Kybernetik eine Metatechnik, die die Welt von innen her ausleuchtet, Zusammenhänge herstellt und Gesetzmäßigkeiten aufstellt, die sich nicht mehr an einem definierten, materiellen Gegenstand oder auch an der Natur orientieren, sondern an einem Modell, das umfassend
25. Kybernetik einsetzbar ist. In dieser Abstrahierung vom Konkreten lag für Bense der universalistische Anspruch der Kybernetik begründet, ließ sich ihre Zuständigkeit für natürliche ebenso wie für soziale Phänomene legitimieren (Bense [1951] 1998). Arnold Gehlen verstand die Kybernetik als „fundamentale menschliche Gesetzlichkeit“, indem sie die Entlastung des Menschen vom physischen Apparat auf das Geistesleben ausdehnt, sodass der geistige Aufwand durch die Technik überflüssig gemacht wird. Ähnlich wie bei Bense rückt auch bei Gehlen der Primat der Episteme neben den der Techne, wenn er der Kybernetik als Wissenschaft höherer Ordnung zutraut, „in den Mittelpunkt der menschlichen Weltauslegung“ zu rücken (Gehlen 1957: 22). Gotthard Günther prognostizierte sogar einen „neu heraufkommenden Typ, der sehr amerikanisch ist“ und „die kommende Ära des Menschen“ prägen sollte (Günther 1980: 226−227). Diese unterschiedlichen anthropologischen Hoffnungen, die mit der Kybernetik verbunden waren, lassen sich − wie bereits im Zusammenhang mit Norbert Wiener angedeutet − als Reaktion auf die Barbarei des Nationalsozialismus verstehen, die ein kategorial neues Verständnis des Menschen geradezu herausgefordert hatte. Anders als die stigmatisierende Anthropologie der Rassen und Typen, die es auf eine strikte Vermessung des Menschen anlegte, ging es nun darum, die Anthropologie als Wissenschaft zu rekonfigurieren, die über ebenso zuverlässige Methoden verfügte wie die Naturwissenschaften. Wiederum bildete die Sprache das Scharnier, um Kybernetik und Humanwissenschaft miteinander zu verbinden. Angeregt durch Roman Jakobson, der kybernetische Modelle der Kommunikation mit der Publikation der maßgeblichen Schriften von Wiener und Shannon in die strukturale Linguistik einzuführen begann (Geoghegan 2011), war auch Claude Lévi-Strauss der Überzeugung, dass nun endlich „eine wirkliche wissenschaftliche Untersuchung [der Sprache möglich werde], die die Art und Weise erklärt, wie sie sich gebildet hat, und bestimmte Modalitäten ihrer weiteren Entwicklung voraussieht“ (Lévi-Strauss 1972: 71; siehe auch Hörl 2004: 31−78). Etwas später skizzierte er unter explizitem Verweis auf Shannons Informationstheorie und Wiener eine „Mathematik vom Menschen“, die den Zusammenhang von Linguistik bzw. Phonetik und Kybernetik auf weitere Bereiche der Anthropologie ausdehnte (Lévi-Strauss 1967) − ein Programm, das in Lévi-Strauss’ Hauptwerk Das wilde Denken von 1962 (Lévi-Strauss 1968) eine eigenwillige Umsetzung erfahren sollte, die sich zwar nicht direkt auf die Kybernetik bezog, aber doch deutlich erkennen ließ, dass er deren Bedeutung auch über die Linguistik hinaus für die Human- und Sozialwissenschaften hoch veranschlagte. Einen anderen Weg wählte Gregory Bateson mit seiner Kommunikationstheorie, in der er komplexe soziale Verhaltensmuster als selbstregulierende Feedbackmechanismen zu beschreiben versuchte und psychiatrische Krankheiten als adaptive Reaktion auf die Spezifität bestimmter sozialer Kommunikationsmuster charakterisierte (Bateson and Ruesch 1951).
5. Das Ende der Kybernetik als Ordnungs-, Deutungsund Orientierungsinstrument Die breite und auch heterogene Diffusion der Kybernetik in Anthropologie, Philosophie, Sozialwissenschaften, Ökonomie, Politikwissenschaften, Ästhetik, Pädagogik oder Linguistik (Hagner und Hörl 2008) bedeutete keineswegs, dass der kybernetische Universalismus allenthalben begrüßt bzw. die Brauchbarkeit kybernetischer Modellbildung in den
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Feldern der Humanwissenschaften überall akzeptiert worden wäre. Für Martin Heidegger lag das epochale Moment der Kybernetik darin, eine „neue, alle Wissenschaften in einem neuen Sinn von Einheit einigende Wissenschaft“ zu bilden, deren „Leitvorstellungen − Information, Steuerung, Rückmeldung −“ einerseits die Philosophie überflüssig machen, weil die Modellbegriffe nun durch die Wissenschaften selbst geformt werden und nur noch eine „technisch-kybernetische Funktion“, nicht aber mehr einen „ontologischen Gehalt“ haben. Andererseits wird das „Verhältnis des heutigen Menschen zur geschichtlichen Überlieferung zusehends in ein bloßes Informationsbedürfnis verwandelt“ (Heidegger [1965] 2000: 622−623). Damit stellte Heidegger in Rechnung, dass die Kybernetik nicht bloß den Begriff des Denkens, sondern auch die menschlichen Erfahrungsweisen grundlegend transformierte. Auch unterhalb der Schwelle umfassender Kulturkritik wurde der universalistische Anspruch der Kybernetik in Zweifel gezogen. Noam Chomsky oder Hubert Dreyfus wandten sich entschieden gegen die Behauptung, dass natürliche Sprachen sich wie informationstheoretische Prozesse verhielten; F. S. C. Northrop richtete an Lévi-Strauss die Frage, ob wirklich alle Kulturen mit einer Mathematik beschrieben werden könnten, die doch selbst ein Produkt westlicher Kultur sei − eine Kritik, die Henri Lefebvre aus marxistischer Perspektive erweiterte (Geoghegan 2011: 121−122). Und während die Kybernetik in der Sowjetunion für einige Zeit als Inbegriff und Hoffnungsträger einer poststalinistischen Entideologisierung und Liberalisierung galt (Gerovitch 2008), geriet ihre Anwendung auf staatliche Verfahrensweisen bei so unterschiedlichen Denkern wie Helmut Schelsky und Herbert Marcuse in den Verdacht, die demokratischen Prinzipien der Gesellschaft zu unterminieren. Gerade aus westdeutscher Nachkriegsperspektive entstand die Sorge, dass die Technokratie die emanzipatorischen Bemühungen der Nachkriegsdemokratie rückgängig zu machen drohte. Die unter dem Stichwort Technokratiedebatte bekannt gewordene Kritik fand ihren Höhepunkt mit dem von Jürgen Habermas erhobenen Vorwurf, die (kybernetische) Technokratie forme, ohne auch nur in Ansätzen verwirklicht zu sein, eine neue Ideologie, die bestimmten Herrschaftsinteressen diene und kommunikatives Handeln stillstelle (Hagner 2008: 65−67). Diese Kritik an der Kybernetik, die in der Zeit der 68er-Generation sich verdichtete, bildete ein wichtiges Moment in der Geschichte von deren Verfall, der sich in den Siebzigerjahren recht schnell vollzog. Die Versöhnung von Mensch und Natur durch die Technik zu erreichen, war in theoretischer Hinsicht ein großer, zukunftsverheißender Anspruch, hatte aber kaum praktische Umsetzungen vorzuweisen. Mit zunehmend bedrohlicherer Umweltverschmutzung und Ressourcenknappheit wurde die Versöhnung von Mensch und Natur gegen die Technik zum Programm, das in den ökologischen Bewegungen seinen Ausdruck fand. In ästhetischer Hinsicht wurden „die Theorien über die kybernetische Erzeugung von Texten von den praktischen Ergebnissen auf diesem Gebiet blamiert wie ein stolzer Vater von seinem minderbemittelten Sohn“ (Enzensberger 1967: 190). Und auch in denjenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die eine besondere Affinität zur Kybernetik hatten, fanden an dieser Affinität nur noch wenige Freude. Computerwissenschaft, Elektrotechnik und angrenzende Gebiete entledigten sich des metawissenschaftlichen Überbaus, ohne die mathematisch-technischen Errungenschaften, die die Kybernetik bereitgestellt hatte, aufzugeben. Auch in der Hirnforschung geriet das kybernetische Instrumentarium an die Grenzen seiner Produktivität und wurde schließlich ganz aufgegeben. Alle gescheiterten Versuche, ein künstliches Gehirn zu bauen, führten die
25. Kybernetik Artificial Intelligence in eine schwere Krise und die Leitidee vom Gehirn als Computer wurde aus den Neuro- und Kognitionswissenschaften verabschiedet.
6. Ausblick Die Zeit der Kybernetik als Ordnungs-, Deutungs- und Orientierungsinstrument war nach ungefähr dreißig Jahren abgelaufen. Dieses Ende ist indes eher als Transformation denn als Untergang zu sehen, denn die Spaltprodukte der Kybernetik lassen sich in verschiedensten wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte entdecken. Diese reichen von der Kybernetik zweiter Ordnung, die den Beobachter mit einbezieht (Foerster 1982), über poststrukturalistische Theorien (Lyotard 1986) bis hin zur feministischen und posthumanistischen Wissenschaftsforschung (Haraway 1991; Hayles 1999). Und schließlich werden auch die emanzipatorischen Momente der Cyberculture, die den Personal Computer und die grenzenlose Beweglichkeit im World Wide Web als Ausdruck individueller Befreiung und Emanzipation ansehen, auf die utopischen Ideale der Sechzigerjahre, die ein spezielles Amalgam aus Kybernetik und Subkultur bildeten, zurückgeführt (Turner 2006; Pickering 2010). Auch wenn die cybertechnologischen Freiheitsfantasien inzwischen erheblich an Attraktivität eingebüßt haben, erweist sich die Kybernetik als historische Wasserscheide, die uns von maßgeblichen Gewissheiten der Moderne trennt. So eindeutige Differenzierungen wie jene zwischen Geist und Gehirn, Natur und Kultur, realer und virtueller Welt oder Mensch und Maschine, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet waren, sind nach der Kybernetik ein für alle Mal zweifelhaft geworden − so zweifelhaft wie die rigorose Trennung zwischen Kultur und Biologie oder Neuro- und Soziolinguistik, wenn es um die theoretische Modellierung der Sprache geht.
7. Literatur (in Auswahl) Ashby, W. Ross 1948 Design for a Brain. In: Electronic Engineering 20, 379−383. Bateson, Gregory and Jurgen Ruesch 1951 Communication: The Social Matrix of Psychiatry. New York: Norton. Benn, Gottfried [1949] 1991 Der Radardenker. In: ders., Sämtliche Werke. Prosa 3, 65−79. Stuttgart: KlettCotta. Bense, Max [1951] 1998 Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine. In: ders., Ausgewählte Schriften: Philosophie der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik. Bd. 2, 429−446. Stuttgart: Metzler. Bowker, Geoff 1993 How to Be Universal: Some Cybernetic Strategies, 1943−70. In: Social Studies of Science 23, 107−127. Cannon, Walter 1932 The Wisdom of the Body. New York: Norton. Enzensberger, Hans Magnus 1967 Anmerkungen der Redaktion. In: Kursbuch 8, 189−191.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Foerster, Heinz von 1982 Observing Systems. Seaside: Intersystems Publications. Peter Galison 2001 Die Ontologie des Feindes. In: Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, 433−485. Frankfurt a. M.: Fischer. Gehlen, Arnold 1957 Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt. Geoghegan, Bernard Dionysius 2011 From Information Theory to French Theory. Jakobson, Lévi-Strauss and the Cybernetic Apparatus. In: Critical Inquiry 38, 96−126. Gerovitch, Slava 2008 Roman Jakobson und die Kybernetisierung der Linguistik in der Sowjetunion. In: Michael Hagner und Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, 229−274. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Günther, Gotthard 1980 Maschine, Seele, Weltgeschichte. In: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Bd. 3, 211−235. Hamburg: Felix Meiner. Hagner, Michael 2006 Bilder der Kybernetik: Diagramm und Anthropologie, Schaltung und Nervensystem. In: ders., Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung, 195− 222. Göttingen: Wallstein. Hagner, Michael 2008 Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft. In: ders. und Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, 38−71. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hagner, Michael und Erich Hörl (Hg.) 2008 Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Haraway, Donna J. 1991 A Cyborg Manifesto. Science, Technology and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. In: id., Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, 149−181. New York: Routledge. Hayles, N. Katherine 1999 How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics. Chicago: University of Chicago Press. Heidegger, Martin [1965] 2000 Zur Frage nach der Bestimmung der Sache des Denkens. In: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910−1976). Gesamtausgabe Bd. 16, 620−633. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Hörl, Erich 2004 Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation. Zürich/Berlin: diaphanes. Kay, Lily E. 2000 Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code. Stanford: Stanford University Press. Lévi-Strauss, Claude 1967 Die Mathematik vom Menschen. In: Kursbuch 8, 176−188. Lévi-Strauss, Claude 1968 Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
26. Kommunikationstheorie
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Lévi-Strauss, Claude 1972 Sprache und Gesellschaft. In: ders., Strukturale Anthropologie, 68−79. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lyotard, Jean Franc¸ois 1986 Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz/Wien: Passagen. McCulloch, Warren S. 2003 Summary of the Points of Agreement Reached in the Previous Nine Conferences on Cybernetics. In: Claus Pias (Hg.), Cybernetics − Kybernetik. The Macy-Conferences 1946−1953. Bd. 1: Protokolle, 723. Zürich/Berlin: diaphanes. McCulloch, Warren S. and Walter Pitts 1943 A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity. In: Bulletin of Mathematical Biophysics 5, 115−133. Pias, Claus (Hg.) 2003/2004 Cybernetics − Kybernetik. The Macy-Conferences 1946−1953. Bd. 1: Protokolle, Bd. 2: Essays & Dokumente. Zürich/Berlin: diaphanes. Pickering, Andrew 2010 The Cybernetic Brain. Sketches of Another Future. Chicago: University of Chicago Press. Rosenblueth, Arturo, Norbert Wiener and Julian Bigelow 1943 Behavior, Purpose and Teleology. In: Philosophy of Science 10, 18−24. Turing, Alan 1937 On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem. In: Proceedings of the London Mathematical Society 2(42), 230−265. Turner, Fred 2006 From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism. Chicago: University of Chicago Press. Wiener, Norbert 1948 Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. New York/ Paris: Wiley and Hermann et Cie. Wiener, Norbert 1950 The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society. Boston: Houghton Mifflin.
Michael Hagner, Zürich (Schweiz)
26. Kommunikationstheorie 1. Grundlagentheoretische Überlegungen 2. Kommunikation 3. Sprache als Handlung und Zeichen
4. Materialität und Bedeutung 5. Sprache als Praxis 6. Literatur (in Auswahl)
1. Grundlagentheoretische Überlegungen Kommunikationstheorie untersucht den Zusammenhang zwischen Kommunikation, Sprache, Kultur und Medien. Dabei spielen sowohl erkenntnistheoretische als auch kommuni-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen kationspraktische Probleme eine wichtige Rolle. Beginnen wir mit einigen grundlagentheoretischen Überlegungen. In systemtheoretischen wie konstruktivistischen Denkansätzen hat sich die Auffassung durchgesetzt, Beobachten (qua Einheit von Unterscheidung und Benennung) als Grundoperation zu betrachten. Um unterscheiden zu können, ist folgende Voraussetzung anzunehmen: Die Mitglieder einer Gesellschaft operieren im Rahmen eines Sinnhorizontes, der durch ein Netzwerk von Kategorien aufgespannt ist. Kategorien spezifizieren Sinndimensionen wie z. B. Alter, Geschlecht, Nahrung und Kleidung, Normen, Emotionen usw. Diese abstrakten Sinndimensionen können in unterschiedlicher Weise semantisch ausdifferenziert werden, also z. B. Alter in jung/alt, Emotionen in Angst, Wut, Trauer, Freude usw., Geschlecht in männlich/weiblich usw. Konkrete Beobachtungen bzw. Unterscheidungen beziehen sich dann auf jeweils eine Seite der semantischen Differenzierungen. Dabei spielen Benennungen, die Sprachen zur Verfügung stellen, eine wichtige Rolle, und zwar in zwei Hinsichten: Sprachen liefern die symbolisch-semantischen Ordnungen für Kategorien und semantische Differenzierungen und sie stellen mündlich wie schriftlich semiotische Materialitäten zur Verfügung, die in der Kommunikation verwendet werden können, um als strukturierte und konventionalisierte Anlässe für kognitive Operationen zu dienen. In der Kommunikation werden ja nicht etwa Gedanken, Bedeutungen und Informationen ausgetauscht, sondern geordnete Ketten semiotischer Materialitäten, die dann in kognitiven Prozessen in aktantenspezifische Gedanken, Bedeutungen und Informationen verwandelt werden können. Die semiotischen Materialitäten (Zeichen im weiteren Sinn) beziehen sich dabei − von Eigennamen abgesehen − nicht auf konkrete außersprachliche Referenten, sondern auf Erfahrungen im bisher gemachten Umgang mit solchen Zeichen. Die Einheit der Differenz von Kategorien, semantischen Differenzierungen und Unterscheidungen kann als Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft bezeichnet werden, wobei Modell als Modell für und nicht als Modell von verstanden wird. Ein Wirklichkeitsmodell wird inhaltlich bestimmt als das aus Handeln jeder Art hervorgegangene, durch Handlungserfahrungen systematisierte und durch Erfolg bestätigte kollektive Wissen der Mitglieder einer Gesellschaft über „ihre Welt“. Kollektives Wissen wird dabei nicht als Entität jenseits von Aktanten, sondern wiederum als Prozessresultat (= operative Fiktion) verstanden. Ein Wirklichkeitsmodell etabliert sich durch sozial-reflexive Bezugnahmen von Aktanten im Handeln und Kommunizieren und verfestigt sich als symbolisch-semantische Ordnung durch Sprache, die Benennungskonstanz und Benennungsschematisierung von Kategorien und semantischen Differenzierungen für alle Gesellschaftsmitglieder ermöglicht, indem sie konkrete und dauerhafte Bezugnahmen in Gestalt semiotischer Materialitäten kollektiv stabilisiert. Wirklichkeitsmodelle systematisieren für alle Gesellschaftsmitglieder den Umgang mit allen für lebenspraktisch wichtig gehaltenen Handlungs- und Bezugnahmebereichen in gesellschaftlichen Interaktionen, und zwar vor allem mit Umwelten und allen darin wichtigen Ressourcen und Gegebenheiten; mit Aktanten in der Umwelt, die als Handlungspartner welcher Art auch immer eine Rolle spielen; mit Vergesellschaftungsformen (Institutionen, Organisationen), also mit allen sozial geregelten Handlungsmöglichkeiten bzw. Handlungsbeschränkungen, die Aktanten akzeptieren bzw. erdulden; mit Gefühlen, deren Stellenwert, Ausdrucksformen, Ansprüchen und Einschränkungen sowie mit moralischen Orientierungen (Werten), die vorausgesetzt, erwartet, zugelassen oder verboten sind.
26. Kommunikationstheorie Dieses statische Orientierungsmodell muss für konkrete Bezugnahmen dynamisiert werden. Das Programm der gesellschaftlich praktizierten bzw. erwarteten Bezugnahmen auf die Kategorien und semantischen Differenzierungen eines Wirklichkeitsmodells, das die Möglichkeiten der Relationierung von Kategorien und Differenzierungen bestimmt und diese Relationierungen emotional besetzt und moralisch gewichtet, kann als Kulturprogramm oder kurz Kultur bezeichnet werden. Ob z. B. in einer Gesellschaft Alter mit Weisheit und Autorität oder mit Krankheit, Überflüssigkeit und teurer Pflegeversicherung relationiert, empfunden und bewertet wird, das regelt das Kulturprogramm. Die Unterschiede zwischen Gesellschaften liegen weniger in deren Wirklichkeitsmodellen als in ihren Kulturprogrammen. Der Wirkungszusammenhang von Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm kann als Problemlösungszusammenhang einer Gesellschaft bestimmt werden. Er sorgt durch die ständige eigene und bei allen anderen unterstellte Bezugnahme von allen Gesellschaftsmitgliedern dafür, dass die Sinnorientierungen der kognitiv autonomen Aktanten so hinreichend kompatibel sind, dass erfolgreiche Sozialität ermöglicht wird. Die Einheit der Differenz von Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm konstituiert das, was wir Gesellschaft nennen. Die wichtigste Aufgabe dieses Wirkungszusammenhangs besteht darin, die Kontingenz der Problemlösungen von Aktanten und Gesellschaften zu invisibilisieren, ständige Rückfragen zu unterbrechen und damit Evidenz und Handlungssicherheit zu gewährleisten.
2. Kommunikation Kommunikationsprozesse können zu Systemen aggregiert werden, also Prozesssysteme bilden. Prozesssysteme können unter zwei Aspekten beobachtet werden, und zwar einmal unter dem Aspekt des Vollzugs, Ablaufs bzw. der Handlungen, zum anderen unter dem Aspekt der Sinnorientierungen (Wissen, Schemata) des Handelns bzw. des Prozessablaufs. Während diese Voraussetzungen als implizite und in der Regel nicht bewusste Kontrollparameter in den Aktanten wirksam werden und deren individuelle in soziale Praxis transformieren, haben Gesellschaften noch andere Kontroll- bzw. Orientierungsinstrumente entwickelt, die vorwiegend bewusst wirken. Diese Instrumente kann man drei Typen zuordnen: hierarchische (Religion, Recht), heterarchische (gemeinsames Monitoring jeder Art, Märkte jeder Art) und schematische (Konformitätsmuster, Habitus sensu Pierre Bourdieu; vgl. Artikel 13). Sie wirken von lokalen bis zu globalen Ebenen. Von Menschen getragene Prozesse werden in sinnvoll schematisierten Zusammenhängen vollzogen. Dabei kann unterschieden werden zwischen Geschichten als sich selbst organisierenden Sinnzusammenhängen der Handlungen eines Aktanten und Diskursen als sich selbst organisierenden Kommunikationszusammenhängen, die thematisch und formal stark schematisiert sind. Geschichten und Diskurse synthetisieren Handlungen und Kommunikationen durch Bezug auf die Orientierungsleistungen von Wirklichkeitsmodellen und Kulturprogrammen zu persönlich erlebten Sinnzusammenhängen. Die Komponenten von Geschichten und Diskursen können als Handlungskommunikationen bzw. als Kommunikationshandlungen bestimmt werden, wobei die Begriffsdopplung darauf hinweisen soll, dass es sich in beiden Fällen um sinnbildende Prozesse handelt, die
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen unter den Aspekten Prozess und Sinnorientierung beobachtet und beschrieben werden können. Wirklichkeitsmodelle und Kulturprogramme, Geschichten und Diskurse sowie Handlungskommunikationen und Kommunikationshandlungen bilden eine Einbettungshierarchie, deren Zusammenwirken im Agieren von Aktanten die Aufgabe bewältigt, kognitive Autonomie und soziale Orientierung erfolgreich miteinander zu vermitteln. Die Grundlage für alle Arten von Kommunikation bildet die Reflexivität von Wahrnehmen und Wissen. Im Vollzug des Aufbaus dieser Reflexivität bilden sich bei den Kommunikationspartnern Erwartungen an das Wissen und Annahmen über Motive und Intentionen des Handelns von Alter heraus, die als Erwartungserwartungen und Unterstellungsunterstellungen bezeichnet werden können. Diese reflexiven Strukturen wirken wie operative Fiktionen, die zwar nicht empirisch überprüft bzw. beobachtet werden können, aber durch ihre reflexive Attribution erfolgreiches soziales Handeln individueller Aktanten ermöglichen.
3. Sprache als Handlung und Zeichen Kommunikation wird wesentlich weiterentwickelt durch die Entstehung und Verwendung von Sprache, die symbolisches Handeln erlaubt, und zwar in der Sozial-, Sachund Zeitdimension. Dieses Handeln wird dann sozusagen verdoppelt durch die Entwicklung der Negation, die ein Zurückweisen von Meinungen bzw. von Behauptungen sowie eine Korrektur von Voraussetzungen ermöglicht und damit für jede sprachliche Kommunikationsmöglichkeit eine positive wie eine negative Version zulässt. Diese Weiterentwicklungen von Kommunikationsmöglichkeiten durch Sprache und Negation vervielfachen die Komplexität von Kommunikation, aber auch die Möglichkeiten der Be- bzw. Verarbeitung von Komplexität. Kommunikation reagiert als Prozess selektiv auf Selektionen, d. h., sie ist notwendigerweise kontingent. Diese Kontingenz wird noch dadurch verstärkt, dass sich Kommunikation selektionsverstärkend auf sich selbst beziehen kann (= Metakommunikation). Wenn Kommunikation auf der Grundlage sozialisatorisch erzeugter operativer Fiktionen in den Bereichen Wissen und Meinen operiert, dann kann Reflexivität als der Grundmechanismus kommunikativer Ordnungsbildung angesehen werden. Dabei resultiert die Selbstorganisation aus dem gemeinsamen Bezug aller Aktanten auf gesellschaftlich erzeugtes Wissen soziokultureller Art, das als kollektives Wissen die Voraussetzung jeder Setzung bildet und durch die Bezugnahme bestätigt und verstetigt wird, wodurch die Kontingenz allen Handelns invisibilisiert wird. Die Selbstorganisation der Ordnungsbildung lässt sich auf allen Ebenen sprachlicher bzw. medienvermittelter Kommunikation beobachten. In lokalen Kommunikationsprozessen vom Small Talk über Vorstellungs- und Prüfungsgespräche bis zum Familiengespräch am Mittagstisch gibt es feste Routinen, wie und über welche Themen geredet wird und wie die Gesprächsanteile normalerweise verteilt sind. Überlokale Kommunikationsprozesse, also Diskurse, sind thematisch geordnet (wissenschaftliche, politische, religiöse usw. Diskurse) und bis hin zur erwarteten Wahl von Satztypen, Textsorten und Metaphoriken formal bestimmt. Durch diese als Erwartungserwartungen wirksamen Bestimmungen wirken Diskurse hochgradig selektiv in Bezug auf thematisch und formal
26. Kommunikationstheorie zulässige und erfolgreiche Beiträge (und Beiträger) zum jeweiligen Diskurs. Mit anderen Worten: Diskurse organisieren sich selbst über die Reflexivität sinnorientierten Handelns der Aktanten. Im Licht dieser Überlegungen wird die Auffassung plausibel, dass Sprache in erster Linie ein Kommunikationsinstrument und nicht ein Zeichensystem ist. Erst und nur durch Verwendung/Gebrauch in sozialen Kommunikationsprozessen wird Sprache semantisch und pragmatisch relevant. Dabei können zwei Aspekte voneinander unterschieden werden: das Gelingen einer Textbildung und der Erfolg einer kommunikativen Sprechhandlung. Die Annahme, dass Sprechen zuerst Handeln durch Sprache und erst dann eine Angelegenheit von Zeichen ist, kann sich auf folgende Überlegungen berufen. Gesprochen wird in einer Handlungs- und Sprachgemeinschaft zum Zweck der gemeinschaftlichen Lebensbewältigung. Ludwig Wittgenstein spricht in diesem Zusammenhang von Sprachspielen, die in gemeinsamen Lebensformen vollzogen werden. Ich (Schmidt 1973) habe vorgeschlagen, von kommunikativen Handlungsspielen zu sprechen, um den Aspekt der Einbettung des Sprechens in Handlungs- und Kommunikationsprozesse stark zu machen. Die Gesamtheit der kommunikativen Handlungsspiele konstituiert eine Gesellschaft als Kommunikationsgesellschaft. Kommunikative Handlungsspiele schaffen für die Kommunikationspartner einen gemeinsamen „universe of dicourse“ (sensu John Lyons) als die allen zugängliche Referenz- bzw. Korrelatebene bzw. als den gemeinsamen „Raum“, in dem über die Referenz und Relevanz sprachlicher Handlungen entschieden wird. Sprache kann unter zwei Aspekten als soziale Gestalt bestimmt werden: als Sprechhandlungsprozess in der Kommunikation und als „Ausdrucksgestalt“ (sensu Helmuth Feilke 1994). Diese im Alltag erfahrene Einheit ist primär, die Zeichenfunktion sekundär. Das heißt, es ist plausibel, vom (primär dualistischen) Aspekt der Referenz auf den (eher holistisch-prozessorientierten) Aspekt der Kooperation umzustellen. Das semiotische (akustische oder graphemische) Material, das wir in Kommunikationsprozessen nutzen, lässt sich (wie man seit Charles Sanders Peirce weiß) in verschiedene Zeichenklassen einteilen, die keineswegs alle eine Referenzfunktion besitzen bzw. erfüllen. Bei solchen, bei denen Referenz im Sinne eines Bezugs auf „Außersprachliches“ im weiteren Sinn unterstellt wird, ist zu fragen, worauf sich solche Zeichen beziehen bzw. was sie repräsentieren. Eine sinnvolle Antwort kann lauten: Sie beziehen sich nicht auf Objekte in einem sprach- und sprecherunabhängigen Raum, sondern sie „verkörpern“ Wissen, das wir in unseren Beziehungen zu {Objekten − für − uns} erworben und erprobt haben. Vieles von diesem Wissen ist gesellschaftlich verbindliches Wissen, das im Lauf der Sozialisation vom Individuum übernommen worden ist und das im Sinne von operativen Fiktionen als kollektives Sprecherwissen unterstellt wird − nur im Vertrauen auf diese operative Fiktion ist Kommunikation überhaupt möglich. Zu diesem Wissen kommen bei jedem Kommunikationsteilnehmer zu Wissen kondensierte persönliche Erfahrungen und Erlebnisse hinzu, die meist stark emotional besetzt sind. Die Zeichenrelation kann daher als Relation der Rückbezüglichkeit bzw. der Selbstreferenz in der Kommunikation bestimmt werden. Von Referenz im traditionellen Sinne kann man streng genommen nur bei Eigennamen sprechen, mit denen ein singuläres Objekt benannt („getauft“) wird. Robert B. Brandom ([2000] 2001) hat darauf verwiesen, dass Aussagen eine Form von Praxis bilden, die begründet werden und der zugestimmt werden muss. Aussagen sind mit Motivationen verbundene Handlungen, die Gefühle und Bewertungen inkludie-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen ren. Propositionen sollten nicht als isolierte Gegebenheiten beschrieben werden, sondern in ihrer Einbettung in Praxen des Aussagens, Behauptens usw., die durchaus an den Leib und die Performanz der Kommunikationsteilnehmer gebunden sind. Der Gehalt von Begriffen wird durch Akte des Behauptens, Beurteilens und Überzeugtseins erläutert, nicht umgekehrt. Aus-Sagen und Be-Haupten sind motivierte Handlungen, die unternommen werden, um Zwecke zu erreichen, also um einen Status quo aufrechtzuerhalten oder eine Veränderung herbeizuführen. Diese Handlungen sind auf Zustimmung ausgerichtet, müssen also die Kommunikationspartner ernst nehmen und selbst authentisch vollzogen werden, um von anderen ernst genommen werden zu können. Aussagen müssen bei Widersprüchen begründet bzw. gerechtfertigt werden, d. h., sie sind „Züge in Praxen“. Bedeutungen von Wörtern werden streng genommen nicht erlernt, sondern aus einer gelingenden Sprechpraxis übernommen. Mit anderen Worten: Wir gehen als Sprecher einer Sprache von Bedeutungen aus, statt unsere Aufmerksamkeit auf sie zu richten. Oder mit Philipp Wegeners Worten: „Ein Wort muß man nicht >verstehenPraktik< sei ein Tun verstanden, das − im weitesten Sinne − an Körper gebunden ist. Für die Ausübung von Praktiken ist kein Wissen-Daß, sondern ein Wissen-Wie, ein durch Einübung erworbenes Können notwendig. […] Wir haben auch keinen Zugang zur sprachli-
26. Kommunikationstheorie chen oder kommunikativen Kompetenz − außer über die sprachliche Performanz: in der jedoch tritt Sprache auf als verkörperte Sprache“ (Krämer 2001: 270).
5. Sprache als Praxis Der hier angeregte Wechsel der Beobachterperspektive hat erkenntnistheoretische Konsequenzen, die sich direkt auf den Wirklichkeitsdiskurs auswirken. Nimmt man Abschied von der Vorstellung, Sprache sei primär ein Zeichensystem, dann beobachtet man Sprache als systematisch geordnete Menge von Instrumenten, die in der Kommunikation gebraucht werden können. Diese Instrumente werden als Instrumente im Gebrauch in der Sozialisation handelnd so erlernt, eingeübt und praktiziert, dass man als kompetenter Sprecher einer Sprache weiß, wie die Bandbreite des Umgangs mit diesen Instrumenten ist. Erst dann kann man auch Sprachspiele des Typs „Definiere die Bedeutung eines Wortes!“ spielen, weil man weiß, wie Sprachspiele in bestimmten Situationen für bestimmte Zwecke funktionieren. Diese alltagserprobte Sicherheit bildet die Grundlage für gelingende Kommunikation zwischen Partnern, die sich gegenseitig nicht in die Köpfe sehen, sondern nur miteinander reden können. Dadurch, dass Gesellschaften ihr Wissen und ihre kulturellen Praxen in Kommunikationsinstrumenten „verkörpern“, schaffen sie ein wichtiges Instrument, um Kontingenz zu bearbeiten, und zwar im Sinne einer Invisibilisierung, nicht etwa im Sinne einer Überwindung von Kontingenz. Dieses Manöver klappt keineswegs in jedem Fall, wie jeder Sprecher aus zahlreichen Kommunikationsprozessen weiß. Gleichwohl bildet das Vertrauen in die prinzipielle Vergleichbarkeit von Sprachverwendungen die riskante Basis für erfolgreiche Sprachverwendungen. Verabschiedet man sich von Zeichenmodellen von Sprache, d. h. von Modellen, die mit einem Zeichendiesseits und einem Zeichenjenseits arbeiten, dann macht die Redeweise Sinn, dass Gegenstände der Kommunikation Gegenstände der Kommunikation sind. Kommunikationsinstrumente formatieren gewissermaßen unsere (wie auch immer gewonnenen) Beziehungen zu Resultaten vorausgegangener Kommunikationsprozesse und eröffnen damit die Selbstreferenzialität von Kommunikation. Sprachliche Kommunikationsinstrumente lassen sich plausibel bestimmen als selbstreferenziell, nicht als objektreferenziell. Damit ist die traditionelle Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit aufgelöst und abgelöst durch eine Beschreibung der Sprache als Strukturbildung aus der Praxis für die Praxis (Feilke 1996: II).
6. Literatur (in Auswahl) Brandom, Robert B. [2000] 2001 Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Feilke, Helmuth 1994 Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Feilke, Helmuth 1996 Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Krämer, Sybille 2001 Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schmidt, Siegfried J. 1973 Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation. München: Fink.
Siegfried J. Schmidt, Münster (Deutschland)
27. Medienwissenschaft/Medientheorien 1. Begriffe 2. Mediologie 3. Zur Geschichte der neueren Medientheorie
4. Medialität der Sprache 5. Literatur (in Auswahl)
1. Begriffe Medienwissenschaft als eigenständige Disziplin im kulturwissenschaftlichen Fächerkanon begann Mitte der 1980er-Jahre, die Genese und Geltung ihrer Grundbegriffe zu rekonstruieren. Wissenschaftshistorisch betrachtet, verdankt sich die epistemologische Reflexion dessen, was die Medialität der Medien ausmacht, dem ubiquitären Siegeszug des Computers als universellen Mediums der Medienintegration vormaliger Einzelmedien (Münker und Roesler 2008). Die Neubestimmung eines allgemeinen Begriffs des Mediums vollzog sich in der medienkulturwissenschaftlichen Forschung, schrittweise und heuristisch sich vortastend, in einer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion der durchaus unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „Medium“, die sich ihrerseits mit dem Medien-und Kulturwandel seit der Antike selbst korrelieren lassen (Hoffmann 2002; Schulte-Sasse 2000: 1−28; Tholen 2005: 150−172). Doch der gemeinsame Nenner in diesem facettenreichen Bedeutungsspektrum besteht in der Denkfigur eines Dazwischen, dessen Konnotationen für die Episteme der Medienwissenschaft zentral sind: „Medium“ (lat.), abgeleitet von „Meson“ (gr.), bezeichnet das in der „Mitte“ Befindliche oder Liegende, darüber hinaus „Mittel“, „Mittler“, „Vermittlung“, aber auch „Zwischenraum“, „Gemeinwohl“ und „Öffentlichkeit“. Die kategoriale Bedeutung dieses Dazwischenliegens oder Dazwischenkommens, die schon im aristotelischen Begriff der „Metaxy“ (Hagen 2008: 13−29) als dem paradoxalen Wechselspiel von Durchsichtigkeit und Undurchsichtigkeit zur Sprache kommt, definiert die Medialität der Medien als eine ontologisch unscharfe Distanznahme, als einen raumzeitlich unmarkierbaren Abstand. Insofern umschreibt der Begriff „Medium“ den Ort eines tertium datur, das, epistemologisch betrachtet, zwei divergierende Lesarten oder Begriffsbestimmungen generiert hat, an denen sich
27. Medienwissenschaft/Medientheorien die komplementären bzw. genauer: supplementären Disziplinen Kommunikationswissenschaft und Medienwissenschaft unterscheiden lassen: „Medium“, verstanden als neutrales „Mittel“ oder Werkzeug für die Übertragung und Weitergabe von Botschaften und Informationen oder als Kanal zwischen Sender und Empfänger, ist der maßgebliche Fokus der Kommunikationswissenschaft, insofern diese gemäß eines immer schon instrumentell vorentschiedenen Modells der Zweckdienlichkeit der Medien nach den gesellschaftlich relevanten bzw. normierten Informationen und Kommunikationen fragt. Der Begriff „Medium“ bezeichnet im kommunikationswissenschaftlichen Dispositiv folglich die „technischen Mittel, die für die Massenkommunikation notwendig sind“ (Schulz 1971: 96). Diese − sit venia verbo − schwache Bedeutungsvariante von Medium als Mittel wurde spätestens seit der Philosophie des Idealismus bzw. im Spannungsfeld von Aufklärung und Romantik (Hegel, Herder, Novalis, Schleiermacher u. a.) dank einer starken Bedeutungsvariante anders gewichtet: Medium, verstanden als „Mittler“ oder „Vermittlung“, fokussiert die Medialität der Medien jenseits der Mittel-Zweck-Funktionen, die den kategorialen Horizont von der Publizistik über die Massenkommunikationsforschung bis zur allgemeinen Systemtheorie eingrenzt. Vermittelnde Dazwischenkunft der Medien meint die konstitutive Rolle der Kulturtechniken in der prozessualen Stiftung von Medientechniken, Sinnwelten und Symbolsystemen. Medienwissenschaft untersucht die kulturelle Prägekraft und je epochenspezifische Art und Weise, wie Medien Daten und Informationen, Weltbilder und Phantasmen, speichern, übertragen und konfigurieren. Die Kernthesen der Medientheorien, gleichviel, ob sie eher diskursanalytisch, dekonstruktiv, metapsychologisch oder systemtheoretisch ausgerichtet sind, umschreiben die Zäsur der sowohl trennenden wir verbindenden Medien wie folgt: Was in Medien erscheint, sind andere Medien. Medien sind Weltzugänge, die allererst etwas gegeben sein lassen. Medien sind mithin Unterscheidungen, die jedoch die Beobachtungen, die sie selbst machen, nicht beobachten. Das Mediale ist also der übersehene blinde Fleck, in den Massenmedien nicht weniger als in den medialen Experimentalsystemen der Naturwissenschaft, innerhalb derer − beispielsweise − bildgebende Verfahren selektive Gegenstandfelder konfigurieren (Rheinberger, Wahrig-Schmidt und Hagner 1997), ohne die Blickregime, denen sie sich verdanken, eigens zu thematisieren. Diskursprägende Medien werden hiermit als Rahmen und Dispositiv, als Ausschnitt und Einschnitt des Sagbaren, Sichtbaren, Hörbaren, zum vornehmlichen Untersuchungsgegenstand (Schade und Wenk 2001; Borer, Sieber und Tholen 2011). In medienästhetischer Perspektive, die sich besonders im performativen Kontext multimedial operierender Künste und Installationen herauskristallisiert hat, wird die genuin intermediale bzw. transmediale Form (u. a. Krämer 1998, 2003; Paech und Schröter 2008; Blättler et al. 2010) des fragmentarisierenden Erzählens und Darstellens thematisch. Medialität wird hier verstanden als Möglichkeitsraum von Formbildungen, die ihrerseits einer postdramatischen „Ästhetik des Risikos“ (Lehmann 1999) ausgesetzt werden.
2. Mediologie Diese mediologische Perspektive (Debray 2003) verschiebt und erweitert also die Fragestellung der Medienforschung erheblich und bedeutet zugleich eine epistemologische Neubestimmung des Verhältnisses von Kulturtechniken und symbolischen Formen. Das
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen tertium datur der Medialität, die sich als Denkfigur eines sich selbst entzogenen Dazwischen bereits im terminus medius als Mittelglied des aristotelischen Syllogismus wie in der hegelschen Bestimmung der reflektierenden Methode des Erkennens (Bahr 1999: 50−68) zu Wort gemeldet hatte, konturiert in der zeitgenössischen Medienwissenschaft einen technik- wie zeichentheoretisch innovativen Rahmen der Begriffsbildung. Der erste Aspekt dieses Paradigmenwechsels betrifft die medienhistorische Perspektive: Gerade, weil der jeweilige „Vollzug des Mediums“ sich als „sein Entzug“ (Mersch 2005: 14−22, 2006; Tholen 2002) realisiert, ist es möglich, die stets intermedial operierenden Medienumbrüche im Feld der unabschließbaren, Zweck-Mittel-Relationen sowohl eröffnenden wie verschiebenden Basismedien (Sprache und Schrift, Text-, Bild- und Tonmedien) verorten zu können. Ähnliches gilt für die Analyse der gestaltwechselnden, medienvermittelten Figuren sozialer Intersubjektivität, die ohne dieses dazwischentretende, ans sich selbst gestaltlose „Inter“ (Krämer 2008: 77) keine neuen Figuren der Subjektivität im imaginären Spannungswechsel von Vorbildern und Selbstbildern herausbilden könnte. Der zweite Aspekt betrifft die Wahlverwandtschaft von Zeichen- und Techniktheorien, die innerhalb der Medienwissenschaft freilich erst ansatzweise bestimmt worden ist: Die Techné der Medien − verstanden als dazwischentretende und sich zugleich verstellende List der Technik (Bahr 1983; Gamm 1998: 95; Lenger 2001; Gamm und Hetzel 2005; Ramming 2008: 249−271) − prozediert in der Medienentwicklung vom Analogen zum Digitalen in zunehmend augenscheinlicher Weise so, dass die Kulturtechniken selbst (fern ihrer bisherigen anthropologisch wie instrumentell eng geführten Bestimmungen) in ihrer allgemeinen Form der Verschiebbarkeit, Reproduzierbarkeit und Übersetzbarkeit lesbar werden − als wirkmächtige Effekte einer noch genauer zu bestimmenden Intelligibilität oder Einbildungskraft des Medialen. Dieses hier skizzierte epistemische Konzept der Medienwissenschaft wurde als Paradigma in den Kultur- und Medienwissenschaften in den 1980er-Jahren zum dominanten Konzept (Schanze 2002) erst in der medienhistorischen Phase der beginnenden Digitalisierung, d. h. mit der dem Computer als universellem Medium der Medienintegration sich verdankenden Vergleichzeitigung ungleichzeitiger Ton-, Text- und Bildmedien. Von dieser medialen Zäsur als „Signatur des gegenwärtigen Zeitalters“ (Schanze 2001: 1) ausgehend, wurde und wird der umfangslogisch weit gespannte Fragehorizont der Mediengeschichte neu ausgelotet: Medienumbrüche und Medienevolutionen wurden zum transdisziplinären „Grabungsfeld“ (Debray 2003: 18), das den Spannungsbogen von Kulturtechniken, Erkenntnisformen und Wahrnehmungsweisen untersucht, von den oralen, skripturalen und typographischen Kulturen über die klassischen Leitmedien (wie Zeitung und Buch, Radio und Fernsehen) bis hin zum Medienverbund auf elektronisch-digitaler Basis. Die Archäologie des Wissens (Foucault 1973; vgl. Artikel 12), die sich nicht mehr nur als textbasierte Ideen- und Geistesgeschichte versteht, untersucht die Medientechniken als jeweils historisches, dem Schema der Kontinuität sich entziehendes Apriori von Dispositiven, die ihrerseits wiederum nur als Matrix von Aussagefeldern und Aufschreibesystemen (Kittler 1989) lesbar werden, in denen technische Artefakte diskursprägend und zugleich dem Wechselspiel von pragmatischer Verwendung und dekonstruktiver Entwendung ausgesetzt sind.
27. Medienwissenschaft/Medientheorien
3. Zur Geschichte der neueren Medientheorie Die Geschichte der neueren, allgemeinen Medientheorie, deren Geltungsanspruch denjenigen der speziellen Medientheorien (Leschke 2003), seien es die der Schriftmedien oder audiovisuellen Medien, zu übersteigen versucht und den intrinsischen Zusammenhang von „Technology“ und „Culture“ zu bestimmen versucht, lässt sich gewiss mit dem Werk Marshall McLuhans (und dessen kulturhistorischen Vorläufern wie den Studien u. a. von Eric A. Havelock [1982], Walter J. Ong [1987] und Harold A. Innis [1972]) beginnen, und zwar deshalb, weil sich, wie das vielschichtige „Re-Reading“ (Kerckhove, Leeker und Schmidt 2008) der beiden Hauptwerke McLuhans ([1964] 1994, [1962] 1995) gezeigt hat, der Fragehorizont nach der Eigensinnigkeit medialer Welterschließung zunächst an den Aporien und Grenzen der Medienanthropologie herausgebildet hat. Die List der Techné, die sich in den Medientechnologien seit alters eingeschrieben hat, als Extensions of Man zu bestimmen, oszilliert bei McLuhan in kategorialer Hinsicht zwischen Technikeuphorie (Technik als Erweiterung des Körpers bzw. der Organe des Menschen) und Verlustrhetorik (Technik als Amputation). Zugleich aber überwindet McLuhan die gleichermaßen anthropologisch wie instrumentell reduzierte These, dass das Technische nur in der zirkulären Annahme als Organersatz oder Proprium des Menschen zu begreifen sei, indem er, diskursanalytisch und dekonstruktiv avant la lettre, in seiner Argumentation vor allem die Verschiebungen und Veränderungen des „Maßstabs, Tempos oder Schemas“ (McLuhan 1994: 22−23) beschreibt, in denen der Mensch durch die Technik herausgefordert wird. Nur so lässt sich McLuhans antihermeneutisches Doppelargument, dass zum einen das Medium und nicht die jeweils übertragenen Botschaft oder Sinnwelten die Botschaft sei, weil es nämlich das „Ausmaß und die Form des menschlichen Zusammenlebens“ (McLuhan 1994: 23−24) gestalte und steuere, und dass zum anderen der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium sei, als Basistheorem einer systematisch wie historisch operierenden Medientheorie bezeichnen. Mit und seit McLuhan geht es in der Medienforschung also vorrangig um die Reflexion und Analyse nicht-essenzialistischer, relationaler und differenzieller Beziehungen von Mensch, Medium und Maschine, mithin um ein Theorieparadigma, das sich weder vitalistisch noch mechanistisch orientieren kann und will. Von den Basistheoremen McLuhans ausgehend, beginnt zeitgenössische Medientheorie den Kanon ihrer Begriffsbestimmungen herauszubilden mit der erkenntnisleitenden Frage nach dem kategorialen Ort des digitalen Mediums, dem zufolge es möglich wird, nicht nur die Konfigurationen zwischen alten und neuen Medien zu verorten, sondern mit und an ihnen das negative Prinzip eines raumzeitlich uneinholbaren Platzverweises, das der mathematisch-technischen Logik der binären Codierbarkeit, Reproduzierbarkeit und Übertragbarkeit innewohnt (u. a. Kittler 1986, 1993; Warnke, Coy und Tholen 1997; Schröter und Böhnke 2004) und die Medialität der Medien so anzuschreiben erlaubt, dass die Wahlverwandtschaft von Sprache und Technik tiefenstrukturell neu bestimmt werden kann. Bereits die grundlegende Definition des Computers als Turingmaschine, d. h. als einer das Axiom der Berechenbarkeit technisch realisierenden Rechenmaschine, geht ab ovo einher mit einer uneigentlichen, substitutiven Metaphorizität (Übertragbarkeit) des digitalen Mediums, die in der vielgestaltigen Metaphorik digitaler Medien (Computer als Rechenmaschine, als Schreibmaschine, als Bild-, Ton-, TextTransformationsmaschine usw.) eine genuine Zweckoffenheit des Technischen zur Sprache bringt. Der informationstechnische und -theoretische Befund, dass der Computer als
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen genuin symbolische Maschine in der Lage ist, jede andere symbolische Maschine zu repräsentieren, verweist auf einen atopischen Raum der Übertragbarkeit, der die Medialität der Medien von ihren instrumentellen Funktionen zu unterscheiden erlaubt. Die „Passage des Digitalen“ (Siegert 2003) und ihre nicht linear verknüpfte Vorgeschichte, bestehend aus Elementen der Mathematik, technischen Erfindungen und Nachrichtentechniken, konstelliert einen Raum der metaphorischen Unbeständigkeit, der in den erwähnten Alsob-Bestimmungen des Computers die Eigensinnigkeit der Medialität zutage treten lässt: Der Computer als Medium existiert gleichsam nur, indem er sich von sich selbst unterscheidet, d. h. sich in seinen programmierbaren und simulierbaren Gestaltungsweisen und Benutzeroberflächen verliert und in eben dieser virtuellen Immaterialität, in diesem „Mangel-an Sein“, seine vermeintlich eigentliche Bedeutung als Maschine der Berechenbarkeit aufschiebt. Noch genauer definiert: Das digitale Medium ek-sistiert (sensu M. Heidegger) nur in einer vielgestaltigen Metaphorizität, die das digitale Medium zu exponieren erlaubt. Die Eigenart der binären Codierbarkeit als rein stellenwertiger und differenzieller Substitutionslogik markiert also eine Form der dubitativen Indifferenz (Lunenfeld 2002: 158−177) gegenüber Texten, Bildern und Tönen, die lesbar wird als In-Differenz-Setzen von Bedeutungen und Bedeutungsträgern (Boten), hierin wiederum wahlverwandt der differenziellen Spaltung des Sprachzeichens (Jäger 2004a, 2004b).
4. Medialität der Sprache Die konstitutive Medialität in der Sprache selbst in ihrem unabschließbaren Spiel der Semiosen zu verorten, erhält nicht von ungefähr in dem Prozess der digitalen Remediation und Hybridisierung vormaliger Medien und in der endlosen Zirkulation selbstreferenzieller Zeichensysteme (Nöth und Wenz 1998) eine erneute Aufmerksamkeit. In der Tat zeigt insbesondere die poststrukturalistische Relektüre und Weiterentwicklung der saussureschen Unterscheidung des Zeichens als Signifikat und Signifikant (u. a. bei Jacques Lacan, Roland Barthes und Jacques Derrida), dass und wie die Spur oder Urschrift des Signifikanten grundlegend ist für ein Verständnis der Medialität als Mitteilbarkeit − vor jedwedem pragmatisch reduzierten Verständnis von Sprache als Mittel der Kommunikation. Der Signifikant, verstanden als bedeutungslose Differenz zwischen rein stellenwertig bestimmten Termen, artikuliert oder stiftet erst das, was wir Zeichen oder die prozessuale Einheit von Signifikant und Signifikat nennen und sich folglich allererst dieser ortlosen Differenzialität verdankt. Saussures Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft und seine erst jüngst veröffentlichten Nachlassnotizen zu einer möglichen Wissenschaft der Sprache (Saussure 1967, 2003) belegen, das Zeichen und Bedeutungen nicht nur dank der unmotivierten, arbiträren Differenz existieren, sondern dass diese Differenz ihrerseits nur als aufschiebende Dazwischenkunft einer ihr vorgängigen „Differance“ (Derrida) verstehbar wird. Anders gesagt: Das Fort-Da-Spiel des Signifikanten (Lacan 1980) prozediert als weder anwesende noch abwesende, d. h. als ursprungslose und uneinholbare Differenz ohne vorgängige Identität. So erst wird Medialität als transzendentale Möglichkeit der Bedingung von Zeichen und Medien bestimmbar und mit dieser die rein relationale Stellenwertigkeit von medialen Konfigurationen. So verdankt sich die digitale Reproduzierbarkeit der Medien dieser unheimlichen und unheimatlichen „Differance“, die, um nur ein Beispiel zu nennen, die mimetische, d. h. die nicht abbil-
27. Medienwissenschaft/Medientheorien dende, sondern in unsinnlicher Ähnlichkeit sich entziehende Aura des „Punctums“ der Photographie (Barthes) neu zu bestimmen erlaubt; gleichviel, ob dieses Punctum seine ästhetischen Konnotationen in enigmatisch-schockhaften Blickregimen und Gesten der analogen oder der digitalen Photographie zu exponieren versteht. Diese der Sprache noch vor ihrer Differenzierung in Mündlichkeit oder Schriftlichkeit innewohnende „Tele-Technik“ (Derrida 1995) erlaubt es, aus medienwissenschaftlicher Perspektive den Begriff der Kommunikation als Mit-Teilung zu bestimmen, d. h. statt als Gemeinschaft und Verständigung (sei diese rousseauistisch, kommunistisch oder als kommunikativer Horizont des dialogischen Verstehens apostrophiert) als sensus communis einer jeweils auf uns zukommenden Mit-Teilung und Übermittlung. Mit-Teilung als Dazwischenkunft bedeutet das Fehlen einer vorgängigen Unmittelbarkeit eines bereits vorentschiedenen, als Horizont bereits gegebenen Wir der Kommunikation, sei dieses Wir anthropologisch oder systemtheoretisch definiert. Denn die medialen Weisen der Mit-Teilung oder genauer: Mitteilbarkeit, die der Logik des Signifikanten geschuldet ist, können sich selbst, wie vor allem Walter Benjamin (1916), Samuel Weber (1999: 35− 49) und Hans-Joachim Lenger (2001) gezeigt haben, nicht mitteilen. Die Mit-Teilung oder Mitteilbarkeit der Sprache ist, so Jean-Luc Nancy in seiner Neubestimmung des sensus communis „das Hin und Her, die Partitur und das Teilen der Kommunikation. Man kann sie nicht mitteilen, wie man etwas, irgendeine Bedeutung mitteilt. Was nicht heißt, dass sie nicht der Logik der Darbietung, des Gegenwärtigwerdens, unterläge. Nichts anderes als eben ‚Mit-Teilung‘ erlangt Gegenwart. Das bedeutet, wenn es so etwas wie Gegenwärtigsein gibt, dann ist es auch Mit-Teilung […] Es gibt keine Gegenwart, die nicht […] der (Mit-)Teilung ausgesetzt wäre“ (Nancy 1994: 185). Die hier skizzierten Theoreme der Medialität wurden nicht nur innerhalb der Medienwissenschaft, sondern auch in mehreren Kulturwissenschaften (u. a. Kunstwissenschaft, Literatur-, Theater- und Filmwissenschaft) diskursprägend, insofern die Theorie der Medialität als Entzug und Fragment neue Denkmodelle des Aisthetischen und Ästhetischen zu konturieren half. McLuhans Diktum, dass das, was in Medien erscheint, andere Medien seien, wird lesbar nur, wenn der Status dieses Erscheinens selbst zum Fokus kultur- und medienwissenschaftlicher Reflexion wird. Die Metaphorologie der Medien verweist auf den metakommunikativen Spielraum der Mit-Teilbarkeit am Rand des Wahrnehmbaren. Der im Feld des Sagbaren, Sichtbaren und Hörbaren rahmensetzende oder rahmenauflösende Horizont selbst konstituiert sich nur als an sich selbst unsichtbarer und undarstellbarer Einschnitt in der Verschiebung von jeweiligen Horizonten und Dispositiven. Medialität, in diesem Sinne verstanden als antizipierende und zäsurierende Einbildungskraft, hat als solche keinen vorgegebenen Ort. Vielmehr artikuliert sie sich nur als vor-weg-nehmendes Zu-erscheinen-Geben. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, ist es die mit dem Computer sichtbar gewordene Steigerung der Varieszenz der manipulierbaren Weisen der Sichtbarkeit und Hörbarkeit gewesen, die die Frage nach dem Status der Medialität der Einbildungskraft neu situiert hat. Technische Medien haben ihre Voraussetzung also nicht in der Technik im landläufigen Sinn. Denn deren instrumentelle Definition basiert auf einer begrifflich zu kurz greifenden Opposition zwischen dem Natürlichen und Technischen, die Artefakte und Artefiktionen nur als Mangel oder Ersatz des Menschen bestimmen kann. Wahrnehmung jedoch ist stets eine medial verfasste. Sie ist, wie oben dargelegt, immer schon vom Künstlichen affiziert, affizierbar von der Techné, d. h. von der List der Technik als Verstellungskunst. Techné meint also das auch medienhistorisch und machtanalytisch bedeutsame Wechselspiel von Verber-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen gung und Entbergung, ein Spielraum, der überhaupt etwas erscheinen lässt. Die Eigenart der digitalen Medien hat mithin unter neuem Vorzeichen die stets schwierige und aporetische Frage nach dem Ort der Technik und des Wissens und nach dem Ort der Kunst wiederaufgenommen. Nicht mehr und nicht weniger konturiert das epistemische Feld der Medienwissenschaft als einer vergleichsweise noch jungen Disziplin.
5. Literatur (in Auswahl) Bahr, Hans-Dieter 1983 Über den Umgang mit Maschinen. Tübingen: Konkursbuch. Bahr, Hans-Dieter 1999 Medien und Philosophie. Eine Problemskizze in 14 Thesen. In: Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, 50−68. München: Wilhelm Fink. Benjamin, Walter 1916 Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen. In: ders., Gesammelte Schriften. Bd. II/1, 140−157. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blättler, Andy, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug und Miriam Ronsdorf (Hg.) 2010 Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte. Bielefeld: transcript. Debray, Régis 2003 Einführung in die Mediologie. Bern: Haupt. Derrida, Jacques 1995 Marxʼ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a. M.: Fischer. Elia-Borer, Nadja, Samuel Sieber und Georg Christoph Tholen (Hg.) 2011 Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien. Bielefeld: transcript. Foucault, Michel 1973 Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gamm, Gerhard 1998 Technik als Medium. Grundlinien einer Philosophie der Technik. In: Michael Hauskeller, Christoph Rehmann-Sutter und Gregor Schiemann (Hg.), Naturerkenntnis und Natursein. Für Gernot Böhme, 94−126. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gamm, Gerhard 2005 Unbestimmtheitssignaturen der Technik. In: ders. und Andreas Hetzel (Hg.), Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt, 17−35. Bielefeld: transcript. Hagen, Wolfgang 2008 Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medienbegriff. In: Münker, Stefan und Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, 13−29. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Havelock, Eric A. 1982 The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences. New Jersey: Princeton University Press. Hoffmann, Stefan 2002 Geschichte des Medienbegriffs. Hamburg: Felix Meiner. Innis, Harold A. 1975 Empire and Communications. Toronto: University of Toronto Press. Jäger, Ludwig 2004 Störung und Transparenz. Skizze zu einer performativen Logik des Medialen. In: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, 35−74. München: Wilhelm Fink.
27. Medienwissenschaft/Medientheorien Jäger, Ludwig und Erika Linz (Hg.) 2004 Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition. München: Wilhelm Fink. Kerckhove, Derrick de, Martina Leeker und Kerstin Schmidt (Hg.) 2008 McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld: transcript. Kittler, Friedrich 1986 Grammophon − Film − Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. Kittler, Friedrich 1989 Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Wilhelm Fink. Krämer, Sybille (Hg.) 1998 Medien − Computer − Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Krämer, Sybille 2003 Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren. In: Stefan Münker, Alexander Roesler und Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, 78−90. Frankfurt a. M.: Fischer. Krämer, Sybille 2008 Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht. In: Stefan Münker und Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, 65−90. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. McLuhan, Marshall [1964] 1994 Die magischen Kanäle. Dresden/Basel: Verlag der Kunst. McLuhan, Marshall [1962] 1995 Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn/Paris: AddisonWesley. Mersch, Dieter 2005 Derridas Différance und Heideggers Weg zur Sprache. In: Journal für Phänomenologie 23, 14−22. Mersch, Dieter 2006 Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius. Nöth, Winfried und Karin Wenz (Hg.) 1998 Medientheorie und die digitalen Medien. (Intervalle. Schriften zur Kulturforschung 2.) Kassel: Kassel University Press. Lacan, Jacques 1980 Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. (Das Seminar II.) Olten: Walter. Lehmann, Hans-Thies 1999 Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren. Lenger, Hans-Joachim 2001 Vom Abschied. Ein Essay zur Differenz. Bielefeld: transcript. Leschke, Rainer 2003 Einführung in die Medientheorie. München: Wilhelm Fink. Lunenfeld, Peter 2002 Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Hera Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, 158−177. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Münker, Stefan und Alexander Roesler (Hg.) 2008 Was ist ein Medium? Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nancy, Jean-Luc 1994 Das gemeinsame Erscheinen. Von der Existenz des „Kommunismus“ zur Gemeinschaftlichkeit der „Existenz“. In: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zur Philosophie des Politischen, 167−204. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Ong, Walter J. 1987 Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen: Westdeutscher Verlag. Paech, Joachim und Jens Schröter (Hg.) 2008 Intermedialität Analog/Digital. Theorien, Methoden, Analysen. München: Wilhelm Fink. Ramming, Ulrike 2008 Der Ausdruck „Medium“ an der Schnittstelle von Medien-, Wissenschafts- und Technikphilosophie. In: Stefan Münker und Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, 249−271. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rheinberger, Hans-Jörg, Bettina Wahrig-Schmidt und Michael Hagner (Hg.) 1997 Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin: Akademie. Saussure, Ferdinand de 1967 Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Berlin: Walter de Gruyter. Saussure, Ferdinand de 2003 Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schade, Sigrid und Silke Wenk 2011 Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. Bielefeld: transcript. Schanze, Helmut 2001 Einleitung. In: ders. (Hg.), Handbuch Mediengeschichte, 1−13. Stuttgart: Kröner. Schanze, Helmut (Hg.) 2002 Metzler Lexikon Medientheorie − Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler. Schröter, Jens und Alexander Böhnke (Hg.) 2004 Analog/Digital − Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung. Bielefeld: transcript. Schulte-Sasse, Jochen 2000 Medien/medial. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4, 1−28. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Schulz, Winfried 1971 Kommunikationsprozeß. Medium (Massenmedien). In: Elisabeth Noelle-Neumann (Hg.), Das Fischer-Lexikon Publizistik, 96. Frankfurt a. M.: Fischer. Siegert, Bernhard 2003 Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500−1900. Berlin: Brinkmann & Bose. Tholen, Georg Christoph 2005 Medium/Medien. In: Alexander Roesler und Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, 150−172. Paderborn: Wilhelm Fink. Tholen, Georg Christoph 2002 Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Warnke, Martin, Wolfgang Coy und Georg Christoph Tholen (Hg.) 1997 HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien. Frankfurt a. M.: Stroemfeld. Weber, Samuel 1999 Virtualität der Medien. In: Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, 35−49. München: Wilhelm Fink.
Georg Christoph Tholen, Basel (Schweiz)
28. Neue Kulturgeographie
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28. Neue Kulturgeographie 1. 2. 3. 4.
Einleitung Cultural Studies und Humangeographie Neue Kulturgeographie und Sprache Kritik an Linguistic Turn, Konstruktivismus, (Post-)Strukturalismus
5. Fazit 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Vom Zusammenbruch der großen Erzählungen (Lyotard 1993), dem Verlust der klassischen Ankerpunkte der Moderne wie Humanismus, Demokratie und Solidarität (Hall 1999) bis hin zur Netzwerkgesellschaft (Castells [1999] 2001) und den Schlagworten Individualisierung und Pluralisierung (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 1994; Giddens 1995), die die alten Klassen, Schichten und Milieus als Instrumente der gesellschaftlichen Differenzierung selbst als zu undifferenziert zurücklassen, sind die gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts seitens der Wissenschaft vielseitig beschrieben worden. Daneben stellen die Kulturwissenschaften aber auch gesellschaftliche Bemühungen zur Wiederverankerung fest, die sich in der Renaissance von politischen Machtverhältnissen, großen Erzählungen wie der Religion und vor allem in der Renaissance des Kulturellen zeigen. Damit stellt sich für die nunmehr interdisziplinär ausgerichteten Kulturwissenschaften die Frage nach einer neuen Beschreibung von Gesellschaft und ihrer Kultur im 21. Jahrhundert. Die Cultural Studies, wie sie in den Texten von Raymond Williams ([1958] 1983) und Richard Hoggarts ([1957] 1992) konzipiert wurden, brechen mit den Forschungsstrategien der English Studies und deutschen Kulturwissenschaften, die Kultur „als Produkt hervorragender Geister“ (Lutter und Reisenleitner 2005) verstanden, und denken Kultur als Produkt alltäglicher Kreativität aller Menschen. Sie stellen das literarisch-moralische Kulturverständnis und die damit verbundenen eurozentristischen und ethnozentristischen (Be-)Wertungen der bürgerlichen Elite infrage und fordern eine Konzentration auf das alltägliche Erleben und Erfahren eines Individuums, einer Gruppe oder Gesellschaft innerhalb der Gesellschafts- und Kulturanalyse und definieren damit die Aufgabe der Cultural Studies neu. Allerdings wird auch Raymond Williams später vor allem von der feministischen Geographie dahingehend kritisiert, dass er eine Sozialromantik des weißen männlichen Klassenobjekts vertrete (Helms 2009).
2. Cultural Studies und Humangeographie Der Cultural Turn der Sozial- und Kulturwissenschaften setzt sich Ende der 1980er-Jahre in der angloamerikanischen Humangeographie unter dem Label der New Cultural Geography durch und lehnt bezugnehmend auf die Cultural Studies fixe Bedeutungszuschreibungen von Kulturen ab. Hinzu kommt, dass GeographInnen im Kontext der Globalisierung den traditionellen Kulturbegriff auch hinsichtlich seiner regionalen Begrenztheit − sowohl räumlich als auch historisch − infrage stellen und im Zuge dessen Kultur und Raum als statischen Bezugsrahmen menschlichen Handelns kritisieren (Barnes and Duncan 1992;
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Duncan and Ley 1993; Duncan 1993). Denn wie können Kulturen in globalisierten Lebenswelten räumlich abgegrenzt und somit verortet werden, wie es die traditionelle englischsprachige Cultural Geography (vgl. Sauer 1925, [1934] 1983) ebenso vollzog wie die deutschsprachige Kulturgeographie, die als Länderkunde und spätere Regionalforschung lange Zeit die Krone der Geographie darstellte (vgl. Hettner 1933−1935)? Damit rückt eine Dimension alltäglicher Kulturproduktion wieder in den Mittelpunkt der Analyse, die aufgrund kolonialistischer und nationalistischer Ideologieproduktion nach dem 2. Weltkrieg zunächst aus den Kulturwissenschaften (und vor allem aus der deutschsprachigen Politischen Geographie) verbannt wurde: Raum. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der damit in Gang gesetzten Transformation osteuropäischer Länder, der Osterweiterung der EU, der Globalisierung sowie der weltweiten Verbreitung von Informationen über virtuelle Räume verstärkt sich das wissenschaftliche Interesse an Raumphänomenen bei der Kulturproduktion. Dieser Spatial Turn in den Wissenschaften hat einerseits zum Ziel, die Einseitigkeit und Vorherrschaft der Zeit innerhalb der modernen Kulturwissenschaft zu überwinden; Roland Lippuner (2008: 342) verweist allerdings auf die Unzulänglichkeit dieser Aussage und betont, dass die Beschäftigung mit zeitlichen Phänomenen immer auch eine Beschäftigung mit räumlichen Phänomenen nach sich zog, da moderne Gesellschaften immer als territoriale Einheiten begriffen wurden und werden. Andererseits soll er dem neuen Verhältnis von Raum und Zeit im Zuge raumzeitlicher Schrumpfungsprozesse (Harvey 1989), der Auflösung des Dualismus von nah und fern (vgl. Beck 1986), der räumlichen und zeitlichen Entankerung (Werlen 1997) sowie dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebensstile (Beck 1997) auch wissenschaftlich gerecht werden (Lossau 2008). Die New Cultural Geography macht es sich zur Aufgabe, homogenisierende Raumkonzepte wie Kulturraum mit Bezug auf Foucault ([1970] 2007; vgl. Artikel 12) und Derrida (1976) durch einen differenzierten zeit- und ortsspezifischen Kulturbegriff (vgl. Keith and Pile 1993), Landschafts- und/oder Stadtbegriff (Duncan 1990) sowie Wirtschaftsraumbegriff (Barnes and Duncan 1992) zu ersetzen. Zudem erfolgt auch eine Auseinandersetzung mit der sprachlichen Konstruktion von Raum. Dabei betont die New Cultural Geography, wie sie im ersten Sammelband von Cosgrove und Jackson (1987) sowie Philo (1991) konzipiert wurde, dass Kultur und Raum durch alltägliche Praktiken und in diesem Sinne vor allem durch Sprache respektive Sprechen hergestellt werden.
3. Neue Kulturgeographie und Sprache Sprache fand bisher nur im Sinne der erdräumlichen Abgrenzung von Sprach- und Dialekträumen Beachtung (vgl. z. B. Sauer [1934] 1983). In den 1990er-Jahren modernisiert sich diese Perspektive im Hinblick auf Kommunikationsräume und es kommt zu empirischen Untersuchungen, wie Kommunikation im Raum erfolgt (vgl. Maier-Rabler 1992; Gräf 1992, zit. in Schlottmann 2005: 97). Dies diente im Zuge der boomenden Raumstrukturforschung der späten 1980er-Jahre vor allem der Strukturanalyse zur Bestandsaufnahme der vorhandenen Kommunikationsinfrastruktur. Die Neue Kulturgeographie entledigt sich der Raumstrukturforschung ebenso wie des traditionellen länderkundlichen Paradigmas und der damit verbundenen Vorstellung eines real existierenden Raumes mit spezifischen kulturellen Eigenschaften und distanziert sich ebenso von der Kommunikationsraumforschung, indem sie wie die Cultural
28. Neue Kulturgeographie Studies und die New Cultural Geography ein zentrales Charakteristikum des Cultural Turns vertritt: Alle sozialen und räumlichen Phänomene werden durch sprachliche Bedeutungsaufladung von sozialen AkteurInnen (re)produziert. Damit ist die Welt nicht per se vorhanden, sondern eine Folge symbolischer Zuschreibungen, imaginativer Geographien und deren stete Aktualisierung durch sprachliche Interaktion von AkteurInnen. Erste Zugänge zu Sprache und Raum als sich gegenseitig bedingenden Phänomenen der Wirklichkeitskonstruktion erfolgen in der Geographie jedoch schon vor dem Linguistic Turn und der sprachphilosophischen Wende. So zeigt schon Gerhard Hard (1970) in Die „Landschaft“ der Sprache und die „Landschaft“ der Geographen die semantischen Ursprünge des Begriffs Landschaft und entwirft eine linguistische Reflexion der Landschaftsvorstellungen und -ideale, die seit dem 18. Jahrhundert die Sprache der Geographen begleitet. Dabei verweist er für diese Disziplin auf die Denkmoden bzw. den ideologischen und sprachlichen Raum, die nicht allein geographische Begriffe ontologisieren und damit als Abbild einer „irdischen Wirklichkeit“ betrachten, sondern für die Legitimation und Einheit des Faches Geographie stehen. So wird am Beispiel von „Landschaft“ deutlich, dass Begriffe wie Zusammenhang, Einheit, Ganzheit, Integration zum semantischen Hof von Landschaft gehören und somit das „Lösungswort ‚Landschaft‘ […] über 5 Jahrzehnte hinweg die allgemein und fraglos akzeptierte Weltperspektive vor allem des deutschsprachigen Geographen [bezeichnet], eine Weltperspektive, die imstande war, alle speziellen Interessen innerhalb der Disziplin in einen großen Zusammenhang zu stellen − eben in den ‚Zusammenhang der Landschaft‘“ (Hard 1970: 73). Einen zweiten Schritt zur Verbindung von Sprache und Raum vollzieht Helmut Klüter (1986), mit seiner Arbeit Raum als Element sozialer Kommunikation, mit der er die Geographie an die Gesellschaftswissenschaften anschlussfähig machen will. Mit Bezug zur Systemtheorie Niklas Luhmanns (1984; vgl. Artikel 15) und dessen Systembegriff als Komplex sinnhaft aufeinander bezogener Handlungen, der sich nach außen abgrenzt, wird von Klüter Raum als system- und kommunikationsbezogene Abgrenzung verstanden. Dass somit unter jeweils anderen system- und kommunikationsbezogenen Kontexten jeweils andere Räume entstehen, ist seine zentrale Erkenntnis und führt zur Ablehnung statischer Raumkonzeptionen. Auch wenn Helmut Klüter Raum nicht gänzlich als Ort sozialer Prozesse ablehnt und eine operationalisierbare Methode der Textanalyse schuldig bleibt (vgl. Felgenhauer 2007), ermöglicht die systemtheoretische Konzeption der Geographie erstmals die Frage „Wann und unter welchen Bedingungen erhält welcher Raum Bedeutung für das kommunikative Handeln?“. „Damit wird eine Wende von der Behandlung sozialer Phänomene als Merkmale eines Raumausschnittes […] zur Behandlung von ,Raum‘ als Bestandteil von Kommunikation“ (Felgenhauer 2007: 14 [Hervorh. im Original]) vollzogen. Einen dritten Schritt vollzieht der Schweizer Geograph Benno Werlen (1997) mit Bezug auf soziologische Handlungstheorien. In seinem Entwurf einer Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen entwickelt er einen nicht statischen, sondern handlungsabhängigen Bezug zu Raum. Auch wenn Sprache bei Benno Werlen nicht die einzige Möglichkeit zur Wirklichkeitskonstruktion bildet, spielt die sprachliche Praxis − als eine Form alltäglicher Handlungen − eine zentrale Rolle für die alltägliche Konstruktion von Raum und Kultur. Im Rahmen informativ-signifikativer Regionalisierungen erfolgt konsequent die Wende von einer repräsentativen hin zu einer interpretativen Geographie, die Räume und Kulturen als Folge von Alltagshandeln im Sinne von Kulturalisierungs-,
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Territorialisierungs-, Regionalisierungsprozessen, insgesamt als kulturelle und räumliche Verortungsprozesse versteht (Felgenhauer 2007: 11). Für die Sozialgeographie radikalisiert Antje Schlottmann (2005) diesen Schritt und zeigt nicht nur eine Handlungszentrierung mit Interesse an der sprachlichen Konstruktion am Beispiel Mitteldeutschlands. Vielmehr fordert sie eine explizite Sprachzentrierung und eine Weiterentwicklung der Geographie als Sprachwissenschaft und damit als Wissenschaft, die die alltagssprachlichen Ausprägungen von räumlichen Bedeutungszuschreibungen untersucht. Ihre theoretischen Bezüge beruhen nicht auf einer Auseinandersetzung mit der Handlungs- und/oder Systemtheorie, sondern auf der Metapherntheorie von Georg Lakoff und Mark Johnson (1980) sowie der Sprachphilosophie von John Searle (1969) und John Austin ([1961] 1979). Auch Wolfgang Zierhofer (1997) und Tilo Felgenhauer (2007, 2009) knüpfen an die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen Benno Werlens und die Sprachpragmatik Antje Schlottmanns an. Dabei betont Zierhofer mit Bezug zur Theorie kommunikativen Handelns (vgl. Habermas 1981) die Bedeutung einer nicht-essentialistischen Geographie und Felgenhauer nimmt mithilfe der Argumentationstheorie Stephen Toulmins (1958) die spezifischen argumentativen Sprachpraktiken bei der raumbezogenen alltäglichen Wirklichkeitskonstruktion in den Blick. Neben den sozialgeographischen Ansätzen, die auf die Analyse der raumbezogenen Sprache durch Metaphern und/oder Argumente zielen, versucht auch die Politische Geographie eine Neukonzeption nach dem 2. Weltkrieg. Im Gefolge der poststrukturalistischen und diskursorientierten Critical Geopolitics (vgl. Agnew 1987; Ó Tuathail 1996; Dalby and Ó Tuathail 1998) verweisen auch die deutschsprachigen politischen GeographInnen wie Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer (2001) auf die Bedeutung diskursiv vermittelter (politischer) Weltbilder. Das heißt im Sinne Michel Foucaults, dass eine Vielzahl von (politischen) Deutungsmustern im Zuge diskursiver Praxis auf wenige privilegierte einschränkt wird. Dieser Anschluss an die französische Tradition der Diskurstheorie findet im frühen 21. Jahrhunderts sowohl in der Politischen Geographie (vgl. Lossau 2001), aber auch in der Kulturgeographie viele AnhängerInnen (vgl. Glasze und Mattisek 2009), was vor allem als Folge einer allgemeinen Renaissance der Diskurstheorie in den deutschen Sprach-, Literatur-, Sozial- und Kulturwissenschaften interpretiert werden kann. Diese Ansätze weisen vielversprechend darauf hin, wie politische Begriffe nicht einfach Welt beschreiben, sondern wie sie Welt konzipieren. Europäische Union, Natostaaten, Schurkenstaaten, Achse des Bösen etc. sind nur einige Beispiele dafür, wie Bezüge von Kultur und Raum sprachlich verhandelt werden und wie eng die kulturelle Identitätsbildung an räumliche Imaginationen (Gregory 1994), vermittelt durch Sprache, geknüpft ist. Für die Neue Kulturgeographie, wie sie erstmals im Sammelband Kulturgeographie − aktuelle Ansätze und Entwicklungen (Gebhardt, Reuber und Wolkersdorfer 2003) umrissen wird, bedeutet dies eine uneingeschränkte Auseinandersetzung mit der sprachlichen Konstruktion von Kultur und Raum, ohne dabei in die essentialistische Ontologie des Kulturraums der Landschaftsforschung zurückzufallen. Diesem Buch geht ein erstes Themenheft im Februar 2003 zur Neuen Kulturgeographie in Petermanns Geographische Mitteilungen voraus und es folgen 2004 in Leipzig und 2005 in Münster deutschsprachige Tagungen zum Titel Neue Kulturgeographie in Deutschland: Themen, Methoden, Perspektiven und Neue Kulturgeographie II: Sprache & Zeichen − Macht und Raum. Landschaft, Raum, Kultur usw. sind im Zuge dessen keine geographischen Objekte an sich,
28. Neue Kulturgeographie vielmehr steht die Analyse des Symbolgehaltes von Landschaft/Stadt usw. als Text im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. An dieser Stelle sei aber auch erwähnt, dass die Einbindung sprachtheoretischer Konzepte in die Kulturgeographie bisher vor allem die alltägliche Wirklichkeitskonstruktion in den Blick nimmt. Unter handlungstheoretischen sowie poststrukturalistischen Perspektiven muss konsequenterweise auch eine Reflexion des von WissenschaftlerInnen verwendeten Sprachrepertoires erfolgen. Das heißt, dass die wissenschaftliche Kulturproduktion und wissenschaftliche Regionalisierung im Zuge von wissenschaftlicher Textund Kartenproduktion ebenso in den Blick geraten müssen wie die alltägliche Konstruktion von Welt (vgl. Wintzer 2014). Theoretische und methodische Weiterentwicklungen in diese Richtung stecken noch in den Kinderschuhen und werden bisher fast nur im Bereich der Historischen Geographie umgesetzt. Diese Arbeiten zeigen mit Blick auf die Rolle der Geographie im Imperialismus, Kolonialismus und nicht zuletzt Faschismus, welche Folgen Kulturelitismus, Ethno- und Eurozentrismus sowie Rassismus haben können (Rössler 1989; Schultz 1977, 2000; Fabian 2001; Fiedler 2005; Sandner 1994; Schulte-Althoff 1971; Ebeling 1994; Fahlbusch, Rössler and Siegrist 1989; Fahlbusch 1999) und wie stark die Weltbilderzeugung eine Folge der Kartenproduktion war (vgl. Schelhaas und Wardenga 2007; Siegel und Weigel 2011). Noch zu wenig reflektieren WissenschaftlerInnen im Sinne des Practical Turns die eigenen (aktuellen) Praktiken der Weltkonstruktion durch ihr Sprechen und Darstellen im Zuge wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion.
4. Kritik an Linguistic Turn, Konstruktivismus, (Post-)Strukturalismus Es soll auch nicht unterschlagen werden, dass die Perspektiven der New Cultural Geography und der Neuen Kulturgeographie nicht lange ohne Kritik blieben. Denn obwohl der Linguistic Turn die Abwendung von realistischen Auffassungen und damit die Befreiung von bisherigen Essentialitäten ermöglicht, lässt er andere − nicht-sprachliche − Konstruktionsprozesse nicht nur in den Hintergrund treten, sondern völlig aus dem Blick geraten (Lossau 2008). So weist die praxistheoretische Perspektive (Bourdieu 1976; vgl. Artikel 13) darauf hin, dass Praktiken ein vielfältiges Ensemble an Ausdrucksmöglichkeiten darstellen, die von der Sprache über Mimik und Gestik bis hin zu komplexen performativen Prozessen der Körperlichkeit reichen und durch die Praxis − als Serie von einzelnen temporalen und räumlichen sozial-kulturellen Ereignissen − stets aktualisiert und dennoch modifiziert werden. Die Praktiken des Sprechens, Verhaltens, Performens, Schreibens, Diskutierens, politischer Aktivität, privater Unterhaltung, der Sexualität, der Beziehungsgestaltung usw. zeigen das breite Analysespektrum praxisanalytischer Untersuchungen. Zudem erfolgt zunehmend nicht allein eine Auseinandersetzung mit den sprachlichen Konstruktionen im Sinne von „hier ist es so, dort ist es anders“, sondern auch mit der visuellen Konstruktion von Raum im Zuge von medialen und wissenschaftlichen Bildern (vgl. Schlottmann und Miggelbrink 2015). Hierbei greifen Geographen und Geographinnen auf anerkannte Traditionen wie zum Beispiel der Kritischen Kartographie (Dalby 1991; Pickles 1992) zurück. Die New Cultural Geography und die Neue Kulturgeographie greifen auch hier die neuen Zugänge auf und machen dabei deutlich,
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen wie stark die Interaktion von Kultur und Raum für die alltägliche Wirklichkeitskonstruktion ist (Browne, Lim and Brown 2007; Clark and Massey 2009; Cresswell and Merriman 2011; Jährliche Tagungsreihe Neue Kulturgeographie). Nicht nur der Linguistic Turn, sondern auch die damit verbundenen Paradigmen des Konstruktivismus und (Post-)Strukturalismus haben vielseitig zur Kritik an Beliebigkeit, Unwissenschaftlichkeit und Weltfremdheit geführt (vgl. Lossau 2008). Sie nimmt Bezug auf eine feministische und gendersensible Tradition in den Kulturwissenschaften und der Geographie, die auf die körperlichen Erfahrungen durch sexuelle Ausbeutung hinweisen. Sie seien aus dem Blick geraten durch den Konstruktivismus und die poststrukturalistischen Arbeiten Judith Butlers (1991; Gregson 2000), die sich im Rahmen der GenderGeographien durchsetzen (Strüver 2007; Bell 1991; Gorman-Murray 2006; Bell 2000; Pratt 2000; Wastl-Walter 2010). Die Kritik am Kulturalismus wird schon bei Stuart Hall bemerkbar, der sich der Überbetonung des Kulturellen gegenüber dem Sozialen, Ökonomischen und/oder Geschichtlichen bewusst ist, auch innerhalb des Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS), das er von 1968 bis 1979 leitet. Daneben wird innerhalb der Neuen Kulturgeographie im Kontext knapper werdender Ressourcen sowie neuer kolonialer Bestrebungen der Ruf nach (Wieder-)Einbezug des Naturraumes laut. So fordert Sarah Whatmore (2002) im Handbook of Cultural Geography (Anderson, Domosh and Pile 2002) den Einbezug der Natur in die kulturgeographische Forschung, die im Zuge des Konstruktivismus als bloß konstruiert gedacht und damit ebenso wie das Natur-Kultur-Verhältnis ausgeblendet wurde. Das neue Interesse am Natur-Kultur-Verhältnis zirkuliert vordergründig unter dem Label des Material Turn und zielt vor allem im deutschsprachigem Raum auf eine neue Zusammenarbeit zwischen Human- und Physischer Geographie ab (vgl. Wardenga und Weichhart 2006). Ebenso plädiert eine weitere Strömung innerhalb der Neuen Kulturgeographie für eine Wiederentdeckung des Materiellen, das in Form gesellschaftspolitischer Machtverhältnisse sichtbar wird. Mit dem Hinweis, dass die raumzeitliche Schrumpfung der Welt durch die Globalisierung nur für eine begrenzte Anzahl der Bevölkerung, sicherlich aber nicht für alle, ungeahnte Möglichkeiten bringt, erfolgt die Analyse neuer Nord-SüdKonflikte, die mit Ausbeutung und Ausgrenzung einhergehen. Die Globalisierung fördert ja nicht nur die weltumspannenden Informations-, Finanz- und Handelsströme, sondern gleichzeitig die wachsenden Müllberge vor der Haustür derjenigen, die nicht an den Vorteilen teilhaben können. Die englischsprachige radical geography hat sich in Deutschland als Kritische Geographie etabliert und macht darauf aufmerksam, dass eine Neue Kulturgeographie ohne eine Gesellschaftskritik grundsätzlich sinnlos sei, da sie die bestehenden Machtverhältnisse nicht nur nicht untersucht, sondern dadurch auch stabilisiert (vgl. Belina und Michel 2007; Belina 2003).
5. Fazit Die aktuellen Bestrebungen, den Linguistic Turn und dessen Sprachzentriertheit zu überwinden, weisen darauf hin, dass die Kultur- und Raumproduktion nicht allein an Sprache gebunden sind. Es ist nicht allein von Bedeutung, danach zu fragen „Wie wird Wirklichkeit sprachlich verfasst?“, sondern ebenfalls bedeutsam, die räumlich-materiellen Manifestationen sozialer Phänomene in den Blick zu nehmen. Dabei basieren diese Ansätze
28. Neue Kulturgeographie jedoch nicht auf einer rückwärtsgerichteten Annahme, nach der Kultur und Raum Dinge an sich sind. Ganz im Gegenteil verstehen alle Ansätze soziale Kategorien und materielle Objekte als Sinnstrukturen, die eine Folge subjektiver, systembezogener und symbolischer und/oder diskursiver Referenzsysteme − also Kategorisierungen und Objektivierungen − sind. Das bedeutet für die New Cultural Geography und die Neue Kulturgeographie erstens einen zentralen Anschluss an das konstruktivistische Paradigma, das Kategorien und Objekte als menschliche Konstruktionen versteht und alle essentialistischen Ansätze zurückweist. Das betrifft die gesellschaftlichen Kategorisierungen Geschlecht, Ethnie, Alter, Herkunft ebenso wie die räumlichen Phänomene Natur oder Landschaft. Zweitens hat die Analyse dieser Kategorisierungen und Objektivierungen eine Dekonstruktion zum Ziel, die die soziale Konstruiertheit offenlegt und damit kritisierbar und verhandelbar macht. Damit lehnen die neuen Ansätze der Kulturgeographie drittens auch die Vorstellungen von einer neutralen und objektiven Wissenschaft ab und geben den Dualismus zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auf.
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II. The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines Zierhofer, Wolfgang 1997 Grundlage für eine Humangeographie des relationalen Weltbildes. Die sozialwissenschaftliche Bedeutung der Sprachpragmatik, Ökologie und Evolution. In: Erdkunde 51(2), 81−99.
Jeannine Wintzer, Bern (Schweiz) und Doris Wastl-Walter, Bern (Schweiz)
29. Political science 1. Introduction 2. The “history” of political science
3. Conclusion 4. Selected references
1. Introduction The history of political science can be considered to be the history of a metaphor, one in which the term “science” seeks (or is sought) to become self-fulfilling. The idea of a “science” of politics raises the question of what a science is, exactly, what it looks like and how it operates. If there is a science to politics, will it behave like other sciences? Can the behavior of human beings in their collective capacities be seen as following the same kinds of laws and principles that we find with, for example, the laws governing the movements of planets, biological systems or molecules? Behind the term political science lies a desire (perhaps one inherent in the terminology) to be able to predict and, by extension, to control the actions and behaviors of human beings. The slow unfolding of this desire is perhaps the critical story of political science and helps to understand its history and development as an academic discipline. In our own time, the urge to be a “real” or “hard” science has come to dominate the discipline; the rise of rational choice and other forms of mathematically based formulations has or is in the process of eclipsing other disciplinary subfields. Today, one has only to peruse some of the main political science journals (especially in the United States) to see this; their pages are filled with mathematical formulas, graphs, charts and other statistical devices. To look at this development is to see both the power and limits of metaphor in language. On the one hand, political science, as will be argued further, develops alongside with the metamorphosis of science more generally (albeit at a bit of a lag, temporally speaking); if it is called a science, then, it follows that it must look and act like one. At the same time, we find an ongoing anxiety or a doubt that has haunted political science throughout its history in terms of its veracity, its fit with reality. By adding the tag “political” to the signifier of “science”, we find a kind of contradiction in terms wherein the messy, unpredictable and chaotic world of politics − and by extension the world of human social interaction more generally − becomes the subject of an epistemology that insists on a high degree of certainty. Language both contains and resists the merger of these ideas, offering an explanation for the development of this
29. Political science discipline, as well as grounds for resisting the darker implications of what it seeks to become. In order to better understand the question of political science and what it offers to our understanding of language and its relationship to culture and politics, this essay will examine a brief history of political science as a discipline. The story will be told schematically, focusing on three key thinkers in order to chart the changing relationship between “science” and “politics” over the course of two thousand years of Western history.
2. The “history” of political science 2.1. The classical period: Aristotle One of the first intimations of a science of politics can be traced back to Aristotle. In the Nichomachean Ethics, Aristotle distinguishes between those forms of knowledge that deal with things that are invariable on the one hand, and calculative forms of knowledge that deal with the variable aspects of existence on the other. The first category combines intuitive understanding (nous) and science (episteme) and leads to wisdom (sophia). The best knowledge that can be produced from the latter category is what Aristotle calls practical wisdom or phronesis. In describing this distinction, Aristotle writes: No one deliberates about things that are invariable, nor about things that it is impossible for him to do. Therefore, since scientific knowledge involves demonstration, but there is no demonstration of things whose first principles are variable (for all such things might be otherwise), and since it is impossible to deliberate about things that are of necessity, practical wisdom cannot be scientific […] because that which is capable of being done is capable of being otherwise. (Aristotle 2001: 1026)
Although − as we’ll see further − Aristotle speaks of a “political science” (politike episteme, a term also used in Plato’s Statesman) he more generally associates the study of politics with phronesis rather than sophia. He explicitly says that the study of politics is secondary to the study of first principles and eternal things (although Richard Kraut suggests that Aristotle’s ideal is to have one study and engage with both; Kraut 1989: 19). But his use of the term “political science”, even if it is somewhat inconsistent with the larger arguments of his work, has encouraged later scholars to treat the study of politics as a kind of sophia after all. In this way, our reading (or misreading?) of Aristotle helps set the stage for the future development of political science, producing a kind of linguistic demand for truth that political science has ever after ceaselessly sought − and failed − to achieve. When Aristotle does consider the study of politics as a science, we see him expressing a desire that the study and application of politics be as non arbitrary and as oriented towards the good (that is, towards matters discernible by sophia) as possible. In Book I of the Ethics he famously writes: Will not the knowledge of [the good] have a great influence on life? […] If so, we must try […] to determine what it is, and of which of the sciences or capacities it is the object. It
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II. The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines would seem to belong to the most authoritative art and that which is most truly the master art. And politics appears to be of this nature; for it is this that ordains which of the sciences should be studied in a state, and which each class of citizens should learn and up to what point they should learn them; and we see even the most highly esteemed of capacities to fall under this, e.g. strategy, economics, rhetoric; now, since politics uses the rest of the sciences, and since, again, it legislates as to what we are to do and what we are to abstain from, the end of this science must include those of others, so that this end must be for the good of man. (Aristotle 2001: 936)
Here we see that not only can the study of politics amount to a science, but it can be seen as a “master science”, at least among the sciences that pertain to human life and behavior (i. e. “[military] strategy, economics, rhetoric”). Furthermore (and relatedly), Aristotle brings up the idea that political science can enable human beings to master, as it were, themselves, to realize the fullest potential (“the good”) that lies nascent in them. Yet for all of this, there remains a seeming ambivalence in Aristotle about the degree to which the study of science is in fact, a true science: a bit after this passage he writes: “political science aims at what is the highest of all goods achievable by action” (Aristotle 2001: 937). Here, political science is both aimed at “the highest good” and what is “achievable by action”; it partakes in this sense in elements of both sophia and phronesis. What emerges from reading Aristotle on this question is a view of the study of politics as being a quasi science; Aristotle seeks to study the ephemeral and changing aspects of human interaction according to the same principles with which one would approach sophia itself.
2.2. The early modern period: Thomas Hobbes For most of its history since Aristotle, the discipline of political science − if we can be permitted to lump together some very distinct and often unrelated phenomena by that name − worked through the complicated legacy he helped to bestow on it. Generally speaking, the discipline followed the form and development of science itself. Much of what passed as political science in its day would today be considered “political theory”, a subfield of the discipline (and some thinkers, like Eric Voegelin, translate “politike episteme” as political theory and not as political science). Yet many of these same works were considered, both by the author and by the reading public, to be works of science in part because science itself − at least the way it was considered and treated in early modern Europe − was changing. Perhaps the most important figure in this regard is Thomas Hobbes. Hobbes’ Leviathan is considered a classic of political theory but Hobbes considered himself to be a scientist (indeed, in his own mind, he sometimes thought that his work on optics would be what he was remembered for, if anything). Even in his directly political writings however, Hobbes imports many aspects of the scientific method and discipline. In Leviathan he writes that: „Science is the knowledge of Consequences, and dependence of one fact upon another […] because when we see how any thing comes about, upon what causes, and by what manner; when the like causes come into our power, wee see how to make it produce the like effects“ (Hobbes 1996: 36). This serves as a perfect description of what Hobbes actually does in the pages of Leviathan itself. Despite his many criticisms of Aristotle (and even more to the point,
29. Political science Aristotle’s followers in his own time), Hobbes employs many of the devices set down by Aristotle to mark a science. Hobbes too engages with a consistent use of a rigorous method, as well as a belief that such a pursuit would result in improved lives for human beings (although any talk of “the good” is dropped in Hobbes’ case). In particular, Hobbes sought an alignment between his understanding of politics and geometry, seeking to extend the same kinds of axiomatic certainties he found in that branch of mathematics to the study of human social and political interaction. Yet, even in someone as devoted to the scientific method as Hobbes, we see an anxiety that, his scientific approach notwithstanding, his work would fail in its goal to actually change human political existence. At the very end of Part II of Leviathan (the part dedicated to setting up a political commonwealth), Hobbes states that: I am at the point of believing this my labour, as useless, as the Common-wealth of Plato; For he also is of the opinion that it is impossible for the disorders of State, and change of Governments by Civill Warre, ever to be taken away, till Soveraigns be Philosophers. But when I consider again […] that neither Plato, nor any other Philosopher hitherto, hath put into order, and sufficiently, or probably proved all the Theoremes of Morall doctrine, that men may learn thereby, both how to govern, and how to obey; I recover some hope, that one time or other, this writing of mine, may fall into the hands of a Soveraign, who will consider it himselfe, (for it is short, and I think clear,) without the help of any interessed, or envious Interpreter; and by the exercise of entire Soveraignty, in protecting the Publique teaching of it, convert this Truth of Speculation, into the Utility of Practice. (Hobbes 1996: 254)
Here we see the tension within the discipline of political science (although Hobbes did not use that term himself) laid out for us. On the one hand, the dream of producing what he elsewhere in Leviathan calls “Morall and Civill Science” (Hobbes 1996: 129) animates him. Yet, he is thwarted by the problem of interpretation, of how he is to be read and who will be his readers. Here, again, we see evidence of the slippage between the study of politics as a proper science and as a form of phronesis. Exactly echoing Aristotle’s distinction, in Leviathan Hobbes tells us that while science is “certain and infallible”, prudence (his own term for phronesis) is “uncertain; because to observe by experience, and remember all circumstances that may alter the successe is impossible” (Hobbes 2006: 37). For Hobbes, prudence can be a successful form of knowledge insofar as with experience, the uncertainty that marks prudence can be lessened (but of course not eliminated). Yet, not unlike Aristotle, Hobbes nonetheless seeks a “political science”, despite the fact that prudence seems to be (and in works like Leviathan and The Elements of Law is often treated as) a better describer of how politics actually works. When Hobbes tries to apply methods of science to human life, and especially to politics, he gets into interesting sorts of trouble insofar as the distinction between science and phronesis starts to blur. As Victoria Kahn writes in Rhetoric, Prudence and Skepticism in The Renaissance: [For Hobbes] the distinction between prudence and science in the Leviathan finally breaks down […]. [O]nce Hobbes tries to apply […] science to the realm of contingency, he is obliged to reintroduce the prudential and rhetorical moment he appeared to exclude […]. [S]cience is for Hobbes prudential deliberation that takes as its object the impossibility of civic prudence, and thereby sacrifices itself to the necessary fiction of a commonwealth. (Kahn 1985: 181)
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II. The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines Thus for Kahn, we see the vulnerability of Hobbes’ turn to “science.” He engages with the axiomatic principles of geometry specifically as a way to definitively settle the dilemma of human contingency. Yet he acknowledges that such a definitiveness is illusive, perhaps impossible. The “fiction of a commonwealth” that Kahn refers to is the idea that the sovereign itself can serve as the storehouse for definite meaning that is promised by “Civill and Morall Science.” As we see in the earlier quote above, Hobbes frets that the sovereign itself is not up to the job of offering such a definitive meaning; bereft of the expert scientific reader he requires, Hobbes seems to have to settle for an authoritative reader instead (i.e. one that cannot be challenged, even if their interpretation is not correct). Hobbes’ lifetime roughly corresponded to a period when a clear split occurred between philosophy and science. His famous arguments with Robert Boyle, for example, over the question of the vacuum suggests a sharpening of the very kinds of distinctions that Hobbes’ work may have sought to paper over (see Shapin and Schaffer 1985). As Steven Shapin and Simon Schaffer argue in Leviathan and the Air-Pump, Hobbes strongly objected to Boyle’s experiments which led to the discovery of a vacuum. For Hobbes, the idea of a vacuum − although for Boyle purely a matter of empirical fact − was politically seditious. In Hobbes’ view it suggested not so much the lack of anything at all, but only the lack of sovereign authority, thus serving as a source for yet more political (and epistemological) anxiety. As the authors put it, “For Hobbes, the rejection of vacuum was the elimination of a space within which dissension could take place” (Shapin and Schaffer 1985: 108−109). We see here the variance between the development of a “hard” science and the kind of philosophically and politically motivated epistemologies that Hobbes practices. While he insists on his own status as a scientist, the sciences per se were moving onwards. While it might have surprised Hobbes to know that he would end up being considered a “political theorist”, such a designation epitomizes the split between science and phronesis that Hobbes sought to straddle. The differentiation between the so-called hard and social sciences continued to advance to the point where political science would have to adapt itself to be properly considered a “science” (even a semi or pseudo science).
2.3. The modern period: Hannah Arendt By the twentieth century this adaptation was rapidly taking place. At the dawn of that century, it is true, political “science” had still not quite lived up to its name. Thus, expressing some of the anxieties and doubts about the relationship between political science and other forms of science, A. Lawrence Lowell, the president of the American Political Science Association said at his 1909 presidential address: “We are limited by the impossibility of experiment. Politics is an observational, not an experimental science […]” (Druckman et al. 2006: 627). Yet in the century that was to follow, experimental models blossomed especially in certain subfields such as political psychology and electoral and legislative politics (Druckman et al. 2006: 627). In the mid twentieth century, the self-fulfilling prophecy of the term “political science” truly came into the fore; this is especially true in the United States, the country where “science” has trumped “politics” most profoundly. The discipline as we now know it came into more or less formal being in the mid to late nineteenth century in the United
29. Political science States. Initially, the focus of the discipline was almost exclusively the study of the state. In the 1920s through the 1950s however two approaches to political science greatly advanced the science-like quality of the discipline; first pluralists began to look at groups that made up part of society (usually US society) and their perceived self-interests in ways that could be measured. Secondly the behavioralists studied individual interests that collectively led to various actions and reactions. Both of these movements can be said to rely on a kind of idealized rationalism, a predictable decision-making process whereby human actors can be counted on to do certain things based on certain criteria. Although there were reactions against this kind of movement (for example the so called “Perestroika” movement in the US in the 1990s that sought to counter the growing power of formal methods in the discipline), the momentum remains strongly with the ongoing transformation of political science into a “true” science, thus covering over or smothering any dwindling doubts about the validity (not to mention the oxymoronic quality) of the very term “political science” (for more on the developments of pluralism and behavioralism see Dryzek 2006). Via such developments it became increasingly impossible for a thinker who was concerned with politics in terms of their moral and philosophical aspects to engage with a scientific model. Thus with Hannah Arendt, one of the key political theorists of the twentieth century, we find a clear break with science altogether. She begins her magnum opus, The Human Condition with an attack on the way that scientists “move in a world where speech has lost its power” (Arendt 1958: 4). She says further that “whatever men do or know or experience can make sense only to the extent that it can be spoken about” (Arendt 1958: 4). The break between science and speech that she both describes and epitomizes gets directly at the question of meaning; science, Arendt suggests, no longer concerns itself with meaning and so the connection to facticity that is the basis for the scientific revolution itself must now be found elsewhere. Interestingly, in turning away from science, Arendt turns towards phronesis, at least to some extent, revealing the ongoing legacy of Aristotle’s influence. In The Life of The Mind, in the volume entitled Willing, Arendt describes phronesis as “a kind of insight and understanding of matters that are good or bad for men, a sort of sagacity − neither wisdom nor cleverness − needed for human affairs” (Arendt 1978: 78). She also writes that “Phronesis is required for any activity involving things within human power to achieve or not to achieve” (Arendt 1978: 78). For Arendt, phronesis is above all concerned with action which is “not mere execution of the commands of reason [but] itself a reasonable activity” (Arendt 1978: 78). Here, the doing of a thing may come as a surprise to the subject who acts, showing them “who” (as opposed to “what”) they are. This valorization of phronesis (which comes as much through Arendt’s engagement with Kant as with Aristotle) may seem to restore politics to its basis in lived human experience. Yet Arendt too is troubled by anxieties that in the end are not all that different from those that plagued Hobbes (despite her consistently negative appraisal of his work and its impact on the world). She ends The Human Condition with a portrayal of the modern world as being plagued by doubt, a doubt that she lays at the door of René Descartes (among others) and which she thinks serves to undermine the hope for a human-centered politics. Thus Arendt herself may be falling between the two stools set into motion by Aristotle (or at least our usual interpretation of Aristotle; she too seeks the certainties provided by science but is unable to embrace those certainties because she sees science itself as having usurped rather than spoken to the human experience).
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II. The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines
3. Conclusion In the discipline of political science today, such questions are largely confined to the theory subfield (especially in the US but anecdotal evidence suggests that this is also increasingly the case in Europe and other parts of the world as well). For the most part, the discipline has given itself over to science, to the promise inherent in a form of epistemology that political scientists themselves are forever chasing after. Stepping back from the specifics of the discipline itself, the conflict between phronesis and science inherent to political science can be seen as part of a larger question of language and meaning and its relationship to forming and shaping human culture and society: How much control do we have over meaning and information and with what effect on human behavior? The dilemmas that face political science are, of course, only a side-show to these larger concerns, but the example of political science does reflect the perils of attempting to control and dominate meaning (and human beings along with it). If the story of political science is one of a metaphor that seeks to fulfill itself, we see in the gaps between that fulfillment and the real world that it maps itself onto many spaces for resistance and subversion. But we also see, through the work of Arendt and many other contemporary thinkers, that the language of science can expand at the expense of other languages, so that the variable, unpredictable and messy world of human affairs becomes instead a map of a kind of ordered world that is inherent in the metaphor of science itself. Arendt’s fear that science produces a world where “speech has lost its power” suggests the danger of language going out of control, producing rogue metaphors and disembodied truths that become untethered from the world that it is meant to represent. Thomas Hobbes himself had a term for such a phenomenon. In Leviathan, he speaks of “the Error of Separated Essences” whereby the sign supersedes what it is meant to stand for (his main example is the idea of the soul which is originally a figure for a human person but, becoming a rogue metaphor, supplants the human body that it represents, becoming immortal and superior to the body in the process) (Hobbes 2006: 466). That this writer, who was himself so concerned with science, could yet conceive of the dangers that an excessive devotion to an idea or figure of speech could bring, reveals both the complexity of Hobbes himself, as well as the fact that even a danger that is recognized can still be succumbed to. If political “science” has become a separated essence, so that the episteme has overtaken the politike, perhaps an embrace of inconstancy, of failure to prove and ambivalence about status and nature can become part of the mechanisms by which another version of politics, and hence of human life, culture, society and the like, can be brought into being.
4. Selected references Arendt, Hannah 1958 The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press. Arendt, Hannah 1978 The Life of the Mind. Vol. II. New York: Harcourt, Brace, Jovanovich.
30. Kultursoziologie
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Aristotle 2001 The Basic Works of Aristotle. New York: Modern Library. Druckman, James N., Donald P. Green, James H. Kuklinski and Arthur Lupia 2006 The Growth and Development of Experimental Political Science. In: American Political Science Review 100(4), 627−636. Dryzek, John S. 2006 Revolutions Without Enemies. Key Transformations in Political Science. In: American Political Science Review 100(4), 487−492. Hobbes, Thomas 2006 Leviathan. Ed. by Richard Tuck. New York: Cambridge University Press. Hobbes, Thomas 1969 The Elements of Law, Natural and Political. London: Frank Cass & Co. Kahn, Victoria 1985 Rhetoric, Prudence and Skepticism in the Renaissance. Ithaca, NY: Cornell University Press. Kraut, Richard 1989 Aristotle on the Human Good. Princeton, NJ: Princeton University Press. Shapin, Steven and Simon Schaffer 1985 Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life. Princeton, NJ: Princeton University Press.
James R. Martel, San Francisco (California, USA)
30. Kultursoziologie 1. 2. 3. 4.
Kulturbegriffe im Wandel Die kulturtheoretische Debatte Semiotik von Kultur Hybridität von Kulturen
5. Pragmatik von Kultur 6. Resümee 7. Literatur (in Auswahl)
Im Gegensatz zur älteren Kultursoziologie, die sich eher als Bereichssoziologie verstanden hat und Kultur als eine abgrenzbare Sphäre neben anderen gesellschaftlichen Sektoren auffasste, nehmen neuere kultursoziologische Ansätze eine Querschnittsperspektive ein, die alles Soziale und Gesellschaftliche als kulturell durchdrungen, d. h. in kollektive Bedeutungs- und Wissensformen eingebettet, sieht. So richtet sich das Forschungsinteresse nicht mehr auf die Kultur als Substanz, deren Grenzen angeben, was Kultur ist und was nicht, sondern auf die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und ihrer permanenten Veränderung und Vermischung. Entgegen früheren Ansätzen, die einer Essentialisierung Vorschub leisteten, wird nun Kultur eher als Prozess, als Relation, im Einsatz begriffen. Damit eröffnen sich auch neuartige Anschlüsse an Nachbardisziplinen und deren Forschungsfragen, so etwa in Bezug auf die sprachlichen und diskursiven Aussagensysteme und Praktiken mit all ihren Unschärfen und kulturellen Codierungen.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
1. Kulturbegriffe im Wandel Diese Sicht hat in Max Weber und Georg Simmel ihre „Väter“, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Soziologie als Kulturwissenschaft begründeten. Beide waren der Ansicht, dass alles soziale Handeln kulturell gerahmt ist. Für sie lässt sich das Soziale nur auf dem Hintergrund der historischen und kulturellen Voraussetzungen verstehen, die den gesellschaftlichen Prozessen erst ihren spezifischen Sinn verleihen. Dabei gehen sie von einem vielgestaltigen und wechselseitigen Verhältnis zwischen sozialen Strukturen und kulturellen Erscheinungen aus. „Kultur“ ist ihnen kein abgeschlossenes Ganzes. Stattdessen sprechen sie von Werten, Wertordnungen, Weltbildern, Ideen, Denkstilen, kulturellen Orientierungen, wofür heute Termini wie symbolische Codes, interpretative Schemata, Deutungsmuster, kulturelle Modelle, kollektive Sinnsysteme stehen. Für Max Weber ist „Kultur“ ein „Wertbegriff“. Weber setzt voraus, „dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (Weber 1968: 175, 180). Doch als Krisendiagnostiker konstatiert er auch die Probleme, die „Kulturmenschen“ in der Moderne damit haben. In seiner These von der „Rationalisierung der Welt“ sieht er zum einen die Geschichte des Okzidents als irreversiblen Prozess fortschreitender Entzauberung, zum anderen aber auch als Prozess einer zunehmenden Fragmentierung der durch traditionell überlieferte Weltbilder verbürgten Kulturwerte, ja zu einem „Polytheismus der verschiedenen Wertordnungen der Welt“ (vgl. Weber 1972: 544). Auch Georg Simmel analysiert den historischen Wandel der Kulturformen, in die sich das Leben der Menschen „kleidet“, wobei er den Wandel vor allem an der Expansion der Geldwirtschaft festmacht. Dabei sieht er zum einen die Kulturformen der Moderne durch ein problematisches Auseinandertreten „subjektiver“ und „objektiver Kultur“ gekennzeichnet, d. h. eine zunehmende Kluft zwischen individualisierten und vergegenständlichten Kulturformen (vgl. Simmel 1999). Im Überhandnehmen der Sachkultur (Geräte, Technik, Industrie, Wissenschaft) sieht Simmel die „Krise“, ja die „Tragödie“ der Kultur. Zum anderen zeigt er aber in seiner Philosophie des Geldes sehr genau die enge Verflochtenheit zwischen den beiden Kulturformen auf: „Indem wir die Dinge kultivieren […] kultivieren wir uns selbst“, denn „die Kultur der Dinge [ist] eine Kultur der Menschen“ (Simmel 1977: 503, 505, 510). Paradigmatisch zeigt Simmel darin auf, wie sich in der geldwirtschaftlichen Moderne durch die „Ästhetisierung des Lebens“ der Sinn für die feinen Unterschiede entfaltet und es im großstädtischen Leben zur Ausbildung und Pluralisierung sozialer Lebensstile kommt. So wurden Weber und Simmel zu Vordenkern einer umfassenden theoretischen Umorientierung, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine erstaunliche Wende zur „Kultur“, zum „Kulturellen“, einen cultural turn auch in der Soziologie einleitete, was sich in einer erheblichen Verschiebung und Erweiterung theoretischer und empirischer Herangehensweisen ausdrückt. Mit dieser Umorientierung wird die „,ideelle‘ Dimension der sozialen Welt […] nicht mehr als vernachlässigenswertes Überbauphänomen [begriffen], sondern als die Sinngrundlage, auf deren Boden Handeln, Praktiken und Kommunikation erst möglich werden“. Damit werden „kollektive Sinnsysteme […] nicht mehr als Epiphänomene, sondern als notwendige Bedingung aller sozialen Praxis wahrgenommen und somit von der Peripherie ins Zentrum der sozialwissenschaftlichen Perspektive gerückt“ (Reckwitz 2000: 16−17).
30. Kultursoziologie Eine derart breit ausgerichtete Kultursoziologie lässt sich dann keineswegs mehr auf eine Spezialsoziologie reduzieren, die sich mit den institutionellen Komplexen von Kunst, Musik, Literatur, Architektur, Design oder der Herausbildung von intellektuellen Gruppierungen beschäftigt. Ihr geht es vielmehr darum, den Begriff der „Kultur“ im Sinn allgemeiner kollektiver Sinn- und Bedeutungsgeflechte weit über die jeweiligen begrenzten Felder kultureller Hervorbringung und Vermittlung hinauszutreiben. Damit überschreitet die neuere Kultursoziologie auch entschieden die normative Unterscheidung von „eigentlicher“ Hochkultur und „niederwertiger“ Massenkultur, wie sie etwa noch in Adornos und Horkheimers kritischen Thesen zur „Kulturindustrie“ angelegt ist. Im Gegensatz zu deren kulturpessimistischer Verfallsgeschichte (vgl. Horkheimer und Adorno 1973) misst die neuere Kultursoziologie den Produkten der Populär- und Alltagskultur eigenständige Bedeutung zu. Zusammen mit der sich seit den 1960er-Jahren entfaltenden angelsächsischen Bewegung der „Cultural Studies“, die sich − von der britischen Working Class Culture ausgehend − der Analyse von Jugend- und Konsumentenkulturen und dann vor allem der Medienrezeption widmete, ist ihr besonderes Interesse darauf gerichtet, bei den Rezipienten auch widerständige und kreative Reaktionsweisen und Aneignungspraktiken aufzuzeigen (vgl. hierzu Hall 2004; Hörning und Winter 2004). Diese kultursoziologische Perspektivenverschiebung verdankt sich nicht nur innertheoretischen Veränderungen, sondern vor allem auch dem umwälzenden sozialen Wandel hochmoderner Gesellschaften. Zum einen ist es die erhebliche Pluralisierung und Enttraditionalisierung von ehemals klassen- und schichtspezifischen Lebensformen und Milieus, die das Individuum mit immer vielfältigeren und weniger verbindlichen Sinnund Deutungsangeboten konfrontiert und von ihm in deutlich stärkerem Ausmaß verlangt, mit kulturellen Differenzerfahrungen und Mehrdeutigkeiten umzugehen. Zum anderen und noch viel umfassender hat die globale Evolution der Kommunikationsverhältnisse zu einer zuvor unvorstellbaren Produktion, Zirkulation und einem Austausch kultureller Formen und Lebensweisen geführt. Die so lange gehegte Vorstellung, man könne die Menschheit als Ganze in eine Vielzahl von einzelnen kulturellen Kapseln aufteilen, um so ihre Unterschiede im Denken und Handeln zu klassifizieren, ist genauso beiseitegelegt worden wie das ethnologische Wunschbild einer ursprünglichen, autochthonen Kultur, an der wir „Kultur“ in ihrer „nicht befleckten“ Reinform und Eigenständigkeit studieren könnten. Was wir stattdessen finden, sind Menschen, die in unterschiedlichen sozialen Welten und Kontexten leben, in denen sie lernen, gekonnt mit Worten und Materialien umzugehen und mit anderen zu kommunizieren und dabei unermüdlich an sich ständig verändernden Geflechten metaphorischer und symbolischer Bezüge und Bedeutungen mitzuweben. Wir können dieses Leben „kulturell“ nennen und das „Schnittmuster“ dieses Lebens nicht so sehr in abgehobenen Bedeutungs- und Sinnstrukturen suchen als vielmehr in den menschlichen Praktiken, die in den jeweiligen Gesellschaftskontexten eingesetzt werden und in denen kulturelle Vorannahmen und Wissensbestände − meist implizit − eine große Rolle spielen. Eine derartige Kultursoziologie beschäftigt sich dann nicht mehr mit ganzen Kulturen, sondern mit der Vielfalt kultureller Formen und Lebensweisen (vgl. Hörning 2004a).
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
2. Die kulturtheoretische Debatte Diese Argumentationsverschiebungen und -transformationen finden ihren deutlichen Niederschlag in den neueren kulturtheoretischen Debatten. Nun bezieht sich der Begriff der „Kultur“ nicht mehr auf eine normativ ausgezeichnete Lebensweise einer ganzen Gruppe, Klasse oder gar Nation, auch nicht mehr auf ein spezielles Teilsystem einer Gesellschaft, dem theoretisch die Funktion zugewiesen wird, die anderen Teilsysteme mit dem gesellschaftsintegrativen „Kitt“ zu versorgen (vgl. Parsons 1949; Junge 2009: 37−42), d. h. das auseinanderstrebende Gesellschaftsgefüge mittels eindeutiger und verbindlicher Sinn- und Deutungsmuster normativ zusammenzuhalten und zu homogenisieren. Vielmehr wurden derartige kollektive Sinnstrukturen und symbolische Ordnungen wegen ihrer Pluralisierung und Fragmentierung in der Moderne als Bedingungen von Sozialität und Subjektivität immer problematischer. So wird eine innertheoretisch sich ständig verändernde kultursoziologische Diskussion immer wieder neu von den großen gesellschaftlichen Transformationen (einer globalisierten Moderne) herausgefordert. Innertheoretisch speist sich das neuere Kulturverständnis aus ziemlich heterogenen Quellen. Ihr gemeinsamer Hintergrund reicht von der neukantianischen Symboltheorie Ernst Cassirers über die strukturalistisch-semiotische Tradition um Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault (vgl. Artikel 12) und Roland Barthes hin zu interpretativ- phänomenologischen Ansätzen um Alfred Schütz und der Ethnomethodologie, über die spätwittgensteinsche Sprachphilosophie bis hin zu Pierre Bourdieus (vgl. Artikel 13) Habitustheorie und dem Pragmatismus und Poststrukturalismus. Aus diesem Konvolut haben sich in den letzten Jahrzehnten vor allem zwei dominante kulturtheoretische Ansätze herauskristallisiert: ein zeichenorientierter und ein praxisorientierter Ansatz. Der erste arbeitet semiotisch-interpretativ: Kulturen verstanden als Zeichensysteme. Der zweite Ansatz ist praxistheoretisch ausgerichtet: Kulturen verstanden als Praktiken bzw. Praxisfelder. Der zeichenorientierte Ansatz geht grundlegend von einer „Kulturwelt“ aus, einer Welt des täglichen Lebens, die „von allem Anfang an für uns ein Universum von Bedeutungen ist, also ein Sinnzusammenhang, den wir interpretieren müssen, um uns in ihm zurecht zu finden und mit ihm ins Reine zu kommen“ (Schütz 2004: 163). Das Kulturelle der Welt ist für diesen Ansatz in kollektiven Sinn- und Zeichenstrukturen verwirklicht, in deren symbolischer Codierung auch Orientierungs- und Regelvorgaben in Form von „Modellen“ für das Handeln eingearbeitet sind. Seine zentrale Frage richtet sich auf das entsprechende „Webmuster“, d. h. auf die Stabilität bzw. Instabilität derartiger Zeichenund Bedeutungsschemata. Ganz im Gegensatz dazu sind dem praxisorientierten Ansatz die kulturellen Sinnstrukturen vor allem ein praktisch-materiales Problem. Das Kulturelle ist ihm integrativer Bestandteil sozialer Praxis und ihrer fortlaufenden alltäglichen Handlungsvollzüge. Seine zentrale Frage gilt der tatsächlichen Verankerung und Wirkkraft der kollektiven Sinnund Deutungsmuster in den sozialen Praktiken und Praxisfeldern und den dabei involvierten materialen Artefakten. Geht es dem ersten Ansatz vor allem um die Semiotik von Kultur als Konfiguration sinnhafter Zeichen, Codes, Symbolsequenzen, Texten und Diskursformationen, will der letztere das kulturelle Geschehen in seinem lebenspraktischen Zusammenhang erfassen, in der Pragmatik von Kultur, d. h. in den sozialen Praktiken, die mit einer gewissen Beständigkeit ausgeführt werden und in denen kulturelle Vorannahmen, Sinnzuschreibungen und Wissensbestände eine zentrale, wenn auch meist implizite Rolle spielen.
30. Kultursoziologie
3. Semiotik von Kultur Grundlegend für den semiotisch-interpretativen Kulturbegriff ist Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (vgl. Cassirer 1982−1988). In ihr stellt Cassirer den Menschen als „animal symbolicum“ in den Mittelpunkt und begreift „Kultur“ als zentrale Bedeutungsdimension, in der sämtliche „sinnliche“ Phänomene der menschlichen Welt erst als „sinnhaft“ erfahrbar werden. Für Cassirer lebt der Mensch „nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum“. Sprache, Mythos, Kunst und Religion, auch Wissenschaft und Technik, sind Bestandteile dieses Universums. „Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist“. So sehr hat der Mensch sich mit diesen symbolischen Formen umgeben, „dass er nichts sehen oder erkennen kann, ohne dass sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe“ (Cassirer 1990: 50). Die Vorstellung von Kultur als „selbst gesponnenem Bedeutungsgewebe“, in das der Mensch sich verstrickt, findet sich in der seit den 1970er-Jahren so ungemein einflussreichen „Symbolischen Anthropologie“ mit ihrem Hauptvertreter Clifford Geertz (vgl. Artikel 14) wieder. Für den Ethnologen Clifford Geertz ist Kultur ein Komplex von Bedeutungen und Vorstellungen, die in symbolischer Form zutage treten. „Durch Kulturmuster, geordnete Mengen sinnhafter Symbole, verleiht der Mensch den Ereignissen, die er durchlebt, einen Sinn. Die Untersuchung von Kultur − die Gesamtheit solcher Muster − besteht daher in der Untersuchung jenes Apparats, dessen sich die Individuen und Gruppen bedienen, um sich in einer andernfalls unverständlichen Welt zu orientieren“ (Geertz 1983: 136). Symbole sind für Geertz Vehikel, Modelle, öffentliche Texte, die die kollektiven Bedeutungs- und Sinnmuster einer Kultur fixieren und aufbewahren. Geertz greift dabei auf Paul Ricœurs hermeneutische Metapher von „Handeln als Text“ zurück (vgl. Ricœur 1972) und versteht analog Kultur als „Montage“, als Gewebe von Texten (vgl. Geertz 1983: 253). Mit der Leitvorstellung von „Kultur als Text“, die von Geertz besonders wirkungsvoll in seinem klassischen Beitrag über den balinesischen Hahnenkampf veranschaulicht wird (vgl. Geertz 1983: 202−260), wird vor allem die Selbstauslegungsdimension von Kulturen betont. Im „selbst gesponnenen Bedeutungsgewebe“ übersetzen die Menschen ständig ihre Handlungen in Zeichen. Der Forscher hat es dann für seine interpretative Arbeit vor allem mit der Lesbarkeit von Handlungszusammenhängen in ihrer Zeichenund Textstruktur zu tun: Zeicheninterpretation statt strenger Tatsachenbeobachtung! Geertz entlieh sich hierfür von dem Sprachphilosophen Gilbert Ryle den Begriff der „dichten Beschreibung“ (vgl. Ryle 1969: 26−77), der durch Geertz zum kulturwissenschaftlichen Schlagwort der nächsten Jahrzehnte wurde. Während die „Symbolische Anthropologie“ noch auf kompakte Bedeutungsstrukturen setzt, wurde in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts aus poststrukturalistischer Sicht immer mehr nach den Prozessen des Hervorbringens und Gebrauchens, nach den Verwicklungen und Vernetzungen, nach den Widersprüchen, Vermischungen und Unter- bzw. Unbestimmtheiten gefragt (vgl. Barth 1989; Hannerz 1995). Eine zu starr gefasste Kulturanalyse kann schlecht mit Zweideutigkeiten und Kontingenzen umgehen, verschiebt diese allzu leicht ins Residuale. Dann werden die kulturellen Idiome (so lokal sie auch gefasst sein mögen) zu sehr von Erfahrung und Praxis abstrahiert, wo es doch um das widersprüchliche Verhältnis von kulturellen Schemata und sozialer Praxis geht und den dadurch ausgelösten Konflikten und Heterogenitäten (vgl. hierzu insbe-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen sondere Fuchs und Berg 1999: 43−63). Kulturelle Phänomene sind − so die breite Kritik − nicht nur sinngeladene Konstrukte in symbolischer Form. Symbolische Formen sind eingebettet in „historisch spezifische und sozial strukturierte Kontexte und Prozesse, innerhalb und mittels derer diese symbolischen Formen hervorgebracht, übermittelt und rezipiert werden“ (Thompson 1990: 135). Es ist vor allem Victor Turner, der schon früh aus seiner Sicht von Kultur als Darstellung die Dynamik und Performanz von Ritualen und die aktive und kreative Rolle von Symbolen betont hat. Mithilfe seines Konzepts des „sozialen Dramas“ zeigt er − auf der Basis von Feldforschungen bei den Ndembu in Sambia − wie Krisen und deren Bewältigung das alltägliche Leben unterbrechen und die sozialen Akteure und Gruppierungen dazu zwingen, „sich mit dem eigenen Verhalten in Bezug zu den eigenen Werten, Ritualen und Symbolen zu befassen“ (Turner 1989: 145; vgl. Bräunlein 2006). Ähnlich suchte Erving Goffman mithilfe der Metapher des Theaters die kulturellen Inszenierungen und Darstellungsabläufe in der alltäglichen Interaktion und Kommunikation zu erfassen, wobei für ihn soziales Handeln durch den Rückgriff auf ein Rahmungswissen mit entsprechenden kulturell geprägten Interpretationsschemata vermittelt wird (vgl. Goffman 1977; Knoblauch 2006). Von Turners und Goffmans „Dramatologie“ ist der Weg nicht weit zu dem so einschneidenden und folgenreichen performative turn in den Kulturwissenschaften. Vielen gilt Turner als dessen „Leitfigur“ (vgl. BachmannMedick 2006: 111).
4. Hybridität von Kulturen Damit wurde der semiotisch-interpretative Ansatz aber keineswegs völlig verabschiedet. Auch Geertz war der Ansicht, dass erst durch den Fluss des Handelns, durch ihren Einsatz im sozialen Leben, „kulturelle Formen ihren Ausdruck finden“ (Geertz 1983: 25), doch immer wieder legten seine kulturellen Texte die Bedeutungen zu fest und räumten so der bedeutungserschließenden und vor allem der bedeutungsunterlaufenden bzw. -irritierenden Qualität der sozialen Praxis des Handelns einen zu geringen Platz ein (vgl. Hörning 2001: 161−171). Geertz antwortete den Kritikern, indem er das Interpretieren durch den Forscher, das ethnographische Schreiben selbst problematisierte, d. h. die Übertragung der ethnographisch erhobenen Befunde in ein Textkorpus, in einen von den vielfältigsten Feldbeobachtungs- und Kontextverweisen gereinigten Text infrage stellte (vgl. Geertz 1990). Durch diese Zweifel an den Möglichkeiten objektiver ethnographischer Repräsentation trug Geertz in den 1980er- und 90er-Jahren bei zu einer turbulenten „Writing-Culture-Debatte“, die in der Ethnologie eine tief greifende epistemologische „Krise der Fremdrepräsentation“ auslöste (vgl. Clifford and Marcus 1986). „Das ‚Objekt‘ der Ethnographie gilt dann nicht mehr als einfach gegeben, als Gegen-Stand entstehen die ‚Anderen‘ erst im Forschungs- oder allgemeiner im Interaktionsprozess selbst: ‚othering‘ wird zu einer Leitvokabel“ (Fuchs und Berg 1999: 72−73). „Dialogizität“ wurde gefordert und gleichzeitig erkenntnistheoretisch und forschungspraktisch wieder infrage gestellt. Die Diskussion um die Krise der Repräsentation ist auch im Zusammenhang mit dem rapiden Aufkommen konstruktivistischer Ansätze in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu sehen. „Die Kulturwissenschaften werden gewahr, dass sie selbst
30. Kultursoziologie wie ihr Gegenstand involviert sind in die Produktion ihren Gegenstandes“ (Nassehi 2011: 301). Sie untersuchen die kulturellen Phänomene nicht nur, sie bringen sie erst durch entsprechende Unterscheidungen und Klassifikationen hervor. Mit Niklas Luhmann (vgl. Artikel 15) ist „Kultur“ eher ein Reflexionsbegriff zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ein Beobachtungsschema, das uns auffordert, die Phänomene so und nicht anders zu beobachten (Luhmann 1995: 47−48). Doch bei dieser konstruktivistischen Engführung, in der „Kultur“ nur noch als ein Reflexionsbegriff oder ein flexibel einsetzbares Beobachtungsschema fungiert, belässt es die neuere kulturwissenschaftliche Diskussion nicht. „Und wenn man einmal erkannt hat, dass es bei der Kritik am Gegenstand der Anthropologie im Prinzip um die Darstellung und das Verständnis lokaler/globaler historischer Begegnungen geht, um Koproduktionen, Machtstellungen und Widerstände […], dann zeichnen sich konstruierte und strittige Historizitäten, Stätten der Entwurzelung, der Einmischung und der Interaktion ab“ (Clifford 2004: 487−488). Mit dieser Perspektivenverschiebung, hin zu einer Welt der konfliktreichen Diffusion und Vermischung von Kulturelementen, kommen die wechselseitigen kulturellen Durchdringungen globaler und lokaler Sinnbezüge in den Blick. Diese Diskussion um „hybride Kulturen“ attackiert grundlegend den in die Soziologie eingebauten methodischen Nationalismus, das „Containermodell“, und stellt im Zeichen der weltweiten Migration von Menschen, Dingen und Ideen die Heterogenität der kulturellen Elemente in ihrer unterschiedlichen Form und Herkunft in den Vordergrund. Nun kommen Begriffe wie „Hybridisierung“, „Kreolisierung“, „Melange“ in Mode, die alle auf eine globale transkulturelle Osmose und Wechselseitigkeit verweisen, die für die „Postcolonial Studies“ in „transnationale Kulturen“ einmünden (vgl. Hannerz 1987; Reuter 2004; Bhabha 2012; Reuter und Karentzos 2012). Mit einer derartigen Perspektivenverschiebung, die Kultur im Zeitalter globaler Verflechtungen als translokale bzw. transnationale soziale Praxis versteht, treten Akteure hervor, in deren Alltagsroutinen ständig die Notwendigkeit auftritt, mit divergierenden Praxisanforderungen und heterogenen Sinngehalten umzugehen. Damit mag sich allmählich auch ein spezielles Problem der Soziologie auflösen, ihr Mangel an Fremdheit, der sie im Gegensatz zur Ethnologie ständig dazu zwang, ihre eigene Kultur zu „exotisieren“, d. h. Befremdungsstrategien gegenüber einem Phänomen einzusetzen, dem der Soziologe als Betrachter immer schon angehört (vgl. hierzu aus ethnomethodologischer Sicht Hirschauer 2010).
5. Pragmatik von Kultur Versteht man Kultur als Praxis, dann stellt man das Praktizieren von Kultur in den Mittelpunkt, dann sucht man das Kulturelle in der fortlaufenden alltäglichen Handlungspraxis und den entsprechenden Praxisfeldern; dort findet es seinen Ausdruck, seine Umsetzung, seine Verwirklichung, seine Fortführung. Aus dieser Sicht wird Kultur „getan“, ist im Einsatz, wird so auch vereinnahmt, transformiert (zu Doing Culture vgl. Hörning und Reuter 2004). Erst die entsprechende soziale Praxis lässt etwa Symbole als „Überbringer“ von Bedeutung zu ihrer Wirkung gelangen, in sie ist das Kulturelle unweigerlich verwickelt. Diese Perspektive zielt auf die Pragmatik von Kultur, auf ihren lebenspraktischen Zusammenhang, auf ihre Verwicklung in die sozialen Praktiken. Unter sozialen
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Praktiken versteht das Praxisparadigma eingespielte Handlungsmuster und kollektive Umgangsweisen, die mit einer gewissen Beständigkeit und Kompetenz ausgeführt werden und in denen kulturelle Vorannahmen und Wissensbestände eine große Rolle für ihren Fortgang spielen (vgl. Hörning 2001: 160−170; Reckwitz 2008). Soziales Leben ist aus dieser Sicht ein Geflecht miteinander verbundener Handlungspraktiken, in deren Vollzug die Akteure nicht nur Handlungsroutinen einüben und darüber ein Handlungswissen (ein Wissen, wie man etwas macht) erlangen, sondern auch Einblick und Verständnis für die Mithandelnden und die Sachwelt gewinnen und sich so allmählich und weithin unthematisch gemeinsame Handlungskriterien und Maßstäbe herausbilden (vgl. Schatzki 1996: 88−132). Solche sozialen Praktiken entstehen im Zusammenleben mit anderen in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Schule, beim Programmieren, beim Kochen, beim Kindererziehen, beim Seminarleiten, beim Sport. Sie üben sich dort ein, werden zu verkörperten Konventionen und Routinen, zu Selbstverständlichkeiten und transportieren doch eine Reihe wichtiger Bedeutsamkeiten und Wertigkeiten, ohne dass die Akteure ständig darüber nachdenken oder sich mit anderen ausdrücklich verständigen würden. An vielen solchen habitualisierten Praktiken nimmt der Alltagsmensch teil, klinkt sich in sie ein und spielt nach meist impliziten Spielregeln mit. Ein Großteil des täglichen Tuns ist eher von derartigen Gepflogenheiten geleitet und nicht stets Ergebnis eines bewusst und mit motiviert-entschiedener Intention jeweils in Gang gesetzten einzelnen Handlungsakts. Solche Praktiken − Körperpraktiken, Zeitpraktiken, Ernährungspraktiken, Mediennutzungspraktiken, Praktiken der geschlechtsspezifischen Interaktion, Diskurspraktiken, Unterrichtspraktiken − sind von vornherein interaktiv in Lebenssituationen und kulturelle Kontexte eingebettet, in denen vor allem auch materielle Dinge, Artefakte jeglicher Art, technische Geräte, Handys, Gebäude, Kleidung und dergleichen eine wichtige Rolle spielen. Dinge sind integraler Bestandteil solcher sozialer Praktiken, beeinflussen diese, prägen sie mit, werden zu Mitspielern (vgl. Hörning 2012). So bringen sie die Menschen oft dazu, Dinge zu tun, die sie ohne das Mitwirken der Dinge nicht tun würden (vgl. dazu weit ausholend: Latour 2007). Das Praxisparadigma „schiebt“ theoretisch zwischen Subjekt und Objekt etwas Drittes, ein kollektives, die Spaltung übergreifendes Praxisgeflecht, in dem das Subjektive und das Objektive eng miteinander verschlungen sind. „Praxis“ stellt dann erst einmal eine Art Formel zur Auflösung der Dichotomie zwischen den dem Akteur (vorgeblich) vorgeordneten objektiven Strukturen und der (vorgeblich) bewusst-intentionalen Einzelentscheidung der handelnden Individuen (vgl. zur Praxiswende: Schatzki, Knorr Cetina and von Savigny 2001). Damit distanzieren sich praxistheoretische Ansätze nicht nur von Struktur- und Systemtheorien jeglicher Couleur, sondern gleichzeitig auch von der recht üblichen Gleichsetzung mit Handlungstheorien. Soziale Praxis ist für sie nicht einfach ein anderer Ausdruck für soziale Handlung. Sie versuchen, gerade der Engführung des „sozialen Handelns“ allein auf das seit Max Weber dominante Verständnis als intendiertes, gezieltes, bewusstes Handeln der Individuen zu entkommen. Ihre Grundannahme ist, dass das meiste, was Menschen tun, eingebettet ist in ein komplexes Netz von Handlungszügen, die sich über Raum und Zeit erstrecken und nicht jeweils intentional zielgerichteten Einzelhandlungen entspringen. Dieses Argumentationsgebäude wird gespeist aus einem praxistheoretischen Ansatz, für den sich in der Diskussion auch Begriffe wie „Theorien sozialer Praktiken“, „Soziolo-
30. Kultursoziologie gie der Praktiken“ oder auch „Praxeologie“ findet, was verdeutlicht, dass es sich dabei eher um ein sich entfaltendes Bündel theoretischer Zugangsweisen als um eine ausgefeilte Theorie handelt (vgl. zur theoriegeschichtlichen Herleitung Reckwitz 2000). In der Soziologie bildete sich der theoretische Praxisbezug vor allem unter Einfluss der Arbeiten von Pierre Bourdieu (1976: 139−202) und Anthony Giddens (1988: 51−90) heraus. Beide nehmen einerseits Bezug auf den Interaktionismus Erving Goffmans (1977) und die Ethnomethodologie Harold Garfinkels (1967) und berufen sich andererseits ausdrücklich auf Wittgensteins Spätphilosophie und seine sprachphilosophische „Gebrauchstheorie der Bedeutung“ (Wittgenstein 1984: 550). Auch deutliche Bezüge zum Pragmatismus um John Dewey und dessen „Theorie der Praxis“ sind vorhanden (vgl. Dewey 1998: 219−293). Vor allem die Praxiskonzeption Pierre Bourdieus mit ihrem zentralen Begriff des „Habitus“ wurde und wird in der Soziologie intensiv diskutiert. Im „Habitus“ drücken sich für Bourdieu die Handlungsdispositionen aus, die nicht reflexiv gelernt, sondern durch Routinen und Praktiken in einer Welt gemeinsamer Bedeutungen verinnerlicht werden. Sie sind frühzeitig geformt: Von Kindheit an in der Familie, in der Schule, in der Ausbildung werden den Menschen bestimmte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata antrainiert, die ihnen erlauben, in der Regel problemlos auf unterschiedliche Situationen in sozial und kulturell erwartbarer Weise zu reagieren. Der Habitus ist für Bourdieu eine Art Handlungsgrammatik, die den stillschweigenden, regelmäßigen Vollzug der Praxis betreibt, indem der Akteur das, was er tut, zwar selbst vollbringt, dass er sich aber vorreflexiv immer schon in einer Sinnstruktur vorfindet, die ihn das tun lässt, was er tut. „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen“ (Bourdieu 1987: 127). Die Genese dieser Habitusformen betrachtet Bourdieu als das Resultat einer sich unentwegt und nicht reflektiert vollziehenden „Einverleibung“ einer Vergangenheit, die die gegenwärtige und zukünftige Praxis „ohne Willen und Bewußtsein“ anleitet (Bourdieu 1987: 105). Dies bedeutet, dass der Habitus eine „systematische ‚Auswahl‘ […] zwischen Orten, Ereignissen und Personen des Umgangs trifft […] und sich so vor Krisen und kritischer Befragung schützt, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie möglich vorangepasst ist“ (Bourdieu 1987: 114). Obwohl sich Bourdieu vom Strukturalismus seines Lehrers Lévi-Strauss als viel zu starr distanzierte, neigt sein Habitus als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrix dazu, sich doch immer wieder zu bestätigen bzw. zu reproduzieren. Bourdieu spricht selbst von „ontologischer Komplizenschaft“ zwischen Habitus und der ihn bestimmenden Welt, die die Welt und die Geschichte in gewisser Weise mit sich selbst kommunizieren lässt, indem nur solche Akteure die objektivierte Geschichte aktivieren, die durch die ihnen einverleibte Geschichte dafür prädisponiert sind. In seinem kultursoziologischen Opus magnum Die feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) demonstriert Bourdieu anhand der Konsumstile und ästhetischen Geschmackspräferenzen der bürgerlichen Akteure, wie deren Streben nach Distinktion, mit entsprechenden subtilen Abgrenzungsstrategien „nach unten“, einen permanenten Kampf mittels des Einsatzes von kulturellem und symbolischem Kapital hervorruft. In einer Vielzahl von kultursoziologischen Detailstudien untersuchte Bourdieu die symbolischen Kämpfe um Herrschaft und Einfluss im Kunstbetrieb, im religiösen Feld, in der Justiz, im literarischen Feld und vor allem im akademischen Feld und dem der Intellektuellen.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Gegen die Vorstellung einer allein herrschaftslegitimierenden und -reproduzierenden Funktion von Kultur richten sich neuere praxistheoretische Arbeiten, die den Begriff der „kontinuierlichen Neuschöpfung“ dem der „kulturellen Reproduktion“ entgegensetzen. Sie wenden sich gegen die strukturalistische Schlagseite in Bourdieus Arbeiten, wenn er immer wieder jede Handlung als Produkt eines in den Akteuren verankerten, präreflexiv durchschlagenden „praktischen Sinns“ auffasst (was schon in seinen frühen algerischen Arbeiten angelegt ist; vgl. Bourdieu 2010) und damit den heterogenen Charakter sozialer Praktiken verdeckt. Soziale Praxis ist den Kritikern immer beides: Reproduktion und Rekonstruktion, Wiederholung und Neuerschließung. Praktiken sind zum einen fraglose Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholte Aneignungen, sind aber auch die gekonnte Wiederherstellung eines Zustandes in einer veränderten Situation, zu einer anderen Zeit (heute und nicht gestern), an einem anderen Ort (hier und nicht dort). Praktiken sind immer auch produktiv zu sehen: als eingespieltes Ingangsetzen von Verändertem, als neuartige Wiederverwendung von Eingelebtem, als andersartiger Gebrauch von Vertrautem (vgl. Hörning 2004b). Diese poststrukturalistische Sichtweise nimmt Bezug auf so unterschiedliche Theoretiker wie Ludwig Wittgenstein, für den die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist (vgl. Wittgenstein 1984: 554 ff.) oder Michel de Certeau, der in seiner Kunst des Handelns (einer heftigen Kritik an Bourdieu und Foucault) den spitzfindigen Taktiker herausarbeitet, der die Strategien des „Machtblocks“ durch pfiffige Praktiken der Wiederaneignung bzw. -verwendung („ré-employ“) subversiv unterläuft (Certeau 1988). Auch Deweys pragmatistisches Handlungsmodell gewann erneut Relevanz, das von der Instabilität, ja dem Scheitern von Praktiken ausgeht. Wenn Routinen nicht mehr greifen, wenn eingeübte Handlungsabläufe durch Hindernisse oder Krisen gestört werden, kommt nach Dewey Bewusstsein ins Spiel. Erst in der Phase der Unterbrechung und Distanznahme, in der sich die Handelnden fragen und überlegen, was da passiert ist, und das Geschehen zu rekonstruieren versuchen, setzt Reflexion ein, die in Umorientierungen und Neustrukturierungen einmünden kann. In Deweys Handlungsmodell sitzt der „Stachel des Zweifels“ im Handeln selbst: Der Gang der Dinge wird unterbrochen, Denken setzt als „verzögertes Handeln ein“ (Dewey 1998: 223), bestimmte präreflexive Vorannahmen werden thematisch, andere Aspekte werden herangezogen, die Handlung wird umstrukturiert, bis das neue Handlungsschema möglicherweise erneut aufläuft. Reflexivität und erprobende Problembearbeitung entwickeln sich für Dewey immer dann, wenn die Welt des fraglos unterlegten common sense mit Hindernissen, kulturellen Umbrüchen, Gewissheitsverlusten konfrontiert wird. Eine Gruppe französischer Sozialforscher um Luc Boltanski und Laurent Thévenot haben sich seit den 1990er-Jahren die Frage nach den reflexiven und kritischen Kompetenzen von Alltagsakteuren gestellt. An (ihrem Lehrer) Bourdieu kritisieren sie besonders, dass er den Akteuren so wenig Selbstaufklärungschancen einräumt, indem er sie zu Gefangenen einer unhinterfragten „doxa des Alltags“ macht, die sie „betriebsblind“ und täuschungsempfänglich werden lässt. Gegen diesen verdeckten Paternalismus, der die Alltagsmenschen lediglich als Verblendete und Hintergangene begreifen kann, denen nur „von außen“ durch „Übersetzer“ und kritische (intellektuelle) Wortführer samt der von ihnen angezettelten „häretischen Diskurse“ (Bourdieu) zu helfen ist, entwickelten sie eine „pragmatische Soziologie der Kritik“ (Boltanski 2010; Boltanski und Thévenot 2011). In scharfem Kontrast zur Kritik „von außen“ untersuchen sie Alltagssituationen, „in denen Personen sich ans Kritisieren machen, das heißt Dispute bzw. Auseinanderset-
30. Kultursoziologie zungen“ führen und dabei besondere Fähigkeiten aufweisen, „situationsspezifische Kritiken oder Rechtfertigungen“ gegenüber anderen einzusetzen (Boltanski 2010: 46−47). Dabei interessiert sich diese „Soziologie der Kritik“ besonders für die Handlungsprinzipien und kulturellen Konventionen, auf die sich die Akteure beim Anprangern, Kritisieren, Aushandeln oder Rechtfertigen beziehen und auf die sie sich argumentativ stützen. Die kollektiven Konventionen werden dabei als Wertigkeitsordnungen und interpretative Ressourcen begriffen, auf die die Akteure zurückgreifen, um mit anderen kompetent Auseinandersetzungen zu führen, zu kritisieren, sich zu rechtfertigen, aber auch geschickt Handlungen zu koordinieren und eine „lokal wie immer zerbrechliche Übereinkunft wiederherzustellen“ (Boltanski 2010: 51). So werden soziale und kulturelle Konventionen zu zentralen „Stützen der Handlung“. Sie erklären auch, warum fehlende Kritik „nicht bloß negativ und auch nicht bloß Ergebnis von Herrschaft und Entfremdung [ist]. Häufig bedarf es einer aktiven Beteiligung der Personen und einer besonderen Fähigkeit, nicht zu sehen, oder zumindest nicht zu thematisieren, was schief läuft. Ohne eine solche Fähigkeit wären alltägliche menschliche Beziehungen ganz einfach unmöglich“ (Boltanski und Thévenot 2011: 68).
6. Resümee Was ist dann − resümierend − „Kultur“ aus soziologischer Sicht? Nach Ansicht des Autors lässt sich „Kultur“ als ein doppelseitiges Repertoire begreifen (vgl. Hörning 2004c). Zum einen besteht „Kultur“ aus Ensembles an kulturellen Wissens- und Bedeutungsschemata, die in vielfältigen Formen (Symbole, Codes, Texte, Konventionen, Techniken, emblematische Beispiele) ausgedrückt, „aufgezeichnet“, gespeichert werden. Dabei spielen Sprachen als besonders reichhaltige Ausdrucksformen sowie Diskurse als spezifisch codierte sprachliche Aussagesysteme eine wichtige Rolle. Zum anderen besteht „Kultur“ aus Repertoires an praktischem Wissen und interpretativem Können, die erst die kulturellen Ausdrucksformen und symbolischen Repräsentationen zur Wirkung bringen. Solche Repertoires an kulturellen Kompetenzen konkretisieren sich an bestimmten sozial eingeübten und habitualisierten Fähigkeiten und Fertigkeiten, in einer mehr oder weniger erwartbaren und passenden Weise mit Menschen, Dingen und Ereignissen umzugehen − ein kulturelles Können, das sich in Geschicklichkeit und Urteilsvermögen spezifisch ausformt und kultiviert. Beide Repertoires entfalten erst durch die Verwicklung in die fortlaufenden sozialen Praktiken ihre wechselseitigen Wirkungen, arbeiten sich dort ein, greifen aufeinander zu und vermischen sich so mit der Kontingenz menschlicher Lebenspraxis. Dabei bilden sich oft spezifische Praxisstile heraus, die durch typische Umgangsweisen und Problembearbeitungsformen gekennzeichnet sind. Praktiker bewegen sich keineswegs in kulturfreien Räumen, auch wenn ihre oft nüchternen und allein nutzenorientierten Alltagstätigkeiten dies selten „verraten“. So ruht ihr praktisches Wissen und Können auf Wertungen und Unterscheidungen, die allgemeineren kulturellen Rahmungen und Konventionen entstammen, ohne dass diese Wertungen immer zum Gegenstand von expliziten Be-Wertungen und Stellungnahmen werden. Eher sind sie Teil eines vorreflexiven Wissens, das sich ständig mit einem kritisch-reflexiven Wissen verbindet und es auch speist, um mit den Unwägbarkeiten sozialer Praxis zurande zu kommen.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Durch diese Verknüpfung von Kulturtheorien mit Praxistheorien wird eine kulturdurchdrungene Praxis sichtbar, die recht stabile kulturelle Vorannahmen bewahrt, aber auch in Zeiten rascher Enttraditionalisierung und kultureller Umbrüche deutlich veränderte Lebensweisen und Praxisstile fördert. Damit erweist sich die „Landschaft“ kultureller Bedeutungs- und Wissensbestände als erheblich disparater und vielgliedriger, als es die konventionelle Kultur- und Wissenssoziologie wahrhaben will.
7. Literatur (in Auswahl) Bachmann-Medick, Doris 2006 Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Barth, Fredrik 1989 The Analysis of Culture in Complex Societies. In: Ethnos 3−4, 120−142. Bhabha, Homi K. 2012 Über kulturelle Hybridität: Übertragung und Übersetzung. Berlin: Turia & Kant. Bourdieu, Pierre 1982 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 1987 Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 2010 Die Herstellung des ökonomischen Habitus. In: ders., Algerische Skizzen, 303−335. Berlin: Suhrkamp. Boltanski, Luc 2010 Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008. Berlin: Suhrkamp. Boltanski, Luc und Laurent Thévenot 2011 Die Soziologie der kritischen Kompetenzen. In: Rainer Diaz-Bone (Hg.), Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie, 43−68. Frankfurt a. M./ New York: Campus. Bräunlein, Peter J. 2009 Viktor W. Turner: Rituelle Prozesse und kulturelle Transformationen. In: Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, 91−100. 2. Aufl. Wiesbaden: VS. Cassirer, Ernst 1982−1988 Philosophie der symbolischen Formen. Drei Teile. 8. bzw. 9. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Cassirer, Ernst 1990 Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer. Certeau, Michel de 1988 Kunst des Handelns. Berlin: Merve. Clifford, James 2004 Kulturen auf der Reise. In: Karl H. Hörning und Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, 476−513. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Clifford, James and George E. Marcus (eds.) 1986 Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley, CA: University of California Press.
30. Kultursoziologie Dewey, John 1998 Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fuchs, Martin und Eberhard Berg 1999 Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation. In: Eberhard Berg und Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, 11−108. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Garfinkel, Harold 1967 Studies in Ethnomethodology. Cambridge/New York: Cambridge University Press. Geertz, Clifford 1983 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Geertz, Clifford 1999 Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. München: Hanser. Giddens, Anthony 1988 Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a. M./New York: Campus. Goffman, Erving 1977 Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hall, Stuart 2004 Die zwei Paradigmen der Cultural Studies. In: Karl H. Hörning und Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, 13−42. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hannerz, Ulf 1987 The World in Creolisation. In: Africa 57, 546−559. Hannerz, Ulf 1995 Kultur in einer vernetzten Welt. Zur Revision eines ethnologischen Begriffs. In: Wolfgang Kaschuba (Hg.), Kulturen − Identitäten − Diskurse, 64−84. Berlin: Akademie. Hirschauer, Stefan 2010 Die Exotisierung des Eigenen in ethnographischer Einstellung. In: Monika WohlrabSahr (Hg.), Kultursoziologie: Paradigmen − Methoden − Fragestellungen, 205−226. Wiesbaden: VS. Hörning, Karl H. 2001 Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist: Velbrück. Hörning, Karl H. 2004a Kulturelle Kollisionen. Die Soziologie vor neuen Aufgaben. In: Karl H. Hörning und Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, 84−115. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hörning, Karl H. 2004b Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem. In: Karl H. Hörning und Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, 19−39. Bielefeld: transcript. Hörning, Karl H. 2004c Kultur als Praxis. In: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, 139−151. Stuttgart/Weimar: Metzler. Hörning, Karl H. 2012 Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und kultureller Praktiken. In: Stephan Moebius und Sophia Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, 29−47. Bielefeld: transcript.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Hörning, Karl H. und Rainer Winter (Hg.) 2004 Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno 1973 Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 108−150. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Junge, Matthias 2009 Kultursoziologie. Eine Einführung in die Theorien. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz. Knoblauch, Hubert 2006 Erving Goffman: Die Kultur der Kommunikation. In: Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, 157−169. Wiesbaden: VS. Latour, Bruno 2007 Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas 1995 Kultur als historischer Begriff. In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, 31−54. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nassehi, Armin 2011 Kultur im System. In: ders., Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, 289−309. Berlin: Suhrkamp. Parsons, Talcott 1949 The Structure of Social Action. 2. Aufl. Glencoe, IL: Free Press. Reckwitz, Andreas 2000 Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück. Reckwitz, Andreas 2008 Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. In: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, 97−130. Bielefeld: transcript. Reuter, Julia 2004 Postkoloniales Doing Culture. Oder: Kultur als translokale Praxis. In: Karl H. Hörning und Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, 239−255. Bielefeld: transcript. Reuter, Julia und Alexandra Karentzos (Hg.) 2012 Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: VS. Ricœur, Paul 1972 Der Text als Modell: Hermeneutisches Verstehen. In: Walter L. Bühl (Hg.), Verstehende Soziologie. Grundzüge und Entwicklungstendenzen, 252−283. München: Nymphenburger Verlagsanstalt. Ryle, Gilbert 1969 Der Begriff des Geistes. Stuttgart: Reclam. Schatzki, Theodore R. 1996 Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social. Cambridge/New York: Cambridge University Press. Schatzki, Theodore R., Karin Knorr Cetina and Eike von Savigny (eds.) 2001 The Practice Turn in Contemporary Theory. London/New York: Routledge. Schütz, Alfred 2004 Common Sense und wissenschaftliche Interpretation menschlichen Handelns. In: Jörg Strübing und Bernt Schnettler (Hg.), Methodologie interpretativer Sozialforschung, 155−200. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz. Simmel, Georg 1977 Philosophie des Geldes, 7. Aufl. Berlin: Duncker und Humblot.
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Karl H. Hörning, Berlin (Deutschland)
31. Ethnologie 1. Einleitung 2. Der Beginn der Ethnologie im 19. Jahrhundert 3. Ethnologie und die linguistische Forschung
4. Die Ethnologie und der Strukturalismus 5. Neue Entwicklungen in der Ethnologie 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Die Anfänge der Ethnologie werden nicht selten schon in der griechischen Antike aufgesucht. Hier wäre etwa Poseidonios zu nennen, der Forschungsreisen nach Syrien, Mesopotamien, Ägypten, Palästina, Nordafrika und Spanien durchführte. Die Beschäftigung mit fremden Kulturen reicht also weit zurück. Aber die methodische Untersuchung von Kulturen, das heißt ihre genaue und sorgfältige, möglichst objektive Beschreibung zusammen mit einer vergleichenden Methode, entsteht erst in der Spätaufklärung. Hier beginnt sich die Ethnologie als eigenständige Disziplin zu formieren. In der Spätaufklärung werden Methoden und Fehlerquellen der Beobachtung diskutiert und Leitfäden für Reisende formuliert, die eine möglichst objektive Beschreibung von fremden Kulturen ermöglichen sollen (Moravia 1989). Die Entwicklung der Feldforschung als grundlegende ethnologische Methode sollte allerdings noch bis ins 20. Jahrhundert reichen. Dabei waren vor allem die Arbeiten von Bronislaw Malinowski wegweisend. Malinowski (1922) entwickelte die Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ (participant observation) im Rahmen seiner eigenen Feldforschungen in Melanesien. Seine Vorgehensweise
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen wurde zwar durchaus auch kritisch diskutiert (Kämpf 2003: 203−294), aber die sogenannte Lehnstuhlethnologie (Armchair Anthropology) des 19. Jahrhunderts, bei der die Ethnologen die Begegnung mit Angehörigen fremder Kulturen „im Feld“ mieden, war damit fragwürdig geworden. Auch die historisch orientierte Ethnologie in Deutschland, wie sie beispielsweise Fritz Graebner (1911) vertrat, geriet so unter Legitimationsdruck. Es lässt sich sagen, dass bis heute die Diskussionen um Möglichkeiten und Grenzen der Feldforschung zu den fruchtbarsten Diskussionen in der Ethnologie gehören. Eine strikte Trennung von Ethnologie als theoretischer Disziplin und Ethnographie als Beschreibung von Kulturen auf der Grundlage von Feldforschungen ist dabei längst fragwürdig geworden.
2. Der Beginn der Ethnologie im 19. Jahrhundert Die Ethnologie formierte sich im 19. Jahrhundert als akademische Disziplin. Zu dieser Zeit entstanden zahlreiche ethnologische Gesellschaften und es wurden die ersten Dozenturen für Ethnologie an den Universitäten eingerichtet. So wurde Adolf Bastian 1896 der erste Dozent für Völkerkunde in Berlin. Adolf Bastian gründete zusammen mit Rudolph Virchow die Berliner „Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Vorgeschichte“ und die noch heute existierende Zeitschrift für Ethnologie. Bastian war als Schiffsarzt auf zahlreichen Reisen gewesen, über die er berichten konnte. In theoretischer Hinsicht formulierte Bastian (1881) die These von den Elementargedanken, die besagt, dass das Denken in allen Kulturen auf sogenannte Elementargedanken zurückzuführen ist, die sich in Form von Völkergedanken in den verschiedenen Kulturen aufweisen lassen. 1884 wurde Edward Burnett Tylor Reader für Anthropology in Oxford, bis er 1896 dort die erste Professur für Anthropology besetzte. Von ihm stammt die einflussreiche Definition von Kultur, die er schon 1871 formulierte: Kultur ist demnach „that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society“ (Tylor [1871] 1920: 1). Tylor war ein Vertreter des Evolutionismus, der davon ausgeht, dass alle Völker verschiedene, aufeinander aufbauende Entwicklungsstadien von der Wildheit bis hin zur Zivilisation durchlaufen. Die Evolutionstheorie hielt sich lange in der Ethnologie, wobei der Gedanke, dass sich zeitgenössische, sogenannte primitive oder schriftlose Kulturen in einem früheren Entwicklungsstadium befinden, schließlich als Abwertung und zeitliche Distanzierung zeitgenössischer Kulturen heftiger Kritik ausgesetzt war (z. B. Fabian 1983). Franz Boas wurde 1888 Dozent und 1899 Professor für Anthropology in den USA. Er hat die Ethnologie nicht nur in den USA nachhaltig geprägt. Mit seiner Kulturtheorie, in der er Kulturen als strukturelle Einheiten begreift, wendet er sich sowohl gegen den Funktionalismus, den Malinowski vertrat, wie gegen den Evolutionismus. Gegen den Evolutionismus bringt er die Einzigartigkeit der Geschichte einer jeden Kultur vor. Und gegen den Funktionalismus betont er, dass sich kulturelle Phänomene nicht in ihrer Funktion, also ihrem besonderen Nutzen, erschöpfen. Vor diesem Hintergrund formuliert er 1911 seinen Kulturbegriff: Culture may be defined as the totality of the mental and physical reactions and activities that characterize the behavior of the individuals composing a social group collectively and individually in relation to their natural environment, to other groups, to members of the group itself and of each individual to himself. It also include the products of these activities
31. Ethnologie and their role in the life of the groups. The mere enumeration of these various aspects of life, however, does not constitute culture. It is more, for its elements are not independent, they have a structure. (Boas 1938: 159)
Eine jeweilige Kultur erscheint hier als umfassendes und ganzheitliches Phänomen, das die Wahrnehmung und Verhaltensweisen ihrer Angehörigen in ihrem Verhältnis zueinander und zu ihrer Umgebung prägt, und das in der Ethnologie in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen ist. Boas bekannteste Schülerinnen, Ruth Benedict und Margaret Mead, haben diesen Kulturbegriff weiterentwickelt und mit seinem Anspruch ihre Feldforschungen betrieben. Vor allem Boasʼ Kulturrelativismus mit seiner Betonung der Gleichwertigkeit aller Kulturen, die er nicht zuletzt gegen die rassistischen Theorien seiner Zeit formuliert hatte, wurde kritisch diskutiert. Die Kritik an Boasʼ Kulturkonzept formierte sich um den Vorwurf, dass mit dem Versuch, der Einzigartigkeit jeder Kultur gerecht zu werden, jede theoretische Verallgemeinerung aufgegeben würde.
3. Ethnologie und die linguistische Forschung Im Zusammenhang mit dem oben formulierten Kulturverständnis sind auch die linguistischen Arbeiten von Boas zu verstehen. Er kritisierte zuerst das Desinteresse der Ethnologen an den verschiedenen Sprachen und hat sich besonders den nordamerikanischen Indianersprachen gewidmet. Boas linguistische Analysen sind dabei von drei Thesen geprägt: 1. Die Sprache formt die Gedanken, 2. die Sprache klassifiziert die Erfahrungen und 3. verschiedene Sprachen ordnen die Erfahrungen unterschiedlich. Sein berühmtestes Beispiel für diese Thesen sind die vielen verschiedenen Bezeichnungen der Inuit für Schnee, die sich in anderen Sprachen nicht finden lassen. Und er folgert: „When we consider for a moment what this implies, it will be recognized that in each language only a part of the complete concept that we have in mind is expressed, and that each language has a peculiar tendency to select this or that aspect of the mental image which is conveyed by the expression of the thought“ (Boas 1911: 39). Edward Sapir entwickelt Boasʼ Ansatz weiter. Er betont, dass Sprache ein symbolisches System ist, das Erfahrungen organisiert. Sprachen erscheinen bei ihm, anders als bei Boas, letztendlich als inkommensurable Systeme, wie er es 1931 formuliert: Inasmuch as languages differ very widely in their systematization of fundamental concepts, they tend to be only loosely equivalent to each other as symbolic divices and are, as a matter of fact, incommensurable in the sense in which two systems of points in a plane are, on the whole, incommmensurable to each other if they are plotted out with reference to differing systems of coordination. (Sapir [1931] 1964: 128)
Sapir betont, dass linguistische Klassifikationen das Denken maßgeblich leiten. Daraus entwickelt er den Gedanken der Relativität des Denkens. Demnach wandelt sich die Logik mit der jeweiligen Sprache. Auch das, was unter Realität gefasst wird, wandelt sich, wie er es 1929 ausführt, demnach mit der Sprache: Language is a guide to social reality. […] Human beings do not live in the objective world alone, nor alone in the world of social activity as ordinarily understood, but are very much
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen at the mercy of the particular language which has become the medium of expression for their society […] the real world ist to a large extend unconscously built up on the language habits of the group. (Sapir [1929] 1949: 162)
Benjamin Lee Whorf führt den Gedanken der Relativität von Sprachen im Anschluss an Sapir fort und konzentriert sich vor allem auf die Hopi-Sprachen. Sein Relativitätsprinzip besagt, dass „nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu dem gleichen Weltbild geführt werden“ (Whorf 1963: 12). Demnach präsentiert sich die Welt in einem kaleidoskopartigen Strom von Eindrücken, der durch die Sprache organisiert werden muss. Um diese These zu verdeutlichen, vergleicht er europäische Sprachen mit nordamerikanischen Indianersprachen und zeigt, dass diese in der Konstruktion des Weltbildes erheblich voneinander abweichen. Diese Überlegungen haben in der Ethnologie zahlreiche lexikalische Analysen angeregt, in denen gezeigt wird, wie verschiedene Sprachen die Erfahrungen unterschiedlich einteilen. Die Untersuchung der verschiedenen kulturell bedingten Wahrnehmungsweisen hat sich schließlich zur sogenannten kognitiven Ethnologie weiterentwickelt (Tyler 1969).
4. Die Ethnologie und der Strukturalismus Für die Ethnologie ist darüber hinaus der Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss prägend gewesen, der Kultur in Analogie zur Sprache in den Blick nimmt. Lévi-Strauss war nicht nur durch die Linguistik seiner Zeit, sondern auch durch die Arbeiten von Marcel Mauss und Emile Durkheim beeinflusst worden. Lévi-Strauss interpretiert Kultur als Universum der Regeln. Er markiert den Übergang von der Natur zur Kultur, vom Naturzustand zum Kulturzustand, durch den Begriff der Norm, der Regel: Demnach gehört alles, was einer gesellschaftlichen Norm unterliegt, zur Kultur und weist die Eigenschaften des Besonderen und Relativen auf. Das Universale dagegen, die universellen Regelmäßigkeiten, gehören zur Ordnung der Natur. Im Rahmen dieser Differenzierung kommt dem Inzestverbot eine Sonderstellung zu, die es als Gründungsmoment von Kultur erscheinen lässt: Es gehört zur Ordnung der Kultur, insofern es eine Norm ist, aber gleichzeitig ist es auch universal, das heißt in allen Kulturen zu finden, und es regelt naturgewollte geschlechtliche Beziehungen und ähnelt darin der Natur. Daher schreibt Lévi- Strauss: „Diese Regel, die aufgrund ihres Regelcharakters sozial ist, ist zugleich in doppelter Hinsicht präsozial: zum einen durch die Universalität zum anderen durch die Art der Beziehung[,] denen sie die Norm aufzwingt“ (Lévi-Strauss 1993: 57). Der Durchbruch zur Kultur gelingt demnach mit der Normierung geschlechtlicher Beziehungen, denn „das Inzestverbot ist gleichzeitig an der Schwelle der Kultur, in der Kultur und, in gewissem Sinne […] die Kultur selbst“ (Lévi-Strauss 1993: 57). Lévi-Strauss argumentiert gegen solche Theorien, die das Inzestverbot auf eine instinktive, natürliche Abneigung oder auf eine natürliche Abscheu zurückführen wollen. Dieser These steht das Argument entgegen, dass es durchaus zur Übertretungen dieses Verbots kommt. Und, dass es überhaupt als Verbot ausgesprochen wird, zeigt an, dass es nicht als natürliche Regel zu verstehen ist. Es wäre also überflüssig eine solche Norm
31. Ethnologie aufzustellen, wenn die Natur hier vorgesorgt hätte. Vielmehr nutzt das Inzestverbot den Spielraum, den die Natur offenlässt: Während die Natur nur allgemein die Geschlechtsbeziehungen vorsieht, ist die Reglementierung geschlechtlicher Beziehungen ein sozialer Prozess, der den Spielraum kultureller Regelungen nutzt. Das Inzestverbot ist nach Lévi-Strauss der erste und grundlegende Schritt um den Übergang von der Natur zur Kultur zu vollziehen. Als allgemeine Voraussetzung von Kultur ist das Inzestverbot auf die Natur verwiesen, insofern diese zwar geschlechtliche Allianzen fordert, aber die Regelungen derselben offenlässt. Das Inzestverbot sowie die zahlreichen andern kulturenspezifischen Heiratsregelungen, die die Art der sozialen Allianzen bestimmen, markieren den Ausgang aus der Natur, der in gewissem Sinne von der Natur vorgesehen ist, insofern die Fortpflanzung, nicht aber ihre Modalitäten zur Natur gehören. Mit dem Inzestverbot wird die Natur also einerseits überwunden, „sie hört auf unbeschränkt zu herrschen“ (Lévi-Strauss 1993: 74), andererseits ist es auf die Natur verwiesen: erstens durch die Art der Beziehungen, die es regelt, und zweitens durch den von der Natur belassenen Spielraum. Daher folgert Lévi-Strauss: Das Inzestverbot ist das Verfahren, mit dem die Natur sich selbst überwindet; es ist der Funke, der eine neue und komplexe Struktur entstehen läßt, welche die einfacheren Strukturen des psychischen Lebens überlagert und integriert, so wie diese die noch einfacheren Strukturen des tierischen Lebens überlagern und integrieren. Es zeitigt und ist selbst die Heraufkunft einer neuen Ordnung. (Lévi-Strauss 1993: 74)
Lévi-Strauss geht dieser komplexen Ordnung nach, indem er die elementaren Strukturen der Verwandtschaft herausarbeitet. Aber nicht nur die Verwandtschaftsethnologie hat sich an Lévi-Strauss orientiert. Sein Strukturalismus hat die Ethnologie weithin geprägt und zahlreiche weiterführende Diskussionen ausgelöst.
5. Neue Entwicklungen in der Ethnologie In den letzten Jahren sind in der Ethnologie vor allem Fragen nach dem Umgang mit dem Fremden und der Fremderfahrung diskutiert worden (Kohl 2011). Dabei geht das ethnologische Bemühen dahin, den Eurozentrismus zu überwinden: also das Fremde weder mit eigenkulturellen Kategorien zu überschreiben noch in das andere Extrem, die Exotisierung fremder Kulturen, zu verfallen, indem das Verdrängte und Überwundene der eignen Kultur auf die fremde Kultur projiziert wird (Gottowik, Jebens und Platte 2009; Kämpf 2003). Vor dieser Tendenz der europäischen Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen hat nicht zuletzt Edward Said (1981) gewarnt. Er prägte den Begriff des „Orientalismus“, nachdem er beispielhaft die eurozentrisch verzerrten, auf Herrschaftsverhältnissen aufruhenden Darstellungen des Orients untersucht hatte. In der Diskussion um den Orientalismus werden Formen der Beschreibung und Darstellung des Fremden auch als Formen der Machtausübung in den Blick genommen. So haben die kritischen Ausführungen Michel Foucaults (vgl. Artikel 12) zur Macht in die Ethnologie Eingang gefunden (Rabinow und Dreyfus 1994). Wie eine Ethnologie der Moderne im Anschluss an Foucault aussehen könnte, hat Rabinow (2008) formuliert (Kämpf 2013). In diesen Kontext gehört auch die Diskussion um die Krise der Repräsentation in der Ethnologie, durch die schon der Anspruch, fremde Kulturen gewissermaßen abbilden
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen oder darstellen zu können, massiv in die Kritik geriet (Hahn 2013: 190−208). Unter dem Stichwort „writing culture“ (Clifford and Marcus 1986) kam so der Prozess des ethnologischen Schreibens als Konstruktionsprozess in das Blickfeld ethnologischer Betrachtungen: Unter Rückgriff auf die Hermeneutik formuliert James Clifford (1986: 10) die dafür grundlegende Einsicht: „Hermeneutic philosophy in its varying styles […] reminds us, that the simplest cultural accounts are intentional creations, that interpreters constantly construct themselves through the others they study.“ Auch Clifford Geertz (1993; vgl. Artikel 14) hat ethnologische Schriften unter einem literarischen Aspekt betrachtet und zugleich die Konstruktion des Fremden und Eigenen im Prozess ethnographischen Schreibens thematisiert. Er hat die Diskussion über die Grenzen der Ethnologie hinaus bekannt gemacht. Um die einseitigen, auf Machtverhältnissen beruhenden und diese verfestigenden Konstruktionen des Fremden zu überwinden, wurden insbesondere dialogische Verfahren im Umgang mit fremden Kulturen diskutiert, die darauf zielen, den anderen nicht mit eigenen Deutungen zu überschreiben, sondern seine Stimme hörbar zu machen. Paul Rabinow (1977), Vincent Crapanzano (1983) und Kevin Dwyer (1982) sind für diese Diskussion bis heute wegweisend. Sie bemühen sich um eine dialogische Öffnung der ethnologischen Forschung und um einen dialogischen Aufbau ihrer Ethnographien. Dabei ist nicht zuletzt das Dialogmodell von Hans-Georg Gadamer leitend, nach dem es im offenen Dialog mit dem anderen nicht zuletzt darum geht, die eigenen Vorurteile aufs Spiel zu setzen. Und Kultur erscheint dieser Auffassung nach als emergentes Phänomen, das im Dialog zwischen Eigenem und Fremdem entsteht (Tedlock and Mannheim 1995). Dieses Konzept greift in gewisser Weise Gadamers Gedanken der „Horizontverschmelzung“ (Gadamer 1990: 392) als Vollzugsform des Gesprächs auf, in dem jeder Gesprächspartner seine Vorurteile preisgibt, sodass die verschiedenen Standpunkte miteinander zu etwas Neuem verschmelzen können.
6. Literatur (in Auswahl) Bastian, Adolf [1881] 1931 Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. In: Carl August Schmitz (Hg.), Kultur, 54−64. Frankfurt a. M.: Akademische Verlagsgesellschaft. Boas, Franz 1911 Handbook of American Indian Languages. Washington: Government Printing Office. Boas, Franz 1938 The Mind of Primitive Man. New York: Macmillan. Clifford, James 1986 Introduction. Partial Truth. In: Clifford James and George E. Marcus (eds.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, 1−27. Berkeley: University of California Press. Clifford James and George E. Marcus (eds.) 1986 Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley: University of California Press. Crapanzano, Vincent 1983 Tuhami. Portrait eines Marokkaners. Stuttgart: Klett-Cotta. Dwyer, Kevin 1982 Moroccan Dialogues. Baltimore: Johns Hopkins University Press.
31. Ethnologie Fabian, Johannes 1983 Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. New York: Columbia University Press. Gadamer, Hans-Georg 1990 Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr. Geertz, Clifford 1993 Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gottowik, Volker, Holger Jebens und Editha Platte (Hg.) 2009 Zwischen Aneignung und Verfremdung. Ethnologische Gratwanderungen. Frankfurt a. M./New York: Campus. Graebner, Fritz 1911 Methode der Ethnologie. Heidelberg: Winter. Hahn, Hans Peter 2013 Ethnologie − Eine Einführung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kämpf, Heike 2003 Die Exzentrizität des Verstehens. Zur Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und Ethnologie. Berlin: Parerga. Kämpf, Heike 2013 The Engagement of Philosophy an Anthropology in the Interpretive Turn and Beyond. Towards an Anthropology of the Contemporary. In: Ananta K. Giri and John Clammer (eds.), Philosophy and Anthropology. Border Crossing and Transformation, 89−104. London: Anthem Press. Kohl, Karl-Heinz 2011 Ethnologie − Die Wissenschaft vom kulturell Fremden. München: Beck. Lévi-Strauss, Claude 1993 Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Malinowski, Bronislaw 1922 Argonauts of the Western Pacific. An Account of Native Enterprise and Adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea. London: Routledge. Moravia, Sergio 1989 Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer. Rabinow, Paul 1977 Reflections on Fieldwork in Morocco. Berkeley: University of California Press. Rabinow, Paul 2008 Marking Time. On the Anthropology of the Contemporary. Princeton/Oxford: Oxford University Press. Rabinow, Paul und Hubert Dreyfus 1994 Michel Foucault. Jenseits von Hermeneutik und Strukturalismus. Weinheim: Beltz. Said, Edward 1981 Orientalismus. Frankfurt a. M.: Fischer. Sapir, Edward [1929] 1949 The Status of Linguistics as a Science. In: David G. Mandelbaum (ed.), The Selected Writings of Edward Sapir in Language, Culture, and Personality, 160−167. Berkeley: University of California Press. Sapir, Edward [1931] 1964 Conceptual Categories in Primitive Languages. In: Dell H. Hymes (ed.), Language in Culture and Society. A Reader in Linguistics and Anthropology, 128. New York/London: Harper and Row. Tedlock, Dennis and Bruce Mannheim (eds.) 1995 The Dialogic Emergence of Culture. Urbana/Chicago: University of Illinois Press.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Tyler, Steven (ed.) 1969 Cognitive Anthropology. New York: Holt, Rinehart and Winston. Tylor, Edward Burnett [1871] 1920 Primitive Culture. New York: Putnam’s Sons. Whorf, Benjamin Lee 1963 Sprache, Denken, Wirklichkeit. Hamburg: Rowohlt.
Heike Kämpf, Darmstadt (Deutschland)
32. Psychologie und Kognitionswissenschaft 1. Fachgeschichtlicher Abriss 2. Kultur als Determinante sprachlicher Prozesse
3. Das Verhältnis von Sprache und Denken 4. Literatur (in Auswahl)
1. Fachgeschichtlicher Abriss Wie ist das Verhältnis von Sprache und Kultur aus Sicht der Psychologie und insbesondere ihrer kognitionswissenschaftlichen Orientierung beschaffen? Wir kennen im Wesentlichen drei Arten von Ansätzen, die seit der sogenannten kognitiven Wende die Rollen von Sprache und Kultur in psychologischen Theorien und Untersuchungen kennzeichnen; diese werden im Folgenden anhand von Beispielen erläutert. Zunächst ist jedoch zu sagen, dass weder „Sprache“ noch „Kultur“ zu den − wie auch immer zu bewertenden − psychologischen „Mainstream-Themen“ der neueren wissenschaftlichen Auseinandersetzung gehören, erst recht nicht ihr Zusammenhang. Von den 38 Kapiteln der drei Bände zur Kulturvergleichenden Psychologie (Theorien und Methoden; Erleben und Handeln; Anwendungsfelder) aus der Enzyklopädie der Psychologie, einer sehr expliziten (auf über 90 Bände angelegten) Bestandsaufnahme der kontemporären (deutschen) wissenschaftlichen Psychologie, behandelt eines sprachliche Kommunikation (Helfrich 2007) und eines den Spracherwerb (Lin-Huber 2007). Von den 64 Kapiteln der drei Bände über Sprache (Produktion; Rezeption; Entwicklung) trägt nur eines (Helfrich 2003) die Kultur im Titel. Aber auch unter den 66 Kapiteln des Bandes Psycholinguistik (Band 24 der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Rickheit, Herrmann und Deutsch 2003) sucht man „Kultur“ sowohl in den Titeln der Beiträge als auch im dreizehnseitigen Sachregister vergeblich. Sehr viele Themen und Befunde können es also derzeit nicht sein, die Sprache und Kultur innerhalb der Psychologie explizit verbinden. Dies gilt aber bei Weitem nicht für die gesamte Geschichte der Psychologie, in der beispielsweise Karl Bühler und Lew Wygotski bis hin zu Jerome Bruner aus einer geisteswissenschaftlich(er)en Orientierung des Faches heraus entscheidend zu einer kulturorientierten Sprachauffassung (unter besonderer Betonung der Mechanismen des Spracherwerbs) beitrugen (z. B. Billmann-Mahecha 2011; Bruner 1997). Diese Positionen werden im Einleitungsbeitrag dieses Handbuches von Helmuth Feilke (vgl. Arti-
32. Psychologie und Kognitionswissenschaft kel 2) bereits skizziert und in einen wissenschaftshistorischen wie -theoretischen Zusammenhang gesetzt, sodass sie hier nicht wiederholt werden müssen. Ein aktuelles Lehrbuch der Sprachpsychologie beginnt mit der Feststellung: „Die Psychologie der Sprache behandelte bisher ihre Gegenstände, das Sprechen und Zuhören, das Schreiben und Lesen, weitgehend individualistisch-experimentell, ohne Berücksichtigung der Evolution, Kultur und Kommunikation“ (Galliker 2013: VII). Diese − im zitierten Kontext als Klage intendierte − Bestandsaufnahme hat (im Bereich ihres Zutreffens) systematische Gründe, die bereits in der Konstitution der Psychologie als Einzelwissenschaft begründet liegen (vgl. zum Folgenden Groeben 2006; Herrmann 2000; aber auch Tomasello 2002). Die an den Naturwissenschaften orientierte Empirisierung des Faches, institutionell verknüpft mit dem Wirken Wilhelm Wundts gegen Ende des 19. Jahrhunderts, schließt die Untersuchung komplexerer geistiger Funktionen, und damit auch des menschlichen Umgangs mit der Sprache, von einer experimentellen Erforschbarkeit aus. Dadurch erfährt Sprache zunächst weiterhin eine eher philosophisch-hermeneutische Theoriebildung, die im deutschsprachigen Bereich noch bis Friedrich Kainz (1954−1957) reicht. Die neuere Sprachpsychologie − seit Osgood und Sebeok (1954) auch Psycholinguistik genannt − schließt dann aber ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und das ist zugleich auch die Zeit der aufkommenden Kognitionswissenschaft, an das naturwissenschaftliche Paradigma an, das im Wesentlichen allgemeinpsychologisch orientiert ist (Herrmann 1985): Im Fokus stehen diejenigen Prozesse des menschlichen Umgangs mit Sprache, die interindividuell im Wesentlichen invariant zu identifizieren und zu beschreiben sind (und gerade nicht Unterschiede, die sich etwa durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Sprachgemeinschaften und/oder Kulturen ergeben; vgl. Funke und Frensch 2006: 13). Im behavioristischen Interludium sind dies Lernprinzipien (Skinner 1957), die dann durch Annahmen über innere kognitive Prozesse und Repräsentationen und deren Modellierung abgelöst werden. Von linguistischer Seite wird die Konzentration auf das Invariante mit dem paradigmatischen Wandel durch Chomskys Generative Transformationsgrammatik und die implizierte Konzeption der (universellen) Kompetenz idealer Hörer/Sprecher eher noch verschärft (vgl. Rickheit, Sichelschmidt und Strohner 2004: 21−28). Feilke (Artikel 2) kennzeichnet diese Perspektive als nicht einmal antikulturell, sondern schlicht akulturell. So hat sich die frühe Psycholinguistik dann auch vorrangig an der sogenannten psychologischen Realität der universalgrammatischen (und anderer linguistischer) Kategorien abgearbeitet (Engelkamp 1974). Aber auch nach der Gegenstandserweiterung um andere sprachliche Verarbeitungseinheiten (z. B. Wörter, Propositionen, Texte) und der Ausarbeitung von Modellen ihrer Produktion und Verarbeitung (Grabowski 2003, 2006; Prestin 2003) bleibt die nomothetische Fokussierung auf die Erforschung allgemeingültiger psychischer − hier: sprachbezogener − Funktionen des Menschen. Methodologisch hat das auch damit zu tun, dass die Willkürlichkeit und Variierbarkeit der in Experimenten untersuchten Einflüsse von Variablenausprägungen als kriteriale Voraussetzungen für kausale Erklärungen gelten und die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer wie auch immer verstandenen Kultur, ähnlich wie das Geschlecht einer Person, experimentell nicht manipulierbar ist. Wie sehr alles Kulturelle und überhaupt jede Quelle von Bedeutungskonstitution in diesem methodischen Paradigma stören kann (natürlich ggf. um den Preis laborexterner bzw. ökologischer Validität), kann man deutlich am Beispiel der sehr erfolgreichen Experimente von Ebbinghaus (1885) zum verbalen Lernen sehen, in denen er zur Bestimmung gesetzesartig gültiger
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Gedächtniseffekte sinnlose Silben (CVC-Trigramme) als Lernmaterialen einsetzen musste.
2. Kultur als Determinante sprachlicher Prozesse Die Konzentration auf die invariablen Kernprozesse der menschlichen Sprachverarbeitung stößt an Grenzen, wenn es über die Prozessinputs im engeren Sinne hinaus Einflussgrößen gibt, von deren Ausprägungen diese Prozesse im Ablauf und/oder Ergebnis (ebenfalls systematisch) abhängen. Solche Determinanten finden in kontextsensitiven oder situierten Modellen der Sprachverarbeitung (Rickheit und Strohner 2003) Berücksichtigung. Eine derart erweiterte und eingebettete Perspektive auf sprachliche Verarbeitungsprozesse zieht dann auch andere Einführungstexte als den oben genannten nach sich: „Die Sprachproduktion ist […], ebenso wie die Sprachrezeption, unlöslich mit den kognitiven Fähigkeiten des Menschen und mit der jeweiligen Kultur, den Konventionen und den kommunikativen und kooperativen Erfordernissen verknüpft, unter denen der Mensch lebt“ (Herrmann und Grabowski 2003: XII). Kulturbezogene Aspekte werden dabei vor allem in Form von Wissensbeständen berücksichtigt, über die das Individuum infolge seiner Erfahrungen mit einer Kultur und seiner Partizipation an den zugehörigen Denk- und Handlungsmustern verfügt. Solches Wissen tritt häufig in Form von Schemata oder Konventionen auf. Kulturbezogene Wissensbestände werden in der Regel, wie das Konventionen an sich haben, als willkürlich erlebt; man kann sie nicht logisch oder heuristisch ableiten, noch lassen sie sich experimentell induzieren. Generell begründet sich auf eine solche Weise auch für andere psychologische Teilgebiete die traditionelle kulturvergleichende Psychologie; deren Ziel „[…] ist die kritische Überprüfung der Generalisierbarkeit psychologischer Gesetzmäßigkeiten und die Analyse der spezifischen Wirkungen kultureller Kontextbedingungen auf die Art und Ausprägung psychischer Funktionen“ (Thomas 1993: 13). Als frühes bekannt gewordenes Beispiel aus dem Bereich des Sprachverstehens kann die für schematheoretische Ansätze der Kognitionspsychologie grundlegende Untersuchung von Bartlett (1932) gelten, die zeigt, wie eine kulturell erfahrungsfremde Geschichte („The war of the ghosts“) in der Repräsentation, Erinnerung und sprachlichen Wiedergabe durch (fehlende bzw. vorhandene) Vorwissensstrukturen verzerrt bzw. schemakonform rekonstruiert wird (Kellogg 2003: 177−182). In einer anderen Untersuchung (Reynolds et al. 1982) lasen afroamerikanische und euroamerikanische Jugendliche denselben Text über eine Kontroverse zwischen zwei Schülern, die in Abhängigkeit von der Kenntnis von Kommunikationstypen in der jeweils eigenen kulturellen Gruppe ganz unterschiedlich (nämlich als verbaler Schlagabtausch versus als Schlägerei) verstanden, interpretiert und auch reproduziert wurde (vgl. Rickheit und Strohner 1993: 249−250). Aus dem Bereich der Sprachproduktion seien folgende Beispiele genannt: Räumliche Relationen (beispielsweise im Rahmen von Zimmer- oder Wegbeschreibungen) können aus der egozentrischen Perspektive des Sprechers oder aus der Perspektive des Kommunikationspartners beschrieben werden, um diesem die kognitive Auffassung der betreffenden Raumkonstellation zu erleichtern (Grabowski 1999). In die Perspektive des Partners versetzt man sich entweder aus Höflichkeit, beispielsweise gegenüber einem sozial höhergestellten Partner, oder, weil man dessen kognitive und/oder sprachliche Kompe-
32. Psychologie und Kognitionswissenschaft tenz geringer einschätzt, beispielsweise gegenüber einem Kind oder einer Fremdsprachensprecherin. So konnte in einer experimentellen Untersuchung mit Lokalisationsaufgaben erwartungsgemäß gezeigt werden (vgl. zum Folgenden Herrmann und Grabowski 1994: 125−133), dass der Anteil partnerbezogener Lokalisationen von Studierenden gegenüber einem Professor, aber auch gegenüber einem Kind, höher ausfällt als gegenüber einem Studenten oder einer Studentin, wobei sich Studentinnen und Studenten in der Sprecherrolle in der Partnerbezogenheit ihrer Äußerungen nicht unterscheiden. Eine vom Untersuchungsdesign her analoge Untersuchung an japanischen Studierenden zeigte im Wesentlichen denselben Befund (höherer Anteil partnerbezogener Äußerungen gegenüber Kind und Professor), was nach Helfrich (2003: 412) auf eine „universelle Kommunikationsregel“ bzw. auf allgemeine sozial-kognitive Funktionsprinzipien bei der Sprachproduktion schließen lässt. Allerdings fällt der Anteil an partnerorientierten Lokalisationen in der japanischen Stichprobe insgesamt höher aus. Dies steht im Einklang mit der berichteten Akzentuierung von Beziehung, Höflichkeit und Harmonisierung im Japanischen (z. B. Nagatomo 1986). In derartigen Untersuchungen müssen nicht notwendigerweise singuläre Sprach- und Kulturgemeinschaften miteinander verglichen werden, sondern es können auch, im gegebenen Beispiel, das Japanische und das Deutsche als Repräsentanten parametrisierter Kulturvariablen (etwa anhand der Analysen von Hofstede 1983) aufgefasst werden, auf der Japan als vertikal-kollektivistisch und Deutschland als horizontal-individualistisch gilt (Helfrich 2003). Telefonate folgen häufig konventionalen Schemata, in denen funktionale Turns wie Selbstidentifikation, Partneridentifikation, Begrüßung, Themenfestlegung, Themenbehandlung oder Verabschiedungsprozeduren hinsichtlich Sprecherrollen(wechsel) und Ablauf geordnet sind (Schegloff 1979). Je nachdem, ob in einer Kultur die angerufene Person mit einer Selbstidentifikation beginnt (wie es in Deutschland zumindest bis zur Einführung der Rufnummernanzeige der Fall war, indem man sich in der Regel mit seinem Namen meldete) oder nur die eigene Interaktionsbereitschaft signalisiert (wie im Italienischen oder Englischen, wo man sich mit „pronto“ bzw. „hello“ meldet), muss die anrufende Person auf andere kommunikative Züge vorbereitet sein (und diese zu initiieren wissen), um die Voraussetzungen für die Behandlung des eigenen Themenanliegens − die wechselseitige Identifikation der Gesprächspartner − sicherzustellen (Herrmann und Grabowski 1994: 474−478).
3. Das Verhältnis von Sprache und Denken In den Beispielen des vorangegangenen Abschnitts wird eine Abhängigkeit sprachlichkommunikativer Sachverhalte und Prozesse von kulturellen Gegebenheiten (und damit eine prinzipielle Trennbarkeit der beiden) konzipiert; in dem oben genannten Zitat spricht Thomas (1993) von der Wirkung kultureller Kontextbedingungen auf psychische Prozesse. Bestimmte Aspekte der Kulturzugehörigkeit (und die dieser zugrunde liegenden Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse) beeinflussen die Auffassung der Welt oder einzelner (z. B. sozialer) Situationen, was sich wiederum auf die Resultate von Sprachproduktions- oder Sprachverstehensprozessen auswirkt. Nun ist aber die Sprache selbst auch ein − vielleicht sogar zentraler − Aspekt der jeweiligen Kultur; damit stellt sich die umgekehrte Frage, ob und in welcher Weise nicht auch das Erlernen und Beherrschen
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen einer bestimmten Sprache an sich und/oder das Hineinwachsen in die zugehörige Sprachgemeinschaft an sich die Auffassung von der Welt (ko)determiniert. Insofern wir Sprache normalerweise als diagnostisches Fenster zum Denken nutzen, also die Indikatorbeziehung der Sprache für das Denken voraussetzen (Grabowski 2005), ist es auch methodisch herausfordernd, die Beziehung zwischen Sprache und Denken empirisch zu problematisieren. Diese Frageperspektive fand ihren wohl bekanntesten Niederschlag in der SapirWhorf-Hypothese (Whorf 1956), der zufolge strukturelle Unterschiede zwischen den Systemen von Einzelsprachen mit kognitiven Unterschieden einhergehen und diese nicht nur reflektieren, sondern hervorrufen (linguistischer Determinimus) bzw. beeinflussen (linguistischer Relativismus) (Liebing und Ohler 1993). In starker Konsequenz würde das bedeuten, dass die Übersetzung zwischen Sprachen und letztlich auch interkulturelle Verständigung nicht oder bestenfalls nur eingeschränkt möglich sind. Eleanor Rosch, die sich mit der empirischen Überprüfung solcher Annahmen intensiv befasst hat, kommt zu dem zusammenfassenden Schluss, dass die Experimente zum Einfluss grammatischer Formen auf Denkaspekte etwa der Gruppierung von Kategorien „weitestgehend negative Befunde“ erbracht haben (Rosch 2007: 451). Im Bereich der lexikalischen Strukturen nutzte man beispielsweise den Sachverhalt, dass die Sprache der Dani, einer bäuerlichen Kultur auf Neuguinea, nur zwei Ausdrücke für Grundfarben besitzt, das Englische dagegen elf Grundfarbwörter. Für das Englische lassen sich zu jedem Farbwort interindividuell übereinstimmende fokale Farbtöne identifizieren (das „beste“ Rot, Blau etc.; vgl. Berlin and Kay 1969), die bevorzugt verarbeitet und memoriert werden können. Wenn diese perzeptiv-kognitiven Vorteile durch die Existenz der zugehörigen Farbnamen vermittelt sind, müssten sich bei der Farbverarbeitung der Dani andere Befunde ergeben. Dies war jedoch nicht der Fall (Heider 1972; vgl. zusammenfassend Hardin and Maffi 1997); vielmehr scheinen sich hier allgemeinpsychologische Prinzipien der Farbwahrnehmung durchzusetzen. Malt, Sloman, Gennar, Shi und Wang (1999) fanden, dass die Ähnlichkeitseinschätzungen von unterschiedlichen Behältern durch Sprecher des Englischen, Chinesischen und Spanischen weitgehend übereinstimmten, obwohl in den drei Sprachen sehr unterschiedliche Gruppen von jeweils gleich benannten Behältern existieren. Dies spricht wiederum für eine gewisse Unabhängigkeit sprachlicher und kognitiver Kategorien. Die moderne Kognitive Anthropologie hat jedoch zum Verhältnis von Sprache, Kultur und Denken im Bereich der Sprache und Kognition des Raumes, dem langjährigen Leitphänomen der jungen Kognitionswissenschaften, interessante Weiterentwicklungen hervorgebracht (Levinson 1992). Räumliche Relationen werden in unterschiedlichen Kulturen (untersucht wurden neben den europäischen Sprachen z. B. das australischindigene Guugu-Yimidhirr sowie Tzeltal und Tenejapa im heutigen Mexiko) zum Teil nach sehr unterschiedlichen Prinzipien verbalisiert, zum Beispiel intrinsisch („vorne am Auto“), anthropomorph („bei der Nase des Autos“) oder absolut geozentrisch („an der Westseite des Autos“) (vgl. Grabowski 1999). Bei Veränderungen der absoluten oder relativen Raumlagen der relatierten Objekte ergeben sich je nach Lokalisationsprinzip unterschiedliche Invarianzen, die sich durch einfallsreiche Experimentalanordnungen auch im Denken der Probanden, unabhängig vom sprachlichen Ausdruck, nachweisen ließen (Levinson 1996). Aber auch innerhalb europäischer Sprachen ließ sich im Vergleich des Englischen, Niederländischen, Französischen, Italienischen und Deutschen zeigen, dass in Abhängigkeit davon, ob eine Sprache für die temporale und räumliche
32. Psychologie und Kognitionswissenschaft Deixis überlappende präpositionale Wortformen bereitstellt oder nicht (z. B. räumlich und zeitlich „vor“ vs. „avant“ und „devant“), die objektiv gleichen räumlichen Objektrelationen systematisch unterschiedlich (intrinsisch oder deiktisch) aufgefasst und entsprechend versprachlicht (Herrmann and Grabowski 1998) bzw. strukturanaloge Äußerungen unterschiedlich interpretiert werden (Grabowski and Miller 2000). Fassen wir zusammen: In der kognitiv und experimentell orientierten Psychologie, unter Absehung von sozial-konstruktivistischen, geisteswissenschaftlichen oder indigenpsychologischen Strömungen und Paradigmen, finden sich drei Konstellationen für das Verhältnis von Sprache und Kultur: (1) Die allgemeinpsychologische Sicht auf Sprechen und Sprachverstehen fokussiert die Invarianten der zugehörigen psychischen Prozesse und bleibt akulturell. (2) In situierten sprachpsychologischen Konzeptionen treten kulturelle Faktoren als Determinanten sprachlicher Produktions- oder Verstehensprozesse auf, die das Verhältnis zwischen Gedanken und sprachlichen Ausdrücken aber in der Regel unangetastet lassen. (3) Insofern Sprache selbst ein kultureller Faktor ist, muss das Verhältnis von Sprache und Denken problematisiert werden. Viele, jedoch nicht alle der vorliegenden empirischen Befunde verweisen wieder auf die Durchschlagskraft der allgemeinen psychischen Funktionsprinzipien.
4. Literatur (in Auswahl) Bartlett, Frederic C. 1932 Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge: Cambridge University Press. Berlin, Brent and Paul Kay 1969 Basic Color Terms: Their Universality and Evolution. Berkeley: University of California Press. Billmann-Mahecha, Elfriede 2011 Rosa Katz: Auf der Suche nach einer kulturpsychologischen Entwicklungspsychologie. In: Sibylle Volkmann-Raue und Helmut E. Lück (Hg.), Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, 129−139. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Bruner, Jerome 1997 Sinn, Kultur und Ich-Identität. Heidelberg: Carl Auer. Ebbinghaus, Hermann 1885 Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. Leipzig: Duncker & Humblot. Engelkamp, Johannes 1974 Psycholinguistik. München: Wilhelm Fink. Funke, Joachim und Peter A. Frensch 2006 Einführung. In: dies. (Hg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie − Kognition, 13− 15. Göttingen: Hogrefe Galliker, Mark 2013 Sprachpsychologie. Tübingen: Francke. Grabowski, Joachim 1999 Raumrelationen. Kognitive Auffassung und sprachlicher Ausdruck. Opladen: Westdeutscher Verlag. Grabowski, Joachim 2003 Bedingungen und Prozesse der schriftlichen Sprachproduktion. In: Gert Rickheit, Theo Herrmann und Werner Deutsch (Hg.), Psycholinguistik, 355−368. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 24.) Berlin: de Gruyter.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Grabowski, Joachim 2005 Der Schriftlichkeitsüberlegenheitseffekt: Sprachproduktionsprozesse bei der verbalen Wissensdiagnose. In: Zeitschrift für Psychologie 213, 193−204. Grabowski, Joachim 2006 Sprachproduktion. In: Joachim Funke und Peter A. Frensch (Hg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie − Kognition, 621−629. Göttingen: Hogrefe. Grabowski, Joachim and George A. Miller 2000 Factors Affecting the Use of Spatial Prepositions in German and American English: Object Orientation, Social Context, and Prepositional Patterns. In: Journal of Psycholinguistic Research 29, 517−553. Groeben, Norbert 2006 Historische Entwicklung der Sprachpsychologie. In: Joachim Funke und Peter A. Frensch (Hg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie − Kognition, 575−583. Göttingen: Hogrefe. Hardin, Clyde L. and Luisa Maffi 1997 Color Categories in Thought and Language. Cambridge, MA: Cambridge University Press. Heider, Eleanor 1972 Universals of Color Naming and Memory. In: Journal of Experimental Psychology 93, 10−20. Helfrich, Hede 2003 Kulturelle Aspekte der Sprachproduktion. In: Theo Herrmann und Joachim Grabowski (Hg.), Sprachproduktion, 393−428. Göttingen: Hogrefe. Helfrich, Hede 2007 Sprachliche Kommunikation im Kulturvergleich. In: Gisela Tromsdorff und Hans-Joachim Kornadt (Hg.), Erleben und Handeln im kulturellen Kontext, 109−156. Göttingen: Hogrefe. Herrmann, Theo 1985 Allgemeine Sprachpsychologie. München: Urban & Schwarzenberg. Herrmann, Theo 2000 Sprachpsychologie: Aspekte und Paradigmen. In: Zeitschrift für Psychologie 208, 110− 128. Herrmann, Theo und Joachim Grabowski 1994 Sprechen − Psychologie der Sprachproduktion. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Herrmann, Theo and Joachim Grabowski 1998 The Dimensional Conception of Space and the Use of Dimensional Prepositions in Different Languages. In: Dieter Hillert (ed.), Sentence Processing: A Cross-Linguistic Perspective, 265−291. (Syntax and Semantics 31.) San Diego: Academic Press. Herrmann, Theo und Joachim Grabowski (Hg.) 2003 Sprachproduktion. (Enzyklopädie der Psychologie C/III/1.) Göttingen: Hogrefe. Hofstede, Geert 1983 Dimensions of National Cultures in Fifty Countries and Three Regions. In: Jan B. Deregowski, Suzanne Dziurawiec and Robert C. Annis (eds.), Expiscations in Cross-Cultural Psychology, 335−355. Lisse: Sweets & Zeitlinger. Kainz, Friedrich 1954−1957 Psychologie der Sprache. 5 Bde. Stuttgart: Enke. Kellogg, Ron 2003 Cognitive Psychology. Thousand Oaks: Sage. Levinson, Stephen 1992 Primer for the Field Investigation of Spatial Description and Conception. In: Pragmatics 2, 5−47.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Whorf, Benjamin L. 1956 Language, Thought, and Reality. Selected Writings of Benjamin Lee Whorf. Cambridge, MA: MIT Press.
Joachim Grabowski, Hannover (Deutschland)
33. Psychoanalyse 1. Einleitung: Psychoanalyse − eine Übersicht 2. Psychoanalyse und Sprache: die klassische Auffassung 3. Symbolische Interaktion 4. Psychoanalyse und Sprachentwicklung: weitere Differenzierungen
5. Psychoanalytische Sprachtheorie und Neurowissenschaften 6. Zum Gebrauch der Sprache in der Psychoanalyse 7. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung: Psychoanalyse − eine Übersicht Die Psychoanalyse ist eine von Freud begründete Disziplin, in der grundsätzlich drei Ebenen unterschieden werden können (vgl. Laplanche und Pontalis 1973: 410 ff.): 1. eine Untersuchungsmethode, die vor allem darin besteht, die unbewusste Bedeutung
von Sprache, Handlungen, imaginären Bildungen (Träume, Fantasien, Wahnvorstellungen) eines Subjekts zu bearbeiten. Dieses Vorgehen geht hauptsächlich von den freien Assoziationen des Subjektes aus als Grundlage für die Gültigkeit von Deutungen. Die freie Assoziation besteht in dem Versuch des Therapeuten, eine Person dazu zu bringen, ohne Aussonderung alles zu sagen, was ihr einfällt, sei es von einem vorgegebenen Element aus (Wort, Zahl, Traumbild, Vorstellung), sei es spontan. Die psychoanalytische Deutung zielt dabei auf die Aufdeckung der latenten Bedeutung der Worte und Verhaltensweisen eines Subjekts. Die Deutung erhält die Modalitäten des Abwehrkonflikts und zielt gänzlich auf den unbewussten Wunsch ab, der sich in den Bildungen des Unbewussten ausdrückt; 2. eine psychotherapeutische Methode, die auf dieser Untersuchung gegründet und gekennzeichnet ist (1) durch die kontrollierte Deutung des Widerstandes (das heißt dessen, was in den Handlungen und Worten des Analysierten sich dem Zugang zu seinem Unbewussten entgegenstellt), (2) die Übertragung (Vorgang, durch den die unbewussten Wünsche an bestimmten Personen im Rahmen eines bestimmten Beziehungstyps, der sich mit diesen Personen ergeben hat, aktualisiert werden im Sinne der Wiederholung infantiler Vorbilder und des Wunsches). Im Kontext psychotherapeutischer Anwendungen wird der Ausdruck „Psychoanalyse“ als Synonym für „psychoanalytische Behandlung“ verwendet; 3. eine Gesamtheit psychologischer und psychopathologischer Theorien, durch die die Gegebenheiten der psychoanalytischen Untersuchungsmethode und Behandlung systematisiert werden.
33. Psychoanalyse Die Psychoanalyse ist eine sich stetig weiterentwickelnde Wissenschaft. Die psychoanalytischen Modelle seelischer Krankheit versuchen, deren unbewusste Determiniertheit und das Konfliktgeschehen psychischer Störungen zu erfassen. Sie sind ein Abbild des jeweiligen Entwicklungsstandes der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Die im Mittelpunkt der jeweiligen psychoanalytischen Theorie stehenden Konzeptualisierungen und Begriffe haben einen steten Inhaltswandel erfahren und stehen in einem dynamischen Bezug zueinander. Die Entwicklung triebtheoretischer, ichpsychologischer, objektbeziehungstheoretischer und selbstpsychologischer Modelle der Psychoanalyse steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der Erkenntnis, dass menschliches Erleben und Handeln nicht nur der Eigendynamik biologisch vorgegebener Trieb- und Affektimpulse gehorcht, sondern in einem engen Zusammenhang steht mit dem Spannungsfeld zwischenmenschlicher Strebungen. Moderne psychoanalytische Objektbeziehungs-, Entwicklungs-, Sozialisations- und klinische Theorien fokussieren dabei insbesondere die Konzeptualisierung von Interaktionen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen situationsspezifischen Dynamik und der Aktivierung vergangener, teilweise unbewusst gewordener Interaktionserlebnisse.
2. Psychoanalyse und Sprache: die klassische Auffassung Der Sprache wird in der Psychoanalyse durchgängig eine zentrale Rolle zugeschrieben. Ihre Bedeutung resultiert dabei insbesondere aus der Rolle, die ihr im Zusammenhang mit dem Problem und der Frage, wie psychische Vorgänge bewusst werden, zugeschrieben wird. Der Sprachprimat der Psychoanalyse leitet sich insbesondere aus dem Gesellschaftsbezug des Psychischen ab und reflektiert zugleich eine alte sprachphilosophische Tradition. In der neuroanatomischen Aphasieschrift (Freud [1891] 1992) entwickelte Freud − im Gegensatz zur herrschenden Lokalisationslehre − einen funktionalen Ansatz. Mit dem Erlernen des Nachsprechens werden „Klangbilder“ zum Kern des „Wortvorstellungskomplexes“. Die Klangbilder kommunizieren mit den optischen Erinnerungsbildern des „Objektvorstellungskomplexes“. In diesem psychologischen Modell der Funktionsweise des Sprachapparats sind die sensorischen Elemente Produkte der Wahrnehmung und werden beim Sprechenlernen mit der motorischen „Sprachbewegungsvorstellung“ in einem „Assoziationskomplex“ zusammengefasst (Freud [1891] 1992: 79). Dieser Komplex verknüpft sich mit einer „Objektvorstellung“, die ebenso als ein „Assoziationskomplex“ betrachtet wird, der aus visuellen, akustischen, taktilen, kinästhetischen und anderen Elementen besteht (Freud [1891] 1992: 75, 78 ff.). Die formal stimmige Auffassung der Sprache als funktionales Mittel, das seelischen Vorgängen Bewusstsein verleiht, prägt auch die späteren Arbeiten Freuds, die sich in systematischer Weise mit dem Problem befassen, wie psychische Prozesse bewusst werden: „Was wir die bewusste Objektvorstellung heißen durften, zerlegt sich uns […] in die Wortvorstellung und in die Sachvorstellung, die in der Besetzung, wenn nicht der direkten Sacherinnerungsbilder, doch entfernterer und von ihnen abgeleiteter Erinnerungsspuren besteht. Mit einem Male glauben wir nun zu wissen, wodurch sich eine bewusste Vorstellung von einer unbewussten unterscheidet. […] Die bewusste Vorstellung umfasst die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewusste ist die Sachvorstellung allein“ (Freud [1915] 1946: 300).
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Die Verknüpfung mit Wortvorstellungen charakterisiere „kein anderes System als das des Vbw [des Vorbewussten]“ (Freud [1915] 1946: 301). Freud hielt fest, dass allein die Verbindung von Wort- und Sachvorstellungen nicht bereits garantiere, dass eine dem „System-Ubw“ (des Unbewussten) angehörende Sachvorstellung ins System des Bewussten Eingang findet; um bewusst zu werden, müsse eine unbewusste Vorstellung nicht nur „mit den ihr entsprechenden Wortvorstellungen überbesetzt“ werden (Freud [1915] 1946: 300), sie bedürfe noch einer weiteren „Überbesetzung“ (Freud [1915] 1946: 292), etwa in Gestalt einer „Aufmerksamkeitsbesetzung“ von Seiten des Systems Bw (Freud [1900] 1945: 621). Freud nahm an, dass das Auftreten bzw. Wiederauftreten einer verdrängten, unbewusst gewordenen Sachvorstellung durch eine „Gegenbesetzung“ (Freud 1915: 280) verhindert werde. Für diese Gegenbesetzung werde die libidinöse Besetzung der unbewussten Sachvorstellung teilweise entzogen und auf eine „Ersatzvorstellung“ verschoben, die sich mit den hierzu gehörigen Wortvorstellungen verbinde. Die Frage, welche Beziehung die Wortvorstellungen zum Bewussten und Unbewussten haben und wieso die Verdrängung einer Vorstellung sich im Bewusstwerden äußern kann, stellte für Freud ein zentrales Problem dar. Dies ergab sich nicht zuletzt daraus, dass er das psychoanalytische Therapieverfahren, in dem Unbewusstes bewusst zu machen ist, als ein ausschließlich sprachgebundenes konzeptualisierte: „In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt“ (Freud [1916/1917] 1944: 9). Die primär nicht an Sprache gebundenen Prozesse innerhalb der therapeutischen Beziehung (sogenannter Handlungsdialog, Symptomhandlungen, Übertragung, Gegenübertragung) lassen sich für die Erkennbarkeit des Unbewussten nutzen, wenn sie in Sprache gefasst werden und in den „Austausch von Worten“ eingehen können. Freuds These von den Wort- und Sachvorstellungen fügte sich nahtlos in das topographische Modell der frühen Psychoanalyse ein. Wortvorstellungen lassen sich im Licht von Freuds Aussage, dass im Wachzustand „die Denktätigkeit in Begriffen […] vor sich geht“ (Freud [1900] 1945: 51), als in Begriffe gefasste und durch Worte bezeichnete Vorstellungen auffassen. Diese Auffassung steht auch im Einklang mit sprachtheoretischen Konzeptionen (vgl. Zepf 2005), wonach der Zusammenhang von Worten und Dingen kein direkter, sondern immer ein über Begriffe vermittelter ist (vgl. de Saussure [1916] 1972). Rapaport, Gill und Schafer (1968) wiesen darauf hin, dass in eine psychoanalytische Sprachtheorie die über Sprache möglich gewordene Begriffsbildung Eingang finden müsse. Sie begründen diese Forderung damit, dass jeder Begriff eine durch Abstraktion gewonnene intensionale Bestimmung, einen Inhalt, und eine Extension, einen Umfang, habe. Der begriffliche Inhalt ist ein Komplex von Merkmalen, die den Gegenständen gemeinsam sind, die unter diesem Begriff subsumiert werden und die deshalb innerhalb seines Umfanges liegen. Aus erkenntnis- und sprachtheoretischer Sicht werden Gegenstände in einem Prozess bewusst, in dem sie über die extensionalen Bestimmungen ihres mit einem Wortzeichen versehenen Begriffs − über ihre Vorstellungen − identifiziert und über die Intensionen der Begriffe, in deren Umfang die Vorstellungen liegen, als konkrete Fälle bestimmter Abstraktionen ausgewiesen werden (vgl. Zepf 2005: 139). Dementsprechend schafft die Sprache Bewusstsein aufgrund bezeichneter Begriffe, die es erlauben, die „Zugehörigkeit“ (Rapaport, Gill and Schafer 1968: 189) von Erfahrungen zu bestimmen, sie nach logischen Gesichtspunkten zu kategorisieren und auf ihrer Grundlage zu planen und zu handeln.
33. Psychoanalyse Bei den Wortvorstellungen Freuds handelt es sich nicht um eine in Worte gefasste andere, begriffliche Niederschrift der Sachvorstellungen, sondern um die Vorstellungen von Worten. In Freuds Sicht werden bei den Psychosen die Wortvorstellungen von den Sachvorstellungen abgetrennt, dem Primärvorgang unterworfen, und im Unbewussten findet eine Verschiebung auf der Grundlage ihrer Ähnlichkeit statt. Demgegenüber unterliegen bei den Übertragungsneurosen die Sachvorstellungen dem Primärvorgang, deren Besetzungen im Unbewussten verschoben werden. Die Sachvorstellung, auf die die Besetzung verschoben wurde, wird dann wieder mit Wortvorstellungen verbunden und gewinnt auf diesem Weg als eine Ersatzbildung Bewusstsein. In der Auffassung Freuds sind die Wortvorstellungen nicht die sprachliche Form von Begriffen, sondern lediglich ein funktionales Mittel, das den Übergang von unbewussten in bewusste Sachvorstellungen dadurch ermöglicht, dass sie miteinander äußerlich verbunden werden (vgl. Zepf 2005: 142). Unbewusste und bewusste Sachvorstellungen „sind nicht, wie wir gemeint haben, verschiedene Niederschriften desselben Inhaltes an verschiedenen Orten, auch nicht verschiedene funktionelle Bewegungszustände an demselben Orte“ (Freud [1915] 1946: 300). In der „Traumdeutung“ führte Freud aus, dass das Bewusstsein einerseits Sinnesorgan zur Wahrnehmung der äußeren Realität und andererseits ein „Sinnesorgan zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten“ ([1900] 1945: 620) sei. Dabei entbehren die psychischen „Vorgänge“ so lang „jeder psychischen Qualität“, bis sie „mit dem nichtqualitätslosen Erinnerungssystem der Sprachzeichen“ verknüpft werden: „Durch die Qualitäten dieses Systems wird jetzt das Bewusstsein, das vordem nur Sinnesorgan für die Wahrnehmungen war, auch zum Sinnesorgan für einen Teil unserer Denkvorgänge“ (Freud [1900] 1945: 580). Freuds besetzungstheoretische Erklärung des Zusammenhanges von Sach- und Wortvorstellungen wurde insbesondere in sprachtheoretischer Hinsicht kritisiert (vgl. Zepf 2005: 148 ff.). Freud rekurriere mit seiner Sprachkonzeption lediglich auf den sigmatischen Aspekt der Sprache, das heißt auf die Tatsache, dass die sprachlichen Zeichen mit den abgebildeten Objekten oder Sachverhalten in Beziehung stehen. Ihre wichtigste und Bewusstsein ermöglichende Funktion aber, ihre Darstellungs- oder Symbolfunktion, die sich auf die ideelle, über eine bloße sinnliche Wahrnehmung hinausreichende Abbildung der Wirklichkeit in Gestalt von Begriffen bezieht, bleibe außerhalb der freudschen Überlegungen bzw. werde mit dem sigmatischen Aspekt vermengt.
3. Symbolische Interaktion Angesichts der weiterhin ungelösten Fragen, wie sich Bewusstsein generiert und warum menschliches Bewusstsein der Sprache bedarf, stellte Lorenzer (1972) den freudschen Begriff der Sachvorstellungen infrage. Dieser Begriff ist deshalb problematisch, da er voraussetzt, dass das kindliche Subjekt bereits auf vorsprachlichem Entwicklungsstand in der Lage ist, die Welt in verschiedene, sich in Sachvorstellungen darstellende distinkte Objekte zu differenzieren und sich selbst von ihnen abzugrenzen. Lorenzer (1972) löste den Begriff der Sachvorstellung in seinen Begriff der „Interaktionsformen“ kritisch auf. Wenn Sprache erworben wird, können die ersten Worte, die zuletzt nichts anderes sind als Erinnerungsreste gehörter Worte, zunächst weder das Subjekt noch die Objekte, son-
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen dern nur das innere Abbild dessen bezeichnen, was geschieht: das Abbild einer Interaktion, das heißt eine Interaktionsform, die zwar objektiv, aber noch nicht aus der Sicht des Kindes in Subjekt − Aktion − Objekt gegliedert ist. Subjektiv sind in dieser Interaktionsform das kindliche Subjekt und seine Objekte noch ungetrennt aufeinander bezogen. Nach Lorenzer (1974: 120 ff.) vollzieht sich der Sprachaufbau in der Ontogenese des Einzelnen als ein Prozess in folgender Weise: 1. Ein Wort, z. B. „Mama“, wird von einer bestimmten Person dem Kind vorgesprochen. 2. Die „spracheinführende Person“ zeigt dabei auf einen Gegenstand, der […] als die aktuelle, bestimmt-geformte Interaktionsfigur die gegenwärtige Interaktion zwischen den beiden Partnern der Spracheinführung ausmacht. Die bestimmte Interaktionsform erhält einen Namen. 3. Der Sprachaufbau gründet so auf der Pragmatik des Zeigens-auf, der Semantik der Verbindung von Wort (im Rahmen der gegebenen Sprache) und bestimmter Interaktionsform (im Rahmen der hergestellten Interaktionsstruktur). […] Als benannte, also „prädizierte bestimmte Interaktionsform“ wird diese zur „symbolischen Interaktionsform“, […] zur Grundeinheit des semantischen Gefüges der Sprache. Die das kindliche Verhalten ausmachende „bestimme Interaktionsform“ wird als „symbolische Interaktionsform“ zur Grundfigur des Bewußtseins. (Lorenzer 1974: 121)
Lorenzer (1972: 79) versuchte, die Beziehung zwischen Sprache und Interaktionsformen in Bildung symbolischer Interaktionsformen mit den sprachtheoretischen Begriffen der „Prädikation“ und „Regulation“ zu klären. Er bezog sich dabei auf die Sprachkonzeption von Lorenz (1970). Bei der Prädikation wird ein Prädiktor, ein gesprochenes Wort, einer Interaktionsform zugeordnet; die Regulation als sprachliches Grundvermögen erlaubt, die Prädikatoren, die bestimmten Interaktionsformen zugesprochen wurden, anderen Interaktionsformen abzusprechen. Lorenzers Begriff der „Interaktionsform“ wurde in unterschiedlichen Bezeichnungen inzwischen auch von anderen Autoren übernommen (Dahl 1988; Lichtenberg 1991; Sandler and Sandler 1978; Konzept der „RIGs“, das heißt „representations of interactions that have been generalized“, von Stern [1978] 1985; Thomä 1999). Kritisch gegenüber Lorenzers Konzeption wird eingewandt, dass auch in ihr − wie in der freudschen energetischen Sprachauffassung − sprachliche Zeichen und Vorstellungen lediglich in einem formalen und nicht in einem sinnhaft-signifikanten Zusammenhang stehen. Ebenso wie bei Freud werde die Bewusstsein generierende Funktion lediglich mit ihrem sigmatischen Aspekt begründet.
4. Psychoanalyse und Sprachentwicklung: weitere Differenzierungen Die Psychoanalyse ist von einem globalen Sprachbegriff zur Beschreibung verschiedener Einzelaspekte des Spracherwerbs übergegangen (vgl. Hamburger 2008). Die Erforschung der Ichentwicklung, der Objektbeziehungen und der Entwicklung des Selbst im frühen Dialog lieferte ein entwicklungspsychologisches Fundament für die Frage, auf welchen vorsprachlichen Strukturen der Spracherwerb aufbaut.
33. Psychoanalyse Von Geburt an exploriert das Kind aktiv seine Umgebung, imitiert mimische, gestische und vokale Reize, die kreativ erweitert und korrigiert werden (vgl. Spitz 1957; Edgcumbe 1980; Dornes [1993] 2004). Die Untersuchung der präverbalen Interaktion unterstreicht die Bedeutung der wechselseitigen Passung durch intuitives Eingehen der Betreuungsperson auf das Kind, das zur Bildung von überdauernden Repräsentationen der anderen Person und des Selbst und damit zur Entwicklung von intramentaler Reziprozität und Intentionalität des Verhaltens führt (vgl. Klann-Delius 1990). Die präverbale Interaktion und affektive Kommunikation zwischen Kind und Bezugspersonen führt schließlich zur Entwicklung des verbalen und später des narrativen Selbst (Stern [1978] 1985, 1995). Dies geschieht in einer Folge von sich überlagernden Formen der Bezogenheit, in denen jeweils eine Entwicklungsstufe des kindlichen Selbstempfindens mit einem spezifischen Objekterleben des Kindes, aber auch mit dem Selbst- und Objekterleben der Mutter, verbunden ist. Die Einführung früher Sprachkonventionen baut auf der Transformation der Spontanäußerungen des Kindes in gerichtete und bezogene Äußerungen („indexikalische“) durch einen erneuten interaktionellen Spiegelungsvorgang auf (Dore 1983). Während die psychoanalytische Klassik die frühe Lautbildung in unmittelbaren Zusammenhang mit Trieb- und Affektäußerungen brachte, herrscht in der modernen psychoanalytischen Sprachforschung eine interaktionelle Sicht vor (vgl. Hamburger 2008). In der Perspektive der Objektbeziehungstheorie dient beispielsweise das eigene Plappern dem Kind als Übergangsobjekt und wird später mit der Integration und Differenzierung der Objektwelt zur Basis des kommunikativen Sprechens (Beratis, Miller and Galenson 1982; Papousek 1994). Tonfall und Tonverlauf beim Sprechen (Prosodie) bilden die „Hülle“, die später mit Wortbedeutungen aufgefüllt wird (Anzieu 1985; Jaquiereau 1979). Bedeutung, das Zwischenglied zwischen Zeichenform und Bezeichneten im „semiotischen Dreieck“, wird aus psychoanalytischer Sicht als innere, strukturierte und in der psychischen Entwicklung historisch veränderliche Repräsentanzenwelt aufgefasst (Hamburger 1995, 2008). Die Entwicklung der Semantik ist zum einen eng mit der motorischen Entwicklung verbunden, zum anderen spiegelt sie die Entwicklung der Objektbeziehungen in der frühen Interaktion. Friedman (1977) unterschied zwei Arten von Sprachbegleitbewegungen, die entweder der „Bestätigung der Existenz des Objekts“ oder der „Bestätigung der Grenzen und der Existenz des Selbst“ dienen. Lorenzer (1972) ging im Zusammenhang mit der Entwicklung der symbolischen Interaktionsform davon aus, dass das Wort „Mama“ zunächst sowohl als Prädikator für wärmespendend-befriedigende als auch für kalt-frustrierende Interaktionen gebraucht wird. Das Kind verwende diese Prädikation mit Einführung der horizontalen Objekt-Objekt-Differenzierung (Mama − nicht Mama) und der vertikalen Objekt-Subjekt-Differenzierung (liebe bzw. böse Mama − liebes bzw. böses Mama-Subjekt) immer differenzierter, bis es schließlich die resultierenden Prädikatoren „liebe Mama“ und „böse Mama“ integriere und zu einem ambivalenten „Mama“-Begriff komme. Ähnlich wie die linguistische Pragmatik setzt sich der interaktionelle Forschungsansatz in der Psychoanalyse mit der Frage auseinander, „was bewirkt eine sprachliche Äußerung in der Welt?“, und erweitert diese Frage im Hinblick auf das Verstehen der Darstellung unbewusster Konflikte innerhalb der szenischen Interaktion („szenisches Verstehen“, vgl. Agelander 1970).
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie betont die irreversible Veränderung von Welterfahrung und Interaktion, die die Einführung der Sprache bewirkt. Sprache stiftet Nähe und Verbundenheit, indem sie „die Vereinigung zweier Subjektivitäten in einem gemeinsamen Symbolsystem“ bewirkt, hat aber auch eine „entfremdende Wirkung auf Selbsterleben und Zusammengehörigkeit“ (Stern [1978] 1985; Hamburger 1995, 2008) und befähigt nicht zuletzt zur Lüge. Eine zunehmende Bedeutung erlangt die Erforschung der narrativen Entwicklung (vgl. Petersen and Roberts 2003). Beispielsweise konnte von Klitzing (2002) in einer prospektiven Longitudinalstudie nachweisen, dass Kinder schon sehr früh die triadische Struktur der Narrative ihrer Eltern erleben und verinnerlichen. Die Entwicklung des Wortschatzes wird in psychoanalytischer Perspektive im Zusammenhang mit der emotionalen Bedeutung des Wortes im Kontext von Objektbeziehungen und Interaktion verstanden. Aus den präverbalen „indexikalischen“ Äußerungen entstehen im frühen Mutter-Kind-Dialog die Worte: „Die Dyade konstruiert das Lexikon des Babys“ (Dore 1983: 180). Meltzer (1984) beschrieb die Grammatik als ein abstraktes System formalisierter Denkoperationen, das die basalen emotionalen Austauschprozesse abbildet. Bereits die allgemeinste Form eines Wunsches enthält nach Shapiro (1979) eine grammatische Struktur; die Signale des Säuglings bedürfen dabei der Zuschreibung einer Appellfunktion durch die Bezugsperson, um als Aussagen verstanden und beantwortet zu werden. Erst dadurch findet auch die innerpsychische Codierung statt, an deren Ende dann die „grammatischen“ Wünsche stehen (vgl. Hamburger 2008). Bleich (1976) wies auf den Zusammenhang des Auftretens von Mehrwortäußerungen (vom 18. bis 36. Monat) mit der Ablösungssituation des Laufenlernens hin. Durch diese Interpretation wird die in der Psycholinguistik herrschende Meinung gestützt, dass die Fähigkeit zur Prädikation auf vorsprachlich eingeübten Interaktionsmustern aufgebaut ist. In einer Analyse der basalen Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind (projektive Identifikation, Container-Contained) stellte Bion (1962) die Entwicklung des Denkens von Präkonzeptionen zu Konzeptionen bzw. Gedanken und schließlich zu Begriffen dar. Die Objektbeziehungstheorie hat insbesondere auch zu einer Bereicherung des Verständnisses der Zusammenhänge zwischen sprachlicher und affektiver Kommunikation beigetragen (vgl. Tobin 1999; Boesky 2000). Einen eigenen Weg ging Lacan (1949, 1956) in seiner psychoanalytischen Sprachtheorie; er postulierte, dass sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste sprachlich strukturiert seien. Das Kind erlebe sich zunächst als fragmentiert und erst durch die Begegnung mit seinem (physischen oder psychischen) Ebenbild im „Spiegelstadium“ gewinne es die Illusion der Einheit. Diese imaginäre Einheit werde dann im sprachlichen Selbstbezug „Ich“ („moi“) genannt, als Chiffre für das, was die anderen an mir zur Einheit des „Du“ zusammenfassen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass insbesondere die empirische Säuglingsbeobachtung den Übergang von den auf innerpsychische Organisation bezogenen Sprachentwicklungskonzepten der Ichpsychologie (Klein 1965; Hartmann 1964; Rapaport 1951a, 1951b; Rapaport, Gill and Schafer 1968) zur Interaktionsforschung bewirkte.
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5. Psychoanalytische Sprachtheorie und Neurowissenschaften Die psychoanalytische Theorie der Sprachentwicklung bezieht somatische und soziale Realbedingungen innerhalb eines interaktionellen Kontextes in die Konzeptualisierung ihres Untersuchungsobjektes ein. Die Entwicklung des Denkens und der Sprache werden in den Zusammenhang einer Theorie des Narrativs gestellt (vgl. Hamburger 1998). Dabei wird auch ein Bezug hergestellt zu neueren Modellen der Neurobiologie (Edelman 1992; Damasio 1994; Lichtenberg 2002) und der New Cognitive Sciences (Leuzinger-Bohleber, Pfeifer und Röckerrath 1998). Neurowissenschaftliche Befunde werden mit analytischen Beobachtungen verknüpft und zur Entwicklung von Wechselwirkungshypothesen herangezogen (Kaplan-Solmes und Solmes 2000; Turnbull und Bryson 2000; Solmes und Turnbull 2002; Northoff 2011).
6. Zum Gebrauch der Sprache in der Psychoanalyse Sprache wird in der Psychoanalyse nicht ausschließlich als ein Medium für die Vermittlung von Gedanken und Gefühlen aufgefasst, sondern als Medium, in dem Gedanken und Gefühle in der Begegnung und dem reziproken Austausch vom Analytiker und Analysand entwickelt werden (vgl. Ogden 1997). Das analytische Setting ermöglicht Analytiker und Analysand eine Sprache zu entwickeln, die dem Erleben des Analysanden/Patienten im jeweiligen Augenblick angemessen ist. Im Hinblick auf die Generierung von Bedeutung innerhalb des analytischen Prozesses und der therapeutischen Beziehung unterstrich Ogden: „It is through effects created in langauge in an analytic setting that meanings/feelings are created and conveyed that lie beyond what is being said“ (Ogden 1997: 17). Das ethische Ziel der Sprache innerhalb der Psychoanalyse ist die wechselseitige Resonanz auf den jeweils anderen. Die unbewussten Interaktionsformen existieren nicht außer- oder unterhalb, sondern − wie Ogden (1997) unterstrich − als unbewusste Bedeutungen sprachlicher Zeichen − in mystifizierter Form − in der Sprache: „Das Unbewusste ist: Ein Aspekt der unteilbaren Einheit des Bewusstseins. Bedeutung (einschließlich der unbewussten Bedeutung) ist in der Sprache, die benutzt wird, und nicht unter oder hinter ihr“ (Ogden 1997: 9; Übersetzung Zepf 2008: 160). Verdrängung (im Sinne von Freud) und Desymbolisierung (im Sinne von Lorenzer) lassen sich so verstehen, dass im Zuge von Abwehroperationen die Sprache eines Subjektes in semantischer Hinsicht systematisch zerstört wird: „Produkt dieser Zerstörung ist eine Bedeutungsverfälschung insofern, als sprachliche Zeichen bewusst verfügbare, konnotative Bedeutungsanteile verlieren und unbewusste Bedeutungsanteile hinzugewinnen“ (Zepf 2008: 157). Das Unbewusste stellt sich in verfälschten Begriffen im Bewusstsein dar. In der Psychoanalyse kann dementsprechend der Versuch unternommen werden, zum Unbewussten vorzudringen, indem alles, was eine Analysandin/ein Analysand vorbringt als ein „Gleichnis zu verstehen“ ist, als „eine Erzählung, in der etwas in Gestalt von etwas anderem ausgedrückt wird“ (Heimann 1956: 310; Übersetzung Zepf 2008: 158). Darin besteht ein generelles Charakteristikum des Gebrauches der Sprache und der Begegnung in der Psychoanalyse.
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II. Kulturalität von Sprache: Beiträge aus den Nachbardisziplinen
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Heinz Böker, Zürich (Schweiz)
34. On the language of the history of science 1. What language for the history of science? 2. A displacement of perspective: objects, media
3. Translation 4. Epistemological reflection, historical narration 5. Selected references
The history of the sciences is a rich field for exploring the cultural dimensions of language. As we will see, the languages of the sciences are subject to a particular kind of dynamics. On the one hand, this article examines their coming into being and their peculiarities. On the other hand, it also looks at the linguistic practices of the historiography of the sciences and compares and contrasts them with the various forms of scientific vernacular (Rheinberger 2012).
1. What language for the history of science? Historians of science usually deal with remains and remnants of the past that are reduced in their historical existence and persistence to the bits and pieces of written heritage that have found their way into the archives. What is left over from the vivid and turbulent extravagances, in short, the life-world of the sciences, their manifold interactions with matter, technology, and society through time is, at the end of the day, a heap of paper covered and inscribed with more or less high-grade encryptions of mostly technical vocabulary and professional jargons, shorthand, and sketches. And so it is not by chance that the historiography of science, as it developed over the past 150 years, has circled around these paper archives almost exclusively. It is thus no wonder that until recently,
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II. The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines and even up to the present day, a considerable part of the literature in the history of science presents itself as a mirror of this concentration on written paper. Such concentration on the “paper form” of the sciences, as Ludwik Fleck once put it already back in the 1920s (Fleck [1929] 1983: 50), is particularly pronounced in the context of the occupation with the history of those disciplines that are traditionally strongly codified by technical vocabulary. The linguistic mimicry of the historian then, at times, goes so far that the boundary between disciplinary discourse and historically interpretive discourse on and about that discipline becomes blurred, so that the two can hardly be distinguished any longer. The history of science then operates in the same linguistic field and register as the science under consideration. With that, it tends to become an − eventually superfluous − duplication of that discourse. The consequence is that a reader has either to be a practitioner of that science or to have learned the language of physics or mathematics in order to be able to make sense of that kind of historiography. The French historian of science Georges Canguilhem would have suggested that a history of science practiced in this vein misses its very mission. It treats “the fact that the sciences have a history” itself as “a fact of science, according to an epistemological position that consists in privileging theory relatively to the empirically given”, (Canguilhem 1968: 15) instead of as a fact of history. Gaston Bachelard, Canguilhem’s predecessor on the chair for History and Philosophy of the Sciences at the Sorbonne, once remarked in the same vein that “the history of the sciences appears as the most irreversible of all histories” (Bachelard 1951: 27). If one takes seriously that the sciences are, according to this position, radically historical endeavors, then what the history of science has first and foremost to be concerned with is to understand the turns, the breaks and quirks of such a historical process and to represent them in a way that can be grasped in a language that is not identical with the language of the particular science one is concerned with. In order to achieve this twofold task, what is required is a double displacement of the gaze. Both displacements point in the direction of the material conditions of the sciences. And in order to bring these conditions of their “positivity” and “epistemologization” into view, to state it with Michel Foucault (Foucault 1972: 186−189), a different language is needed.
2. A displacement of perspective: objects, media The first displacement concerns a reorientation towards the objects of the sciences and their empirical constitution: What is it that advances toward an object of the sciences, what makes such advances possible both in terms of technical opportunity and of cultural interest, and how do things change that turn into objects of the sciences? At the same time, this reorientation toward the objects of the sciences implies a reflection on the object of the history of science. The object of the history of science is, as Canguilhem put it, the particular historicity of the objects of the sciences. The second displacement concerns the media and the procedures that in the course of the history were developed and introduced in order to make objects turn into visualizable and graspable objects of science and to give them shape and contours. The conceptual changes going along with these procedures are thus related to the epistemic substrate
34. On the language of the history of science of their empirical existence and to its cultural-technical embedding and embodiment. The sciences are the result of a knowledge-driven grasp on the world around us and within us that involves manipulation rather than contemplation. That the results of such “intervention” (Hacking 1983) can take the shape of two-dimensional “inscriptions”, of “immutable mobiles” that are able to travel over long distances, as Bruno Latour once put it (Latour 1990), does not mean that this is the essential and final form of scientific objects. They can be reduced neither to written language in general, nor to some technical recipe of sorts. But this also means that their archives are not reducible to paper. The sciences live on historically as well in artifacts, actual and obsolete, and in embodiments of multiple kinds. From this perspective, a double tension arises: On the one hand, it is a synchronic tension between the more or less formalized discourses that the sciences engender and the material development in which they are caught; on the other hand, it is a diachronic tension in the development of this relationship, in other words, the historical emergence, unfolding, and eventual obsolescence of scientific languages in their interaction with the materials they are intended to represent. Finding appropriate forms to display this double tension is the very challenge for the language of the history of science. The work of the history of science lives from this tension. It finds itself in a linguistic conflict that is constitutive for its very existence. We could also express this by saying that the history of science has always already been engaged in, and called on to struggle with, the necessity of a twofold translational engagement.
3. Translation Translation provides a cue for understanding this conflict. With a translation we usually associate two different engagements: First, in a translation one is always concerned with, and indeed considers it as a necessary requirement, a certain faithfulness to the original, the template. Second, at the same time, one is also always concerned with a doublefaced hiatus: On the one hand, it takes the form of an insurmountable barrier which presents itself as the very instantiation of the necessity of the translation itself; on the other hand, it creates a space of freedom for choice and negotiation. Insofar as these two tasks between which a translation maneuvers do not coincide, one has to find a tractable way that moves between the two poles. These middle grounds offer a wide range of configurations to be explored. As a rule, it can be stated that a solution opted for becomes all the more problematic the nearer it comes to lie at one of the extremes. I have already pointed to a tautological form of history of science that goes so far in the empathic adaptation to its object of investigation that its own discourse merges with the discourse of the science in question. In this case, everything falls victim to the desire to be as near and faithful to the original as possible, ending up in a more or less perfect imitation. Consequently, the discourse of the history of science loses its autonomy and independence from the discourse it investigates. It spells out what the respective science brings forth, only in a more circumstantial fashion and considered over longer periods of time as compared to the deliveries of the discipline itself. We are familiar with this phenomenon of mimicry not only from the history of science, but first and foremost, and often in an insistent manner, from the history of philosophy. There, the endless loop of exegesis primarily concerns − and hits − the philosophical classics.
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II. The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines Sociology of science and anthropology of science, in their historically oriented versions, often tend to lean somewhat toward the other extreme. Frequently, the sociologyof-knowledge’s take on the sciences concentrates on the history of scientific institutions, of roles and personae, and on all those factors of influence that lend shape and render contours to the sciences in their endurance as social organizations. Anthropology of science, better called perhaps ethno-phenomenology of science, on the one hand aims at a closer grasp on the scientific practices than its sociological counterpart, and with that, is more in touch with the sciences in their actual conduct and less with their social projections. On the other hand, it tends to describe them, in principle, the same way as it would describe any other human activity. As a consequence, it is all too often exactly the specificity that would actually have to be understood that falls prey to this misguided symmetry principle: that is, the genuinely epistemic character of the scientific take on the world. It is probably not difficult to hear, in this juxtaposition, the distant echo of a debate that already accompanied the coming of age of the history of science as a discipline in the early twentieth century. It entered the annals of the history of the history of science as the debate between the so-called externalists and the internalists (Kornblith 2001). The fact that the two labels are hardly used anymore does not mean that the controversy around which they turned has vanished altogether. Its persistence is rather, such is my contention, to be understood as a mirror of the enduring linguistic tension in which the history of science has found itself from its inception. In the end, what characterizes both extreme positions is that they elude and bypass the very task of translation. The middle grounds of the history of the sciences are and remain thus the grounds of translation. Their cultivation is more easily postulated than implemented in practice. For the translational efforts have to be effected in both directions. Anybody who has ever tried to narrate a piece of history of science in such a way that, on the one hand, the epistemically new territory opened by the research process is revealed and described, and on the other hand, the material and cultural conditions to whose conjuncture the novel insights are owed, are highlighted, will testify to the fact that this is a conflictladen task. I know of nobody who better grasped this middle position than Canguilhem − to whom we owe the insight that a history of science that deserves this name as a genuine undertaking in its own right has to be historical epistemology and epistemological history in one. Canguilhem exposed this insight in the form of a game of objects − of everyday life, of science, of the history of science − that at the same time reveals itself as a game of discourses: “The object of the history of the sciences has nothing in common with the object of science. The scientific object [itself], constituted through a methodical discourse, is second, although not derived from the natural, initial object that one might call, in playing with the meaning of that word, pre-text. The history of the sciences exerts itself upon secondary, non-natural, cultural objects, but its objects do as little derive from the scientific ones than they do from the primary objects. The object of the historical discourse is in fact the historicity of the scientific discourse, inasmuch as that historicity represents the effectuation of an internally normed project, but one traversed by accidents, retarded or diverted by obstacles, interrupted by crises […]” (Canguilhem 1968, 17).
34. On the language of the history of science
4. Epistemological reflection, historical narration As one can see, epistemological reflection and historical narration, these two strands of an historical epistemology deserving this epithet, are tightly interwoven. Their interaction and connection can, however, take widely different forms. It can be ordered serially or in parallel, it can take the form of a chiasm, a synchysis, or an intermittence. What is essential is that neither of these two strands become marginalized. This requires a permanent transition from the historical to the epistemological register, and the other way around. But neither should we forget that both of these strands themselves are once more internally doubled, if not multiple, discursive hybrids, “fibrous bundles”, to use an expression of art historian George Kubler, “with each fiber corresponding to a need upon a particular theater of action, and the lengths of the fibers varying as to the duration of each need and the solution to its problems” (Kubler 1962: 122) The occupation with, to take an example, molecular biology requires, on the historical part, a narrative rapprochement toward a technical language that not only came to be composed of elements of other traditions of technical vocabulary − physics, chemistry, genetics − but that out of this hybridization engendered yet another new vocabulary that aimed to do justice to the research objects generated by this science and the evolving engagement with them. Such processes, as a rule, result in depositions and superimpositions of varying, different particles of technical vocabulary, formal as well as informal. Clear and unambiguous replacements are the exception rather than the rule. On the occasion of the introduction of a multilayered bio-semiotic vocabulary into nascent molecular biology, I have tried to lay out this process of overlay and amalgamation in an exemplary fashion on the occasion of the writings of French molecular biologist François Jacob (Rheinberger 2010: 203−214). This vocabulary integrated elements of the language of cybernetic control and feedback, of technical information transmission, and of linguistics itself (Kay 2000). Without an explicit exposition of this vocabulary, the objects that came to be specific for molecular biology are not graspable, and without such a grasp, their history cannot be narrated. It belongs to the art of the history of science to find, in the composition of such narrations, the right mixture of assimilation and distance. On the epistemic side, there is no less hybridity involved. On the one hand, the discourse of the historical philosophy of science carries the burden of a long epistemological tradition that never ceased to oscillate between empiricisms and rationalisms of diverse sorts. The philosophical vocabulary belonging to this tradition − of representation and construction, respectively − is deeply marked by this controversy. There is an ongoing need for its renegotiation (Hacking 1983). On the other hand, there is the problem of picking up conceptual and linguistic elements that are being created and used in the meta-linguistic discourse of the sciences about themselves, a discourse that sensibly reacts to the material developments in their own fields, although usually barely in explicit form and almost never in a systematic fashion. Let me give here an example taken from my own work. It concerns the concept of “experimental system”, an expression that has become common currency in the biochemical and molecular biological research literature since the middle of the twentieth century, and that is rather colloquially being used to characterize recognizably specific experimental setups used by particular groups of researchers in practicing their particular trade. I have taken this concept out of this − as one could say − meta-colloquial context of the research literature and introduced it as
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II. The cultural dimension of language: contributions of neighboring disciplines an epistemological category to capture the dynamics of experimental processes below the level of classical disciplines (Rheinberger 1997). At the same time, the concept carries with it the historiographical message of orienting history of science away from a theory-centered and toward a more practice-oriented perspective on the development and the dynamics of the natural sciences. Certainly, all this would have to be pursued in much more detail. Nevertheless, I hope that this aperçu has made it clear that what we are concerned with here is a kind of language pluralism. It goes along with processes of creolization that point beyond even a reciprocally understood relationship between everyday language and technical languages adapted to their niches. Gone as well is the idea that the language of the sciences themselves would consist of simply defined and permanently stable conceptualizations. The historical course of the sciences reveals itself not only as a ground on which matters of technical language and normal language coexist with each other in multiple refractions, thus creating what Peter Galison calls “trading zones” (Galison 1997, Chapter 9). Above − or underneath − this interchange, the technical languages themselves appear as always already internally refracted and organized in the form of a fiber structure. In short, besides the need to bind these bundles back to the objects they help to shape, it is the creolizations at the core of the scientific discourses that deserve more attention. Creolization is a central phenomenon of the cultural dimension of language at large. That it pervades its scientific uses as well can only surprise if one sticks to the conventional image of a formal purity as characteristic of scientific languages.
5. Selected references Bachelard, Gaston 1951 L’activité rationaliste de la physique contemporaine. Paris: Presses Universitaires de France. Canguilhem, Georges 1968 L’objet de l’histoire des sciences. In: ders., Etudes d’histoire et de philosophie des sciences, 9−23. Paris: Vrin. Fleck, Ludwik [1929] 1983 Zur Krise der “Wirklichkeit”. In: ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, 46−58. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel 1972 The Archaeology of Knowledge & The Discourse on Language. New York: Pantheon Books. Galison, Peter 1997 Image and Logic. A Material Culture of Microphysics. Chicago: The Chicago University Press. Hacking, Ian 1983 Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science. Cambridge: Cambridge University Press. Kay, Lily E. 2000 Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code. Stanford: Stanford University Press. Kornblith, Hilary (ed.) 2001 Epistemology. Internalism and Externalism. Oxford: Blackwell Publishers.
34. On the language of the history of science Kubler, George 1962 The Shape of Time. Remarks on the History of Things. New Haven/London: Yale University Press. Latour, Bruno 1990 Drawing Things Together. In: Michael Lynch and Steve Woolgar (eds.), Representation in Scientific Practice, 19−68. Cambridge/London: MIT Press. Rheinberger, Hans-Jörg 1997 Toward a History of Epistemic Things. Synthesizing Proteins in the Test Tube. Stanford: Stanford University Press. Rheinberger, Hans-Jörg 2010 An Epistemology of the Concrete. Twentieth-Century Histories of Life. Durham/London: Duke University Press. Rheinberger, Hans-Jörg 2012 Die Sprachen der Wissenschaftsgeschichte. In: Julia Voss und Michael Stolleis (Hg.), Fachsprachen und Normalsprache, 77−83. (Valerio 14.) Göttingen: Wallstein.
Hans-Jörg Rheinberger, Berlin (Deutschland)
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III. Kulturen der Kommunikation Cultures of communication
35. Einführung: Kommunikation und Kulturalität 1. Einleitung 2. Kulturalität und Sprache 3. Konturen von Kommunikation
4. Kommunikation und Kultur 5. Spannung 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Die Feststellung, dass Kultur und Kommunikation etwas miteinander zu tun haben, ist in ihrer Allgemeinheit kaum geeignet, irgendwelchen Widerspruch auszulösen. So konstatiert auch Juri Lotman im Kontext seines Entwurfs einer „Semiotic theory of culture“ recht selbstverständlich einen „organic link between culture and communication“ (Lotman 1990: 20). Präzisierende Erläuterungen dazu, was den konstatierten „organic link“ genau begründet und welches Verständnis von Kultur sich ergibt, wenn wir Kommunikation als eine ihrer relevanten Bezugsgrößen oder gar als Medium ihrer Existenz verstehen, bleiben jedoch aus, und auch der Begriff der Kommunikation selbst erfährt bei Lotman keine eingehendere Theoretisierung. Ein Schicksal, das diesen Begriff allerdings auch im Kontext sprachwissenschaftlicher Theoriebildung trifft, obwohl er gerade in sprachgebrauchslinguistischen Kontexten zum einschlägigen Begriffsarsenal zählt. Im Folgenden soll es deshalb in erster Linie darum gehen, im Rückgriff auf gegenwärtige inner- wie außerlinguistische Diskussionen diejenigen Aspekte eines Konzepts Kommunikation auszuloten, die geeignet erscheinen, den „organic link between communication and culture“ zu begründen. Der von Bauman und Briggs konstatierten und in der gegenwärtigen Forschungslandschaft inzwischen wohl gänzlich konsensualen Vorstellung der „cultural organization of communicative processes“ (Baumann and Briggs 1990: 61; vgl. zu diesem Stichwort auch Röcklinsberg 2009 mit ausführlichem Forschungsüberblick) werden damit Überlegungen zu einer communicative organization of culture zur Seite gestellt. Im Zentrum steht die Frage danach, welche Charakteristika menschlicher Kommunikation relevant sind, wenn wir Kommunikation als Zündfunken, Matrix und Motor von Kultur verstehen. Den wissenschaftsgeschichtlichen Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die (Re-)Naissance einer kulturalistisch interessierten Sprachwissenschaft seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
2. Kulturalität und Sprache In den letzten 30 Jahren lässt sich eine kontinuierliche, zunächst spärliche, dann aber sowohl quantitativ als auch im programmatischen Duktus zulegende Kulturalisierung der sprachwissenschaftlichen Forschung und vor allem ihrer pragmatisch orientierten Bereiche feststellen. Die einschlägigen Publikationen, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben bzw. aktuell beitragen, sind ebenso älteren kulturkonstruktivistischen Denklinien − von Giambattista Vico über Wilhelm von Humboldt bis Ernst Cassirer − wie auch den neueren kulturwissenschaftlichen Diskussionen in den Nachbardisziplinen verpflichtet. Hierher gehören früh und noch singulär Maas (1981, 1985, 1987), dann Gardt,
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III. Kulturen der Kommunikation Haß-Zumkehr und Roelcke (1999), Auer (2000), Gardt (2003), Hornscheidt (2003), Linke (2003), Jäger (1993, 2006), Ehlich (2006), Wengeler (2006), Günthner und Linke (2006), Fix (2002, 2006, 2011), Bubenhofer (2009), Schröter (2014), um nur eine Auswahl eher programmatisch argumentierender Arbeiten zu nennen. Die Gründung eines sprachwissenschaftlichen Forschungsnetzwerkes „KULI − kulturbezogene und kulturanalytische Linguistik“ im Jahr 2014 sowie die Tatsache, dass bei der 2015 erfolgten Gründung einer „Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft“ Vertretern der Sprachwissenschaft eine ausschlaggebende Rolle zukam, können als Signale für die institutionelle Konsolidierung dieser Neuorientierung in der (germanistischen) Linguistik verstanden werden. Die (Re-)Kulturalisierung der Sprachwissenschaft war und ist von der Setzung eines reichen, pragmatisch-funktional begründeten Sprachbegriffs geprägt − dies nicht zuletzt in direkter Auseinandersetzung mit dem den linguistischen Mainstream prägenden formalistisch-sprachsystemorientierten Sprachbegriff chomskyscher Prägung (vgl. etwa Jäger 1993). Wo mit dem Begriff der Kommunikation argumentiert wird, erscheint diese in erster Linie als ein Anreicherungsmoment von Sprache, als Ort, Rahmen oder auch Zweck von Sprache und Sprechen, als Deutungshilfe für sinnvolles Zeichenverstehen angesichts der notorischen Unterdeterminiertheit sprachlicher Äußerungen (Knoblauch 1995: 80). Häufig wird der Begriff der Kommunikation in der unproblematisierten Selbstverständlichkeit eines offenen Generalkonzeptes verwendet, das im jeweiligen Kontext seine implizite Ausdeutung erfährt oder dann auch ad hoc in der einen oder anderen Weise und mit Rückgriff auf recht unterschiedliche Referenzfelder für den jeweiligen Zusammenhang präzisiert wird. Ein solches „umgangswissenschaftliches“ (ich übernehme diesen praktischen Begriff von Konrad Ehlich) Verständnis von Kommunikation scheint im Übrigen für die innerfachliche wie überfachliche Diskussion in vielen Kontexten weitgehend ausreichend, ja sogar hilfreich zu sein. Obwohl also gerade im Kontext einer kulturorientierten Linguistik ein gebrauchsorientierter Sprachbegriff vertreten wird, spielen Begriff und Konzept der Kommunikation − trotz deren zunehmender Bedeutung in der Sprachwissenschaftsgeschichte seit den 70erJahren des letzten Jahrhunderts − in theoretischer Hinsicht nicht die zentrale Rolle, die man erwarten könnte (vgl. hierzu auch Linke 2014). Letztlich gilt dies auch für den vorliegenden Band. Auch im interdiszplinären Umfeld der sprachwissenschaftlichen Diskussion, d. h. im Rahmen der allgemeinen Neuprofilierung der Geistes- und in Teilen auch der Sozialwissenschaften als Kulturwissenschaften, steht nicht der Begriff der Kommunikation, sondern derjenige der Sprache im Zentrum. Dies in doppelter Hinsicht. Einerseits ist die emphatisch als linguistic turn apostrophierte, wissenschaftstheoretisch bedeutsame (Neu-)Sensibilisierung vieler Disziplinen für die semiotische Verfasstheit von Wissensbeständen (prominent etwa in der Wissenssoziologie, vgl. Berger und Luckmann 1977) sowie von Forschungsobjekten und Forschungserkenntnissen auf in engerem Sinne sprachliche, vorwiegend semantische Phänomene gerichtet: Begriffsgeschichte (grundlegend hier das Großwerk der Geschichtlichen Grundbegriffe von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck), historische Semantik und vor allem die Beschäftigung mit Metaphern stehen dabei im Vordergrund und treffen sich in ihrer semantischen Ausrichtung mit einem weiteren Forschungsfeld, das in der Kulturalisierung der Sprachwissenschaft eine wichtige Rolle spielt: dem der linguistischen Diskursanalyse (vgl. die
35. Kommunikation und Kulturalität Überblicksdarstellung von Spitzmüller und Warnke 2011 sowie exemplarisch Busse 1987; Hermanns 1995; Warnke 2004). Andererseits sind auch die in der neueren kulturwissenschaftlichen Diskussion dominanten ‚Kultur‘-Konzepte, die einem weit gefassten, nicht elitistischen Kulturbegriff vorwiegend ethnologischer Provenienz verpflichtet sind, in erster Linie sprachlich-semiotisch orientiert. Dies gilt insbesondere für den textualistischen Kulturbegriff Clifford Geertz’, dessen Definition von Kultur als „Bedeutungsgewebe“ (webs of significance) bzw. als ensemble of texts (Geertz 1973: 5, 452; zu Geertz vgl. auch Artikel 14) die Kulturwissenschaften in der Konzeptualisierung ihres zentralen Erkenntnisgegenstandes wie in ihrem Selbstverständnis deutlich geprägt hat (vgl. dazu auch Günthner und Linke 2006; Linke 2008 sowie Artikel 30, 75 und 85).
3. Konturen von Kommunikation Auch wenn insgesamt die Pragmatics of Human Communication (Watzlawick, Beavin Bavelas and Jackson 1967) heute nicht mehr ganz die „science in its infancy, barely able to read and write its name“ ist, wie dies Watzlawick, Beavin Bavelas und Jackson Ende der 60er-Jahre konstatieren (Watzlawick, Beavin Bavelas and Jackson 1967: 13), so gilt andererseits also doch immer noch, dass gerade in der Sprachwissenschaft keine kohärente Theorie kommunikativen Handelns ausgearbeitet wurde und zudem, wie Peter Auer feststellt, „die bedeutendsten Erkenntnisse zum Thema […] auf soziologische, sprachphilosophische und anthropologische Theoretiker zurück[gehen]“ (Auer 1999: 1). Relevant sind hier sowohl die mikrosoziologischen Interaktionsstudien Erving Goffmans, die Ethnomethodologie Harold Garfinkels, die Sprechakttheorie vor allem in ihrem Entwurf durch Austin sowie in ihrer Weiterentwicklung im Kontext der Performativitätsdebatte (zentral hierfür die Überlegungen Butlers 1993, 1997; vgl. zur Entwicklungsgeschichte Wirth 2002) und nicht zuletzt die neuartigen Einblicke in menschliche Interaktion in face-to-face-Situationen und ihre Regularitäten, wie sie die gesprächslinguistische bzw. konversationsanalytische Forschung der letzten 30 Jahre ermöglicht hat. Insgesamt hat sich im Vergleich zu den frühen Kommunikationsmodellen technizistisch-informationstheoretischer Prägung (für die prototypisch das Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver stehen kann, vgl. Weaver 1949) das sprachwissenschaftliche wie das interdisziplinäre Verständnis von Kommunikation seit der Mitte des 20. Jahrhunderts radikal pragmatisiert, soziologisiert und in gewisser Weise auch kulturalisiert, ohne dass im Kontext der Kulturwissenschaften oder innerhalb der Sprachwissenschaft selbst Versuche unternommen worden wären, die unterschiedlichen Ansätze im Rahmen einer umfassenden Theoretisierung menschlicher Kommunikation zusammenzuführen. Insofern hat sich die „pragmatics of human communication“ tatsächlich noch nicht zu einem eigenständigen Forschungsbereich entwickelt. (Der Terminus Kommunikationswissenschaft, der meist die ältere Bezeichnung Publizistik ersetzt, ist in erster Linie als Bezeichnung für ein akademisches Fach zu lesen, in dessen Zentrum die Beschäftigung mit dem spezifischen Bereich der über technische Medien vermittelten Massenkommunikation steht.) Im Folgenden werden unter den Stichworten Praxis und Dialogizität zwei Aspekte oder Teilkonzepte von Kommunikation aufgegriffen, die in der gegenwärtigen pragmatisch-kommunikationstheoretischen Diskussion (nicht nur im engeren sprachwissen-
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III. Kulturen der Kommunikation schaftlichen Kontext) sehr präsent sind und zudem besonders geeignet erscheinen, den von Lotman postulierten „organic link between culture and communication“ herzustellen. Das Konzept der (kommunikativen) Praxis rückt sowohl die mehr handfesten − materiellen, körperlichen − Seiten menschlicher Kommunikation als auch deren Dynamik in den Vordergrund. Das Konzept der Dialogizität versucht, dem platten empirischen Faktum, dass zur Kommunikation immer mindestens zwei gehören, innerhalb einer Theorie menschlicher Kommunikation entsprechend Rechnung zu tragen. Kommunikation wie Kultur handeln immer schon vom Menschen im Plural.
3.1. Praxis Der Begriff der Praxis und damit verbunden auch derjenige der Praktik(en) als Bezeichnung für die Konkretisationsmomente Ersterer machen seit einigen Jahren vor allem in den Sozialwissenschaften Karriere (hierzu etwa Schatzki 1996; Reckwitz 2003, 2004; Hirschauer 2004; Turner 2007). In der Linguistik ist der Begriff der Praxis bisher so gut wie nicht terminologisiert, er evoziert wohl am ehesten Assoziationen zu dem in der angelsächsischen Soziolinguistik durch Eckert (vgl. u. a. Eckert 2000, im Anschluss an Wenger 1998) eingeführten Begriff der communities of practice, den Eckert etwa auf Gruppen von Jugendlichen anwendet, die sich über Gemeinsamkeiten im verbalen wie nonverbalen Verhalten als Mitglieder derselben Gruppe identifizieren. Im vorliegenden Artikel wird Praxis vor allem im Sinne einer inhaltlichen wie programmatischen Leitvokabel verwendet, die auf die konkrete lebensweltliche Eingebettetheit von Sprache verweist − also auf Sprache im Sinne von Sprache-als-Praxis. Der Begriff der Praktik dagegen hat sich in der spezifizierenden Kollokation kommunikative Praktik seit den 90er-Jahren vor allem in der interaktionsorientierten Linguistik zu einem zentralen Arbeitsbegriff entwickelt. Er steht in unmittelbarer Nähe (und auch Konkurrenz) zum stärker terminologisierten Begriff der kommunikativen Gattung (vgl. Luckmann 1986) und hebt wie dieser Begriff auch darauf ab, dass Kommunikationsgemeinschaften angesichts wiederkehrender Aufgaben konventionalisierte kommunikative Verfahren zu deren routinierter Bewältigung entwickeln und ihre Mitglieder über diese verfügen − wenn auch in unterschiedlichem Maß (vgl. hierzu einschlägig Fiehler 2004; Linke 2010; Deppermann, Feilke und Linke 2016 sowie Kapitel 3.1.3). Beide Begriffe, Praxis und Praktik, stehen in enger Nachbarschaft zu verwandten Begriffen wie Tätigkeit, Handlung oder auch activity, die zum Teil in denselben, zum Teil in unterschiedlichen Forschungsfeldern beheimatet sind und teils mehr oder weniger synonym, teils in konzeptueller Abgrenzung voneinander verwendet werden. Dem in der Gegenwartslinguistik vor allem mit der Sprechakttheorie verknüpften und im Anschluss daran sozusagen popularisierten Ausdruck Handlung kommt vermutlich die breiteste Nutzung zu. Dagegen wurde der Tätigkeitsbegriff, der auf den russischen Entwicklungspsychologen Alexej N. Leont’ev zurückgeht, in der Sprachwissenschaft vor allem von ForscherInnen der ehemaligen DDR aufgegriffen und insgesamt (zu) wenig rezipiert, während mit der Nutzung des englischen Ausdrucks activity häufig der mehr oder weniger direkte Bezug auf das von Stephen Levinson entworfene Konzept der „activity types“ (Levinson 1979) verbunden ist. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion werden die Begriffe Praxis und Praktik unter anderem als Ressource im Rahmen von Subjekttheorien genutzt (Reckwitz 2003,
35. Kommunikation und Kulturalität 2006) und − damit zusammenhängend − auch als begrifflicher Nukleus einer (konstruktivistischen) Kulturtheorie im Sinne des doing culture (Judith Butler) verstanden. In diesem Sinn stellt Andreas Reckwitz (2003, 2004) Praxistheorien den von ihm als defizitär erachteten mentalistischen und textualistischen Kulturtheorien entgegen, wobei er in der „nicht-rationalistische[n] Logik“ (Reckwitz 2003: 290) sowie im Materialitäts- und Körperbezug von Praxistheorien deren wesentliches Charakteristikum und ihre theoretische Qualität sieht. Die starke Materialitäts- und Körperbezogenheit des soziologischen Praxisbegriffs, der zudem die Routinisiertheit von Praxis und damit verbunden das nicht oder kaum reflektierte Ausüben von bzw. Eingebundensein in Praktiken betont, treffen sich durchaus mit Überlegungen zu Sprache-als-Praxis, wie sie sich mit und ohne Rückgriff auf den Terminus Praxis selbst in den erwähnten linguistischen Kontexten und auch den dahinterliegenden Traditionslinien finden. Obwohl eine umfassende und kohärente linguistische Theoriebildung zu Spracheals-Praxis und damit zum Konzept der Kommunikation fehlt, lassen sich zumindest einzelne Aspekte benennen und theoretische Perspektiven anführen, die das Konzept der Praxis auszeichnen und es gleichzeitig für den „organic link“ zwischen Kommunikation und Kultur konstitutiv machen. Es sind dies 1. der Charakter von Bewegung und Dynamik als ein Hauptdefiniens des Praxisbegriffs, 2. dessen latente Somatik, d. h. ein zumindest impliziter Körperbezug, 3. die enge Bindung von Praxis an Objekte bzw. Materialien, 4. die weitgehende Bedeutungslosigkeit von Praktiken in semantischer Hinsicht, bei funktionaler sowie semiotisch-indexikalischer Signifikanz, 5. der Charakter des Repetitiven, 6. die damit verbundene Musterhaftigkeit bzw. Typik (auch: Wiedererkennbarkeit) und 7. der damit ebenfalls verbundene Routinecharakter bzw. eine gewisse Automatisiertheit, die zu einer (teilweisen) Autonomie der Praktiken gegenüber ihren Akteuren und zur partiellen Aussetzung von individueller Intentionalität führt. Diese hier zunächst der Übersichtlichkeit halber getrennt aufgeführten Facetten des Praxiskonzeptes werden im Folgenden, zu Komplexen gebündelt, etwas ausführlicher beleuchtet.
3.1.1. Bewegung, Somatik, Materialität Der praxeologische Blick auf den kommunizierenden Menschen dynamisiert unsere Vorstellung von ihm. Neben die latent statische Modellierung des Menschen als deutenden Wesens, als „animal suspended in webs of significance he himself has spun“ (Geertz 1991: 9) bzw. „animal symbolicum“ (Ernst Cassirer) tritt ein Bild des Menschen in Bewegung und damit kommen notwendig auch Zeit und Raum als Ausdehnungsdimensionen menschlicher Aktivität in den Blick. Diese Verschiebung der Perspektive von Stabilität zu Dynamik konvergiert mit den Verschiebungen, die sich in den letzten 40 Jahren vor allem aus der gesprächslinguistischen Forschung für den sprachwissenschaftlichen Blick auf den Menschen ergeben haben: weg vom Bild des Menschen, der Sprache hat, hin zum Bild des Menschen, der Sprache tut. Diese praxeologische Akzentuierung lenkt den Blick dann notwendig auch auf den menschlichen Körper als Medium solchen Tuns (im Sprechen wie im Schreiben) und führt gegenüber einer rein kognitiven Vorstellung von Kommunikation, die diese als Verbindung zwischen zwei Köpfen bzw. Gehirnen
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III. Kulturen der Kommunikation mittels Sprache modelliert und den Körper dabei völlig ausblendet − besonders augenfällig in entsprechenden graphischen Darstellungen −, zu einer grundlegenden Somatisierung des Konzepts von Kommunikation, das durch den damit verbundenen Einbezug von Zeit und Raum auch eine neue Plastizität erhält. Die pointierte Formulierung von Stefan Hirschauer, der in Anlehnung an Goffmans Aphorismus, im Fokus seiner Studien stünden „[n]ot then, men and their moments. Rather moments and their men“ (Goffman 1967: 3), von „Praktiken und ihre[n] Körpern“ spricht (Hirschauer 2004: 75), treibt die Perspektivenumkehrung auf eine unter didaktischer Perspektive vermutlich nützliche Spitze. In dieser Perspektivenverschiebung tritt zudem die häufig durchaus handgreifliche Nutzung sowie Affizierung materieller Objekte in der Interaktion und damit deren kommunikative Medialität in den Blick. Und das heißt auch: Die kategoriale Trennung zwischen dem handelnden Menschen und seiner materiellen Umgebung wird unter praxeologischer Perspektive durchlässig und in Akteur-Netzwerk-Theorien (prominent bei Bruno Latour) insofern radikalisiert, als hier auch unbelebten Objekten der Status als Aktanten zugesprochen wird. Diese Öffnung stellt in gewisser Weise die praxeologische Entsprechung zur Aufhebung der kategorialen Trennung zwischen Sprecher und Kontext im Rahmen pragmalinguistischer Theoriebildung dar und ist geeignet, Letztere zu stützen und zu pointieren. Im von Jenny Cook-Gumperz und John Gumperz in den 70er-Jahren ausgearbeiteten (Cook-Gumperz and Gumperz 1976) und von Peter Auer (vgl. etwa Auer and di Luzio 1992) weitergeführten Konzept der Kontextualisierung erscheint Kontext nicht mehr als eine in erster Linie unabhängig von Interagierenden existente und allenfalls auf diese einwirkende Gegebenheit, sondern als ein im kommunikativen Austausch aktiv hervorgebrachter und entsprechend dynamisch veränderbarer Faktor menschlicher Kommunikation. (Vgl. hierzu auch bereits Mead 1926, für den environmental conditions nur in ihrem konkreten Bezug auf den handelnden Menschen und nicht unabhängig davon existieren.) Bindet man Kultur nicht (nur) an Sprache im Sinne eines Mediums der Deutung von Welt, sondern (auch) an Kommunikation als dem Perpetuum mobile der (Re-)Produktion und Veränderung des Mediums selbst wie auch der geleisteten Deutungen, so vererben sich die hier entworfenen Charakteristika von Kommunikation − als eines sich nur in Bewegung realisierenden, leiblich orientierten, aus materiellen Bezügen nicht ablösbaren und seinen eigenen Deutungskontext in spiralhaften Schlaufen mitkonstituierenden Ereignisses − an das entsprechende Konzept von Kultur.
3.1.2. Bedeutungslosigkeit, Funktionalität und indexikalische Markiertheit Gegenläufig zur deutlich semantischen Orientierung sprachbezogener Kulturtheorien wird vor allem in soziologischen Kontexten die Bedeutungslosigkeit bzw. der ausschließliche Handlungsbezug menschlicher Praxis relevant gesetzt und die „A-Semantizität“ praxeologischer Kulturtheorien als Voraussetzung eines neuen (und richtigeren) Verständnisses von Kultur herausgestellt. So spricht Andreas Reckwitz (2003: 290) im Rahmen dieser Gegenüberstellung von den „Rationalismen und Intellektualismen“ (!) nichtpraxeologischer Kulturtheorien. Der mit diesem „blue collar“-Blick verbundene Gegensatz von asemantischen, nur in ihrer manifesten Funktionalität sich definierenden Praktiken einerseits und semantisch gefesselter Sprachlichkeit andererseits verkennt allerdings sowohl den Praxischarakter auch sprachlicher Handlungen als auch die Eingebettetheit
35. Kommunikation und Kulturalität vieler nicht-verbaler Praktiken in verbale Prozesse, aus denen sich ihre funktionale Bedeutung erst ableitet. So ergibt sich die aggressive Bedeutung des sprichwörtlichen Türenknallens etwa erst aus der sequenziellen Position im Kontext einer verbalen Auseinandersetzung. Entsprechend gilt auch die indexikalische Markiertheit sowohl für verbale wie ausschließlich körperkommunikative Praktiken. Diese kann etwa strategisch zur soziokulturellen Selbst- wie Fremdverortung eingesetzt werden und kommt besonders plakativ bei Höflichkeitspraktiken zum Ausdruck (Anredeformen, Gesprächseröffnungen, Komplimente). Die Aneignung bzw. Ausübung bestimmter Praktiken ist also aufgrund von deren sozial- und kulturindexikalischer Aufladung als ein Medium der Identitätsbildung bzw. der (Selbst-)Zuordnung zu bestimmten Gruppen und damit auch als ein Medium der kulturellen Selbstverständigung zu verstehen; um ein „speaker of culture“ zu werden, müssen, so die Schlussfolgerung von Elinor Ochs aus ihren Studien zu „Developmental Pragmatics“, Kinder nicht nur Sprache, sondern eben auch kommunikative Praktiken erlernen (Ochs 2002: 105−106).
3.1.3. Repetitivität, Musterhaftigkeit, Typik Der kommunikative Umgang von Menschen untereinander ist durch Repetitivität, Musterhaftigkeit und damit verbunden auch durch die Typik bestimmter Verhaltensweisen bzw. Handlungen gekennzeichnet. Der Begriff der Praktik hebt darauf ab. Praktiken sind nicht notwendig identische, aber wiedererkennbare Handlungen und sie sind aufgrund ihrer Repetitivität sowohl den sie Ausführenden wie auch den sie Beobachtenden vertraut. Ihre Musterhaftigkeit kann unterschiedlich ausgeprägt und vor allem bei bestimmten institutionell getragenen Praktiken relativ starr sein. Wo in linguistischen Kontexten der Begriff der (kommunikativen) Praktik genutzt wird, hebt er ebenfalls auf diese − dann eben auch verbale − Musterhaftigkeit ab (vgl. zum Begriff des Musters ausführlicher Linke 2010, 2011). Fiehler et al. definieren kommunikative Praktiken entsprechend als „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommunikativ realisiert werden sollen“ (Fiehler et al. 2004: 99 [Hervorh. AL]). Umgekehrt verweisen einmal ausgebildete Praktiken indexikalisch auf die alltagspraktische oder auch kultursemiotische Bedeutsamkeit der ihnen zugrunde liegenden Bedürfnisse und Aufgaben innerhalb der entsprechenden Kommunikationsgemeinschaft. Während die Rekurrenz kommunikativer Praktiken zu ihrer eigenen Verfestigung beiträgt, unterliegen sie gleichzeitig in den jeweiligen konkreten Momenten ihrer Realisierung in situ immer auch der Möglichkeit der Veränderung, zumal die Durchführung kommunikativer Praktiken immer schon mehrere Beteiligte und damit auch mehrere potenzielle Störmomente beinhaltet (dazu auch Kapitel 2.2).
3.1.4. Routine, Automatik und die Aussetzung von Intentionalität An die Typisiertheit und den Routinecharakter von Praktiken ist schließlich auch deren Ablösbarkeit von ihren Akteuren strukturell gekoppelt. Zwar erscheint menschliches Handeln im Normalfall individuellen Zielsetzungen, explizierbaren Motivationen und
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III. Kulturen der Kommunikation damit individueller Intentionalität verpflichtet und dieser folglich sequenziell nachgeordnet. Der Charakter des Musterhaften und Routinierten von Praktiken dagegen trägt notwendig kollektive Züge und steht in strukturellem Konflikt mit dem Konzept individueller Intentionalität. Stephen Turner konstatiert entsprechend pointiert, „[that] practices have both a causal primacy and a kind of autonomy in relation to the individual“ (Turner 2007: 3). Nimmt man den praxeologischen Ansatz ernst, so heißt das auch, dass wir selbst unsere im jeweiligen biographischen Erleben verankerten Bedürfnisse und Intentionen zumindest zum Teil bereits in den Vorgaben der von unserer Kommunikationsgemeinschaft ausgebildeten Muster verstehen. Dass also, zugespitzt formuliert, nicht Intentionen Praktiken prägen, sondern Praktiken Intentionen formen oder sogar elizitieren. Das normative Argument des Das-hat-man-immer-schon-so-gemacht rekurriert sowohl auf die Präexistenz von Praktiken gegenüber individueller Intentionalität als auch auf die Tradiertheit von Praktiken als deren Legitimationsmoment. Was allerdings nicht heißt, dass Praktiken nicht in die individuelle Intentionalität zurückgeholt bzw. dass sie im Einzelfall nicht remotiviert werden könnten. Die latente Autonomie der Praktiken gegenüber ihren Akteuren macht sie zudem zu einem Alltagsmedium des kulturellen Gedächtnisses, wobei der Gedächtnismodus hier derjenige der Repetition ist. Entsprechend steht dem Vergessen (dem Nicht-mehr-Wissen) als der in erster Linie auf kognitive bzw. semantische Dimensionen bezogenen Form des Gedächtnisverlusts mit Blick auf Praktiken das Verlernen (das Nicht-mehr-Können) zur Seite. Und insofern gerade manche Körperpraktiken tatsächlich weitgehend unabhängig von bewussten kognitiven Repräsentationen der richtigen Weise ihrer Durchführung existieren (können) − neben dem berühmten Beispiel des Schuhebindens gehören auch Körperpraktiken wie solche des Sichverbeugens, des Handkusses etc. hierher −, führt hier weniger das Vergessen, wohl aber das Verlernen zu ihrem definitiven praktischen Verlust. Schließlich ist die latente Autonomie von Praktiken auch ausschlaggebend dafür, dass und wie sich Menschen, indem sie die fließende Lebenswelt mithilfe der Ausbildung von Praktiken unterteilen, formen und strukturieren, gleichzeitig eben diesen Formen und Strukturen unterwerfen. Die notwendige Selbstaffizierung, die bereits Wilhelm von Humboldt als Grundmoment menschlicher Sprachlichkeit herausstellt, wenn er davon spricht, dass der Mensch „[d]urch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, […] er sich in dieselbe ein[spinnt]“ (Humboldt 1907: 60), gilt nicht nur für die Welt- und Selbstdeutung qua Sprache, sondern auch für die Selbsteinbindung von Menschen in die von ihnen selbst geprägten (kommunikativen) Praktiken. Diese Selbstaffizierung ist gleichzeitig ein strukturelles Grundmoment kulturellen Handelns.
3.2. Dialogizität Ebenso wie soziologische Praxistheorien auf die Figur des Subjekts, sind linguistische Theoretisierungen sprachlicher Praxis häufig auf die Figur des Sprechers fokussiert. Praxis erscheint in erster Linie als kollektives und weniger als gemeinsames, als ein Mitanderen-Handeln (so jedoch bei Hörning und Reuter 2004). Auch die Sprechakttheorie modelliert sprachliche Praxis im Wesentlichen monologisch-sprecherzentriert, lediglich in der Kategorie des perlokutiven Aktes kommt die Figur des Gegenübers in ihrer Unberechenbarkeit ins Bild. Es ist die gesprächsanalytische Forschung in der Tradition der
35. Kommunikation und Kulturalität amerikanischen conversation analysis, die das traditionelle Modell von Kommunikation als additive Abfolge von Sprecherbeiträgen mithilfe ihrer Mikroanalysen von authentischen Gesprächsdaten definitiv verworfen und in ein Verständnis des Gesprächs als einer integrativen Leistung der Beteiligten überführt hat (zusammenfassend dazu Linell 1998). Auch der einzelne Gesprächsbeitrag erscheint als ein bereits in sich existenziell interaktives Phänomen. Diese dialogistische Perspektive verfügt über lange und disziplinär breit gestreute Traditionslinien − neben Wilhelm von Humboldt, dessen Arbeiten für diese Perspektive grundlegend sind, gehören Namen wie Martin Buber, Karl Bühler, George Herbert Mead, Alfred Schütz, Émile Benveniste, Erving Goffman und Mikhail Bakhtin hierher; für die neuere Diskussion, die sich zudem auf Evidenzen aus der Erforschung authentischer Interaktion stützen kann, sind neben linguistischen vor allem sozialpsychologische Stimmen prominent (exemplarisch Per Linell, Ivana Marková, James Wertsch). Für ein Verständnis der Interdependenzen von Kommunikation und Kultur dürfte neben und allenfalls noch vor der praxeologischen Geprägtheit menschlicher Kommunikation deren grundlegende Dialogizität ausschlaggebend sein. Die folgenden vier Unterkapitel greifen vier unterschiedliche, aber eng miteinander verwobene Teilaspekte auf.
3.2.1. Kommunikative Praxis als Miteinandertun In seiner Konzeptionalisierung eines sozialwissenschaftlichen Praxisbegriffs konzediert Andreas Reckwitz zwar, dass „[…] zahllose soziale Praktiken [existieren], die die Struktur von Aktivitäten zwischen mehreren Personen, mithin eine interaktive Struktur besitzen […]“, er kommt aber dennoch zum Schluss, dass „dies […] nicht für alle Praktiken [gilt] und […] damit nicht für eine generelle Definition des Sozialen [taugt]“ (Reckwitz 2003: 292). Interaktive Praxis erscheint hier also nicht als Normalfall, sondern als eine Art Ausbauform von Praxis. Diesem Konzept wäre aus einer kommunikationsbezogenen Perspektive heraus ein gegenläufiger Entwurf gegenüberzustellen, der individuelle Praxis als Spezialfall interaktiver Praxis begreift, dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Überlegung, dass in der ontogenetischen Entwicklung des Menschen kindliches Handeln in seinen Anfängen gänzlich in die Kommunikation mit Betreuungspersonen eingebettet ist, individuell-autarkes Handeln also allenfalls als Emanzipationsform bzw. Abstraktionsform interaktiven Handelns betrachtet werden kann. Entsprechend wäre das Miteinandertun (Hörning und Reuter 2004: 12) als Grundfigur menschlicher (Sprach-)Praxis und damit menschlicher Kommunikation zu verstehen.
3.2.2. Alter-Ego-Kippfiguren Dialogistische Ansätze mit Blick auf das Verständnis des Menschen als soziales bzw. gesellschaftliches (und geselliges) Wesen werden zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Anschluss an Überlegungen Humboldts vor allem von judeochristlichen Philosophen, Historikern und Theologen entworfen − Martin Buber, Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock gehören zu den tragenden Exponenten −, sie finden sich in sehr klaren Formulierungen auch bei George Herbert Mead. Einer der Grundgedanken des dialogistischen Verständnisses des Menschen ist die Vorstellung, dass sich menschliche Selbstbe-
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III. Kulturen der Kommunikation wusstheit und Reflexivität in Interdependenz mit bzw. als Folge der Bewusstheit vom anderen entwickelt: „In the process of communication the individual is an other before he is a self“ (Mead 1926: 80). Der Mensch existiert entsprechend nicht als singuläres Ich, sondern immer schon relational als Element einer „Ich-Du“- bzw. − mit Blick auf das Interdependenzverhältnis des Menschen zu seiner Umwelt − in einer „Ich-Es“-Beziehung (Buber [1922] 2008). Mikhail Bakhtin greift in seiner Begrifflichkeit von „I and thou“ sowie „I and other“ (Bakhtin 1986: 167) die buberschen Begriffspaarungen und damit die Vorstellung der „interrelationship“ des Menschen (Bakhtin 1986: 167) auf, eine Vorstellung, die die Sozialpsychologin Ivana Marková im Entwurf einer Ego-AlterOntologie des Menschen zuspitzt. Diese bestimme und forme − „implanted in the human mind during phylogenesis and socio-cultural history“ − das menschliche Dasein und bilde damit auch notwendigerweise die Basis für jegliches Verständnis vom Menschen; sie ist, so Marková, ebenso Teil der menschlichen Natur „as biological and cognitive universals“ (Marková 2003: 37). Bakhtin verwirft entsprechend die getrennten Rollen von Sprecher und Hörer, wie sie für gängige Kommunikationsmodelle gelten, als „fictions“ (Bakhtin 1986: 68) − eine Einschätzung, die aus den Erkenntnissen der linguistischen und interaktionssoziologischen Gesprächsanalyse starke Unterstützung erhalten hat (Linell 1998, 2009). Die in gesprächsanalytischen Mikrostudien zahlreich belegten Beispiele des sprichwörtlichen Sich-das-Wort-aus-dem-Munde-Nehmens demonstrieren in überdeutlicher Weise die grundlegende Kokonstruiertheit menschlicher Rede. Gerade unter gesprächsanalytischer Perspektive erscheint der Mensch also immer schon als Alter-Ego-Kippfigur, und dies in jedem Moment seines Redens und Denkens, weshalb − in Bakhtins Formulierung − Sprache auch mit Blick auf das Bewusstsein des Einzelnen immer schon auf der Grenze zwischen „oneself and the other“ angesiedelt ist (Bakhtin 1981: 293).
3.2.3. Answerability, Responsivität und Projektionen Zu den Implikationen einer dialogistischen Konzeption von Kommunikation gehört zudem, dass jegliche Äußerung eines Sprechers/Hörers stets auf Äußerungen anderer Sprecher/Hörer bezogen und mit diesen in einer „chain of speech communion“ verkettet ist (Bakhtin 1986: 93). Äußerungen tragen deshalb immer schon den Charakter von Antworten, sie sind „inherently responsive“ (Bakhtin 1986: 68), reflektieren die Rede anderer und sind erfüllt von dialogic overtones (Bakhtin 1986: 92). Entsprechend ist auch Verstehen als responsiver Prozess zu modellieren, der allerdings gleichzeitig auf zukünftige Reaktionen ausgerichtet ist: „Any understanding is imbued with response and necessarily elicits it in one form or another: the listener becomes the speaker […]“ (Bakhtin 1986: 68). Aus dialogistischer Perspektive gehört folglich zum Konzept der Äußerung deren inhärente answerability, d. h. die Tatsache, dass jegliche Äußerung, und im weiteren Sinn auch jeglicher Handlungsakt, beantwortbar ist (Bakhtin 1993: 3), was die Möglichkeit von Widerspruch und Verneinung einschließt. Der dialogistische Vektor ist also als ein doppelter zu verstehen: Äußerungen − und ihre Akteure − reagieren nicht nur auf Vorhergegangenes, sondern projizieren gleichzeitig Zukünftiges, sie sind immer schon in Antizipation zukünftiger Reaktionen anderer und auf diese hin geformt (Bakhtin 1986: 94). Der gesprächslinguistische Terminus des
35. Kommunikation und Kulturalität recipient design fasst genau diese Überlegung in etwas technizistischerer Weise (Linell 2009: 167). Ebenso ist das Gewesene niemals abgeschlossen, denn auch vergangene Äußerungen bleiben in die dialogistische Kette eingebunden und reagieren entsprechend auf Späteres: „Even past meanings, that is those born in the dialogue of past centuries, can never be stable (finalized, ended once and for all) − they will always change (be renewed) in the process of subsequent, future development of the dialogue“ (Bakhtin 1986: 170). Diese über die Gegenwärtigkeit aktueller Kommunikationsereignisse ausgreifende Dynamik eines dialogistischen Kommunikationsmodells ist auch für ein am Konzept von Kommunikation orientiertes Verständnis von kulturellem Gedächtnis als ein immer in Bewegung und Veränderung befindliches zentral (vgl. auch Wertsch 1991).
3.2.4. Dialogizität als Grundstruktur menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens Ein dialogistisches Verständnis von Kommunikation geht also grundsätzlich über die Vorstellung von Kommunikation als Vermittlung zwischen Individuum und Individuum bzw. zwischen Individuum und Gesellschaft hinaus. Wenn wir den Menschen als kommunikatives Wesen verstehen und Kommunikation dialogistisch konzipieren, postulieren wir damit auch die fundamental dialogische Struktur von Wissen, Bedeutungen, Emotionen und damit auch von Kultur. Zugespitzt formuliert, erscheint damit der Dialog als Matrix unseres Denkens wie auch als Matrix unseres Selbst. Goffman, dessen kommunikativ begründetes face-Konzept den Menschen ebenfalls dialogistisch modelliert, vermutet eine „functional relationship between the structure of the self and the structure of spoken interaction“ (Goffman 1967: 36). Es ist nicht so, dass das Gegenüber der Auslöser ist, dass wir einen Gedanken sprachlich formulieren und mitteilen, sondern unser Denken ist von Grund auf im Biotop menschlicher Dialogizität geformt. So wie der Mensch sich in seiner Ontogenese zunächst als Gegenüber der sich ihm zuwendenden Mitmenschen erfährt und entsprechend sich selbst im anderen erkennt, kann er den anderen als sein eigenes − und damit seinerseits wieder von ihm abhängiges − Gegenüber wahrnehmen: Aus der Wechselseitigkeit von Kommunikation verbunden mit dem Wechsel von Kommunikationspartnern ergibt sich Perspektivierung als Grundoperation menschlicher Kognition und entsprechend Variabilität und Instabilität als Grunderfahrungen. Dialogistische Konzepte von Kommunikation beinhalten neben der tröstlichen Bindung des Ich an das Du und beider Einbettung in die Gruppe der Dritten also ebenso Stoff für Beunruhigung und Befremdung.
4. Kommunikation und Kultur Wenn man Kommunikation als den Springquell menschlicher Kultur und damit die Kulturalität des Menschen als in seiner spezifischen Kommunikativität begründet versteht, ist die theoretische Konzeptualisierung menschlicher Kommunikation ausschlaggebend für unser Verständnis von Kultur. Kommunikationstheorie und Kulturtheorie lassen sich in diesem Fall nicht unabhängig voneinander entwerfen. Der vorliegende Versuch, den
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III. Kulturen der Kommunikation Kategorien Praxis und Dialogizität in der Modellierung des Kommunikationsbegriffs ein besonderes Gewicht zu geben, hat entsprechende Auswirkungen auf den Begriff der Kultur, die im Folgenden in drei Punkten knapp skizziert werden.
4.1. Explosivität Versteht man Kommunikation in erster Linie als dialogistische Praxis, d. h. als das dialogistische Ineinander der Handlungsdynamik von zwei oder mehr Akteuren, erscheint Kommunikation zwangsläufig als unberechenbar und mit einem gewissen Sprengfaktor verbunden. Die Rückbindung von Kultur an Kommunikation führt entsprechend notwendig zu einem dynamischen Kulturbegriff, d. h. zur Vorstellung einer im Strom kommunikativen Handelns, in der gegenwartsüberschreitenden Dynamik vergangenheits- wie zukunftsgerichteter Bezüge sowie in der Instabilität von dialogistisch immer nur gleichzeitig reaktiv und vorläufig zu denkenden Sinnkonstitutionen permanent arbeitenden bzw. getriebenen Kultur. Die mit einem solchen Konzept verbundene latente Sprengkraft kommunikativen Handelns dürfte unter kultursemiotischer Perspektive dessen verlockendste Eigenschaft sein. Wenn Juri Lotman den Begriff der Kommunikation in seinen letzten Arbeiten ausgerechnet mit seinem kultursemiotischen Konzept der explosive moments (Lotman 2009: 12 et passim) zusammendenkt und in der kommunikativen explosion of meanings (Lotman 2009: 17) ein Ursprungsmoment kultureller Innovation sieht, so wendet er sich damit dezidiert gegen eine am written language bias (Linell 2005) orientierte Vorstellung von einem festen und in seiner kanonischen Form gültigen Text (vgl. Lotman 2009: 115) wie auch gegen die strukturalistische Vorstellung semiotischer Systeme als ebenso abstrakte wie feste „Codes“. Versteht man dagegen die permanente Dynamik und dialogistisch begründete Unberechenbarkeit kommunikativer Prozesse als das Biotop kultureller Semiotik, so gerät auch diese notwendig in permanente Bewegung.
4.2. Stabilisierung Gleichzeitig bildet die Repetitivität kommunikativer Akte und Ereignisse im Strom alltäglichen Daseins aber auch das Instrument dafür, Kultur in steter Wiederholung zu erhalten, zu reproduzieren, sie in der Ausbildung von Mustern, Praktiken und Genres zu stabilisieren und jeweils in situ zu vergegenwärtigen − außerhalb von Kommunikation verschwindet sie. Die Stabilität von Kultur erweist sich, so betrachtet, als eine Leistung von Kommunikation − dies sowohl mit Blick auf im engeren Sinne sprachlich-semantische Bedeutungen wie auch auf nicht-sprachliche semiotische Systeme. Die Frage nach dem Konnex von Kommunikation und Kultur ist damit unter anderem auch die nach den kommunikativen Formen ihrer Stabilisierung.
4.3. Veränderungen In diesem Spannungsfeld von latenter Unberechenbarkeit und stabilisierendem Effekt, das der Dynamo menschlicher Kommunikation kontinuierlich erzeugt, haben zwar auch
35. Kommunikation und Kulturalität Lotmans explosive moments ihren Platz. In der meist in kleinsten Schritten sich ereignenden allmählichen Verschiebung von Formen und Inhalten des kommunikativen Austausches, in deren Strom auch Diskontinuitäten kaum auffällig werden, haben jedoch vor allem die in ihrer Allmählichkeit unspektakulären, meist auch kaum wahrgenommenen kontinuierlichen Veränderungen kultureller Wissensbestände und Überzeugungen, kognitiver wie emotiver Konzepte sowie sozialer und ethischer Normen ihren systematischen Ort. Kulturgeschichte wäre deshalb immer auch als Kommunikationsgeschichte zu betreiben, die gezielt danach fragt, in welchen kommunikativen Kontexten, unter Beteiligung welcher Akteursgruppen und in welchen kommunikativen Konstellationen kulturelle Veränderungen ihre Auslösung bzw. ihre Formung gefunden haben. Die damit notwendig verbundene Frage nach Macht und agency lässt sich unter Rückgriff auf einzelne kommunikationskonstitutive Charakteristika wohl kaum abschließend beantworten, aber immerhin spezifizieren. Zu diesen Charakteristika gehört etwa der oben aus dialogistischen Überlegungen abgeleitete Antwortcharakter von Kommunikation, der dazu führt, dass auch vordergründig initiale kommunikative Akte hinsichtlich ihrer Reaktivität befragt werden können; ebenso der individueller Intentionalität latent enthobene Praxischarakter von Kommunikation, der gleichzeitig die Re- bzw. Neuintentionalisierung kommunikativer Praktiken ermöglicht. Die kommunikationsbezogene Perspektive auf kulturelle Prozesse ist entsprechend geeignet, sowohl die konkreten Mechanismen von deren hegemonialer Formung wie auch die in der spezifischen Systematik von Kommunikation angelegten Möglichkeiten des (wie immer letztlich beschränkten) Entzugs aus gegebenen Machtverhältnissen herauszuarbeiten. Aus dem doppelten Charakter kommunikativer Akte als Antwort und Projektion bzw. aus der grundlegenden answerability jeder Äußerung ergibt sich zudem die Endlosigkeit bzw. Unabgeschlossenheit jeglicher Kommunikation unabhängig von deren lokaler Terminiertheit. Der unausgesprochen immer als begrenzt gedachte Kontext kommunikativer Akte wird aus dialogistischer Perspektive also ins Unendliche geöffnet − die Möglichkeit des letzten Wortes ebenso wie die Setzung eines Anfangs ist systematisch nicht gegeben (vgl. auch Bakhtin 1986: 170).
5. Spannung In der Zusammenschau der dargelegten Aspekte des Konzepts Kommunikation erweist sich dieses in erster Linie als Spannungsphänomen. Das Spannungsmoment charakterisiert sowohl die Alter-Ego-Dyade, aus der keine Loslösung möglich ist, die aber auch nicht zur Verschmelzung von Ego und Alter führt, es charakterisiert aber auch die Janusköpfigkeit von Bedeutungsbildung qua Kommunikation, insofern Stabilisierung von Bedeutung nur in ebendenselben kommunikativen Akten möglich ist, die sie auch in ständiger Fluktuation halten und damit zu ihrer Veränderung beitragen. Der Entzug quasi automatisierter kommunikativer Praktiken aus der individuellen Verantwortlichkeit und Intentionalität des Einzelnen steht in einem Spannungsverhältnis zur Möglichkeit, in kommunikativen Akten durchaus absichtsgeleitet mit Worten Dinge zu tun, ebenso wie die Typisierung respektive Wiedererkennbarkeit von Praktiken als eigenständigen kommunikativen Formen in einem Spannungsverhältnis zu ihrer immer schon gegebenen Einbettung in je spezifische Kontexte steht, aus der heraus ihnen neue und unerwartete Signifikanzen zuwachsen können. Die Liste ließe sich fortsetzen.
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III. Kulturen der Kommunikation Es ist dieser Spannungscharakter, der sich in der kommunikativen Konstitution von Kultur auf Letztere vererbt und damit Grundlage der organischen Verbindung von Kommunikation und Kultur ist.
6. Literatur (in Auswahl) Auer, Peter 1999 Sprachliche Interaktion. Eine Einführung anhand von 22 Klassikern. Tübingen: Niemeyer. Auer, Peter 2000 Die Linguistik auf dem Weg zur Kulturwissenschaft? In: Freiburger Universitätsblätter 147, 55−68. Auer, Peter and Aldo D. Luzio (eds.) 1992 The Contextualization of Language. Amsterdam: John Benjamins. Bauman, Richard and Charles L. Briggs 1990 Poetics and Performance as Critical Perspectives on Language and Social Life. In: Annual Review of Anthropology 19, 59−88. Bakhtin, Mikhail M. 1981 Discourse in the Novel. In: Mikhail M. Bakhtin: The Dialogic Imagination. Four Essays, 259−422. Austin, TX: Texas Press. Bakhtin, Mikhail M. 1986 Speech Genres and Other Late Essays. Ed. by Caryl Emerson and Michael Holquist. Austin, TX: Texas Press. Bakhtin, Mikhail M. 1993 Toward a Philosophy of the Act. Ed. by Vadim Liapunov and Michael Holquist. Transl. by Vadim Liapunov. Austin, TX: Texas Press. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann 1977 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bubenhofer, Noah 2009 Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin: de Gruyter. Buber, Martin [1922] 2008 Ich und Du. Stuttgart: Reclam. Busse, Dietrich 1987 Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart: Klett-Cotta. Butler, Judith 1993 Bodies That Matter. New York: Routledge. Butler, Judith 1997 Excitable Speech: A Politics of the Performative. New York: Routledge. Cook-Gumperz, Jenny and John Gumperz 1976 Context in Childrens’ Speech. In: Jenny Cook-Gumperz and John Gumperz, Papers on Language and Context. (Working Paper No. 46.) Berkeley: Language Behavior Reseach Laboratory. Deppermann, Arnulf, Helmuth Feilke und Angelika Linke (Hg.) 2016 Sprachliche und kommunikative Praktiken. (Jahrbuch 2015 des Instituts für Deutsche Sprache.) Berlin/Boston: de Gruyter. Eckert, Penelope 2000 Language Variation as Social Practice. Oxford: Blackwell.
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Angelika Linke, Zürich (Schweiz)
Verfahren, Medien, Kommunikationsmodi in kulturellen Praktiken Procedures, media, and modes of communication in cultural practices 36. Performativität und Theatralität 1. 2. 3. 4.
Einführung: Bühne und Welt Austin: Performative Derrida: Iterabilität Goffman: Frames und Keying
5. Fischer-Lichte: Theatralität 6. Anthropologie: Zeremonien und Rituale 7. Literatur (in Auswahl)
1. Einführung: Bühne und Welt „All the world’s a stage“, heißt es in Shakespeares Komödie As You Like It: „And all the men and women merely players“ − eine Formulierung, in der nicht nur der neuzeitliche Topos des theatrum mundi zum Ausdruck kommt, sondern in der − angesichts der Tatsache, dass diese Sätze ja auf der Bühne geäußert werden − das Verhältnis von Welttheater und Bühnentheater reflektiert und die Differenzqualität des Bühnenrahmens infrage gestellt wird. Zugleich wird an dieser Stelle das Verhältnis von Performativität und Theatralität thematisiert. Auch wenn der Begriff Performativität zu Shakespeares Zeiten natürlich noch nicht geläufig war: Der Ausdruck to perform bezeichnet damals wie heute eine schauspielerische Leistung auf einer Bühne, wobei die Bühne nicht zwingend eine Theaterbühne und der Schauspieler kein professioneller Schauspieler sein muss: Die Bühne kann auch ein gesellschaftlicher Schaupatz sein, an dem jemand eine soziale Rolle übernimmt. Die Rede von der Theatralisierung der Lebenswelt fokussiert damals wie heute auf den „Aufführungscharakter des menschlichen Lebens bzw. der kulturellen Wirklichkeit“ (Fischer-Lichte 2004a: 8). Insofern verbinden sich mit den Begriffen Theatralität und Performativität auch bestimmte Vorstellungen der Organisationsweise von Gesellschaft und Kultur. Insbesondere im Anschluss an Erika Fischer-Lichtes Projekt einer umfassenden Untersuchung verschiedener Kulturen des Performativen tritt für die Theatralitätsforschung sowohl in einem engeren theaterwissenschaftlichen Sinne als auch in einem weiteren, alle Formen gesellschaftlicher Inszenierung umfassenden Sinne der Aufführungsbegriff ins Zentrum (Fischer-Lichte 2004a: 10). Dies geschieht in Abgrenzung zu kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die Kultur als Text, nämlich als vom Menschen gesponnenes „web of significance“ deuten (Geertz 1973: 5). Theatralität und Performativität gewinnen in diesem Zusammenhang offensichtlich auch eine theoriepolitische Relevanz. Im Folgenden soll zunächst der Begriff Performativität aus sprachphilosophischer, dann aus literaturtheoretischer und rahmentheoretisch-soziologischer Perspektive beleuchtet werden, bevor es um performance in einem dezidiert theatralen und ritualtheoretischen Sinne gehen wird.
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III. Kulturen der Kommunikation
2. Austin: Performative Als terminus technicus der Sprachphilosophie wird der Ausdruck von John L. Austin in Dienst genommen, der in seinen Vorlesungen How to Do Things with Words, die er 1955 hielt, ein Konzept performativer Sprechakte entwickelt, wobei er betont, die Äußerung dieser performatives „are or include the performance of some conventional procedures“ (Austin 1978: 19). Die Sprechakte Austins haben insofern in doppelter Hinsicht Aktcharakter: Sie führen durch das Äußern von bestimmten Worten (klassisches Beispiel: „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“) Handlungen aus und auf, und das heißt auch: Sie führen den theatralen Aspekt der performance in die kommunikativen Kontexte einer auf conventional procedures beruhenden Sprachverwendung ein. Dabei wird die Differenz zwischen fiktionalen kommunikativen Kontexten (wie einer Hochzeit im Rahmen eines Theaterstücks auf der Bühne) und faktualen kommunikativen Kontexten (wie einer Hochzeitszeremonie im Standesamt oder in der Kirche) von Austin durch die Unterscheidung von nicht ernsthaften und ernsthaften Ausführungen definiert (Austin 1978: 19): Zu den Gelingensbedingungen von Sprechakten gehört es, dass die conventional procedures vorschriftsgemäß vollzogen werden und der Sprechakt im Sinne seiner normalen kommunikativen Funktion ernst gemeint ist. Die Bedingung der Ernsthaftigkeit (später bei Searle [2002: 96] dann sincerity condition genannt) kann sowohl die individuelle Intention des Sprechers betreffen, wie es ex negativo beim Missbrauch der Institution der Ehe durch einen Bigamisten deutlich wird, oder aber die Rahmenbedingungen des Sprechens betreffen − wie die Hochzeitszeremonie in einem Theaterstück, bei der es sich im Gegensatz zum betrügerischen So-tun-als-ob des Bigamisten um eine absichtlich durchschaubare Täuschung handelt, die aber gleichwohl alles, was im Rahmen dieses pretending gesagt und getan wird, als Spiel, d. h. als nicht ernst gemeint, erscheinen lassen wird. So schreibt Austin: In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst (hollow) oder nichtig (void), wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel (sea-change) in gleicher Weise erleben. Unter solchen Umständen wird die Sprache auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst gebraucht (used not seriously), und zwar wird der gewöhnliche Gebrauch (normal use) parasitär ausgenutzt. (Austin 2007: 43 f., im Original 1978: 21)
Der Grund für den Verlust der normalen kommunikativen Funktionen im Fall des Rezitierens auf der Bühne, aber auch ganz allgemein des Zitierens, besteht darin, dass es sich nach Auffassung der pragmatischen Sprachphilosophie in beiden Fällen um Formen des Erwähnens (mention) handelt, die vom normalen Gebrauch (use) zu unterscheiden sind. Derartigen parasitären Äußerungen fehlt es an jener „performative force“ (Austin 1978: 78), die später von Austin auch als „illocutionary force“ (1978: 99) bezeichnet wird und die im Verein mit der Ernsthaftigkeit die Voraussetzung für das normale Funktionieren von Sprechakten ist.
3. Derrida: Iterabilität An eben dieser Auffassung der normalen kommunikativen Funktion von Sprache hat sich eine heftige Diskussion entzündet − vorangetrieben vor allem durch die polemische
36. Performativität und Theatralität Auseinandersetzung Jacques Derridas mit der Sprechakttheorie, der in Signatur Ereignis Kontext ([1972] 2001) den Prinzipien der Ernsthaftigkeit und der performativen Kraft das Prinzip einer allen Kommunikationsformen zugrunde liegenden „wesensmäßigen Iterabilität“ entgegensetzt (Derrida 2001: 27). Mit dem Neologismus Iterabilität bezeichnet Derrida die Möglichkeit jedes Zeichens (sprachlich oder nicht-sprachlich, gesprochen oder geschrieben), „zitiert − in Anführungszeichen gesetzt − [zu] werden“ (Derrida 2001: 32) und insofern mit jedem gegebenen Kontext zu brechen „und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte [zu] zeugen“ (Derrida 2001: 32). Die Argumentation von Derrida zielt darauf ab, den Begriff der Kommunikation nicht allein für die Übermittlung von Bedeutung zu verwenden: Ihm geht es darum, dass der Kommunikationsbegriff „auch nicht-semantische Bewegungen bezeichnet“ (Derrida 2001: 15), wozu insbesondere die Bewegung des zitathaften Brechens mit dem Ausgangskontext und des Wiedereinfügens in einen neuen Kontext gehört, das Derrida − möglicherweise als Antwort auf Austins Rede vom Zitat als parasitären Sprachgebrauch − als greffe citationelle bezeichnet (vgl. hierzu auch Wirth 2006: 114). Ein so gefasstes iteratives Wiederholen von bereits verwendeten Zeichen in anderen, neuen Verwendungskontexten fasst den Zeichengebrauch gleichermaßen als mimetische und als rituelle Praxis auf: als ein copy and paste, das Anführungszeichen und Bühnenrahmen, aber auch standesamtliche Heiratszeremonien nicht mehr nur unter der Perspektive logischer Geltungsansprüche betrachtet, sondern als „iterierbare Muster“ (modèle itérable) (Derrida 2001: 40), die gerade aufgrund ihrer Rezitierbarkeit in unterschiedlichsten Kontexten die Voraussetzung codierbarer konventioneller Prozeduren und damit die Voraussetzung für das Gelingen performativer Akte darstellen. Hierbei fungiert nicht mehr das intentionale Prinzip des Ernstmeinens, sondern das Prinzip der Iterabilität als essenzielle Gelingensbedingung, und zwar sowohl im Fall einer Konformität mit dem iterierbaren (Bewegungs-)Muster als auch im Fall der Nichtkonformität, wenn man es etwa mit Rahmenbrüchen oder Rahmenwechseln zu tun hat.
4. Goffman: Frames und Keying In eben diese Richtung zielt Erving Goffman mit seiner Frame-Analysis, wenn er sich explizit auf die oben zitierte Passage aus Austins Vorlesungen bezieht (Goffman [1974] 1986: 44, FN 13), wobei seine Begriffe des Rahmens („frame“) und des modulierenden Rahmenwechsels („keying“) eine spezifische Neukonfiguration des Performanzbegriffs implizieren: Der key wird von Goffman als „set of conventions“ definiert, durch das eine Aktivität, die bereits in einem ersten Rahmen („primary framework“) eine bestimmte Bedeutung hatte, in etwas transformiert wird, was dieser Tätigkeit nachgebildet ist, „but seen by the participants to be something quite else“ (Goffman 1986: 44). Der Schlüssel stellt, wie ein Notenschlüssel in der Musik, eine Art Modulationsanweisung dar, die in funktionaler Analogie zu den Gelingensbedingungen der Sprechakte steht. Im Unterschied zur philosophischen Sprechakttheorie, die ein bestimmtes Modell normaler sprachlicher Bedeutung voraussetzt, nimmt die Rahmenanalyse keine Normalitätssetzungen vor, sondern untersucht auch diejenigen Fälle, die die Sprechakttheorie als Anomalie zunächst ausschloss, und nivelliert damit die Differenz zwischen gesellschaftlichen und künstlerischen Performances. So bestimmt Goffman eine Bühnenperformance als „arran-
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III. Kulturen der Kommunikation gement which transforms an individual into a stage performer“ (Goffman 1986: 124). Diese theatrale Transformation betrifft gleichermaßen den logischen Status der wahrnehmbaren Bewegungen und Äußerungen als auch den Raum, in dem diese Bewegungen und Äußerungen stattfinden: „A line is ordinarily maintained between a staging area where the performance proper occurs and an audience region where the watchers are located“ (Goffman 1986: 124−125). Mit Goffman kann man den Theaterrahmen als einen Deutungsrahmen bestimmen, der das, was man sieht, neu perspektiviert und damit neu konfiguriert: Sobald man als Zuschauer (Goffman spricht von onlooker) eine Figur sieht, die in einem Bühnendrama eine Rolle spielt, sind sowohl der Theaterbesucher als auch der Schauspieler durch den theatralen Rahmen einem Transformationsprozess unterworfen, durch den sie zum Zuschauer und zur Bühnenfigur transformiert werden. Damit finden sie sich in einer neu gerahmten Kommunikationssituation wieder, die man mit Niklas Luhmann (vgl. Artikel 15) als Situation theatraler „Doppelrahmung“ (Luhmann 1999: 178) bezeichnen kann. Hier verbindet sich Derridas Konzept einer kommunikativen Bewegung, die Zeichen aus einem Kontext heraus- und in einen andern Kontext hineinmanövriert, mit Goffmans und Luhmanns Rahmenkonzept: Gerade durch die transformative Bewegung des Rahmenwechsels entstehen neue kommunikative Möglichkeiten.
5. Fischer-Lichte: Theatralität Eine derartige Neuausrichtung ist auch für die kulturwissenschaftliche Indienstnahme des Begriffs performativ entscheidend − und zwar insbesondere, was die räumlich-zeitliche Situierung von Iterations- und Rahmungsformen betrifft. Damit hat sich der kulturwissenschaftliche Performativitätsbegriff insofern von seinen sprachphilosophischen Ursprüngen gelöst, als es nicht mehr primär um die Frage nach den universalen Gelingensbedingungen von Sprechakten als Medien sozialer Sinnübermittlung geht (Krämer 2004: 15), sondern um die Frage nach den konkreten Verkörperungs- und Aufführungsbedingungen von iterativen Mustern zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kulturen. Neben dieser Historisierung des Begriffs der Performativität rückt − vor allem im Kontext seiner kunst- und theaterwissenschaftlichen Indienstnahme − die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Aspekten der Wiederholbarkeit einerseits und Aspekten einer nicht-wiederholbaren Ereignishaftigkeit andererseits in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Dabei wird der Begriff der Performance mit der nicht-wiederholbaren Ereignishaftigkeit einer einzelnen Aufführung assoziiert, während der Begriff der Inszenierung ein auf Wiederholbarkeit angelegtes Arrangement bezeichnet, nämlich als „Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien […], nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht werden soll“ (Fischer-Lichte 2004a: 16). Der Ausdruck performativ bezieht sich hierbei nun offensichtlich auf die individuellen Verkörperungsbewegungen im Rahmen eines strategischen, auf Wiederholbarkeit angelegten mise en scène. Die individuelle Aufführung qua Performance und die Inszenierung als „intentionale Planung der performativen Hervorbringung von Materialität“ sind indes nur zwei von insgesamt vier Aspekten, durch die, laut Fischer-Lichte, der Begriff der Theatralität bestimmt ist: Hinzu kommen die Aspekte der Korporalität (als materiale Bedingungen der
36. Performativität und Theatralität Verkörperung, etwa durch den Körper des Schauspielers) und der Wahrnehmung (der Beobachtungsperspektive der Zuschauer). Während sich der Begriff des Performativen auch auf jeden einzelnen dieser vier Aspekte anwenden lässt, bezieht sich der Begriff der Theatralität − zumindest in der Lesart Fischer-Lichtes − auf die Gesamtheit aller vier Aspekte. Das heißt, Theatralität und Performativität lassen sich zwar aufeinander beziehen, können jedoch nicht mehr als Synonyma verwendet werden (Fischer-Lichte 2002: 299 f.): „Von Theatralität reden wir, wenn die im Hinblick auf eine spezifische Wahrnehmung vorgenommene Inszenierung von Körperlichkeit zur Aufführung gelangt“ (Fischer-Lichte 2004a: 10). Der Umstand, dass nun auch Korporalität und Wahrnehmung zu performativen Aspekten der Theatralität werden, hat weitreichende Folgen. So lässt sich zum Beispiel die Frage, was der Körper des Schauspielers verkörpert, unter dem Vorzeichen des Performanz- und des Theatralitätsbegriffs reformulieren. Gemäß dem von Diderot aufgeworfenen Paradoxe sur le Comédien muss ein Schauspieler Empfindsamkeit darstellen können, ohne selbst empfindsam zu sein, nämlich im Rückgriff auf das Modell eines empfindsamen Menschen, der ihm als „ideales Modell“ (modèle idéal) (Diderot [1769] 1967: 485) und damit gewissermaßen auch als modèle iterable dient. Nur deshalb ist es dem Schauspieler möglich, als „strenger Kopist seiner selbst“ (Diderot 1967: 484), in mehreren Aufführungen die gleiche Rolle mit dem gleichen Feuer zu spielen. Allerdings verändert sich dieses theatrale Konzept unter dem Vorzeichen einer performativen Wende in der Theaterkunst, die nicht nur das Verhältnis von Dramentext und Theateraufführung neu bestimmt, sondern das dem individuellen Körper des Performers eine neue, selbstreflexive Rolle zuschreibt, die nicht mehr in der Nachahmung eines idealen Modells oder einer durch den Dramentext vorgeschriebenen Rolle aufgeht: „Nur indem der Schauspieler/Performer in der Aufführung seine ganz individuelle Körperlichkeit hervorbringt, nur indem er sie verkörpert, vermag er zugleich die Figur hervorzubringen, die er in diesem − neuen − Sinne verkörpert“ (Fischer-Lichte 2004b: 158; vgl. kritisch hierzu: Lehmann 2005: 248). Insofern eine Figur zu verkörpern heißt, sie mit „eben den performativen Akten hervorzubringen, mit denen der eigene phänomenale Leib hervorgebracht wird“ (Fischer-Lichte 2004b: 158), erweist sich diese Form einer „korporalisierenden Performativität“ (Krämer 2004: 18) als ein Modell für ein neues Konzept von Theatralität, das sowohl die Weltwahrnehmung als auch die Selbstwahrnehmung als konstitutive performative Akte beschreibbar macht, die zwischen Ausführen und Aufführen interferieren. Hier gewinnt die Frage nach den Verkörperungsbedingungen eine die individuellen Verkörperungsbedingungen übersteigende gesellschaftspolitische Dimension. Sehr deutlich wird dies, wie Judith Butler gezeigt hat, bei den Genderrollen, die jeder im Rahmen historisch sich wandelnder, gesellschaftlicher Rollenideale zu übernehmen und zu erfüllen hat (Butler 1996: 297 ff.). Aber auch Wahrnehmungsprozesse weisen performative Züge auf. Dies hat schon sehr früh Wolfgang Iser mit Blick auf den Akt des Lesens erkannt. Die Begründung lautet, dass das Gelingen von Sprechakten nicht nur von sprecherseitig einzuhaltenden Bedingungen abhängig ist, sondern auch davon, dass „der Empfänger die Rollenintention des Sprechers erkennt und gleichzeitig der damit verbundenen Rollenerwartung entspricht“ (Iser 2002: 133). Wendet man dieses Argument auf die Wahrnehmung von Aufführungen an, dann folgt daraus, dass jede Performance erst durch die Interaktion von Produzenten und Rezipienten entsteht. Dies legt den Grund dafür, Performativität als eine „grundlegende theatrale und ästhetische Kategorie“ ins Feld zu führen (Fischer-Lichte 2002: 300).
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6. Anthropologie: Zeremonien und Rituale Freilich gibt es neben diesem rezeptionsästhetischen Szenario der performativen Teilnahme auch noch andere Möglichkeiten, wie Performativität im Zusammenwirken von Korporalität und Wahrnehmung als theatrale kulturelle Praktik zutage tritt − etwa im Vollzug von Zeremonien und Ritualen, bei denen das Ziel der gemeinschaftsstiftenden Teilhabe durch das Prinzip der Wiederholbarkeit (Stichwort modèle iterable) hervorgebracht wird. So haben die formelhaften (expliziten) Performativa, die im Rahmen von Zeremonien und Ritualen geäußert werden, fast immer rezitativen Charakter. Dabei geht es offensichtlich nicht um die Übermittlung von semantisch-propositionaler Bedeutung, sondern um das Hervorbringen einer Gemeinschaft, die durch „das Einhalten einer Form“ gestiftet wird (Fischer-Lichte 2002: 145). Man muss womöglich noch einen Schritt weiter gehen und mit Belliger und Krieger behaupten, dass Rituale als „meta-performative kommunikative Handlungen“ (Belliger und Krieger 1998: 21) anzusehen sind, die einen besonderen Bezug zur performativen Rede haben, da sie „die Konventionen, auf denen performative Rede gründet, durch eine ihnen spezifische generative Pragmatik festlegen“ (Belliger und Krieger 1998: 21). Insofern erscheinen Zeremonien und Rituale als gemeinschaftsstiftende Elemente von „cultural performances“, worunter im Anschluss an Victor Turner die „public presentation or exhibition of a sequence of events and acts in a place and period of time“ (Turner [1982] 1987: 47) zu verstehen ist. Dergestalt wird der Performativitätsbegriff zu einer anthropologischen Kategorie, die den Aspekt der Aufführung zu einem zentralen Gesichtspunkt der Analyse nicht nur theatraler, sondern auch gesellschaftlicher und kultureller Rahmen macht. So schlägt Victor Turner schon 1982 in seinen Essays From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play die Aufführung fremder ritueller Handlungen als Erkenntnisinstrument vor, um sich die andersartigen Rollen, kollektiven Repräsentationen und Übergangszustände fremder Kulturen nicht nur intellektuell, sondern auch durch eigenes körperliches Erleben zu erschließen. Diese ethnodramaturgische Herangehensweise bringt − im Rückgriff auf ethnographische Daten − die rituellen Performatives der fremden Kultur auf die Bühne der eigenen Kultur, d. h., sie reinszeniert (und d. h. natürlich auch: sie transformiert) im Rahmen einer theatralen Performance. Dabei bedeutet der Begriff der Performance, wie Turner betont, nicht so sehr „eine einzelne Tat oder Handlung ausführen, als vielmehr einen in Gang befindlichen Prozeß vollenden. Ethnographien als Theaterstücke aufführen heißt dann, uns ethnographische Daten in ihrer ganzen Fülle von Handlungsbedeutungen vor Augen führen“ (Turner 2002: 195). Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Betonung der Prozesshaftigkeit dieses ethnographisch geprägten Begriffs von Performativität zu, denn sie impliziert ein dynamisches Kulturmodell und eröffnet dadurch die Möglichkeit einer „kritischen Prozessanalyse“ (Bachmann-Medick 2006). Dass damit der Aufführungsbegriff aus dem Bereich der Theateranalyse auf den Bereich der Kulturanalyse übertragbar geworden ist, bleibt unbestritten. Ob damit jedoch auch schon plausibel zu begründen ist, dass − dies ist ja die theoriepolitische Pointe des performative turn der Kulturwissenschaften − Performativität als Kulturmodell gegenüber Text als Kulturmodell zu privilegieren sei, hängt wesentlich von dem dabei zugrunde gelegten Textkonzept ab. So macht etwa die Schreibprozessforschung − ein avancierter Zweig der Philologie − einen dynamischen Textbegriff stark und eröffnet zugleich Möglichkeiten einer Überwindung des Gegensatzes von Text und Performativität. In diesem Zusammenhang bestimmt Almuth Grésillion die
36. Performativität und Theatralität Aufgabe der Schreibprozessforschung dahingehend, den „Performance-Akt der Textwerdung“ (Grésillion 1996: 23) zu rekonstruieren.
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Uwe Wirth, Gießen (Deutschland)
37. Medialität, Intermedialität, Transkriptivität 1. Medialität und Sprachwissenschaft 2. Transkriptivität als Grundlage der Bedeutungsgenese 3. Literatur (in Auswahl)
1. Medialität und Sprachwissenschaft Medialität ist kein selbstverständliches Thema in der sprachwissenschaftlichen Forschung − dies gilt es hier eingangs zu betonen. Die Vermitteltheit von Sprache in ihren verschiedenen Realisierungsweisen hat erst in den vergangenen Jahren den Status eines zentralen Untersuchungsgegenstandes erreicht und bedarf in ihrer grundsätzlichen Berücksichtigung in sprachwissenschaftlichen Arbeiten noch der weiteren Etablierung. Begründet liegt diese zu überwindende Ausblendung der konkreten Gestalt der Sprachtexte laut Jäger (2000: 26 ff.) in der „Medialitätsvergessenheit der Sprachtheorie“, die aufgrund der Prädominanz der kognitivistischen Linguistik existiere und von dieser nachhaltig verbreitet worden sei, indem „elementare mentale Strukturen und Mechanismen des Menschen von Interaktion, Kommunikation und Kultur abgekoppelt“ wurden (Habscheid 2011: 20). Die Beschäftigung mit Medialität (und Intermedialität) zielt somit auf Kernfragen der Sprachwissenschaft, indem in den Fokus rückt, dass die Untersuchung von Sprache und damit Kommunikation einhergeht mit der Untersuchung von Medialität: „Ohne Medialität keine Kommunikation“ (Holly 2011: 144).
37. Medialität, Intermedialität, Transkriptivität Es gibt keinen nicht medialen Zustand von Sprache. Die unhintergehbare Vermitteltheit von Sprache wurde in jüngster Zeit sowohl in der Gesprächs- als auch in der Textlinguistik zum Untersuchungsgegenstand und damit wurden Formen der Materialität von Sprachzeichen herausgearbeitet: Wie beispielsweise Lautsprache, Gestik und Körperpositionen einerseits (vgl. Schmitt 2007; Mondada und Schmitt 2010; Hausendorf, Mondada und Schmitt 2012; Fricke 2012) und Schriftsprache, Bilder und Typographie andererseits (vgl. Schneider und Stöckl 2011; Stöckl 2010; Roth und Spitzmüller 2007) zusammenspielen und durch wechselseitige Bezugnahmen intersubjektiv geteilten und teilbaren Sinn herstellen lassen, gerät aus dieser medialitätsbewussten Perspektive zunehmend in das Blickfeld der gegenwärtigen Sprachwissenschaft (vgl. auch Schneider 2008).
2. Transkriptivität als Grundlage der Bedeutungsgenese Sprache ist immer gebunden an konkrete, medial-materiale Erscheinungsformen, deren Bedeutung ausschließlich über die interaktiv erfolgende Zirkulation der Bedeutung einzelner Sprachzeichen in Relation zueinander entsteht. Diese leitende Annahme (vgl. Jäger 2002a, 2010; Fehrmann 2004; Linz 2004) geht einher mit der Ablehnung jedes Verständnisses von Sprache als Repräsentation einer außersprachlichen Wirklichkeit, die gleichsam als „medientranszendente Realwelt“ den Abgleich und die Verifizierung des sprachlich zum Ausdruck Gebrachten ermöglichte (Jäger 2002a: 29). Die Akzeptanz der grundlegenden Medialität von Sprache führt somit unweigerlich zu der aus verschiedenen Perspektiven (vgl. Luhmann 1997; vgl. auch Artikel 15; Glasersfeld 1991) formulierten Überlegung, dass es einen erkenntnis- und medienunabhängigen Zugang zur Wirklichkeit nicht gibt; an die Stelle der in repräsentationistischen Theorien (vgl. Linz 2004; Jäger 2002a) geltenden Orientierung an einer darstellungsunabhängigen Gegenstandswelt tritt der leitende Gedanke, dass die oben angeführte Vermitteltheit jeder Sprachform unhintergehbar zur sprach- und medienimmanenten Entstehung von Bedeutung führt. Mit anderen Worten: Wenn es keinen anderen Zustand von Sprache als den medialen gibt (vgl. Jäger 2002b; Linz 2004; Holly 2011) und es keinen medienunabhängigen Zugang zu den Begriffen und Gegenständen der Welt gibt, kann Sinn nur dort entstehen, wo Sprache (und andere Symbolsysteme) sich in ihrer jeweiligen Medialität selbst begegnet, somit innerhalb der und zwischen den jeweiligen Mediensysteme(n); Sinngenese und Zeichenverwendung sind grundlegend sozial und basieren auf ihrer Zirkulation in sozialen Situationen und Interaktionen. Zwei wichtige Verfahren der Bedeutungsherstellung lassen sich dabei zunächst unterscheiden − das wechselseitige Bezugnehmen innerhalb desselben Symbolsystems, also sprachreflexive und intramediale Verfahren (siehe Kapitel 2.3), sowie das wechselseitige Bezugnehmen mit anderen Symbolsystemen, also die „Kommentierung, Erläuterung, Explikation und Übersetzung eines ersten Systems“ (Jäger 2002a: 29), etwa eines Bildes durch Sprache, als intermediales Verfahren (siehe Kapitel 2.4). Mit Jäger (2002a, 2002b, 2004, 2005, 2010) können diese Verfahren der Bedeutungsherstellung als Verfahren der Transkriptivität verstanden werden. Sie sorgen dafür, dass das jeweils gewählte Symbolsystem verstehbar wird und ihm Bedeutung zugesprochen werden kann; sie sorgen in der Terminologie Jägers für Lesbarkeit, indem durch Transkriptionen Skripte (siehe Kapitel 2.1) und damit Lektüresedimente entstehen, die wiederum zur Grundlage weiterer Prozesse der Bedeutungszuschreibung werden können.
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III. Kulturen der Kommunikation
2.1. Transkripte, Skripte, Präskripte Transkriptionen sind, einem allgemeinen sprachwissenschaftlichen Verständnis folgend, „ein gut eingebürgertes, technisches Verfahren der Überführung mündlich − genauer gesagt: verbaler, paraverbaler und nicht-verbaler − sprachlicher Äußerungen ins Medium der Schriftlichkeit“ (Stanitzek 2002: 8). In Jägers Theorie der Transkription wird dieser in den 1960er-Jahren in der amerikanischen Soziologie (vgl. Garfinkel [1967] 1996; Schegloff 1992) etablierte Vorgang des selbst- und rückbezüglichen Verschriftlichens zum analytischen Ausgangspunkt der Erklärung, wie Bedeutung grundsätzlich entsteht. Ausgehend von der gerade angeführten, konstitutiven Medialität von Sprache, rücken hier die selbstbezüglichen Prozesse in den Fokus, mit denen sprachlich auf Sprache Bezug genommen wird und somit jeweils rückbezüglich anders lesbar gemacht wird, was beispielsweise gerade gesagt wurde oder wie es verstanden wurde. Diese sprachkonstitutive Eigenschaft, auf sich selbst durch Reformulierung, Erläuterung oder ausdrucks- oder inhaltsseitige Reparatur Bezug nehmen zu können, wird in der Transkriptivitätstheorie zur Grundlage der allgemeineren Frage, wie in den allein mediengebunden vorhandenen Symbolsystemen unserer Gesellschaft Sinn entsteht bzw. entstehen kann. Jäger unterscheidet zur Verdeutlichung dieser medienimmanenten sinngenerierenden Prozesse zwischen Transkripten, Skripten, Präskripten und Postskripten (vgl. Jäger 2002a, 2005, 2010). Demnach entsteht ein Transkript durch die Bezugnahme eines Skriptes auf ein anderes, beispielsweise entstehen ein Kommentar oder eine Parodie oder ein Sampling durch die Bezugnahme eines Textes (oder eines Musikstückes) auf einen anderen. Erst durch diese Bezugnahmen werden die der Transkription zugrundeliegenden Ausschnitte zu Skripten; die Transkription verleiht den transkribierten Texten, Bildern oder Musikstücken erst den Status, ein Skript zu sein, somit über eine andere Bedeutung zu verfügen, indem es neu, anders oder wieder lesbar wird. Dieses Skript steht auch erst nach der Transkription als bestimmtes Skript für weitere Bezugnahmen bzw. Transkriptionen und auch für die Überprüfung der „Angemessenheit der Transkription“ zur Verfügung. Die Transkription eröffnet somit „zugleich den Raum für Postskripte, die ihrerseits als Skript-Behauptungen das iterativ-endlose Spiel der Lektüre in Gang halten“ (Jäger 2002a: 33). Zu Prätexten schließlich werden diese Texte „in der Rückprojektion auf den Zustand des Noch-Nicht-Transkribiert-Seins“ (Jäger 2007b: 3), also rückbezüglich.
2.2. „Lesbar machen“ als Leistung der Transkription Transkriptionen als grundlegende Verfahren der Übersetzung, Erklärung und Kommentierung von bereits vorhandenen symbolischen Systemen wie Sprache und Bildern sind nach Jäger (2002a) skriptkonstitutiv − es entstehen durch die verschiedenen Formen der Bezugnahme lesbar gemachte Sprachtexte, Bilder, Passagen, die durch die Transkription konkret als eben dieser Sprachtext oder dieser Ausschnitt und dieses Bild fassbar sind bzw. werden. „Lesbar machen“ bedeutet in diesem theoretischen Ansatz, dass durch die Transkription den zugrunde liegenden Texten, Bildern oder Ausschnitten Bedeutungen zugeschrieben werden, auf die Bezug genommen und an die in weiterer Kommunikation angeschlossen werden kann. Lesbar machen kann im konkreten Kontext auch ein Unlesbar-Machen bedeuten, wenn etwa in der Werbung als öffentlicher Kommunikation (vgl.
37. Medialität, Intermedialität, Transkriptivität Artikel 57) oder der Kunst (vgl. Artikel 52) etwas opakisiert und verrätselt wird (vgl. auch Holly 2008; Artikel 42). Die rückbezüglich zu Prätexten werdenden Skripte sind Ausschnitte − aus Texten der Kultur wie Gesprächen, Sätzen, Artikeln, Briefen, Büchern, Bildern, Musikstücken −, die durch die Transkription eine „semantische Ordnung“ erhalten und dadurch in den „Status der Lesbarkeit versetzt“ werden (Jäger 2002a: 35 [Hervorh. i. Orig.]). So kann ein Sprachtext einen Bildtext in einem Fernsehbericht (vgl. Holly 2006) oder einem Zeitungsbericht (Domke und Ohlhus 2008, 2010) dergestalt transkribieren, dass dieses Bild dadurch als Beleg für eine politische Situation oder Dokumentation eines Vorgangs verstanden bzw. gelesen werden kann. Eine Bildunterschrift im Museum macht das Bild in bestimmter Weise (durch einen Titel, den Verweis auf den Malenden) ebenso erschließbar wie die Überschrift „Kommentar“ über einem Zeitungsartikel. Ohne Bezugnahmen dieser Art, die Jäger als „Grundeigenschaft kultureller Semantik“ definiert (Jäger 2002a: 37), existierten keine Bedeutungen. Die sprachkonstitutive Möglichkeit zur Selbst- und Rückbezüglichkeit bildet in diesen Überlegungen den Grundstein für das Verständnis von Sinn, der niemals „rekursionsfrei“ entstehen, sondern allein durch vorund rückverweisende, intra- und intermediale Bezüge und als Bestandteil „der kulturellen Semantik als [einem] Apparat fortwährender De- und Rekonzeptualisierung in Gang gehalten wird“ (Jäger 2010: 316).
2.3. Intramediale Verfahren der Sinngenese Auf Sprache kann mit Sprache Bezug genommen werden − diese sprachkonstitutive Fähigkeit kann gleichsam als Ausgangspunkt für die verschiedenen transkriptiven Verfahren angesehen werden: Sprache − und hieraus resultierte ihr fundamentaler Eigensinn − verfügt über die für sie wesentliche Eigenschaft, sich rekursiv auf sich selbst zurückzubiegen und so ihre Hervorbringungen fortlaufend zum Gegenstand von weiteren thematisierenden, kommentierenden, explizierenden oder auch arkanisierenden Zeichenverwendungen zu machen, zum Objekt also selbstbezüglicher semiologischer Operationen. (Jäger 2005: 48)
Erkennbar lässt sich diese Merkmalsbeschreibung von Sprache mit den Annahmen über die selbst- und rückbezüglichen Prozesse der allgemeinen Systementstehung verbinden (vgl. Luhmann 1997); sie entspricht darüber hinaus den hier vorgestellten Verfahren der Transkription: Die der Sprache eigene Rekursionsfähigkeit kann demnach als grundlegender Typus des Transkribierens verstanden werden. Mit Selbstbezugnahme ist ein zentrales der intramedialen Verfahren der Transkription benannt: Mit Sprache über Sprache, besondere Strukturen oder Bedeutungen zu sprechen, heißt in der hier skizzierten Terminologie, dass so innerhalb desselben Symbolsystems rückbezüglich anders lesbar gemacht wird, was bereits gesagt oder geschrieben wurde. Dies trifft auch auf den in der Konversationsanalyse prominent untersuchten Bereich der Reparaturen zu. Hier wird davon ausgegangen, dass Verstehen auch dadurch gewährleistet wird, dass Äußerungen im Nachhinein repariert werden: Was ein Sprecher gerade gesagt hat, kann im Alltag ganz selbstverständlich in Bezug auf Formulierungen oder
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III. Kulturen der Kommunikation Details in einem zweiten Turn repariert, ergo überschrieben, transkribiert werden. Dabei kann unterschieden werden zwischen demjenigen, der die Reparatur initiiert, und demjenigen, der die Reparatur letztlich durchführt (vgl. Schegloff, Jefferson and Sacks 1977; Jefferson 1974). Die hier vorgenommene Unterscheidung in selbst- oder fremdinitiierte Selbst- oder Fremdreparaturen lässt sich verbinden mit dem von Jäger ausgeführten Ausgangspunkt, dass „bereits das sozusagen einsame Sprechen […] (wie auch das Schreiben) insofern transkriptiv [verfährt], als in den produktiven Prozeß der Zeichenhervorbringung konstitutiv rezeptive Momente der Selbstlektüre eingebaut sind“ (Jäger 2002a: 40). Reparaturen von Konstruktionen und Erläuterungen von Beiträgen sind ein ganz normaler Bestandteil von Gesprächen und dienen der Verständnissicherung. Sie verweisen in ihrer Häufigkeit und Alltäglichkeit auf einen zentralen Gedanken der Transkriptivitätstheorie: Ohne das Moment der Rückbezüglichkeit ist die Entstehung von Bedeutung nicht möglich (siehe oben). Durch sprachreflexive, intramediale Verfahren wie Reparaturen, die Jäger als Störung bezeichnet, wird das „transkriptive Verfahren der Remediation in Gang gesetzt“ (Jäger 2010: 317), das zu einem (neuen) Skript führt und das Gesagte in neuer Weise versteh- und lesbar macht; dabei sind Störungen keinesfalls Indizes von gestörter Kommunikation, sondern vielmehr alltägliche, selbstverständliche „Fingerzeige für die Notwendigkeit der transkriptiven Weiterbearbeitung der Äußerung“ (Jäger 2007b: 13−14). Diese erfolgen somit bei Bedarf für (neue) Lesbarkeit, die beim Zustand der „Transparenz als […] Zustand ungestörter medialer Performanz“ (Jäger 2010: 317) eben nicht erforderlich ist.
2.4. Intermediale Verfahren der Sinngenese Intermediale Transkription erfolgt, wenn ein zweites Symbolsystem ein erstes lesbar macht. Damit ist ein im gegenwärtigen ausdifferenzierten Mediensystem häufig beschriebenes und beobachtbares Verfahren benannt (vgl. Jäger 2010, 2002): Die durch neue mediale Praktiken möglichen Formen der Bezugnahme von computergenerierten Texten auf Texte und Bilder und Videos u. a. sind in ihren Prinzipien des wechselseitigen Kommentierens, Erläuterns und Zuschreibens jedoch keinesfalls Anzeichen der „Verflüchtigung des Realen“ oder der Vorherrschaft der technischen Simulation (vgl. Jäger 2002a: 27). Vielmehr spiegelt sich in den (neuen) Bezügen zwischen den Texten von derselben Kultur oder verschiedenen Kulturen die grundlegend konstitutive Selbstbezüglichkeit von Medien wider (vgl. Luhmann 1996). Wenn diese durch neue Medien und Kommunikationsformen (vgl. Holly 2011) deutlich hervortretenden Verweise und Vernetzungen in Relation gesetzt werden zu den bereits angeführten intramedialen Bezügen, kann die bereits für den „frühen Menschen“ festgehaltene Praktik des mündlichen Rituals mit zeitgleicher Bezugnahme zu „Gravur, Malerei und Bildhauerei“ als grundlegendes „anthropologisches Prinzip“ ausgemacht werden (Jäger 2002: 28). Die Kommentierung eines Symbolsystems durch ein anderes ist somit ein transkriptives Verfahren neben anderen und neue, technisch ausdifferenzierte Relationen wie in Hypertexten, YouTube- bzw. WhatsApp-Kommunikation bedürfen nur angemessener Formen der Lektüre bzw. der Interpretation der komplexen Überschreibungen. Es sind dann die genauen Verfahren der intermedialen Bezugnahmen, die konkret herausgearbeitet werden können. Zu den relevanten zählt der Sprache-Bild-Bezug, der
37. Medialität, Intermedialität, Transkriptivität die spezifischen Leistungen der beiden Symbolsysteme in den Fokus rückt. Wie mit Worten gesehen, ergo etwas fokussiert oder erklärt wird, was bildlich wahrnehmbar wird, wie bildlich authentifiziert oder veranschaulicht wird, worauf sprachlich referiert wird, kann so zum Untersuchungsgegenstand werden (vgl. Holly 2006, 2010). Dabei sind komplexe Verfahren der wechselseitigen Transkription im Prozess der Bedeutungsgenese zu unterscheiden, beispielsweise bei statischen Sprache-Bild-Texten in Zeitungen (vgl. Domke und Ohlhus 2008, 2010), bei bewegten Bildern und hör- und sichtbarer Sprache (vgl. Holly 2009) sowie bei semiotisch vielgestaltigen Texten, die z. B. Sprache, Bilder, Töne und Musik umfassen (vgl. Stöckl 2010; Schneider und Stöckl 2011; Meier 2014). Hier rücken auch audiovisuelle Kommunikationsformen (vgl. Artikel 46) wie Fernsehund YouTube-Beiträge in das Zentrum. Intermediales Transkribieren ist ein fester Bestandteil des Alltags: Indem die mündliche Rede durch PowerPoint-Präsentationen oder öffentliche Kommunikation wie Bahnhofskommunikation oder Werbung durch den Ort, an dem sie rezipierbar ist (Domke 2014), anders lesbar bzw. verstehbar ist, offenbart sich das Bezugnehmen verschiedener Symbolsysteme und Medien als selbstverständliche Praktik zur Herstellung von Sinn.
3. Literatur (in Auswahl) Domke, Christine 2014 Die Betextung des öffentlichen Raumes. Eine Studie zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen. (Wissenschaft und Kunst 26.) Heidelberg: Winter. Domke, Christine und Sören Ohlhus 2008 „Im Stelenwald versteckt“ − Überlegungen zur Bedeutungskonstitution im massenmedialen Diskurs. In: Inge Pohl (Hg.), Semantik und Pragmatik − Schnittstellen, 419−439. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Domke, Christine und Sören Ohlhus 2010 Wissenswertes im Diskurs etablieren: Über den öffentlichen Umgang mit dem Holocaust-Mahnmal. In: Ulrich Dausendschön-Gay, Sören Ohlhus und Christine Domke (Hg.), Wissen in (Inter-)Aktion. Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern, 377−399. Berlin/New York: de Gruyter. Fehrmann, Gisela 2004 Die diskursive Logik kategorieller Wissensstrukturen. In: Ludwig Jäger und Erika Linz (Hg.), Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, 69−98. München: Fink. Fricke, Ellen 2012 Grammatik multimodal: Wie Wörter und Gesten zusammenwirken. Berlin/Boston: de Gruyter. Garfinkel, Harold [1967] 1996 Studies in Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press. Glasersfeld, Ernst von 1991 Abschied von der Objektivität. In: Paul Watzlawick und Peter Krieg (Hg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster, 17− 30. München: Piper. Habscheid, Stephan 2011 Das halbe Leben. Ordnungsprinzipien einer Linguistik der Kommunikation − Zur Einleitung in den Band. In: Stephan Habscheid (Hg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation, 3−29. Berlin/New York: de Gruyter.
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37. Medialität, Intermedialität, Transkriptivität Linz, Erika 2004 ‚Language of Thought‘ − mentale Symbole oder mediale Zeichen. In: Ludwig Jäger und Erika Linz (Hg.), Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, 45−68. München: Fink. Luhmann, Niklas 1996 Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas 1997 Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Meier, Stefan 2014 Visuelle Stile. Zur Sozialsemiotik visueller Medienkultur und konvergenter Design-Praxis. Bielefeld: transcript. Mondada, Lorenza und Reinhold Schmitt (Hg.) 2010 Situationseröffnungen. Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion. (Studien zur deutschen Sprache 47.) Tübingen: Narr. Roth, Kersten S. und Jürgen Spitzmüller (Hg.) 2007 Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz. Sacks, Harvey 1992 Lectures on Conversation. Volumes I & II, ed. by Gail Jefferson. With an introduction by Emanuel A. Schegloff. Oxford: Basil Blackwell. Schegloff, Emanuel A. 1992 Repair After Next Turn. The Last Structurally Provided Defense of Intersubjectivity in Conversation. In: American Journal of Sociology 97(5), 1295−1345. Schegloff, Emanuel A., Gail Jefferson and Harvey Sacks 1977 The Preference for Self-Correction in the Organization of Repair in Conversation. In: Language 53(2), 361−382. Schmitt, Reinhold (Hg.) 2007 Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion. (Studien zur deutschen Sprache 38.) Tübingen: Narr. Schneider, Jan Georg 2008 Spielräume der Medialität. Linguistische Gegenstandskonstitution aus medientheoretischer und pragmatischer Perspektive. (Linguistik − Impulse & Tendenzen 29.) Berlin/ New York: de Gruyter. Schneider, Jan Georg und Hartmut Stöckl (Hg.) 2011 Medientheorien und Multimodalität. Ein TV-Werbespot − Sieben methodische Beschreibungsansätze. Köln: Herbert von Halem. Stanitzek, Georg 2002 Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung. In: Ludwig Jäger und Georg Stanitzek (Hg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, 7−18. München: Fink. Stöckl, Hartmut (Hg.) 2010 Mediale Transkodierungen. Metamorphosen zwischen Sprache, Bild und Ton. (Wissenschaft und Kunst 17.) Heidelberg: Winter.
Christine Domke, Chemnitz (Deutschland)
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III. Kulturen der Kommunikation
38. Historizität 1. Historizität als Symptomwert 2. Historizität auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems 3. Funktionen der Historizität
4. Historizität als Gegenstand von Sprachbewusstsein 5. Literatur (in Auswahl)
1. Historizität als Symptomwert Texte − sprachliche Äußerungen überhaupt − sind pragmatische Größen: Arten und Weisen des menschlichen Handelns. Als solche erfüllen sie unterschiedliche Funktionen, in der Regel mehrere auf einmal. Welche Funktionen man unterscheidet, hängt dabei vom theoretischen Zugriff ab; bekannte Modelle stammen von Bühler (1934) und Jakobson (1960). Reichmann (1976: 1−4) nennt vier sprachliche Funktionen: Darstellungsfunktion − d. h. sprachliche Fassung von Realität −, Erkenntnisfunktion − d. h. Konstitution und/oder Vermittlung von Erkenntnis (die als solche sprachlich bedingt oder zumindest mitbedingt ist) −, Kommunikationsfunktion − d. h. zweckgeleitetes, adressatenorientiertes sprachliches Handeln − und Symptomfunktion. Letztere „besteht darin, daß sich jeder Sprecher als Individuum und als Angehöriger einer sozialen Schicht oder Gruppe von andern Individuen bzw. Angehörigen anderer Schichten oder Gruppen sprachlich unterscheidet“ (Reichmann 1976: 4). Die Symptomatik des Sprechens (oder Schreibens) ist die Tatsache, dass ein Sprecher oder Autor sich in der Regel unabsichtlich als Angehöriger einer bestimmten Schicht oder Gruppe zu erkennen gibt, anders gesagt: dass es „zu einer bestimmten Einschätzung des Sprechers durch den Hörer“ kommt (Reichmann 1976: 4). Hinsichtlich der Symptomfunktion können somit einer sprachlichen Äußerung unterschiedliche − in der Regel: sich überlagernde − „Symptomwerte“ (Reichmann 1989: 117−125) zugeschrieben werden, beispielsweise eine sprachräumliche (dialektale oder diatopische), eine soziale (diastratische) oder eine zweckbezügliche (funktionalstilistische oder diaphasische) Spezifik. Die sprachliche Symptomfunktion ist seit der Antike bekannt; sie begegnet unter anderem im Alten Testament (Richter 12,5 f.) und im Neuen Testament (Matth. 26,73; Mark. 14,70). Ebenfalls symptomwertspezifisch ist die historische (diachronische) Dimension der Sprache: Eine sprachliche Äußerung kann anhand bestimmter Phänomene des Sprachgebrauchs mehr oder weniger genau einer bestimmten Periode der Sprachgeschichte zugeordnet werden. Eben dies macht ihre Historizität aus. Nimmt man (mit Bär 2009: 95) eine Fünfgliederung der deutschen Sprachgeschichte an − „1. ca. 750 bis ca. 1050: Althochdeutsch, 2. ca. 1050 bis ca. 1350: Mittelhochdeutsch, 3. ca. 1350 bis ca. 1650: Älteres oder Frühneuhochdeutsch, 4. ca. 1650 bis ca. 1950: Mittleres Neuhochdeutsch, 5. ab ca. 1950: Jüngeres oder Spätneuhochdeutsch“ −, so sind die folgenden Textbeispiele als charakteristisch für jeweils eine dieser Perioden zu interpretieren: Althochdeutsch: Uuas intagun Herodes thes cuninges Iudeno sumer biscof namen Zacharias fon themo uuehsale Abiases Inti quena Imo fon Aarones tohterun Inti Ira namo uuas Elisab&h,
38. Historizität siu uuarun rehtiu beidu fora gote gangenti In allem bibotun Inti In gotes reht festin uzzan lastar, inti niuuard In sun. bithiu uuanta Elisab&h uuas unberenti. Inti beidu fram gigiengun In Iro tagun. (Tatian ca. 830: 25 f.) Mittelhochdeutsch: sô ein meister bilde machet von einem holze oder von einem steine, er entreget daz bilde in daz holz niht, mêr er snîdet abe die spæne, die daz bilde verborgen und bedecket hâten; er engibet dem holze niht, sunder er benimet im und grebet ûz die decke und nimet abe den rost, und denne sô glenzet, daz dar under verborgen lac. (Meister Eckhart, Von dem edelen menschen, Anf. 14. Jh.; Quint 1963: 113) Frühneuhochdeutsch: Als auff ein zeit ein mechtig schiff mit kauffmanschafft von Lunden aus Engeland gohn Lisabona in Portugal gantz wol gerüst fahren wolt, hand sich gar viel kaufleut zůsamen geschlagen, sich mit einander verbunden, in einer gemeinen geselschafft auff disem schiff in Portugal zů faren; dann viel under inen nie in dem künigreich gewesen waren. (Wickram [1556] 1903: 137) Mittleres Neuhochdeutsch: Einige Gegenstände des menschlichen Nachdenkens reizen, weil es so in ihnen liegt oder in uns, zu immer tieferem Nachdenken, und je mehr wir diesem Reize folgen und uns in sie verlieren, je mehr werden sie alle zu Einem Gegenstande, den wir, je nachdem wir ihn in uns oder außer uns suchen und finden, als Natur der Dinge oder als Bestimmung des Menschen charakterisiren. (Schlegel 1800: 335) Spätneuhochdeutsch: Als ‚Stammgast‘ leide auch ich unter dem zunehmenden Müllberg. Früher war das Forum eigentlich immmer Interessant; brisannte und interessante Themen wurden angeschnitten, die es immer wert waren, gelesen zu werden. Heute mag ich micht, trotz dem tollen SelfBrowser nicht mehr dazu durchringen … einfach zwischendurch mal reinschauen, die Titel der Postings überfliegen, und wieder nen Abgang machen. (Internet-Forum 2000)
2. Historizität auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems Historizität − im Sinne des vorstehend Gesagten: eine Gesamtheit sprachlicher Phänomene, hinsichtlich deren die Einschätzung einer sprachlichen Äußerung als zugehörig zu einem bestimmten Zeitabschnitt möglich ist −, lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems konstatieren. Jeweils nur einige wenige Phänomene können hier kurz benannt werden. Für ausführlichere Darstellungen ist auf die einschlägige Literatur zu verweisen, beispielsweise Admoni (1990); Paul (1989); Moser, Stopp und Besch (1970 ff.); Reichmann und Wegera (1993); Maurer und Rupp (1974−1978) sowie die gängigen Sprachgeschichten des Deutschen, z. B. Sonderegger (1979); Polenz (1991− 1999); Besch et al. (1998−2004). Typisch für das Althochdeutsche sind in der Lautung beispielsweise die zum Mittelhochdeutschen hin bereits zu unbetontem e abgeschwächten vollvokalischen Nebensilben; in der Schreibung symptomatisch ist beispielsweise das anlautende uu vor Vokal
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III. Kulturen der Kommunikation (Lautwert: w). Das Mittelhochdeutsche weist noch die im Frühneuhochdeutschen in den meisten Regionen nach und nach zu ei, eu und au diphthongierten langen Monophthonge î, iu (Lautwert ü) und û sowie die in etlichen Regionen nach und nach zu langem i, langem ü und langem u monophthongierten alten Diphthonge ie, üe und uo auf. In frühneuhochdeutscher Zeit vollziehen sich zudem einige weitere Lautwandelprozesse, so die Senkung (z. B. künec zu König, sunne zu Sonne), die Rundung (z. B. zwelf zu zwölf, flistern zu flüstern) und die gegenläufige Entrundung (z. B. küssen zu Kissen, nörz zu Nerz). In der Graphematik entwickelt sich im Lauf des Frühneuhochdeutschen (ab dem 16. Jahrhundert) eine immer konsequentere Großschreibung von Substantiven sowie am Satzanfang; Virgeln und später Kommata dienen mehr der syntaktischen als der prosodischen Gliederung; Satzzeichen wie Doppelpunkt, Fragezeichen und Ausrufezeichen tauchen erst ab dem 16. Jahrhundert in größerer Anzahl auf. Das mittlere Neuhochdeutsche zeichnet sich durch eine seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitgehend, seit der zweiten orthographischen Konferenz von 1901 dann vollständig normierte Orthographie aus − die dann in spätneuhochdeutscher Zeit, vor allem in den neuen Medien, zugunsten einer größer werdenden Variantenvielfalt wieder verloren geht. In morphosyntaktischer Hinsicht kommt im Althochdeutschen das Substantiv im Satz noch ohne Artikel aus; der Artikel wird erst nach und nach fester Bestandteil der Substantivgruppe. Die Elementarsätze werden tendenziell zweigliedrig, d. h., die Subjektsposition wird auch dort − v. a. durch Personalpronomina − besetzt, wo die Verbform allein den Handlungs-, Vorgangs- oder Zustandsträger erkennen lässt. Im Mittelhochdeutschen setzen sich diese Tendenzen fort; hinzu kommen einige weitere Phänomene wie die Herausbildung des „Scheinsubjekts“ es (Admoni 1990: 84), d. h. des Vorfeldplatzhalters (Es ist geschên, dez ich ie bat: Walther von der Vogelweide). Die frühe Neuzeit erfährt im Verbwortschatz − neben der Überlagerung und Auflösung der alten starken Verbklassen und dem Übergang von ehemals starken Verben in die schwache Flexion (z. B. bellen, schneien, spalten) und umgekehrt (z. B. dingen) sowie einigen Nivellierungen im Formenspektrum wie dem Zusammenfall der 1. und 3. Pers. Pl. Ind. Präs. Akt. − die Herausbildung eines Sechstempussystems nach lateinischem Vorbild. Das Alt- und Mittelhochdeutsche kannte demgegenüber nur zwei Tempora: Präsens und Präteritum. Im Bereich der Substantive zeigt sich im Frühneuhochdeutschen eine deutliche Tendenz zur Kasusnivellierung (z. B. mhd. Nom. diu vrouwe, Gen. der vrouwen vs. nhd. Nom. die Frau, Gen. der Frau); demgegenüber wird die Unterscheidung von Singular und Plural ausgebaut (z. B. mhd. das/diu wort vs. nhd. das Wort/ die Worte bzw. die Wörter). Syntaktisch sind in frühneuhochdeutscher Zeit unter anderem zu nennen: der Ausbau der Nominalgruppe durch Koordination sowie durch erweiterte Adjektiv- und Partizipialattribute, der Stellungswechsel des adnominalen Genitivs (mhd. in der Regel der sunnen schîn vs. nhd. der Schein der Sonne) und damit einhergehend der Ausbau des Wortbildungsmusters Determinativkompositum, der Abbau der doppelten Verneinung, der Ausbau der Satzklammer, d. h. die Einklammerung großer Satzteile ins Mittelfeld, sowie die Profilierung der Subjunktionen (z. B. wird mhd. da differenziert durch die Unterscheidung von als und weil, semantisch differenziert werden wenn und wann, denn und dann sowie während und indem). Im Neuhochdeutschen und Spätneuhochdeutschen setzen sich diese Prozesse teilweise fort. Im Bereich der Wortbildung finden sich spätestens seit dem 19., verstärkt dann seit dem 20. Jahrhundert Kurzwörter, die es als Kürzungsphäno-
38. Historizität mene der gesprochenen Sprache wohl bereits viel früher gegeben hat, die aber in der Schriftlichkeit kaum nachweisbar sind. Ein typisch spätneuhochdeutsches − hauptsächlich in der gesprochenen Sprache und in konzeptionell mündlichen Textsorten, beispielsweise in den neuen Medien anzutreffendes − Phänomen sind die sogenannten Inflektive wie krach, polter, denk, grübel, lächel (vgl. Teuber 1998). Ebenfalls charakteristisch für die spätneuhochdeutsche Zeit − zumindest für viele Alltagstextsorten, unter anderem im Bereich der Medien − ist die Rückwendung zu stärker parataktischer Syntax mit reduziertem Satzrahmen. Im Bereich des Wortschatzes gibt es wenig Kontinuität seit althochdeutscher Zeit. Viele althochdeutsche Lexeme sind ganz ausgestorben (framgangan ‚voranschreiten‘, quedan ‚sprechen‘, quena ‚Gemahlin‘, rehtfesti ‚Vorschrift, Gesetz‘, truhtin ‚Herr‘, unberanti ‚unfruchtbar‘ usw.) oder haben ihre Bedeutung stark verändert (biscof ‚Priester‘, nhd. Bischof, seo ‚Gewässer jeder Art, auch fließendes‘, nhd. See, uuehsal ‚Geschlecht‘, nhd. Wechsel usw.). Dasselbe gilt, wenngleich weniger deutlich ausgeprägt, für das Mittelhochdeutsche; Wörter wie brœde (,gebrechlich, schwach‘), tougen (,dunkel, verborgen, heimlich‘) sind heute unbekannt oder stark veraltet (bresthaft ,mangelhaft‘, siech ,krank‘), Wörter wie dick (,oft‘), hôchgezît (,Festivität jeder Art‘), milte (,Freigebigkeit‘), muot (,Gesinnung, Gemüt‘), rîche (,mächtig, gewaltig, herrlich‘), vrom (,tüchtig, tapfer‘), vrouwe (,Herrin, Edeldame‘), wîp (wertneutral: ,Frau‘) haben ihre Bedeutung verändert. Selbst zwischen dem Neuhochdeutschen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts und dem Spätneuhochdeutschen des frühen 21. Jahrhunderts gibt es nennenswerte semantische Differenzen, die ein unmittelbares Verständnis beeinträchtigen. So bedeutet beispielsweise goethezeitliches blöd(e) ‚schwach; schüchtern‘, schüchtern ‚scheu‘, grillen ‚launenhaft sein; trübseligen Gedanken nachhängen‘ (von Grille ‚wunderlicher Einfall‘), erbrechen ‚ein Siegel aufbrechen, einen Brief öffnen‘ (Da kam der Brief. Komanditchen erbrach und las: Clemens Brentano), Rock ‚Jacke, Jackett, Oberteil des (männlichen) Anzugs’; lassen kann die Bedeutung ‚aussehen‘ haben (es ließ, als wollte er seinen Thränen entlaufen: Wilhelm Heinrich Wackenroder), hektisch die Bedeutung ‚schwindsüchtig‘. Einen deutlich ausgeprägten diachronischen Symptomwert haben Anredeformen (vgl. hierzu Besch 1996); so kennt das Mittelalter die 2. Pers. Sg. als alleinige Anredeform, die Differenzierung von 2. Pers. Sg. und 2. Pers. Pl. ist erstmals im 9. Jahrhundert belegt, die Differenzierung zwischen 2. Pers. Sg., 2. Pers. Pl. und 3. Pers. Sg. im 16. Jahrhundert, ergänzt durch die 3. Pers. Pl. Ende des 17. Jahrhunderts. Die bis heute gültige Differenzierung zwischen 2. Pers. Sg. und 3. Pers. Pl. greift seit dem späten 18. Jahrhundert. Ebenfalls zeitcharakteristisch sind bestimmte Titel, z. B. Euer Liebden (15.−19. Jahrhundert) oder Wohlgeboren (vom 15. bis 17. Jahrhundert v. a. für Adelige; ab dem 18. Jahrhundert im Gegensatz zu Hochwohlgeboren eher für Bürgerliche; im späteren 19. Jahrhundert obsolet werdend). Auf textueller Ebene lassen sich einzelne Textsorten benennen, die in bestimmten Perioden der Sprachgeschichte noch nicht oder nicht mehr verbreitet sind. So erfährt das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit − insbesondere durch die Einführung des kostengünstigen Beschreibstoffs Papier in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern Mitte des 15. Jahrhunderts − eine explosionsartige Entwicklung des Textsortenspektrums. Vor allem Fachtexte, aber auch Privata wie Tagebücher werden nun breiter überliefert oder entstehen sogar völlig neu. Typisch für das 16. Jahrhundert sind beispielsweise die Flugschriften; Zeitungen
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III. Kulturen der Kommunikation finden sich erstmals im 17. Jahrhundert. Das späte 20. und das frühe 21. Jahrhundert haben − vor allem im Bereich der neuen Medien − wiederum eine große Anzahl neuer, spezifischer Textsorten (z. B. Onlinechat, SMS) und -strukturen (Hypertextualität) hervorgebracht.
3. Funktionen der Historizität Historizität als Eigenschaft von Texten bedeutet zunächst lediglich so viel wie erkennbare Verortung in einer bestimmten Zeit; dies muss keineswegs die oder eine bestimmte Vergangenheit sein (präteritale Historizität), sondern kann auch in die Zeitgenossenschaft des Rezipienten fallen (rezente Historizität). Die kommunikationspraktischen Funktionen von Historizität können entsprechend unterschiedlich und auch vielschichtig sein; lediglich einige wenige können hier exemplarisch umrissen werden. Eine in der Regel unbeabsichtigte, ohne Weiteres jedoch auch gezielt einsetzbare Funktion von Historizität besteht in der emotionalen Affektion des Rezipienten. Indem bestimmte − meist in der Kindheit oder Jugend adaptierte − historische Textmuster aufgerufen werden, entsteht eine gefühlsmäßige Haltung des Rezipienten zum Text bzw. zum Sprecher, die mit dem konkreten Textinhalt wenig zu tun hat und über das bloße Wiedererkennen sprachlicher Formen hinausgeht. Das Es war einmal und andere Versatzstücke des klassischen Märchentons wirken, wie der Erfolg zeitgenössischer Märchenerzähler zeigt, auf viele Menschen bis heute faszinierend. Der auf Luthers Übersetzung zurückgehende altertümliche Bibelstil mit Markern wie siehe und der Konnektorpartikel aber (vgl. Sandig 2006: 279−280) kann im Gegensatz zu modernen, als tendenziell alltagssprachlich empfundenen Übersetzungen eine nostalgisch-affirmative Rezeptionshaltung auch bei Personen evozieren, die über keine religiösen Bindungen verfügen. In der Regel absichtsvoll eingesetzt wird Historizität, wenn es um die Anknüpfung an eine Traditionslinie geht. Dies kann unter anderem, wie im Fall von Kanzleistil, zum Zweck der Ausübung von Autorität erfolgen. Bereits in althochdeutscher Zeit ist erkennbar, dass Urkundensprache einen historisierenden Duktus sucht. Sonderegger (1961) hat am Beispiel der sogenannten St. Galler Vorakte gezeigt, dass in den Konzepten, die der Anfertigung althochdeutscher Urkunden vorangingen, eine modernere Sprachform gewählt wurde, wohingegen die Urkunden selbst dann in traditionellerer − und mit Sicherheit prestigehaltigerer − Form verfasst wurden. Ebenso kann die Anknüpfung an eine tatsächliche, behauptete oder suggerierte Traditionslinie aus ideologischen Gründen erfolgen. Bis in die Gegenwart wird in manchen Tageszeitungen, beispielsweise der Frankfurter Allgemeinen, die Möglichkeit genutzt, traditionalistische Gesinnung typographisch (durch Fraktur) zum Ausdruck zu bringen. Ein weiteres Beispiel ist die archaisierende Graphie, Syntax und Metaphorik Jacob Grimms, die vor allem der Manifestation seiner Weltanschauung dient: Historizität ist für Grimm der Garant eben jener nationalen Einheit und eben jener sozialromantischen Vorstellungen, für die er sich auch politisch und wissenschaftsideologisch einsetzt (vgl. Bär 2010). Eine häufig anzutreffende Funktion von textueller Historizität ist die der literarischen Verfremdung: Die in diesem Fall in der Regel künstlich erzeugte Historizität soll unge-
38. Historizität brochene Rezeption und unreflektierte Horizontverschmelzung im Gadamer’schen Sinn verhindern. Dies gilt beispielsweise für eine bestimmte, vor allem in der deutschen Romantik anzutreffende Art der Übersetzung, die zwischen ausgangssprachlicher und zielsprachlicher Orientierung oszilliert und bevorzugt auf ältere Texte angewandt wird (vgl. Bär 1999: 312−313). Auch die Figurenrede in erzählenden Texten kann historisierend gestaltet sein. In der deutschen Literatur bevorzugt gebraucht wird dieses Stilmittel in historischen Romanen, die deutsche oder germanische Vergangenheit thematisieren, beispielsweise in Felix Dahns Ein Kampf um Rom: Und wer von uns nicht achtet dieses Eides und dieses Bundes und wer nicht die Blutsbrüder als echte Brüder schützt im Leben und rächt im Tode und wer sich weigert, sein Alles zu opfern dem Volk der Goten, wann die Not es begehrt und ein Bruder ihn mahnt, der soll verfallen sein auf immer den untern, den ewigen, den wüsten Gewalten, die da unter dem grünen Gras des Erdgrundes: gute Menschen sollen mit Füßen schreiten über des Neidings Haupt und sein Name soll ehrlos sein soweit Christenleute Glocken läuten und Heidenleute Opfer schlachten, soweit Mutter Kind koset und der Wind weht über die weite Welt. Sagt an, ihr Gesellen, soll’s ihm also geschehn, dem niedrigen Neiding? (Dahn 1876: 20)
Die sprachliche Form unterstreicht die stoffliche Historizität: Tatsächliche oder vermeintliche Archaismen, lexikalische (wann statt wenn, Neiding, kosen, Geselle, mit Füßen schreiten über) und grammatische (reduzierte Satzklammer durch Auslagerung von Objekten ins Nachfeld, relativischer Anschluss mit Pronomen + da, Ersparung des Verbs sein im Relativsatz), suggerieren hier historische Authentizität; ebenso die alliterierenden − stabreimenden − Ausdrücke (grünes Gras, Kind kosen, Wind weht über die weite Welt, niedriger Neiding). All dies stellt die redende Figur (Meister Hildebrand) als jemanden dar, der einer vergangenen Epoche angehört. Demgegenüber wirkt es anachronistisch, wenn beispielsweise in einem Roman oder Historienfilm, der im Mittelalter spielt, eine der Figuren Ausdrücke der Gegenwart wie sich entspannen (,sich von Belastung erholen‘), Problem oder intelligent gebraucht. Während bei Dahn, Gustav Freytag und anderen Verfassern deutscher Professorenromane des 19. Jahrhunderts die sprachliche Historizität ohne Ironie erscheint, ist sie in Thomas Manns Roman Der Erwählte ([1951] 1974) gerade eines der Hauptmittel der Ironie. Bei diesem Text handelt es sich um eine Bearbeitung des Gregorius-Stoffes. Das polyglotte Mittelalter wird durch eine hochartifizielle − von der Erzählinstanz zudem reflektierte (z. B. Mann 1974: 37) − Sprachmischung aus Mittelhochdeutsch und Altfranzösisch karikiert. Wie Bronsema (2005) aufgezeigt hat, geht Mann aber mit der Integration von Fachsprachen und auch modernen Fremdsprachen in seine Sprachfiktion über das Anliegen einer bloßen Archaisierung weit hinaus, „sodass […] von einer überaus facettenreichen sprachlichen Verfremdung gesprochen werden muss“ (Bronsema 2005: 195).
4. Historizität als Gegenstand von Sprachbewusstsein Die Historizität sprachlicher Äußerungen stellt − desto mehr, je ausgeprägter sie ist − ein potenzielles Verständnisproblem dar. Als historisch im Sinne von alt bzw. altertümlich gilt dasjenige, was man nicht mehr gut, kaum noch oder gar nicht mehr versteht
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III. Kulturen der Kommunikation (wobei die Formulierungen kaum noch und nicht mehr zum Ausdruck bringen, dass es ein prinzipielles Bewusstsein von einer früheren Verstehbarkeit und von sprachlichem Wandel gibt). Der kommunikationspragmatische Umgang mit Historizität lässt drei Möglichkeiten zu, von denen die beiden ersten als gezieltes Handeln, als sprachgemeinschaftliche Strategien erscheinen, die dritte jedoch als absichtslos und kaum reflektiert. Gemeint sind: erstens die Verlängerung von Verstehenstraditionen, d. h. die Weitervermittlung der Verstehensmöglichkeiten durch sprachhistorisch orientierten Unterricht; zweitens − in der Regel bei gesamtsprachgemeinschaftlich gesehen größer werdenden Verständnisproblemen − die textuelle Adaption, d. h. die Übersetzung älterer Texte in rezente Sprache; drittens − bei zu groß werdenden Verständnisproblemen − der Rezeptionsbruch: Ältere Texte werden gar nicht mehr gelesen oder zitiert und fallen der Vergessenheit anheim. Dabei ist klar, dass diese drei Möglichkeiten idealtypischer Natur sind. Sie schließen einander nicht im Sinne einer klar gegliederten Stufenfolge aus, sondern können sich in der Kommunikationspraxis einer Sprachgemeinschaft überlagern. Kleiner werdende soziale Gruppen − zunächst die Gebildeten, schließlich nur noch Fachleute − halten die Rezeption älterer Texte aufrecht und geben sie an ihresgleichen weiter, während die Sprachgemeinschaft im Ganzen mit denselben Texten ein Leben lang nicht in Berührung kommt und keinerlei Kenntnis von ihnen und ihren Inhalten hat. Sonderegger (1979) hat die Historizität sprachlicher Äußerungen und den Umgang damit zu einem Prinzip der Sprachgeschichtsschreibung erhoben; die von ihm konstatierten „Verstehbarkeitsgrenzen“ (Sonderegger 1979: 190 u. ö.) kommen überein mit den üblicherweise angesetzten sprachhistorischen Periodengrenzen. Aus den bei Sonderegger angeführten Beispielen für explizite oder implizite Hinweise auf sprachwandelbedingte Verständnisprobleme sei hier nur der Fall des Schweizer Humanisten Aegidius Tschudi (1505−1572) genannt, der mit Blick auf das Althochdeutsche in den 1550er-Jahren schreibt: „Man findt noch in etlichen alten clöstern uralte tütsche schrifften […], die dieser zit gar unverstäntlich sind“ (zit. n. Sonderegger 1979: 185). Mittelhochdeutsche Texte waren Tschudi hingegen noch ohne Weiteres verständlich (vgl. Sonderegger 1979: 185). Ihre Altertümlichkeit − und auch diejenige frühneuhochdeutscher Texte, die Tschudis eigenem Sprachgebrauch entsprachen − befremdete dann im späten 18. Jahrhundert die deutsche Romantik, beispielsweise Wilhelm Heinrich Wackenroder (vgl. Bär 2013). Nimmt man Sondereggers Gedanken der „Verstehbarkeitsgrenzen“ ernst, so lässt sich damit auch für die in jüngerer Zeit häufiger vorgeschlagene Periodengrenze in der Mitte des 20. Jahrhunderts argumentieren: „Zentrale Schriften des 17. bis 19. Jahrhunderts, gelegentlich sogar Texte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, sind durch den verwendeten Wortschatz, durch regionale und stilistische Eigenheiten, nicht zuletzt aber auch durch ihre komplexe sprachliche Struktur erklärungsbedürftig“ (Riecke 2009: 108). Dieses Phänomen führt dazu, dass seit einigen Jahren sogenannte klassische literarische Texte, die im schulischen Deutschunterricht nach wie vor eine Rolle spielen (oder spielen sollen), in Adaptionen auf den Markt gebracht werden. Eine Schullektürereihe, in der die Originaltexte „behutsam gekürzt und sprachlich vereinfacht, ungebräuchliche Wörter durch geläufige ersetzt, schwer verständliche Satzkonstruktionen aufgelöst“ sind, wird folgendermaßen gerechtfertigt: „Viele Jugendliche finden heute keinen Zugang mehr zu klassischen Texten. Das Verständnis und das Lesevergnügen scheitern oft an den sprachlichen Hürden“ (http://www.cornelsen.de/lehrkraefte/reihe/r-4551/ra/konzept [letzter Aufruf 10. 7. 2015]).
38. Historizität Als in dieser Weise adaptionsbedürftig werden nicht nur Autoren des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts angesehen, so Lessing (Nathan der Weise), Goethe (Götz von Berlichingen, Die Leiden des jungen Werther [sic], Faust), Schiller (Die Räuber, Kabale und Liebe, Maria Stuart, Wilhelm Tell), Kleist (Das Erdbeben in Chile [sic], Die Marquise von O., Michael Kohlhaas, Der zerbrochene Krug), Eichendorff (Aus dem Leben eines Taugenichts) und E. T. A. Hoffmann (Das Fräulein von Scuderi), sondern auch solche des späteren 19. Jahrhunderts − Droste-Hülshoff (Die Judenbuche), Jeremias Gotthelf (Die schwarze Spinne), Keller (Kleider machen Leute, Romeo und Julia auf dem Dorfe), Fontane (Unterm Birnbaum), Storm (Pole Poppenspäler, Der Schimmelreiter), Holz und Schlaf (Familie Selicke), Wedekind (Frühlings Erwachen) − und sogar Texte, die bis kurz vor 1950 publiziert wurden: Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924), Jakob Wassermanns Gold von Caxamalca (1928), Ödön von Horvaths Jugend ohne Gott (1937) und Stefan Zweigs Schachnovelle (1942). Es versteht sich, dass solche Angebote die sprachhistorische Entwicklung noch verstärken. So könnte Mitte, spätestens Ende des 21. Jahrhunderts die deutsche Sprachgemeinschaft ihre zweite literarische Klassik − die Weimarer Klassik um 1800 − kaum noch anders zu lesen imstande sein als ihre erste, die mittelalterliche Klassik um 1200: in Übersetzung. Dass sie dann noch etwas anderes sein wird als lediglich ein Forschungsgegenstand von Experten, muss bezweifelt werden. Jenseits des konkreten kommunikationspragmatischen Umgangs mit Historizität, der, wie auch immer er beschaffen ist, per se eine Bewertung darstellt, gibt es die Möglichkeit der expliziten Bewertung. Die Skala reicht auch hier von altehrwürdig und daher zu bewahren und zu tradieren bis hin zu nicht mehr verständlich, kommunikationshinderlich und daher zu vermeiden. Die erstere Position findet sich tendenziell eher in kulturpatriotischen Diskurszusammenhängen, wie sie beispielsweise in der barocken Sprachreflexion vorkommen (vgl. Gardt 1994: 129−188). Die letztere begegnet tendenziell eher in rationalistisch motivierten Diskurszusammenhängen, wie sie im Zeitalter der Aufklärung vorherrschen (vgl. Reichmann 1992). Vor kulturpatriotischem Hintergrund gilt hohes Alter als Wert an sich (vgl. Bär 2011: 164, 192−195). Insbesondere alte Wörter (Archaismen) werden als potenzielle Bereicherung der Gegenwartssprache angesehen und sollen daher vor dem Vergessen bewahrt werden. Diesem Anliegen dienen die historisch orientierten Wörterbuchprogramme bzw. -projekte von Schottelius, Leibniz, den Brüdern Grimm u. a. ebenso wie die Repoetisierungsideen der Romantik, insbesondere August Wilhelm Schlegels (vgl. Bär 1999: 116−139). Historische Zeugnisse, insbesondere solche, deren Alter durch eingeschränkte Verständlichkeit verbürgt ist, erscheinen aus dieser Sicht als Reminiszenzen an die Vergangenheit, der Vorbildcharakter für die eigene Gegenwart zugeschrieben wird: „Einen Falken auf der tüchtigen Faust […] schaut der tapfere Held in seiner ritterlichen Tracht […] gar fest und gebietend um sich her, während nach altdeutscher Weise aus seinem Munde Verse gehen, die derb und bieder in ihrer kaum mehr verständlichen Sprache an jene unverfeinerte, aber kräftige Epoche mahnen“ (Ahlefeld 1820: 114). Vor aufklärerisch-rationalistischem Hintergrund wird von einer prinzipiellen kulturellen Höherentwicklung im Lauf der Geschichte ausgegangen, die auch die Sprache betrifft. Daher haben gebräuchliche Wörter der Gegenwart gegenüber veralteten Ausdrücken den höheren Wert; „die Menge guter Schriften, die unser Vaterland seit Opitzen hervorgebracht; und womit sonderlich dieses XVIII Jahrhundert fast alle Künste und Wissenschaften bereichert hat, giebt unsern Zeiten ein unstreitiges Vorrecht, die Art ihrer Wortfügungen der altfränkischen vorzuziehen“ (Gottsched 1762: 400). Daher prophezeit
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III. Kulturen der Kommunikation Gottsched (Gottsched 1762: 397) einem Dichter, der sich auf „veraltete Worte“ − d. h. in diesem Fall: altertümliche Lautungen wie sturben, wurfen, stunden anstelle von starben, warfen, standen − kapriziert, dass er sich dadurch „einer Armuth im Verändern schuldig geben und lächerlich werden“ muss. Den Vorwurf des Lächerlichen erhebt auch Adelung (1787: 132): Da veralteten Wörtern, eben darum, weil sie veraltet sind, gemeiniglich ein komischer Nebenbegriff anklebt, eben so sehr als den veralteten Trachten und Sitten, so erhellet schon daraus, wie anstößig sie in der höhern Schreibart sind, deren hoher Grad der Würde nichts Komisches und Possirliches duldet. Dergleichen sind z. B. traun, befahren für befürchten, noch dazu zweydeutig, und daher mit Recht veraltet, behagen, behaglich, drob, frommen, bider, Minne u. s. f.
5. Literatur (in Auswahl) Adelung, Johann Christoph 1787 Ueber den deutschen Styl. Bd. 2. Neue, verm. u. verb. Aufl. Berlin: Voß und Sohn. Admoni, Wladimir 1990 Historische Syntax des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Ahlefeld, Charlotte von 1820 Erna. Kein Roman. Altona: Hammerich. Bär, Jochen A. 1999 Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Mit lexikographischem Anhang. (Studia Linguistica Germanica 50.) Berlin/New York: de Gruyter. Bär, Jochen A. 2009 Die Zukunft der deutschen Sprache. In: Ekkehard Felder (Hg.), Sprache, 59−106. (Heidelberger Jahrbücher 53.) Berlin/Heidelberg: Springer. Bär, Jochen A. 2010 Das romantische Modell. Jacob Grimms Konzept der Sprachgeschichte. In: Dituria. Zeitschrift für Germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft 7, 7−24. Bär, Jochen A. 2011 Frühneuhochdeutsche Sprachreflexion. In: Anja Lobenstein-Reichmann und Oskar Reichmann (Hg.), Frühneuhochdeutsch − Aufgaben und Probleme seiner linguistischen Beschreibung, 157−233. (Germanistische Linguistik 213−215.) Hildesheim/Zürich/New York: Olms. Bär, Jochen A. 2013 Ansätze zu einer vergangenheitsbezogenen Wörterbucharbeit um 1800. Fußnoten zur Geschichte der historischen Lexikographie. In: Michael Prinz und Hans-Joachim Solms (Hg.), vnuornemliche alde vocabulen − gute, brauchbare wörter. Zu den Anfängen der historischen Lexikographie, 235−245. (Zeitschrift für deutsche Philologie 132, Sonderheft.) Berlin: E. Schmidt. Besch, Werner 1996 Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede in Deutschland heute und gestern. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1578.) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Besch, Werner, Anne Betten, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger (Hg.) 1998−2004 Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. in 4 Teilbänden. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.) Berlin/New York: de Gruyter.
38. Historizität Bronsema, Carsten 2005 Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. Eine Untersuchung zum poetischen Stellenwert von Sprache, Zitat und Wortbildung. Dissertation Universität Osnabrück. Online unter: http://d-nb.info/990956563/34 (letzter Aufruf 3. 7. 2015). Bühler, Karl [1934] 1982 Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort v. Friedrich Kainz. Ungekürzter Neudruck. (UTB 1159.) Stuttgart/New York: G. Fischer. Gardt, Andreas 1994 Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 108.) Berlin/New York: de Gruyter. Gottsched, Johann Christoph Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst. (Documenta Linguisti[51762] 1970 ca, Reihe V.) Hildesheim/New York: Olms [repr. Nachdruck]. Internet-Forum 2000 selfhtml.forum. Online unter: http://forum.de.selfhtml.org/archiv/2000/1/t10707/ (letzter Aufruf 3. 7. 2015). Jakobson, Roman 1960 Linguistik und Poetik. In: Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert (Hg.), Roman Jakobson. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921−1971, 83−119. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mann, Thomas [1951] 1974 Der Erwählte. In: ders., Gesammelte Werke in 13 Bänden. Bd. 7, 7−261. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Maurer, Friedrich und Heinz Rupp (Hg.) 1974−1978 Deutsche Wortgeschichte. 3 Bde. 3., neu bearb. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter. Moser, Hugo, Hugo Stopp und Werner Besch (Hg.) 1970 ff. Grammatik des Frühneuhochdeutschen. (Germanische Bibliothek, 1. Reihe.) Heidelberg: Winter. Paul, Hermann 1989 Mittelhochdeutsche Grammatik. 23. Aufl., neu bearb. v. Peter Wiehl und Siegfried Grosse. Polenz, Peter von 1991−1999 Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. Quint, Joseph (Hg.) 1963 Meister Eckhart. Die deutschen Werke. Traktate. Bd. 5. Stuttgart: Kohlhammer. Reichmann, Oskar 1976 Germanistische Lexikologie. 2., vollst. umgearb. Aufl. von „Deutsche Wortforschung“. Stuttgart: Metzler. Reichmann, Oskar 1989 Lexikographische Einleitung. In: Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann (Hg.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1., 10−164. Berlin/New York: de Gruyter. Reichmann, Oskar 1992 Deutlichkeit in der Sprachtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Harald Burger, Alois M. Haas und Peter von Matt (Hg.), Verborum Amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag, 448−480. Berlin/New York: de Gruyter. Reichmann, Oskar und Klaus-Peter Wegera (Hg.) 1993 Frühneuhochdeutsche Grammatik. (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, Hauptreihe 12.) Tübingen: Niemeyer.
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III. Kulturen der Kommunikation Riecke, Jörg 2009 Sprachgeschichte trifft Medizingeschichte. Über die Aufgaben der Sprachgeschichtsschreibung. In: Ekkehard Felder (Hg.), Sprache, 107−129. (Heidelberger Jahrbücher 53.) Berlin/ Heidelberg: Springer. Sandig, Barbara 2006 Textstilistik des Deutschen. 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter. Schlegel, Friedrich 1800 Ueber die Unverständlichkeit. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Dritten Bandes Zweites Stück, 335−352. Berlin: Frölich. Sonderegger, Stefan 1961 Das Althochdeutsche der Vorakteder älteren St. Galler Urkunden. In: Zeitschrift für Mundartforschung 28, 251−286. Sonderegger, Stefan 1979 Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Diachronie des Sprachsystems. Bd. 1: Einführung − Genealogie − Konstanten. Berlin/New York: de Gruyter. Tatian ca. 830 Evangelienharmonie des Tatian. Handschrift, Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 56. Online unter: http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0056 (letzter Aufruf 3. 7. 2015). Teuber, Oliver 1998 fasel beschreib erwähn − Der Inflektiv als Wortform des Deutschen. In: Germanistische Linguistik 141−142, 7−26. Wickram, Jörg [1556] 1903 Von Gůteñ vnd Bösen Nachbaurn. In: Johannes Bolte (Hg.), Georg Wickram. Werke. Bd. 2. Tübingen: H. Laupp jr.
Jochen A. Bär, Vechta (Deutschland)
39. Übertragen 1. Einleitung 2. Kritik am Modell der Übertragung 3. Zeichen
4. Theorie der Metapher 5. Konnotationen und Code 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Vom etwas altertümlichen Begriff der Rundfunkübertragung über Telegraph, Telefon und Nachrichtentechnik bis zum Filetransfer − im Mittelpunkt unserer Alltagsvorstellung der Medien stehen Vorgänge der Übertragung. Medien übertragen Botschaften; und Medienwissenschaft beginnt dort, wo sich die Aufmerksamkeit von der Botschaft ab- und den Modi der Übertragung zuwendet. Der Begriff selbst aber ist wesentlich breiter: Man kann Krankheiten übertragen oder physische Kräfte (Debray [1997] 2000: 1, 7); die Genetik spricht von der Übertragung von Erbgut; wer kauft oder verkauft, überträgt Eigentum; wer übersetzt, überträgt Texte in eine andere Sprache. In der Psychoanalyse bezeichnet Übertragung den Kern der
39. Übertragen analytischen Kur, die Übertragung des psychischen Konflikts in die aktuelle Situation zwischen Arzt und Patient. Vor allem aber tritt die Übertragung in der Theorie der Metapher auf, die den Hinweis − μεταφέρειν heißt übertragen − im Namen trägt. Der medienwissenschaftliche Begriff also ist eingebettet in einen größeren Umraum und auf die Übermittlung von Nachrichten keineswegs eingeschränkt. Innerhalb der Medien- und Kommunikationswissenschaften ist der Begriff sicher ein Grundkonzept. So beansprucht das berühmt-berüchtigte Sender-Empfänger-Modell, Kommunikation auf einer allgemeinen Ebene zu fassen: Ein Sender überträgt eine Botschaft an einen Empfänger, er benötigt dafür einen Kanal (ein Medium), und das Signal, das er übermittelt, ist auf seinem Weg ständig durch Störung bedroht. Diese Vorstellung ist abgeleitet aus der Erfahrung technischer Medien; und genauer aus der Nachrichtentechnik, die an der technischen Optimierung der Signalübertragung und an der Eliminierung von Störquellen interessiert war (Shannon und Weaver [1949] 1976). Kommunikation wird hier als eine einsinnig-bilaterale Übertragung beschrieben, komplexere Phänomene wie Gespräche werden in einzelne Übertragungsakte zerlegt. Ursprünglich geht das Modell auf Bühler (1934: 28) und sein Organon-Modell der Sprache zurück; unter dem Druck harscher Kritik wurde es immer wieder modifiziert, um bei Maletzke (1963: 41) schließlich seine klassische Formulierung zu finden; vor allem in Publizistik und Kommunikationswissenschaften stellt das Modell bis heute eine der Grundlagen dar. Medien und Kommunikation als Übertragung zu fassen bietet sich vor allem dann an, wenn man die technischen Vorgänge in den Mittelpunkt des Medienkonzepts stellt. So bestimmte Harold Innis 1951 die Medien als Überwindung von Raum und Zeit ([1951] 2006: 33), wobei die Dimension des Raums für die Achse der Übertragung steht. Kittler schrieb, alle Medien hätten es mit Vorgängen des Übertragens, des Speicherns und des Prozessierens zu tun (1993: 8). Aber auch Darstellungen, die auf die Post (Siegert 1993), auf den Boten (Krämer 2008) oder die Adresse (Andriopoulos, Schabacher und Schumacher 2001) abheben, nehmen explizit oder implizit die Übertragung in Anspruch. Insbesondere das Modell der Post ist hier instruktiv. Die Vorstellung einer Übertragung bewährt sich darin, dass sie nicht von der Anwesenheit, sondern von der Abwesenheit des Empfängers ausgeht. Ein etabliertes Medienkonzept würde im Gespräch faceto-face seine selbstverständliche Grundlage sehen, wodurch die übrigen Medien als sekundär oder abgeleitet erscheinen. Diese Sicht wurde von poststrukturalistisch ausgerichteten Medientheorien überwunden; dass Sender und Empfänger sich in den meisten Medien nicht begegnen, dass Sender- und Empfängerkontext also auseinanderfallen, stellt eine wichtige Grunderkenntnis der Medienwissenschaft dar. Und schließlich sind es materielle Evidenzen, die für die Übertragung sprechen. Medien sind zunächst an physische Träger gebunden, im Fall von Schrift, Buch und Brief ans Papier, im Fall von Grammophon, Fotografie, Film, Video und Computerfestplatte an technische Speicher. In diesen Fällen bedeutet Übertragung Transport. Zeichen, Menschen und Dinge reisen auf den gleichen Wegen und mit gleicher Geschwindigkeit. Dies ändert sich, als die Telegrafie als erstes Medium eine immaterielle Zeichenübermittlung erlaubt. Telefon, Funk, Radio, Fernsehen und Datenfernübertragung werden der Linie der Immaterialisierung folgen; und interessanterweise wird auch hier ‒ völlig unproblematisch ‒ von Übertragung gesprochen.
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III. Kulturen der Kommunikation Muster dieser ersten Vorstellung von Übertragung ist der Transport von Dingen. Die Botschaft wird als eine Art Paket aufgefasst, das sich von A nach B bewegt und geographische Distanzen überwindet. Medien erscheinen als die technisch-institutionellen Anordnungen, die den Transport möglich machen.
2. Kritik am Modell der Übertragung So populär, evident und weitreichend diese Vorstellung ist, so fundamental ist sie von den verschiedensten Positionen aus kritisiert worden. Diese Kritik reicht von Humboldt ‒ „Die gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar“ (1836: LXX) ‒ über Theorien der mündlichen Kommunikation, die die Wechselseitigkeit der Verständigungshandlungen in den Mittelpunkt stellen (Geißner 1981: 14 ff.) bis hin zu medienphilosophischen Ansätzen, die das Transportmodell als naiv und irreführend zurückweisen. So unternimmt Tholen (2002) den Versuch, das Mediale neu zu bestimmen, indem er die Übertragung gerade nicht als Transport, sondern als meta-pherein, als HinüberTragung oder Über-Setzung versteht; und Mersch hebt darauf ab, dass jede Übertragung „sowohl das Übertragene als auch das Übertragende modifiziert und damit einen Prozess initiiert, der sich ins Unendliche fortschreibt, ohne je eine Ankunft oder einen Abschluss zu finden“ (2010: 186). Ein völlig anders gearteter Einwand kommt vonseiten der Kognitionstheorie: „Lebende Systeme werden als operational und informational geschlossene Einheiten betrachtet, die jeweils systemintern […] systemspezifische Informationen erst intern erzeugen. Botschaften werden daher nicht zwischen kognitiven Systemen übertragen, sondern von jedem beteiligten System aufgrund seiner je individuellen Voraussetzungen und Fähigkeiten selbst generiert“ (Rusch 1998: 273). Hier ist es der Konstruktivismus, mit dem die Übertragung unvereinbar erscheint; das skeptische Argument, dass die Rezipienten die Botschaft immer mit konstruieren, schlägt in die positive Versicherung um, die materielle Übertragung könne deshalb keine Rolle mehr spielen. Und auch die Systemtheorie lehnt es grundsätzlich ab, Kommunikation nach dem Muster materieller Übertragungsvorgänge zu denken. Die Übertragungsmetapher ist unbrauchbar, weil sie zu viel Ontologie impliziert. Sie suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was der Empfänger erhält. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil der Absender nichts weggibt in dem Sinne, daß er selbst es verliert. Die gesamte Metaphorik des Besitzens, Habens, Gebens und Erhaltens, die gesamte Dingmetaphorik ist ungeeignet für ein Verständnis von Kommunikation. (Luhmann [1984] 1993: 193 ff.)
Im Anschluss an konstruktivistische Positionen wird gezeigt, dass Kommunikation von Verstehen und Annahme abhängig ist und Selektionsakte auf Sender- und Empfängerseite miteinander verschränkt; Information, Mitteilung und Verstehen werden ‒ wieder im Rückgriff auf Bühler ‒ voneinander getrennt (Luhmann [1984] 1993: 196, 203; vgl. Artikel 15). Wenn technische Medien gleichzeitig über Verbreitung oder Erreichbarkeit
39. Übertragen definiert werden (Luhmann 1996: 10, [1984] 1993: 218), bleiben allerdings Reste der Übertragung durchaus präsent. Die genannten Ansätze ‒ so verschieden sie sind ‒ steuern gegen naive Vorstellungen wie das Sender-Empfänger-Modell an und wollen die Vorstellung einer Übertragung aus dem Medienkonzept letztlich entfernen. Und die Kernpunkte der Kritik sind sicher berechtigt: Medien werden unterschätzt, wenn man sie allein als Kanäle, als Transportmaschinen betrachtet; dass Medien ins Übermittelte eingreifen und dieses modifizieren, dass sie eine spezifische Prägekraft haben, dass die Botschaften auf Verstehen und Annahme angewiesen sind und dass es dialogisch-reziproke Kommunikationsakte gibt ‒ all dies ist mit der Übertragung allein nicht zu analysieren. Doch die berechtigte Kritik hat auch ihren Preis, denn allzu leicht gerät nun die materielle Ebene des Medialen aus dem Blick; die Verbindung zu den Alltagsvorstellungen der Post, der Zustellung und Adressierung droht abhandenzukommen. Zudem ist auffällig, dass selbst das Internet organisatorisch einer Paketlogik folgt. Besonders interessant erscheinen deshalb solche Modelle, die die Kritik einbeziehen, die materiellen Evidenzen aber nicht aus der Hand geben.
3. Zeichen Hier kommen zunächst Theorien infrage, die auf einer systematischen Ebene den Begriff des Zeichens zu klären versuchen. Und hier noch einmal Bühler, der bereits 1934 das Zeichen einen „Fremdling im Kontext“ nennt (Bühler 1934: 184). Dies macht klar, dass das Zeichen ‒ wie ein Reisender ‒ von weit her kommt, dass es aus einem anderen als dem aktuellen Kontext stammt. Das Bild des Kontextwechsels, des Fremden, der Reise, schließt an Übertragungsvorstellungen an. Derrida nimmt dies auf. „Du begreifst“, schrieb er 1980, „im Inneren jedes Zeichens […] gibt es die Entfernung, die Post“ (Derrida [1980] 1989: 39). Derrida hat in verschiedenen seiner Texte, und am deutlichsten wohl in Signatur, Ereignis, Kontext, den Gedanken vertreten, dass das Zeichen selbst sich seiner Verschickung verdankt (Derrida [1972] 1988). Derrida sieht das Zeichen dadurch bestimmt, dass es seinen Kontext wechseln kann − und wechseln können muss, will es als Zeichen funktionieren. Die These bezieht sich zunächst auf das schriftliche Zeichen; hier sind bereits Produktion und Rezeption zeitlich und räumlich getrennt, das Zeichen muss in der Lage sein, diese Kluft zu überbrücken: Ein schriftliches Zeichen (signe), im geläufigen Sinne dieses Wortes, ist also ein Zeichen (marque), das bestehen bleibt, das sich nicht in der Gegenwart seiner Einschreibung erschöpft und die Gelegenheit zu einer Iteration bietet, auch in Abwesenheit des empirisch festlegbaren Subjekts, das es in einem gegebenen Kontext hervorgebracht oder produziert hat, und über seine Anwesenheit hinaus. (Derrida [1972] 1988: 300)
Da Produktions- und Rezeptionskontext auseinanderfallen, muss sich das Zeichen von der Situation und vom Kontext in gewissem Maß ablösen. „Gleichzeitig enthält ein schriftliches Zeichen die Kraft eines Bruches mit seinem Kontext, das heißt mit der Gesamtheit von Anwesenheiten, die das Moment seiner Einschreibung organisieren“ (Derrida [1972] 1988: 300). Und als zweite basale Bestimmung des Zeichens nennt Der-
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III. Kulturen der Kommunikation rida seine Wiederholbarkeit. Sie bedeutet ebenfalls, dass das Zeichen in unterschiedliche Kontexte eintritt: Was nun den semiotischen und internen Kontext betrifft, so ist die Kraft des Bruches keineswegs geringer: Aufgrund seiner wesentlichen Iterierbarkeit kann man ein schriftliches Syntagma aus der Verkettung, in der es gegeben oder eingefaßt ist, immer herauslösen, ohne daß ihm dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens, wenn nicht eben alle Möglichkeiten von ‚Kommunikation‘, verlorengehen. […] Kein Kontext kann es einschließen. Auch kein Code, wobei der Code hier zugleich die Möglichkeit und die Unmöglichkeit der Schrift, ihrer wesentlichen Iterierbarkeit (Wiederholung, Andersheit) ist. (Derrida [1972] 1988: 300)
Der enge Rahmen von Sender und Empfänger ist damit überschritten; beide sind nur Teil einer unendlichen Kette von Wiederholungsakten, die sie nicht überschauen oder kontrollieren können; Zeichen werden von Kontext zu Kontext verschickt oder übertragen, Zeichen sind insofern immer Telekommunikation. Dass sie auf Kontexte verweisen, die im Moment ihrer Aktualisierung nicht zur Verfügung stehen, macht ihren eigentümlich fremden Charakter aus.
4. Theorie der Metapher Dass das Zeichen ein „Fremdling“ ist, wird besonders deutlich im Fall der Metapher. Und interessanterweise hat man gerade hier von einer übertragenen Bedeutung gesprochen. Die Metapher erscheint zunächst als ein Sonderfall: Die Tatsache, dass der metaphorische Ausdruck in seinen Kontext nicht recht passen will, zwingt dazu, die Äußerung überhaupt als Metapher zu deuten. So vermischt die Aussage, jemand sei seinem Chef gegenüber „ein Hase“ gewesen, die Sphäre des Büros mit der Zoologie. Wenn man dies übertragen nennt, wäre allerdings zunächst zu klären, was wohin übertragen wird und in welchem Sinne. Handelt es sich wiederum um eine metaphorische Wendung? Oder lässt sich ein Bezug zurück auf materielle Mechanismen, auf Post, Transport und Kontextwechsel zeigen? Zudem ist unterstellt, der Wortschatz teile sich in semantische Sphären auf, wie Trier (1934) sie in seinen Wortfeldern unterstellte; eine ebenfalls problematische Annahme, weil auch der materielle Status dieser Sphären kaum geklärt werden kann. Einen Ausweg bieten Theorien der Metapher. Die Metapher wurde im Verlauf der Entwicklung Schritt für Schritt von Invention und Intuition abgelöst und zunehmend kühl als ein Mechanismus, eine materielle Operation im Material der Sprache, beschrieben. Eine wichtige Station auf diesem Weg war ein Text Max Blacks ([1954] 1983). Black geht von der Erfahrung aus, dass die Metapher eine Art Zusammenprall inszeniert. Wo die traditionellen Ansätze behaupteten, die Metapher beinhalte einen Vergleich bzw. der metaphorische Ausdruck substituiere einen eigentlichen, wörtlichen Ausdruck im Text, schlägt Black vor, die Metapher als eine Interaktion zu beschreiben. Die Tatsache, dass das metaphorische Element in seinen Kontext nicht passt, zwingt dazu, das Element mit seinem Kontext abzugleichen; Metapher und Kontext interagieren; nur auf diese Weise kann das Rätsel gelöst und die Metapher schließlich verstanden werden. Vorteil dieser Sichtweise ist, dass sowohl die Metapher als auch ihr Kontext materiell − de Saussure würde sagen: in praesentia − vorhanden sind. Damit geht die Aufmerk-
39. Übertragen samkeit von der Ebene der Inhalte auf die Ebene des Textes selbst über; es geht um die semantische Beziehung zweier syntagmatisch gereihter Elemente und nicht wie bei der Substitutionsthese um Abwesendes, über das letztlich nur spekuliert werden kann. In welchem Sinne aber kann man von einer Übertragung sprechen?
5. Konnotationen und Code Ein weiterer wichtiger Schritt war ein Text von Beardsley ([1962] 1983), der den Begriff der Konnotationen in den Mittelpunkt stellt. Wenn die Metapher verstanden wird, indem das metaphorische Element und sein Kontext ‒ Black sagt: Focus und Frame − interagieren, dann kann Beardsley zeigen, dass es um einen Konflikt (eine Interaktion) auf der Ebene nicht der Bedeutung, sondern nur bestimmter Bedeutungskomponenten geht. In einer Auseinandersetzung ein Hase zu sein, heißt eben keineswegs, lange Ohren zu haben. Viele Bedeutungskomponenten, die für Hasen kennzeichnend sind, werden in den neuen Kontext nicht übernommen. Und mehr noch: Es sind gerade die zentralen, definitorischen Merkmale ‒ Tier, Nager, Feld und Wald … ‒ die der metaphorische Gebrauch ausschließt, während die peripheren ‒ in diesem Fall die Konnotation Angst ‒ in den neuen Kontext eingebracht werden. Auf dieser Basis ist eine Verallgemeinerung möglich (Winkler 1989, 2004): Die Metapher ist wichtig, weil sie dazu zwingt, die scheinbar selbstverständliche Annahme einer singulären Bedeutung aufzugeben. Um die Metapher zu verstehen, muss die Aufmerksamkeit auf eine zweite Ebene wechseln und sich der Tatsache stellen, dass Bedeutung ein pluralisches Gewirr verschiedener Einzelbestimmungen ist. Die Metapher also inszeniert einen Konflikt auf Ebene der Konnotationen. Konnotationen werden zwischen Focus und Frame (der Metapher und ihrem Kontext) hin- und herprojiziert. Und dies wirft ein verändertes Licht auf die Übertragung: Übertragen ist eigentlich nicht die Metapher selbst, sondern übertragen werden die Konnotationen. Die Metapher macht insofern nur deutlich, was sich im Fall auch des normalen Sprachgebrauchs ständig ‒ und ohne dass diese Tatsache bewusst wird ‒ vollzieht. Jedes Wort, das in einen neuen Kontext eintritt, bringt sein Bündel von Konnotationen ein. Und immer werden die Konnotationen interagieren. Konnotationen aber haben Worte nicht per se; Konnotationen vielmehr sind Produkt der Vergangenheit, Protokoll all jener Kontexte, in denen das Wort einmal stand und die sich ‒ als ein pluralisches Wissen ‒ verdichtet in ihm niedergeschlagen haben. Derrida hatte es gesagt: Das Zeichen verdankt sich seiner Iteration und Übertragung/ Verschickung. Indem es den Kontext wechselt, nimmt es ‒ verdichtet ‒ die zurückliegenden Kontexte mit. Und dies ist der Ort, an dem neben der Übertragung nun der Code wichtig wird: Der Code als ein Produkt von Verdichtung verdankt sich der Übertragung; die Sprechakte der Vergangenheit sind ins System der Sprache übergegangen und Sprache ist die Basis für neues Sprechen (Winkler 2004: 110 ff.). Übertragung kann ‒ auf allgemeiner Ebene ‒ als Kontextwechsel bestimmt werden. Dann allerdings ist Übertragung mehr als ein schlichter, jeweils aktueller Zeichentransfer. Das Sender-Empfänger-Modell erweist sich vor allem insofern als unterkomplex, als es den Code nicht mitdenken kann. Die hauptsächliche Interaktion, die sich abspielt, ist die zwischen aktuellem Zeichengebrauch und dem Code. Wenn das Zeichen selbst ‒ als
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III. Kulturen der Kommunikation Teil des Codes ‒ immer Vergangenheit einkapselt, immer Produkt seiner Vergangenheit ist, wird mit jedem aktuellen Transfer auch ein Stück der Vergangenheit in die Gegenwart übertragen.
6. Literatur (in Auswahl) Andriopoulos, Stefan, Gabriele Schabacher und Eckard Schumacher (Hg.) 2001 Die Adresse des Mediums. Köln: DuMont. Beardsley, Monroe C. [1962] 1983 Die metaphorische Verdrehung. In: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, 120−141. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Black, Max [1954] 1983 Die Metapher. In: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, 55−79. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bühler, Karl 1934 Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Gustav Fischer. Debray, Régis [1997] 2000 Transmitting Culture. New York: Columbia University Press. Derrida, Jacques [1972] 1988 Signatur Ereignis Kontext. In: ders., Randgänge der Philosophie, 291−314. Wien: Passagen. Derrida, Jacques [1980] 1989 Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung. Berlin: Brinkmann und Bose. Geißner, Hellmut 1981 Sprechwissenschaft. Theorie der mündlichen Kommunikation. Königstein: Scriptor. Humboldt, Wilhelm von 1836 Über die Kawi-Sprache auf der Insel Jawa, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die Entwickelung des Menschengeschlechts. Berlin: Druckerei der Ko¨niglichen Akademie der Wissenschaften. Innis, Harold A. [1951] 2006 The Bias of Communication. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press. Kittler, Friedrich 1993 Vorwort. In: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, 8−10. Leipzig: Reclam. Krämer, Sybille 2008 Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas [1984] 1993 Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas 1996 Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag. Maletzke, Gerhard 1963 Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik. Hamburg: Hans Bredow Institut. Mersch, Dieter 2010 Meta/Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen. In: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung 2, 185−212.
40. Hybridisieren
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Rusch, Gebhard 1998 Kommunikationstheorie. In: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 273−275. Stuttgart: Metzler. Shannon, Claude E. und Warren Weaver [1949] 1976 Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. München/Wien: Oldenbourg. Siegert, Bernhard 1993 Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751−1913. Berlin: Brinkmann und Bose. Tholen, Georg Christoph 2002 Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Trier, Jost 1934 Das sprachliche Feld. Eine Auseinandersetzung. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 10, 428−449. Winkler, Hartmut 2004 Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Online unter: http://homepages.uni-paderborn.de/winkler/d-oek-ge.pdf. Winkler, Hartmut 1989 Metapher, Kontext, Diskurs, System. In: Kodikas/Code. Ars Semeiotika. An International Journal of Semiotics 12(1/2), 21−40. Online unter: http://homepages.uni-paderborn. de/winkler/metapher.pdf.
Hartmut Winkler, Paderborn (Deutschland)
40. Hybridisieren 1. Die Hybride im Werk von Bachtin 2. Hybridität als dritter Raum bei Bhabha 3. Hybride Kulturen − der Ansatz von García Canclini
4. Globalisierung als Hybridisierung 5. Schluss 6. Literatur (in Auswahl)
Hybridisieren ist ein zentraler Begriff der neueren Kulturtheorie, die postkoloniale Konstellationen und globale Zusammenhänge untersucht.
1. Die Hybride im Werk von Bachtin Es ist dem Werk des russischen Kulturtheoretikers und Philosophen Michail M. Bachtin zu verdanken, dass Hybridisieren (bzw. Hybridität) seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ein wichtiger Begriff der Kulturtheorie und -analyse geworden ist. Auch wenn er diesen Begriff nur an einigen Stellen seines Werkes benutzte, so ist er in den sich herausbildenden Cultural Studies, vor allem in den Postcolonial Studies, zentral geworden, um die vielfältigen Mischformen der durch Globalisierung, Migration und Mediatisierung veränderten Welt beschreiben und analysieren zu können.
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III. Kulturen der Kommunikation Bachtins zentrales Interesse galt den dialogischen Beziehungen zwischen unterschiedlichen symbolischen Systemen und Praktiken, die multiple und zusammengesetzte kulturelle Formen hervorbringen. Vor ihm wurde der Begriff Hybridität in der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts und dann vor allem in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts in der Botanik und Eugenik verwendet. Zum einen wurde er zur Diskriminierung, Hetze und Mystifikation von den Nationalsozialisten eingesetzt, zum anderen bezeichnet er in der Naturwissenschaft die Kreuzung, durch die etwas Neues, Drittes, entsteht. Auch die Entwicklung von Sprachen wurde durch Kreuzungen und Vermischungen beschrieben. An die letztere Betrachtung knüpft Bachtin in seiner Studie Das Wort im Roman (Bachtin [1934/1935] 1979: 154−300) an. Romane zeichnen sich für ihn primär durch „Redevielfalt“ aus. „Der sprechende Mensch und sein Wort sind im Roman Gegenstand verbaler und künstlerischer Abbildung“ (Bachtin 1979: 220). Er unterscheidet zwischen drei „Verfahren, ein Bild der Sprache im Roman zu schaffen“ (Bachtin 1979: 244). Neben der dialogisierten Wechselbeziehung der Sprachen und den reinen Dialogen führt er die Hybridisierung an. „Sie ist die Vermischung zweier sozialen Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung, das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung (oder sowohl durch diese als auch durch jene) geschiedener sprachlicher Bewusstseine in der Arena dieser Äußerung“ (Bachtin 1979: 244). Bachtin stellt heraus, dass die Vermischung zweier Sprachen ein System von künstlerischen Verfahren darstellt, dem er dann seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Natürliche Sprachen dagegen entwickeln sich durch die sich ohne Absicht ereignende Vermischung verschiedener Sprachen organisch weiter. Der Prozess der Hybridisierung vollzieht sich im historischen Prozess „unabsichtlich“ bzw. „unbewusst“ (Bachtin 1979: 244). Bachtin zeigt, dass im Vergleich dazu die Sprache im Roman eine beabsichtigte und bewusste Hybride darstellt. Das Bild der Sprache „bezeichnet das Erkennen der einen Sprache durch eine andere Sprache, ihre Erhellung durch ein anderes Sprachbewusstsein. Das Bild der Sprache kann nur vom Standpunkt einer anderen Sprache, die zur Norm gemacht wird, konstruiert werden“ (Bachtin 1979: 244−245). Er differenziert zwischen dem „abbildenden individuellen Bewusstsein“ und dem „Willen der abzubildenden Person“. So wird die künstlerische Hybride im Roman zur herbeigeführten Auseinandersetzung zwischen zwei individuellen Bewusstseinen, die im Unterschied zur organischen Hybride nicht als Vermischung zu sehen sei, sondern als ein Prozess innerer Dialogizität. Bachtin bestimmt die sich vollziehende Verschmelzung zweier sozial verschiedener Äußerungen im Roman als „Hybride des konkreten sozialen Sinns“ (Bachtin 1979: 245). Zusammenfassend stellt er fest, dass die Romanhybride „ein künstlerisch organisiertes System der Kombination von Sprachen“ (Bachtin 1979: 246) darstellt. Ihr Ziel ist es, ein „lebendiges Bild der anderen Sprache“ (Bachtin 1979: 247) hervorzubringen. Dabei geht es dem Romancier nicht um eine akkurate Nachbildung der fremden Sprache, sondern um eine durchdachte, konsequente und stilisierte Exploration und Nachschöpfung der Bilder dieser Sprache. „Der Roman gebietet die Erweiterung und Vertiefung des sprachlichen Horizonts, die Verfeinerung unserer Wahrnehmung sozialsprachlicher Differenzierungen“ (Bachtin 1979: 251).
2. Hybridität als dritter Raum bei Bhabha Für den aus Mumbai stammenden und dann in Harvard lehrenden Literatur- und Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha gewannen Bachtins Analysen von Hybridität wichtige Be-
40. Hybridisieren deutung, um interkulturelle Kontakte und die Bedingungen von Identität im postkolonialen Kontext analysieren zu können, der nach seiner Auffassung keinen Bruch mit der kolonialen Zeit, sondern deren Fortsetzung darstellt. In seinen Arbeiten dekonstruiert er − mit vertiefendem Bezug auf den Poststrukturalismus und die Psychoanalyse − die kolonialen Denkstrukturen des westlichen modernen Denkens, die auch in der Gegenwart noch von Bedeutung sind. Diese folgen einer binären Logik, unterscheiden zwischen rational und irrational, zivilisiert und wild, modern und traditionsbewusst. Bhabha ist der Auffassung, dass sie die Komplexität der kulturellen Hybridisierungsprozesse nicht angemessen erfassen können. Daher plädiert er für ein Verständnis kultureller Prozesse, das die Hybridisierung ins Zentrum der Analyse rückt. In seinen Studien geht es ihm vor allem um eine differenzierte Analyse der Handlungsmächtigkeit der Kolonisierten. Bhabha (2000) kann zeigen, dass die scheinbar uniformen Identitäten von Kolonialherren und Unterworfenen instabil, fragil und ambivalent sind. Die Machtstrukturen waren nie monolithisch und allumfassend. Die sich ergebenden Risse und Lücken können von den Kolonisierten genutzt werden, um durch Aushandlungen und trickreiches Verhalten die koloniale Herrschaft zu unterwandern und zu problematisieren. Er zeigt dies u. a. am Beispiel der scheinbaren Anpassung (mimicry) (Bhabha 2000: 125−128) und einer „durchtriebenen Höflichkeit“ (sly civility) (Bhabha 2000: 137−140) gegenüber den Kolonialherren, die sich als eigensinnige, die Macht unterwandernde Praktiken begreifen lassen (vgl. Winter 2001). Mit dem Konzept der Hybridität beschreibt er, wie die dominanten Diskurse von den Kolonisierten irritiert werden und sich zwangsläufig auch verändern. Hybridität ist das Zeichen der Produktivität der kolonialen Macht, ihrer flottierenden Kräfte und Fixpunkte; sie ist der Name für die strategische Umkehrung des Prozesses der Beherrschung durch Verleugnung […] Hybridität ist die Umwertung des Ausgangspunktes kolonialer Identitätsstiftung durch Wiederholung der diskriminatorischen Identitätseffekte. Sie offenbart die notwendige Deformation und Deplazierung sämtlicher Orte von Diskriminierung und Beherrschung. (Bhabha 2000: 165)
Die Identitäten von Kolonialherren und Kolonisierten konstituieren sich in einem dritten Raum, einem Zwischenraum, der nicht durch Vermischung geprägt ist, sondern durch Dialogizität im Sinne von Bachtin. Nach Bhabha (2000, 2012) sind alle sprachlichen und kulturellen Prozesse durch Hybridität gekennzeichnet. Derrida (1988) folgend, geht er davon aus, dass jeder kulturelle Ausdruck durch den Prozess der différance bestimmt wird (Bhabha 2000: 54−57). Es werden unaufhörlich Differenzen erzeugt, die eine Präsenz des Sinns sowie eine transparente Identität von Äußerungen oder Texten verunmöglichen. Bhabhas Interesse gilt deshalb dem „dritten Raum des Aussprechens“, der zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen vergangener und aktualisierter Bedeutung, zwischen ich und du tritt. Eben jener dritte Raum konstituiert, obwohl ,in sich‘ nicht repräsentierbar, die diskursiven Bedingungen der Äußerung, die dafür sorgen, dass die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und dass selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können. (Bhabha 2000: 57)
Kulturelle Formen und Symbole werden durch jede Form von Artikulation hybridisiert, sodass neue Bedeutungen entstehen können. In einem Interview (Bhabha 1990: 211)
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III. Kulturen der Kommunikation bestimmt er Hybridität selbst als jenen dritten Raum, der es erst möglich macht, die beiden ursprünglichen Positionen voneinander zu differenzieren. Er hebt dessen produktive Potenziale für die politische und kulturelle Praxis hervor. Eine Anerkennung der konstitutiven Bedeutung von Hybridität in kulturellen Prozessen könne eine „internationale Kultur“ hervorbringen, die sich sowohl vom Multikulturalismus als auch vom Kulturrelativismus abgrenzt (Bhabha 2000: 58). „Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das ,inter‘ − das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum dazwischen − ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutungen in sich trägt […]. Und indem wir diesen Dritten Raum erkunden, können wir der Politik der Polarität entkommen und zu den anderen unserer selbst werden“ (Bhabha 2000: 58).
3. Hybride Kulturen − der Ansatz von García Canclini Fast zeitgleich mit Bhabha veröffentlichte der in Mexiko-Stadt lehrende Anthropologe Néstor García Canclini sein viel beachtetes Buch Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity ([1990] 1995). Im Zentrum stehen die Veränderungen in der mexikanischen Gesellschaft durch Urbanisierung, Globalisierung und Mediatisierung. Vor allem den artes populares gilt sein Interesse. Es sind drei wesentliche Prozesse, die für die Hybridisierung verantwortlich sind: „The breakup and mixing of the collections that used to organize cultural systems, the deterritorialization of symbolic processes, and the expansion of impure genres“ (García Canclini 1995: 207). Er zeigt, wie in mexikanischen Museen die aus Europa übernommene Hierarchisierung symbolischer Güter aufgehoben wird, indem z. B. europäische Gemälde und Folklore in unterschiedlichen Räumen im selben Gebäude ausgestellt werden. In den urbanen Zentren, die durch die Zuwanderung aus ländlichen Gebieten massiv wachsen, kommt es zu vielfältigen Formen der Transkulturalität. Kulturelle Formen und Symbole werden aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst, treffen in den Metropolen auf andere kulturelle Formen und interagieren zudem mit medial vermittelten Botschaften. Diese Deterritorialisierung symbolischer Prozesse führt zu neuen hybriden Synthesen. Graffiti und Comics sind Beispiele für hybride Genres, die zwischen dem Visuellen und dem Literarischen, der populären und der gebildeten Kultur vermitteln. García Canclini betrachtet die neu entstehenden kulturellen Formen als Zeichen der Postmoderne. Insgesamt gesehen, beurteilt er hybride Kulturen positiv. Sie vermischen bestehende kulturelle Formen auf vielschichtige Weise. Diese gegenseitige Durchdringung lässt sich als ein Prozess der Heterogenisierung begreifen. Ausgehend von Mexiko, beschreibt García Canclini lokale Systeme wie z. B. die Grenzstadt Tijuana als hybrides Gebilde. Seine lokalen Beispiele lassen aber nicht die Diagnose einer globalen hybriden Kultur zu. Diese Perspektive wird dann jedoch in der soziologischen Diskussion zur Globalisierung vertreten.
4. Globalisierung als Hybridisierung In seinem Artikel Globalization as Hybridization (1995) wendet sich der in Santa Barbara lehrende Jan Nederveen Pieterse vehement gegen die Auffassung, dass die pluralen
40. Hybridisieren Prozesse der Globalisierung eine standardisierte und homogenisierte Welt hervorbrächten. Anders als oft behauptet, seien sie nämlich durch Offenheit, Vielschichtigkeit und Komplexität geprägt. Daher plädiert er dafür, von einer strukturellen Hybridisierung (Nederveen Pieterse 1995: 49−52.) auszugehen. Hierbei knüpft er an die Definition von Rowe und Schelling in ihrem Buch Memory and Identity. Popular Culture in Latin America (1990) an, die sie zur Beschreibung der Transformationsprozesse in der Kulturindustrie aufgestellt haben. „By hybridization, we mean the ways in which forms become separated from existing practices and recombine with new forms in new practices“ (Rowe and Schelling 1990: 231). Nederveen Pieterse ist der Auffassung, dass diese Definition auch auf die strukturellen Formen sozialer Organisation anwendbar sei. So führe die globale Interdependenz dazu, dass unterschiedliche Formen der Kooperation und des Wettbewerbs zur Verfügung stünden, die auch in neue vermischte Formen der Kooperation münden würden (vgl. Nederveen Pieterse 1995: 52). Auch die Erfahrung der Zeit könne durch Vermischung gekennzeichnet sein, weil z. B. in Lateinamerika Prämoderne, Moderne und Postmoderne gleichzeitig existieren würden (vgl. Nederveen Pieterse 1995: 51). Im Bereich der Kultur komme es überall auf der Welt zu einer Mélange asiatischer, afrikanischer, amerikanischer und europäischer Kulturen. „Hybridization as a perspective belongs to the fluid end of relations between cultures: it’s the mixing of cultures and not their separateness […] Cultural forms are called hybrid/ syncretic/mixed/creolized because the elements in the mix derive from different cultural contexts“ (Nederveen Pieterse 1995: 62). Energisch tritt Nederveen Pieterse (1995: 58) für eine Politik der Hybridität ein, die sowohl essentialistische Auffassungen als auch binäre räumliche und politische Kategorien wie z. B. Zentrum/Peripherie, hoch/niedrig oder Klasse/Ethnos subversiv unterwandert. Er lehnt sowohl universalistische als auch multikulturalistische Konzeptionen ab. Wie Bhabha gilt sein Interesse der Interkulturalität, dem Dazwischen. „Hybridization is a contribution to a sociology of the in-between, a sociology from the interstices“ (Nederveen Pieterse 1995: 64). Vor allem die Medien sind in ihrer Produktion und Rezeption weltweit durch Prozesse der Hybridisierung bestimmt (vgl. Winter 2003). Symbole, Zeichen und Ideologien werden aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst und gewinnen in Vermischung mit anderen kulturellen Elementen eine neue Bedeutung. So wird z. B. der Rap in Lateinamerika mit Salsa, Reggae und Pop, in Mali mit Elementen der Volksmusik verbunden. Überall auf der Welt werden eigene Versionen räumlich entfernter Kulturen geschaffen. Damit sind Prozesse der Übersetzung und der Reterritorialisierung verbunden. Durch den produktiven und kreativen Gebrauch fremder kultureller Ressourcen konstituieren sich Kulturen ständig neu. Wie Stuart Hall (1994) feststellt, wird die globale Postmoderne durch Differenz und Pluralität bestimmt, ist von ihrem Charakter her also bereits eine hybride Kultur.
5. Schluss Die Diskussion hat gezeigt, dass der Prozess des Hybridisierens in der Sprach- und Kulturtheorie positiv konnotiert ist und welche kulturellen und politischen Möglichkeiten durch ihn eröffnet werden. Er kann von Abhängigkeiten befreien und neue Identitäten schaffen. Auch er ist aber nicht immun gegen kapitalistische Verwertungsprozesse. Auch
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III. Kulturen der Kommunikation die Konzerne haben längst den Reiz der Vielfalt und der Vermischung entdeckt. Dies schmälert aber nicht den bleibenden Wert kultureller Hybridität, die dringend im Kampf gegen religiösen und politischen Fundamentalismus benötigt wird. Der Begriff des Hybridisierens erlaubt es, kulturelle Kontexte und Zusammenhänge der Gegenwart transdisziplinär zu analysieren und zu deren vertiefendem Verständnis beizutragen.
6. Literatur (in Auswahl) Bachtin, Michail Michailowitsch [1934/1935] 1979 Die Ästhetik des Wortes, hg. u. eingel. v. Rainer Grübel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bhabha, Homi K. 1990 The Third Space. Interview with Homi Bhabha. In: Jonathan Rutherford (ed.), Identity: Community, Culture, Difference, 207−221. London: Lawrence and Wishart. Bhabha, Homi K. 2000 Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg. Bhabha, Homi K. 2012 Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, hg. u. eingel. v. Anna Babka und Gerald Posselt. Wien: Turia + Kant. Derrida, Jacques 1988 Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen. García Canclini, Néstor [1990] 1995 Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press. Hall, Stuart 1994 Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität. In: ders., Rassismus und kulturelle Identität, 44−65. (Ausgewählte Schriften 2.) Hamburg/Berlin: Argument. Nederveen Pieterse, Jan 1995 Globalization as Hybridization. In: Mike Featherstone, Scott Lash and Roland Robertson (eds.), Global Modernities, 45−68. London u. a.: Sage. Rowe, William and Vivian Schelling 1991 Memory and Modernity. Popular Culture in Latin America. London/New York: Verso. Winter, Rainer 2001 Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Winter, Rainer 2003 Globale Medien, kultureller Wandel und die Transformation des Lokalen: Der Beitrag der Cultural Studies zu einer Soziologie hybrider Formationen. In: Ulrich Beck, Natan Sznaider und Rainer Winter (Hg.), Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung, 263−283. Bielefeld: transcript.
Rainer Winter, Klagenfurt am Wörthersee (Österreich)
41. Archive and erasure
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41. Archive and erasure 1. Hors d’archive 2. The order of documents
3. From adminstrative to aesthetic strategies 4. Selected references
1. Hors d’archive There cannot be any discussion of archives without taking into consideration their outside, the hors d’archive. The reason is that archives are “distributed” entities whose mode of operation is that of the network or the cluster (office-registry-archive). An archive assumes custody of documents from another place − which is why whatever is present in an archive reflects its provenance from that place, and it is that place in the last resort, its specific operations and ways of production, that the archive stores (“archives store other archives”). This means that archives must be understood first and foremost in their dimension as media − mechanisms that reflect a certain way of producing and combining signs − rather than as storehouses of meaning. To speak of the archive − of knowledge − as an archeology, as Foucault (cf. article 12) does, is also to acknowledge the archive’s fundamental discontinuity, a discontinuity that mirrors that of signification itself. Archival storage is distinct from the activity of collecting precisely in that a collection, with its close relationship to the collecting subject whom it mirrors and represents, strives for temporal and spatial continuity in a way that the archive does not. Archives are repositories that store information that does not, or that no longer, circulates. Historicism maintained that archival documents maintain a close relationship with chance in that archives were created for (administrative) reasons that were different from those that motivated historians to visit them. In an archive, the historian, duly confining himself to more or less complete passivity, confronted the sediments of forces and processes whose authority was underwritten by the fact that they were not recorded there. Such confidence in heterotopy − the idea that a record’s evidentiary power is a reflection of its origin in a place other than the archive that preserves it − returned in the construction of Freud’s psychical apparatus, marking the confidence that the archival trace could function as a wedge driven into narrative and other forms of symbolic representation (readability, in this understanding, is not a precondition for archival storage; it is rather an after-effect of such storage). At the same time, as Foucault has argued, whatever enters an archive is being created from the onset with the archive in mind. Foucault’s argument, which continues with his belief that an archive stores not statements but rather the system of rules that produces them in the first place, gives a name to the fact that an archival trace can become manifest only within the specific (media) conditions that define its production and appearance: the archive’s “historical a priori” is (also) its medium.
2. The order of documents In an archive, a document’s position vis-à-vis other documents is of crucial importance. The point here, in a sense, is as much the space that separates one document from
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III. Cultures of communication another as these documents themselves. Therefore, time, understood from the point of view of the (analogue) archive, is time marked as a series of differential moments or points in space (to each document its own position in the archive, different from all others). The readability of the archive, and the immediacy and authenticity of the documents (“traces”) that are stored inside it, is underwritten by this mechanism. It is important to note that in the post-analogue (digital) archive, the archive’s function as an instrument to measure and represent contingent time (ideally, without itself falling prey to contingency) is no longer relevant: in a digital archive, what is being stored is not documents, arranged in an order that more or less faithfully reflects their emergence in another place, but rather − algorithms. Already in the 19th century administrative bureaucracy, the files that circulated in an office or company − the “accidental” by-products of an administered world − were given an archival accession number the very moment they were created, thus signaling their future obsolescence. In this way the bureaucracy succinctly mirrored what Freud was finding out roughly at the same time: information is necessarily touched by its demise, by its withdrawal from active circulation, the very moment it is created; or rather: such withdrawal is the very condition of its creation. However, crucially, such withdrawal − the “planned obsolescence” of information − is not the same as erasure, as nothing can be expunged from an archive without a trace; “withdrawal”, therefore, is merely the name given to a document’s ever-increasing opacity and illegibility (a finding whose implications were amplified by Jacques Lacan when he referred to childhood as a file whose provenance has been lost). In an archive, documents may accumulate and become opaque, but there is no regulated mechanism for erasing or “forgetting” such information since even such erasure will of necessity leave behind new traces. In the digital archive, too, the deleting function that we associate with the interfaces of a personal computer, or even its more radical version (“expunge deleted messages”), should not be confused with the full disappearance of the information thus deleted (it may survive in other parts of the network). This is not to say of course that digital information is immune to a permanent process of weakening that might be due, for example, to its reformatting from one technical platform to another. The archive’s inaccessibility to systematic mechanisms of erasure does not of course preclude the existence of irregular forms of archival destruction − what Jacques Derrida has referred to as an an-archival force that may affect the archive from within, annihilating in the process any ambition we may have to summon archives to bear witness (no historicism can summon the archive to bear witness to the holocaust, for example). In fact, from the earliest times the possible degradation of information has been an inextricable part of archival operations. On the one hand, this is due to the external threats that affect the archive from outside, from fires to floods to insects. Yet on the other hand, disorder and entropy threaten the archive also on its inside (as media formats change, information dissolves into disorder). The threat to the archive posed by forces that violate the regulated traffic between an archive’s inside and the hors d’archive touches upon another crucial issue of modern archive studies, the question as to where and how an archive might exceed the limits of its rational foundations.
41. Archive and erasure
3. From adminstrative to aesthetic strategies Tied to progress, the fight against entropy, and the linear progression of time, archives facilitate modes of documentation that have historically translated easily into modes of colonization and imperialist expansion. In fact the history of colonialism is to a considerable degree the history of the archive, an effect of the effort to assimilate the marginal regions of the world to a specific economic (and hence administrative) regime by marking the difference between an inside and an outside. To an archivist as much as to a colonialist the opposition between inside and outside, or between center and margin, is absolute and insurmountable (you can either be inside the archive or you can be outside, but you cannot be in both positions at the same time). More broadly speaking we might say that these distinctions reproduce the broader binary distinctions − between center and periphery, colonizer and colonized, etc. − that characterize the era of imperialism, resulting in a totalizing regime of archival representation grounded ultimately in a Hegelinspired dialectic. Modernism tabulated culture in the form of a list or a classified table, which is why in modernism the archive advanced to a position of great prominence as a way of deconstructing representational regimes and the ideologies that undergirded them. Early 20th-century avant-gardist interventions in the archive (constructivism, Dada) for instance rejected narrative in favor of artistic practices that stressed modularity. Archivebased art, in this instance, was not only a way of desublimating the “constructed” nature of representation, but also and especially a way of demonstrating that the information contained in an archive, or across many archives, could be connected and networked to form a new image of the world, or to present alternatives to already existing such images. Archives, in this reading, became (and are) “information work“, with the artist as an image worker rather than a storyteller. While the technical parameters of the (non-analogue) archive changed considerably in the postmodern era, the function of archivebased art as a means to analyze and problematize existing information regimes and their ideologies remains essentially unchanged. To say, with Marshall McLuhan, that archives “classify” − in the double sense of this term − is to point to the traditionally clandestine nature of their operations, the fact that archives have historically existed in secret (not least in order to preserve the privilege of those who controlled or owned them). Even if secrecy no longer represents an absolute condition of archival storage, “classification” − the idea that the value, accuracy, and scope of the information contained in an archive is always subject to doubt − retains its central importance. In a sense, doubt (or, to use a stronger word: suspicion or paranoia) represents the most fundamental approach to the archive: our suspicion that the archive’s true dimensions, the extent of its knowledge, and the difference between the archive and its outside, may not be determined reliably. On the one hand, this suspicion addresses the possibility that the archive always knows infinitely more than we do, but that we do not know how much more exactly (which is also why we cannot durably inhabit the archive, or speak from its place). On the other hand, it points to the possibility that the archive itself may not know what it stores, that archival storage may have an opaque underside that complements its more or less transparent surface structure. What I have called suspicion here is in fact the most basic assumption of all modern archive theories: there is always a blind spot in any act of knowing, and the archive is its name.
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III. Cultures of communication As an active part of the system of cultural production, archives are not in the business or destruction or erasure; instead, as I mentioned, they accept for permanent storage what has become redundant, transforming it into culture (what a historian or an artist finds in an archive functions in a system different from the one for which it was created); on the other hand, when artists literally transfer trash or detritus into museums or galleries, as happened frequently in 20th century art after Marcel Duchamp abandoned art’s emphasis on skill − or when they construct installations that hint at this function − they foreground the archive’s remediating function, its position at the interstice of art and non-art. In this sense the current interest in the archive, which views it as an arbiter of cultural meaning, is a function of a broader interest in the mechanisms of cultural production.
4. Selected references Appadurai, Arjun 2003 Archive and Aspiration. In: Joke Brouwer and Arjen Mulder (eds.), Information is Alive. Art and Theory on Archiving and Retrieving Data, 14−25. Rotterdam: Nai Publishers. Derrida, Jacques 1972 Freud and the Scene of Writing. In: Yale French Studies 48, 74−117. Derrida, Jacques 1995 Archive Fever. A Freudian Impression. In: diacritics 25(2), 9−63. Ernst, Wolfgang 2013 Digital Memory and the Archive. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press. Foster, Hal 1996 The Archive without Museums. In: October 77, 97−119. Foucault, Michel 2002 Archeology of Knowledge. London: Routledge. Groys, Boris 2012 Under Suspicion. A Phenomenology of Media. New York: Columbia University Press. McLuhan, Marshall 1992 The Laws of Media. Toronto: University of Toronto Press. Sekula, Allan 1986 The Body and the Archive. In: October 39, 3−64. Spieker, Sven 2008 The Big Archive. Art from Bureaucracy. Cambridge: MIT Press.
Sven Spieker, Santa Barbara (California, USA)
42. Verschlüsseln, verrätseln, verschweigen
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42. Verschlüsseln, verrätseln, verschweigen 1. Nicht-offene Kommunikation als Gegenstand der Sprachwissenschaft 2. Verschlüsseln als kommunikativstrategisches Verfahren verdeckter Kommunikation
3. Verrätseln als kommunikativ-soziale Spielaufforderung 4. Verschweigen als kommunikative (Nicht-)Handlung 5. Literatur (in Auswahl)
1. Nicht-offene Kommunikation als Gegenstand der Sprachwissenschaft Der Beginn des sprachwissenschaftlichen Interesses am „Verdecken in der Sprache“ fällt nach Pérennec mit der pragmatischen Wende um die 1970er-Jahre zusammen (vgl. Pérennec 2008: 70). In diesem Sinn gelten beispielsweise die konversationelle Implikatur (vgl. Grice 1993) und die pragmatische Präsupposition als Formen des „Verdeckens in der Sprache“, bei denen es jedoch weniger um das Verdecken im Sinne eines kommunikativ-strategischen Vorenthaltens oder Zurückhaltens von Informationen geht als um das in eine kooperative kommunikative Situation eingebettete sprecherseitige Implizieren und hörerseitige Inferieren von Informationen aus sprachlichen Äußerungen. Dieses genuin pragmatische Erkenntnisinteresse am Impliziten im engeren Sinn hat in den vergangenen 15 Jahren eine Erweiterung erfahren: In der Sprachwissenschaft wie in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften überhaupt wird vermehrt den Formen nichtoffener Kommunikation Aufmerksamkeit geschenkt (siehe die Sammelbände von Spitznagel 1998; Rösch 2005; Pappert, Schröter und Fix 2008a). Diese Neuorientierung kann als ein Nebeneffekt der verstärkten Hinwendung der pragmatischen Linguistik zu empirischen Text- und Gesprächskorpora und der daraus hervorgegangenen Einsicht verstanden werden, dass reale sprachlich-kommunikative Prozesse nur unzureichend als Befolgung von Regeln und Konventionen, als an Kooperationsprinzipien geschweige denn als an einer kommunikativen Ethik orientiert erklärt werden können. Die Betrachtung verschiedener Kommunikationsbereiche in unterschiedlich geprägten Kulturen und Gesellschaftsordnungen (vgl. zum Terminus des Kommunikationsbereichs Brinker et al. 2000: XIX) zeigt vielmehr, dass in alltäglicher wie institutioneller Kommunikation Verfahren zum Einsatz kommen, mit denen Sprecher/Schreiber ihr Wissen, ihre Absichten, Wünsche und Einschätzungen aus unterschiedlichen Gründen gar nicht oder nur in kryptischer Weise preisgeben, das Aufkommen von Themen vermeiden oder bestimmte Informationen einem definierten Adressatenkreis unter gleichzeitigem Ausschluss potenziell anderer, nicht-adressierter Kommunikationsteilnehmer zugänglich machen (vgl. Pappert, Schröter und Fix 2008b: 10). Im Weiteren sollen deshalb die kommunikativ-strategischen Verfahren des Verschlüsselns, Verrätselns und Verschweigens näher beleuchtet werden.
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III. Kulturen der Kommunikation
2. Verschlüsseln als kommunikativ-strategisches Verfahren verdeckter Kommunikation In seiner Analyse The Communication of Hidden Meaning entwickelt der Soziologe Hans Speier entlang der Hauptunterscheidung von intendiertem und nicht-intendiertem Rezipienten unterschiedliche Kommunikationsschemata (vgl. Speier 1980: 275−281) und verdeutlicht damit die Bedeutung der pragmatischen Kategorie Adressierung für die Beschreibung und Analyse der verschiedenen Formen verdeckter Informationsübermittlung. Dabei ist die verdeckt kommunizierte Bedeutung als strategisches Geheimnis zu klassifizieren, das „durch bewußte Geheimhaltung“ (Assmann und Assmann 1998: 7) gekennzeichnet ist, die wiederum dem Schutz gegen Verfolgung oder vor vorzeitiger Entdeckung dient oder einfach aus Spiel und Geheimniskrämerei erfolgt (Assmann und Assmann 1998: 7). Das Verschlüsseln von Nachrichten kommt demnach in kommunikativen Situationen zum Einsatz, in denen ein strategisches Geheimnis einem gewünschten Adressaten unter gleichzeitigem Ausschluss unerwünschter und potenziell an dem Geheimnis interessierter Nichtadressaten mitgeteilt werden soll. Die Kryptologie, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigenständige wissenschaftliche Disziplin aus der Mathematik und Informatik ausdifferenziert hat und deren originäres Interesse der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Informationen gilt, versteht unter Verschlüsseln im engeren Sinn die codebasierte Umwandlung einer Klarschrift in einen chiffrierten Text (auch: Geheimtext), also einen Text, dessen Ausdrucksseite für den nicht-eingeweihten Leser unverständlich (kryptisch) ist und erst mithilfe des Codes in Verständlichkeit rücküberführt werden kann. Indes ist die Rede von Klar- bzw. Geheimtext bzw. -schrift zumindest im Zusammenhang mit digitaler Kommunikation zu eng gefasst, da kryptographische Verfahren „aufgrund der binären Codierung auch auf andere Repräsentationsformen von Informationen (z. B. Bilder, Filme, Musik) angewandt werden“ (Wolf 2005: 69). Neben der Kryptographie als einer Art der Verschlüsselung von Informationen ist als weitere die Steganographie zu nennen (zur Unterscheidung von Kryptographie und Steganographie im Fach der Kryptologie siehe Kahn 1996: XV). Steganographische Texte sind in ihrer äußeren Erscheinung unauffällig, enthalten jedoch versteckte Zusatzinformationen. An die Stelle der Unterscheidung von Geheimtext und Klarschrift tritt in der Steganographie die Unterscheidung von allgemeinverständlichem Basistext und daraus „herauszufilternde[m] Intext“ (Ernst 2005: 156), von denen der Letztere ausschließlich für den intendierten Rezipienten verständlich ist bzw. sein soll, während der nicht-intendierte Rezipient nicht einmal Kenntnis von dem Vorhandensein eines Textes im Text hat bzw. haben soll (vgl. Speier 1980: 279). In den vergangenen Jahren hat sich die steganographische Unterscheidung zwischen Basis- und Intext für stilistische und textlinguistische Analysen als anschlussfähig erwiesen. Fix skizziert in ihrer Analyse verschlüsselter Texte in Diktaturen in Abgrenzung zu dem engen, informationstheoretischen einen weiten, eher rhetorischen Begriff von Steganographie, „der versteckte ebenso wie manipulierte offene Nachrichten einschließt“ (Ernst 2005: 111). Vor diesem Hintergrund werden rhetorische Verfahren wie die Beschönigung (vgl. Fix 2005: 115), die Allusion oder das Zwischen-den-ZeilenMitteilen (vgl. Gardt 2008: 27; Speier 1980: 262) als steganographische Verfahren beschreibbar. Mit Blick auf die griceschen Konversationsmaximen konstatiert auch Pérennec, „dass jede verschlüsselte Aussage gegen eine bzw. mehrere Maximen verstößt, ob
42. Verschlüsseln, verrätseln, verschweigen es sich um Euphemismus, Ironie oder Anspielung handelt“ (Pérennec 2008: 70). Die Verständlichkeit von Texten mit solchen subtilen und häufig ambigen Darstellungsformen resultiert aus dem Vorhandensein von geteilten Gefühlen, Erfahrungen, Annahmen und Zielen zwischen dem Sprecher/Schreiber auf der einen und den intendierten Rezipienten auf der anderen Seite und ist folglich nicht als im strengen Sinne codebasiert zu beschreiben (vgl. Speier 1980: 279).
2.1. Verschlüsselte Kommunikation und Textsorten Kommunikativ-strategische Verfahren der Steganographie wurden von der Sprachwissenschaft insbesondere in personenbeurteilenden Textsorten nachgewiesen. Einschlägig in diesem Bereich ist die Analyse von Arbeitszeugnissen durch Presch und Gloy (1977), in der u. a. eine mehrseitige Liste von in Zeugnistexten verwendeten Verschlüsselungsformulierungen mit den korrespondierenden Klarbedeutungen vorgelegt wird, die nach Ansicht der Autoren einen „Geheimcode“ konstituiert, mit der „die Betroffenen von den harten Informationen ausgeschlossen werden“ (Presch und Gloy 1977: 179), weshalb die Autoren bei Arbeitszeugnissen von exklusiven Texten sprechen. Im Hinblick auf die Verwendung steganographischer Verfahren im oben genannten Sinn untersucht Fix (2005) die in der DDR verbreitete Textsortenklasse personenbeurteilende Texte in institutioneller Kommunikation und findet insbesondere in den Texten aus inklusiver Kommunikation − inklusiv, weil der Beurteilte von der Beurteilung weiß und diese in vielen Fällen sogar kennt − einen „Verschlüsselungscode des Beschönigens und Verschleierns“, der „den Beurteilten selbst nicht fremd, aber von ihnen (und mehr noch von den mitgedachten Lesern außerhalb der Kommunikationsgemeinschaft der DDR) sicher nicht immer eindeutig zu entziffern“ war (Fix 2005: 119). Pappert identifiziert in seiner Analyse personenbeurteilender Texte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), in denen die inoffiziellen Mitarbeiter (kurz: IM) der Stasi beurteilt werden, sowohl kryptographische Elemente der Geheimsprache des MfS als auch die bereits von Fix beschriebenen steganographischen Verfahren der Beschönigung (vgl. Pappert 2008: 311). Eine andere Klasse von Textsorten, in der steganographische Verfahren funktional und entsprechend hochfrequent sind, stellen Werbetexte dar. Die Irritation eingeschliffener Wahrnehmungsmuster mittels kommunikativer Indirektheit, durch die Verwendung sekundärer oder metaphorischer Zeichenbedeutungen (vgl. ausführlich dazu Stöckl 2008: 175 ff.) gehört zum festen Gestaltungsrepertoire von Werbetexten.
2.2. Verschlüsselte Kommunikation und Varietäten Im Zuge der vermehrten Auseinandersetzung der Varietätenlinguistik mit Gruppen- und Sondersprachen insbesondere in den 1970er-Jahren ist auch der Varietätentyp der Geheimsprache in den Fokus des Interesses geraten. Dabei handelt es sich bei Geheimsprachen, genau genommen, nicht um Sprachen im Sinn eines vollwertigen sprachlichen Systems, sondern wie im Fall von Rotwelsch um einen „beträchtlichen nichtschriftsprachlichen Sonderwortschatz […] sozialer Randgruppen“ (Wolf 1980: 78), wobei das Merkmal der Nichtschriftlichkeit sich aus der Geheimhaltungsmaxime des Wortschatzes
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III. Kulturen der Kommunikation erklärt. Die von kriminellen Subkulturellen, von Gefängnis- und Lagergesellschaften oder geheimdienstlichen Organisationen wie dem MfS situationsabhängig verwendeten esoterischen Sonderwortschätze erfüllen vordergründig den Zweck, bestimmte Absprachen gegenüber Außenstehenden geheim zu halten (siehe allgemein zu Geheimsprachen Bausinger 1972: 122). Analog dazu weist Halliday den von ihm als Antisprachen kategorisierten Varietäten die Funktion der Geheimhaltung zu: „Effective teamwork does depend, at times, on exchanging meanings that are inaccessible to the victim, and communication among prisoners must take place without the participation of the gaoler“ (Halliday 1978: 166). Neben ihrer sinnfälligen klandestinen Funktion sind Geheim- bzw. Antisprachen Trägerinnen weiterer Funktionen wie die, soziale Kohäsion herzustellen oder aufrechtzuerhalten, sich als Gruppe bzw. Gruppenmitglied gegenüber Dritten abzugrenzen (Bausinger 1972: 118; Speier 1980: 277; Oschlies 1986: 101 zur sogenannten Lagerszpracha der Internierten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern), gruppeninterne Hierarchien zu repräsentieren und alternative Realitäten zu konstituieren (vgl. Halliday 1978: 166 f.). Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Varietätenlinguistik und Verschlüsselung kann neben der Beschreibungskategorie der Geheimsprache noch der theoretisch unterspezifizierte Begriff der Tarnsprache erwähnt werden. Unter einer Tarnsprache ist die innerhalb einer Kultur oder Institution verwendete Menge von euphemistischen Formulierungen zur systematischen Verschleierung von spezifischen als anstößig oder tabuisiert geltenden Sachverhalten oder Vorgängen zu verstehen (vgl. zu der in den offiziellen Akten der deutschen Konzentrationslager verwendeten Tarnsprache Oschlies 1986: 107).
2.3. Verschlüsselte Kommunikation unter den Bedingungen staatlicher Zensur Die explizite Zensur in totalitären Regimen führt erfahrungsgemäß zur Herausbildung von Strategien und sprachlichen Darstellungsformen, mit denen die unterdrückten Stimmen die Regulierung des Sagbaren überwinden (zur Unterscheidung von expliziter und impliziter Zensur siehe Butler 1998: 182 ff.). Ein historisches Beispiel dafür ist der unter den repressiven kommunistischen Systemen in Zentral- und Osteuropa der 1960er-Jahre entstandene sogenannte Samizdat. Der Samizdat war eine Form des inoffiziellen Verlagswesens für literarisches wie wissenschaftliches Schriftgut, in dem sich eine von staatlicher Zensur befreite Gegenkultur artikulieren konnte. Deren Organisatoren, Autoren und Leser wollten eine „authentische Sprache“ schreiben und lesen, um damit „die im System und im offiziellen Reden angelegte Schizophrenie in sich selbst [zu] überwinden“ (Beyrau 2000: 31; siehe auch die Darstellung des literarischen Samizdat von Bock 2000). Die Verwendung von Sprache im Samizdat stellt damit einen Gegenentwurf zu der in Teilen des offiziellen Schriftguts anzutreffenden sogenannten äsopischen Sprache dar, mit der die regimekritischen Botschaften nur indirekt, zum Beispiel mithilfe allegorischer Verfahren, oder verschlüsselt kommuniziert werden (siehe Speier 1980: 264; siehe auch Pawlickis [2011: 349 ff.] Darstellung verschiedener äsopischer Sprachstrategien). Ein illustratives Beispiel äsopischen Sprachgebrauchs in totalitären Systemen liefert Fix (2005: 111): Die jeweils ersten Buchstaben der Wörter des 1981 in der DDR publizierten Gedichts Kern meines Romans von Uwe Kolb ergeben hintereinander gelesen ein regimekritisches Statement − eine steganographische Verschlüsselungstechnik.
42. Verschlüsseln, verrätseln, verschweigen
2.4. Verschlüsselte Kommunikation unter den Bedingungen institutioneller Überwachung In seiner Institutiongeschichte hat eine totale Institution wie das Gefängnis die Kontakte der Insassen untereinander und nach draußen in Abhängigkeit von historischen, politischen und kulturellen Faktoren schon immer kontrolliert und limitiert (zum Begriff der totalen Institution vgl. Goffman [1961] 1973: 11). Diesem unterschiedlich ausgeprägten Bestreben entgegen steht das Bedürfnis der Insassen von Gefängnissen, Verwahranstalten und Konzentrationslagern nicht nur nach unkontrollierter, sondern auch nach unzensierter Kommunikation. Geheime Kommunikationssysteme sind deshalb, wie Goffman anmerkt, ein universelles Merkmal totaler Institutionen (Goffman 1973: 246 f.). In diesem Zusammenhang finden Verschlüsselungsverfahren in besonderer Häufigkeit und in spezifischer Gestalt Verwendung. Die zwischen den Gefangenen zirkulierenden Kassiber (vgl. zum Begriff Kassiber Avé-Lallemant 1858: 91 ff.; Assmann 1997: 19 f.; Gätje 2008) sind in vielen Fällen in der Geheimsprache einer (kriminellen) Subkultur oder in einem geheimschriftlichen Code abgefasst, sodass ein von dem Wachpersonal bei Zellendurchsuchungen oder bei der Übermittlung aufgefundener Kassiber (beim sogenannten Kassiberschieben) nicht umstandslos zu entziffern ist. Ein anschauliches Beispiel für die Verwendung steganographischer Verfahren bei der arkanen Kassiberkommunikation liefert Solschenizyns Bericht über die Kontrolle der von den Gefangenen zurückgegebenen Bücher in der Gefängnisbibliothek der Lubjanka: „Sie suchen nach Punkten oder Einstichen über den Buchstaben (das ist so eine Methode, Kassiber zu schreiben), oder ob wir nicht mit dem Fingernagel eine uns beeindruckende Stelle angezeichnet haben“ (Solschenizyn 1994: 200).
3. Verrätseln als kommunikativ-soziale Spielaufforderung Analog zur kryptographischen und im Unterschied zur steganographischen Botschaft ist das Rätsel, bedingt durch seine semiotische Oberflächenstruktur − ob im graphischen oder phonischen Medium realisiert −, im Regelfall als solches erkennbar: „We generally recognize a riddle if we see one“ (Dienhart 1999: 99). Diese im Fall mündlicher Rätsel beispielsweise mithilfe formal-ästhetischer Verfahren wie Reim oder Assonanz realisierte Salienz des Rätsels ist typischerweise mit einem an die Rezipienten gerichteten Appell zur Rätsellösung verbunden, sodass die Illokution des Rätsels als Frage zu bestimmen ist (vgl. Fix 2000: 196). Aufgrund der Frage-Antwort-Struktur ist das Rätsel als aus zwei Teiltexten bestehend zu beschreiben: aus einem initialen Teil, in dem der Textemittent mit dosierten Hinweisen eine Rätselaufgabe konstituiert, und einem respondierenden Teil, in dem entweder der Textrezipient mittels kreativer Denkprozesse das Rätsel löst oder in dem der Textemittent die Lösung preisgibt (vgl. Harris 1971: 379; Dienhart 1999: 101 ff.). Besonders deutlich manifestiert sich der dialogische Charakter des Rätsels in der sprachwissenschaftlich relativ gut erforschten Scherzfrage, die mit den innerhalb jeder natürlichen Sprache anzutreffenden lexikalischen Ähnlichkeits- und Identitätsrelationen auf der Inhalts- und Ausdrucksebene (wie z. B. Synonymie, Homonymie) spielt (ausführlich dazu Dienhart 1998: 108 ff.; siehe auch Pepicello 1980). Damit demonstriert
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III. Kulturen der Kommunikation die Scherzfrage „our lack of command of language, as well as our command of language“ (Pepicello 1980: 16). Anders als die verschiedenen Formen der Verschlüsselung dient die Verrätselung nicht der adressatenspezifischen Weitergabe von Informationen unter Ausschluss bestimmter anderer, nicht-intendierter Rezipientengruppen. Vielmehr ist der initiale bzw. verrätselnde Teil des Rätsels generell als ein „Verbergen-auf-ein-Entdecken-hin“ (Gross 2008: 376) konzipiert. Allerdings kann auch das Rätsel sozial selektiv wirken, da das Rätsel eine kommunikative Bewährungs- bzw. Prüfungssituation schafft (siehe zur Interpretation des Rätsels als Prüfungsfrage Tomasek 2009: 320), in der „der Lösende in die Gruppe der Wissenden aufgenommen wird“ (Fix 2000: 197) und der an der Lösung des Rätsels Scheiternde von dieser Gruppe ausgeschlossen bleibt. Grundsätzlich besteht der Anreiz für den Eintritt in die Auseinandersetzung mit einer Rätselaufgabe nicht primär in der Bearbeitung eines Wissensdefizites, sondern in einem mit dem Prozess der Entdeckung einhergehenden Lustgewinn, was darüber hinausgehende Funktionen keinesfalls ausschließt (siehe hierzu die Aufzählung der praktischen Zwecke von Rätseln bei Fix 2000: 197 f.). Die in allen Kulturen anzutreffende, in sich hochgradig heterogene Textsortenklasse des Rätsels ist damit als Resultat der „menschlichen Freude am Entdecken und Entschlüsseln“ (Gross 2008: 375) zu interpretieren, die Gross als einen anthropologischen Grundimpuls beschreibt.
4. Verschweigen als kommunikative (Nicht-)Handlung Das Verschweigen von bestimmten Wissenssegmenten ist als kommunikative (Nicht-) Handlung zu interpretieren (vgl. die Definition von verschweigen in Holly 2008: 150; vgl. zum Handlungsbegriff Holly, Kühn und Püschel 1985: 75 f.). Dabei wird das Verschweigen im Kontext geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung häufig im Zusammenhang mit dem Phänomen des Schweigens verhandelt (siehe Bellebaum 1992; Holly 2008: 150 ff.; Sornig 1999; Ulsamer 2002; Schröter 2008). Der Soziologe Bellebaum definiert den Unterschied zwischen diesen beiden kommunikativen Verhaltensweisen wie folgt: „Schweigen als Verzicht auf gesprochene und geschriebene Sprache ist das eine, Verschweigen als bewußter Verzicht auf die Weitergabe von Informationen das andere“ (Bellebaum 1992: 82). Verschweigen heißt jedoch nicht notwendig, zu schweigen, sondern, zu reden bzw. zu schreiben, dabei aber dem kommunikativen Gegenüber eine bestimmte Information vorzuenthalten. Dieses kommunikationsstrategische Verständnis von Verschweigen wird von Schröter (2008) in implizites und explizites Verschweigen subdifferenziert. Beim impliziten Verschweigen kommen kommunikative Taktiken wie Ausweichen und wortreiches Abschweifen zum Einsatz; im Fall des expliziten Verschweigens wird der Wunsch nach Auskunft über einen bestimmten Sachverhalt ausdrücklich mit sprachlichen Konstruktionen wie Ich habe versprochen, X geheim zu halten oder Kein Kommentar! zurückgewiesen (siehe auch die Ausführungen Jaworskis [1993: 108 ff.] zu Przemilczenie). Die bisher dargestellte Form des strategischen Verschweigens ähnelt dem Konzept von manipulative silence nach Huckin (2002: 348): „manipulative silences are those that intentionally conceal relevant information from the reader or listener, to the advantage of the writer or speaker; unlike other types of silence, these silences depend for their
42. Verschlüsseln, verrätseln, verschweigen success on not being noticed by the reader or listener.“ Die zusätzliche Erfolgsbedingung des manipulativen Verschweigens von Informationen besteht demnach in dem Verborgensein der Verschweigenshandlung vor dem kommunikativen Gegenüber. Mit Hahn (1997: 29) kann das manipulativ verschwiegene WissenssegmentX als reflexives Geheimnis konzeptualisiert werden, also als ein Geheimnis, dessen Vorhandensein im Verborgenen gehalten wird. Das strategische wie das manipulative Verschweigen sind demnach intentionale Handlungen, mit denen ein Sprecher/Schreiber in einem kommunikativen Geschehen ein definiertes Wissenssegment, von dem er annimmt, dass sein kommunikatives Gegenüber Interesse an diesem hat bzw. haben könnte, und von dem er ferner annimmt, dass er über dieses Wissen nicht bereits verfügt, im Verborgenen hält, um sich auf diese Weise einen Vorteil zu verschaffen. Deshalb ist das Verschweigen einerseits von dem einfachen Vergessen von Wissenssegmenten, anderseits von dem psychoanalytischen Konzept der Verdrängung zu unterscheiden. Das so verstandene Verschweigen unterscheidet sich ebenfalls von der einfachen Nichterwähnung eines definierten WissenssegmentesX beispielsweise in einem Gespräch, da der Nichterwähnende in diesem Fall davon ausgeht, dass sein Gegenüber kein Interesse an diesem WissenssegmentX hat. Wird Verschweigen in den bisher dargestellten Ansätzen mit der intendierten Nichtweitergabe von Informationen aus manipulativen oder kommunikativ-strategischen Gründen gleichgesetzt, entwickelt der Sprachwissenschaftler Kurzon im Rahmen einer Typologie des Schweigens ein anderes Verständnis von Verschweigen. Dazu verweist er zunächst auf die zwei unterschiedlichen Verwendungsweisen des englischen Verbs to silence: „Choosing not to talk about a particular topic and not answering a question − both often termed ‚silence‘ − have to be differentiated.“ Auf eine Frage nicht zu antworten, sprich: die durch eine Frage eröffnete kommunikative Leerstelle mit Schweigen im Sinn phonetischer Nichtrealisierung zu füllen, stellt einen Verstoß gegen das gricesche Kooperationsprinzip dar und ist nicht per se mit einer Verschweigenshandlung gleichzusetzen. Anders dagegen liegt der Sachverhalt bei der zweiten Bedeutung von silence, die Kurzon (2009) als „thematic silence“ bezeichnet und die er an anderer Stelle als metaphorische Bedeutung von silence diskutiert. Von thematic silence ist in Fällen zu sprechen, in denen die Entscheidung eines Kommunikationsteilnehmers, ein bestimmtes Thema nicht zur Sprache zu bringen − sei es in gesprochener oder geschriebener Form −, nicht notwendigerweise heißt, dass dem Rezipienten dabei ein bestimmtes Wissen vorenthalten wird, denn: „In this type of silence, the theme or topic of the text is known, and perhaps the contents are also known“ (Kurzon 2007: 1677). Verschweigen im Sinn von thematic silence heißt folglich, dass ein Sprecher/Schreiber bestimmte Themen meidet. Die Gründe für das Verschweigen können nach Kurzon (2007: 1677) in internale (intrinsisch) und externale (extrinsisch) unterschieden werden, wobei die Übertragung dieser analytischen Unterscheidung auf die kommunikative Praxis, sprich: auf die tatsächlichen Gründe von Verschweigenshandlungen, im Normalfall nur hypothetisch möglich ist (siehe Kurzons kritische Reflexion dieser Unterscheidung [2007: 1684 f.]). Von sprachwissenschaftlicher Bedeutung sind die extrinsischen Gründe, womit die in einer Kultur ausgebildeten Verhaltensmaximen und -normen gemeint sind, auf die Verschweigenshandlungen zurückgeführt werden können. So regelt die Pietätsmaxime de mortuis nil nisi bene dicendum, dass in der Textsorte Nachruf im Normalfall keine den Verstorbenen in ein schlechtes Licht stellenden Aussagen auftauchen, weshalb der Nachruf als „verbergende und verhüllende Textsorte par excellence“ zu bezeichnen ist (Stein 2008: 239 f.). Huckin (2002) spricht von genre-based silence, wenn die Unterdrückung von
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III. Kulturen der Kommunikation Informationen durch an Textsorten gekoppelte Maximen bedingt ist. Weitere gesellschaftlich und kulturell vermittelte Gründe für das Verschweigen bestimmter Themen und Inhalte in einer Kommunikationssituation können Takt als Teil der Höflichkeitsmaxime (siehe Jaworski [1993: 59 ff.] zu formulaic silence; siehe auch Brown and Levinson [1987] zu „negative politeness“) sowie die Akzeptanz gesellschaftlicher Tabubereiche (siehe Huckin [2002] zu discreet silences) sein. Auch das mafiöse Schweigegelübde Omertà oder der Verweis auf ein gegebenes Ehrenwort, ein definiertes WissenssegmentX unbestimmter Komplexität nicht preiszugeben, können als externale Gründe für Akte des Verschweigens angesehen werden. Zu den Ursachen für thematic silence ist ferner das von Foucault (vgl. Artikel 12) beschriebene Verbot als eines der Prozeduren der Ausschließung zu erwähnen, mit denen die „Kräfte und Gefahren des Diskurses“ (Foucault 1991: 10 f.) gebändigt werden.
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Olaf Gätje, Kassel (Deutschland)
43. Literacy and narrative 1. Discovering literacy and narrative as 3. Meaning-making and cultural agency epistemic subjects 4. Selected references 2. The literacy episteme and the narrative turn
1. Discovering literacy and narrative as epistemic subjects The history of writing and storytelling extends over the entire cultural history. Considering this backdrop, it is astonishing that literacy and narrative have only very recently been “discovered” as intellectual and academic subjects in their own right. Only in the last few decades have writing and storytelling emerged as epistemic subjects that are
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III. Cultures of communication recognized as proper objects of investigation and academic study and, in fact, that have acquired the status of entities with their own ontology. In the traditional view, first formulated by Aristotle, the written word was conceived of as a secondary derivative that only served as a substitute for the spoken word. The idea of writing as “speech put down” implied that language is essentially oral, although it can be visually represented. A comparable view applied to narrative. Narrative was regarded to be a minor form of language, situated in the shadow of prestigious literary formats like epos, poetry, drama, and the novel. This hierarchy was not even questioned by the first formalist and structuralist narratologists in the first half of the twentieth century. In the second half of the century, however, these classical views began to be challenged when both writing and narrative started to play a more salient role on the map of academic interest − albeit in ways independent from each other, at least at first sight. Remarkably enough, both came into existence as particular epistemic subjects not because they had been put on the agenda of academic inquiry in disciplines one could assume to be in charge, such as linguistics and other language disciplines, but because of shifts in the overarching conceptual architecture of our knowing and thinking. These shifts went far beyond the academic sphere, providing new culture-sensitive and culturespecific visions of writing, storytelling, and language in general. A number of changes were crucial in the process. In the first place, the scene was set by far-ranging transformations in the technology of communication and information that became known as the digital revolution. A second factor involved global processes of political and cultural de-centering of Western discourses closely related to new postcolonialist orientations. And third, new fields of post-positivist, post-structuralist, and post-idealist (or, to borrow Derrida’s term, post-logocentric) theorizing emerged across the human sciences. They all opened new horizons for cultural and, more specifically, ethnographic and interpretive-hermeneutic investigations of language and the communicative contexts and multimodal ways of its use. As a consequence, even more attention has been drawn to the large variety of linguistic practices, practices that increasingly have been conceived of as social, discursive, and cultural forms of life − with writing and narrative prominently among them.
2. The literacy episteme and the narrative turn Against this background we can identify the 1960s as the turning point in Western attitudes toward writing. After its significance had been ignored and dismissed for centuries − not only in the wake of Aristotle’s definition, but also Plato’s even more fundamental repudiation of the written word − now a new era set a new agenda, and literacy ranked highly on it. What is more, writing began to be viewed as both a linguistic and socio-cultural phenomenon of far-reaching importance. Almost simultaneously, a number of remarkable books appeared by authors from different disciplines and countries, setting the stage for a comprehensive cultural approach to writing, speech, and language. “A dam [was] starting to burst,” as one of the protagonists, Eric Havelock (1991: 12), put it, releasing a flood of cultural interest and intellectual activity devoted to understanding the significance of literacy and its relations with the spoken word und the social world at large.
43. Literacy and narrative What Havelock described as a bursting dam was the discovery of literacy as an epistemic subject, its constitution as an academic topic worthy of intellectual attention and investigation and relevant for social and cultural policies. Announcing the rise of the literacy episteme, the books published within a few years in the 1960s included McLuhan’s The Gutenberg Galaxy, Levi-Strauss’s La Pensee Sauvage, Goody and Watt’s The Consequences of Literacy, Havelock’s own Preface to Plato, Lord’s The Singer of Tales, Ong’s The Presence of the Word, Derrida’s De la grammatologie and L’écriture et la différence, and the first English publication of Vygotsky’s Thought and Language. The magnitude of the universe of written and oral cultural practices and artifacts that came to the fore in the wake of these publications (and many others following them) suggested conceiving of literacy as an overarching epistemic frame, a perspective whose rise not only made countless phenomena of writing “visible”, but also allowed scholars, scientists, politicians, and social activists to reconceptualize our knowledge about language and culture (Brockmeier and Olson 2009). To view literacy as an episteme rather than simply a competence, an individual skill, a social or cultural practice − as an overarching frame rather than a specific entity or quality − permits us to parcel out two essential ideas. These ideas have been advanced in countless investigations and discourses dealing with writing and language; they are at the heart of the literacy episteme. One is that writing is a particular, independent form and practice of language and not simply a derivative representation of oral speech. This idea is in direct opposition to what Derrida (1967) called a basic assumption of Western metaphysics: that the logocentrism of European thought, its orientation toward mental, ideal, and spiritual entities, is grounded in phonocentrism. Phonocentrism is the assumption that thoughts and meanings − especially the ultimate philosophical and religious ideas of the Western tradition − are given in an immediate fashion without any link to the material sign, their inscription. The second central idea brought forward by the literacy episteme is that alphabetic writing in its prototypical form − as extended, monological prose, traditionally viewed as hallmark of Western civilization and high culture − is a historical form. In other words, it is transient. It gained a recognized position in a long cultural-historical process that dominated discourses in literature, religion, science, philosophy, politics, administration, courts, school, church, and the public sphere (Burke 2000; Goody 1986; McNeely and Wolverton 2008). But it has taken on an explicit conceptual shape, in the literacy episteme, exactly at the moment in which it started to lose its cultural hegemony in the management of knowledge and thought and in the organization of bureaucratic societies, a hegemony it had exercised for so long. Now to narrative. Although the discovery that narrative is a powerful cultural form and practice whose scope goes far beyond the sphere of literature and written texts might have been less spectacular than that of literacy, it is part of the shifts in the architecture of our knowledge and thought about language and culture already mentioned. I thus have proposed viewing the rise of a new “culturally thick notion of narrative” (Brockmeier 2012) as a further step in overcoming what Heidegger, Wittgenstein, Derrida, and other philosophers described as Sprachvergessenheit − forgetfulness of language − in traditional metaphysical thinking. At stake is a novel way to conceive of narrative discourse as inextricably embedded into cultural contexts of action and interaction. A communicative and cognitive practice of astounding multifariousness, narrative does not only play a crucial role in humans’ everyday life, it also allows them to unfold what probably are their most complex constructions of themselves and the world in which they live. In
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III. Cultures of communication doing so, they bind themselves into a cultural universe while binding this cultural universe into their minds. What has been called the narrative turn has taken place more or less simultaneously with the rise of the literacy episteme, although with minimal direct personal or institutional connection between the two. However, rather than one turn, we can distinguish several narrative turns (Hyvärinen 2006). Beginning in the 1960s, storytelling became the subject of academic interest first in literary studies, narratology, socio- and ethnolinguistics, and then successively in philosophy, history, the social sciences, psychology, medicine and the health sciences. A ubiquitous cultural practice of communication and meaning-making, narrative has been viewed as essential for the construction of personal identity (“narrative identity”), the understanding of our intricate meaning constructions of time and autobiographical memory, and the social presentation and positioning of oneself and others − be it in face-to-face encounters or in institutional contexts (of work, school, hospitals, and courts, for example). All these practices and procedures are interwoven with narrative traditions, both oral and written, evident in the use of genres, plot models, motifs, ways of temporal ordering, intertextual references, and other narrative techniques. These traditions, in turn, are themselves deeply embedded in culturalhistorical storyworlds that have given shape, for example, to ideas of mind, consciousness, and self (e.g. Brockmeier 2015; Herman 2011). Viewed in this way, the field of phenomena investigated from the perspective of culturally oriented narrative studies has extended considerably, and so has the very notion of narrative. This is obvious if confronted with the classical definition in the tradition of narratio that can be traced back − once more − to Aristotle and his concept of a temporal sequence with a beginning, middle, and end. Moreover, what has been called post-classical narrative theory (Herman 2009a; Alber and Fludernik 2010), allows us to further refine the cultural approach to narrative. Consider the nexus between narrative and the mind. Here new light has been shed on long disputed intricacies by challenging three traditional claims. These claims are that there are fundamental divides between, first, the psychological-hermeneutic underpinnings of narrative meaning constructions in fictional and nonfictional discourses, second, between psychological practices of understanding in literary and nonliterary narrative, and, third, between narrative (literary and nonliterary) viewed as representation and narrative viewed as action, interaction, and intersubjective communication. The vision of narrative emerging in this way undergirds the cultural case: all forms of narrative − whatever their media and semiotic environments (whether written, oral, visual, musical, multimodal, or electronically mediated) − must be conceived of as practices within specific cultural worlds. To put it in Wittgensteinian terms, narrative practices are cultural forms of life (Brockmeier and Harré 2001).
3. Meaning-making and cultural agency Writing and narrative are different linguistic formats, but they do not denote categorically different domains, orders, or levels of linguistic discourses (or cultural practices, for that matter). Rather, they overlap and intermingle in many ways. Furthermore, their simultaneous rise as epistemic subjects over the last half century − which, as I have
43. Literacy and narrative argued, has also exposed them as subjects of cultural inquiry and reflection − has brought to the fore several common characteristics. These have broadened not only our understanding of literacy and narrative, but also of language and its cultural nature in general. To conclude, I want to outline some of these common features of writing and narrative that are key elements of the new cultural vision of language. A first communality is that both literacy practices and narrative practices do not realize principles of universal logic, deep structural rule systems, or biological programs; they are forms of action (and agency) bound into the traditions and conventions of cultural worlds. Closely connected to this point is the assumption that writing and narrative stake out specific economies of meaning construction. We even can say that unfolding and understanding meaning is at the heart of all practices of literacy and storytelling. On this view, these practices are, from the very beginning, interpretive activities of communication − which builds on the insight that the basic units of all human meaningmaking are contexts of dialogue (or discourse, or conversation, or any other intersubjective encounter). This is another insight that has gained prominence in the field of language studies only over the last half century, propelled by research and scholarship drawing on authors such as Wittgenstein, Bakhtin, Vygotsky, and research from ethnographic and hermeneutic traditions, all of which have developed independently from mainstream academic linguistics. Interpretive activities of meaning construction are also involved in a broad spectrum of reflexive qualities inherent to writing and narrative. These qualities are evident, among others, in cognitive operations intertwined with and dependent on the use of writing and narrative, as in processes of problem solving, planning, and organizing complex actions and thoughts. Perhaps the most powerful way to distance ourselves from the immediacy of events and experiences is, as Bruner (2002) noted, to convert what we have encountered into story form. In fact, how can complicated thoughts, visions, and imaginings take shape without narrative? How could there be extended philosophical, scientific, and legal reasoning without writing? How could we envision the multilayered temporal scenarios and gestalts of time − whether real or fictive, realistic or fantastic − without the constructive and creative potentials of narrative and written discourse? All these reflexive and cognitive options are connected to a specific quality of written and narrative language: it draws attention to language itself. Both writing and storytelling make us aware of the constructive and creative potential of language. Metalinguistic awareness, the knowledge and consciousness of (oral and written) language that is brought about by learning to write and to read, has been extensively investigated in literacy studies (Homer 2008). This awareness of language finds an equivalent in the development of storytelling (Nelson 2007). Metanarrative awareness comes with a sense of language and communication that permits storytellers and storylisteners to assess the appropriateness of form, content, and performance of a narrative vis-à-vis a specific situation and a particular discursive environment. To put the same point another way, metanarrative awareness reflects the cultural situatedness (and, that is, the efficacy) of acts of “narrative worldmaking” (Herman 2009b). At stake, then, are forms of cultural agency. Cultural agency is the ability to act and interact in a given cultural world, which today almost always is the world of a literate culture (Brockmeier 2004). Within the framework that I have suggested, cultural agency is the basic trajectory on which both literacy and writing are to be localized as our perhaps most powerful practices of meaning-making.
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III. Cultures of communication
4. Selected references Alber, Jan and Monika Fludernik (eds.) 2010 Postclassical Narratology. Approaches and Analyses. Columbus, OH: Ohio State University Press. Brockmeier, Jens 1998 Literales Bewusstsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur. München: Fink. Brockmeier, Jens 2004 Literale Kultur. In: Ludwig Jäger und Erika Linz (Hg.), Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, 277−304. München: Fink. Brockmeier, Jens 2012 Narrative Scenarios. Toward a Culturally Thick Notion of Narrative. In: Jaan Valsiner (ed.), Oxford Handbook of Culture and Psychology, 439−467. Oxford and New York: Oxford University Press. Brockmeier, Jens 2015 After the Archive: Narrative, Memory, and the Autobiographical Process. Oxford and New York: Oxford University Press. Brockmeier, Jens and Rom Harré 2001 Narrative. Problems and Promises of an Alternative Paradigm. In: Jens Brockmeier and Donal Carbaugh (eds.), Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture, 39−58. Amsterdam/Philadelphia, PA: John Benjamins. Brockmeier, Jens and David R. Olson 2009 The Literacy Episteme. From Innis to Derrida. In: David R. Olson and Nancy Torrance (eds.), The Cambridge Handbook of Literacy, 3−21. Cambridge: Cambridge University Press. Brockmeier, Jens, Min Wang and David R. Olson (eds.) 2002 Literacy, Narrative and Culture. Richmond: Curzon Routledge. Bruner, Jerome 1990 Acts of Meaning. Cambridge, MA: Harvard University Press. Bruner, Jerome 2002 Narrative distancing. A foundation of Literacy. In: Jens Brockmeier, Min Wang and David R. Olson (eds.), Literacy, Narrative and Culture, 86−93. Richmond: Curzon Routledge. Burke, Peter 2000 A Social History of Knowledge. From Gutenberg to Diderot. Cambridge: Polity. Derrida, Jacques 1967 De la grammatologie. Paris: Editions de Minuit. Derridas, Jacques 1967 L’écriture et la différence. Paris: Editions du Seuil. Fludernik, Monika 1996 Towards a ʻNaturalʼ Narratology. London: Routledge. Goody, Jack 1986 The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge: Cambridge University Press. Harris, Roy 1986 The Origin of Writing. London: Duckworth. Harris, Roy 2000 Rethinking Writing. Bloomington, IN: Indiana University Press.
44. Mediale Kulturen: Bildlichkeit
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Jens Brockmeier, Paris (France)
44. Mediale Kulturen: Bildlichkeit 1. Einleitung 2. Bildlichkeit im engeren Sinn und uneigentliche Bildlichkeit
3. Das Transzendieren des Hier und Jetzt 4. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Evolutionstheoretisch betrachtet, sind die Kompetenz zur Mediennutzung und ihre zunehmend intensivere Performanz keine kontingenten Bestimmungen des Homo sapiens. Zu vermuten ist vielmehr, dass sich die Fähigkeit, etwas als Medium zu verwenden, und das zunehmende Bedürfnis, die Verwendung von Medien gesellschaftlich flächen-
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III. Kulturen der Kommunikation deckend zu organisieren, anthropologisch sehr elementaren Zielsetzungen verdanken. Im Folgenden werden wir zu den anthropologisch elementaren Zielsetzungen einerseits das Bedürfnis nach zunehmender Überwindung der biologischen Beschränkungen in Raum und Zeit, andererseits das Bedürfnis nach Selbstverständigung zählen. Beide Bedürfnisse können nur durch die Verwendung von Medien verfolgt bzw. erfüllt werden. Dies ist als Medienapriori bezeichnet worden (vgl. hierzu kritisch Krämer 2008). Einleitend möchten wir in einem ersten Schritt zunächst unsere Position des Medienapriori sowie die beiden angenommenen Bedürfnisse erläutern, die einer Konstitution und Verwendung von Medien zugrunde liegen. Komplexe intermediale Verbindungen (etwa Text-Bild-Bezüge) und die mediale Unterstützung einer (historisch immer neu auszuhandelnden) kulturellen Semantik entstehen unseres Erachtens erst als eine Folge dieser anthropologischen Verankerung. Das gilt ebenfalls für die technische Entwicklung, die zwar die jeweils historische Gestalt der Medien ganz entscheidend prägt, ohne eine entsprechende anthropologische Verankerung der Medien aber unverständlich bliebe.
1.1. Medienapriori Unter Medienapriori verstehen wir die These, dass die Verwendung von Medien eine notwendige Bedingung für den Übergang des anatomisch modernen Menschen zum verhaltensmäßig modernen Menschen darstellt. Eine ähnliche These, mit der die Bilder in ihrer eigentlich anthropologischen Dimension gewürdigt werden, hat bereits Hans Jonas in seinem Aufsatz Homo Pictor und die Differentia des Menschen vertreten (vgl. Jonas 1961). Den Übergang zum verhaltensmäßig modernen Menschen verstehen wir hierbei nicht als einen Schritt der Externalisierung präexistenter mentaler Gehalte zum Zweck der kommunikativen Vermittlung, sondern eher umgekehrt als eine Weise, sich über die Internalisierung externer (und damit sozial sanktionierbarer) Symbolisierungen eine Innenwelt gewissermaßen erst zu erschaffen. Die Zuschreibung von Bedeutung ist dieser Auffassung zufolge ein soziales Phänomen, das physische und psychische Aspekte in eigentümlicher Weise verschränkt und über den Einsatz von Medien, insbesondere von visuellen Medien, zur Stabilisierung des psychischen Bezugsraumes entscheidend beiträgt. Über die visuellen Medien liefert Bildlichkeit damit einen elementaren Baustein bei der Erzeugung von Bedeutung, der in bisher noch nicht befriedigend erforschter Weise den Zusammenhang von Sprache, Kultur und Kommunikation ermöglicht, in gemeinsamer Erfahrung verankert und so stabilisiert.
1.2. Überwindung von Beschränkungen in Raum und Zeit Die Annahme, dass Medien insgesamt und visuelle Medien in besonderer Weise zur Überwindung der Bindung an das Hier und Jetzt dienen, kann als eine eher traditionelle Annahme gelten. Die übliche Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Medien lässt sich in dieser Weise rekonstruieren (vgl. Schirra und Sachs-Hombach 2009). Die gesellschaftliche Bedeutung einer Überwindung von Einschränkungen in Raum und Zeit anhand von Medien hat insbesondere die kanadische Schule der Medientheorie (siehe hierzu Innis 1951: 61−65) hervorgehoben: Zahlreiche ökonomische und politische Struk-
44. Mediale Kulturen: Bildlichkeit turen wurden erst durch die mit dem Einsatz von Medien geschaffene räumlich und zeitlich ausgedehnte Verfügungsgewalt ermöglicht.
1.3. Selbstverständigung Medien sind mit dem ihnen eigenen Ausgreifen in Raum und Zeit auf Welt bezogen. Dieser Sachbezug schafft aber unvermeidlich eine Rückwirkung auf die Subjekte, die sich in ihrem Verhältnis zur Welt neu erfahren und einen entsprechenden Selbstbezug herstellen müssen. Dies leisten Medien ursprünglich (also in paläoanthropologischer Perspektive), indem sie ein sozial stabilisiertes Bewusstsein der eigenen Subjektivität überhaupt erst generieren. Darüber hinaus leisten Medien Selbstverständigung in der Regel mit jedem einzelnen kommunikativen Akt, insofern Kommunikation neben dem Sachaspekt immer auch expressive und soziale Aspekte aufweist. Indem wir uns mit Medien verständigen, verständigen wir uns immer auch und zugleich über uns selbst und über die sozialen Beziehungen, in denen wir uns mit den Kommunikationspartnern sehen.
2. Bildlichkeit im engeren Sinn und uneigentliche Bildlichkeit Vom alltäglichen Sprachgefühl her wäre Bildlichkeit das, was allem, was bildlich ist, wesentlich zukommt, also das, was unabdingbar ist, um einen Gegenstand zu einem Bild zu machen. Nun ist der Ausdruck Bildlichkeit in der Alltagssprache gegenüber dem zugrunde liegenden Adjektiv bildlich eher unüblich und vor allem in der wissenschaftlichen Fachsprache anzutreffen. Die Analyse seiner Bedeutung, d. h. des unter dem Ausdruck gefassten Begriffs Bildlichkeit im engeren Sinn, besteht dann prinzipiell in der Klärung der begrifflichen Relationen rund um den Begriff Bild und der entsprechenden Begründungen.
2.1. Bildlichkeit im engeren Sinn: Medien mit wahrnehmungsnahen Zeichen Was Bilder sind, glaubt jedermann wohl ohne Weiteres zu wissen. Doch ist die Fachwelt keineswegs optimistisch, sich auf einen allgemein akzeptierten Begriff Bild einigen zu können. So ist etwa die Zuordnung sogenannter sprachlicher Bilder − Metaphern also − nicht ohne Weiteres klar. Ähnliches gilt für die Phänomene, auf die mit durchaus häufig verwendeten Ausdrücken wie etwa Weltbild, Feindbild, Selbstbild oder Vorstellungsbild verwiesen wird. Selbst innerhalb des zentralen Phänomenbereichs gibt es große Unterschiede: Realistische, abstrakte, strukturelle oder reflexiv gebrauchte Bildtypen (um nur einige zu nennen) sind nicht einfach auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Weitgehende Einigkeit besteht unter den gegenwärtigen Bildforschern jedoch darin, dass eine ausgearbeitete Analyse des Begriffsfeldes um den Begriff Bild die folgenden Differenzierungen aufgreifen sollte: 1. bei vielen, aber nicht bei allen Bildern kann von etwas Abgebildetem geredet werden. 2. Wenn wir von etwas Abgebildetem sprechen (das im Übrigen fiktiv
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III. Kulturen der Kommunikation sein mag), kann das entweder etwas sein, was man visuell wahrnehmen kann (oder könnte, wenn es anwesend wäre) oder nicht: Im ersten Fall kann das (dann oft als darstellend bezeichnete) Bild dem Abgebildeten visuell mehr oder weniger ähneln − das darstellende Bild ist mehr oder weniger naturalistisch (bzw. weniger oder mehr abstrahiert). Im zweiten Fall − etwas Nichtvisuelles wird abgebildet − handelt es sich um ein Strukturbild, dem eine metaphorische Projektion des Nichtvisuellen auf etwas visuell Wahrnehmbares zugrunde liegt, so dass auch hier von Wahrnehmungsnähe gesprochen werden kann. 3. Alle Bilder, auch die ohne Abgebildetes, können zudem dazu verwendet werden, auf Aspekte der Bildverwendung selbst exemplarisch hinzuweisen: Das ist der reflexive Gebrauch des Bildes. Ein sehr markantes Merkmal der visuellen Medien besteht darin, dass sie im Verhältnis zu arbiträren Medien einen gewissen Grad der Motiviertheit aufweisen: ihre Wahrnehmungsnähe (vgl. Sachs-Hombach 2003). Nun sind Gegenstände nicht einfach von sich aus Bilder, vielmehr werden sie als Bilder von jemandem begriffen. Daher sollte die Frage nach der Bildlichkeit im engen Sinn genauer besehen lauten: Welche Qualitäten eines als Bild aufgefassten Gegenstandes erfordern welche Kompetenzen bei dem Wesen, das den Gegenstand als Bild begreift? So sind gemeinhin bestimmte Wahrnehmungskompetenzen vonnöten − etwa die, visuelle Ähnlichkeiten als solche zu erkennen; aber auch die Kompetenzen zu bestimmten Arten kommunikativ-medialen Verhaltens oder zum Zeichengebrauch werden regelmäßig als konstitutiv gesehen. Wahrnehmungsnähe erleichtert zwar die Interpretation, macht Bilder aber keineswegs semantisch selbstgenügsam. Auch Bilder besitzen keine intrinsische, natürliche Bedeutung, vielmehr ist Bedeutung immer ein soziales Phänomen. Ein Bild enthält daher zwar Hinweise auf die kommunikative Bedeutung, indem mit seiner Verwendung etwas gezeigt wird, was wir in der Regel visuell erkennen können, und uns so die Interpretation auf elementarer Ebene erleichtert wird. Bilder können aber in der Regel nicht die kommunikativen Intentionen zeigen, die ihrer Verwendung zugrunde liegen. Diese müssen daher z. B. durch die Gebrauchssituation, wozu auch die spezifischen Überzeugungen der Kommunikationspartner gehören, abgesichert werden. Mit Bildern wird also etwas gezeigt, ohne dass mit ihnen bereits automatisch zu verstehen gegeben würde, weshalb mit ihnen genau dies gezeigt wird.
2.2. Übertragung auf andere Medien: uneigentliche Bildlichkeit Wenn etwa die sprachliche Beschreibung einer Landschaft als besonders bildhaft gilt, wird allerdings kaum jemand argumentieren wollen, es handele sich dabei im selben engeren Sinn um ein Bild, wie es bei einem Landschaftsgemälde unzweifelhaft wäre. Doch soll mit der Zuschreibung von Bildhaftigkeit eine gewisse Eigentümlichkeit jenes Textes angesprochen werden: In gewisser Weise zumindest wirke der Text wie ein Bild, teile also wenigstens in eingeschränkter Weise Aspekte mit Bildern. Es geht daher um eine partielle Strukturübertragung des Bildbegriffs und seines Umfelds auf Begriffsfelder für ganz andere Phänomenbereiche, d. h. eine Metapher im Sinn der Kognitiven Linguistik (Lakoff and Johnson 1980). Wer eine Metapher als ein Sprachbild bezeichnet, wird meist doch zugestehen, dass damit keineswegs ein Bild im üblichen Sinn gemeint ist: Vielmehr wird der Ausdruck gemeinhin selbst als ein Sprachbild verstanden. Allerdings ist die Bezeichnung dabei
44. Mediale Kulturen: Bildlichkeit auch nicht rein zufällig äquivok. Die Ähnlichkeit des Ausdrucks ist durch bestimmte Ähnlichkeiten in der Erscheinungsweise der beiden betrachteten Phänomenbereiche − bzw. genauer: unserer Argumentationen zu den Bereichen − motiviert. Dass ein Teil der begrifflichen Struktur, also der Argumente stiftenden Zusammenhänge zwischen eng verbundenen Begriffen eines unserer Begriffsfelder, in einer mehr oder weniger weiten, aber stets unvollständigen Isomorphiebeziehung mit der begrifflichen Struktur eines ganz anderen von uns verwendeten Begriffsfeldes steht, ermöglicht uns, über die Phänomene, die unter Ersteres fallen, in gewissen Grenzen so zu reden und so zu argumentieren, als würde es um Phänomene unter dem zweiten Begriffsfeld gehen. So kann beispielsweise von Lebensform als Weltbild nur dann die Rede sein, wenn der Begriff der Lebensform als partiell strukturgleich zu dem des betrachteten Bildbegriffs verstanden wird: Man kann aber auch ganz ohne Verwendung des Bildbegriffs über dasselbe Phänomen reden (zumindest sofern nicht behauptet werden soll, es würde sich dabei tatsächlich um eine echte Art von Bild handeln). Tatsächlich kann eine solche metaphorische Zuschreibung von Bildhaftigkeit nicht nur für sprachliche Medien (Ausdrücke, Texte) Anwendung finden, sondern ganz generell selbst für nicht-mediale Vorkommnisse. Das reicht von bildhaften Gesten bis zur (Vor-)Bildlichkeit von Personen und Ereignissen. Welche Aspekte der Bildlichkeit im engeren Sinn sind dann für die Übertragung zur uneigentlichen Bildlichkeit relevant? Hier hilft ein Blick auf die Beziehung zwischen Sprache und Bild.
3. Das Transzendieren des Hier und Jetzt Der Gebrauch von propositionaler Sprache und der Gebrauch von Bildern hängen wesentlich enger zusammen, als gemeinhin angenommen wird. Angelpunkt dieses Zusammenhanges ist das Faktum, dass sowohl Bilder als auch propositionale Sprache sich prinzipiell als eine Hinwendung zu einer Situation darstellen, die der Äußerungs- bzw. Präsentationssituation nicht zu entsprechen braucht. Das unterscheidet sich grundlegend von den Fähigkeiten selbst höherer Tiere. Die Fähigkeit, das Hier und Jetzt zu transzendieren, äußert sich jeweils in einem Akt der Kontextbildung.
3.1. Situationsbezug von Sprache und Bild Dass propositionale Sprache ein ausgezeichnetes Werkzeug darstellt, um sich auf nicht anwesende Situationen zu beziehen, ist eine Trivialität: Wer eine sprachliche Handlung mit Proposition vollzieht, stellt sich seinen Gesprächspartnern damit insbesondere (und neben anderem) dar als jemand, der seine Aufmerksamkeit auf eine in der Regel abwesende Situation richtet und sich über Sachverhalte in jenem Kontext verständigen möchte. Die Kontextbildung, die Voraussetzung für diese Hinwendung ist, wird in der Regel, wenn auch nicht ausschließlich, ebenfalls sprachlich vollzogen: Das reicht von impliziten Hinweisen, etwa durch das Verbtempus, über ausdrückliche Orts- und Zeitangaben (gestern Mittag auf dem Viktualienmarkt) bis zu Verweisen auf fiktive, medienvermittelte Situationen (in Tolstojs „Krieg und Frieden“).
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III. Kulturen der Kommunikation Der besondere Situationsbezug von Bildern (oder allgemeiner: wahrnehmungsnahen Zeichen) besteht darin, dass ihre Verwendung es den Nutzern erlaubt, sich einander wechselseitig darstellen zu können als Personen, die gemeinsam etwas sehen (allgemeiner: wahrnehmen), was in der aktuellen Situation eigentlich nicht gesehen (respektive wahrgenommen) werden kann. Das wird üblicherweise so formuliert, dass das Bild den Bildverwendern erlaube, von der aktuellen Situation aus eine andere Situation wahrzunehmen. Natürlich kann (und wird in der Regel auch) die piktoriale Kontextbildung in auf sie aufbauenden propositionalen Äußerungen aufgegriffen.
3.2. Abhängigkeit der Bildkompetenz von der Sprache Tatsächlich ist davon auszugehen, dass die gegenseitige Abhängigkeit von Sprach- und Bildfähigkeit eine logische Abhängigkeit ist: Diese Abhängigkeit, die auch phylogenetisch wirksam war, besteht darin, dass Wesen, die Sprache gebrauchen, notwendig mit wahrnehmungsnahen Zeichen wie Bildern umgehen können müssen, und umgekehrt Wesen, die Bilder gebrauchen, notwendig sprachbegabte Wesen sind (vgl. Schirra und Sachs-Hombach 2006). Traditionell wird die eine Richtung der Argumentation als weniger problematisch angesehen: Bildgebrauch setzt Sprachfähigkeit voraus, weil die entsprechenden Wesen fähig sein müssen, die aktuelle Erscheinung eines Gegenstandes in der Wahrnehmung regelhaft mit beliebigen vergangenen, zukünftigen, hypothetischen und potenziellen Erscheinungen derselben Gegenstände in ganz anderen Kontexten in Beziehung zu setzen. Sie müssen nämlich in der Lage sein, zwischen aktueller Erscheinung eines individuellen Gegenstands und dem Gegenstand selbst (und damit zwischen Ähnlichkeit und Gleichheit) zu differenzieren, um so im Bild dargestellte Gegenstände situationsunabhängig zu identifizieren. Das einzige verlässliche Kriterium dafür ist der Gebrauch von Zeichen mit propositionalem Gehalt. Die Fähigkeit, Bilder zu gebrauchen, kann mithin frühestens bei Wesen auftreten, die eine Fähigkeit zum Gebrauch propositionaler Zeichenkomplexe besitzen. Als wahrnehmungsnahe Zeichen begriffen, sind Bilder also nur im Verhältnis zu propositionaler Sprache begrifflich-systematisch verständlich zu machen.
3.3. Abhängigkeit der Sprachkompetenz vom Bild: initiale Kontextbildung Stimmt die Annahme von der wechselweisen Abhängigkeit, dann sollte auch das Umgekehrte gelten: Auch der Gebrauch von propositionaler Sprache wäre nur in direkter begrifflicher Relation zu wahrnehmungsnahen Zeichen (Bildern) zu begreifen. Diese Annahme wird mit dem folgenden wesentlichen Gedanken aus dem Begriff der Kontextbildung (Schirra 2001) plausibel. Um das in einer Proposition behauptete Zutreffen bestimmter Begriffe auf die angegebenen Einzelgegenstände empirisch zu überprüfen, müsste man die aktuelle Verhaltenssituation verlassen und die relevanten Kontexte aufsuchen. Gedanklich − ohne Kontextwechsel − ist durch die verfügbaren Schlussverfahren aber höchstens eine logische Konsistenzprüfung mit dem Vorwissen möglich. Durch die Ähnlichkeit des Bildes wird hingegen eine Situation derart heraufbeschworen, dass der Bildnutzer sich darstellen kann als jemand, der diese Situation tat-
44. Mediale Kulturen: Bildlichkeit sächlich wahrnimmt (obgleich er weiß, dass sie nicht da ist). Die mit dem wahrnehmenden Zuordnen zu einem Begriff verbundenen sensomotorischen Testroutinen sind damit direkt anwendbar. Dieser andere Kontext ist nicht wie bei einer rein sprachlichen Kontextbildung völlig von der aktuellen Situation des Zeichengebrauchs abgetrennt und erlaubt deshalb eine empirische Vergegenwärtigung. Wahrnehmungsnahe Zeichen können daher eine Mittlerrolle einnehmen, um uns verständlich zu machen, wie die begriffliche Kluft, die zwischen Wesen mit situationsabhängigen Signalsprachen und Wesen mit situationsunabhängigen propositionalen Sprachen besteht, überbrückt werden kann: Die initiale Kontextbildung kann nicht bereits rein sprachlich erfolgt sein, sie ist an die Vermittlung durch ein wahrnehmungsnahes Medium gebunden (vgl. Schirra and SachsHombach 2013).
3.4. Kontextbildung und Imagination: Bildlichkeit als Phänomen medialer Kulturen Wie ist vor diesem Hintergrund die uneigentliche Bildhaftigkeit etwa von sprachlichen Zeichen zu verstehen? Sie hängt, folgt man zunächst den Alltagserklärungen, mit der Fähigkeit des Textes zusammen, ein mentales Bild des Beschriebenen zu evozieren. Die Rede von mentalen Bildern ist allerdings ausgesprochen heikel, wird doch in direkter Lesart eine Art Gegenstand vorausgesetzt, der ein Bild ist, das gleichwohl aus Prinzip nur von einem Einzigen betrachtet werden kann − keine gute Voraussetzung für rationale Argumente noch für Zeichengebrauch. Günstiger erscheint eine Auffassung, die den Ausdruck metaphorisch versteht. Genauer geht es ja nicht um mentale Bilder als Untersuchungsgegenstände, sondern um das Haben von mentalen Bildern von jemandem. Die damit abgedeckten Phänomene lassen sich ebenfalls recht gut fassen durch: sich etwas visuell vorstellen − eine Formulierung, die ohne zweifelhafte Reifizierung auskommt. Die mentalen Phänomene, die durch jene Formulierungen bezeichnet werden, sind, im Einklang mit dem Medienapriori, als Interiorisierungen externer sozialer Verhaltensweisen zu verstehen. Es handelt sich, recht besehen, darum, dass sich derjenige, der sich etwas visuell vorstellt (ein entsprechendes mentales Bild hat), anderen gegenüber darstellt als einer, der etwas sieht, was in der aktuellen Situation nicht gesehen werden kann. Das ist offensichtlich eine Parodie der Bildverwendungssituation, in der er sich ja ebenfalls darstellt als einer, der etwas sieht, was nicht da ist − aber dort können sich alle beteiligten Kommunikationspartner gemeinsam so darstellen, da mit Bildern eine empirische Vergegenwärtigung erfolgt. Wenn von jemandem behauptet wird, er habe ein bestimmtes mentales Bild, so wird seine Fähigkeit zur rein logischen Kontextbildung in Beziehung gesetzt zur wechselseitig empirisch überprüfbaren Kontextbildung mit wahrnehmungsnahen Zeichen. Die logische Kontextbildung wird als quasiempirische aufgefasst. Ausdrücke, Texte und andere Formen der nicht-piktorialen Mediennutzung haben die Eigenschaft, mehr oder weniger stark eine solche quasiempirische Kontextbildung auszulösen: Sie bringen den Zeichenverwender dazu, sich als einen darzustellen, der etwas Nichtanwesendes sehen (allgemeiner: wahrnehmen) kann. Bildhaft sind also jene medialen Äußerungen, die sich in besonderem Maß dazu eignen, sich als jemanden darzustellen, der etwas wahrzunehmen vermag, was aktuell (oder prinzipiell) nicht wahrgenommen werden kann.
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III. Kulturen der Kommunikation Die Zuschreibung von Bildlichkeit im metaphorischen wie im engen Sinn weist auf spezielle Formen der Bedeutungsgenerierung hin, die durch ihre Wahrnehmungsnähe ein höheres Maß an Motiviertheit aufweisen und die daher geeignet scheinen, stabilisierend auch auf die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zu wirken. Bildlichkeit ist also ein allgemeines und sehr elementares Merkmal medialer Kulturen, das immer dann auf den Plan tritt, wenn abstrakte Bedeutungshorizonte in situationsunabhängiger Kommunikation an die empirischen Wahrnehmungskontexte zurückgebunden werden sollen.
4. Literatur (in Auswahl) Innis, Harold Adams 1951 The Bias of Communication. Toronto: University of Toronto Press. Jonas, Hans 1961 Homo Pictor und die Differentia des Menschen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 15(2), 161−176. Krämer, Sybille 2008 Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lakoff, George and Mark Johnson 1980 Metaphors We Live by. Chicago: University of Chicago Press. Sachs-Hombach, Klaus 2003 Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. Schirra, Jörg R. J. 2001 Bilder − Kontextbilder. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen, 77−100. Magdeburg: Scriptum. Schirra, Jörg R. J. und Klaus Sachs-Hombach 2006 Fähigkeiten zum Bild- und Sprachgebrauch. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54(6), 887−905. Schirra, Jörg R. J. und Klaus Sachs-Hombach 2009 Medientheorie, visuelle Kultur und Bildanthropologie. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des visualistic turn, 393−426. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schirra, Jörg R. J. and Klaus Sachs-Hombach 2013 The Anthropological Function of Pictures. In: Klaus Sachs-Hombach and Jörg R. J. Schirra (eds.), Origins of Pictures. Anthropological Discourses in Image Science, 132− 159. Köln: Halem.
Klaus Sachs-Hombach, Tübingen (Deutschland) und Jörg R. J. Schirra, Chemnitz (Deutschland)
45. Mediale Kulturen: Lautlichkeit
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45. Mediale Kulturen: Lautlichkeit 1. Einleitung: Lautlichkeit − begriffliche Vorerwägungen 2. Lautlichkeit: Verlautbarung 3. Lautlichkeit: die Stimme als Medium
4. Medien der Lautlichkeit 5. Resümee 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung: Lautlichkeit − begriffliche Vorerwägungen Kulturelle Kommunikation entfaltet sich in verschiedenen Kommunikationsmodi, die in der Regel miteinander verschränkt sind oder aber je dominierend einzelne Kommunikationsformen bestimmen. In der langen Evolutionsgeschichte der Sprachkommunikation setzt sich Lautlichkeit erst spät gegen visuell-gestische Kommunikationsformen durch und kann seit ca. 100 000 Jahren als dominierende Kommunikationsmodalität gelten (vgl. Corballis 1999; Jäger 2001a, 2010). Freilich bleibt die sprachliche Kommunikation, auch nachdem sich Lautlichkeit als vorherrschender Modalität etabliert hat, eng mit visuellgestischen Momenten verwoben (vgl. Artikel 90; ebenso etwa Armstrong, Stokoe and Wilcox 1995). Durch die fortschreitende technische Medialisierung der Kommunikation rückt Lautlichkeit dann zunehmend in einen sich ausdifferenzierenden Horizont weiterer Kommunikationsmodi wie Schriftlichkeit (vgl. Artikel 43; ebenso etwa Aust 1983, Giesecke 1992), Bildlichkeit (vgl. Artikel 44; ebenso etwa Krämer 2010), Schriftbildlichkeit (Krämer, Cancik-Kirschbaum und Totzke 2012) und Audiovisualität (vgl. Artikel 46; ebenso etwa Holly 2006, 2007, 2010; Jäger 2001a; Benthien und Weingart 2014) ein. Sie steht insofern immer in einem multimodalen und intermedialen Zusammenhang zu anderen Kommunikationsmodi und Medien (vgl. u. a. Deppermann und Linke 2010). Dabei substituieren die technisch-medialen Entwicklungen der Kommunikation Lautlichkeit keineswegs; sie bleibt vielmehr als ein mit anderen in unterschiedlicher Weise interagierender dominanter Kommunikationsmodus erhalten. In der neueren kulturwissenschaftlichen Debatte wird der Begriff der Lautlichkeit entweder nur peripher und nicht-terminologisch im Horizont des Stimmdiskurses verwendet (etwa Krämer 2003: 65, 2006: 276, 2010: 17); oder er wird als Eigenschaft von Kommunikationsformen angesehen, die − etwa im Hörraum des Theaters − über sprachliche Kommunikation hinausgehen (Fischer-Lichte 2004: 209−227, 213). Im Rahmen dieses Artikels wird Lautlichkeit in Abgrenzung von den oben genannten Kommunikationsmodi wie Bildlichkeit, Schriftlichkeit, Audiovisualität und Gestikalität als eine vor allem für sprachliche Kommunikation konstitutive Modalität angesehen, die sich im Gegensatz zu der Manualität der Gebärdensprachen (vgl. Artikel 91) vor allem stimmlich realisiert. Allerdings stehen dabei nicht die physikalischen, physiologischen und strukturellen Eigenschaften lautlicher Phänomene, wie sie etwa in Phonetik und Phonologie (vgl. etwa König und Brandt 2006; Clark and Yellop 1990; Stock 1993; Pompino-Marschall 1995) bzw. in der Sprechwissenschaft (Bose 2010) zum Gegenstand der Forschung werden, im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern mediale Eigenschaften, wie sie sich vor allem in der Stimme (Epping-Jäger und Linz 2003; Kolesch und Krämer 2006) im Kontext ihrer kulturhistorisch variierenden dispositiven Rahmungen entfalten (vgl. Krämer
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III. Kulturen der Kommunikation 2003; Sterne 2003; Fischer-Lichte 2004; Kolesch und Krämer 2006; Lagaay 2011; Epping-Jäger 2006, 2013).
2. Lautlichkeit: Verlautbarung Von der Stimme und ihrer Lautlichkeit ist in den Diskursen der abendländischen Philosophie bevorzugt dann die Rede, wenn es um die Frage nach dem Menschen geht, denn es war gerade der Lautcharakter der Stimme, dem der Selbstausdruck des Lebendigen zugesprochen wurde. Sie ist − so Hegel − „die Hauptweise, wie der Mensch sein Inneres kundtut; was er ist, das legt er in seine Stimme“ (Hegel 1970: 109). Im Unterschied zum bloßen Klang eines materiellen Körpers (Waldenfels 2006: 191) verknüpfte man Stimme mit der Vorstellung von einem Selbst, das „je nach Konzeption […] Ausdruck für eine Person, ein Subjekt oder ein Selbstbewegtes sein soll“ (Scholz 2003: 36; hierzu kritisch Derrida 2003). Lautlichkeit wurde so zu einer anthropologischen Zentralkategorie. Diese im Grunde von der Antike bis zur Gegenwart verbreitete Vorstellung führte dazu, dass die Stimme als gleichsam prämediale, natürliche Ausdrucksform des Menschen, als „ein von der Empfindung unmittelbar hervorgebrachtes Tönen“ (Hegel 1970: 111), angesehen wurde, als eine Verlautbarung der „inneren Empfindungen“, die „ohne den Wille des Empfindenden“ operiert (Hegel 1970: 111). Aber auch in einer zweiten Hinsicht fungierte in dieser Denktradition die Lautlichkeit der Stimme als ein Mittel der Verlautbarung: wenn sie als − so noch einmal Hegel − „artikulierte Sprache“ zu der „höchsten Weise“ wird, „wie der Mensch sich seiner innerlichen Empfindungen entäußert“, sie „zu Worte kommen“ lässt (Hegel 1970: 116). In gewissem Sinne tritt in dieser zweiten Hinsicht die Lautlichkeit von ihrem anthropologischen in ihr mediales Stadium über: Der Laut wird − so Bühler − zu einem medialen Produkt (Bühler 1978: 31). Neben die „physiognomische“ Dimension der Stimme tritt ihre „semiotische“ Funktion (Krämer 2006: 274 ff.). Freilich hat insbesondere der jüngere Diskurs der Kultur- und Medienwissenschaften, indem er Fragen nach Aisthetik und Medientechnik miteinander zu verknüpfen begann (Göttert 1998; Waldenfels 1999; Kittler, Macho und Weigel 2002), gezeigt, dass bereits der vorgeblich naturalen Instanz der Stimme ein medialer Status eignet (Epping-Jäger und Linz 2003; Waldenfels 2006: 202). „Die Stimme ist ein Faktum der Vernunft, nicht der Natur […]“ (Macho 2006: 132). Bereits die anthropologische Lautlichkeit wird als eine mediale Lautlichkeit konzeptualisiert. Es ist wohl diese Einsicht, die die Stimme sowie die mit ihrer Performativität verbundene Medialität in das Zentrum der Diskurse um den sogenannten performative turn der Kulturwissenschaften (Fischer-Lichte 2001) rücken ließ (Krämer 2000; Mersch 2002; Fischer-Lichte 2004; Kolesch und Krämer 2006; Lagaay 2011) und sie in ihrer kulturellen Lautlichkeit zu einem neuen Reflexionsgegenstand in Philosophie, Literatur-, Sprach- und Sprechwissenschaft (Pott 1995; Couper-Kuhlen and Selting 1996; Koschorke 1999; Meyer-Kalkus 2001; Eggers 2003; Bogner et al. 2005; Blödorn und Langer 2006; König und Brandt 2006; Wiethölter 2008) machte.
2.1. Verlautbarung: etwas zum Ausdruck bringen Die zweifache, bis in die Gegenwart wirksame anthropologische und semiotische Bestimmung der Stimme geht auf eine Unterscheidung des Aristoteles zurück, der in der
45. Mediale Kulturen: Lautlichkeit Schrift Über die Seele als Stimme sowohl den „Laut eines beseelten Wesens“ als auch den „Ton von einer bestimmten Bedeutung“ bezeichnet (Aristoteles 1983: 307 f.). In seiner Sprachtheorie differenziert Aristoteles zwischen Stimme als „bloßem Kundgeben von Gefühlen, Schmerz oder Freude“ und der „mit der Zunge artikulierte[n] Stimme“, die nicht nur als natürliches Werkzeug fungiere, sondern als „Symbol für einen Begriff“ (vgl. Steinthal 2004: 253, 187). Im Folgenden soll zunächst die semiotische Bestimmung in den Blick genommen werden. Die Annahme, dass die Stimme im Dienst des Gedankens steht, dass sie ein − wenn nicht das − Mittel des Ausdrucks von Sinn und Bedeutung ist, lässt sich als ein theoretisches Konzept ansehen, das bis heute in der Geschichte der Sprachphilosophie, der Linguistik und auch der Literaturwissenschaft vorherrscht. Die Stimme wird in diesen Modellierungen in ihrer Lautlichkeit „zur Verlautbarung von etwas, das im Stillen bereits da ist und nur auf seinen Auftritt wartet“ (Waldenfels 2003: 20). Die artikulierte Stimme übernimmt in dieser Konzeptualisierung also die Funktion eines „custos“, eines „Wächter[s]“, der den Begriff lediglich als Zeichen begleitet, um ihn − so formulierte noch Kant − „gelegentlich zu reproduzieren“ (Kant 1975: 497). Die Stimme als Zeichen steht also grundsätzlich im Dienst der Begriffe, deren Ausdruckswerkzeug sie ist. Sie wird in der semiotischen Tradition primär als ein nach außen tretendes Verlautbarungsinstrument des Gedankens verstanden, das nur insofern bedeutsam ist, als es den Außenverkehr zwischen denkenden Subjekten − also den Gedankenaustausch − möglich macht. Das Denken macht sich die Lautlichkeit zunutze, um mit ihrer Hilfe Gedanken zu übertragen. Die klangliche und aisthetische Präsenz der Stimme, ihre Performativität, kommt nur insoweit ins Spiel, als sie zum Werkzeug der zu vermittelnden gedanklichen Inhalte wird (vgl. Jäger 2004; Svendbro 1999). Pointiert deutlich wird der Werkzeugcharakter der Verlautbarung im Horizont des rhetorischen Paradigmas. In der aristotelischen Rhetorik wird die Stimme im Rahmen der Vortrags- bzw. Darstellungskunst als ein Werkzeug figuriert, das über große Wirkung verfügt, ohne dass ihr freilich eine eigenständige Bedeutung zukäme. Sie bleibt als Zeichen des zu vermittelnden Inhalts „gebunden an die Sache, über die etwas zu sagen ist, und an die sprachliche Form, in der etwas gesagt wird“ (Rebmann 2005: 214). Als die zentrale Aufgabe des Vortrags wird das „Vor-Augen-Führen“ bestimmt, wobei die Stimme die Funktion übernimmt, das Vor-Augen-Geführte anschaulich und präsent zu machen (vgl. Ax 1986: 259; Rebmann 2005: 216). Da es in der antiken Rhetorik gilt, ein kommunikatives Ziel möglichst effektiv zu erreichen (vgl. Trabant 2003: 36), sollen Lautstärke, Tonhöhe und Rhythmus dem Darstellungsziel angepasst und der Stimmung entsprechend eingesetzt werden. Der Stimme fällt also im rhetorischen Paradigma allein die Funktion der Verlautbarung der vorab (schriftlich) konzipierten Rede zu. Trotz ihrer subalternen Rolle vermag die rhetorische Stimme allerdings aufgrund ihrer spezifischen Lautlichkeit durchaus das Verständnis dessen zu befördern, was sie verlautbart. Die stoische Ausdruckslehre etwa geht von der Annahme aus, die Stimme sei zur Übertragung der Gedanken insofern besonders geeignet, als sie Anteil am Ausdruck dessen habe, was das Gemüt bewege. Stimme wird hier in ihrer variabel inszenierbaren Lautlichkeit zum Medium des Affektausdrucks. Für Cicero etwa − wie später auch für Quintilian − „gibt die Stimme wie eine Vermittlerin die Stimmung, die sie aus unserem Gemütszustand empfangen hat, an den Gemütszustand der Richter weiter: sie ist nämlich der Anzeiger des denkenden Geistes und besitzt ebenso viele Verwandlungsmöglichkeiten wie dieser“ (Quintilian 2006: 277). Die die Interpretation tragende stimm-
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III. Kulturen der Kommunikation liche Verlautbarung, ihr Klang, ihr Rhythmus und ihre Artikulation unterstützen, was die pure Argumentation nur unter bestimmten Umständen schafft: das adäquate Verständnis der Rede herzustellen. In dem Maß, in dem die rhetorischen Ausdruckstechniken dann im Lauf des Mittelalters eine Abwertung erfahren, tritt die Subalternität der Stimme und ihrer Lautlichkeit noch stärker hervor. Augustinus etwa hatte in der Trinitätslehre logos mit verbum übersetzt und strikt zwischen innerem und äußerem Laut unterschieden; das Wort nimmt nur zum Zweck äußerer Kommunikation Lautgestalt an. Das innere Wort ist das eigentliche Wort; das andere, das äußere Wort nichts anderes als die vox verbi, die Stimme der Worte, die sinnliche Seite des Zeichens. Auch die Zeichen ihrerseits gelten Augustinus als zweitrangig: Man soll „die bezeichneten Dinge höher schätzen als ihre Zeichen, denn alles, was für etwas da ist, muss notwendigerweise weniger wert sein als das, dessentwegen es da ist“ (Augustinus 2002: 50, 25). Die Konzeption der „Sprache Gottes als einer stimmlosen Stimme“, die „Vorstellung vom Logos als einem klanglosen Wort“ tradierte sich durch die Ideengeschichte und lässt sich mit Koschorke als „Expatriierung der Stimme“ (Koschorke 1999: 334) verstehen: Der Stimme gegenüber „verstand sich die Selbstpräsenz des intuitiven Denkens stets als sprachfrei und lautlos“ (Borsche 1990: 324).
2.2. Verlautbarung: etwas kommt zum Ausdruck Auch in den zeitgenössischen Diskursen zur Stimme wird diese in der aristotelischen Doppelperspektive in den Blick genommen und als sogenanntes Schwellenphänomen thematisiert: Die Stimme sei sowohl „sinnlich und sinnhaft, somatisch und semantisch, diskursiv und ikonisch“, formuliert Krämer (2005b: 88). Die stimmliche Äußerung ist also − wie sich bislang gezeigt hat − in ihrer Lautlichkeit durch eine charakteristische Ambivalenz bestimmt: Als Schall ist sie unmittelbarer Ausdruck eines Inneren, als artikuliertes Zeichen Träger von Bedeutung. Sie enthält − und dieser Aspekt soll im Folgenden betrachtet werden − über ihre zeichenhafte Bedeutung hinaus ein in ihrer Lautlichkeit aufgehobenes Surplus, das sich nicht in der Verlautbarung von Sinn erschöpft. In ihr zeigt sich vielmehr etwas, was sich den Intentionen ihres Sprechers „als ein nicht vom freien Willen hervorgebrachtes Zeichen“ (Hegel 1970: 116) entzieht und als unmittelbarer Ausdruck der Seele verstanden wird: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden kann − kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaften hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann“ (Nietzsche 1956: 190) − oder, wie Böhme formuliert, die Stimme begleitet „das Gesagte mit einem affektiven Ton“ (Böhme 2009: 30). Weiterhin aber ermöglicht es die konstatierte enge Beziehung der Stimme zu den Empfindungen und Gefühlen (Geißner 1992; Kopfermann 2006; Kolesch 2003; Krämer 2006; Lagaay 2007; Pinto 2012), dass Stimme als Garant medialer Unvermitteltheit wahrgenommen wird: Sie wird so für die auf die Künste bezogene neuere Medienphilosophie in ihrer aisthetischen Dimension, ihrer Lautlichkeit, zur qualitas occulta ästhetischen Erlebens (vgl. Mersch 2006; Kolesch 2002; Krämer 2006; Schrödl 2012). So wird Stimme einerseits auf ihren (ästhetischen) Eigensinn hin betrachtet, andererseits aber auch als „physiognomische Dimension der Sprache“ verstanden, die sich in Klangfarbe und Rhythmus, Melos und Timbre manifestiere. Stimme, so Krämer, stelle eine „Spur des
45. Mediale Kulturen: Lautlichkeit Körpers im Sprechen“ dar (Krämer 2005a: 159; Sample 1996: 113−126), sie verhalte sich „zur Rede, wie eine unbeabsichtigte Spur sich zu einem absichtsvoll gebrauchten Zeichen verhält“ (Krämer 2000: 79). Bereits Aristoteles hatte angenommen, dass leibliche Zeichen als verdeckte Signale für seelische Zustände gelesen werden können. Stimme galt der physiognomischen Tradition (vgl. Göttert 1998: 28 ff.) über Jahrhunderte als Ausdruck der Leib-Seele-Einheit und als Indikator für die Wahrhaftigkeit der Rede. In demselben Maß freilich, in dem das indexikalische Moment der Stimme sich der Kontrolle des Stimmgebers/Sprechers/ Akteurs entzieht, kann es für den Zuhörenden/Verstehenden zu einem Werkzeug der Entschlüsselung von Botschaften werden, derer sich der Sprecher nicht bewusst ist. Stimme ist hier also nicht einfach Werkzeug dessen, was ausgesagt wird, sie ist darüber hinaus auch von einer „unaufhebbaren Autonomie und Instabilität […] gegenüber der sinnhaften Ansprache“, von Lücken und Differenzen zwischen Sinn und Ton gekennzeichnet (vgl. Certeau 1980: 26−37; Meyer-Kalkus 2007: 213−223). Die indexikalische Stimme kann insofern, wenn auch nicht auf der Produktions-, so aber doch auf der Rezeptionsseite, zum Werkzeug werden: Die Spur der Stimme im Sprechen ist Werkzeug nur für den Spurenleser, nicht für den Spurenverursacher. In der Lautlichkeit der Stimme zeigt sich etwas, kommt etwas zum Ausdruck, was sich deuten lässt, ohne dass es intentional zum Ausdruck gebracht worden wäre.
3. Lautlichkeit: die Stimme als Medium Bisher stand die Lautlichkeit stimmlicher Kommunikation unter der Perspektive ihrer semiotischen bzw. indexikalischen Verlautbarungsfunktion im Fokus der Aufmerksamkeit. Im Folgenden soll nun „das kognitive, reflexive Potential der Lautlichkeit“ (Krämer 2010: 17), die Verlautbarung in ihrer epistemologischen Funktion (vgl. Jäger 1988: 85 ff.) näher in den Blick genommen werden. Mit dieser Funktion, die einen zentralen Reflexionsgegenstand des neueren kulturwissenschaftlichen Stimmdiskurses ausmacht, beschäftigte sich freilich bereits intensiv das sprachphilosophische Denken des frühen 19. Jahrhunderts (vgl. Jäger 1988, 2004). Ab dem 18. Jahrhundert bewirkte der Prozess der Herausbildung eines neueuropäischen Sprachensystems eine Funktionsänderung von Sprachzeichen und Stimme (vgl. Apel 1997), die nun nicht mehr nur nachträgliche Werkzeuge vorsprachlicher Begriffe, sondern an der Konstitution der verzeitlichten Begriffe (Koselleck 1972) im Horizont nationalsprachlich-einzelkultureller Semantiken beteiligt sind. Die Stimme tritt so aus dem lange vorherrschenden rhetorisch-semiotischen Paradigma heraus, in dem ihr allenfalls Übertragungs- und Veranschaulichungsvalenzen zugesprochen worden waren. Sie erhält im Zusammenspiel mit der Aufwertung der Individualisierung der Volkssprachen und der Verbreitung des Buchdrucks (vgl. etwa Ong 1987; Goody und Watt 1986; Assmann und Assmann 1990; Assmann 1992; Giesecke 1994; Wenzel 1995; Epping-Jäger 1996; Raible 1995; Wandhoff 1996; Müller 1999) − gerade im Hinblick auf ihre Materialität und Lautlichkeit − eine neue epistemologische, ästhetische und soziale Mächtigkeit: sie wird zum Konstitutionsmedium des Geistes. Dabei meint Medium nicht mehr einfach nur Mittel des Ausdrucks eines Vorgegebenen, sondern Hervorbringungsinstanz dessen, was ausgedrückt wird (vgl. Epping-Jäger und Linz 2003; Jäger 2004). Ja, die Stimme
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III. Kulturen der Kommunikation wird geradezu zum Paradigma für den erkenntnistheoretischen Aufstieg der Sprache. Sie wird nun nämlich nicht mehr als Werkzeug eines vorsprachlich etablierten Denkens angesehen, sondern gleichsam als eine der Möglichkeitsbedingungen dieses Denkens. Besonders eindrücklich formulierte Wilhelm von Humboldt diese neue Stimm-Episteme. Für Humboldt ist ein solipsistisch gedachter, selbstmächtiger Geist nichts weiter als ein flüchtiges Wesen, das, um sich selbst als Ich zu konstituieren, auf Entäußerungsmedien und insbesondere auf die Stimme angewiesen ist. Der Geist muss sich äußern, um seiner selbst habhaft zu werden, und die Stimme ist die, so Humboldt, „Handhabe“, an der der Geist seine flüchtigen Begriffe sistiert (vgl. Humboldt 1968a: 427, 1968b: 53; hierzu Jäger 1988). Für Humboldt ist das Denken selbst, nicht bloß seine Übertragung, an das Ertönen der Stimme, an ihre Lautlichkeit gebunden (Humboldt 1968b: 53). Erst die ertönende Stimme also ermöglicht es dem Geist, aus sich herauszutreten und sowohl vermittelt als auch gebrochen durch eine fremde Denkkraft zum eigenen Ohr zurückzukehren (vgl. Humboldt 1968a: 377; ähnlich Hegel 1970: 280). Erst in der entfremdenden Selbstbegegnung des Geistes, in seiner autohermeneutischen Selbstverlautbarung, vermag dieser sich und seine kognitive Aktivität zu konstituieren (hierzu Jäger 1988, 2001b). Dass Humboldts sprachphilosophische Spurtheorie der Stimme durchaus auch in neueren kulturwissenschaftlichen und neurowissenschaftlichen Befunden ihre Aktualität erweisen kann, haben neuere Arbeiten gezeigt (vgl. dazu Jäger 2001b; Krämer und König 2002; Epping-Jäger und Linz 2003; Epping-Jäger 2013), die deutlich machen, dass Stimme bereits Medium ist, ehe sie in Umgebungen implementiert wird, in denen sie − in unterschiedlichen dispositiven, technischen Konfigurationen − ihr epistemisches und ästhetisches Potenzial entfaltet.
4. Medien der Lautlichkeit Der Aufstieg von Sprache und Stimme, die ab dem 18. Jahrhundert nicht mehr nur darauf reduziert blieben, selbstlose Übermittler transzendenter Inhalte − Gedanken, Begriffe, Affekte, Emotionen − zu sein, geht nicht zufällig zeitlich einher mit den ersten Experimenten zur technischen Manipulation der Stimme (vgl. Macho 2006). Die frühen experimentellen Annäherungen an die Stimme sind jedoch zunächst noch dem alten Paradigma verpflichtet. Sie versuchen, das Geheimnis aufzuklären, wie es die Stimme vermag, ihre Kustosfunktion wahrzunehmen. Die Stimmexperimente etwa im Anschluss an die Untersuchungen und Entdeckungen des Anatomen Antoine Ferrein (1741) (vgl. Aschoff 1989; Hiebler 1997; Hiebel et al. 1999; Gethmann 2003: 214 ff.) sind noch ganz darauf gerichtet, etwa über sprechende Köpfe und Sprechmaschinen ein „analytisches Verständnis menschlicher Artikulationsorgane“ zu gewinnen (Felderer 2002: 258). Auch bei den Versuchen des Nachbaus „sprechender Menschen“ wurde der Sprechvorgang nach dem Vorbild instrumentalistischer Klangerzeugung modelliert (vgl. dazu insgesamt Hiebel et al. 1999). Insgesamt handelt es sich natürlich bei diesen technischen Simulationen der menschlichen Artikulation noch nicht um Medien der Stimme im engeren Sinne, sondern um mechanische Modellierungen der Stimmphysiologie. Es sind erst die technischen Erfindungen der Aufzeichnung und Übertragung der Stimme, die in ein instruktives Verhältnis zu ihrer sprachphilosophischen Reflexion an
45. Mediale Kulturen: Lautlichkeit der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert treten. Humboldts Gedanke, dass das Subjekt sich nur konstituieren könne, wenn die Stimme vermittels ihrer Lautlichkeit nach draußen gesandt wird, um bei ihrer Rückkehr aus dem sozialen Raum akustisch verarbeitet zu werden, verbindet das Moment der Telematisierung der Stimme mit ihrer erkenntniskonstitutiven Funktion (Humboldt 1968a: 376 ff.); dieser Gedanke situiert die Lautlichkeit der Stimme als Distanz- und Selbstdistanzierungsmedium auf epistemologischem Niveau. Das Subjekt konstituiert sich sozusagen in Sendedistanz zu sich selbst. Es ist auf die Stimme, jene „Lufterschütterung […], durch welche die Sprachwerkzeuge in die Ferne wirken“ (Humboldt 1968a: 376), als Medium der Fremd- und Selbstadressierung angewiesen. Die humboldtsche Formel der in die Ferne wirkenden Stimme gewinnt aus der Perspektive der späteren stimmtechnologischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts eine prognostische Valenz. Telematisierung und Epistemologisierung der Stimme sind insofern Ausdruck einer gleichursprünglichen Bewegung, die in der materiell-lautlichen Verfasstheit der Stimme gründet. Das 19. Jahrhundert ist der Zeitraum der technologischen Ausfaltung von Stimmmedien, die nun nicht nur über größere Distanzen und an disparate Publika gesendet, sondern auch gespeichert und reproduziert werden können (vgl. Peters 2002). Dabei sind die mit der Stimme verwobenen Medientechnologien nicht in dem Sinne Medien der Lautlichkeit, dass sie als prothetische Verlängerungen selbstmächtiger Subjektakteure operieren. Vielmehr entfalten sie sich, wie etwa die Entwicklung des Telefons zum Handy zeigt, in dispositiven Szenarien, die eigensinnig auf die medialen Akteure zurückwirken (vgl. Krämer 2000: 83). Das Handy ist längst kein schlichtes Mittel zur Stimmübertragung mehr, sondern ein personalisiertes Kommunikationsmedium, das ständige Adressier- und Erreichbarkeit im Rahmen einer „Überall-und-jederzeit-Kultur“ sicherstellt (Weber 2008: 311 ff.; Linz 2008: 173 ff.). In der medialen Eigensinnigkeit, die die Stimme auch noch in der Phase ihrer Implementierung in medienapparative Strukturen bewahrt, reflektiert sich noch einmal jene Bewegung des Aufstiegs von Stimme und Sprache, die sich in der Sprach- und Zeichenphilosophie am Ende des 18. Jahrhunderts abzeichnet.
5. Resümee Ohne Zweifel lässt sich gegenwärtig eine Renaissance der Stimme im Horizont der Medien ihrer technischen Reproduzierbarkeit konstatieren. Die Lautlichkeit befreit sich vom Makel ihrer Fluidität und erobert neue Räume ihrer kommunikativen und ästhetischen Inszenierung. Dies zeigt sich etwa in der Tradition der auditiven Poesie „vom Futurismus und Dadaismus über die Wiener Gruppe bis hin zu Ernst Jandl und Oskar Pastior“ (Meyer-Kalkus 2007: 216) oder auch in den Tonbandexperimenten von Rolf Dieter Brinkmann (Binczek 2012). Gerade bei Brinkmanns Experimenten wird exemplarisch sichtbar, dass das Aufzeichnungsmedium Tonband nicht nur als Werkzeug der Speicherung der Dichterstimme zu dienen, sondern eine ästhetisch-konstitutive Rolle im Prozess der literarischen Produktion zu übernehmen vermag (Epping-Jäger 2012). Brinkmann verwendet die akustische Aufzeichnungs- und Reproduktionstechnologie Tonband für neue Formen poetologischer Selbstreflexion sowie der poetischen Produktion im Medium einer technisch armierten Lautlichkeit (vgl. Binczek und Epping-Jäger 2015). In der
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III. Kulturen der Kommunikation Renaissance der Stimme im Horizont neuer Medien sowie in der technischen Inszenierung ihrer Lautlichkeit in kommunikativen und ästhetischen Szenarien zeigt sich, dass die Stimme, diese „Gebärde der leiblichen Sprechäußerung“ (Hegel 1970: 272), auch vor dem Hintergrund tief greifender medienhistorischer Umbrüche ihre − wie man sie nennen könnte − anthropologische Mächtigkeit bewahrt hat.
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Cornelia Epping-Jäger, Bochum (Deutschland)
46. Mediale Kulturen: Audiovisualität 1. Einleitung: Begriffliches 2. Intermedialität und Transkriptivität 3. Primäre Audiovisualität
4. Sekundäre Audiovisualität 5. Fazit 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung: Begriffliches Die unumgängliche Medialität jedes kognitiven und kommunikativen Verfahrens ist von komplexer Art und kann begrifflich unter verschiedenen Perspektiven angegangen werden. Man kann dabei grob mindestens zwei Dimensionen unterscheiden, einmal danach, welche Zeichenarten verwendet werden (Kodalität), dann danach, welche physikalischbiologisch fundierten Operationsmodi zur Verfügung stehen (Modalität). Dies zeigt sich schon an der Prägung von Termini auf dem Feld der Medialitäten. Bei Bildlichkeit (vgl. Artikel 44) oder Schriftlichkeit (vgl. Artikel 86) geht es zunächst um Zeichenhaftes (Kodalität), bei Lautlichkeit (vgl. Artikel 45) um eine physikalische Eigenschaft, die wiederum mit bestimmten, z. T. körperlich verankerten Produktionsweisen (z. B. vokal) bzw. Wahrnehmungskanälen/Sinnen (auditiv) zusammenhängt (Modalität). Der Typus von Medialität, der hier behandelt werden soll, die Audiovisualität, ist demnach begrifflich modal perspektiviert und außerdem von besonderer Art, weil für sie die Kombination
46. Mediale Kulturen: Audiovisualität zweier Rezeptionsmodi begriffsbestimmend ist: des Hör- und des Sehsinnes, die gemeinsam im Spiel sind. Aus dieser Hybridbildung ergibt sich auch der erste hier zu behandelnde Aspekt, die Intermedialität oder Multimodalität und − damit zusammenhängend − die spezifische Transkriptivität des Audiovisuellen (Abschnitt 2). Danach werden die primäre Audiovisualität der face-to-face-Kommunikation (Abschnitt 3) und die sekundäre Audiovisualität in und mit technischen Medien anhand zweier Fernsehgenres (Abschnitt 4) näher betrachtet. Zuvor soll aber noch darauf hingewiesen werden, dass man, auf Sprache bezogen, von Audiovisualität auch in dem grundsätzlicheren Sinn eines „audiovisuellen Szenarios“ sprechen kann (Jäger 2001), nämlich als einer modalen Mehrfachoption von Sprache, die entweder auditiv rezipiert werden kann (als gesprochene Sprache) oder visuell (als Gebärdensprache oder als Schriftsprache), wobei die Gebärdensprache ontogenetisch und phylogenetisch zeitlichen Vorrang habe (Jäger 2013: 14) und der ältere visuelle Modus in den „gestischen Elementen“ der primären Audiovisualität fortdauere. Audiovisuell in einem weiteren Sinn (ohne Simultaneität beider Modi) ist auch jedes sprachinterne Hörbarmachen von Visuellem, das vom tradierten Vorlesen bis zum Hörbuch (Binczek und Epping-Jäger 2004) reicht. In jedem Fall aber ist mit Audiovisualität (wie mit jeder Medialität) auch eine dispositive Kraft verbunden, die begründet, warum man mit Recht von medialen Kulturen sprechen kann. In die Ausgestaltung modal geprägter Kulturen gehen natürlich auch immer die anderen Bestimmungsgrößen ein, die mit Medialitäten zusammenhängen, in erster Linie − mit ihren je eigenen Semantiken − die Kodalitäten, die innerhalb der modalen Möglichkeiten operieren, und zwar in vielfältigen Kombinationen, aber auch Genreaspekte und anderes mehr.
2. Intermedialität und Transkriptivität Intermedialität (vgl. Artikel 37) liegt vor, wenn zwischen verschiedenen Medialitäten Bezüge hergestellt werden. Dies ist kein Ausnahmefall, sondern die Regel, wie die ubiquitäre Verschränkung von Zeichenarten in jeglicher Kommunikation vor Augen führt (Kress and van Leeuwen 1998: 186; Mitchell 1994: 5; Jäger 2004: 70); sie wird manchmal − unter Aufhebung der code/mode-Differenz − multimodal genannt (z. B. Kress 2010), auch wenn sie − weil nur in einem Modus operierend − im engeren Sinne multikodal ist, wie schon jeder (Schriftsprach-)Text aufgrund seiner inhärenten Visualität (Holly 2013). Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass mit der anthropologischen Konstitution eine Vielfalt von Zeichen und Modi genutzt werden kann, die eine noch größere Anzahl von Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Zeichen und Modi erlaubt. Welche fundamentale Bedeutung der Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen zukommt, hat Ludwig Jäger (2002, 2004, 2010) in seiner Theorie der Transkriptivität entwickelt. Sie ist das eigentliche Verfahren der Bedeutungsgenese, bei dem wir bestimmte Zeichenverwendungen aufgreifen und dabei natürlich auch modifizieren („transkribieren“), etwa in Form von Imitaten, Wiederholungen, Zitaten, Kommentaren, Erwähnungen, Paraphrasen, Erläuterungen, Explikationen, Reformulierungen, Übersetzungen usw. Dies geschieht nun nicht nur im gleichen Zeichensystem (intramedial), sondern auch zwischen Zeichensystemen (intermedial), z. B. wenn man Sprache mit Bildern veran-
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III. Kulturen der Kommunikation schaulicht oder illustriert, Bilder mit Sprache betextet oder untertitelt oder beschreibt, wenn man Bilder mit Musik untermalt, Sprache singt bzw. vertont, mit Musik begleitet, wenn man Musik mit Sprache betextet oder erklärt u. v. m. Bei allen Transkriptionen geht es nicht nur um simple Abbildungsverhältnisse, sondern darum, etwas (nicht mehr ausreichend) Lesbares lesbar zu machen − oder umgekehrt (noch) Lesbares gerade unlesbar. In audiovisuellen Kommunikationsformen (zu diesem Begriff Holly 2011a) sind die intermedialen Bezüge zwischen Hör- und Sichtbarem simultan konstitutiv für das ganze Kommunikat und dabei nahezu unmerklich integriert, indem die beiden Modi nicht nur zusammengefügt und gewissermaßen addiert werden, sondern indem sie sich in einem ständig oszillierenden Prozess wechselseitiger Verweise transkribieren, sodass sogar neue Bedeutungen entstehen können, die keinem Modus allein zugeschrieben werden können (Holly 2006). Es handelt sich hierbei auch um Multimodalität (oder Bimodalität) im engeren Sinne und nicht nur um Multikodalität; dies unterscheidet z. B. Tonfilme von monomodalen Text-Bild-Verknüpfungen in Printerzeugnissen. Dementsprechend ist zur Beschreibung der Leistungen und Defizite solcher Kommunikationsformen das spezifische Potenzial und die spezifische Semantik der involvierten Zeichen darzulegen, aber auch die Funktionsweise ihres Zusammenspiels und nicht zuletzt die transkriptive Logik der beteiligten und zu integrierenden Modi, soweit sich all dies im Detail rekonstruieren lässt. Primär audiovisuell ist die face-to-face-Kommunikation (Abschnitt 3), sekundär audiovisuell ist schon die Kombination von Sprechsprache mit schriftlichen oder bildlichen Darstellungen (Wenzel, Seipel und Wunberg 2001) unter Anwesenden, in Form von laut gelesenen Texten, erst recht von Bildbesprechungen, Bänkelgesängen mit Bildern u. v. m. bis hin zu Lehrperformanzen mit Tafeln und Karten, Diavorträgen, PowerPoint-Präsentationen (z. B. Lobin 2009), Bahnhofsdurchsagen (Domke 2014) und allen möglichen Arten von Veranstaltungskommunikation, die immer noch zu wenig erforscht ist. Die prominenteste Rolle innerhalb der sekundären Audiovisualität spielen allerdings Tonfilm und Fernsehen (Zielinski 1989), mit ihren entsprechenden Derivaten in Videound Computermedien; sie teilen allerdings mit den anderen Speicher-, Vermittlungs- und Übertragungsmedien eine Einschränkung durch ihren Einwegcharakter, der audiovisuell erst mit der (Internet-)Bildtelefonie überwunden ist. Die beiden zentralen audiovisuellen Kommunikationsformen, um die es im Folgenden gehen soll, die primär audiovisuelle face-to-face-Kommunikation und die sekundär audiovisuellen Tonfilme bzw. Fernsehformate, wurden über lange Zeit intradisziplinär und deshalb nur partiell behandelt, weil die „fachfremden“ Elemente weitgehend ausgeblendet blieben. Die Sprachwissenschaft hat sich mit gesprochener Sprache bzw. mit Gesprächen beschäftigt, ohne sich ernsthaft auf die visuelle Seite einzulassen, die man als „paralinguistisch“ marginalisiert hat und die erst in jüngerer Zeit integriert wird (s. Abschnitt 3). In der psychologischen Forschung hat man sich zwar für „Nonverbales“ interessiert und die Verschränkung mit dem Verbalen immerhin behandelt, aber nicht allzu weit verfolgt (Argyle [1975] 2005: 153−164). Die Film- und Fernsehforschung haben sich zunächst ganz auf die Bildanalyse konzentriert und der sprachlichen Seite kaum Aufmerksamkeit geschenkt, eher schon anderen Arten von Tönen. Später hat man sich (auch in kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten) zur Beschreibung der audiovisuellen Bezüge meist auf die Kombination von Sprachtext und Filmeinstellungen beschränkt (unter Auslassung von Schrift und nonverbalen Tönen) und diese dann − analog zur Kombination von Schrift und statischen Bil-
46. Mediale Kulturen: Audiovisualität dern in Printmedien − als Text-Bild-Relationen erfasst. Häufig (z. B. Rauh 1987; Nöth 2000) findet sich (in Varianten) eine Einteilung in vier Kategorien: Redundanz, Dominanz, Komplementarität und Diskrepanz. Mit Recht wurde kritisiert, dass „mit diesen Einteilungen kaum etwas darüber gesagt werden kann, welchen Einfluss die einzelnen Text-Bild-Relationen auf die Bedeutungskonstitution haben“ (Luginbühl 2011: 258). Weitaus differenzierter sind die Ansätze von Burger (2005: 400−424), der formale, semantische und pragmatisch-funktionale Aspekte heranzieht, oder von van Leeuwen (2005: 219−235), der − unter Rückgriff auf Barthes ([1964] 1990) und hallidaysche Begriffe − zwischen elaboration und extension unterscheidet, mit weiteren Unterkategorien. Auch Bildfunktionskataloge, wie sie seit Huth (1985) vorliegen, in Varianten bei Brosius (1998) oder Meyer, Ontrup und Schicha (2000), differenzieren genauer, wenn auch nur in eine Richtung, indem sie fragen, wie das Bild den Text begleitet, nicht umgekehrt. Alle solchen Kategorienraster liefern nützliche und vielleicht unverzichtbare Anhaltspunkte, bleiben aber letztlich immer zu schematisch. Um die Dynamik der Bedeutungsgenerierung besser zu erfassen, sollte man sich zunächst auf strukturelle semiotische Differenzen und Gemeinsamkeiten der infrage stehenden Zeichenarten besinnen, aus denen sich dann auch Folgerungen für die jeweiligen spezifischen Potenziale und Defizite ableiten lassen, ebenso wie ein besseres Verständnis für die Herausbildung typischer Muster und Sequenzen, die damit einhergehen.
3. Primäre Audiovisualität Wenn in manchen kommunikationswissenschaftlichen Zusammenhängen von Visualität und Visualisierung die Rede ist, dann meist in dem Sinn, dass in modernen Medien Bildlichkeit auf dem Vormarsch sei oder dass zur besseren Verständlichkeit von Rede und Schrift anschauliche Bilder oder Diagramme notwendig seien. Dabei wird übersehen, dass schon die Schrift und gerade die überholte „Gutenberg-Galaxis“ visuell operieren. Noch weniger im Bewusstsein war die Tatsache, dass Schrift nicht die einzige visuelle Erscheinungsform von Sprache ist, sondern dass − wie oben schon angedeutet − deren vermutlich erste Ausprägung gestisch-visuell war (Jäger 2001, 2013: 14), die erst allmählich „im Rahmen eines audiovisuellen Szenarios“ vom vokal-auditiven Modus der Lautsprache in einer „Dominanzverschiebung“ zurückgedrängt worden sei, ohne ganz zu verschwinden. Davon zeuge bis heute die Existenz von Gebärdensprachen und die Fortdauer „gestischer Elemente“ in der gesprochenen Sprache, sodass die Lautsprache zwar mit einem „dominant vokal-auditiven Modus“, aber eben auch mit einer „rezessiven gestisch-visuellen Realisierungsform“ ausgestattet sei (Jäger 2013: 14). Entsprechend argumentiert Ellen Fricke (2012: 38), die Klassifizierung von Gesten als „nichtsprachlich“ sei falsch; weiter die „Kommunikation von Angesicht zu Angesicht“ sei „primär audiovisuell“ (Fricke 2012: 45−46), und sie reklamiert für die Lautsprache „sprachliche Multimodalität“, weil für redebegleitende „Gesten und andere Körperbewegungen“ gelte: „Sie sind mit der begleiteten Rede eng verbunden im Hinblick auf die zeitliche Organisation und teilen mit ihr gemeinsame semantische und pragmatische Funktionen“ (Fricke 2012: 46). Deshalb will sie zeigen, wie beide Komponenten einer gemeinsamen „multimodalen Grammatik“ unterliegen. Ein anderer Forschungsstrang beschäftigt sich mit primärer Multimodalität in der Tradition der angelsächsischen ethnomethodologischen Konversationsanalyse, die sich
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III. Kulturen der Kommunikation schon früh auch für „visual analysis“ interessiert hat (dazu Goodwin 2001) und die dann auch in Europa bei einigen Forschern bald zu einer Umstellung der empirischen Arbeit von Ton- auf Videodokumentationen geführt hat (z. B. Heath, Luff, Bergmann, Meier, Ayaß, Krafft, Dausendschön-Gay). Dabei liegt − wie bisher schon − der Schwerpunkt auf den interaktionalen Aspekten, sodass es nicht nur darum geht, wie Lautliches und Visuelles intrapersonell zusammenwirken, sondern auch um deren interpersonelle „Koordination“ im Rahmen der Interaktionsdynamik (Schmitt 2007; dazu Holly 2008a); hier spielen mit den körperlichen Bewegungen und den dabei einbezogenen Objekten auch räumliche Gesichtspunkte eine prominente Rolle, denn mehr noch als die Stimme ist der visuell wahrnehmbare Körper, vor allem auch das Blickverhalten, für die eigene und wechselseitige Orientierung im Raum ausschlaggebend, womit Raum selbst zu einer „interaktiven Ressource“ wird (Hausendorf, Mondada und Schmitt 2012; Schmitt 2013); dies gilt besonders für die Eröffnungsphasen von Interaktionssituationen (Mondada und Schmitt 2010). Es entspricht auch dem spezifischen Interesse der Konversationsanalyse (wie der goffmanschen Soziologie) für Fragen der Interaktionsordnung, dass man sich in diesem Kontext zunächst auf die systematische Erfassung von Organisationsaufgaben fokussiert hat. Die weitaus breiter gefächerte funktionale und kulturelle Vielfalt der Körpersprachsemantik, die zur Beschreibung der primären Audiovisualität herangezogen werden kann, wird dokumentiert in den beiden Bänden des Handbuchs Body − Language − Communication (Müller et al. 2013; Müller et al. 2014).
4. Sekundäre Audiovisualität Während die primäre Audiovisualität der face-to-face-Kommunikation sich quasi „naturwüchsig“ mit der anthropologischen Konstitution entwickelt hat, sodass wir Audiovisuelles routiniert hervorbringen und verstehen, müssen die technisch gestützten Audiovisualitäten von den Machern relativ aufwendig und mit möglichst effizienter Kontrolle bewerkstelligt werden; als Rezipienten wissen wir von dieser Gemachtheit zwar grundsätzlich (Leister 2001: 289−292), dennoch sind wir, falls Inszenierungsbrüche uns nicht daran hindern (Jäger 2010: 317), geneigt, das Gemachte für spontan und „echt“ zu halten und so das Ausmaß und die Details der Inszenierung auszublenden. Man hat deshalb von der „Transparenz“ der Medien gesprochen, ihrer „Tendenz, sich selbst [...] zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden“ (Engell und Vogl 1999: 10). Hier ist die sekundäre Audiovisualität besonders leistungsfähig, kann sie doch an die alltägliche primäre anschließen und uns immer wieder glauben machen, dass wir doch mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört haben, was aber doch (mehr oder weniger) kunstvoll und oft unmerklich perspektivisch gestaltet ist. Dieses Potenzial hat nicht zuletzt mit der doppelt komplementären Semantik der beiden wichtigsten Zeichentypen zu tun, der Sprechsprache und den Filmbildern, die wir gleichzeitig zu hören und zu sehen bekommen. Dabei besetzen die arbiträre Lautsprache und die wahrnehmungsnahen Filmbilder entgegensetzte Kategorien der Ausdrucksstruktur (Sachs-Hombach 2003: 96), ebenso sind sie unterschieden hinsichtlich Körpernähe bzw. Körperunabhängigkeit, zusätzlich zur Verteilung auf die beiden Sinne. Andererseits sind sie durch ihre temporäre Struktur bestens synchronisierbar, weil ihre zeitliche Dyna-
46. Mediale Kulturen: Audiovisualität mik, ihre charakteristische Fluidität gemeinsam auf augenblickliche Wirkung ausgerichtet sind, was ihre Attraktivität und Lebendigkeit ausmacht (Holly 2009: 96−97). Man kann das Funktionspotenzial anschaulich an sogenannten Nachrichtenfilmen verfolgen (Holly 2008b, 2009, 2010, 2011b, i. V. a). Wenn man davon ausgeht, dass es deren Aufgabe ist, ein Ereignis oder einen Sachverhalt darzustellen, und zwar glaubwürdig, so können sie in der audiovisuellen Kombination einerseits sprachlich auch das darstellen, was nicht im Bild zu zeigen ist, während sie bildlich auch das glaubwürdig zeigen können, was man der Sprachbotschaft vielleicht nicht abnehmen würde. So vervollständigen und kompensieren sich Darstellungs- und Glaubwürdigkeitspotenziale und -defizite wechselseitig und bringen dabei transkriptive Muster hervor (Holly 2003). Eine detaillierte Analyse kann zeigen, wie dicht die wechselseitigen Bezugnahmen beider Modi und Zeichenarten sind (Holly 2010: 366−372; Holly 2011b: 236−250). Intermedial transkriptiv sind Nachrichtenfilme im Produktionsprozess übrigens von Anfang an, da schon das Rohmaterial der Nachrichtenfilmagenturen sprachlich gerahmt, beschrieben und kommentiert wird. Am Ende ergibt sich − mit kulturell markierten Varianten (Holly 2010, i. V. b) − eine spezifische audiovisuelle Dynamik der Bedeutungsgenerierung: Man durchläuft die Bezüge mäandernd von Sprache zu Bild und zurück und wird abwechselnd von Wort oder Bild weitergetragen, verkettet wie in einem Reißverschluss (Holly 2009). Ähnlich lassen sich auch andere audiovisuelle Genres analysieren (zu Werbeformaten Holly 2007; Holly und Jäger 2011). Von etwas anderer Art ist die Audiovisualität in Livesendungen, wo das Moment der technisch basierten Multiauktorialität noch deutlicher wird, indem es für Kommunikate sorgt, in denen kein Einzelner mehr die Kontrolle über das audiovisuelle Gesamtergebnis seines Beitrags mehr erreichen kann, trotz größter Anstrengungen von hochprofessionellen Teams, durch optimale Vorbereitungen Pannen zu verhindern (Holly 2012). Polit-Talkshows sind heute, anders als noch zu Zeiten ihrer historischen Vorläufer, die „Politische Fernsehdiskussionen“ genannt wurden (Holly, Kühn und Püschel 1986), optisch aufwendig gestaltete Multimodalshows (Girnth und Michel 2015), bei denen die subtile multifunktionale visuelle Inszenierung unmerklich, aber publikumswirksam das scheinbar dominierende Redegeschehen überformt (Holly 2010, 2012, 2015a, i. V. c). Zum visuellen Gesamtbild gehören 1. das räumliche Arrangement mit einem sendungsspezifischen Design, dann 2. die primäre Audiovisualität der Beteiligten (Fricke 2015) und schließlich 3. die alles umfassende Kamerainszenierung mit ihren − durch Umschnitte bewerkstelligten − Einstellungsabfolgen, die außer Bildern der Protagonisten im Setting auch Schriftinserts und Einspielfilme (Klemm 2015) präsentiert, nicht zuletzt auch zusätzliches Bildmaterial, wie es beispielsweise in einem Sendungsformat auf einer Bildwand projiziert erscheint (Holly 2015b, i. V. c). In Polit-Talkshows transkribiert die Kamerainszenierung Sprecheräußerungen mit drei Funktionen: 1. im Sinne von Abwechslung und Gliederung, 2. zur Sprecherprofilierung und 3. zur Profilierung von Beteiligungsrollen anderer; alle drei Funktionen sollen bewirken, dass die Organisation des Gesprächs und die Beziehungsgestaltung zu und zwischen den Beteiligten intensiver und für den Zuschauer attraktiver werden. Die Kameraarbeit wirkt dabei als implizites, unauffälliges, dennoch nicht beliebiges Vorgehen; zwar ohne explizites Regelwerk und nur mehr oder weniger reflektiert, immer aber der Kontrolle des sprechenden Akteurs entzogen, dessen sprachliche Produktionen wiederum für die ziemlich komplexe Bildsteuerung nicht (vollständig) vorhersehbar sind. Sie ist zwar nach bestens eingespielten Routinen in Teamarbeit gestaltet, aber insofern nicht
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III. Kulturen der Kommunikation völlig kontrolliert, als sie nur im Zusammenspiel mit anderen Aktionen wirksam wird und immer wieder spontan vorgehen muss, sodass Zufallsergebnisse als Automatismen zu ihrer Struktur gehören.
5. Fazit Audiovisualität wird als bimodales kulturelles Dispositiv verstanden, das aus der anthropologischen Evolution resultiert und die mediale Basis der face-to-face-Kommunikation darstellt (primäre Audiovisualität). Spätestens mit der Entwicklung elektronischer Medien ist auch eine ausgebaute sekundäre Audiovisualität möglich, die in der Lage ist, die primäre Audiovisualität, wie überhaupt Töne und bewegte Bilder, ohne Raum- und Zeitbegrenzung verfügbar zu machen, sehr erfolgreich in Form von Film- und Fernsehbildern in Kombination mit gesprochener Sprache, allerdings im Einwegmodus; neuerdings ist aber auch Bildtelefonie realisiert und wird auf Internetplattformen zunehmend genutzt. Davor und daneben gibt es eine Vielfalt von Kommunikationsformen der Kopräsenz, die Hörbares und Sichtbares verknüpfen, schon innerhalb der Sprache (z. B. Vorlesen), aber erst recht in Verbindung von Rede und (bewegten) Bildern, als Hybride von körpernaher und körperentbundener Medialität. Nach einer langen Zeit der Ausblendungen wird die fundamentale wechselseitige Transkriptivität von Hör- und Sichtbarem, die alle Formen der Audiovisualität so attraktiv und wirksam macht, in jüngerer Zeit ernsthaft erforscht, z. B. in Bemühungen um eine „Grammatik der Multimodalität“, in einer auf Sichtbares erweiterten Gesprächsforschung, aber auch in Analysen audiovisueller Medienformate, in denen sich transkriptive Muster genrespezifisch ermitteln lassen. Es bleibt eine breite Vielzahl von audiovisuellen Kommunikationsformen, deren empirische Beschreibung noch aussteht.
6. Literatur (in Auswahl) Argyle, Michael [1975] 2005 Körpersprache und Kommunikation. Das Handbuch zur nonverbalen Kommunikation. Paderborn: Junfermann. Barthes, Roland [1964] 1990 Die Rhetorik des Bildes. In: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, 28−46. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Binczek, Natalie und Cornelia Epping-Jäger (Hg.) 2004 Das Hörbuch. München: Fink. Brosius, Hans-Bernd 1998 Visualisierung von Fernsehnachrichten. Text-Bild-Beziehungen und ihre Bedeutung für die Informationsleistung. In: Klaus Kamps und Miriam Meckel (Hg.), Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen, 213−224. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Burger, Harald 2005 Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. 3., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter. Deppermann, Arnulf und Angelika Linke (Hg.) 2010 Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/New York: de Gruyter.
46. Mediale Kulturen: Audiovisualität Diekmannshenke, Hajo, Michael Klemm und Hartmut Stöckl (Hg.) 2011 Bildlinguistik. Theorien − Methoden − Fallbeispiele. Berlin: Erich Schmidt. Domke, Christine 2014 Die Betextung des öffentlichen Raums. Eine Studie zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen. Heidelberg: Winter. Engell, Lorenz und Joseph Vogl 1999 Vorwort. In: Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell, Oliver Fahle und Britta Neitzel (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 8−11. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Fricke, Ellen 2012 Grammatik multimodal. Wie Wörter und Gesten zusammenwirken. Berlin/Boston: de Gruyter. Fricke, Ellen 2015 Die (ab)geschnittene Hand in der Talkshow. Zur Fortschreibung antiker rhetorischer Traditionen in Bildwahl und Schnitt. In: Heiko Girnth und Sascha Michel (Hg.), PolitTalkshow. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein multimodales Format, 145−168. Stuttgart: ibidem. Girnth, Heiko und Sascha Michel (Hg.) 2015 Polit-Talkshow. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein multimodales Format. Stuttgart: ibidem. Hausendorf, Heiko, Lorenza Mondada und Reinhold Schmitt (Hg.) 2012 Raum als interaktive Ressource. Tübingen: Narr. Holly, Werner 2006 Mit Worten sehen. Audiovisuelle Bedeutungskonstitution und Muster ‚transkriptiver Logik‘ in der Fernsehberichterstattung. In: Deutsche Sprache 34, 135−150. Holly, Werner 2007 Audiovisuelle Hermeneutik. Am Beispiel des TV-Spots der Kampagne „Du bist Deutschland“. In: Fritz Hermanns und Werner Holly (Hg.), Linguistische Hermeneutik, 389−428. Tübingen: Niemeyer. Holly, Werner 2008a Rezension von Schmitt 2007. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36, 277−283. Holly, Werner 2008b Audiovisuelle Sigetik. Über verborgene Bedeutungen im Bild-Sprach-Zusammenhang. In: Steffen Pappert, Melani Schröter und Ulla Fix (Hg.), Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation, 147−169. Berlin: Erich Schmidt. Holly, Werner 2009 Der Wort-Bild-Reißverschluss. Über die performative Dynamik der audiovisuellen Transkriptivität. In: Helmuth Feilke und Angelika Linke (Hg.), Oberfläche und Performanz, 389−406. Tübingen: Niemeyer. Holly, Werner 2010 Besprochene Bilder − bebildertes Sprechen. Audiovisuelle Transkriptivität in Nachrichtenfilmen und Polit-Talkshows. In: Arnulf Deppermann und Angelika Linke (Hg.), Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton, 359−382. Berlin/New York: de Gruyter. Holly, Werner 2011a Medien, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien. In: Stephan Habscheid (Hg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen: Linguistische Typologien der Kommunikation, 144−163. Berlin/New York: de Gruyter. Holly, Werner 2011b Bildüberschreibungen. Wie Sprechtexte Nachrichtenfilme lesbar machen (und umgekehrt). In: Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm und Hartmut Stöckl (Hg.), Bildlinguistik. Theorien − Methoden − Fallbeispiele, 233−253. Berlin: Erich Schmidt.
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III. Kulturen der Kommunikation Holly, Werner 2012 Transkriptiv kontrollgemindert: Automatismen und Sprach-Bild-Überschreibungen in Polit-Talkshows. In: Tobias Conradi, Gisela Ecker, Norbert Otto Eke und Florian Muhle (Hg.), Schemata und Praktiken, 161−189. München: Fink. Holly, Werner (Hg.) 2013 Themenheft Textualität − Visualität. Zeitschrift für germanistische Linguistik 41. Holly, Werner 2015a Bildinszenierungen in Talkshows. Medienlinguistische Anmerkungen zu einer Form von „Bild-Sprach-Transkription“. In: Heiko Girnth und Sascha Michel (Hg.), Polit-Talkshow. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein multimodales Format, 123−144. Stuttgart: ibidem. Holly, Werner 2015b Sprache, Bild, Text. Visualität und Intermedialität von Sprache. In: Ludwig Eichinger (Hg.), Sprache im Fokus, 71−92. Berlin/Boston: de Gruyter. Holly, Werner i. V. a Audiovisueller Text − Nachrichtenfilm. In: Nina-Maria Klug und Hartmut Stöckl (Hg.), Sprache im multimodalen Kontext. Berlin/Boston: de Gruyter [erscheint]. Holly, Werner i. V. b „Globale“ Bilder − lokale audiovisuelle Texte. Internationales in Fernsehnachrichtenfilmen. In: Armin Burkhardt und Kornelia Pollmann (Hg.), Globalisierung: Sprache, Medien, Politik. Bremen: Hempen [erscheint]. Holly, Werner i. V. c Intermedialität von Frames in einer Polit-Talkshow. In: Alexander Ziem, Lars Inderelst und Detmer Wulf (Hg.), Frames interdisziplinär. Düsseldorf: University Press [erscheint]. Holly, Werner und Ludwig Jäger 2011 Transkriptionstheoretische Medienanalyse. Vom Anders-lesbar-Machen durch intermediale Bezugnahmepraktiken. In: Jan Georg Schneider und Hartmut Stöckl (Hg.), Medientheorien und Multimodalität, 151−168. Köln: von Halem. Holly, Werner, Peter Kühn und Ulrich Püschel 1986 Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion. Tübingen: Niemeyer. Huth, Lutz 1985 Bilder als Elemente kommunikativen Handelns in Fernsehnachrichten. In: Zeitschrift für Semiotik 7, 203−234. Jäger, Ludwig 2001 Sprache als Medium. Über die Sprache als audio-visuelles Dispositiv des Medialen. In: Horst Wenzel, Wilfried Seipel und Gotthart Wunberg (Hg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg, 19−42. Wien: Kunsthistorisches Museum. Jäger, Ludwig 2002 Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: ders. und Georg Stanitzek (Hg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, 19−41. München: Fink. Jäger, Ludwig 2004 Die Verfahren der Medien: Transkribieren − Adressieren − Lokalisieren. In: Jürgen Fohrmann und Erhard Schüttpelz (Hg.), Die Kommunikation der Medien, 69−79. Tübingen: Niemeyer. Jäger, Ludwig 2010 Intermedialität − Intramedialität − Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semantik. In: Arnulf Deppermann und Angelika Linke (Hg.), Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton, 301−323. Berlin/New York: de Gruyter. Jäger, Ludwig 2013 Sprache. In: Natalie Binczek, Till Dembeck und Jörgen Schäfer (Hg.), Handbuch Medien der Literatur, 11−25. Berlin/Boston: de Gruyter.
46. Mediale Kulturen: Audiovisualität Klemm, Michael 2015 Wenn Politik auf Einspielfilme trifft. Zur multimodalen Argumentation in der Fernsehdiskussion Hart aber fair. In: Heiko Girnth und Sascha Michel (Hg.), Polit-Talkshow. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein multimodales Format, 97−120. Stuttgart: ibidem. Kress, Gunther 2010 Multimodality. A Social Semiotic Approach to Contemporary Communication. London/ New York: Routledge. Kress, Gunther and Theo van Leeuwen 1998 Front Pages: (The Critical) Analysis of Newspaper Layout. In: Allen Bell and Peter Garrett (eds.), Approaches to Media Discourse, 186−219. Oxford: Blackwell. Leeuwen, Theo van 2005 Introducing Social Semiotics. London/New York: Routledge. Leister, Angela 2001 Zur Konstruktion von Wirklichkeit in der Aneignung. In: Werner Holly, Ulrich Püschel und Jörg Bergmann (Hg.), Der sprechende Zuschauer. Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen, 287−308. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Lobin, Henning 2009 Inszeniertes Reden auf der Medienbühne. Zur Linguistik und Rhetorik der wissenschaftlichen Präsentation. Frankfurt a. M./New York: Campus. Luginbühl, Martin 2011 Vom kommentierten Realfilm zum multimodalen Komplex − Sprache-Bild-Beziehungen in Fernsehnachrichten im diachronen und internationalen Vergleich. In: Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm und Hartmut Stöckl (Hg.), Bildlinguistik. Theorien − Methoden − Fallbeispiele, 257−276. Berlin: Erich Schmidt. Meyer, Thomas, Rüdiger Ontrup und Christian Schicha 2000 Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von Mediendiskursen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Mitchell, W. J. Thomas 1994 Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago/London: University of Chicago Press. Mondada, Lorenza und Reinhold Schmitt (Hg.) 2010 Situationseröffnungen. Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion. Tübingen: Narr. Müller, Cornelia, Alan Cienki, Ellen Fricke, Silva H. Ladewig, David McNeill and Sedinha Teßendorf (eds.) 2013 Body − Language − Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction. Bd. 1. Berlin/Boston: De Gruyter Mouton. Müller, Cornelia, Alan Cienki, Ellen Fricke, Silva H. Ladewig, David McNeill und Jana Bressem (eds.) 2014 Body − Language − Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction. Bd. 2. Berlin/Boston: De Gruyter Mouton. Nöth, Wilfried 2000 Der Zusammenhang von Text und Bild. In: Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Bd. 1, 489−496. Berlin/ New York: de Gruyter. Rauh, Reinhold 1987 Sprache im Film. Die Kombination von Wort und Bild im Film. Münster: MAkS-Publikationen. Sachs-Hombach, Klaus 2003 Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: von Halem.
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III. Kulturen der Kommunikation Schmitt, Reinhold (Hg.) 2007 Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion. Tübingen: Narr. Schmitt, Reinhold 2013 Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion. Tübingen: Narr. Wenzel, Horst, Wilfried Seipel und Gotthart Wunberg (Hg.) 2001 Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Wien: Kunsthistorisches Museum. Zielinski, Siegfried 1989 Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte. Reinbek: Rowohlt.
Werner Holly, Chemnitz (Deutschland)
47. Digitalisieren 1. Plädoyer für eine wohldefinierte Begrifflichkeit 2. „Sampling“ als Kernoperation
3. Die erkenntniswissenschaftliche Dimension der Digitalisierung 4. Literatur (in Auswahl)
Das „Digitale“ ist zu einem kulturellen umbrella word geworden, zu einer Metapher für die computerisierte und vernetzte Medienkultur der Gegenwart. In einer Welt, deren modellbildendes Medium der Computer ist, wird unter „Digitalisierung“ gemeinhin etwas subsumiert, was sich genau betrachtet in Diskretisierung und Binarisierung ausdifferenziert.
1. Plädoyer für eine wohldefinierte Begrifflichkeit Im Unterschied zum diskursiv verflüssigten Adjektiv „digital“ ist Digitalisieren als eine technomathematische Praxis wohldefinierbar, die zum operativen Kern der Informationsgesellschaft geworden ist. Im Kern des Begriffs steht die Analog-digital-Wandlung als veritable Form medialer Transkriptivität (Jäger et al. 2008). Zwei Praktiken der Übersetzung sind dabei am Werk: eine elektrophysikalische und eine nachrichtentheoretische. Ein Sensor (also ein Messakt) wandelt an der Schnittstelle des rechnenden Systems zur Umwelt zunächst eingehende physikalische Größen in elektrische Spannungen um, die dann vom elektronischen Analog-digital-Wandler als digitale Werte ausgegeben werden können: eine Arithmetisierung, durch die Weltsignale rechenbar sind. Die Ästhetik des Diskreten und die epistemologische Denkbarkeit des Digitalen sind in Kulturtechniken des Abendlands tief verwurzelt und eng mit alphabetischer Schrift, linguistischen Begriffen und typographischen Praktiken verbunden. Erst in seiner hochtechnischen Eskalation aber ist das Digitalisieren diskursbestimmend und wirkungsmächtig geworden. Insofern gilt es auch, der Verführung einer etymologischen Bestimmung des Digitalen zu widerstehen, sobald sie den funktionalen Kontext elektronischer
47. Digitalisieren Rechentechnik verlässt. „Digital“ im weiteren Sinne ist zwar alles, was buchstäblich wie „mit Fingern“ in diskreten Schritten abzählbar ist (Wenzel 2003), meint präziser aber: mit Zahlen etwas tun. Das Digitale erlangte seine Bedeutung allein aus der eingegrenzten Funktion von Abzählbarkeit; damit sind zwei Voraussetzungen impliziert: Diskretheit und Zeitfolge. Digitalcomputer übersetzen welthaftige Signale in Symbole, konkret: rechenbare Zahlen und logische Werte, und prozessieren sie in der sogenannten VonNeumann-Architektur strikt sequenziell. Digitalisieren im Speziellen transformiert Eingangssignale nicht in stetige Funktionen, sondern leistet auf numerischer Basis die diskrete Abtastung welthaftiger Signale in möglichst gleichabständigen Zeitpunkten. Medientechnisch werden dabei kontinuierlichen wie unstetigen physikalischen Werten Zahlen zugeordnet, als ein − mithin willkürlicher − Akt der Codierung. Diskretisierung erlaubte die mathematische Codierung der Kommunikation, die nach der alphabetischen Revolution in der Antike zu einer nachrichtentechnischen Revolution der Gegenwart wurde (Shannon [1949] 1976). Diese Verzifferung ist alphanumerischer Natur und arbeitet mit einem jeweils endlichen Zeichenvorrat. Dieser digitale Code bedeutet nicht schlicht die Rückkehr der schriftlinear orientierten typographischen Gutenberg-Galaxis (McLuhan [1962] 1995) in neuem Gewand, sondern ihre zeitkritisch und mathematisch zugespitzte, technologisch implementierte, auch Bild- und Speichermatrizen umfassende Variante (Flusser 1999). Erst in ihrer mathematisierten Form ist Digitalisierung von Signalflüssen eine medienepistemologisch neue Qualität. Auf den sogenannten Macy-Konferenzen in New York im Rahmen der emergierenden Kybernetik wurde 1946 die Differenz von „analog“ und „digital“ ausdrücklich thematisiert (Pias 2003). George Robert Stibitz weist schon 1942 auf die grundsätzlichen Vorteile des Computierens mit lediglich zwei diskreten Spannungswerten hin (Dennhardt 2008). Die Effektivität des Digitalen liegt im Ausschluss des Dazwischen zu Zwecken der Entscheidungsgenauigkeit; zugleich wird genau in diesen Zwischenzeiten des Taktes gerechnet. Die scheinbare Dichotomie von „digital“ (die Welt der Rechner und der Simulation von Welt) und „analog“ (nahe am Charakter der Materie und der Realität) wurde durch das Abtasttheorem als Metaphysik enttarnt (Schröter und Böhnke 2004). Digitalisierung − in der technischen Informatik der Begriff für ein Ensemble von Filterungen − ist ein (Mess-)Akt, der flexibel auf die Zeitlichkeit des vorliegenden Signals reagiert. Die technisch getaktete Zeit passt sich der Frequenz der Signale, also der Welthaftigkeit der analogen Physik selbst, an. Die algorithmische Ordnung der Zeit durch den Takt ist ihrerseits ein Stabilitätskriterium im Prozess des Digitalisierens. Erst in Verbindung mit exakter Taktung kommt die Begründung des Digitalen operativ zu sich. Grundlage des exakten Digitalisierens ist die periodische Taktung, wie sie im Abendland durch den Mechanismus der Räderuhr mit Hemmung ausgebildet wurde. „Digital“ als technomathematische Praxis (also Signalverarbeitung) heißt immer auch „zeitdiskret“. Aus digitalisierten Analogsignalen werden im Prozess des Digitalisierens zeitdiskrete Signale, die damit einer numerischen Verarbeitung zugänglich sind. An die Stelle der physikalischen Übertragungszeit tritt hier die logische Zeit. Das „digitale“ Signal aber schaltet nur scheinbar diskret zwischen zwei Zuständen; tatsächlich durchläuft es nach wie vor den Wertebereich reeller Variablen, doch als deren Extrem- und Randwert (Siegert 2003). Das gilt für binäre Schalter in Computern ebenso wie für Neuronen im Gehirn. Ein Rechtecksignal lässt sich durch Überlagerung von Grundschwingungen mit ihren Harmonischen annähernd exakt erzeugen; zur Erzeugung steiler Impulse in elektronischen Sys-
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III. Kulturen der Kommunikation temen dienen Kippschaltungen. Es handelt sich hier um eine zeitkritische Zuspitzung, mithin um eine Dynamisierung dessen, was als „0/1“-Logik notiert allzu stationär und geometrisch erscheint. Digitale Signale bleiben gerade deshalb bemerkenswert stabil, weil sie durch geschickte Verschaltung ständig regeneriert werden. Im kulturellen Diskurs gewinnt die Qualität „digital“ ihre Signifikanz als Gegenbegriff zu „analog“. Im medientechnischen Zusammenhang aber werden beide Begriffe vielmehr als mannigfaltig verschränkt gewusst − vom gegenseitigen Grenzwert bis hin zum (nur scheinbaren) Oxymoron der „kontinuierlichen Digitaltechnik“ (Völz 2008).
2. „Sampling“ als Kernoperation Eine konkrete Methode für elektrotechnische Quantisierung kontinuierlicher Signale ist die Operation sample and hold: die Erzeugung eines diskreten Takts und der kurzzeitigen Speicherung des jeweils erfassten Spannungswerts, der damit mathematisch definierbar und numerisch adressierbar wird. Schalter und Kondensator sind eine der möglichen Verkörperungen dieses Schaltmoduls. Zeitereignisse werden hier zu Momenten. Daneben gibt es eine große Gruppe von integrierenden Analog-digital-Umsetzern, die das Integral der Eingangsspannung über ein Zeitintervall bilden. Im Kern weiß diese Methode um das Opfer, das im Akt des technologischen Samplings gebracht wird: Durch die Amplitudenquantisierung geht unwiederbringlich Information verloren. Enthält eine Zeitfunktion x(t) keine höheren Frequenzen als fo, so lässt sich zwar der Originalverlauf aus Abtastwerten wiedergewinnen, die in Zeitabständen kleiner als die halbe Periode To = 1/fo sind. Mit der Diskretisierung der Amplitude aber tritt ein prinzipbedingter Informationsverlust auf (Richter 1988). Die technomathematische Antwort auf diese Frage ist die Interpolation: ein Verfahren, zu diskreten Daten eine (quasi)kontinuierliche Funktion zu ermitteln, die diese Daten abbildet, das heißt sie aus einer räumlichen Distribution im kartesischen Koordinatensystem in die Zeit (zurück)versetzt. Nach Glättung der Kanten erhält man eine Näherung der Kurve zurück. Der leitende Maßstab dafür ist nicht nur die menschliche Wahrnehmung, die sich medientechnisch leicht hintergehen lässt, sondern (wenn die Bandbreitenbegrenzung eingehalten wird) die messtechnisch fassbare physikalische Welt. Digitalisieren bedeutet also die Übersetzung einer signaltechnisch gemessenen Welt in ihre (Be-)Rechenbarkeit durch zeitdiskrete Abtastung und wertdiskrete Quantisierung. An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwiefern die Welt in ihrem Wesen vielleicht selbst schon „digital“, konkret: in bitweisen Informationen verfasst ist. Der Pionier des Computers in Deutschland, Konrad Zuse, stellte diese Frage im Anschluss an Erkenntnisse der Quantenphysik (Zuse 1969). Digital physics hält das Universum selbst für computabel − ein Bruch mit der klassischen Kontinuumsphysik, die Gottfried Wilhelm Leibniz noch so vehement verteidigte. Eine Digitalschaltung kennt nur gestufte Werte, deren buchstäblich entscheidendes Merkmal es ist, im Rechenprozess deutlich unterscheidbar zu sein und damit das Kriterium der Disjunktheit zu erfüllen. Gemäß Goodmanns Symboltheorie ist jede Form der Notation, die distinktiv Eindeutigkeit herstellt, „digital“ (Goodman [1951] 1997). Der binäre Code als privilegierte Form des Digitalisierens resultiert aus der pragmatischen Tatsache, dass solcherart codierte Information effektiv an elektronische Maschinen über-
47. Digitalisieren geben werden kann, die − begonnen mit dem mechanischen Relais − primär mit Bauteilen in nur zwei Zuständen rechnen. Seitdem zählen Elektronenröhren und Transistoren und geben digitale Ziffern aus. Daten lassen sich damit in einem elektronisch extrem beschleunigten Zeitfenster prozessieren, das jenseits aller vormaligen mathematischen Kulturtechniken liegt. Digitalisieren ist eine ganz und gar technologische Praxis, beruht aber auf einer konzeptionellen Loslösung von Materie und Energie im Namen von Information (Wiener [1948] 1968). Im Kontext eines technologisch definierten Digitalen sinkt der Energieund Materieeinsatz auf eine mikro-, mithin subkritische Dimension, bleibt aber entscheidend für das Gelingen der Operation. Diese Informatisierung stellt eine medientheoretische Leistung des 20. Jahrhunderts von epistemologischer Tragweite dar. Das Digitale als genuines Medienereignis ereignet sich erst im Vollzug als technomathematische Operation. Digitalisieren meint die Prozessierung, also einen technologischen Vollzug von Informationsverarbeitung in Form von diskreten Datensequenzen, die sich im Wesentlichen auf die Binärziffern 0/1 reduzieren lassen (binär − diskret). In dieser Form sind nicht nur Zahlen im arithmetischen Sinne, sondern ebenso andere Signale codiert, wie es die Multimediawelt täglich bunt und lärmend vor Augen und in die Ohren führt. Im elektronischen Computer werden solche Daten als Impulsketten verarbeitet; die Information wird hier in einer Verschränkung von Zeit und Zahl durch ihre zeitliche Gruppierung ausgedrückt − eine von der Morsetelegraphie her vertraute Form. Insofern geht die digitale Kommunikation den klassischen Analogmedien voraus, um später umso mächtiger wiedereinzukehren (etwa die Pulse-Code-Modulation in der Nachrichtentechnik, ab 1943 an den Bell Labs entwickelt).
3. Die erkenntniswissenschaftliche Dimension der Digitalisierung Tatsächlich meint Digitalisierung im strengen Sinne ein präzises technomathematisches Verfahren, das im 20. Jahrhundert zur rechnenden Bewältigung informatisierter Kommunikation geworden ist. Zugleich zeitigt diese Praxis der Digitalisierung Konsequenzen von erkenntnistheoretischer Tragweite. Digital computing heißt, mit Diskontinuitäten zu rechnen. Digitalisierung vollzieht auf der mikrotechnischen Ebene, was Michel Foucaults Archäologie des Wissens ([1969] 1981; vgl. Artikel 12) einleitend für die makrotemporale Zeitwahrnehmung gefordert hat: eine Abkehr von der Privilegierung der Kontinuitäten (der historische und historiographische Diskurs) hin zu einer Analyse von Bruchstellen. War in der analogen (Elektro-)Technik das Signal in seiner schieren Physikalität noch der zentrale welthaftige Bezugspunkt, geht mit der Digitalisierung eine Immaterialisierung respektive Virtualisierung einher, die − der etymologischen Genese des Digitalen aus der Zählhand des Mittelalters zum Trotz − einen Verlust des haptisch Fassbaren bedeutet. Eine Medienarchäologie der Digitalisierung ist nicht mehr schlicht mit materialen, sondern ebenso mit mathematischen Artefakten befasst, zwischen Hard(ware) und Soft(ware) Science.
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III. Kulturen der Kommunikation
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Wolfgang Ernst, Berlin (Deutschland)
48. Rituale
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48. Rituale 1. Definitorische Aspekte 2. Theoriegeschichte
3. Die Frage nach der rituellen agency 4. Literatur (in Auswahl)
1. Definitorische Aspekte Unter einem Ritual wird eine formalisierte und wiederholbare Sequenz von sozialen Praktiken meist symbolischen Charakters verstanden. Diese können monologisches oder dialogisches Sprechen, Mimik, Gestik, den Gebrauch von Gegenständen oder Genuss von Substanzen, Körpermutilationen (z. B. Beschneidungen, Tätowierungen), Formen der sozialen Interaktion wie Versammlung, Opfergaben, Reinigung und Waschung sowie geistige oder körperliche Aktivitäten wie Konzentrationsübungen, Trance, Musik, Tanz, Mimesis oder Wettspiel umfassen. Das Wort Ritual geht vermutlich auf indoeuropäisch *rei (‚zählen‘) zu *ar- (‚fügen‘) zurück und bezeichnete im Sanskrit ursprünglich eine „rechte“ (rtáh) oder auch „göttliche Ordnung“ (rtam) (vgl. Walde und Hofmann 1954: 437). Biologische Theorien verstehen Rituale als Signale, die eine soziale Handlung (Unterwerfung, Bedrohung, Werbung) kommunizieren, während sie die Psychoanalyse als repetitiv auf ein Objekt („Fetisch“) gerichtete Zwangshandlungen fasst. Beide Ansätze sind aus Sicht einer allgemeinen Kulturwissenschaft − auf die sich der vorliegende Artikel konzentriert − zu eng und zudem normativ geprägt (vgl. Braungart 1996: 45). Kennzeichnend für außeralltägliche Rituale ist ihr dramatischer Charakter (vgl. Beattie 1966: 60): Leben wird in verdichteter Form gesellschaftlich aufgeführt, verarbeitet und beeinflusst. Durch die verlangsamende Betonung jedes Teilaspektes verleihen Rituale bestimmten Lebensabschnitte oder -erfahrungen einen feierlichen und weihevollen Charakter. Lévi-Strauss (1975: 789) spricht hier von der „Zerstückelung“. Die rituelle Situation löst auf diese Weise eine erhöhte Aufmerksamkeit und Sensibilität der Teilnehmer aus. Dies wird weiter verstärkt durch unalltägliche leibliche Erfahrungen der beteiligten Akteure im Ritual. Durch die körperliche Einbindung in einen formalisierten Zusammenhang werden das Ich und seine Begehren im sozialen, kulturellen und ökologischen Kontext verortet und zugleich von diesem geprägt und domestiziert, oft unter Bezug zu einem „nicht-empirischen Referenten“ (Firth 1951: 222), das heißt zumeist einer sakralen transzendenten Entität. Hoban (1980: 280) spricht von der „verjüngenden Dialektik von Individuation und sozialer Involvierung“ im Ritual. Durch diese emotionale Einbindung des sozial definierten Individuums bringen Rituale Entlastung von den Kontingenzen des Alltags und letztlich Glück und Heil. Systematisch kann in individuelle und kollektive Rituale, ferner jeweils in zyklische, Status-, Bestärkungs- und Krisenrituale differenziert werden (vgl. Snoek 1987). Spiro (1971: 199) hat außerdem zwischen dem Ritus als der kleineren Einheit und dem Ritual als der Gesamtheit, die mehrere Riten umfassen kann, unterschieden.
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III. Kulturen der Kommunikation
2. Theoriegeschichte In den Kulturwissenschaften lässt sich eine stetige Verlagerung des Ritualbegriffes von einer Auffassung, die es als aus Einzelzeichen zusammengesetzte symbolische Inszenierung begreift, hin zu einem Ansatz, der es als kommunikative Praxis versteht, beobachten (vgl. Bell 1997). Frühe Ethnologen und Religionswissenschaftler definierten das Ritual als religiöse, kultische Handlung zum Zwecke der Anbetung und Hierophanie transzendentaler Wesen, zur Aufführung des Mythos und zur Erlangung individuellen Heils (z. B. Eliade 1963). Sie versuchten, dessen Einzelelemente zu entschlüsseln, um eine ideale, textliche Bedeutung herauszufinden. Als ein in Szene gesetztes abstraktes Symbolsystem wurde dem Ritual eine klare soziale Makrofunktion zugeordnet: die Erzeugung und Reproduktion der Gruppenidentität und -solidarität (z. B. Smith 1889; Frazer 1890 ff.). Dies sollte unter anderem durch − wie Durkheim (1912) betont hat − die Trennung des Sakralen vom Profanen sowie ein durch kollektive Efferveszenz hervorgebrachtes normenbezogenes Gemeinschaftsgefühl erreicht werden. Durch ihre übermäßige Fokussierung auf eine Metabedeutung und Makrofunktion des Rituals haben diese Theorien anstelle einer Dekodierung, wie Streck (1998: 58) es kritisch formuliert, jedoch „eine Umkodierung, eine Erzählung über eine Erzählung oder Handlung“ vorgenommen. Denn, statt das Ritual selbst als eine kommunikative Praxis aufzufassen, mit der soziale Handlungen vollzogen und soziale Narrative zirkuliert werden, haben sie es durch Übertragung in ein anderes, wissenschaftliches Narrativ neu erzählt. Ab den 1960er Jahren fand zunächst eine Ablösung des Ritualbegriffs von der religiösen Sphäre statt. Eine erste Öffnung erfuhr der Begriff durch Goffman (1967), der auch formalisierte und sich wiederholende Alltagshandlungen als Rituale, in denen das Individuum als das sakrale Objekt der Moderne zelebriert werde, begriff. Mary Douglas (1966) erweiterte die Unterscheidung zwischen dem Sakralen und dem Profanen auf Alltagskategorisierungen wie zum Beispiel Reinheits- und Ordnungsvorstellungen. Lukes (1975) sowie Moore und Meyerhoff (1977) entdeckten das Rituelle auch im Säkularen wie z. B. in der Politik. Abgelöst vom Religiösen, wird Ritualen nun insbesondere die Funktion zugesprochen, soziale Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen zu erzeugen, aufrechtzuerhalten und zu modifizieren, nicht selten, indem auch auf das ethologische Konzept der Ritualisierung zurückgegriffen wird (Huxley 1966; vgl. z. B. die Aufsätze in Senft and Basso 2009). Connerton (1989) und später Assmann (1992) zählen Rituale als Bedeutungs- und Erinnerungszelebrationen hingegen zum kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. In der Tat erneuern Rituale meist das Bestehende, machen Verhalten vorhersehbar und erzeugen so soziales Vertrauen und Erwartungssicherheit (Bestätigungsrituale). Andererseits können sie aber auch innovativ wirken, indem sie durch soziale Persuasion Wandel erzeugen und Veränderungen generalisieren (Transformations-, Umkehrrituale, vgl. Bachtin 1969; Gluckman 1954). Neuere Theorien fragen damit weniger nach der Bedeutung oder Funktion des Rituals als nach seinem Handlungsaspekt. Eine repräsentationale Auffassung des Rituals, wie sie in den frühen Theorien vertreten wurde, wurde zumindest im ethnologischen Diskurs weitgehend durch ein immanentistisches Verständnis ersetzt, wobei insbesondere Turner (1968) und Geertz (1965; vgl. Artikel 14) wichtige Wegbereiter waren. Rituale sind aus dieser Perspektive keine Verfahren oder Medien der kulturellen Praxis, mit denen etwas ihnen Externes (Bedeutung) dargestellt wird, sondern sie sind die kulturelle Praxis selbst.
48. Rituale Dementsprechend sind es heute die fragile Performanz und die kontingenten Mikroeffekte einzelner tatsächlich durchgeführter Ritualhandlungen, auf die sich Ritualtheoretiker konzentrieren. Rituale werden als performative Modi der Kommunikation begriffen: als verkörperte Praxissequenzen, die sich bewährt haben und auf die (vorreflexiv) zurückgegriffen werden kann. Einige Theoretiker wie insbesondere Staal (1989) wagen sogar die Behauptung, Rituale seien gänzlich bedeutungslos − ihre Bedeutung liege allein in der immersiven Praxis und sie bestünden aus „Syntax ohne Semantik“ (Staal 1989: 108). Diese neue Tendenz der Ritualtheorie hat im Wesentlichen zwei unterschiedliche Strömungen hervorgebracht, die zwei gegenüberliegende Konnotationen des Performanzbegriffs widerspiegeln (vgl. Meyer 2007, 2010): Die erste Strömung bezieht sich auf Austins Sprechakttheorie (1962) und dessen Übertragung auf die Ritualtheorie durch Tambiah (1979). Für sie ist das Ritual vor allem eine kommunikative Handlung, mit der der Gemeinschaft oder individuellen Adressaten soziale Inhalte wie etwa grundlegende Werte der Gesellschaft oder Statusveränderungen ihrer Mitglieder vermittelt werden. Das Ritual kommuniziert, indem es inszeniert wird. Innerhalb dieser Strömung haben sich zwei Richtungen herausgebildet: Während Rappaport (1999) das Ritual als ein Kommunikationsmittel ansieht, das im peirceschen Sinne „indexikale Zeichen“ in ihrer reinstmöglichen Form produziert und auf diese Art und Weise (im Gegensatz etwa zur Sprache) den besten und einzig zuverlässigen Kanal für die Vermittlung sozialer Botschaften darstellt, gehen Strecker (1998) und Rappaports Kritiker (vgl. Robbins 2001; Watanabe and Smuts 1999) davon aus, dass Rituale weniger in einer eindeutigen als in einer mehrdeutigen und damit schwer fassbaren Weise kommunizieren, die von Machtdynamiken aufgeladen ist. Die zweite Strömung versteht Performativität nicht im Sinne von Austin als „kommunikative Kraft“, sondern im Sinne der Theateranthropologie (vgl. Schechner 1988) und Performancekunst (z. B. Abramovic 2001) als „Handeln an sich“. Die Ausführung, der Immersion erzeugende Flow des Rituals, wird hier als sein primäres Ziel begriffen. Aus dieser Perspektive gesehen, steht Performanz für Handeln, in dem Verfahren der Figuration und Formgebung routinisiert und ästhetisch überhöht werden. Die Regeln des Rituals, dessen „Syntax ohne Semantik“ und die „rituelle Hingabe“ (vgl. Humphrey and Laidlaw 1994) werden in dieser Strömung besonders hervorgehoben. Daneben wird von dieser Deutungsrichtung die Anschaulichkeit und Erfahrungsnähe hervorgehoben, die im Ritual, anders als im rein textlichen oder vokalen Sprechakt, auf besonders eindringliche und persuasive Weise gegeben ist (Dücker 2007; Meyer 2007).
3. Die Frage nach der rituellen agency Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Strömungen der Ritualtheorie kann in Begriffen der agency gefasst werden. Die erste Strömung versteht unabhängig von ihrer spezifischen Ausrichtung das Ritual als intentionale, Macht ausübende kommunikative Handlung, die den Interessen bestimmter Gemeinschaftsmitglieder zugutekommt. Die Akteure werden hier als aktive Mittler zwischen Regeln und Realitäten begriffen. Die zweite Strömung hingegen begreift es als ein Regelbefolgen während des rituellen Handelns, das vor allem einen psychischen und ästhetischen Effekt auf diejenigen ausübt, die es vollziehen bzw. ihm beiwohnen. Akteure sind hier als passive Zwischenglie-
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III. Kulturen der Kommunikation der verstanden. Während also rituelle agency in der ersten Strömung eindeutig bestimmten Akteuren zugeordnet werden kann, wird sie in der zweiten Strömung den Akteuren zugunsten der rituellen Struktur vollständig aberkannt. Humphrey und Laidlaw (1994: 11−12) haben mit einer Unterscheidung in „liturgische“ und „performancezentrierte“ Rituale versucht, beiden Strömungen gerecht zu werden: Während in liturgischen Ritualen durch starres Regelbefolgen menschliche agency komplett an ein transzendentes Regelwerk abgegeben wird, wird den zentralen Akteuren (rituellen Experten wie z. B. Schamanen) in performancezentrierten Ritualen ein hohes Maß an individueller performativer Kreativität zuerkannt. Die beiden angeführten Strömungen unterscheiden sich somit in der Deutung der Frage, wer der Autor des Rituals ist, da es einerseits in Liturgien und Symbolen kanonisiert ist, andererseits aber nur in und durch seine Auf- und Ausführung existiert. In Analogie zu Lévi-Strauss’ (1955) berühmter Frage, ob tatsächlich Menschen den Mythos erzählen oder ob es nicht vielmehr der Mythos ist, der sich selbst durch den Menschen erzählt, stellt sich hier die Frage: Werden Rituale von menschlichen Akteuren ausgeführt oder sind es die Rituale, die sich selbst durch Menschen ausführen (lassen)? Agency ist in den letzten Jahren zu einem viel diskutierten Konzept geworden, wenn es um das Verhältnis zwischen Handlung und Struktur geht. Das Ritual ordnen die meisten der zeitgenössischen Sozialtheorien explizit dem strukturellen Pol der Polarität von Handlung und Struktur zu (vgl. etwa Bell 1992; Luhmann 1997; vgl. Artikel 15). Sie deuten es als soziostrukturellen Faktor, der durch seine kanonische Vordefiniertheit den individuellen Akteuren als externe Macht gegenübertritt. Akteure können im Ritual gar nicht anders, als die bestehende Sozialstruktur zu reproduzieren. Vergleichbar mit Institutionen stellen Rituale für sie konventionalisierte Lösungen für spezifische gesellschaftliche Probleme dar: Sie reproduzieren Gefühle der Solidarität und Gruppenmitgliedschaft oder des Optimismus (vgl. Durkheim 1912; Malinowski 1935), machen neue Definitionen von Situationen und Personen öffentlich (vgl. Gennep 1909), schlichten Konflikte und verbergen gesellschaftliche Widersprüche (vgl. Gluckman 1954; Turner 1968) oder ermöglichen die Eröffnung und Beendigung sozialer Kontakte oder gar sozialer Intimität unter Unbekannten (vgl. Goffman 1967). Ihre Kraft liegt gerade darin, dass sie durch ihre festgelegte Form Kommunikation gar nicht zulassen, weshalb Luhmann (1997: 235) sie als „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ bezeichnet hat. Rituale verschieben so − nicht unähnlich zu kommunikativen Gattungen (Luckmann 1986) − individuelle Verantwortlichkeiten und Unsicherheiten auf gesellschaftlich anerkannte und vertraute Handlungswege und entlasten so den individuellen Akteur von der Unsicherheit seiner kontingenten Situation. Das Ritual liefert formale, sequenzielle Vorgaben, auf die sich Akteure in Situationen der Entscheidungsunsicherheit („what to do next?“, Garfinkel 1967: 12) zurückziehen können. Kramer (1984) hat mit dem „Passiones-Prinzip“ darauf aufmerksam gemacht, dass in der Tat im Ritual (wie auch in vielen anderen Situationen des Lebens) die Erfahrung des Selbst als ein Erduldungen (passiones) erlebendes Wesen als Gegenstück zu einem Handlungen (actiones) hervorbringenden Akteur eine große Rolle spielt. Aus Sicht der rituellen Akteure werden nicht nur der eigene Körper und Geist, sondern auch die eigenen Handlungen oft als durch transzendente Mächte angeleitet erfahren. Doch auch aus einer analysierenden Beobachterperspektive zeigen viele Rituale wie etwa das polyphone warã der Xavante (vgl. Graham 1993) deutlich, dass sie die agency der beteiligten Individuen tatsächlich unter Umständen beschränken und strukturell auf mehrere Individuen
48. Rituale verteilen. Bloch (1989) sieht Rituale daher als „extreme Form traditioneller Autorität“. Religion und Ritual dienen seiner Auffassung zufolge der Reproduktion und Verfestigung gesellschaftlicher Hierarchien. Neuere Studien haben jedoch herausgestellt, dass Rituale nicht nur individuelles Handeln beschränken, sondern auch ermöglichen (vgl. z. B. Keane 1997; Arno 2003; Feuchtwang 2007) und dass ihre Stereotypizität ihren Vollzug keineswegs vorab invariabel festlegt, sondern dass sie durchaus auch scheitern können (z. B. Hüsken 2007). Erstens sind Rituale prinzipiell wandelbar und ihre Formen und Funktionen werden verhandelt und umkämpft. Zweitens ermächtigen manche Rituale ihre Akteure, statt sie zu beschneiden. Diese Formen der Ermächtigung können durchaus in konträrem Verhältnis zur herrschenden Sozialstruktur stehen. Drittens unterliegen Rituale kontextuellen und performativen Gelingensbedingungen, die nicht einfach nur passiv bestehen, sondern aktiv hergestellt werden müssen. Aus diesem Grund eröffnen Rituale bei aller Stereotypizität stets Spielräume in ihrer Umsetzung, da formale Festlegungen nicht alle Ausdrucksebenen gleichermaßen betreffen müssen und im einen Moment die Festlegung der Semantik im Vordergrund stehen kann, während die Syntax offenbleibt, während im anderen Moment das Umgekehrte der Fall sein mag (vgl. Irvine 1979). Die theoriegeleitete Vorstellung, dass Rituale stets in gleicher Form handlungsgesättigt, aber semantisch entleert seien und ihre agency stets in gleichem Maß systematisch verunklart sei, ist daher nicht empirisch tragfähig (vgl. Jäger 2004). Dabei bleibt die Frage bestehen, wo die rituelle Handlungsträgerschaft zu verorten ist: bei individuellen, kollektiven oder gar bei nicht-menschlichen Akteuren? Zu unterscheiden sind gegenwärtig zumindest zwei Perspektiven auf agency: eine produktions- und eine rezeptionsorientierte Perspektive. Die produktionsorientierte Perspektive zielt besonders auf Aspekte wie die auf einem Wissen über das Funktionieren der Welt basierende Kontrolle über das eigene Handeln, den bewussten und strategischen Einsatz von Ressourcen sowie die Reflexion von und Verantwortung für vollzogene Handlungen ab (vgl. z. B. Sewell 1992). Indem sie also auf die Urheberschaft von Handlung fokussiert, wird sie insbesondere als eine Beobachterkategorie eingesetzt. Die rezeptionsorientierte Perspektive stellt demgegenüber die Effekte und temporal-emergenten Dimensionen von Handlungen in der (sozialen) Welt als zentrales Kriterium für agency auf (vgl. z. B. Emirbayer und Mische 1998). Sie fokussiert auf das Potenzial, die Welt zu verändern (z. B. Blut in Wein zu verwandeln) und bezieht sich somit in besonderem Maß auf die Akteursperspektive. Ob agency grundsätzlich nur einzelnen erkenntnisbegabten Lebewesen zugeschrieben werden kann oder ob es auch kollektive, nicht-menschliche oder gar übermenschliche Akteure geben kann, ist heftig umstritten. Während Vertreter der traditionellen Wissenssoziologie (vgl. Collins and Yearley 1992) und auf die durkheimsche Religionssoziologie (1912) zurückgreifende Anhänger eines methodologischen Agnostizismus dies für eine fehlerhafte Projektion menschlicher Eigenschaften auf Dinge (das heißt für eine Anthropomorphisierung) halten, sind Repräsentanten der Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Callon 1986) und auch einige Ritualtheoretiker (vgl. Sax 2006) der Auffassung, dass die Annahme, nur personale Akteure könnten agency besitzen, eine „substantivist fallacy“ sei (Sax 2006: 478). Die Lokalisierung von agency kann sich durchaus im Lauf eines einzelnen Rituals ändern und zwischen der liturgieorientierten Performanz von Konventionalität und der individuellen Ermächtigung hin- und herchangieren (Meyer 2010). Ein Ritual stellt dann
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III. Kulturen der Kommunikation mit jeder Realisierung wieder die Gelegenheit dar, sich selbst zu erneuern und seine Formen und Modalitäten zu überarbeiten und der aktuellen Situation anzupassen.
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III. Kulturen der Kommunikation Luckmann, Thomas 1986 Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens. Kommunikative Gattungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheft) 27, 191− 211. Luhmann, Niklas 1997 Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lukes, Steven 1975 Political Ritual and Social Integration. In: Sociology 9(2), 289−308. Malinowski, Bronislaw 1935 Coral Gardens and their Magic. A Study of the Methods of Tilling the Soil and of Agricultural Rites in the Trobriand Islands. London: Allen & Unwin. Meyer, Christian 2007 Ritual. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 8, 246−260. Tübingen: Niemeyer. Meyer, Christian 2010 Performing Spirits. Shifting Agencies in Brazilian Umbanda Rituals. In: Angelos Chaniotis, Silke Leopold, Hendrik Schulze, Eric Venbrux, Thomas Quartier, Joanna Wojtkowiak, Jan Weinhold and Geoffrey Samuel (eds.), Ritual Dynamics and the Science of Ritual. Vol. II: Body, Performance, Agency and Experience. 35−58. Wiesbaden: Harrassowitz. Moore, Sally F. and Barbara Meyerhoff (eds.) 1977 Secular Rituals. Amsterdam: Van Gorcum. Rappaport, Roy A. 1999 Ritual and Religion in the Making of Humanity. Cambridge: Cambridge University Press. Robbins, Joel 2001 Ritual Communication and Linguistic Ideology. A Reading and Partial Reformulation of Rappaport’s Theory of Ritual. In: Current Anthropology 42(5), 591−614. Sax, William 2006 Agency. In: Jens Kreinath, Jan Snoek and Michael Stausberg (eds.), Theorizing Rituals. Vol. I: Issues, Topics, Approaches, Concepts, 473−481. Leiden: Brill. Schechner, Richard 1988 Performance Theory. New York: Routledge. Senft, Gunter and Ellen Basso (eds.) 2009 Ritual Communication. Oxford: Berg. Sewell, William H. 1992 A Theory of Structure. Duality, Agency, and Transformation. In: The American Journal of Sociology 98(1), 1−29. Smith, W. Robertson 1889 Lectures on the Religion of the Semites. The Fundamental Institutions. London: Black. Snoek, Jan 1987 Initiations. A Methodological Approach to the Application of Classification and Definition Theory in the Study of Rituals. Pijnacker: Dutch Efficiency Bureau. Spiro, Melford E. 1971 Buddhism and Society. A Great Tradition and its Burmese Vicissitudes. London: Allen & Unwin. Staal, Frits 1989 Rules without Meaning. New York: Lang. Streck, Bernhard 1998 Ritual und Fremdverstehen. In: Alfred Schäfer und Michael Wimmer (Hg.), Rituale und Ritualisierungen, 49−60. Opladen: Leske und Budrich.
49. Mythologie/Mythos
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Christian Meyer, Konstanz (Deutschland)
49. Mythologie/Mythos 1. Vorbemerkung 2. Mythos versus Logos: ein Verhältnis der Komplementarität
3. Die Evidenz des Mythos 4. Literatur (in Auswahl)
1. Vorbemerkung Die Mythologie der griechischen und sodann römischen Antike ist für die Kultur Europas konstitutiv − von den frühesten Anfängen bis auf den heutigen Tag. Sie ist der Gesamtbestand der überlieferten Geschichten, die Mythen zu nennen man übereingekommen ist. Die Besonderheit der antiken Mythen liegt in ihrer Wirkung und Rezeption, in der Spezifik ihrer Tradierung über Zeiten und Räume. Jede Zeit und jedes Werk − der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik, der Philosophie, auch der Psychologie − rezipieren und verändern zugleich die Mythen nach ihren jeweiligen Interessen und Intentionen und treten dabei explizit oder auch nur implizit mit der Tradition in eine ebenso streitbare wie fruchtbare Kommunikation. Es genügt, eine einzige mythische Figur über die Jahrtausende in Text und Bild zu verfolgen, in ihren Varianten zu beschreiben und zu erklären, und das Ergebnis ist in nuce eine Geschichte der europäischen Kultur und der sie je leitenden geistigen und künstlerischen Positionen. Das zeigen eindrucksvoll die an Zahl nicht mehr überschaubaren Arbeiten zu Wirkung und Rezeption der antiken Mythologie allgemein, einzelner Mythen bzw. mythischer Figuren im Besonderen. Die kulturelle Ubiquität der antiken Mythen fordert daher die Frage heraus, worin die über Jahrtausende ungebrochene Faszination des antiken Mythos begründet ist. Die Antwort, die in der Folge entwickelt wird, lautet knapp: Sie ist begründet in seinen spezifischen Verfahren der Kommunikation. Mythos steht − wie man mit Roland Barthes formulieren könn-
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III. Kulturen der Kommunikation te − für eine spezifische Verfahrensform der kulturellen Semantik. Er ist „kein Objekt, kein Begriff und keine Idee“, sondern vielmehr „eine Weise des Bedeutens“ (Barthes [1957] 2010: 252).
2. Mythos versus Logos: ein Verhältnis der Komplementarität Eine Definition des Begriffs Mythos, die allgemeine Geltung beanspruchen könnte, ist nicht möglich. Das hat seinen Grund in dessen ideologischer Aufladung seit den Anfängen seines Gebrauchs in der griechischen Antike bis in die Gegenwart. Es war insbesondere Platon, der ebenso prominent wie folgenreich Mythos in Differenz zu Logos gesetzt hat. Logos, so am Ende des zweiten Buches der Politeia gelegentlich der Erörterung der musischen Erziehung der Wächter (376d−383c), meint die Rede als geformte und geordnete Sprache, die wiederum zu unterscheiden ist in wahre Rede (alêthês logos) und in unwahre Rede (pseudos logos) (376e). Die unwahre Rede aber ist der Mythos. Unwahr ist der Mythos aus zwei Gründen: einem ethischen, sofern er nicht das Gute und das Vorbildliche der Götter in Rede bringt; einem ontologisch-epistemologischen, sofern er als Rede immer nur Abbild (eidolon) der Wahrheit ist (zu Platons Mythosbegriff vgl. Collobert, Destrée and Gonzalez 2012). Mit Mythos und Logos unterscheidet Platon zwei differente Weisen des Wissens: Der Logos steht für ein argumentativ überprüfbares Wissen, er ist Wahrheit; der Mythos tradiert ein nicht überprüfbares und nicht argumentatives Wissen über die äußere Wirklichkeit, er ist Mimesis (Cassirer 1965: 77). Platons Unterscheidung von Mythos und Logos generiert nicht nur zwei differente Diskurstypen, den mythischen Diskurs und den logischen Diskurs; vielmehr ist erst mit der Konstitution des logischen Diskurses, und das heißt mit der platonischen Metaphysik, der mythische Diskurs ermöglicht. Damit wird die Dichotomie, die Platon schafft, zu einer Komplementarität: Mythos und Logos sind in der Folge aufeinander verwiesen. Ein Dispositiv ist geschaffen, das in Variationen das Mythosverständnis und das Mythosverhältnis in allen nachfolgenden Jahrhunderten bestimmen wird: Mythos ist immer das andere, und als das andere hat Mythos immer eine Funktion. Mythos fungiert entweder − wie bei Platon im zweiten und im zehnten Buch der Politeia − als das Schlechtere der Vernunft oder − wie es sich in Reaktion auf dieses Verständnis herauskristallisieren wird − als das Bessere der Vernunft, mithin als das Inferiore des Logos oder als das dem Logos Überlegene. Die Komplementarität von Mythos und Logos kann in Dialektik umschlagen − „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (Horkheimer und Adorno 1947: 13). Allerdings ist das dialektische Verhältnis von Mythos und Aufklärung bzw. Logos normativ, wohingegen das komplementäre Verhältnis von Mythos und Logos die jeweilige relativierende Funktion von Mythos gegenüber Logos und vice versa herausstellt. Schon hier wird deutlich: Mythos, Begriff und Sache, wird funktionalisiert; Begriff und Sache des Mythos sind nicht wertfrei. Dabei ist es wesentlich zu sehen, dass die philosophischen und theoretischen Reflexionen darüber, was Mythos sei, weit mehr Auskunft geben über die jeweilige Philosophie und Theorie, ihren historischen Ort und ihre konzeptuellen Implikationen als über das Phänomen Mythos selbst. So ist − um nur zwei Beispiele zu nennen − die Dialektik Mythos/Logos, wie sie Horkheimer und Adorno positionieren, einer historischen Erfahrung geschuldet, die − unerklärbar − eine Erklä-
49. Mythologie/Mythos rung suchte und das sich über Jahrtausende herausgebildet habende und allgemeine Geltung beanspruchende Fortschrittsschema Mythos − Aufklärung, seinerseits vor allem seit der Romantik konterkariert durch ein Verfallsschema, infrage stellte: „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und durch Wissen stürzen“ (Horkheimer und Adorno 1947: 10). Tatsächlich aber habe die Verabsolutierung des Wissens, näherhin der Rationalität, eine Verblendung zur Folge. Die Konstatierung einer Remythisierung des Logos, die ihrerseits eine Rationalisierung des Mythos auf den Plan rufe, ist aber selbst ein Mythos im platonischen Verständnis: eine große „unwahre Rede“, die gleichwohl ihre Wirkung nicht verfehlt: die Gründe für die Zivilisationskatastrophe des 20. Jahrhunderts zu evidenzieren. Analog im Verfahren, nicht in der Intention, ist Hans Blumenbergs wirkmächtige Mythostheorie (Blumenberg 1971: 11−66, 1979): Der antike Mythos sei eine spielerische Reaktion auf die Erfahrung von Terror, suche sich von einer als übermächtig erfahrenen Wirklichkeit zu distanzieren, indem er sie überführe in eine Erzählung, in Poesie. Die Pointe der blumenbergschen Theorie besteht darin, dass sie eine Bestätigung und Widerlegung zugleich des Relationsschemas von Mythos und Logos ist: Der Mythos, die Erzählung als poetisch gestaltete Geschichte, hat die Funktion, Numinoses wenn nicht zu rationalisieren, so doch spielerisch außer Kraft zu setzen, ihm seinen Schrecken zu nehmen. Es ist dieses dem Mythos zugeschriebene Potenzial, das ihn durch die Zeiten hindurch für immer neue Aufnahmen, Variationen, Transformationen attraktiv mache und damit die Voraussetzung habe, alle Absolutheitsansprüche von sich zu weisen: die Ansprüche übersteigerter Rationalität wie die jedes Dogmatismus. Auch hier ist die Theorie selbst ein Mythos, eine große funktionelle Erzählung, die eine ideologische Position evidenziert: dass es einen Ort der Rationalität gebe, der ihrer Verabsolutierung zugleich Widerstand leiste − den antiken Mythos und seine Rezeptionen. Analoges gilt für alle Mythentheorien und Mythenphilosophien der Neuzeit, vom frühen 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart − von Vico, Herder, Heyne, Fr. Schlegel, Creuzer über Hegel, Cassirer, Nietzsche, Kerényi, Lévi-Strauss bis zu Walter Burkert, Paul Veyne, Kurt Hübner und weiteren hier nicht Genannten (hierzu Moog-Grünewald 2008): Sie entwerfen ihren Gegenstand nach je eigenen Interessen, ob sie nun die spezifische Wahrheitsleistung des Mythos ins Zentrum rücken oder aber symbolphilosophisch, strukturalistisch-ethnologisch, erkenntnistheoretisch oder kulturphilosophisch argumentieren − und der jeweilige Gegenstand erzeugt die Evidenz des Entwurfs. Dies ist das Muster, nach dem Mythostheorien und -philosophien funktionieren. Es ist dasselbe, das auch dem Mythos zugrunde liegt, genauer: das eine Geschichte zum Mythos macht: die Generierung einer Evidenz aus der funktionalen Inanspruchnahme einer Geschichte, die Tradition hat, näherhin die ihre Tradition auf die griechisch-römische Antike zurückführt. Der Mythos ist nicht, er wird gemacht, und er wird immer wieder neu gemacht: mittels einer sprachlich (auch bildlich) und strukturell intentional geordneten Geschichte, deren Funktion es ist, eine bestimmte Aussage zu machen und sie zu evidenzieren. Hierin liegt auch noch gegenwärtig seine Funktion als Verfahren der kulturellen Semantik.
3. Die Evidenz des Mythos Ein Beispiel: Antigone, die Tochter des Oidipus, widersetzt sich dem öffentlichen Verbot Kreons, des Herrschers von Theben, ihren Bruder Polyneikes zu bestatten, und nimmt
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III. Kulturen der Kommunikation dafür den Tod in Kauf. Dies ist in aller Knappheit und auch sachlichen Verkürzung die gut dreitausend Jahre alte Geschichte der Tochter des Oidipus. Die Ursprünge der Geschichte sind unbekannt. Überliefert ist die Geschichte naturgemäß nur in schriftlichen Zeugnissen, vor allem in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles aus dem letzten Drittel des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Bis zu ihrer ersten schriftlichen, auch bildlichen Fixierung − wahrscheinlich gab es vor Sophokles zahlreiche weitere schriftliche Zeugnisse − wurde die Geschichte über Jahrhunderte hinweg nur mündlich überliefert. Zum Mythos − im Sinn des griechischen Wortes − wurde die Geschichte erst aufgrund ihrer schriftlichen bzw. bildlichen Gestaltung und der mit der Gestaltung intendierten Bedeutung. Denn − so ist zu erinnern − das griechische Wort Mythos bedeutet Rede, Erzählung, Konzeption. Mythen sind demnach sprachlich und formal in einer bestimmten Intention gestaltete Geschichten, sie sind „traditionelle, bedeutsame Erzählungen, [sind] anthropomorph-adäquate, speicherbare und abrufbare Programme; […] mit Namen versehen, die eben die Abrufbarkeit erleichtern, […] sie sind der Tendenz nach überindividuell und im Rahmen einer Kultur traditionell, oft vorbildlich-exemplarisch; sie werden eingesetzt, ‚angewandt‘ im Rahmen der vielerlei Interessen, die Gruppen und Individuen […] verfolgen, wobei sie die gegenseitige Verständigung bei Interaktionen ermöglichen und so das Verhalten kanalisieren“ (Burkert 1993: 16). Im Ganzen sind Mythen ein „Komplex traditioneller Erzählungen“, die geeignet sind, „Wirklichkeitserfahrung und [Wirklichkeits]entwurf zu gliedern und in Worte zu fassen, mitzuteilen und zu bewältigen, die Gegenwart an Vergangenheit zu binden und zugleich Zukunftserwartungen zu kanalisieren“ (Burkert 1981: 12). Daraus folgt, dass Mythen Erzählungen sind, die ordnen und die begründen. Ihre Besonderheit und infolgedessen ihr Unterscheidungsmerkmal liegen nicht in ihrem Inhalt, mithin in der Geschichte als solcher, sondern in deren Form und der mit der Form verbundenen Funktion: Welt- und Wirklichkeitserfahrung zu strukturieren und zu erklären. Damit ist das griechische Wort Mythos in seiner Bedeutung durchaus treffend im Kontext der frühen griechischen Kultur bestimmt; doch bleibt ein wesentlicher Aspekt unberücksichtigt. Von Anbeginn wird der Mythos, verstanden als funktionelle Erzählung, in Variation wiederholt, ja durch die Zeiten hindurch in unendlicher Folge transformiert in der Absicht, gerade in der erneuten Aufnahme und Transformation der vorausgegangenen Varianten eine differente Aussage zu evidenzieren. Es sind mithin die − potenziell − unendliche Folge der Transformationen und die damit verbundenen immer neuen Evidenzierungen einer Aussage, die den Mythos, verstanden als funktionelle Erzählung, zum Mythos im ideologisch aufgeladenen Verständnis machen und in diesem Verständnis präsent halten − über alle Zeiten und Räume hinweg. Es ist − mit anderen Worten − die Evidenz des Mythos, die seine ungebrochene Präsenz garantiert. Die Evidenz des Mythos ist keine Eigenschaft, sondern ein Produkt: der Sprache, der Kommunikation, der Kultur. Doch als Produkt hat sie den Anschein der Eigenschaft. Roland Barthes hat, ohne auf den antiken Mythos zu rekurrieren, Ende der 1950erJahre eine Semiologie des Mythos entworfen, die zur Beschreibung der Verfahren der Transformation und der Evidenzierung gerade auch des antiken Mythos von Belang ist. „Le mythe est une parole volée et rendue“ (Barthes [1957] 1970: 838). In diesem knappen Satz bringt Barthes ein komplexes semiologisches System auf den Begriff, dessen Relevanz und Aktualität für Kultur und Politik, für die moderne Polis tout court, in den Mythologies, den sogenannten Mythen des Alltags, ihre Anschauung findet. Das wohl
49. Mythologie/Mythos eindrücklichste Beispiel für das, was Barthes unter Mythos versteht, ist seine Beschreibung und Analyse des Titelbildes von Paris-Match vom 25. Juli 1955: Auf dem Titel (sc. von Paris-Match) erweist ein junger Neger in französischer Uniform den militärischen Gruß, die Augen erhoben und vermutlich auf eine Falte der Trikolore gerichtet. Dies ist der Sinn des Bildes. Doch ob naiv oder nicht, ich sehe wohl, was es mir bedeutet: daß Frankreich ein großes Imperium ist, daß alle seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und daß es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient. (Barthes 2010: 260 f.)
Mythos ist hier verstanden als „Metasprache“, insofern „es sich um eine zweite Sprache [langue] handelt, in der man von der ersten spricht“ (Barthes 2010: 259). Der Mythos beansprucht einen Sinn auf einer zweiten Ebene des Zeichens, die die erste Ebene des Zeichens nicht hat: Das Zeichen „ein schwarzer Soldat erweist den französischen militärischen Gruß“ wird zu einem Bezeichnenden, das etwas Bestimmtes bezeichnet und als zweites, überlagerndes Zeichen eine Bedeutung gewinnt, die dem ersten Zeichen zugeschrieben wird: Der farbige Soldat vermittelt nicht nur eine Vorstellung von der Größe des französischen Imperiums, insofern auch er qua Geburt auf französischem Territorium Franzose ist, vielmehr ist er stolz, Citoyen dieses Imperiums, der Grande Nation, zu sein. Im Ganzen wird bedeutet: Kolonialismus ist nicht Unterdrückung, vielmehr ein großes Glück für alle, die dem Imperium unterstellt sind. Der Mythos entwendet die Äußerung und verwendet sie für seine Zwecke. Er ist eine „entwendete und zurückerstattete Rede“, wobei „die zurückgegebene Rede nicht mehr ganz die gestohlene“ ist (Barthes 2010: 273). Dabei ist es wesentlich zu sehen, dass Mythos einen Sinn wiederverarbeitet, den er vorfindet: Er ist nicht referenziell auf die Welt selbst gerichtet, sondern auf semiologisches Material, das in unterschiedlichen medialen Gestalten auftreten kann: mündlich, schriftlich oder bildlich. Der Mythos findet also immer schon eine erste Sprache (und nicht »die Dinge selbst«) vor, die er verarbeitet. Diese greift er auf, um „eine zweite Sprache“ zu generieren, die „nicht die Dinge, sondern ihre Namen“ behandelt: „denn der Mythos kann nur auf Objekte einwirken, die bereits die Vermittlung durch eine erste Sprache erfahren haben“ (Barthes 2010: 299 f.). Der Mythos ist „immer Metasprache“ (Barthes 2010: 297). Mit der Definition des Mythos als „Metasprache“ hat Roland Barthes, ohne dies zu intendieren, auf einen Sachverhalt und auf ein Verfahren hingewiesen, das den seit der frühen griechischen Antike bekannten Erzählungen von Göttern, Heroen und Menschen eignet: Diese werden eben dadurch zu Mythen, dass sie immer schon auf eine vorgängige Erzählung rekurrieren, diese sich aneignen, sie entwenden und wieder zurückgeben − doch alteriert, vereinnahmt für neue und andere, ja fremde Zwecke. Der Mythos ist nicht, er wird gemacht − von Anbeginn an. Das erste bildliche oder sprachliche Zeugnis ist Mythos im barthesschen Verständnis. Wenn Jean Anouilh eine Antigone, das Stück und die Figur, auf die Bühne bringt, dann in der Absicht, Résistance zu inszenieren. Dies gelingt ihm dadurch, dass er mit Kreon und Antigone auf eine „Zeichen-Ganzheit aus Signifikant und Signifikat“ (Jäger 2010 nach Barthes) zurückgreifen kann, die beispielsweise bei Sophokles vorgegeben ist: Ungehorsam einer jungen Frau, zudem Schwester, gegenüber der Obrigkeit. Diese Zeichenganzheit des ersten Systems wird − formuliert man mit Barthes (vgl. hierzu Jäger 2010) − im zweiten mythologischen System zu einem einfachen Signifikanten, der für Anouilhs „eigene Semantisierungsintentionen“ (Jäger
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III. Kulturen der Kommunikation 2010) genutzt wird: Antigone wird zur Heroin der Résistance. „Histoire volée et rendue“ − könnte man in Variation von Barthes’ „parole volée et rendue“ sagen und dabei herausstellen, dass im Falle einer histoire die Komplexität der Zeichenganzheit des ersten Systems (ethische Ambiguität bei Sophokles, Dialektik bei Hegel etc.) die der parole immer übertrifft. Analoges gilt für die Antigone-Variante des Sophokles: Zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und in bestimmten politischen Gegebenheiten hat Sophokles die Erzählung von Antigone aufgenommen, um die Tragik einer letztlich unentscheidbaren Handlungssituation aufzuzeigen. Allerdings ist auch hier die Evidenz der Aussage gestohlen, sie ist erschlichen. Der Antigone-Mythos in der anouilhschen Version und in der Version des Sophokles sind Varianten von zahlreichen bereits existierenden Varianten des Antigone-Mythos, genauer: Er ist die Transformation einer bereits in zahlreichen mythischen Varianten existierenden Erzählung mit der jeweiligen Absicht, die eigene neue Position gerade auch unter Rekurs auf die Tradition zu evidenzieren. Und das heißt: Der AntigoneMythos in Gestalt der sophokleischen Tragödie und auch in der anouilhschen Version gewinnt seine − zum Beispiel politische − Evidenz nicht allein daraus, dass er die basalen narrativen Elemente der Antigone-Erzählung unter der Hand transformiert, sich seine politische Botschaft in der Transformation erschleicht. Der Antigone-Mythos in der sophokleischen und in der anouilhschen Version gewinnt seine politische Evidenz auch daraus, dass er sich auf − theoretisch − alle vorgängigen Varianten des Mythos implizit bezieht und diese in der Bezugnahme gleichfalls transformiert. Es ist also auch die Tradition, die die Innovation evidenziert − und nobilitiert. Es lässt sich knapp präzisieren: Der Mythos ist eine Geschichte, eine Erzählung, deren Intention es ist, Bedeutung zu generieren, die ihr nicht per se eignet, die ihr vielmehr nach jeweiligen religiösen, politischen, philosophischen, ästhetischen, allgemein kulturellen Interessen zugeschrieben wird und die aufgrund spezifischer kommunikativer Verfahren die ihr eigene Evidenz erzeugt.
4. Literatur (in Auswahl) Barthes, Roland [1957] 1970 Le Mythe, aujourd’hui. In: ders., Mythologies suivie de Le Mythe, aujourdhui. Œuvres complètes, Tome I − 1942−1961. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty. Paris: Éditions du Seuil. Barthes, Roland [1957] 2010 Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blumenberg, Hans 1971 Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Manfred Fuhrmann und Hans Blumenberg (Hg.), Terror und Spiel, 11−66. München: Fink. Blumenberg, Hans 1979 Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Burkert, Walter 1981 Mythos und Mythologie. In: Erika Wischer (Hg.), Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt. Bd. I: Die Welt der Antike 1200 v. Chr. − 600 n. Chr., 11−35. Berlin: Propyläen. Burkert, Walter 1993 Mythos − Begriff, Struktur, Funktionen. In: Fritz Graf (Hg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, 9−24. Stuttgart/Leipzig: Teubner.
49. Mythologie/Mythos
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Cassirer, Ernst 1965 Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Collobert, Catherine, Pierre Destrée and J. Francisco Gonzalez 2012 Plato and Myth Studies on the Use and Status of Platonic Myths. Leiden: Brill. Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno 1947 Dialektik der Aufklärung. Amsterdam: Querido. Jäger, Ludwig 2010 „Le mythe est une parole volée et rendue“. Mythos und Semiologie bei Roland Barthes. Köln: Morphomata (unpubl. Manuskript). Moog-Grünewald, Maria (Hg.) 2008 Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. (Der Neue Pauly. Supplemente 5.) Stuttgart/Weimar: Metzler.
Maria Moog-Grünewald, Tübingen (Deutschland)
Diskursdomänen Domains of discourse 50. Wissenschaft/Bildung 1. Kommunikation als kulturell geprägte Lebenspraxis 2. Domäne Wissenschaft und Bildung: Charakterisierung des Tätigkeitsbereichs durch die sprachlichen Manifestationen Text-Gespräch in der Formation von Diskursen
3. Domäne Wissenschaft und Bildung: Modell dreier grundlegender Sprachhandlungstypen als Analysekategorien zur Bestimmung akteursspezifischer und domänenspezifischer Diskurspraktiken 4. Literatur (in Auswahl)
1. Kommunikation als kulturell geprägte Lebenspraxis „Die Kommunikation wird in der Lebenspraxis, in Technik, Institutionen und Wissenschaften ausschließlich in sozialen Situationen vollzogen, in denen Personen mit ihrer wirklichen Umgebung in Beziehung treten und dabei Informationen erheben und/oder austauschen“ (Steger 1984: 186). In den folgenden Ausführungen wird dieser Auffassung gemäß Kommunikation als eine in Kulturen konventionalisierte Praxis verstanden. Der Kommunikationsbereich Wissenschaft und Bildung erfasst die sozial-kommunikative Praxis aller Wissensdomänen, ob sozial-, geistes- oder naturwissenschaftlicher Provenienz. Diese Praxis (Schmidt [1973: 43] spricht von „kommunikativen Handlungsspielen“ oder Levinson [1979] von „specific kinds of social activity“, die er „activity types“ nennt) gilt es im Hinblick auf Sprachhandlungen zu analysieren. Denn das zentrale Moment kulturell geprägter Kommunikation, das darin besteht, dass kulturspezifisch sozialisierte Akteure mit ausgewählten Zeichen in zu interpretierenden Kontexten bei antizipierten Adressatenerwartungen durch Sprachhandeln eine Wirkung zu erreichen suchen, ist auf der Ebene der linguistischen Pragmatik am adäquatesten zu beschreiben. In diesem Zusammenhang weisen Feilke und Linke (2009) auf die zentrale Rolle der Begriffe Handlung, Kultur, Medium, Kontext und Zeichen in der Theoriediskussion hin und präzisieren deren Beziehung wie folgt: „Eine kulturell mit Sinnoptionen ausgestattete Handlung wird über ein kulturell rückgebundenes Medium in einem bestimmten Kontext als Zeichenhandlung realisiert“ (Feilke und Linke 2009: 5). Es geht im Folgenden um die sprachliche Konstitution, Aushandlung und Vermittlung von Fachwissen in den für den Kommunikationsbereich Wissenschaft und Bildung einschlägigen Wissensdomänen.
50. Wissenschaft/Bildung
2. Domäne Wissenschaft und Bildung: Charakterisierung des Tätigkeitsbereichs durch die sprachlichen Manifestationen Text-Gespräch in der Formation von Diskursen Aus linguistischer Sicht stellt sich daher die Frage, wo und wie sich individuelle Sprachhandlungen und, allgemeiner betrachtet, kommunikative Praktiken eines bestimmten kulturellen Bereichs manifestieren − wo also Handlungen als symbolische Repräsentationen erscheinen und sichtbar werden (Habscheid 2002; Liebert 2002; Felder 2003; Deppermann 2007; Warnke 2007). Denn diese Manifestationen sind Ausgangspunkt sprachlichkultureller Analysen, die sich in einem Selbstverständnis der Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft verorten (Gardt 2013). Die Entwicklung und Vermittlung von Wissen manifestiert sich in der Domäne Wissenschaft und Bildung in unterschiedlichen Textund Gesprächsformationen, die in Diskursen (verstanden als Formationssystem von Aussagen, die systematisch die Gegenstände formen, von denen sie sprechen) als Erkenntnisund Handlungsrahmen eingebunden sind: − in Fachtexten und -gesprächen (intra- und interinstitutionell): Wissen mit hohem Fach-
lichkeitsgrad (gekennzeichnet durch intertextuelle Kommunikationspraxis des Zitierens und Verweisens einerseits und auszuhandelnder Fachinhalte andererseits); − in der Vermittlungskommunikation wie z. B. in Lehr-Lern-Kontexten (Texte, Gespräche, multimodale Formen der Kommunikation): Wissen mit hohem und mittlerem Fachlichkeitsgrad (gekennzeichnet durch intertextuelle Kommunikationspraxis des Zitierens und Verweisens einerseits und Vermittlung von Wissensbeständen andererseits); − in der Transfer- und Informationskommunikation als Öffentlichkeitsarbeit (Information und Rechtfertigung der Bildungs- und Forschungseinrichtungen gegenüber der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft): Wissen mit mittlerem und alltagsweltlichem Fachlichkeitsgrad (gekennzeichnet durch darstellende und rechtfertigende Vermittlungskommunikation). Die Aufgabe des vorliegenden Beitrags besteht in der Fokussierung der soeben dargestellten Kommunikationsauffassung auf Manifestationen − also Formen und Mittel von Zeichen innerhalb von Zeichensystemen − in den gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen Wissenschaft und Bildung. Solche sprachlichen Manifestationen sind mitnichten statischer Natur, ganz im Gegenteil zeigt der Sprachgebrauch eine beachtliche Dynamik: „In der Performanz verbindet sich der Aspekt der Wiederholung […] mit dem der Abweichung bzw. der Variation von Mustern, der Aspekt des Wiedererkennens verbindet sich […] mit dem des Kontrasterlebnisses“ (Feilke und Linke 2009: 9).
2.1. Gegenstandsbereich der Domäne Wissenschaft und Bildung und Möglichkeiten der Binnendifferenzierung Inhaltlicher Gegenstand dieses Tätigkeitsbereichs sind − vorerst allgemein formuliert − Wissensbestände unterschiedlicher Art und die erforderlichen Fähigkeiten bzw. Qualifikationen ihres Erwerbs, ihrer analytischen Durchdringung und Weiterentwicklung, ihrer Vermittlung sowie der Wissensorganisation. Wissensbestände und der kommunikative
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III. Kulturen der Kommunikation Umgang mit ihnen stehen im Zentrum der Bildungsaktivitäten im Allgemeinen und des Wissenschaftsbetriebs im Besonderen. Die in bestimmten Fachkulturen sich kommunikativ wiederholende Konstitution von thematisch zusammengehörenden Sachverhalten trägt entsprechend dazu bei, Wissensbestände immer wieder prozedural neu zu formieren − verstanden als das Kennen und kommunikative Handhaben einer Sache, einer Tatsache, eines Sachverhalts oder die „Gesamtheit der Kenntnisse, die jemand“ oder eine Kulturgemeinschaft auf „(einem bestimmten Gebiet) hat“ (Duden [Deutsches Universalwörterbuch] 2001) oder diskursiv bearbeitet und ausgestaltet. Diese Wissensbestände werden durch das Singularetantum Wissen bezeichnet. Ausgewählte Komposita des Wortfeldes offenbaren den aspektuellen Facettenreichtum (Fachwissen, Erfahrungswissen, Sachwissen, Weltwissen, Spezialwissen, Handlungswissen) ebenso wie Attribuierungen (z. B. intuitives, implizites, explizites, prozedurales, deklaratives Wissen) die Spezifikationen offenlegen (vgl. auch Konerding 2009 zur Prozeduralität und Deklarativität von Wissen, die er aus wissen und kennen als Verbalabstrakta plausibilisiert und in die Unterscheidung von „Praktiken“ und „Praxen“ überführt). Neuerdings wird sogar das Nichtwissen (Janich, Nordmann und Schebek 2012) als Untersuchungsgegenstand propagiert. Mit Konerding (2009) wird daher der Wissensbegriff hier in einen weiten Rahmen gestellt, der Wissen als die Fähigkeit zum impliziten (Polanyi [1966] 1985) und expliziten Umgang mit Kenntnissen und ihr Beherrschen fasst (vgl. das SECI-Modell − Socialization, Externalization, Combination, Internalization − von Nonaka und Takeuchi 1997). Damit wird ein Spektrum an relevanten Aspekten skizziert, das von den soziohistorischen Bedingungen in oralen und literalen Gesellschaften über kognitionspsychologische Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitslenkung in der Situation bis zur Funktion von Vertextungsmustern reicht. Die Rolle der Sprache sieht Konerding in der Generierung deklarativen Wissens aus prozessual organisierten vorreflexiven Handlungsroutinen. Sprechakttheoretisch kann Wissen als assertierte Sachverhaltsbeschreibung gefasst werden, die intersubjektiv als relativ unstrittig gilt (Felder 2003: 207). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Abgrenzung der beiden Ausdrücke Wissenschaft und Bildung im Titel des Beitrags, die hier nicht vertieft werden kann. Für beide Tätigkeitsbereiche werden das Wissen, seine Handhabung und sein Erwerb als der zentrale Referenzpunkt gesehen. Für die Wissenschaft kommt als zusätzliches und spezifizierendes Merkmal hinzu, dass das Wissen in diesem Tätigkeitsbereich durch Forschung stets neu hinterfragt und theoretisch, experimentell und empirisch weiterentwickelt wird. Im Kern des Bildungsbereichs (der als umfassender im Vergleich zum Wissenschaftsbereich gesehen wird) stehen darüber hinaus Fragen des Erwerbs personaler Kompetenz (vgl. besonders die Sprachkompetenz bei Kilian und Lüttenberg 2009), der Persönlichkeitsbildung (Allport 1959) und Aspekte der didaktisch reflektierten Wissensvermittlung (vgl. zum Sprachbereich Bredel et al. 2006). Didaktik − verstanden als die Auseinandersetzung mit Lehr- und Lernformen zum Erwerb und zur Handhabung spezifischer Wissensbestände in diversen sozialen Situationen unter Berücksichtigung der kognitiven Adressatenvoraussetzungen − ist dabei abzugrenzen von Fragen der Methodik, die sich vorrangig mit dem planmäßig reflektierten Vorgehen beim Wissenserwerb in Vermittlungskontexten beschäftigt (Bönsch 2008). Die terminologische Unterscheidung zwischen Bildung − Ausbildung − Weiterbildung verweist auf die schwierige und seit Jahrzehnten in Bildungsdiskussionen erörterte Frage, wie das Verhältnis zwischen Wis-
50. Wissenschaft/Bildung sensbestand, praktischem Tun und den Lernenden selbst (unter Berücksichtigung des sozialen Umfeldes) in einer Gesellschaft zu bestimmen ist und welche Aufgaben dem Lehrenden zukommen. Hier wird also ein Bildungsbegriff zugrunde gelegt, der die „Entfaltung der intellektuellen, sittlichen, körperlichen und praktischen Anlagen des Menschen zu einer Ganzheit“ (Burkhard 1999) betont und kommunikative sowie nonverbale Verhaltensweisen als Sozialisationsziel formuliert. Das Individuum wird demnach in einer vorgegebenen Kultur durch Akkommodation (Anpassung durch Angleichung an die Anforderungen der Umgebung) und Assimilation (Deutung und Einordnung einer Wahrnehmung in das individuelle Wahrnehmungsschema) sozialisiert (Piaget 1978) und enkulturiert (Mead 1963). Beide Formen der Adaption sind Aspekte der kommunikativen, kognitiven und sozialen Anpassung des Individuums an seine Umwelt. Wissensbestände bzw. die sie bearbeitenden Akteure mit ihren Interessen konstituieren über thematische Konvergenzen eine Zusammengehörigkeit oder Einheitlichkeit und formen einen thematischen Bereich, auf den wir verkürzt mit Wissen über X referieren. Diese als relativ abgeschlossen und einheitlich aufgefassten Wissensbereiche charakterisieren, bestimmen und unterteilen den Makrobereich Wissenschaft/Bildung − wir sprechen also in der Binnendifferenzierung von Diskursen z. B. im Bereich Rechts-, Wirtschafts-, Natur-, Lebens-, Ingenieur-, Technik-, Bildungs-, Literatur-, Kunst-, Religions-, Geschichts- und Politikwissenschaft. Diese in kommunikativen Praktiken geformten thematischen Konglomerate werden hier Diskursdomänen genannt. Alternativ dazu wird der Ausdruck Wissensdomäne (Felder und Müller 2009) verwendet, der in Erweiterung der Bezeichnung Diskursdomäne darauf abzielt, dass Wissen zwar im Wesentlichen, aber eben nicht ausschließlich aus Sprache und durch Text- und Gesprächsformationen diskursiv geformt wird (vgl. zur Multimodalität Schneider und Stöckl 2011). Zeigen lässt sich dies beispielsweise an Untersuchungen zum Sterbehilfediskurs (Felder und Stegmeier 2012) unter der Berücksichtigung der zentralen außersprachlichen medizinischen Korrelationsgefüge zwischen z. B. Medikation A und Patientenzustand B. Man könnte diese Entitäten als ontischen Input bezeichnen, der in Sprache aufgenommen und diskursiv weiterverarbeitet wird. Ein weiteres Exempel für einen ontischen Input präsentieren die Untersuchungen von Zimmer zum Nanotechnologiediskurs mit Blick auf die „Sachverhalte, die der naturwissenschaftlichen Forschung entwachsen sind“ und „in einem neuen Kontext (z. B. in einem alltäglichen oder einem politisch-administrativen Kontext) beschrieben werden“ müssen. Sie gilt es zunächst einmal begrifflich zu fassen, wobei zu berücksichtigen ist, dass „die anfängliche sprachlich-konzeptuelle Rahmung und Perspektivierung von Sachverhalten und Modellvorstellungen […] gravierende Konsequenzen für den späteren gesellschaftlich-öffentlichen Adaptionsprozess einer Technik haben“ kann (Zimmer 2009: 280).
2.2. Abgrenzungs- und Ordnungskriterien im Tätigkeitsbereich Wissenschaft/Bildung Der Tätigkeitsbereich Wissenschaft und Bildung wird hier als ein Makrobereich aufgefasst, der diverse Bereiche gesellschaftlichen Tuns umfasst, in dem Wissensbestände (theoretisches Wissen wie praktisches, wissensbasiertes Tun) im Mittelpunkt stehen. Dementsprechend werden Diskursdomänen wie zum Beispiel Literatur, Kunst, Religion,
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III. Kulturen der Kommunikation Politik, Justiz, Wirtschaft, Sport und Gesundheit (vgl. Artikel 51−60) als Teilbereiche betrachtet. Mit Schwitalla (1976), Steger (1988) und Löffler (2005) lassen sich die einschlägigen Funktionsvarianten des Tätigkeitsbereichs Wissenschaft/Bildung gemäß einer horizontalen Gliederung in bestimmte kommunikative Bezugsbereiche mit spezifischen funktional-zweckhaften Leistungen einteilen. Die Beschreibung der „Gesamtsprache als Thesaurus einer Sprachbevölkerung“ (Steger 1988: 311) erfolgt hier über die Erfassung der Kommunikation als Typen sozialer Praxis auf der Basis unterscheidbarer kommunikativer Bezugsbereiche (Lebenswelten). Demgemäß werden hier neben der Abgrenzung der basalen Lebenswelt Alltag unter anderem die für den Tätigkeitsbereich Wissenschaft/ Bildung relevanten Lebenswelten ausgegliedert: − Institutionen (Justiz, Staat, Verwaltung, Wirtschaftsförderung, Schule, Ausbildungsbe-
reich, Weiterbildungssektor usw.), − Technik/angewandte Wissenschaften (Bauwesen, verarbeitendes Gewerbe, Elektrotech-
nik, Land- und Forstwirtschaft, Handwerk, Handel- und Dienstleistungsbereich usw.), − (theoretische) Grundlagenwissenschaften (das klassische Fächerspektrum der Hoch-
schulen von z. B. Archäologie bis Zoologie).
2.3. Domäne Wissenschaft und Bildung aus der Perspektive der Akteure als fachlich handelnde Diskursteilnehmer in einer kulturellen Kommunikationspraxis Folgt man konsequent der oben skizzierten Sichtweise, so gilt es Akteure der kommunikativen Bezugsbereiche im Tätigkeitsbereich Wissenschaft und Bildung zu identifizieren und ihr individuelles Handeln durch Äußerungen in Texten und Gesprächen sowie durch die daraus hervorgehende Praxis kategorisch zu erfassen. Dieses Erkenntnisinteresse liegt − bezogen auf die sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen − inmitten der linguistischen Soziopragmatik. Und damit sind wir bei einer durch Sozialität und Fachlichkeit charakterisierten Vorgehensweise. Akteure handeln mittels sprachlicher Zeichen in Fachlichkeitskontexten und insofern stellt sich die Frage, welche Oberflächenspezifika und welche Routinen die Handlungen und die daraus hervorgehenden Manifestationen (Texte, Gespräche) aufweisen. Die Bereiche Wissenschaft und Bildung (und damit der Gegenstand des Beitrags) sind demnach zu differenzieren hinsichtlich Konvergenzen und Divergenzen fachlich handelnder Akteure und ihrer Kommunikationsprodukte (Texte, Gespräche, Diskurse). Die domänenübergreifenden Gemeinsamkeiten zeigen sich darin, dass das diskursiv bearbeitete Wissen zunächst einmal von Diskursakteuren mittels Zeichen konstituiert werden muss − zum fachlichen Gegenstand geformt werden muss. Dies geschieht unter anderem mittels sprachlicher Zeichen (Jeand’Heur [1998] spricht im Rechtsbereich von der Zubereitungsfunktion der Sprache). Im Folgenden wird dies „Sachverhaltskonstitution“ genannt. Die Sachverhaltskonstitution wird in der Referenzsemantik als Identifizieren eines Gegenstandes und Charakterisieren dieses Gegenstandes dargestellt. (Referenzstellen/Bezugstellen − Bezugnehmen und Bezugsobjekte bei Polenz 1988: 116 ff. und Searle 1969: 26−33; Wimmer 1979: 12; Liebert 2002: 49).
50. Wissenschaft/Bildung Die domänenspezifischen Unterschiede beim Sprachhandeln diverser Diskursakteure haben ihre Ursachen in den Wissensbeständen selbst und ihren internen Relationssystematiken, in der gesamtgesellschaftlichen Aufgabenverteilung der Disziplinen, in den jeweiligen gesellschaftlichen Rollen der Akteure (z. B. Tutor − Dozent im deutschen Universitätsbetrieb) und in individuellen und kollektiven Interessenlagen (vgl. den Machtaspekt in den Diskurstheorien). Je nach Situation konstituieren die jeweiligen Akteure ihre Wissensbestände individuell und kontextadäquat und kontextualisieren sie innerhalb konventionalisierter Praktiken. Diese spezifische Organisation von Wissensbeständen bildet das Charakteristikum der Fachlichkeit und ist damit Grundlage für Abgrenzungen gegenüber Wissensbeständen anderer Fächer. Wissensbestände als sprachlich konstituierte Artefakte werfen die Frage nach dem Medium auf, mit dessen Hilfe das Fachliche überhaupt erst zugänglich und operationalisierbar gemacht wird. Konzentriert man sich auf sprachliche Zeichen, so sind wir bei der heuristischen Annahme, es existiere in den jeweiligen Wissensbereichen eine Fachsprache, die aus einer fachspezifischen Kommunikationspraxis als kontextabstrahiertes Konstrukt zu modellieren sei (vgl. die einschlägigen Systematisierungs- und Abgrenzungsversuche zwischen Fach- und Gemeinsprache von Becker und Hundt [1998] im Kontrast zu Kalverkämper [1990] sowie Hoffmann, Kalverkämper und Wiegand [1998/1999] und Roelcke [2010]). Dieser Fragestellung der verschiedenen Formen von Fachlichkeit (als der Bezugspunkte des Tätigkeitsbereichs Wissenschaft und Bildung) und ihrer je spezifischen Medialitätsbedingungen hat sich das interdisziplinäre und internationale Forschungsnetzwerk Sprache und Wissen verschrieben (www.suw.uni-hd.de). Das Ziel der abschließenden Ausführungen besteht darin, Analysekategorien darzulegen, die sowohl die sprachlichen Handlungen individueller Akteure als auch die fachspezifische Praxis der Fachkulturen im Allgemeinen als Charakteristikum der Kommunikationskultur im Tätigkeitsbereich Wissenschaft/Bildung erfassen können. Dazu wird ein allgemeines Modell der Analyse sprachlicher Manifestationen dargelegt.
3. Domäne Wissenschaft und Bildung: Modell dreier grundlegender Sprachhandlungstypen als Analysekategorien zur Bestimmung akteursspezifischer und domänenspezifischer Diskurspraktiken Als Fazit aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass Manifestationen von sprachlichen Handlungen und Praktiken sich in textuellen Gefügen bzw. an Text- und Gesprächsoberflächen auffinden lassen, die text- und gesprächstypologisch und hinsichtlich zugrunde liegender Routinen als Indikatoren von Kommunikationskulturen untersucht werden können. Wir haben es also mit einem handlungstheoretischen Ansatz zu tun (Polenz 1988: 298 ff.), der sich an die praktische Semantik (Heringer 1974) anlehnt. Diese Kategorien sind aus der Perspektive des Textproduzenten und aus der des Textrezipienten zu sehen. Darüber hinaus referiert der Ansatz auf Searles Sprechakttheorie, der die weithin bekannten fünf Oberklassen von Sprechakten unterscheidet (Searle [1975] 1982: 31 ff.): Assertiva/Repräsentativa, Direktiva, Kommissiva, Expressiva und Deklarativa. Sie sind für konkrete Analysen zu abstrakt und für Diskursuntersuchungen auch nicht konzipiert worden. Im Gegenzug stiftet es keinen Erkenntnisgewinn, der Vielzahl von Einzelaussagen im konkreten Äußerungskontext jeweils entsprechende Sprach-
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III. Kulturen der Kommunikation handlungen zuzuschreiben, weil diese zu zahlreich und zu konkret sind, als dass sich allgemeine Diskursgepflogenheiten dingfest machen ließen. Die Bestimmung von Einzelhandlungen sprachlicher Äußerungen eröffnet keinen allgemeinen Orientierungs- oder Deutungsrahmen. Aufgrund dessen schlage ich Handlungstypen mittlerer Abstraktion vor, die quer zu Searles Klassifikation liegen und auf der Grundlage empirischer Untersuchungen entstanden sind − so zum Beispiel die drei grundlegenden Handlungstypen im Recht: Sachverhaltfestsetzen (mit Bezug auf den zu verhandelnden Sachverhalt) − rechtliche Sachverhaltsklassifikation (mit Bezug auf die einschlägigen und potenziell relevanten Normtexte) − Entscheiden (mit Bezug auf den Zwang der Gerichte, eine rechtsgültige Entscheidung zu fällen [Felder 2003: 205]). Verallgemeinert man diese Sprachhandlungstypen auf das Tun sprachlich handelnder Akteure (z. B. Lehrer, Forscher, Studierende und Schüler/innen) im Tätigkeitsbereich Wissenschaft/Bildung, so ist ihnen gemeinsam, dass sie bei der Produktion von Texten und Gesprächen die folgenden drei grundlegenden Handlungstypen mittlerer Abstraktion vollziehen. 1. Akteure setzen einen Sachverhalt sprachlich fest (Sachverhaltskonstitution). Mit dieser Sachverhaltsfestsetzung gehen vorwiegend assertive/repräsentative Sprachhandlungen (Rolf 2000) zur Herstellung eines Faktizitätsanspruchs einher: z. B. Forderung nach einem bestimmten schulischen Bildungskanon, Festlegung von Studieninhalten in verschiedenen Hochschultypen, Festsetzung von Ausbildungs- und Weiterbildungsinhalten, Darlegung von Ergebnissen eines Experiments auf einem Science-Blog, Präsentation des Forschungsstandes in einem Handbuch, Aufstellung von Erklärungs- und Korrelationsmodellen). Werden Sprachhandlungen von Institutionen vollzogen, so handelt es sich mitunter auch um Deklarativa (z. B. Verwaltungsakte im Schul- und Hochschulbereich, im Rahmen von Handwerksausbildungsverordnungen und im Weiterbildungssektor, Festlegen von DIN-Standardwerten). 2. Akteure verorten den festgesetzten Sachverhalt in Relation zu anderen Sachverhalten (Sachverhaltsverknüpfung). Busse (2007: 81) präzisiert den Begriff der Kontextualisierung in Anlehnung an Gumperz ([1982] 1999) und Auer (1986) dahingehend, dass er unter Kontext nicht nur eine kopräsente (lokale, soziale) Situation während eines aktualen Kommunikationsereignisses versteht, sondern vor allem einen umfassenden epistemischkognitiven Hintergrund unter Einbeziehung soziokultureller und sprachlich geprägter Wissensrahmen, die das Verstehen einzelner Zeichenketten überhaupt erst möglich machen (z. B. in einem Forschungsantrag argumentierend Zusammenhänge verknüpfen, eine Transferaufgabe in einer Klassenarbeit lösen, Forschungsergebnisse in den Forschungsstand einarbeiten). 3. Akteure bewerten den Sachverhalt in der Regel explizit oder implizit (Sachverhaltsbewertung), mitunter gehen mit diesen Beurteilungen Entscheidungen einher, aus denen sich Konsequenzen für Individuen, gesellschaftliche Gruppierungen oder die Gemeinschaft ergeben (beispielsweise Leistungen und Kompetenzen bewerten und benoten, Lehrveranstaltungen evaluieren, Anträge begutachten, verbreitete Modelle verwerfen (z. B. Widerlegung von vorhergehenden Atommodellen nach den Erkenntnissen Heisenbergs in der Physik), neue Erkenntnisse als die richtigen bewerten (Vorstellungen zur Erdgestalt) oder widerstreitende Inhalte in der Bildung priorisieren (vgl. v. a. die USA mit Schulen, in denen Darwinismus oder Kreationismus gelehrt wird, mit gleichzeitiger Abwertung der jeweils anderen Position).
50. Wissenschaft/Bildung Die drei Sprachhandlungstypen dienen der Erfassung symbolischer Ordnungen in Kontexten von Zeichenhandlungen. Sprachliche, d. h. textliche und diskursive Konstitution des Wissens im Tätigkeitsbereich Wissenschaft und Bildung ist zu beschreiben aus Akteursperspektive (vgl. dazu die Ausführungen zu Diskursakteuren in Spieß 2011) durch die Erfassung der Kontextualisierungsvariablen unter Aspekten der Polyfunktionalität (Holly 1990: 54) und Mehrfachadressierung (Kühn 1995). „Die Spannungsfelder (nicht Gegensätze!) Repräsentation und Konstruktion, Typik und Kontrast, Materialität und Iteration, Stabilisierung und Dynamisierung“ (Feilke und Linke 2009: 11) erweisen sich als die zentralen Pole gradueller Art im Rahmen einer handlungstheoretischen Sichtweise auf kulturell geformte Kommunikationspraktiken von Individuen und fachlichen Akteursgruppen. Im Mittelpunkt pragmatischer Analysen stehen „Verwendungszusammenhänge von Sprache auf interaktionaler, kognitiver und sozialer Ebene als Explicans für deren lexikalische und syntaktische Verfasstheit“ (Felder, Müller und Vogel 2012: 3).
4. Literatur (in Auswahl) Adamzik, Kirsten 1995 Textsorten − Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie. Münster: Nodus. Allport, Gordon W. 1959 Persönlichkeit. Struktur, Entwicklung und Erfassung der menschlichen Eigenart. 2. Aufl. Meisenheim/Glan: Hain. Antos, Gerd 2000 Ansätze zur Erforschung der Textproduktion. In: Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd., 105−112. (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 16.1.) Berlin/New York: de Gruyter. Auer, Peter 1986 Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, 22−47. Becker, Andrea und Markus Hundt 1998 Die Fachsprache in der einzelsprachlichen Differenzierung. In: Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 1. Halbbd., 118− 133. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1.) Berlin/New York: de Gruyter. Biere, Bernd Ulrich 1989 Verständlich-Machen. Hermeneutische Tradition − Historische Praxis − Sprachtheoretische Begründung. (Reihe Germanistische Linguistik 92.) Tübingen: Niemeyer. Biere, Bernd Ulrich 1998 Verständlichkeit beim Gebrauch von Fachsprachen. In: Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 1. Halbbd., 402−407. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1.) Berlin/New York: de Gruyter. Bönsch, Manfred 2008 Variable Lernwege. Ein Lehrbuch der Unterrichtsmethoden. 4. Aufl. (UTB 1617.) Paderborn: Schöningh. Bredel, Ursula, Hartmut Günther, Peter Klotz, Jakob Ossner und Gesa Siebert-Ott (Hg.) 2006 Didaktik der deutschen Sprache − ein Handbuch. 2 Bde. 2. Aufl. (UTB 8235.) Paderborn: Schöningh.
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III. Kulturen der Kommunikation Brinker, Klaus 1985 Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. (Grundlagen der Germanistik 29.) Berlin: Schmidt. Burkhardt, Franz-Peter 1999 Bildung. In: Peter Prechtl und Franz-Peter Burkardt (Hg.), Metzler Philosophie Lexikon, 80−81. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler. Busse, Dietrich 2007 Diskurslinguistik als Kontextualisierung − Sprachwissenschaftliche Überlegungen zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Ingo H. Warnke (Hg.), Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände, 81−105. (Linguistik − Impulse und Tendenzen 25.) Berlin/New York: de Gruyter. Chambers, J. K., Peter Trudgill and Natalie Schilling-Estes (eds.) 2002 The Handbook of Language Variation and Change. Malden: Blackwell. Deppermann, Arnulf 2007 Grammatik und Semantik aus gesprächsanalytischer Sicht. Berlin/New York: de Gruyter. Duden 2001 Deutsches Universalwörterbuch. 4. Aufl. Mannheim: Duden. Feilke, Helmuth 1994 Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie des „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Feilke, Helmuth 2010 Schriftliches Argumentieren zwischen Nähe und Distanz. In: Vilmos Ágel und Mathilde Henning (Hg.), Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung, 209− 231. (Linguistik − Impulse und Tendenzen 35.) Berlin/Boston: de Gruyter. Feilke, Helmuth und Angelika Linke 2009 Oberfläche und Performanz − Zur Einleitung. In: Angelika Linke und Helmuth Feilke (Hg.), Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt, 3−17. (Reihe Germanistische Linguistik 283.) Tübingen: Niemeyer. Felder, Ekkehard 2003 Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit. (Studia Linguistica Germanica 70.) Berlin/New York: de Gruyter. Felder, Ekkehard und Marcus Müller (Hg.) 2009 Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes ‚Sprache und Wissen‘. (Sprache und Wissen 3.) Berlin/New York: de Gruyter. Felder, Ekkehard und Jörn Stegmeier 2012 Diskurstheoretische Voraussetzungen und diskurspraktische Bewertungen. Diskurse aus sprachwissenschaftlicher Sicht am Beispiel des Sterbehilfe-Diskurs. In: Michael Anderheiden und Wolfgang U. Eckart (Hg.), Sterben in der modernen Gesellschaft. Menschenwürde und medizinischer Fortschritt. Ein Handbuch. Berlin/Boston: de Gruyter. Felder, Ekkehard, Marcus Müller und Friedemann Vogel 2012 Korpuspragmatik. Paradigma zwischen Handlung, Gesellschaft und Kognition. In: dies. (Hg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, 3−30. (Linguistik − Impulse und Tendenzen 44.) Berlin/New York: de Gruyter. Gardt, Andreas 2013 Textanalyse als Basis der Diskursanalyse. Theorie und Methoden. In: Ekkehard Felder (Hg.), Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen, 13−28. (Sprache und Wissen 13.) Berlin/Boston: de Gruyter. Gumperz, John J. [1982] 1999 Discourse Strategies. Cambridge: Cambridge University Press. Habscheid, Stephan 2002 Sprache in der Organisation: sprachreflexive Verfahren im systemischen Beratungsgespräch. (Linguistik − Impulse und Tendenzen 1.) Berlin/New York: de Gruyter.
50. Wissenschaft/Bildung Habscheid, Stephan 2009 Text und Diskurs. (UTB 3349.) Paderborn: Fink. Habscheid, Stephan 2011 Das halbe Leben. Ordnungsprinzipien einer Linguistik der Kommunikation − Zur Einleitung in den Band. In: ders. (Hg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologie der Kommunikation, 3−29. Berlin/New York: de Gruyter. Heringer, Hans Jürgen 1974 Praktische Semantik. Stuttgart: Klett. Hoffmann, Lothar, Hartwig Kalverkämper und Herbert Ernst Wiegand (Hg.) 1998/1999 Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 2 Halbbde. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1 und 14.2.) Berlin/New York: de Gruyter. Holly, Werner 1990 Politikersprache. Inszenierungen und Rollenkonflikte im informellen Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten. Berlin/New York: de Gruyter. Jäger, Ludwig 1994 Die Linguistik des Innern. Historische Anmerkungen zu den zeichen- und erkenntnistheoretischen Grundlagen der kognitivistischen Sprachwissenschaft. In: ders. und Bernd Switalla (Hg.), Germanistik in der Mediengesellschaft, 291−326. München: Fink. Janich, Nina, Alfred Nordmann und Liselotte Schebek (Hg.) 2012 Nichtwissenskommunikation in den Wissenschaften. (Wissen − Kompetenz − Text 1.) Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Jeand’Heur, Bernd 1998 Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik. In: Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 1. Halbbd., 1286−1295. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1.) Berlin/New York: de Gruyter. Kalverkämper, Hartwig 1990 Gemeinsprachen und Fachsprachen − Plädoyer für eine integrierende Sichtweise. In: Gerhard Stickel (Hg.), Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven, 88−133. (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1989.) Berlin/New York: de Gruyter. Kilian, Jörg und Dina Lüttenberg 2009 Kompetenz. Zur sprachlichen Konstruktion von Wissen und Können im Bildungsdiskurs nach PISA. In: Ekkehard Felder und Marcus Müller (Hg.), Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes ‚Sprache und Wissen‘, 245− 278. (Sprache und Wissen 3.) Berlin/New York: de Gruyter. Konerding, Klaus-Peter 2009 Sprache − Gegenstandskonstitution − Wissensbereiche. Überlegungen zu (Fach-)Kulturen, kollektiven Praxen, sozialen Transzendentalien, Deklarativität und Bedingungen von Wissenstransfer. In: Ekkehard Felder und Marcus Müller (Hg.), Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerkes ,Sprache und Wissen‘, 79− 111. (Sprache und Wissen 3.) Berlin/New York: de Gruyter. Kühn, Peter 1995 Mehrfachadressierung. Untersuchungen zur adressatenspezifischen Polyvalenz sprachlichen Handelns. Tübingen: Niemeyer. Levinson, Stephen C. 1979 Activity Types and Languages. In: Linguistics 17, 365−399. Liebert, Wolf-Andreas 2002 Wissenstransformationen. Handlungssemantische Analysen von Wissenschafts- und Vermittlungstexten. (Studia linguistica Germanica 63.) Berlin/New York: de Gruyter.
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III. Kulturen der Kommunikation Liebert, Wolf-Andreas 2005 Metaphern als Handlungsmuster der Welterzeugung. Das verborgene Metaphern-Spiel der Naturwissenschaften. In: Hans Rudi Fischer (Hg.), Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ... Zur Funktion von Metaphern in Wissenschaft und Therapie, 207−233. Weilerswist: Velbrück. Linke, Angelika und Helmuth Feilke (Hg.) 2009 Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. (Reihe Germanistische Linguistik 283.) Tübingen: Niemeyer. Löffler, Heinrich 2005 Germanistische Soziolinguistik. (Grundlagen der Germanistik 28.) 3. Aufl. Berlin: Schmidt. Mead, Margaret 1963 Socialisation and Enculturation. In: Current Anthropology 4, 184−188. Nonaka, Ikujiro und Hirotaka Takeuchi 1997 Die Organisation des Wissens. Frankfurt a. M.: Campus. Piaget, Jean 1978 Das Weltbild des Kindes. München: Klett-Cotta. Pohl, Thorsten 2007 Studien zur Ontogenese wissenschaftlichen Schreibens. Tübingen: Niemeyer. Polanyi, Michel [1966] 1985 Implizites Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Polenz, Peter von 1988 Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2. Aufl. Berlin/ New York: de Gruyter. Roelcke, Thorsten 2010 Fachsprachen. (Grundlagen der Germanistik 37.) 3. Aufl. Berlin: Schmidt. Rolf, Eckard 2000 Textuelle Grundfunktionen. In: Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd., 422−435. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16.1.) Berlin/New York: de Gruyter. Scherner, Maximilian 1984 Sprache als Text. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlich begründeten Theorie des Textverstehens. Tübingen: Niemeyer. Schmidt, Siegfried J. 1973 Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation. München: Fink. Schneider, Jan Georg und Hartmut Stöckl (Hg.) 2011 Medientheorien und Multimodalität. Ein TV-Werbespot − sieben methodische Beschreibungsansätze. Köln: Halem. Schwitalla, Johannes 1976 Was sind Gebrauchstexte? In: Deutsche Sprache 1, 20−40. Searle, John R. 1969 Speech Acts. Cambridge: Cambridge University Press. Searle, John R. [1975] 1982 Eine Taxonomie illokutionärer Akte. In: ders., Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, 17−50. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [Originaltitel: Searle, John R. [1975] 1979, A Taxonomy of Illocutionary Acts. In: id., Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts, 1−29. Cambridge: Cambridge University Press.] Sitta, Horst 1973 Kritische Überlegungen zur Textsortenlehre. In: ders. und Klaus Brinker (Hg.), Studien zur Texttheorie und zur deutschen Grammatik, 63−72. Düsseldorf: Schwann.
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Ekkehard Felder, Heidelberg (Deutschland)
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III. Kulturen der Kommunikation
51. Literatur 1. Literaturbegriff 2. Ausdifferenzierung der Literatur 3. Textsorten und literarische Gattungen
4. Rahmungen: institutionelle Verfahren, kommunikative Situationen 5. Literatur (in Auswahl)
1. Literaturbegriff Unter Literatur wird im Folgenden ein „gesellschaftliches Handlungssystem“ von „Handlungen mit oder in bezug auf literarische Texte“ verstanden (Hauptmeier und Schmidt 1985: 14−22), wie es die kommunikationstheoretisch ausgerichtete Empirische Literaturwissenschaft seit den 1970er-Jahren vorgeschlagen hat (Norbert Groeben; Siegfried J. Schmidt). Die genauere Bestimmung des Distinktionsmerkmals literarisch ist nicht auf die professionelle Reflexion beschränkt, sondern Teil eines umfassenden Handlungs- und Kommunikationsprozesses. Ungeachtet dessen wird Literatur hier im weitesten Sinn als „künstlerisches Schrifttum“ (Duden 2000) und dem Bereich der Kunst zugehörig betrachtet. Innerhalb des Handlungssystems Literatur lassen sich im Prozess der kulturellen Kommunikation a) die Herstellung, b) die Vermittlung, c) die Rezeption von literarischen Texten und d) ihre Verarbeitung unterscheiden (Hauptmeier und Schmidt 1985: 15 f.). Literatur als eine nach eigenen Regeln prozessierende und von außerästhetischen Zwecksetzungen weitgehend entlastete Diskursdomäne zu behandeln, ist erst seit der Herausbildung autonomieästhetischer Vorstellungen Ende des 18. Jahrhunderts üblich geworden (vgl. Bourdieu [1992] 1999; Brokoff 2010). Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass in der Empirie Literatur weitgehend nicht als geschlossene Diskursdomäne erscheint, sondern eng etwa mit den Bereichen der Bildung, des Wissens oder der Religion verflochten ist. Ebenso sind die Grenzen zwischen literarischen und außerliterarischen Texten sowohl als Textsorte als auch als Darstellungsverfahren in der Alltagskommunikation, in der Werbung (Böhn und Vogel 1999) oder z. B. auch in Weblogs fließend und häufig unauffällig (vgl. Fix 1997; Kurz 2010). Zum Gegenstand gesellschaftlicher Kommunikation werden die Grenzen der Diskursdomäne Literatur jedoch zum Beispiel dort, wo die ihr in modernen Gesellschaften, etwa im Grundrechtekatalog des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (Artikel 5, Absatz 3), eingeräumte diskursive Freiheit etwa im Blick auf die Wahrung von Autor- und Persönlichkeitsrechten oder den Schutz des religiösen Empfindens zur Debatte steht (weitere Fallbeispiele dazu bei Friedrich 2009).
2. Ausdifferenzierung der Literatur Unabhängig von der historischen Genese des modernen Literaturbegriffs ist Literatur im Unterschied zu anderen Diskursdomänen dadurch gekennzeichnet, dass ihr Bezugsobjekt im Wesentlichen verbalsprachlich organisiert ist: „Der literarische Text ist ein Gebilde, das sich als eine auffällige Konstellation von Worten präsentiert“ (Seel 2000: 205). Inso-
51. Literatur fern ist Literatur weitgehend mit Sprache identisch: „Die Poesie ist die Kunst durch Sprache“ (Humboldt [1799] 1961: 173; vgl. Urbich 2011) und ihre Distinktion im Prozess der kulturellen Kommunikation demnach vor allem eine Frage der Unterscheidung eines literarischen Sprachgebrauchs in Texten von anderen Sprechweisen (z. B. juristischen, religiösen, alltäglichen etc.) bzw. ein Effekt von Konventionen und institutionellen Rahmungen, die Texte als Literatur markieren. Von der Antike bis in die frühe Neuzeit hinein ist das Problem der Abgrenzung von Gebrauchsliteratur gegenüber weitgehend entpragmatisierter schöner Literatur vor allem in der rhetorischen Theoriebildung beheimatet gewesen (Jacob 2007: 39−183). An der gesellschaftlichen Realität des Sprechens orientiert, modelliert diese einen literarischen als einen in Ausdruck, Darstellung und Wirkung von Handlungsdruck entlasteten Sprachgebrauch, ohne dessen Grenzen scharf zu unterscheiden. Literatur, so lässt sich zusammenfassen, zeichnet sich gegenüber pragmatisch orientierter Rede dadurch aus, dass sie „mehr den Formulierungen als den Sachen selbst“ diene (Cicero 1988: 57) und darum ein erheblich höheres Maß an sprachlicher, auch verfremdender Durchformung realisieren kann (zur Differenzierung rhetorisch-literarischer Stilqualitäten gegenüber anderen Diskursbereichen siehe Fix, Gardt und Knape 2009: Art. 124−126). Im Zuge der Wahrnehmung einer zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche mit eigenen Systemlogiken seit Beginn des 20. Jahrhunderts (Weber [1915] 1988; Luhmann 1995: 215−300; vgl. Artikel 15) ist die Diskursdomäne Literatur ebenfalls über die Analyse einer besonderen, poetischen Sprechweise erschlossen worden, so zunächst vor allem im russischen Formalismus (Striedter und Stempel 1969− 1972). Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass sich Literatur auch und unter Umständen überhaupt erst durch besondere Leseeinstellungen, kulturelle Kontexte und institutionelle Zuschreibungen als solche konstituiert. Peter Handkes vielzitierte Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968 (Handke 1969) wird zu Literatur erst dadurch, dass sie in einer Literaturzeitschrift erscheint bzw. einem Verfasser zuschreibbar ist, der als literarischer Autor bereits anerkannt ist. Daneben ist die Ausdifferenzierung des Handlungssystems Literatur immer wieder über die Funktionen beschrieben worden, die Literatur innerhalb des Gesamtsystems kultureller Kommunikation übernimmt oder übernehmen sollte. Hierzu gehört seit der Etablierung autonomieästhetischer Literaturkonzepte auch die Funktionsverweigerung, die sich in der „Reinigung der Poesie von der praktischen Funktion der Sprache“ bekundet (Brokoff 2010: 23). Davon abgesehen, münden die Funktionszuschreibungen an Literatur, die über Jahrhunderte verbindlich in einfacher Weise in Horaz’ Formel „aut prodesse volunt aut delectare poetae [entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter]“ (Horaz 1984: 24−25) fixiert waren, in der Gegenwart in eine Vielzahl individueller und kollektiv-sozialer Erwartungen z. B. kognitiver, emotiver, therapeutischer oder sinnstiftender Art (Winko, Jannidis und Lauer 2009: 22−28; vgl. schichtbezogen im historischen Längsschnitt Schneider 2004). So wird Literatur auch in der Gegenwart nicht nur als kulturelles Phänomen unter anderen wahrgenommen, sondern normativ mit besonderen Kulturalisierungserwartungen belegt (siehe Kapitel 4). Über die weiterhin rege wissenschaftliche Diskussion hinaus, ob und wie Literatur von Nichtliteratur abzugrenzen sei (aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Winko, Jannidis und Lauer 2009; Löck und Urbich 2010; aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Burton and Carter 2006; Fix 2009), folgen die Absicherung und Prozessierung einer ausdifferenzierten Diskursdomäne Literatur demnach keinen fixen Kriterien, son-
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III. Kulturen der Kommunikation dern unterliegen den Erwartungen und dem Zusammenspiel verschiedenster Akteure im Handlungssystem Literatur.
3. Textsorten und literarische Gattungen Unter dem Aspekt kultureller Kommunikation ist die allgemeine Identifikation poetischer oder literarischer Form- und Stilmerkmale von als Literatur verstandenen Texten weniger von Bedeutung (vgl. dazu aus textlinguistischer Sicht den Überblick bei GarcíaBerrio 2000) als die Frage, inwieweit solche Kriterien innerhalb der Diskursdomäne Literatur relevant werden. Auch wenn sich im Lauf der dynamischen und in der Moderne noch einmal beschleunigten Evolution eines auf Innovation abgestellten Kunstsystems (Oesterle 1998; Vollhardt 2000) rhetorische und poetologische Normierungen der literarischen Textproduktion weitgehend auflösen, ist jedoch zu beobachten, dass literarische Texte gleichwohl weiterhin in hohem Maß tradierten Form- bzw. Gattungskonventionen verpflichtet sind. So ist vorgeschlagen worden, Literatur als nichts anderes als einen „dynamisch entwicklungsoffene[n] Zusammenhang von Textgattungskonventionen“ zu definieren (Matuschek 2010: 293). Die Erfüllung oder auch die kalkulierte Verletzung von Gattungserwartungen ist dementsprechend bei allen Akteuren im Handlungssystem Literatur für die Identifikation und Bewertung von Texten als Literatur zentral (vgl. Zymner 2007: 25−35). Die Differenzierung zwischen Textsorten der Alltagskommunikation und Gattungen der Literatur (zur Begrifflichkeit Dammann 2000: 547) ist dabei nicht einfach. Sie geht nicht unbedingt mit einem Wechsel des sprachlichen Registers einher − Kennzeichen von Literatur ist seit jeher, auch Alltagssprache unmodifiziert integrieren zu können (etwa in der Komödie, dem realistischen Roman oder auch zeitgenössischen Formen der Lyrik) − und nicht immer mit klaren Fiktionssignalen, insofern „Literatur [...] eine soziale Praxis [ist], in der Texte faktualer und fiktionaler Art unter den Konventionen und Regeln ästhetischer Wertschätzung produziert und rezipiert werden“ (Zipfel 2001: 322). Typische Textsorten der Alltagskommunikation (z. B. Bericht, Brief, Anekdote, Reportage) oder beispielsweise der religiösen Kommunikation (Gebet, Predigt, Meditation) können daher literarisch adaptiert werden, andere literarische Genres wie Autobiographie oder Reiseliteratur sind geradezu durch die Uneindeutigkeit ihrer Abgrenzung von einem nicht-literarischen Diskurs charakterisiert. Wenn demnach Texte nicht allein durch intrinsische Merkmale als Literatur bestimmbar sind und andererseits nicht alle Texte der Alltagskommunikation, die sich literarästhetischer Verfahren bedienen, dem Literaturbereich zugeschrieben werden, kann Literatur in der kulturellen Kommunikation nicht ohne Rücksicht auf die Institutionen und die kommunikativen Situationen angemessen erfasst werden, in denen Texte als Literatur erschlossen, bestätigt oder auch verworfen werden.
4. Rahmungen: institutionelle Verfahren, kommunikative Situationen Institutionelle Verfahren übernehmen im Handlungssystem Literatur innerhalb verschiedener kommunikativer Situationen Funktionen der Markierung, indem sie Texte als Lite-
51. Literatur ratur ausweisen, der Aufmerksamkeitslenkung, der Auswahl und der Wertung von Literatur. Träger dieser Verfahren sind u. a. die Instanzen literarischer Sozialisation wie Familie, Schule und Universität, Publikationsorgane von Literatur wie Verlage, Zeitungen, Zeitschriften oder Internet, schließlich auch Institutionen der Reflexion von Literatur wie z. B. Literaturkritik, Sprach- und Literaturwissenschaft. Den dabei im Zuge der Ausdifferenzierung des Kunstsystems gewonnenen Freiheiten aufseiten der Produzenten, der Vermittler und der Rezipienten von Literatur, nach eigenen Regeln prozessieren zu können (vgl. Martus 2007), stehen auch in modernen Gesellschaften vielfältige, solche Spielräume wiederum regulierende, inner- wie außerästhetische Erwartungen an Literatur gegenüber, etwa an kulturelle Anschlussfähigkeit, Identitätsbildung und Traditionspflege (Erll, Gymnich und Nünning 2003), Wertevermittlung oder auch interkulturelle Sensibilisierung durch Literatur. Diese schlagen sich in gesellschaftlich hochdifferenzierten Auswahl-, Wertungs- und Kanonisierungsprozessen von Literatur nieder, die mittlerweile theoretisch umfassend beschrieben (initiierend Heydebrand und Winko 1996), empirisch aber noch kaum erfasst sind (Ansätze u. a. bei Kochan 1990; Zymner 1998; Neuhaus 2002). Inwiefern sich schließlich die Diskursdomäne Literatur durch die veränderten Produktions-, Distributions- und Rezeptionsmöglichkeiten des Internets nachhaltig verändern wird, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen (vgl. Artikel 47). Trotz der unbestreitbaren Prägung der Diskursdomäne Literatur durch institutionelle Verfahren darf nicht übersehen werden, dass Literatur situativ zuletzt im Lesen und d. h. in realen Lesern fundiert ist. Eine darauf abgestellte Leseforschung hat sich im deutschsprachigen Raum erst seit den 1980er-Jahren etabliert (vgl. den Forschungsüberblick bei Schön 2007). Neben übergreifenden institutionellen und sozialgeschichtlichen Faktoren (Schneider 2004) ist jedoch jede Geschichte des Lesens und d. h. jede Realisierung eines literarischen Textes als eines solchen immer auch eine unhintergehbar individuelle (Manguel [1996] 2008), die sich institutionalisierten Zuschreibungen auch entziehen kann. Ist Literatur also in vielfältigster Weise in kulturelle Kommunikationszusammenhänge eingelassen und durch kulturelle Kontexte bestimmt, fungiert sie zugleich auch als ein Reflexionsmedium kultureller Kommunikation. Neben expliziten kulturellen Reflexionsleistungen, die literarische Texte auf thematischer Ebene anbieten, eröffnet der literarische Text jedoch bereits schon an sich, als ein „sekundäres modellbildendes System [...] im Verhältnis zur (natürlichen) Sprache“ (Lotman 1993: 22), eine eigene Sprachund Wirklichkeitserfahrung, in der kulturelle Kommunikation reflexiv werden kann.
5. Literatur (in Auswahl) Böhn, Andreas und Stephan Vogel 1999 Formzitate in der Werbung. In: Andreas Böhn (Hg.), Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwendung. Gattungsformen jenseits von Gattungsgrenzen, 241−260. St. Ingbert: Röhrig. Bourdieu, Pierre [1992] 1999 Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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III. Kulturen der Kommunikation Brokoff, Jürgen 2010 Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen: Wallstein. Burton, Ben and Ron Carter 2006 Literature and the Language of Literature. In: Keith Brown (ed.), Encyclopedia of Language and Linguistics. Vol. 7, 267−274. 2nd ed. Amsterdam/Heidelberg: Elsevier. Cicero, Marcus Tullius 1988 Orator, übers. und hg. v. Bernhard Kytzler. 3., durchges. Aufl. München/Zürich: Artemis. Dammann, Günter 2000 Textsorten und literarische Gattungen (Text Types and Literary Genres). In: Klaus Brinker, Gerd Antos und Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung (Linguistics of Text and Conversation. An International Handbook of Contemporary Research). Bd. 1: Textlinguistik, 546−561. Berlin/New York: de Gruyter. Duden 2000 Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Auf der 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. der Buchausg. in 10 Bänden 1999 basierende CD-ROM-Version. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Duden. Erll, Astrid, Marion Gymnich und Ansgar Nünning (Hg.) 2003 Literatur − Erinnerung − Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. Fix, Ulla 1997 Kanon und Auflösung des Kanons. Typologische Intertextualität − ein „postmodernes“ Stilmittel? Eine thesenhafte Darstellung. In: Gerd Antos und Heike Tietz (Hg.), Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Transformationen, Trends, 97−108. Tübingen: Niemeyer. Fix, Ulla 2009 Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text. Bezüge und Abgrenzungen. In: Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zum Begriff und Phänomen des Literarischen, 103−135. Berlin/New York: de Gruyter. Fix, Ulla, Andreas Gardt und Joachim Knape (Hg.) 2009 Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung (Rhetoric and Stylistics. An International Handbook of Historical and Systematic Research). Bd. 2. Berlin/New York: de Gruyter. Friedrich, Hans-Edwin (Hg.) 2009 Literaturskandale, Frankfurt a. M. u. a.: Lang. García-Berrio, Antonio 2000 Textlinguistik und Literaturwissenschaft. In: Klaus Brinker, Gerd Antos und Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung (Linguistics of Text and Conversation. An International Handbook of Contemporary Research). Bd. 1: Textlinguistik, 772−783. Berlin/New York: de Gruyter. Handke, Peter 1969 Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968. In: ders., Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, 59. Frankfurt a. M.: Suhrkamp [Original in: Manuskripte. Zeitschrift für Literatur, Kunst, Kritik 8(23/24) (1968), 37]. Hauptmeier, Helmut und Siegfried J. Schmidt 1985 Einführung in die empirische Literaturwissenschaft. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg. Heydebrand, Renate von und Simone Winko 1996 Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik − Geschichte − Legitimation. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh.
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III. Kulturen der Kommunikation Vollhardt, Friedrich 2000 Art. Originalität. In: Harald Fricke gem. mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, JanDirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, 768−771. Berlin/New York: de Gruyter. Weber, Max [1915] 1988 Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen der religiösen Weltablehnung. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I, 536−573. 9. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck. Winko, Simone, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer (Hg.) 2009 Grenzen der Literatur. Zum Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: de Gruyter. Zipfel, Frank 2001 Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt. Zymner, Rüdiger 1998 Anspielung und Kanon. In: Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon. Macht. Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, 30−46. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Zymner, Rüdiger 2007 Texttypen und Schreibweisen. In: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände − Konzepte − Institutionen. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, 25− 80. Stuttgart/Weimar: Metzler.
Joachim Jacob, Gießen (Deutschland)
52. Kunst 1. Einleitung 2. Rahmung und Situierung von Kunstkommunikation 3. Kunstkommunikation als Sprachspiel
4. Soziale Positionierungen in der Kunstkommunikation 5. Muster der Kunstkommunikation 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Herzlich willkommen in der Ausstellung „Franz Gertsch. Jahreszeiten“ im Kunsthaus Zürich − mit diesen Worten wird begrüßt, wer die Starttaste des „Audioguides“ zu der im Sommer 2011 gezeigten Ausstellung im „Kunsthaus Zürich“ drückt. GesprochenGehörtes dieser Art ist linguistisch in vielfacher Hinsicht interessant, angefangen beim Status dieser schriftlich vorbereiteten Mündlichkeit über die sprechsprachliche Stilisierung der Intonation bis hin zu den angewandten Strategien der Verknüpfung von Hörund Sichtbarem (Fandrych und Thurmair 2010). Man kann deshalb ohne weitere Vorrede einen Audioguidetext (dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Herrn Dr. Hans Ruedi Weber, dem Leiter Kunstvermittlung und Pädagogik am Kunsthaus Zürich) zum
52. Kunst Fallbeispiel nehmen, um gesprächs- und textlinguistische Forschungsperspektiven zur Kunstkommunikation aufzuzeigen. Ein solches Vorgehen mag auch dadurch legitimiert sein, dass die Linguistik um die Kunstkommunikation bis vor wenigen Jahren zumeist einen großen Bogen gemacht hat (Thim-Mabrey 2007; Kindt 2007; Hausendorf 2011). Zu dem, was für eine Linguistik als Kulturwissenschaft an der Kunstkommunikation interessant sein könnte, gehört zunächst die Rahmung und Situierung der Kommunikation in einem speziellen gesellschaftlichen Umfeld (s. Abschnitt 2). Hinzu kommt die Pragmatik und Semantik der Bearbeitung der kommunikativen Aufgaben, die sich beim Reden und Schreiben über Kunst stellen (s. Abschnitt 3). Eng verwoben mit diesen Aufgaben und ihrer Bearbeitung sind die sozialen Positionierungen vor dem Kunstwerk, die die Kunstkommunikation zu einem Schauplatz gesellschaftlicher Zugehörigkeitskonstruktionen machen (s. Abschnitt 4). Schließlich bilden sich mit der alltäglichen Bearbeitung der immer wieder gleichen kommunikativen Aufgaben orale und literale Routinen aus, die als gesprächs- und textförmige Muster der Kunstkommunikation linguistisch greifbar werden (s. Abschnitt 5).
2. Rahmung und Situierung von Kunstkommunikation Wenn wir von der (weiblichen) Stimme des Audioguides an dem dafür vorgesehenen Ort begrüßt werden, ist das soziale Ereignis des Ausstellungsbesuches bereits in vollem Gang: Wir haben einen Gebäudekomplex betreten, von dem man wissen kann, dass es sich um das „Kunsthaus Zürich“ handelt. Als Mitglieder der „Vereinigung Zürcher Kunstfreunde“ können wir den Gang zu den Ausstellungsräumen nach Vorzeigen unseres Mitgliedsausweises passieren. Alle Nichtmitglieder zahlen einen Eintrittspreis. Zuvor haben wir uns mit besagtem Audioguide versorgt, der gegen Hinterlegen eines Ausweises vom Personal an der Kasse ausgehändigt wird. Auf dem Display steht (u. a.) der Hinweis „Nummer eingeben“. So eingelassen und ausgerüstet, sind wir im Eingangssaal der Ausstellung angekommen, in dem uns ein direkt auf eine der weißen Wände geschriebener Text über die Ausstellung informiert. Abgesehen von einer etwa mittig im Saal aufgestellten Sitzbank ohne Lehne ist der Saal leer. An den anderen weißen Wänden hängen großformatige Bilder. Jeweils in der Nähe der Bilder angebrachte Beschriftungen auf der Wand nennen (u. a.) den Titel und die Entstehungszeit des Werkes. Daneben sind an ausgewählten Positionen jeweils eine Zahl und ein Schallwellensymbol angebracht: vertrautheitsabhängige Hinweise darauf, an welcher Position im Saal wir mit welcher „Nummer“ den Audioguide starten sollen. Der Ausstellungsbesuch erweist sich damit als eine hochgradig organisierte Erscheinungsform von Kunstkommunikation, die nicht zufällig, sondern sorgsam vorbereitet, angekündigt und publikumsorientiert zustande kommt. Es ist der Kunstbetrieb, der sich an dieser Stelle in seiner materialen und diskursiven Institutionalisierung bemerkbar macht (vgl. Gardt 2008 am Beispiel der „documenta 12“). Kunstkommunikation erweist sich so als Ausdruck der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft (Luhmann 1995; vgl. Artikel 15). Obwohl institutionelle Kommunikation ein Dauerbrenner speziell der Gesprächsanalyse war und ist, sucht man in den einschlägigen Handbüchern zumeist vergeblich nach einem Eintrag „Kunst“, wenn von „Kommunikationsbereichen und ihren konstitutiven Gesprächstypen“ bzw. „Textsorten“ die Rede ist (vgl. aber neuerdings Habscheid 2011).
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III. Kulturen der Kommunikation In der Begrüßung der Sprecherin auf dem Audioguide (s. o.) wird die gesellschaftliche Rahmung der Kunstkommunikation als bereits erledigt vorausgesetzt: Der Hörer und die Hörerin sind, so die Implikation der Begrüßung, bereits „in der ausstellung […] im kunsthaus zürich“ angekommen − und haben damit die vor allem auf der Praxis des „Eintritts“ beruhenden Rahmungen durchlaufen, mit denen das fragliche soziale Ereignis im Sinne der sozialen Praxis eines Ausstellungsbesuches anlaufen kann. Zu dieser Praxis gehört auch, dass der Besucher und die Besucherin ihre Aufmerksamkeit und ihre Wahrnehmung insgesamt auf das lenken, was „ausgestellt“ und gezeigt wird (und nicht etwa auf das, was einfach nur „da“ ist, wie z. B. die Steckdosen an den Wänden). Mit dem Ankommen an der Position, an der der Audioguide erstmalig eingeschaltet wird, sind also auch schon eine Reihe von Situierungen in Kraft, die mit der erfolgreichen Etablierung eines Wahrnehmungs- und Bewegungshier und mit der Navigation der Körper im Raum zu tun haben (Hausendorf 2010). Es sind vor allem räumliche Ressourcen, auf die dabei zurückgegriffen werden kann. Mit der Architektur des „white cube“ (O’Doherty 1996) gerät fast alles unter Kunstverdacht, was sich überhaupt vom Weiß der Wände im weitgehend leer gelassenen Raum abhebt. Wer das „herzlich willkommen“ der Sprecherin hört, weiß also bereits, wohin zu schauen ist. Zusammen mit anderen, die das Gleiche tun, können sich dann Erscheinungsformen von Rudel- und Herdenverhalten ergeben, aber auch Sequenzen, in denen sich Besucher und Besucherinnen wechselseitig auf Sichtbares aufmerksam machen, indem sie z. B. „Standpunkte konfigurieren“, „gemeinsame Betrachtungsweisen herstellen“ und „Perspektiven in Einklang bringen“ (Lehn und Heath 2007).
3. Kunstkommunikation als Sprachspiel Mit der Bezugnahme auf die Ausstellung in der Begrüßung wird der soeben skizzierte kontextuelle und situative Hintergrund des Ausstellungsbesuches sprachlich aufgerufen, ohne dass er im Einzelnen expliziert werden muss. Im unmittelbaren Fortgang der Aufzeichnung rückt dann das Bewerten in den Vordergrund: (1) 01 °hh mit den wer↑ken von franz gertsch↑ aus den jahren neunzehnhundertdreiundachtzig bis zweitausendelf? (–) 02 °h präsentieren wir Ihnen einen überblick über das oeuvre (.) eines der ˊWICHtigsten schweizer künstler unserer -TA:ge; (.) 03 °h malerei (.) wie im holzschnitt neue -MASSstäbe gesetzt hat-(–) 04 °h ˊUND nach wie vor setzt.
Wenn man noch nicht wüsste, dass „franz gertsch“ ein „künstler“ ist und die aushängenden Stücke „werke“ sind, könnte man es spätestens an dieser Stelle nicht überhören. Im Bezugnehmen auf das, was es zu sehen gibt, steckt also schon die Anerkennung der zu zeigenden Objekte im Sinne von „werken“. Hinzu kommt die ausdrückliche Darstellung der besonderen Bedeutung des „künstlers“, mit dem das Bewerten als pragmatischer Zugzwang der Kunstkommunikation gleich zu Beginn der Ansprache hervortritt. Im gesamten ersten Teil der Aufzeichnung, der mit dem Drücken der „1“ aufgerufen wird, ist
52. Kunst
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das Bewerten (Was ist davon zu halten?) die dominante kommunikative Aufgabe. Erledigt wird sie vor allem durch die Darstellung des Rangs des „künstlers“: (2) 01 neben dem chuck close-(.) 02 °h wurde ˊER zu einem der .
Beispiel (2) belegt zugleich, wie mit dem Bewerten das Erläutern (Was weiß man darüber?) einhergeht, mit dem kunstgeschichtliche Expertise sowie biographisches Wissen kommuniziert werden. Dazu gehören auch Hinweise auf Motive des „künstlers“, der als epistemische Autorität in Anspruch genommen wird und mit dem Wechsel zu einer männlichen Stimme häufig auch hörbar in Erscheinung tritt: (3) 01 ((männliche Stimme)) mich interessiert nicht die -KUNST an der maleˊREI,(.) 02 sondern das ˊLEben. 03 ((weibliche Stimme)) konstatierte franz gertsch↑ (.) bereits neunzehnhundertfünfundsiebzig.
Wenn man im weiteren Verlauf des Ausstellungsbesuches die (insgesamt neun) „audiokommentare zu den exponaten“ hört, fällt zunächst auf, dass das Bewerten in den Hintergrund rückt, während sich das Erläutern verstärkt auf die künstlerische Entwicklung bezieht. Neu in Erscheinung treten das Beschreiben (Was gibt es zu sehen?) und das Deuten (Was steckt dahinter?), die häufig in unmittelbarer Nachbarschaft auftreten: (4)
a. Beschreiben 01 ein ˊWALDstück am hang- (–) 02 durch das sich (.) kaum erkennbar (.) ein klei↑ner fussweg schlängelt. (--) 03 über -ALLEM liegt -GOLdenes lIcht. (–) 04 das ˊBILD stra:hlt eine ˊMILde (.) -EINladende stimmung aus. (--) 05 °h ˊDOCH (.) ˊUNabwendbar an. (–) 06 die zweige der schlanken (.) noch jungen -BÄUme auf der rechten bildseite sind bereits -KAHL- (–) 07 °h ihr (.) auf den boden ist herbstlich verfärbt. (–) 08 das geäst bildet ein nahezu -UNdurchdringliches geˊSPINST (.) und lässt den blick des betrachters nicht↑ die ˊTIEfe ergründen. (--)
b. Deuten 01 hier scheint mehr verˊBORgen als ge-ZEIGT zu werden.
(5)
a. Beschreiben 01 ˊDEUtlich ist bei diesem -LETZten bild aus dem −JAHRESzeitenzyklus, (–) 02 °h der in den wald führende -WEG zu erkennen. (–)
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III. Kulturen der Kommunikation b. Deuten 01 °h er ˊSCHEINT wie eine ˊEINladung (.) ihm in den noch ˊLICHten wald zu folgen; (.) 02 und darin einzutauchen. (–) 03 vielleicht↑ in eine verheissungsvolle -ZUkunft?
Charakteristisch für das Beschreiben sind die Hinweise auf Abgebildetes („ein waldstück am hang“, „ein kleiner fussweg“, „die zweige der […] bäume“, „der in den wald führende weg“), die Thematisierung der visuellen Wahrnehmung („lässt den blick des betrachters nicht“; „ist […] zu erkennen“) und die Nähe zum Zeigen, mit dem das Sehen gelenkt wird („auf der rechten bildseite“). Charakteristisch für den Übergang zum Deuten ist die Modalisierung des Ausgesagten im Sinne eines „unsicheren Für-Wahr-Haltens“ (Polenz 1988: 214−215), das sich scharf abhebt von der Sicherheit der Expertise beim Erläutern. Die Sprecherin inszeniert auf diese Weise (auch intonatorisch) einen Übergang von dem, was man sehen und wissen kann, zu dem, was ein Betrachter vielleicht verstehen könnte. In den Beispielen (4b) und (5b) wird dieser Übergang vor allem durch das Verb „scheinen“ markiert, das die Geltung der Prädikation einschränkt. Daneben tritt auch das „Geltungs-Adverb“ (Weinrich 2005: 599−600) „vielleicht“ auf (Beispiel 5b), und der tastende Charakter der Aussage wird schließlich auch durch die gut hörbare Frageintonation hervorgehoben. Mit dem Bezugnehmen, Beschreiben, Deuten, Erläutern und Bewerten sind die wesentlichen kommunikativen Aufgaben der Kunstkommunikation genannt, die in einer Reihe von Arbeiten empirisch nachgewiesen und in z. T. unterschiedlicher Terminologie modelliert wurden (Hausendorf und Thim-Mabrey 2009; Holly 2007; Kindt 2007; Knape 2007; Lüddemann 2007).
4. Soziale Positionierungen in der Kunstkommunikation Die illustrierten Mittel zur Bearbeitung der kommunikativ relevanten Aufgaben der Kunstkommunikation verweisen im Sinne von „category bound activities“ (Sacks 1992) auf spezifische soziale Positionen. So ist das Bewerten durch die Darstellung des künstlerischen Rangs eine kommunikative Aktivität, mit der sich das „wir“ der Ausstellungsverantwortlichen gegenüber dem „Sie“ der Besucher und Besucherinnen („die wir ihnen präsentieren“; „wünschen wir ihnen“) als Kunstkritiker („Kunstrichter“: Strube 1976) positioniert, der den Wert des Ausgestellten autoritativ zu bestimmen versteht. Das Erläutern weist die Ausstellungsmacher weiter als Kunstkenner aus, die wissen, worüber sie reden und deren Expertise kunstwissenschaftlich legitimiert ist (Eroms [2002] zur Sprache der Kunstwissenschaft). Als Fremdpositionierung, die die eigene Positionierung ergänzt und stützt, kommt beim Bewerten und Erläutern zudem die soziale Position des Künstlers ins Spiel. Der Künstler, dem als Agens die Tätigkeit des „Schaffens“ eines „Werkes“ (bzw. „Œuvres“) zugeschrieben wird, erscheint als Fluchtpunkt und notwendige Ergänzung dieses Sets von sozialen Kategorien. Der Künstler ist so gesehen kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Topos, der für das Bewerten und das Erläutern ausgeschöpft werden kann. Auffällig unbestimmt bleibt in der Einleitung zunächst die soziale Position des Hörers und der Hörerin. Das ändert sich, wenn der Hörer und die Hörerin vor dem Kunst-
52. Kunst
501
werk Aufstellung nehmen und die „audiokommentare zu den exponaten“ abrufen. Vor dem Kunstwerk werden Hörer und Hörerin zum Kunstbetrachter, auf den speziell die Aufgaben des Beschreibens und des Deutens bezogen sind. „Was gibt es zu sehen?“ und „Was steckt dahinter?“ scheinen die Hauptprobleme zu sein, mit denen der Kunstbetrachter vor dem Kunstwerk konfrontiert ist. Er ist, wie Ullrich (2007) im Anschluss an O’Doherty ausführt, „ein bisschen dumm“: (6) 01 nu:r ˊGRAS?(–) 02 mag man auf den -ERsten blick denken.
Das ist der Beginn des ersten „audiokommentars“ im Anschluss an die Einleitung. In der Stimme der Sprecherin wird hier gleichsam der Kunstbetrachter hörbar; Hörer und Hörerin sind in der neutralen Referenzform „man“ inkludiert. Der Kunstbetrachter scheint dabei vom Kunstwerk leicht überfordert und muss deshalb durch den „audiokommentar“ im Hinblick auf seine Wahrnehmungsfähigkeiten instruiert werden. (7) 01 02 03 04 05
je länger man schaut. (.) °h desto mehr gewinnt das . (.) vermeint man den ´ WINDstoss zu spüren- (.) °h der das -GRAS auf -UNwiederbringliche art gestalte:t.(–) im nächsten moment vielleicht in ganz ˊANdere richtungen zu beugen. (–) 06 °h die kleinen gräser werden im gewählten -MOnumentalen format zum ˊURwald; (–) 07 °hh in dem sich der kann.
Hier kommt der Kunstbetrachter auch ausdrücklich zur Sprache. Wie der Name sagt, kommt ihm vor allem die Aufgabe des Wahrnehmens zu, die durch Instruktionen geschult wird: „je länger man schaut“. Es ist der „blick“, der den Kunstbetrachter vor allem auszeichnet. Die Mittel und Formen des Beschreibens, die wir u. a. mit der Thematisierung der visuellen Wahrnehmung illustriert haben (s. Abschnitt 2), sind also kein Selbstzweck; vielmehr erscheint in ihnen der Kunstbetrachter. Gelegentlich kommt der damit verbundene Aufforderungscharakter auch ausdrücklich zur Sprache: (8) 01 02 03 04 05 06 07 08
-
AUSSERdem lässt sich eine entwicklung (.) weg vom -FOtorealistischen- (.) °h hin zum malerischen erkennen. (–) , (.) °h bit↑ten (.) das gemälde von verschˊIedenen -STANDpunkten aus zu be-TRACHten. (–) °h aus der ˊFERne wirkt -HERBST be-EINdruckend . (--) in aber? (.) °h verliert sich der zusammenhang. (–) die ˊFARBpunkte scheinen fast vor den augen zu flimmern. (–)
502
III. Kulturen der Kommunikation 09 . (–) 10 -NEU ist ˊHIER (.) °h dass der wechsel nicht mehr ausgeglichen scheint. (–) 11 schon aus ˊMITtlerer entfernung beginnt das -BILD zwischen abstraktem musˊTER? (.) 12 °h und fassbarem gegenstand zu changieren. (–) 13 und je länger man hinschaut- (.)
Der Kunstbetrachter ist also einer, der vor allem „hinschaut“ und dem deshalb beschrieben werden muss, was es zu sehen gibt. Aber er ist auch einer, der verstehen will, was hinter dem Gesehenen steckt, was das Betrachten sinnvoll macht; „je länger man hinschaut“, heißt es in der gerade zitierten Passage weiter, (9) 01 umso -SINNverwirrender wird der eindruck. (–) 02 letztlich bleibt es ˊZWEIdeutig- (–) 03 -OFFEN für die interpretation des betrachtenden.
Der „Betrachtende“ will also nicht nur sehen, sondern auch verstehen. Dazu darf er „interpretieren“ (deuten). Es versteht sich wohl von dieser Zuschreibung her, dass das Deuten, wie oben illustriert, typischerweise im Anschluss an das Beschreiben erfolgt. Es ist jedenfalls das, wozu der Kunstbetrachter animiert werden soll, nachdem er seine Tätigkeit der Kunstwahrnehmung genügend geschult hat: (10) 01 02 03 04
°h fast meint man- (.) °h den duft von -PFLANzen und erde riechen- (.) °h die würzige -WALDluft -A:tmen zu können. (–) der ganze wald scheint von ˊSICHTbarem (.) °h wie auch von verborgenem leben zu vibrieren. (–) 05 -ANgezogen von der -FÜLLE der erscheinungen (.) und -SATTHEIT der farben (.) möchte man den ver-EINzelten -SONNENflecken nachgehen- (.) 06 °hh um zu ˊSCHAUEN wie es wohl hinter dem nächsten -BAUM (.) 07 °h der nächsten ˊBIEgung aussehen könnte.
Der Kunstbetrachter ist nicht nur „ein bisschen dumm“ (s. o.), er ist auch ein bisschen naiv in seiner deutenden Aneignung des Kunstwerkes, nimmt er das Gemalte doch wie ein Stück Welt, in das es einzutauchen gilt.
5. Muster der Kunstkommunikation Musterhafte Ausprägungen von Kunstkommunikation darf man überall dort erwarten, wo sich für wiederkehrende Problemstellungen routinehaft Lösungen eingespielt haben. Das ist speziell in den Organisationen des Kunstbetriebs der Fall, in denen sich mit der Institutionalisierung bestimmter Positionierungen (s. Abschnitt 3) auch musterhaft
52. Kunst verfestigte und historisch tradierte Sprech- und Schreibweisen (wie das „Kunstgespräch“) etabliert haben. Diese lassen sich als musterhafte Formen der Bearbeitung der für die Kunstkommunikation charakteristischen kommunikativen Aufgaben (s. Abschnitt 2) beschreiben und haben in typischen Szenen der Situierung vor dem Kunstwerk auch ihre gewissermaßen körperlichen Ausdrucksformen gefunden (vgl. für den Kunstkenner z. B. die viel zitierten Kupferstiche zum Thema „Kunst-Kenntnis“ von Daniel Chodowiecki aus dem 18. Jahrhundert [Knape 2007: 323−324] und als zeitgenössischen Beleg und zugleich interessanten Kontrast die Beispiele, die bei Ullrich [2007: 198−199] aus der Werbeanzeige einer Bank für die Position des Kunstkenners angeführt werden). Vergleichsweise gut untersucht ist die Musterhaftigkeit der Bearbeitung der Aufgabe des Bewertens in gedruckt-schriftlichen, massenmedial verbreiteten Texten. Sie hat mit der Grundform -kritik bereits eine Textsortenbezeichnung gefunden, die es erlaubt, die fragliche Musterhaftigkeit auch reflexiv zu thematisieren und zu kritisieren (Smolik 2001). Auch wenn das Bewerten im Sinne des Deklarierens in diesem Zusammenhang wohl als dominante Texthandlung gelten kann (Thim-Mabrey 2007), beschränkt sich die Textsorte der Kritik natürlich nicht auf Mittel des Bewertens. Wie in anderen Fällen auch sind es die Hierarchisierung und die Kombination der bearbeiteten Aufgaben, die das Muster ausmachen. Das lässt sich gut am Beispiel der Kunstwerkbeschriftungen illustrieren, die in Ausstellungen in der Regel in der Nähe des ausgestellten Werks angebracht sind. Hier ist es das identifizierende Bezugnehmen, das als dominante Texthandlung anzusetzen ist, dem dann das Erläutern und das Beschreiben als Nebenhandlungen zugeordnet werden können (Hausendorf 2011). Musterhaftigkeit erstreckt sich dabei nicht nur auf die Ebene der Aufgaben, sondern auch auf die der Mittel und Formen. Im Fall der Kunstwerkbeschriftungen gilt das z. B. für das Mittel der Angabe eines Werktitels, das selbst dann noch als Mittel des Bezugnehmens funktioniert, wenn der Titel in der Form gleichsam negiert wird („untitled“). Musterhaft dürften schließlich auch die Mittel und Formen des Beschreibens auf Kunstwerkbeschriftungen sein, in denen die Beschaffenheit und Materialität des ausgestellten Werkes formelhaft durch nicht weiter spezifizierte Stoffnamen und in der reduzierten Syntax einer Präpositionalfügung zum Ausdruck kommen („Öl auf Holz“). Manches spricht dafür, dass sich sowohl in der Dominanz des Bezugnehmens (die ja eine Art der Katalogisierung impliziert) als auch in der gerade illustrierten Kargheit des Ausdrucks des Beschreibens (Was gibt es zu sehen? − nichts als Öl auf Holz) die soziale Position des Kunstsammlers (Ullrich 2007: 214) manifestiert, die gerade auch in ihrem nüchternen Zugriff auf das Kunstwerk anschaulich mit dem blumigen Jargon der Beweihräucherung des Kunstwerks im Beschreiben und Erläutern des Kunstkenners kontrastiert (Demand 2007). Schließlich könnte man auch die in diesem Beitrag aufgeführten Beispiele aus den „audiokommentaren“ auf ihre Musterhaftigkeit hin reanalysieren. Ein Kandidat für Musterhaftigkeit auf der Ebene der Aufgaben dürfte in diesen Fällen die Kombination von Beschreiben und Deuten sein. Ein Kandidat auf der Ebene der Mittel könnte z. B. die Bearbeitung des Beschreibens durch Formen des Zeigens (Deixis) sein, mit denen das Gehörte mit dem Gesehenen verknüpft (Fandrych und Thurmair 2010) wird. Dabei wird dann zugleich die Position des Kunstbetrachters formelhaft profiliert („wenn man länger hinschaut, erkennt man […]“). Der Zusammenhang zwischen der Bearbeitung kommunikativer Aufgaben und sozialer Positionierungen hat sich in der Kunstkommunikation in charakteristischen oralen und literalen Routinen niedergeschlagen, die in der Musterhaftigkeit von Gesprächen und Texten, aber auch in der Musterhaftigkeit des Wortschatzes und der Syntax greifbar
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III. Kulturen der Kommunikation werden. Anders als z. B. im Fall des Rechts, der Wirtschaft oder der Politik hat Kunst bislang auch im Hinblick auf die Fachsprachlichkeit der Kommunikation kaum Beachtung gefunden. Insgesamt lässt sich zur „Diskursdomäne Kunst“ festhalten, dass der Bereich der nicht-öffentlichen, nicht-professionalisierten und mündlichen Kunstkommunikation noch weitgehend unerforscht ist. Das betrifft speziell das Deuten als eine mit der sozialen Position des Kunstbetrachters eng verbundene kommunikative Aufgabe, deren empirische Analyse höchst aufschlussreiche Beiträge zu einer Alltagshermeneutik der Kunstrezeption liefern könnte.
6. Literatur (in Auswahl) Demand, Christian 2007 Verklärung und Beschämung. Zur Sprache der Kunstkritik. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 265−281. München: Fink. Eroms, Hans-Werner 2002 Vertextungsstrategien in der Kunstwissenschaft. In: Mariann Skog-Södersved, Christoph Parry und Brigitte von Witzleben (Hg.), Grenzüberschreibungen. Festschrift für Henrik Nikula zu seinem 60. Geburtstag, 47−54. Vaasa: Saxa. Fandrych, Christian und Maria Thurmair 2010 Orientierung im Kulturraum: Reiseführertexte und Audio-Guides. In: Marcella Costa und Bernd Müller-Jacquier (Hg.), Deutschland als fremde Kultur: Vermittlungsverfahren in Touristenführungen, 163−188. München: Iudicium. Gardt, Andreas 2008 Kunst und Sprache. Beobachtungen anlässlich der ‚documenta 12‘. In: Achim Barsch und Peter Seibert (Hg.), Literatur − Kunst − Medien. Festschrift für Peter Seibert zum 60. Geburtstag, 201−224. München: Meidenbauer. Habscheid, Stephan (Hg.) 2011 Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. Berlin/New York: de Gruyter. Hausendorf, Heiko 2010 Interaktion im Raum. Interaktionstheoretische Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt von Anwesenheit. In: Arnulf Deppermann und Angelika Linke (Hg.), Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton, 163−197. Berlin: de Gruyter. Hausendorf, Heiko 2011 Kunstkommunikation. In: Stephan Habscheid (Hg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation, 509−535. Berlin/New York: de Gruyter. Hausendorf, Heiko und Christiane Thim-Mabrey (Hg.) 2009 Ein Kunstobjekt als Schreibanlass. Die deutsch-tschechische Reise der „Glasarche“ im Spiegel ihrer Besucherbücher. Regensburg: edition vulpes. Holly, Werner 2007 Schreiben über Film(e). Linguistische Anmerkungen zur Beschreibung und Deutung von Bildern in Filmkritiken. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 225−242. München: Fink. Kindt, Walther 2007 Probleme in der Kommunikation über Kunst. Ergebnisse linguistischer Analysen und ihre Illustration. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 55−76. München: Fink.
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Knape, Joachim 2007 Situative Kunstkommunikation. Die Tübinger Kunstgespräche des Jahres 2003 in historischer und systematischer Sicht. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 317−362. München: Fink. Lehn, Dirk vom und Christian Heath 2007 Perspektiven der Kunst − Kunst der Perspektiven. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 147− 170. München: Fink. Lüddemann, Stefan 2007 Wie Kunst zur Sprache kommt. Anmerkungen aus der Sicht der Kunstkritik. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 243−264. München: Fink. Luhmann, Niklas 1995 Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. O’Doherty, Brian 1996 In der weißen Zelle. Inside the White Cube. Berlin: Merve. Polenz, Peter von 1988 Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin/New York: De Gruyter. Sacks, Harvey 1992 Lectures on Conversation. Vol. I. Oxford/Cambridge: Blackwell. Smolik, Noemi 2001 Sprache als Tarnung. Zum Stand der heutigen Kunstkritik. In: Walter Vitt (Hg.), Vom Kunststück, über Kunst zu schreiben. 50 Jahre AICA Deutschland, 101−107. Nördlingen: Steinmeier. Strube, Werner 1976 Kunstrichter. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4., 1460−1463. Basel: Schwabe. Thim-Mabrey, Christiane 2007 Linguistische Aspekte der Kommunikation über Kunst. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 99−121. München: Fink. Ullrich, Wolfgang 2007 „Ein bisschen dumm“ − die Rollen des Kunstrezipienten. In: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, 197−222. München: Fink. Weinrich, Harald 2005 Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim/Zürich/New York: Olms.
Heiko Hausendorf, Zürich (Schweiz)
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III. Cultures of communication
53. Architecture 1. The classical canon 2. Enlightenment rationalism 3. Historicism and culture
4. From modernism to postmodernism 5. The digital turn 6. Selected references
Architecture, in common with the visual arts, experienced through sight, but unlike painting and sculpture, also by the other senses in combination with the effects of bodily movement, has derived much of its descriptive vocabulary from the theory of language. First codified by Vitruvius according to the terminology and structure of rhetoric, adumbrated in the Middle Ages with help from philosophy and the Bible, re-formulated in the seventeenth and eighteenth centuries following the rationalism of Port Royal and the Encyclopédie, re-construed by the newly minted terms of philosophical aesthetics in the Romantic period, falling under the sway of the newly academic discipline of art history in the 19th and early 20th centuries, influenced heavily by semiology since the mid-twentieth century, architectural language has emerged as a polyglot descriptive vocabulary, drawing more or less indiscriminately from post-structuralist theory while retaining much of its classical sub-stratum. From the outset, a fundamental problem is posed by the blurring of the distinction between the language that describes and classifies the terms of architecture, and the idea that architecture can be considered as a language in itself, communicating its purposes and affects through its forms and decorative devices. Before the eighteenth century, this distinction was largely maintained by means of a terminology specific to the discipline, supported by a division among the different building types and their appropriate decorative schema. With the increasing “historicization” of the discipline, and its nineteenth century codification in period “styles”, the question of an “architectural language” emerged in parallel with the development of linguistics, leading to the later twentieth century proposition that architecture might be considered as a semiotic system in its own right.
1. The classical canon If architecture has been provided with any kind of textual authorization and vocabulary since antiquity, it has been through the continued recapitulation of Vitruvius’ Ten Books, a manuscript collage of Greek and Roman ideas and practices cobbled together by this obscure inventor of siege machines, and water clocks now retired from service in Caesar’s Gallic Wars. Written sometime between 30 BCE and 10 BCE, at the beginning of the reign of Augustus, his book is at once a plea for recognition by the new “builder” emperor, and a handbook of practical lore on subjects ranging from the setting up of new cities to the construction of clocks and siege weapons, Drawing on many Greek sources, including Plato, Polyclitus, and Pythagoras, and the few Latin works available (Wilson-Jones 2005: 33−45) Vitruvius systematized the terminology of architecture and the knowledge pertinent to its practice. Surviving as a handbook of practical wisdom during the medieval period, it provided − as befitted the only surviving evidence of
53. Architecture antique theory − the conceptual and linguistic foundation for the art of architecture from the Renaissance on, and was recognized as the authority at least through to the 19th century. Its categories and even its language are still dominant, even if unconsciously, today. Vitruvius, who was convinced that only through writing would the architect gain any authority and any chance of being remembered, was the first to define architecture as a “discipline” (“architecti est scientia pluribus disciplinis et variis eruditionibus ornata”), dividing it into its famous three parts, or norms of firmitas, utilitas, and venustas, insisting that the practicing architect be versed in both theory and practice, raticionato united with fabrica. Itaque architecti, qui sine litteris contenderant, ut manibus essent exercitati, non potuerunt efficere, ut haberent pro laboris auctoritatem; qui autem ratiocinationibus et litteris solis confisi fuerent, umbram non rem persecuti videntur. At qui utrumque pendidicerunt, ut omnibus armis ornati citius cum auctoritate, quod fuit propositum, sunt adsecuti. (Vitruvius 1931, Vol. 1: 14−15) (Architects who aim at employing themselves with their hands without the aid of writing will never be able to achieve authority equal to their labors. Those who rely on discussion and writing will look as if they have chased a shadow and not the thing itself. But those that have mastered both, like men fully armed, will attain their goal speedily and with authority [modified translation]).
This newly constituted discipline was hereby invested with the authority of writing, and its theory construed under the rubrics of classical rhetoric. Indeed, in a preliminary move towards a semiotic structure of thought, Vitruvius divides the subject into two: Cum in omnibus enim rebus, tum maxime etium in architectura haec duo insunt, quod significatur et quod significat. Significatur proposita res, de qua dicitur; hanc autem signifcat demonstratio rationibus doctrinarum explicta. Quare videtur utraque parte exercitatus esse debere, qui se architectum proficeatur. Itaque eum etiam ingeniosum oportet esse et ad disciplinam docilem. Neque enim ingenium sine disciplina aut disciplina sine ingenio perfectum artificem potest efficere. (Vitruvius 1931, Vol. 1: 16−17) (Both in general and especially in architecture are these two things found: that which signifies and that which is signified [quod significatur et quod significat]. That which is signified is the thing proposed about which we speak; that which signifies is the demonstration unfolded in systems of precepts [demonstratio rationibus doctrinarum explicata]. He who is to exercise the profession of architect requires experience of both. He must have a natural ability and be open to the discipline. For neither ability without discipline nor discipline without ability can produce the perfect artificer [modified translation]).
2. Enlightenment rationalism Consulted throughout the Middle Ages for its technical wisdom rather than its classical precepts, Vitruvius’ manuscript was discovered in early Renaissance and became the basis for countless re-writings and “improvements”; Alberti was among the first to reformulate principles and clarify what he castigated as Vitruvius’s terrible Latin (Alberti
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III. Cultures of communication [1485] 1988: 154). The late seventeenth century academies, Colbert’s Académie d’architecture (1671) and the Royal Society in London, attempted to codify and rationalize the text. Claude Perrault, doctor and brother of the author Charles Perrault, and close to the linguistic circles of Port Royal, was commissioned to re-translate and annotate the treatise, attempting to place antique precedent on a firmer scientific basis. Contesting the mathematician-architect François Blondel, Director of the newly established Académie d’architecture (1671) who took the side of the “Ancients”, Perrault, a “Modern”, refused to accept that Vitruian proportions were the absolute standard for beauty. Accepting Arnauld’s and Nicole’s distinction between natural and conventional signs Perrault reframed the argument as between “positive” and “arbitrary” beauties, between “beauty” that necessarily “pleases by itself”, and that which “depends on the surrounding circumstances” (Perrault 1673: 103), or, as he put it in his full translation, between a positive rule that is backed by reason, and a form admitted through use and custom. (Perrault 1684: 146). “Positive” beauty was now ascribed to general characteristics of materials of great value, or, later, with the influence of Newton on Enlightenment aesthetics, to the primary geometries of square, triangle and circle, thus linking it to what Sir Christopher Wren of the Royal Society, probably echoing Perrault, called “natural” beauty. The Encyclopedists, Diderot and d’Alembert went further, with their campaign against falsifying rhetoric, construing architecture as no more than a decorated form of building: “Architecture,” wrote d’Alembert in his Preliminary Discourse, “born of necessity and perfected by luxury, being raised by degrees from huts to palaces, is no more, in the eyes of the Philosopher, if one can say it thus, than the embellished mask of our greatest needs”: cet art, né de la nécessité, & perfectionné par le luxe, l’Architecture, qui s’étant élevée par degrés des chaumières aux palais, n’est aux yeux du Philosophe, si on peut parler ainsi, que le masque embelli d’un de nos plus grands besoins. (d’Alembert 1751: xii)
While Diderot had called on the most theoretical architect of the day, Jacques-François Blondel, who had opened his own school of architecture in opposition to the moribund Académie to write the articles on “Architecture”, and it was his seven volume Cours d’architecture (1750−1774) with a definitions of every term, and specification of compositional methods that formed the basis of instruction in the Ecole des Beaux-Arts throughout the nineteenth century. In the event, however, the paradigm of Enlightenment architectural rationalism was to be described in the abbé Laugier’s Essai sur l’architecture (1753). Taking Rousseau’s Discours sur les sciences et les arts (1750) as his guide, Laugier described the primitive social “origins” of architecture in a paradigmatic “model” or “principle” of the first dwelling (Laugier 1753: 10−15). Composed of three structural elements − columns, beams, and roof − this acted as a counter to the elaborate ornaments of mid-eighteenth century rococo and was to be accepted into the structural rationalism of the 19th century in both Greek and Gothic revival terms from Henri Labrouste to Viollet-le-Duc. Its logical “purism” even became the prototype for Le Corbusier’s reinforced concrete frame principles (the Maison Domino, 1914) of the early 20th century. Here the “language” of architecture was seen as concomitant with that of “Newtonian” geometry − the square, circle and triangle − and the expressive use of these forms in the combinations of cube, sphere, and pyramid were mined by Blondel’s students, notable Etienne-Louis Boullée and Claude-Nicolas Ledoux.
53. Architecture Indeed the real impact of the Encyclopédie was felt by the generation of his students, as they inherited the theory of sensations from Condillac and Helvétius. Etienne-Louis Boullée developed a treatise on the “art” of architecture, drawing from Burke’s recently translated essay on the sublime, that directly connected architectural form with emotions of beauty and terror, while Claude-Nicolas Ledoux, calling for architecture to communicate its ideas directly to the sight, and thereby to the populace, constructed a theory of architecture “language”, whose forms were “letters” of the architectural “alphabet”, that “speak” to the eyes: “le cercle, le carré, voilà les lettres alphabétiques que les auteurs emploient dans la texture des meilleurs ouvrages” (Ledoux 1804: 218). The philosophical support for this vision of architecture as a universal language, was Leibniz, who in his posthumously published response to Locke (Nouveaux essais sur l’entendement humain, 1765) argued for the invention of a picture language, much on the lines of the hieroglyphs, but less elitist, that would, like the picture almanacs sold to the rural population, instruct through common ideograms. Ledoux’s 19th century critics were to make fun of this aspiration towards an “architecture parlante”, but the fundamental desire to communicate with architecture to more than an elite clientele, was taken up by utopian socialists from Saint-Simon to Fourier, and their architect followers. Thus César Daly, editor of the longest-running and most influential architectural periodical in the nineteenth century, (Revue générale de l’architecture et des travaux publics, 1840−1888) even dreamed of a symbolic system that would blend all architectural styles of the past into one universal, visual, language. Against this “reduction” of architecture to pure geometry, Quatremère de Quincy, friend of Jacques-Louis David and trained as a sculptor in the tradition of Canova, worked to redefine the terms of theory historically and philologically, conforming to rigorous neo-classic standards, in his three-volume Encyclopédie Méthodique: Architecture (1788−1825; republished as his Dictionnaire raisonnée d’architecture in 1832) works that would formed the basis of academic theory and design in the Ecole des Beaux-Arts to the end of the 19th century. Through Quatremère’s influence words like “caractère”, “composition”, “disposition”, “unité”, “symétrie”, were reified into rules and practices of design that continued, even as redefined by modern architects in the 1920s, to be embedded in the vocabulary of the profession together with other words from Beaux-Arts practice, that, as Jacques Lucan has recently remonstrated, are still used today − “parti” (the diagram of a design, from the injunction prendre parti, to settle on an initial disposition) or “poché”, the solid wall areas defining a space (Lucan 2012: 173−189). And if Quatremère defined the words and principles od classical architecture, it was Eugène Viollet-le-Duc who summarized the nineteenth-centuries research into the structure and principles of the Gothic in his monumental Dictionnaire raisonné de l’architecture française (1854−1868), which working from the evidence of cathedral building, founded the principles of structural rationalism to be followed by many architects of the Modern Movement, from Frank Lloyd Wright to Louis I. Kahn.
3. Historicism and culture Meanwhile, architectural history, as opposed to the theory of the discipline, was from the mid-eighteenth century developing its own vocabulary, derived on the one hand from
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III. Cultures of communication the analysis of “styles” in relation to historical periods and on the other from the newly minted philosophical discipline of aesthetics. Here there re-emerged the problem of relative versus absolute standards, but now in an increasingly debated academic context: should architecture be seen as a historically developing art, one subject to and emblematic of the nature of cultures, or one subject to the rules of aesthetic judgment, the potentially objective and unchanging standards of the beautiful? Winckelmann had proposed a version of style development that combined the two, in his characterization of early, middle, and late periods of classic art, the rise and fall of Greek, then Roman, culture commensurate with the beauties of a primitive nascent expression, a fully mature and perfectly balanced form, and a decadent or degenerating style, demanding the emergence of a new cycle. Hegel, more aware of the inner conflict between historical and the aesthetic, proposed a double movement pertaining to each of the arts − aesthetic from a Symbolic, to a Classic, to the Romantic form − and historical in that the general overall movement of culture found in each of the arts in succession a manner of expression that was to be overcome by the next. Thus architecture, which he defined as “Symbolic” in its fundamental nature would progress through Classic and Romantic periods, but would only be central to cultural development as a whole in its Symbolic mode, whence it was to be superseded by Sculpture the essence of which was Classic, only to be overcome as the dominant mode of expression by Painting, Literature, Poetry, Music, in the Romantic, modern period from the Middle Ages on (Hegel 1979: 272 ff.). The apotheosis of cultural expression of course was to be found in Philosophy, the arrival of which as the highest bond of the community, society and state, denoted the “end” of art. While few art historians fully took on Hegel’s complex historicism, the idea of a quasi-organic development of the arts, of each art within itself, and of each individual artist, was an all-too-easy matrix within which to frame general and universal histories as well as individual biographies. Thus the overall division between antique and modern was to be continuously re-calibrated according to new style and epoch frames: “Renaissance” and “Baroque” (Heinrich Wölfflin), were split by “Mannerism” (Max Dvorak), to be followed by a host of avant-garde “Movements” themselves self named as if arthistorical periods − Futurism, Cubism, Dada, Purism, Surrealism − or more generally the “Modern Movement”, “Modernism”, etc. Which, has, of course been a continued tradition, as in the “Post-modernism”, and recently “Late Modernism”, of Charles Jencks. For the most part, the twentieth century discipline of architecture, retaining the tendency to re-define the Vitruvian triad over and over again, simply applied different “weighting” to firmitas, utilitas, and venustas − structure, function, and beauty − according to the demands of technology (iron, then steel, and glass), the market, and new ideas of the “modern”. Thus the most radical shift in architectural terminology in the late 19th century came from other disciplines − the psychological and later the psychoanalytical sciences. Empathy theory, with Theodore Lipps, led to the notion that “space” (Raum) was not a universal constant proposed by Kant, but rather a projection of the individual psyche; spatial phobias from agoraphobia to claustrophobia entered the vocabulary, to warn architects of the dangers of metropolitan life and the new “science” of urbanism. Social theorists from Georg Simmel on were conscious of the new visual alienation of big-city life, and architects were divided between Le Corbusier who proposed postNietzschean solutions to urbanism with vast parklands and glass skyscrapers heralding
53. Architecture the “Esprit Nouveau”, and Camillo Sitte in Vienna who called for a return to the smallscale social-theatrical spaces of medieval cities.
4. From modernism to postmodernism The terminology of what has been called “Modernism” and that was developed between 1900 and the late 1930s, fully adopting the idea of “space” as a psychological and formal force, expanded it to include the idea of “time”, as confirmed in Siegfried Giedion’s classic work Space, Time and Architecture of 1947, at the same time as registering the effect of the new materials − steel and glass − to include terms such as “transparency” that altogether added up to ideas of “abstraction”. Which led some historians, such as the Viennese Emil Kaufmann to see a relationship between the Rousseauesque architectural utopias of Ledoux and Boullée and the (as then understood) social-democratic openness of Le Corbusier’s plans libres and villes vertes. Reflecting on the double potential of technological development following World War II, however, and influenced by the critical theories of Adorno (The Dialectic of Enlightenment) and Heidegger, architects began to re-think their affiliation to the transparent modernism that had increasingly become the trade-mark of the military-industrial and corporate complex, and with the help of the emerging disciplines of social anthropology and urban sociology, re-construed the idea of the “environment” − urban and rural − in various but supposedly more “humanistic” ways. This “New Humanism”, that took as many forms as the reconstruction campaigns of the postwar governments, was concerned with physical connectivity and social networks, from the house, to the threshold, the street, and the neighborhood. Variously, the language of architecture began to reflect the influence of phenomenology, making little distinction between the post-heimat nostalgia of Heidegger portrayed in “Building, Dwelling, Thinking”, and the poetical nostalgia of Gaston Bachelard’s Poetics of Space. After ’68, and the virtually world-wide movement against the “schools”, architectural discussion was consumed with a reaction against consumerism whether Marxist or “Pop” in form, a rejection of the conventions of a discipline frozen in its academic forms since the 19th century, and a e-energized call for architecture to exhibit “meaning”. Here the structural anthropology of Levi-Strauss and Bourdieu (cf. article 13) that had momentarily gained interest with communitarian movements opting out of the city (from the Bororo village to Drop City), was replaced on at least two fronts: by the discourse theories of Foucault (cf. article 12), that forced a re-imaging of the typologies of institutional form in relation to the networks of power, and the semiotic analyses of Barthes, that called for an analysis of architecture as a semiotic system, this time as a quasiscientific language in itself. The results were the development of new theories of urban “types”, whether “heterotopic” or utopian in Foucault’s terms, or the implicit “dismemberment” of architecture into its component elements of signification. The effect of Foucault’s analyses of asylums, clinics, hospitals, and prisons, was to encourage architects to re-examine the idea of functionalism as the sole generator of building-types, and to study traditional typologies of building in their urban context. The effect of the semiological analyses of Barthes, Umberto Eco, and others, was to encourage a return to the classical motifs of architecture in order to construct a bridge to the
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III. Cultures of communication past, ruptured by modernist abstraction. “Postmodernism”, as characterized by Charles Jencks saw a self-conscious return to iconology and the classical system, in a renewed effort to communicate on a popular level. Here the language used to describe architecture as a disciplinary practice merged with that used to analyze architecture as an aesthetic system.
5. The digital turn Resistance to this over-emphasis on the “language” aspect of the discipline has, over the last few decades, led to inquiries into the potential importance of other cultural modernisms, in media from film to video, in art from performance to installation, supported by philosophical interventions less subject to imaging and more concerned with the relationship between form and technology. Thus architects have tested the implications of Deleuze’s investigation of Leibniz’s response to Locke, which has spurred parallel research into the nature of “architectural folding” and its potential for parametric iteration in digital coding by architects from Greg Lynn to Van Berkel; the nature of narratives, as theorized by Eisenstein in film, and Barthes in literature has again provoked inventions that go beyond the earlier “architect promenades” of Le Corbusier; and the re-examination of classical philosophic concepts of space, notably the “chora” of Plato’s Timaeus as a substitute for the more literal foundation myths of building inherited from Vitruvius. At the same time, architecture has not been exempt from the fundamental shifts in perspective that have worked to open up questions of its role in colonial and postcolonial exploitation, complicity in neo-capitalist globalism, and inequality on all fronts, from the level of the individual subject’s gender, race, and social position, to development politics world-wide. Finally, and perhaps undermining the traditional disciplinary formulations in yet unapparent ways, the urgent questions posed by global climate change have re-introduced the terms of Vitruvian Hippocratic theories of urban settlement, in ways that radically re-define terms like firmitas, utilitas, and venustas once more changing their relative weight in the design process: the structural inventiveness and new material possibilities of digital design, and the increased role of the engineer and climate scientist has merged firmitas and utilitas into what is now termed “sustainability”, while what is considered venustas has emerged finally as entirely customary, arbitrary, and, with the authority apparently conferred by digital engineering, seemingly less relevant, interest has emerged in the idea of ambience and milieu, as an affect and effect of technological instrumentality.
6. Selected references Alberti, Leon Battista [1485] 1988 On the Art of Building in Ten Books, transl. by Joseph Rykwert and Robert Tavernor. Cambridge, MA: MIT Press (original [1443−1452] 1485: De re aedificatoria. Florence: Alamanni). Barthes, Roland 1970−71 Sémiologie et Urbanisme. In: L’Architecture d’Aujourd’hui 377, 11−24.
53. Architecture
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Anthony Vidler, New York (New York, USA)
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III. Kulturen der Kommunikation
54. Religion 1. Begriff 2. Religion und Religiosität − die Individualisierung von Religion 3. Säkularisierte Gesellschaft und die „Wiederkehr der Religion“
4. Religion und Pluralismus 5. Literatur (in Auswahl)
1. Begriff Ziel einer auf die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion gerichteten Fragestellung muss es sein, vorab zu klären, was unter dem Ausdruck Religion verstanden werden soll. Dies führt den Fragenden zurück auf die eigenen kulturellen Grundlagen: Jeder Begriff von Religion ist perspektivisch gebrochen und daher mit einer gewissen „Blindheit“ geschlagen, was, sofern dies erkannt und reflektiert wird, kein Problem darstellen muss. Zunächst gilt es, auf der Grundlage der Sicht des occidentalen Kulturkreises die historischen Wurzeln des Wortes Religion freizulegen. Es geht zurück auf das lateinische religio, das ,rücksichtsvolles Tun‘ oder ,gewissenhaftes Beobachten‘ meint. Damit sind die rituelle Dimension und die Korrektheit ritueller Praxis angesprochen. Bei Cicero wird der Begriff religio als Kult, Verehrung und Pflege der Götter (cultus deorum) erschlossen. Das Verb relegere (,sorgsam beachten‘) bringt den gleichen Zusammenhang zum Ausdruck. Neben diesem semantischen Feld kann religio jedoch auch − im Anschluss an Lactantius, Schriftsteller und Redner des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts − von religare abgeleitet werden und meint dann ,binden‘, ,rückbinden‘, ‚zurückbringen‘. In dieser Bedeutung wird es von Augustinus aufgegriffen, der mit vera religio jene Religion beschreibt, in der sich die vom Göttlichen getrennte Seele wieder an Gott rückbindet. Hock (2002, II) weist auf eine kürzlich in Umlauf gebrachte dritte Variante hin: religio als Ableitung von rem ligare, ‚die Sache anbinden‘, im Sinne von ‚die Betriebsamkeit ruhen lassen‘. Die Reformation bringt wesentliche Neuerungen im Verständnis von religio. Der kritisch verwendete Begriff dient jetzt als Grenze zu Magie, Aberglauben und unrechtem kultischen Handeln. Diese Kritik zielt sowohl auf die überlieferte kirchliche Tradition, also auf den Katholizismus, als auch auf die Volksreligion und ihre Bräuche. Religion wird nun zu einem − vor allem protestantischen − „Laienkonzept, in dem sich der ‚Freiheitsvorbehalt‘ des Christenmenschen gegenüber seiner Kirche ausdrückt“ (Matthes 1992: 132). Mit der europäischen Aufklärung schließlich setzt sich der Singularbegriff Religion durch. In David Humes Konzept einer natural religion wird Religion Ausdruck von etwas, was über die Vielfalt der einzelnen Religionen hinausgreift. Die den Kirchen kritisch gegenüberstehende Aufklärung legt damit den Religionsbegriff zugleich tiefer. Die historisch-konkreten Ausprägungen der Religion sind für sie „Verfälschungen“ einer idealen Religion, die sich in jedem Menschen entfaltet und damit der Menschheit gleichsam als anthropologische Grundausstattung gegeben ist. Aufklärerische Kritik an der Religion versteht sich dementsprechend oft auch als Rück- bzw. Hinführung zur verschütteten „wahren“ Religion. Nicht nur das 18., sondern auch das 19. Jahrhundert pflegt diesen Doppelaspekt im Umgang mit Religion: als Kritik und als Ideal bzw. als Utopie.
54. Religion Diese die ganze Menschheit und das Individuum als deren Kristallisationspunkt umgreifende Ausweitung des Religionsverständnisses steht dabei deutlich in der christlichen, insbesondere in der protestantischen Tradition, ohne dass man sich dessen immer klar bewusst ist. So ist gerade das 19. Jahrhundert einerseits geprägt von religiöser Öffnung und von immer größer werdendem Interesse an anderen, fremden Religionen, aber andererseits auch von einer Tendenz, im Vergleich mit anderen Religionstraditionen die eigene, christliche Religion als evolutionär höher stehend einzuordnen. Es ist wesentlich, sich zu verdeutlichen, dass der Begriff Religion seine Wurzeln in der europäischen Geschichte und Kultur hat. Von hier aus wird er seit zweihundert Jahren auf Kulturen „angewendet“, die über diesen Begriff nicht verfügen, die ihn aber nicht zuletzt aufgrund des sich global ausbreitenden wissenschaftlichen Diskurses − auch dies ein Missionstatbestand − übernommen haben. Begriffe wie Weltreligionen und Klassifikationen wie Animismus oder archaische Naturreligion, die Unterscheidung von Monotheismus (Judentum, Christentum, Islam) und Polytheismen in Geschichte und Gegenwart müssen ebenfalls mit Vorsicht und als Produkte westlicher Kultur- und Religionswissenschaften gelesen werden. Religion diente darin häufig als Ausgangspunkt des Kulturvergleichs. Erst in diesem Vergleich wurde allerdings auch sichtbar, welche Begriffe in anderen Kulturen verwendet werden, wenn die mit dem westlich konnotierten Begriff der Religion benannten, vergleichbaren Phänomene beschrieben werden sollen. So beschreibt das aus dem Sanskrit stammende hinduistische dharma (Wurzel dhr: ,halten‘, ,stützen‘, ,tragen‘) einen weiten Bereich: vom „(Welt-)Gesetz“ bis zur „(Kasten-) Ordnung“. Im Buddhismus wird der gleiche Begriff − als dhamma (Pali) − eingesetzt, um auf den Achtfachen Pfad Buddhas zu verweisen. Mit diesem erweiterten Verständnis lassen sich auch Gesetz und Lehren anderer Religionen erschließen. Grundlage des Judentums ist der Bund Gottes mit seinem Volk, ein Gedanke, der später prägend auch ins amerikanische Religionsverständnis eingeflossen ist. Das arabische dîn wird oft als vergleichbarer Begriff zu Religion angeführt. Der Ausdruck bezieht sich jedoch auf einen anderen Zusammenhang und meint: etwas entrichten (semitische Wurzel dâna) (Hock 2002: 13), also Gott etwas schuldig sein. Damit zielt der arabische Begriff über den engeren Bereich von Religion hinaus auch auf Lebensformen, Brauch und Sitte. Schließlich sei noch verwiesen auf das ostasiatische Konzept des dao, das mit ‚Weg‘ oder ‚Prinzip‘ umschrieben werden kann und sich auch in der Verbindung von ‚Weg‘ und ‚Lehre‘ im chinesischen jiao oder in der japanischen Paarung von kyo (Lehre) und do (Weg) findet. Mit dao wird die Ordnung der Welt ebenso wie die Harmonie des Gegensätzlichen bezeichnet. − Was sich im Blick auf fremde Kulturen zeigen lässt, gilt im historischen Rückblick auch für den Bereich der westlichen Kultur. So verfügte etwa das antike Griechenland über kein Wort für Religion, auch wenn dort ausführlich über die Götter und deren bewegtes Leben kommuniziert wurde. Die Anwendung des westlichen Religionsbegriffs auf fremde Kulturen ist also problematisch. Dabei ist die Problematik des Kulturvergleichs nicht auf das Phänomen der Religion begrenzt, sondern betrifft alle Gegenstände, die von den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften bearbeitet werden. Für den Bereich der Religion haben sich einige Autoren dieses Problems pointiert angenommen (Matthes 1992, 1993; Tenbruck 1993). Ihre Kritik greift Durkheims Unterscheidung von heilig und profan auf. Denn ihr kommt für das westlich-christliche Verständnis von Religion die Rolle einer grundlegenden definitorischen Orientierungsmarke zu. Sie unterstellt eine historisch-kulturell gewachsene Zweiteilung der Welt in eine „diesseits“ gegebene, wenigstens zum Teil verfügbare Wirk-
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III. Kulturen der Kommunikation lichkeit und ein „jenseits“ davon befindliches „Anderes“, auf das sich Religion bezieht und dieser damit den Charakter des „Aparten“ (Matthes) oder des „Nichtnormalen“ im Sinne des Nichtalltäglichen verleiht. Diese für die westliche Kultur grundlegende Dichotomie stellt ein Spezifikum dar, mit der sich die Ausgestaltung von Wirklichkeit(en) in außereuropäischen Kulturen oft nicht adäquat fassen lässt.
2. Religion und Religiosität − die Individualisierung von Religion Für das westliche Verständnis von Religion in einem weiteren Sinn ist die Unterscheidung von Religion und Religiosität in den vergangenen zweihundert Jahren wichtig geworden. Während der Begriff der Religion auf die Institution abzielt, fasst Religiosität die subjektive Befindlichkeit des Gläubigen. Die Unterscheidung von Religion und Religiosität ist als Zeichen des aufklärerischen Bemühens zu sehen, hinter die Kirchen „zurück“ beziehungsweise über sie „hinaus“ zu gehen und sowohl die „wahre“ Religion des Individuums als auch das „Allgemeine“ von Religion unabhängig von institutionelltraditionellen Verfestigungen freizulegen. Einer der einflussreichsten Autoren, die diese Unterscheidung Ende des 18. Jahrhunderts akzentuierten, ist Friedrich Schleiermacher. In seiner berühmten Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799 identifiziert er mit dem Begriff der Religiosität − gegen den aufklärerischen Begriff einer an Metaphysik und Moral anknüpfenden „natürlichen“ bzw. „vernünftigen“ Religion − das „Gefühl“ sowie den „Sinn und Geschmack fürs Unendliche” als Kernbestand von Religion. Damit stellt er die Weichen für die spätere Unterscheidung von substanzialen und funktionalen Definitionen von Religion. Während substanziale Definitionen von Religion auf deren Inhalt und eigene Substanz abzielen, nehmen funktionale Bestimmungen von Religion deren Leistungen für Gesellschaft und Individuum in den Blick. Als substanzielle Füllung des Religionsbegriffs kann dabei auf den Gottesbegriff − oder allgemeiner auf einen Glauben an „höhere Wesen“ − rekurriert werden, was in der Regel die Kritik nach sich zieht, dass dadurch bedeutende Traditionen − in diesem Zusammenhang wird oft auf den (frühen) Buddhismus verwiesen − ausgeschlossen werden. Demgegenüber bietet Religion im funktionalistischen Verständnis „Lösungen“ für gesellschaftliche Probleme: Religion integriert Individuen in Gemeinschaften; sie bewältigt Angst und erlaubt einen geordneten Umgang mit Affekten; sie gibt Sinn, insbesondere auch im Umgang mit Außeralltäglichem; in der Krise stiftet Religion Orientierung; sie antwortet auf Fragen von Leid und Ungerechtigkeit oder ganz allgemein auf die Konfrontation mit Schicksalhaftem und bearbeitet damit das alte Theodizeeproblem; und Religion hat die Kosmisierung von Welt zum Gegenstand (Kaufmann 1986: 303), also die umfassende Begründung der Welt aus einer einheitlichen Perspektive. Franz-Xaver Kaufmann weist darauf hin, dass die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Moderne sich heute vor allem an der Kosmisierung orientiert, obwohl Religion vor dem Hintergrund der Erfahrung des weltanschaulichen, kulturellen und religiösen Pluralismus keine einheitliche Perspektive mehr bietet. Die Unterscheidung von Religion und Religiosität ist eng verknüpft mit dem − wiederum kulturell konnotierten − modernen Individualitätsverständnis. Die westliche Kultur hat in einem die Jahrhunderte überspannenden Prozess eine Sprache des Individuums und einen spezifischen Umgang mit dem Selbst entwickelt, der später aufgrund globaler
54. Religion Kommunikation auch an nichtwestliche Kulturen vermittelt und dort teilweise aufgenommen wurde. Während die historische Datierung der Wende hin zu einem neuartigen Individualitätsverständnis in der Forschung umstritten und von einigen Autoren bereits dem 12. Jahrhundert zugeschrieben wird (Morris 1972), war es jedoch vor allem die Reformation, die mit dem Glauben auch das Individuum reformierte. Insbesondere der Beitrag Luthers und zum Teil auch des linken, schwärmerischen reformatorischen Flügels lässt sich als Ausgangspunkt jenes Prozesses identifizieren, der schließlich zur Verabsolutierung und Sakralisierung des innerweltlichen Subjekts in der fortgeschrittenen Moderne führte (Soeffner 2000). Mit der reformatorischen Betonung der Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott, der dadurch immer mehr zum „eigenen Gott“ (Beck 2008) wird, lädt sich der Glaube mehr und mehr mit einer subjektiven Qualität auf: einer sich gegenüber dem Anspruch Gottes bewährenden Innerlichkeit. Max Weber hat diesen Prozess am Beispiel des puritanischen Calvinismus ausführlich beschrieben. Erfolg im Diesseits, insbesondere im Bereich des Wirtschaftens, kann als Hinweis der Auserwähltheit des Individuums gelesen werden und damit dem geheimnisvollen Gott ein Zeichen − scheinbar − abgerungen werden. Dieses religiöse Motiv verliert sich jedoch im Verlauf der sich entwickelnden Moderne mehr und mehr. Der transzendente Horizont wird zugunsten der Immanenz und einer methodisierten Lebensführung preisgegeben. Während die modernen Großideologien und gesellschaftlichen Utopieentwürfe vorübergehend diesen Transzendenzverlust kompensierten, herrscht heute, in der sogenannten Spätmoderne, das Individuum als Letztgröße der Orientierung. Ursprünglich trat das Christentum als Religion des Individuums (Simmel) auf den Plan. Heute finden wir uns in einer Situation wieder, in der das Individuum selbst zum zentralen religiösen Gegenstand geworden ist. Grundlage und Folge dieser modernen „Konstellation“ ist die Erfahrung von Singularität, die sich im Prozess der Ausdifferenzierung der Gesellschaft herausbildete und das Individuum als Gegenüber der Gesellschaft positioniert (Soeffner 2000). Der Begriff Religiosität reflektiert diesen Zusammenhang. Darüber hinaus lässt sich nun, anders als mit dem Begriff Religion, eine anthropologische Dimension einfangen, die auf Sozialität, also auf das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv und die damit verbundenen Probleme der Intersubjektivität, in grundlegender Weise zielt. Thomas Luckmann, einer der bekanntesten Vertreter eines anthropologisch fundierten Religionsbegriffs, versteht den Vorgang des Transzendierens als innerweltliche Grenzüberschreitung. In ihr überschreitet der Mensch sich selbst auf ein Kollektiv hin und erweitert dadurch seine biologische Existenz zur sozialen. Der so zu einem sozialen, moralisch adressierbaren Mitglied der Gesellschaft gewordene Einzelne vollzieht damit immer einen „religiösen Vorgang“, der ihn erst zum Menschen macht. Die historischen Ausprägungen von Religion in Form der verschiedenen religiösen Traditionen und ihrer Institutionen sind dagegen das Ergebnis der Vergesellschaftung des Umgangs mit Transzendenz und damit nicht gleichbedeutend mit der anthropologischen Grundtatsache des Transzendierens. Die konkreten historischen Religionen leisten „Wirklichkeitskonstruktionen“, die den Alltag vor den Einbrüchen des „ganz Anderen”, das mit der Vorstellung transzendenter, anderer Wirklichkeiten einhergeht, schützen. Im Unterschied sowohl zu archaischen Gesellschaften, bei denen Religion und Sozialstruktur ineinander übergehen und Religion keinen eigenen ausgezeichneten Ort innerhalb der Gesellschaft hat, als auch zu traditionellen Hochkulturen, die sich durch religiöse Experten und gesonderte religiöse Institutionen auszeichnen und damit der Religion einen für
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III. Kulturen der Kommunikation alle sichtbaren Ort innerhalb der Sozialstruktur zuweisen, verliert die Religion in der modernen industriellen Gesellschaft ihre klare Sichtbarkeit im Prozess der Pluralisierung zugunsten einer Vielfalt neuer Formen des religiösen Ausdrucks: „Die neu entstehende Sozialform der Religion ist die der Privatisierung und Entinstitutionalisierung der spezifisch religiösen Erfahrungen“ (Luckmann 1985: 40). Zu deren Umschreibung ist durch Luckmann 1967 der Begriff der invisible religion in die Diskussion eingebracht worden (Luckmann [1967] 1991), den er selbst jedoch kaum verwendet. Damit wird in der modernen Gesellschaft der Ausdruck religiöser Erfahrungen in den Zuständigkeitsbereich des Individuums überführt und als kompensatorische Alternative zur institutionell gebundenen Religion gesehen (Wohlrab-Sahr und Krüggeler 2000). Damit entsteht eine Spannung zwischen Sozialisierung einerseits und dem Anspruch auf Selbstdefinition andererseits. Die immer schon gegebene gesellschaftliche Verankerung der individuellen Existenz steht der Erfahrung der Singularität und der Unvereinbarkeit von Individuum und Gesellschaft gegenüber. Die besondere Herausforderung liegt darin, dem Sozialwesen die Erfahrung seines Solitärseins zu vermitteln. Moderne Gesellschaften stellen entsprechende Bilder bereit, die es dem Individuum ermöglichen (sollen), den unüberbrückbaren Widerspruch von sozialem Vermitteltsein und individueller Unvermittelbarkeit zu thematisieren und in der Thematisierung zum Verschwinden zu bringen. Die kommunikative Referenz auf Unsagbares als Unsagbarkeitstopos etwa ist ein Mittel, das dies leistet: als Ausdruck des Paradoxes, dass auch das individuell Unsagbare sozial angezeigt und die Vereinzelung gesellschaftlich erkannt und ratifiziert werden muss (Soeffner 2000: 118). Was ursprünglich als Transzendenz im Außen seinen Ort gefunden hat, ist nun zur Transzendenz im Innen geworden. Das Innere des Individuums wird zu einem Absoluten der Erfahrung und vereint die Qualitäten jedes Transzendenten: das Nächste, Eigenste und zugleich das Fremdeste, das Nichtgekannte und daher auch Unheimliche zu sein. Moderne Semantiken und Rituale der Individualität reagieren auf diese Lage, wobei der moderne Künstler − als Vertreter einer Diesseitsreligion − eine extreme Ausdrucksform dieser Befindlichkeit darstellt. Mit dem Geniebegriff fand bereits das späte 18. Jahrhundert ein Mittel, auf Frühformen dieser Erfahrung zu antworten. Kritiker der Individualisierungsthese haben geltend gemacht, dass individuelle religiöse Suche, wenn sie denn überhaupt ein quantitativ nennenswertes Phänomen darstelle, hauptsächlich eine innerkirchliche Erscheinung sei, die an den Rändern der Institution bei den wenig engagierten Mitgliedern stattfinde (Pollack 1996; Pollack und Pickel 2000). Allerdings sei das Kennzeichen der gegenwärtigen säkularisierten Gesellschaften, dass in ihnen die Bedeutung der Religion im Vergleich mit vergangenen Zeiten zurückgegangen sei. Für Europa, eine säkularisierte Insel im Vergleich zu den religiösen übrigen Kontinenten, mag dies gelten. Für den Rest der Welt trifft dies nicht zu. Am Begriff Säkularisierung lässt sich also erneut die Perspektivenverengung westlicher Religionssoziologie erkennen. Denn, was für die Entwicklung der christlichen Religion und ihrer Konfessionen oder Kongregationen beobachtet wurde, lässt sich weder auf den Islam noch auf Hinduismus, Buddhismus und andere asiatische Religionen übertragen.
3. Säkularisierte Gesellschaft und die „Wiederkehr der Religion“ Mit der Frage nach dem Ort der Religion in der modernen europäischen Gesellschaft verbindet sich die Auseinandersetzung mit der These der Säkularisierung. Die frühen
54. Religion Soziologen und Theoretiker der modernen Gesellschaft waren fast alle der Überzeugung, dass die Religion als Folge gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse an Bedeutung verliere. Die sozialwissenschaftliche Gründergeneration hat damit bei allen Unterschieden und Nuancierungen im Einzelnen die Säkularisierungsthese in ihren Grundzügen gestützt und daraus sowohl erwartungsfrohe als auch skeptischere Folgerungen für die Zukunft gezogen. So schrieb etwa Emile Durkheim bei der Suche nach modernen funktionalen Äquivalenten zur Religion der Gesellschaft selbst religiöse Qualität zu und identifizierte das moralische Individuum als deren Träger. Max Weber zog andere, ernüchternde Schlüsse aus der auch von ihm beobachteten Säkularisierung abendländischer Gesellschaften, die sich im Prozess moderner Rationalisierung für die in ihnen lebenden Menschen zu „stahlharten Gehäusen der Hörigkeit“ entwickelten. In den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts nahm die Säkularisierungsthese vor dem Hintergrund einer sich neu formierenden und sich auf die „Klassiker“ berufenden Religionssoziologie ihren eigentlichen, zunehmend auch in empirischen Untersuchungen fundierten Aufschwung. Als wesentlicher Beitrag zu dieser „ersten“ Säkularisierungsdebatte gilt das frühe Werk des Soziologen Peter L. Berger, der damit auch zum Hauptvertreter dessen wurde, was Stephen Warner als old paradigm bezeichnet hat (Warner 1993). Berger geht im Anschluss an Friedrich Schleiermacher und Rudolf Otto von einem substanzialen Religionsbegriff aus. Religion hat mit der Erfahrung „anderer Wirklichkeiten“ zu tun: mit der Erfahrung von übernatürlichen Kräften und vom Heiligen. Das Hereindrängen dieser „anderen Wirklichkeiten“ in den Alltag erfordert die Errichtung von Sicherungen in Form von institutioneller und symbolischer Ordnung. Gesellschaften bringen durch Institutionalisierung und durch Symbolisierung nach Berger eine umfassende Ordnung hervor und stabilisieren so das existenziell prekäre menschliche Dasein. Insbesondere der Religion kommt durch ihre verbindlichen Welterklärungen die Aufgabe der Absicherung zu. Säkularisierung findet, gemäß Berger, im Rahmen eines Modernisierungsprozesses statt, der zu Pluralisierung und sowohl zu einer Auflösung der traditionellen religiösen Bindungen als auch der dominanten gesellschaftlich verbindlichen Weltbilder führt. Dabei wird das herkömmliche „Angebot“ an lebensweltlicher Rückversicherung nicht zum Verstummen gebracht, sondern zum einen zunehmend in den Bereich des Privaten verwiesen und zum anderen in den Wettbewerb mit neuen Formen von Religiosität gezwungen. Die kirchlichen Institutionen verlieren an öffentlicher Bedeutung und werden auf dem religiösen Markt einer größer werdenden Konkurrenz ausgesetzt, angesichts derer es sich zu bewähren gilt. Später relativierte Berger seine Säkularisierungsthese insbesondere im Hinblick auf die amerikanische Situation und auf die Vitalität religiöser Bewegungen in weiten Teilen der Welt. Berger und Luckmann stimmen somit in der Einschätzung dieser Entwicklungen über weite Strecken überein, während sie in der Frage der Definition des Begriffs der Religion nicht einer Meinung sind. Luckmann weist dabei schon länger auf den „modernen Mythos“ der Säkularisierung hin (Luckmann 1980): Der Begriff der Pluralisierung beziehungsweise des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus umschreibe die moderne Situation adäquater als jener der Säkularisierung. Bis in die Neunzigerjahre erfreute sich die Säkularisierungsthese einer breiten Unterstützung. In den letzten beiden Jahrzehnten änderte sich die Situation jedoch. Vor allem amerikanische Vertreter eines ökonomischen Modells argumentieren, dass die moderne Konkurrenz auf dem religiösen Markt, für die der Fall der USA seit zweihundert Jahren als prominentestes Beispiel gilt, zu einer Stärkung der Religion innerhalb der Gesell-
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III. Kulturen der Kommunikation schaft führe (Warner 1993; Finke and Stark 2005). Stephen Warner (1993) spricht denn auch in einem richtungsweisenden Aufsatz von 1993 und besonders in Abgrenzung zu Berger vom new paradigm, das nicht nur für die soziologische Analyse der Religion in den USA besser geeignet sei. Die Konkurrenz und das dadurch vor allem in Städten hervorgebrachte vielfältigere Angebot an Religion festige die gesellschaftliche Position der Religion. Die Vielfalt des „neuen“ Angebots kompensiere so den Verlust, den die traditionellen Kirchen als Vertreter des religiösen Monopols erleiden (Casanova 1994). Durch die veränderte weltpolitische Lage in den letzten Jahren und vor allem nach dem 11. September 2001 rückte die Religion wieder in das Zentrum der öffentlichen Diskussion. Dabei nimmt man die Sichtbarkeit einer konservativ-fundamentalistischen Spielart des Islam, des sogenannten Islamismus, zum Anlass, die weltpolitischen Konflikte unter dem Zeichen eines „clash of civilizations“ (Huntington) zu lesen, und weist der Religion oft die Rolle eines zentralen konfliktiven Faktors zu. Damit geraten die jeweiligen kulturellen Grundlagen der einzelnen Religionen und der mit ihnen verbundenen religiösen Prägung von Neuem in den Blick: Kultur wird in ihrer religiösen Geprägtheit sichtbarer. Das Rekurrieren auf eigene religiöse Traditionen und Wissensbestände stellt sich dabei in den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich dar. So findet sich eine Tendenz, fundamentalistische religiöse Positionen auch gesellschaftspolitisch stark zu machen, nicht nur in islamischen Ländern, sondern besonders deutlich seit den Achtzigerjahren auch in den USA (vgl. Brocker 2005; Riesebrodt [2000] 2001). Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation ist also weit komplexer, als die frühe Säkularisierungsthese glauben machen wollte. Die Differenzierung zwischen Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung, Sakralisierung und Entsakralisierung bringen dies ebenso zum Ausdruck wie der Widerspruch gegen die in der Säkularisierungsthese implizierte Kontinuitätsunterstellung (vgl. Lehmann 1997).
4. Religion und Pluralismus Seit dem 17. Jahrhundert lassen sich für Europa Phasen der religiösen Entfremdung solchen der religiösen Wiederbelebung gegenüberstellen. Vor allem wird in historischen Studien immer wieder auf die Unterschiede zwischen Europa und den USA hingewiesen. Historiker befassen sich in Bezug auf die Frage der Säkularisierung bevorzugt mit dem 19. Jahrhundert. In Amerika war dieses Jahrhundert das Jahrhundert des „christlichen Amerika“. Es beschreibt jenen Zeitraum, in dem sich in den USA das christlich-protestantische Kulturverständnis, das für die nationale Identität wesentlich wurde, herausbildete. Die Umfrageergebnisse zur Religiosität in den USA weisen auch nach den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als in Europa die Anzahl der Kirchenmitglieder deutlich zurückgeht, einen hohen Grad an religiöser Bindung aus. Gemäß einer Umfrage aus dem Jahr 2002 sagen 93 Prozent der christlichen Befragten, Religion sei für sie „sehr wichtig“ bzw. „wichtig“ (Lehmann 2004: 15). Erstaunlicherweise haben 60 Prozent der nicht zu einer christlichen Glaubensgemeinschaft gehörenden Befragten ebenso geantwortet. Das Aufblühen der Religion im 19. Jahrhundert hat seinen Grund nach Einschätzung vieler Autoren in der im ,,First Amendment“ (1791) zur amerikanischen Verfassung festgelegten Trennung von Kirche und Staat. Das immer professioneller betriebene Werben um Mitglieder auf der einen Seite sowie der Bedarf nach lebensweltlicher Orientierung unter
54. Religion den zahlreichen Einwanderergruppen auf der anderen Seite haben der Religion in den USA eine einmalige Ausgangssituation verschafft. Auch wenn man heute in Europa für das 19. Jahrhundert die Rolle der Konfessionen stärker betont und in diesem Zusammenhang sogar die Formel vom „zweiten konfessionellen Zeitalter“ (in Deutschland) in die Diskussion eingebracht hat (Blaschke 2000), so sind die Unterschiede zwischen den USA und Europa doch deutlich. Für das europäische Bürgertum ebenso wie für die Arbeiterschaft lösen sich die engen Kirchenbezüge im 19. Jahrhundert auf. Die Folge davon zeigt sich für das protestantische Deutschland in neuen Formen einer innerweltlichen Sinnsuche, die mit dem Begriff der vagierenden Religiosität umschrieben wird (Nipperdey 1988: 19−20; für die Vereinigten Staaten s. Matter 2006). Die religiöse Aufladung der Kultur als Diesseitsreligion (Soeffner 2000) macht dabei vor allem im Bürgertum vor fast nichts mehr halt: Anleihen bei Mystik und Pantheismus, die Suche nach Weltseele und Weltgeheimnis, die Anlehnung an fremde, oft östliche Religionen. All dies lässt sich als Reaktion auf die Modernisierungskrise des späten 19. Jahrhunderts und den unaufhaltbaren Pluralismus des ausgehenden 20. beziehungsweise des beginnenden 21. Jahrhunderts lesen. Auch vor diesem Hintergrund erfährt die Religion erneut hohe Aufmerksamkeit in Europa (Heimbrock, Scheilke and Schreiner 2001): sowohl im akademischen Milieu als auch in der medialen Öffentlichkeit (Habermas und Ratzinger 2005). Dabei geht es zunehmend um die Frage nach dem Ort der Religion an öffentlichen Schulen. In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz, die im Unterschied zu Frankreich keine konsequente Trennung von Kirche und Staat kennen, wird heute die öffentliche Schule als Institution gesehen, innerhalb derer der Umgang mit fremden Kulturen gelernt werden soll und in der sich Religion als Zugang zum Anderen geradezu anbiete. Die in den letzten Jahren aufgebrochenen Konflikte um religiöse Symbole („Kopftuchstreit“) haben die Notwendigkeit einer kulturelle Grenzen überschreitenden, religiösen Kommunikation und Verständigung (in angloamerikanischen Diskussionen mit dem Begriff der literacy umschrieben) deutlich gemacht. Neue Formen des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen stehen heute dementsprechend zur Debatte oder sind bereits eingeführt, wie etwa das als Alternative zum klassischen Religionsunterricht geführte Modell LER (Lebensgestaltung − Ethik − Religionskunde) in Brandenburg oder das neue Volksschulfach Religion und Kultur im Kanton Zürich ebenso wie das Fach Ethik und Religion in einigen weiteren Schweizer Kantonen. Während Religion an öffentlichen Schulen in den europäischen Gesellschaften erst in jüngerer Zeit zu einem auch medial wahrgenommenen Thema geworden ist, präsentiert sich dieses Problem in der amerikanischen Gesellschaft als dauerhafter Diskussionsgegenstand. Es geht auf Debatten zurück, die bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geführt wurden. Dabei steht vor allem die Evolutionstheorie vonseiten der sogenannten Kreationisten, die sich auf den biblischen Schöpfungsbericht berufen und diesen an den Schulen gelehrt sehen wollen, in der Kritik. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung, die immer wieder auch die amerikanischen Gerichte und die Gesetzgebung beschäftigt, hat sich die Bewegung des Homeschooling entwickelt: eine amerikanische Besonderheit. Am Übergang zum evangelikalen und zum fundamentalistischen Milieu konnten so − auch in einem christlichen Umfeld − religiöse ,,Parallelgesellschaften“ entstehen, die einen beträchtlichen, auch politisch einflussreichen Faktor innerhalb der amerikanischen Gesellschaft darstellen.
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III. Kulturen der Kommunikation Allen interkonfessionellen und interreligiösen Anstrengungen zum Trotz werden religiöse Parallelgesellschaften und die Konkurrenz unterschiedlicher Religionen die pluralistischen Gesellschaften ebenso prägen wie das Zusammenleben und Verschmelzen der Religionen in großen Teilen Asiens.
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54. Religion Knoblauch, Hubert 1999 Religionssoziologie. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Krüggeler, Michael 1996 „Ein weites Feld ...“ Religiöse Individualisierung als Forschungsthema. ln: Karl Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität, 215−235. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Kuld, Lothar, Rainer Bolle und Thorsten Knauth (Hg.) 2004 Pädagogik ohne Religion? Beiträge zur Bestimmung und Abgrenzung der Domänen von Pädagogik, Ethik und Religion. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann. Lehmann, Hartmut 2004 Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen: Wallstein. Lehmann, Hartmut (Hg.) 1997 Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisiemng im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Luckmann, Thomas 1980 Säkularisierung − ein moderner Mythos. In: ders., Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, 161−172. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Luckmann, Thomas 1985 Über die Funktion der Religion. In: Peter Koslowski (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft. Religion und ihre Theorien, 26−41. Tübingen: Mohr. Luckmann, Thomas [1967] 1991 Die unsichtbare Religion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Matter, Christine 2006 „New World Horizon“. Religion, Moderne und amerikanische Individualität. Bielefeld: transcript. Matthes, Joachim 1992 Auf der Suche nach dem „Religiösen“. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung. In: Sociologica Internationalis 2, 129−142. Matthes, Joachim 1993 Was ist anders an anderen Religionen? Anmerkungen zur zentristischen Organisation des religionssoziologischen Denkens. In: Jörg Bergmann, Alois Hahn und Thomas Luckmann (Hg.), Religion und Kultur, 16−30. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33.) Opladen: Westdeutscher Verlag. Morris, Colin 1972 The Discovery of the Individual 1050−1200. New York: Harper & Row. Nipkow, Karl Ernst 2004 Umgang mit Differenz − Zum Bildungsverständnis des Protestantismus im Pluralismus. In: Christoph Wulf, Hildegard Macha und Eckart Liebau (Hg.), Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen, 37−53. Weinheim/Basel: Beltz. Nipperdey, Thomas 1988 Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900. München: Stiftung Historisches Kolleg. Oelkers, Jürgen, Fritz Osterwalder und Heinz Elmar Tenorth (Hg.) 2003 Das verdrängte Erbe. Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie. Weinheim/ Basel: Beltz. Pollack, Detlef 1996 Individualisierung statt Säkularisierung? Zur Diskussion eines neueren Paradigmas in der Religionssoziologie. In: Karl Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität, 57−85. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
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III. Kulturen der Kommunikation Pollack, Detlef und Gert Pickel 2000 Religiöse Individualisierung statt Säkularisierung? Eine falsche Alternative. Antwort auf die Replik von Wohlrab-Sahr und Krüggeler. In: Zeitschrift für Soziologie 3, 244−248. Riesebrodt, Martin [2000] 2001 Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München: C. H. Beck. Soeffner, Hans-Georg 1992 Luther − Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherisch-protestantischen Individualitätstypus. In: ders., Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags, 20−75. 2. Teilbd. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Soeffner, Hans-Georg 2000 Gesellschaft ohne Baldachin. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Tenbruck, Friedrich H. 1993 Die Religion im Maelstrom der Reflexion. In: Jörg Bergmann, Alois Hahn und Thomas Luckmann (Hg.), Religion und Kultur, 31−67. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33.) Opladen: Westdeutscher Verlag. Warner, R. Stephen 1993 Work in Progress toward a New Paradigm for the Sociological Study of Religion in the United States. In: American Journal of Sociology 5(98), 1044−1093. Wohlrab-Sahr, Monika und Michael Krüggeler 2000 Strukturelle Individualisierung vs. Autonome Menschen oder: Wie individualisiert ist Religion? Replik zu Pollack/Pickel: Individualisierung und religiöser Wandel in der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Soziologie 3, 240−244. Wollgast, Siegfried 2006 Religion und die deutsche Frühaufklärung. In: Jahrbuch für Pädagogik 2005: Religion − Staat − Bildung, 18−21. Wulf, Christoph, Hildegard Macha und Eckart Liebau (Hg.) 2004 Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen. Weinheim/Basel: Beltz. Ziebertz, Hans-Georg 2003 Religious Education in a Plural Western Society. Problems and Challenges. Münster: Lit. Ziebertz, Hans-Georg und Günter R. Schmidt (Hg.) 2006 Religion in der Allgemeinen Pädagogik. Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus/Herder.
Hans-Georg Soeffner, Bonn (Deutschland)
55. Politik
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55. Politik 1. Definition des Lemmas 2. Politik, Kultur, Kommunikation − systematische Einordnung
3. Politik und Diskurs 4. Literatur (in Auswahl)
1. Definition des Lemmas Der Begriff Politik leitet sich aus dem Griechischen ab. Polites bezeichnet die Bürger der Polis, also des Stadt- bzw. Gemeindestaates. Das, was die Bürger betrifft, wie also Politiker die öffentlichen Angelegenheiten regeln sollen, ist ta politika. Demgegenüber wird mit politike techne die Kunst der Führung und Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten umschrieben. In den alltagssprachlichen Bedeutungszuweisungen der Gegenwart bezieht sich Politik vor allem auf die politike techne. Im Blick ist dabei das Handeln politischer Akteure oder die Herrschaftsordnung selbst. In einem weiteren Sinne wird der Begriff Politik auch zur allgemeinen Bezeichnung von strategischem Verhalten in nicht-politischen Kontexten verwendet. In der Politikwissenschaft hat der Begriff Politik vielfältige Facetten. So bezieht sich Politik in empirischer Hinsicht auf die Bedingungen für das Zusammenleben von Menschen und in normativer Hinsicht auf das Streben nach einer guten Ordnung. Als Politik gilt dabei auch, was bestimmten Staatszwecken bzw. der Sicherung von Herrschaft dient. Davon abgeleitet werden Konnotationen wie Führung, Entscheidungsfindung, Handeln, Macht, Konflikt und Kampf (vgl. Patzelt 2001: 21). Zur Systematisierung der Bedeutungszuweisungen wird in der Politikwissenschaft auf die im Angelsächsischen mögliche terminologische Unterscheidung zurückgegriffen. Demnach lässt sich Politik in drei Gegenstandsbereiche gliedern: policy (Politikinhalte), polity (Institutionen) und politics (Prozesse). Auf der policy-Ebene werden politische Programme, einzelne Politikfelder und damit verbundene konkrete politische Problemlösungen betrachtet. Auf der polityEbene werden Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse untersucht. Dabei geraten neben formellen Prozessen wie Gesetzgebungsverfahren auch informelle Prozesse, die Alltagspraktiken politischen Verhaltens und Gestaltens, in den Blick. Auch auf dieser Ebene interessiert die Unterscheidung formal-informell. So können politische Institutionen einerseits Gesetze oder andere Regeln sein, die als Rahmenbedingung für polity und policy gelten, zum anderen strukturieren Institutionen als informelle Regeln und Normen das Handeln der Akteure und das Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern.
2. Politik, Kultur, Kommunikation − systematische Einordnung 2.1. Politik und Kommunikation Politik pur, ohne Kommunikation und Vermittlung, gibt es nicht, weil in der Politik „Reden selbst eine Art Handeln“ (Arendt 1993: 48) darstellt. Deshalb lässt sich Kommunikation als eine von vier zentralen Topoi beschreiben, mit denen Politik in ihrer Mehrdi-
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III. Kulturen der Kommunikation mensionalität (policy, polity und politics) immer in Wechselwirkungen verbunden ist. Nach dem sogenannten MINK-Schema (vgl. Patzelt 2001: 38) beziehen sich neben Kommunikation auch die Topoi Macht, Ideologie und Normen als analytische Zentralbegriffe auf Politik. Etymologisch wurzelt der Begriff der Kommunikation im lateinischen communis (,gemeinsam‘) und deutet darauf hin, dass beim Kommunizieren mehrere beteiligt sind. Umschreibungen des Begriffes wie Verständigung, Mitteilung, Interaktion zielen deshalb auf den Beziehungs- bzw. Prozesscharakter von Kommunikation (vgl. Schulz 1997: 140). Kommunikation im Kontext von Politik bezieht sich auf den Austausch von Informationen, Meinungen und Sinndeutungen. Politische Prozesse sind demnach als Kommunikationsprozesse zu begreifen, in denen politische Inhalte thematisiert, diskutiert und Entscheidungen getroffen werden. Politisches Handeln ist deshalb in einem weiteren Sinne immer auch kommunikatives Handeln. Bezugsinstitutionen, die Möglichkeiten zu kommunikativem Handeln bereitstellen, sind alle politischen und gesellschaftlichen Institutionen, von Parlamenten hin zu Akteuren des intermediären Systems. Das reicht von der kommunalen über die gesamtstaatliche Ebene bis hin zu transnationalen Organisationen. Politische Kommunikation bezieht sich also auf Aktivitäten der Verständigung zwischen unterschiedlichen Akteuren. Zwischen Bürgern und Politikern, aber auch zwischen Staaten (Diplomatie), zunehmend auch mit Beteiligung nicht-staatlicher Akteure (NGOs). Im Kontext politischer Kommunikation spielen Massenmedien eine demokratiekonstitutive Rolle. Denn Politik ist in Demokratien begründungs- und zustimmungspflichtig und damit mit kommunikativem Handeln in der Öffentlichkeit verknüpft. Die Massenmedien stellen Öffentlichkeit her und schaffen Grundlagen für die Entscheidung über politische Alternativen. Während in der „Darstellungspolitik“ die Medien weithin das Politikbild auf der Basis von Nachrichtenwerten bestimmen, spielen sie im Rahmen der „Entscheidungspolitik“ eine eher untergeordnete Rolle.
2.2. Politikvermittlung Kommunikation meint immer auch Vermittlung und Darstellung, Vermittlung zwischen Bürgern und Staat bzw. zwischen unterschiedlichen politischen Ebenen und politischen Themen. Politikvermittlung lenkt den Blick vor allem auf Formen und Instanzen von Kommunikation. Wissen über Politik wird über Institutionen wie Medien, Diskussionsveranstaltungen, aber auch über direkte Gespräche von der Politik in die Gesellschaft gebracht und umgekehrt. Die vermittelnden Institutionen sind dabei nicht neutral, sondern sie selektieren, strukturieren und transformieren politische Inhalte. Nach Czerwick sind unter Politikvermittlung „alle Kommunikationsbeziehungen zwischen dem politischen System und seinen Adressaten“ (Czerwick 1998: 253) zu verstehen. Ursprünglich wurde der Begriff Politikvermittlung aus akteurszentrierter Perspektive verwendet. Inzwischen werden politische Kommunikation und Politikvermittlung häufig gleichgesetzt mit einer ganzen Spannbreite an Bedeutungen, „vom technisch perfektionierten Kommunikationsmanagement, von der politischen ‚Dramaturgie und Inszenierungskunst‘ bis zur sachbezogenen Information und Aufklärung, vom politischen ‚Showgeschäft‘ bis zur informationsgesättigten politischen Bewußtseinsbildung“ (Sarcinelli 1987: 22). Als Politikvermittlungsinstanzen, d. h. Institutionen, die Strukturen zur Politikvermittlung bereitstellen, sind, neben den Medien, vor allem Parteien zu nennen. Auch wenn immer wieder
55. Politik der Verfall der Parteien diagnostiziert wird, macht nicht zuletzt der Blick auf Transformationsländer deutlich, dass Parteien als zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Bürgern und Staat gebraucht werden (vgl. Sarcinelli 2011: 200). Festgehalten werden muss, dass Parteien im Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen Wandlungsprozessen unterliegen und ihre Funktionslogiken neu ausrichten müssen. Auf der Akteursebene lassen sich Abgeordnete als Politikvermittler bezeichnen, die ebenfalls durch Phänomene wie Individualisierung und Pluralisierung und ein verändertes Partizipations- und Rezeptionsverhalten der Bürger kommunikativ herausgefordert werden (vgl. Knaut 2011). Denn Abgeordnete müssen feste Kommunikationsnetze zwischen unterschiedlichen Akteuren in Politik und Gesellschaft knüpfen, um ihre Politik zu vermitteln und Zustimmung bzw. Unterstützung zu bekommen. Vor allem im Zuge der Medialisierung von Kommunikation ist die Herausbildung eines neuen Akteurstyps beobachtbar: Als Politikvermittlungsexperten (vgl. Tenscher 2003) werden Akteure bezeichnet, die sich professionell mit politischer Kommunikation beschäftigen, also politische Berater, Pressesprecher und Spindoktoren. Die Besonderheit dieser speziellen Gruppe professioneller Politikvermittler ist, dass sie Kommunikation im Sinne der Auftraggeber betreiben: „Welche Faktoren eine Information zu einer Nachricht machen, wie aus einem Thema ein politisches Event wird, wie personalisiert und dramatisiert wird, wie Timing und Themen der Berichterstattung beeinflusst werden können, wie Meinungen gemacht und Stimmungen erzeugt werden können − dies ist ihr professionelles Betätigungsfeld“ (Sarcinelli 2011: 85).
2.3. Politische Kommunikationskultur Von dem Begriff der politischen Kultur wird der Begriff der politischen Kommunikationskultur abgeleitet. In den deutschsprachigen Raum gelangte der Begriff durch eine Studie zu Interaktionen von politischen Sprechern und Journalisten in Deutschland und den USA (Pfetsch 2003). Kommunikationskultur schließt zum einen an das Konzept der civic culture (Almond and Verba 1963) und zum anderen an das der politischen Kommunikationskultur (pKk) von Blumler und Gurevitch (1995) an. In Kombination beider Konzepte entwickelte Pfetsch ein empirisches Konzept von pKk, das diese auf vier Ebenen analytisch aufspannt: dem System aus Politik und Medien allgemein, der öffentlichen Meinung (input), der politischen Öffentlichkeitsarbeit (output) und dem Selbstbild der politischen Sprecher und Journalisten (Kommunikationsrollen und Normen der Interaktion) (Pfetsch 2003: 46). PKk wird damit zum Teilbereich politischer Kultur. Gleichzeitig wird betont, dass politische Entscheidungsprozesse ohne mediale Vermittlung weder theoretisch noch empirisch denkbar sind.
2.4. Politische Kommunikationsstile Der Begriff des Kommunikationsstils ist alt. So wird Stil sowohl mit Verhaltensmustern individueller und kollektiver Akteure als auch mit dem Wesen von Institutionen verknüpft, wie z. B. mit politischen Systemen, der Verfassung sowie den Politiken zugrunde liegenden Normen. Schließlich gilt politischer Stil als Gegenbegriff zur politischen Kul-
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III. Kulturen der Kommunikation tur (vgl. Sarcinelli 1986, 2011: 105). Diese Unschärfe des Begriffs wird mit der Anbindung an Kommunikation aufgehoben. Stil bezeichnet demnach weder eine Eigenschaft oder das Wesen von Akteuren und Institutionen, sondern versucht charakteristische Qualitäten kommunikativen Handelns zu erfassen. Bezogen auf politische Akteure lässt sich der Kommunikationsstil als individuelles Verhaltensrepertoire kennzeichnen und beinhaltet typische Kommunikationsfoci, d. h. Präferenzen im Hinblick auf Akteure, Institutionen und Orte, individuelle Ressourcen und Rollenzuschreibungen gegenüber anderen Akteuren. Der Kommunikationsstil ist, so betrachtet, ein Teil dessen, was beispielsweise die Qualität des Verhältnisses von Abgeordneten und Bürgern in kommunikativer Hinsicht ausmacht (vgl. Knaut 2011: 243).
3. Politik und Diskurs Grundsätzlich muss im Kontext von Politik und politischer Kultur zwischen zwei Diskursbegriffen unterschieden werden. Der eine, in der deutschen Politikwissenschaft dominierende, bezieht sich auf den Diskursbegriff, wie ihn Jürgen Habermas im Kontext deliberativer Demokratie entwickelt hat (Habermas [1960] 1990, 1992, [1981] 1995). Parallel dazu wird „Diskurs“ in Anlehnung an Foucaults Verständnis gebraucht (Foucault [1971] 1974, 1988; vgl. Artikel 12). Nach Habermas sind Diskurse sprachliche Äußerungen von Akteuren. Unter formalen Gesichtspunkten sind zwei Typen von Diskursen zu unterscheiden, der theoretische und der praktische Diskurs. Der theoretische Diskurs ist „die Form der Argumentation, in der kontroverse Wahrheitsansprüche zum Thema gemacht werden“ (Habermas [1981] 1995a: 39), der praktische Diskurs ist „die Form der Argumentation, in der Ansprüche auf die normative Richtigkeit zum Thema gemacht werden“ (Habermas 1995a: 39). Damit wird die Verbindung zu einem kommunikativen Prozess verdeutlicht, der unter bestimmten Normen abläuft. Voraussetzung für einen sogenannten idealen Diskurs ist die Möglichkeit für alle Diskursteilnehmer, auf gleiche Weise am Diskurs teilzunehmen. Diskurse sollten − im habermasschen Verständnis − macht- und hierarchiefrei sein: Jeder Diskursteilnehmer kann ohne Berücksichtigung von Rollen und Vorwissen seine Argumente einbringen. Der Einfluss des habermasschen Diskursbegriffs und des damit verbundenen Ideals von Demokratie zeigt sich auch an einer Vielzahl von Arbeiten, in denen der Ansatz der deliberativen Demokratie theoretisch reflektiert und weiterentwickelt wird, wie z. B. in der „reflexiven Demokratie“ (Schmalz-Bruns 1995) oder der „assoziativen Demokratie“ (Cohen and Rogers 1994). Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie ausgehend vom habermasschen Ideal deliberativer Verhältnisse nach Möglichkeiten der Integration von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen in eine demokratisch verfasste Öffentlichkeit suchen. Sie zielen im Besonderen auf Strukturen, die Effizienz und Effektivität demokratischer Beteiligung im Zusammenhang mit normativen Grundannahmen gewährleisten können. Bennett und Entman brechen das habermassche Ideal auf die Realität der modernen Mediengesellschaft herunter. Sie unterscheiden zwei Sphären der Öffentlichkeit, die public sphere und die policy sphere, die jeweils eigenen Regeln folgen. Politische Kommunikation über Massenmedien muss sich zudem am Ideal des nicht-vermachteten Diskurses
55. Politik orientieren. Normatives Ziel ist, dass eine möglichst große Vielfalt an Informationen bereitgestellt wird, die über unterschiedliche Formate zugänglich gemacht werden, sodass die Bürger sich ein umfassendes und differenziertes Bild über Politik machen können. Gewährleistet werden muss also eine Vielfalt an Informationen und unterschiedlicher Formate (Bennett and Entman 2001: 6). Dieser Ansatz von Bennett und Entman ist für die politische Kommunikationsforschung interessant, um Standards politischer Diskussionsprozesse formulieren und empirisch überprüfen zu können. Im Gegensatz zum habermasschen Diskursbegriff ist der foucaultsche Diskursbegriff nicht an Ideale des kommunikativen Austausches geknüpft, sondern an konkrete (Sprach-)Praktiken, die Realität konstruieren. Diskurse erscheinen so als Ordnungen von Wissen bzw. als Klassifikationssysteme, nach denen beispielsweise Texte in einer Epoche strukturiert sind. In der Archäologie des Wissens nennt Foucault Diskurse „spezifizierte Praktiken im Element des Archivs“ (Foucault [1969] 1988: 49). Im Archiv sind die Aussagen „bewahrt“, die nach spezifischen Regeln konstruiert werden und bestimmen, „was gesagt werden kann“ (Foucault 1988: 187). In der „Ordnung der Dinge“ verschiebt Foucault den Diskursbegriff, weg von einem „fotografischen Schnappschuss zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt“ (Keller 2011b: 50) hin zu der Frage nach Formations- und Ausschlussregeln. Wahrheit ist demnach etwas, was im Sprachspiel ausgehandelt wird. Im Anschluss an den foucaultschen Diskursbegriff sind eine ganze Reihe von diskursanalytischen Ansätzen entwickelt worden, die teilweise auch in der Politikwissenschaft adaptiert werden. Prominent im Zuge der Diskussion um einen Wandel von Demokratien ist die postmarxistische Diskurstheorie, wie sie von dem Forscherpaar Ernesto Laclau und Chantal Mouffe im Anschluss an Foucault, vor allem aber auch an Althusser, Lacan und Gramsci entwickelt wurde. Diskurse erzeugen nach diesem theoretischen Ansatz Sinnordnungen, die die gesellschaftliche Konfiguration in Form von materialen Objekten und Handlungspraktiken stabilisieren (vgl. Laclau und Mouffe 1995). Diese Theorie wird zu einer Theorie des Politischen (Mouffe 2007), die sich das Thema des Kampfes um Diskurshoheiten als Essenz moderner Demokratien zu eigen macht und dabei stark normativ argumentiert. Hervorzuheben ist in diesem Kontext schließlich die Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA), wie sie, in enger Koppelung an politikwissenschaftliche Fragestellungen, von Reiner Keller (2011a) entwickelt wurde. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse integriert Ansätze des symbolischen Interaktionismus, der hermeneutischen Wissenssoziologie mit dem foucaultschen Diskursbegriff. Keller entwickelt ein „Forschungsprogramm“, das sich von anderen häufig ideologie- und sprachkritisch operierenden „Diskursanalysen“ absetzt. Die konkrete methodische Umsetzung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist dabei abhängig vom jeweiligen Diskursfeld, das untersucht werden soll. Die Bedeutung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse für politikwissenschaftliche Forschung zeigt sich in ihrer Aufnahme in Lehrbücher politikwissenschaftlicher Methoden (Keller und Viehöver 2006), in Lexika der Politikwissenschaft (Keller und Viehöver 2001) und in politikwissenschaftliche Studien (z. B. Ullrich 2008; Brunner 2010). Ein allgemein an Foucault angelehnter Diskursbegriff wird zunehmend in der policyForschung verwendet, beispielsweise von Hajer (1995, 2002) und Nullmeier (1993, 2010). Gemeinsam ist diesen Studien, dass sie sich nicht auf Diskurse als Verhandeln
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III. Kulturen der Kommunikation in Entscheidungsgremien beziehen, sondern auf Diskurs als Terminus, der Wirklichkeit konstituiert. Der Begriff des Diskurses wird schließlich im Rahmen des politikwissenschaftlichen Neoinstitutionalismus fruchtbar gemacht: Der „discursive institutionalism“ erklärt institutionellen Wandel im Kontext von policy-Forschung als über Diskurse indiziert (vgl. Schmidt 2008, 2010). Schmidts Diskursbegriff changiert dabei zwischen dem foucaultschen und dem habermasschen Diskursverständnis. Diskurs wird an die Frage der Bedeutung von Ideen gebunden, gleichzeitig aber mit kommunikativen Interaktionen verknüpft, die erfolgreich oder nicht erfolgreich sein können. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass der Politikbegriff eng an Kommunikation gekoppelt ist. Politisches Handeln ist zugleich auch immer kommunikatives Handeln, denn Politik ist entscheidungs- und begründungspflichtig. Wie genau die Bedeutung von Kommunikation in das Verhältnis zu Politik gesetzt wird, ist abhängig vom Beobachtungsfokus auf Politik. Umfassend begreift der Ansatz der politischen Kommunikationskultur Kommunikation als Bindeglied zwischen politischem und Mediensystem. Der Begriff der Politikvermittlung zielt stärker auf die Notwendigkeit der Veröffentlichung von Politik, der Begriff des Diskurses nach Habermas diskutiert die Frage nach Modi der Kommunikation zwischen Politik und Bürgern. Schließlich rücken im Anschluss an Foucault mit dem Diskursbegriff stärker Fragen nach Ordnungen von Macht und Wissen in politikwissenschaftliche Ansätze.
4. Literatur (in Auswahl) Arendt, Hannah 1993 Was ist Politik? Aus dem Nachlaß hg. v. Ursula Ludz. München: Piper. Almond, Gabriel A. and Sidney Verba 1963 The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton: Sage Publications. Bennett, W. Lance and Robert M. Entman 2001 Mediated Politics: An Introduction. In: W. Lance Bennett und Robert M. Entman (eds.), Mediated Politics Communication in the Future of Democracy, 1−29. Cambridge: Cambridge University Press. Blumler, Jay G. and Michael Gurevitch 1995 The Crisis of Public Communication. London/New York: Routledge. Brunner, Claudia 2011 Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung. Wiesbaden: VS. Cohen, Joshua und Joel Rogers 1994 Solidarity, Democracy, Association. In: Wolfgang Streeck (Hg.), Staat und Verbände, 136−160. (PVS Sonderheft 25.) Opladen: Westdeutscher Verlag. Czerwick, Edwin 1998 Parlamentarische Politikvermittlung − zwischen „Basisbezug“ und „Systembezug“. In: Ulrich Sarcinelli (Hg.), Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft, 253−272. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Foucault, Michel [1971] 1974 Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, Michel [1969] 1988 Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
55. Politik Habermas, Jürgen [1960] 1990 Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen 1992 Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen [1981] 1995a Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen [1981] 1995b Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hajer, Maarten A. 2002 Discourse Analysis and the Study of Policy Making. In: European Political Science 2(1), 61−65. Keller, Reiner 2011a Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS. Keller, Reiner 2011b Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Wiesbaden: VS. Keller, Reiner und Willy Viehöver 2001 Diskursanalyse. In: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hg.), Lexikon der Politikwissenschaft, 153−155. München: Beck. Keller, Reiner und Willy Viehöver 2006 Diskursanalyse. In: Joachim Behnke, Nina Baur und Nathalie Behnke (Hg.), Empirische Methoden der Politikwissenschaft. Neuere qualitative und quantitative Analyseverfahren, 103−112. Baden-Baden: Nomos. Knaut, Annette 2011 Abgeordnete als Politikvermittler. Zum Wandel von Repräsentation in modernen Demokratien. Baden-Baden: Nomos. Laclau, Ernesto und Chantal Mouffe 1995 Hegemonie und radikale Demokratie. Wien: Passagen. Mouffe, Chantal 2007 Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nullmeier, Frank 1993 Wissen und Policy-Forschung. Wissenspolitologische und rhetorisch-dialektisches Handlungsmodell. In: Adrienne Héritier (Hg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, 175−196. (PVS Sonderheft 24.) Opladen: Westdeutscher Verlag. Nullmeier, Frank 2001 Politikwissenschaft auf dem Weg zur Diskursanalyse? In: Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider und Willy Viehöver (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1, 285−311. Wiesbaden: VS. Pfetsch, Barbara 2003 Politische Kommunikationskultur. Wiesbaden: VS. Sarcinelli, Ulrich 1986 Politischer Stil − eine vergessene Kategorie? In: CIVIS 4, 27−34. Sarcinelli, Ulrich 1987 Politikvermittlung und demokratische Kommunikationskultur. In: Ulrich Sarcinelli (Hg.), Politikvermittlung. Beiträge zur politischen Kommunikationskultur, 19−45. Bonn: Bonn aktuell.
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III. Kulturen der Kommunikation Sarcinelli, Ulrich 2011 Politische Kommunikation in Deutschland. Zur Politikvermittlung im demokratischen System. 3. Aufl. Wiesbaden: VS. Schmidt, Vivien 2008 Discursive Institutionalism. The Explanatory Power of Discourse. In: Annual Review of Political Science 11, 303−326. Schmidt, Vivien A. 2010 Taking Ideas and Discourse Seriously: Explaining Change Through Discursive Institutionalism. Discursive Institutionalism as the Fourth ‚New Institutionalism‘. In: European Political Science Review 2(1), 1−25. Schulz, Winfried 1997 Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Tenscher, Jens 2003 Professionalisierung der Politikvermittlung? Politikvermittlungsexperten im Spannungsfeld von Politik und Massenmedien. Wiesbaden: VS.
Ulrich Sarcinelli, Landau (Deutschland) und Annette Knaut, Landau (Deutschland)
56. Justiz 1. Die Sprachtheorie der Juristen 2. Rechtslinguistik 3. Die Medientheorie des Rechts
4. Die Einhegung der Gewalt durch das Recht 5. Literatur (in Auswahl)
Das Grundgesetz vertraut den Richtern die rechtsprechende Gewalt an. Das deutsche Wort Gewalt hat allerdings zwei Wurzeln: vis und potestas. Anders formuliert: Gewalt kann negativ codiert sein als sich jeder Rechtfertigung entziehende Macht oder positiv als gutes Walten der Obrigkeit. Das Englische ist hier deutlicher, wenn es unterscheidet zwischen authority, force und violence. Wenn also die Juristen in unserer Sprache und damit in unserer Welt walten, dann müssen wir immer wieder die Frage stellen, ob zu Recht oder zu Unrecht. Im Gericht wird am Ende entschieden − aber vorher wird viel geschrieben und gesprochen. Damit verlagert sich die Entscheidungsmacht von der Gewalt auf die Sprache. Das Recht enthält zwar die virtuelle Möglichkeit der Gewalt, aber es entsteht aus der Schrift und der Rede. Nicht die Gewalt ist sein Kern, sondern die Kommunikation, die der Entscheidung vorausgeht. Damit kann das Verhältnis von Recht, Sprache und Gewalt genauer bestimmt werden: Die Sprache hält Recht und Gewalt auseinander. Das ist ihre Leistung für die Rechtskultur. Sofort stellt sich dann aber die weitere Frage, wie die Sprache diese Aufgabe erfüllen kann.
56. Justiz
1. Die Sprachtheorie der Juristen Das Recht legitimiert Gewalt durch die Anwendung sprachlicher Verfahren. Dies war das Programm der ersten Rezeptionswelle von Sprachphilosophie und Linguistik im Recht. Die Grundsätze der logischen Semantik sollten die Gesetzesbindung garantieren. So nimmt die juristische Methodenlehre klassischer Prägung das Bild der Auslegung wörtlich: Gesetzesbindung lässt sich nur einlösen, wenn den Begriffen des Gesetzes ein bestimmter Gehalt zu entnehmen ist. Wie soll aber dieses Entnehmen von Gehalt funktionieren? Dazu muss man die wirkliche Bedeutung an die Stelle des Textes setzen. Dies soll es ermöglichen, eine Entscheidung „im Einklang mit dem semantischen Gehalt des Gesetzes“ zu treffen (Koch 1977: 58). Man erwartet also von der Sprache, dass sie stabile Bedeutungen als Grundlage der Auslegung liefert. Rechtsanwendung erscheint dann als Regelbefolgung: Die Wendungen im Normtext führen zu Wortgebrauchsregeln, die korrektes Sprechen ermöglichen und die Grenzen des Gesetzes definieren sollen (Klatt 2004: 72). Die Wortlautgrenze wird dabei gleichgesetzt mit der Konkretisierungsleistung der grammatischen Auslegung. Diese liefert uns den Sprachgebrauch des Gesetzes als seine Semantik. Die Frage ist nur wie. Darauf gibt die herkömmliche Methodik eine klare Antwort: Entweder durch Besinnen auf den eigenen Sprachgebrauch oder durch Nachschlagen im Wörterbuch (Alexy 1996: 290). Wenn man zur Erprobung der eigenen Kompetenz eine beliebige Seite eines wissenschaftlichen Wörterbuchs aufschlägt, merkt man indes sehr schnell, dass man viele Stichwörter überhaupt nicht kennt. Das eigene Unwissen kann wohl kaum die Grenze sinnvollen Sprechens sein. Daher muss man sich mit anderen Sprechern koordinieren, auf den Zusammenhang achten und den Zweck der Kommunikation berücksichtigen, wenn man einen Text verstehen will. Dann wäre man aber schon bei allen sprachbezogenen Regeln der Auslegung und hätte die grammatische Auslegung als Grenze hinter sich gelassen. Also führt uns die Besinnung auf die eigene Kompetenz über die grammatische Auslegung hinaus, aber nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch hin. Wie steht es nun mit dem Wörterbuch? Die Autoren des Wörterbuchs haben genau das unternommen, was sich die Juristen bei der Frage nach der Wortlautgrenze verboten haben. Sie haben Gebrauchsbeispiele gesammelt, diese nach Zweck und Geschichte systematisiert sowie in Zusammenhänge eingeordnet. Doch damit ist noch keine Regel geschaffen, die man im Recht normativ wenden kann. Wenn man schon an Wörterbücher glauben will, sollte man aber auch an die Definition des Wörterbuchs im Wörterbuch glauben. Die Erklärung im Duden lautet: „Nachschlagewerk, in dem die Wörter einer Sprache nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt, angeordnet und erklärt sind“ (Duden 1999). Ein Wörterbuch ist also nach bestimmten Gesichtspunkten gestaltet. Es ist keine Schublade, worin schon vorher feststehende Informationen einfach eingeräumt werden (Lobenstein-Reichmann 2007: 286 ff.). Lexikographie ist eben nicht nur „die vermeintlich objektive Präsentation von sprachlichen Fakten, nicht nur interesseloses Zusammenstellen von Daten, sondern auch interessenverhaftetes Schreiben von Texten, damit geistige Verarbeitung von Daten zu neuen Informationen und damit Selektion; dies führt zu einem gezielten Angebot potentieller Information“ (Wiegand 1998: 60). Gerade wenn man an das Wörterbuch glaubt, muss man auch daran glauben, dass es nicht normativ sein will. Das Argumentations-
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III. Kulturen der Kommunikation problem der Juristen lässt sich nicht via Lexikographie outsourcen. Wer eine Grenze behaupten will, muss sie begründen.
2. Rechtslinguistik Die Sprachtheorien der Juristen konnten in der Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft auf Dauer nicht unbemerkt bleiben. Gegenstand der Kritik war der naive Regelplatonismus juristischer Sprachkonzeption (Busse 1988: 23 ff.). Die Vorstellung, dass Juristen Regeln erkennen und sie danach anwenden, ist zu einfach. Die Sprache ist kein neutrales Instrument. In der Dogmatik und im praktischen Verfahren vollziehen sich semantische Kämpfe (Felder 2003: 179 ff.). Die Sprache trennt Recht und Gewalt dadurch, dass man Anforderungen an die Sprachhandlungen des Gerichts stellt. Der Richter führt keinen Monolog, sicher angeleitet durch die Regel, sondern er reagiert auf Texte. Das beginnt mit Klageschrift und Klageerwiderung und führt über viele Schriftsätze zu Gesetz, Kommentar und Vorentscheidungen. Er setzt nicht die wirkliche Bedeutung an die Stelle des Gesetzestextes, sondern verknüpft den Text des Gesetzes mit vielen anderen Texten. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks erschließt sich nur durch die Heranziehung anderer Texte. Die Eindeutigkeit des Sinns verschwindet in einer Flut von Schriftsätzen. Es geht also nicht um die Relation von Text zu Sinn, sondern um die Relation des Textes zu vielen anderen Texten. Gerade in der Jurisprudenz sind Begriffe mit ganzen Wissenskomplexen aufgeladen, die ihre Bedeutung nur in einem Netz von weiteren Vorschriften und Vorentscheidungen entfalten (Busse 2000: 808 f.). Man kann die Situation eines Juristen, der nach der Bedeutung eines Rechtsbegriffes fragt, mit der eines Sprachwissenschaftlers vergleichen, der ein Wörterbuch erstellt. Beide sammeln gelungene Gebrauchsbeispiele. Der Jurist macht dies mithilfe der Auslegungsregeln. Beispiele, die ihm ohne Nachdenken einfallen, ordnet er der grammatischen Auslegung zu. Um weitere zu finden, hat er als Suchstrategien die Systematik, Entstehungsgeschichte, Vorläufernormen und den Zweck des Gesetzes. Über die Kommentare findet er Vorentscheidungen und wissenschaftliche Stellungnahmen, die diese Suchstrategien schon angewendet haben. Der Sprachwissenschaftler dagegen entwickelt einen Thesaurus je nach dem Zweck seines Wörterbuchs, um die zugrunde gelegten Korpora auszuwerten. Obwohl auf den ersten Blick verschieden, machen doch beide das gleiche: Sie verknüpfen gelungene Gebrauchsbeispiele. So lässt sich das hehre Ideal der Gesetzesbindung nüchtern als Intertextualitätsproblem reformulieren. Jede Entscheidung hat sich mit Vorentscheidungen auseinanderzusetzen. Präjudizien stellen sich mithin dar als Exempel für den richtigen fachsprachlichen Gebrauch der einschlägigen Begriffe. Sie verweisen auf die semantische Gleichbehandlung und damit die Richtigkeit eines Rechtsbegriffs. „Diese Bestimmung der Bedeutung durch die Bezugnahme auf erhebliche Sprachverwender ist auch genau das Verfahren, das gute Wörterbücher anwenden: Sie erläutern einen Begriff durch die Heranziehung beispielhafter Verwendungen“ (Morlok 2008: 72−73). Juristen arbeiten also in der Sprache. Aber diese gehört ihnen nicht allein. Deswegen muss man Anforderungen an ihre Spracharbeit stellen. Dies geht über die bloße Regelanwendung hinaus. Man kommt, wenn man sich auf die Sprache des Rechts einlässt, vom Text zur Intertextualität.
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3. Die Medientheorie des Rechts Thomas Vesting hat aufgezeigt, dass es einen intrinsischen Zusammenhang zwischen Medien und Recht gibt. Ein Medium wie Schrift ist nicht einfach ein Kanal, in dem rechtliches Wissen kommuniziert wird, sondern hat vielmehr selbst rechtsbildende Konsequenzen. Medien formatieren den Raum, in dem sich praktisches (Regel-)Wissen und damit auch Recht ausbilden (Vesting 2011). Ansonsten ist die Erprobung medientheoretischer Methoden an dem Problem des Rechts erst in Ansätzen realisiert. Praktisch wird Interdisziplinarität erst dann, wenn der methodische Kern aus seiner Ursprungswissenschaft in ein fremdes Gebiet übertragen wird. Als methodische Instrumente der Medienwissenschaft kommen dabei die Inhaltsanalyse, die rhetorische Analyse und die linguistische Korpusanalyse in Betracht (Bonfadelli 2002). Vor allem Inhaltsanalysen haben dabei geholfen, die Rechtstheorie besser an das heranzuführen, was im Recht tatsächlich geschieht (Kudlich und Christensen 2009). Auch rhetorische Analysen konnten den blinden Fleck im juristischen Selbstverständnis aufhellen (Schlieffen 2005: 405). Mit der auf Rechtsprechungskorpora bezogenen Kookkurrenzanalyse gelangen die medienwissenschaftlichen Methoden allerdings in den Kern der Rechtswissenschaft (Felder, Müller und Vogel 2012). Als Gegenstand für eine solche Analyse bietet sich in erster Linie die Kommentierungspraxis an, denn die Kommentierung ist nicht nur der quantitative Schwerpunkt der Rechtswissenschaft, sondern auch diskursive Verknappungsinstanz und damit entscheidend für die Vorhersehbarkeit des Rechts. In einem Kommentar werden zunächst die Begriffe des Gesetzestextes vorläufig umschrieben, um sie dann mit wichtigen Gebrauchsbeispielen weiter zu präzisieren. Die wichtigsten dieser Beispiele sind natürlich Urteile. Bisher konnte man diese Urteile impressionistisch zusammenstellen und die eigenen Lieblingsurteile als Leitentscheidungen stilisieren. Mittlerweile kann man den Sprachgebrauch der Gerichte auszählen. In der gelungenen elektronischen Kommentierung verbinden sich korpusbasierte Kookkurrenzanalyse mit juristischer Hermeneutik (Vogel 2012). Die Aufstellung normativer Hypothesen für die Lösung von Fällen wird damit besser überprüfbar. In der Rechtstheorie wird mithilfe von Diskussionen in Sprachphilosophie und Linguistik der sprachliche Erzeugungsprozess von Recht genauer untersucht (Müller-Mall 2012). Es soll das Dogma der Rechtsanwendung durch eine Analyse der Erzeugungssituation ersetzt werden. Damit kommt die Performanz des Rechts in den Blick, die vor allem im praktischen Verfahren analysiert werden kann. Das Verfahren ist die praktische Verwirklichung des Rechts. Seine Methode besteht nicht etwa in den wenigen sprachlichen Auslegungsregeln, sondern sie liegt im ganzen Verfahren. Gerade hier wird die Beziehung von Recht, Sprache und Gewalt praktisch. Im Verfahren zeigt sich, dass das Recht als ein knappes Gut nicht an jeden verteilt werden kann. Wenn sich zwei Parteien darum streiten, ob das Tragen eines Kopftuchs Ausdruck der Würde der Frau oder eine Verletzung ihrer Würde ist, ob eine Karikatur Ausdruck der Kunstfreiheit oder Verletzung der Religionsfreiheit ist, dann ist der Begriff des Rechts auf beiden Seiten unterschiedlich gerahmt. Einmal ist er in ein Sprachspiel eingeordnet, das soziale Provokation als Mittel künstlerischer Selbstverwirklichung unter gewissen Vorgaben zulassen kann; zum anderen steht er im Bann religiöser Überzeugungen, die das Recht als ein Mittel zum Verwirklichen des Seelenheils verstehen. Die in diesen Kontexten erkennbaren Rahmungen sind dabei keine beiläufigen Elemente, son-
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III. Kulturen der Kommunikation dern zentrale. Der Konflikt entsteht dadurch, dass ein Ereignis auf gegensätzliche Art gerahmt wird. Bisher galt das Recht als der äußerste und stabilste Rahmen. Er sorgte dafür, dass niemand aus der Fassung geraten musste. Heute zeigt sich dagegen, dass das Recht selbst im Text der Kultur gerahmt ist, und zwar jeweils unterschiedlich (Wohlrapp 2008: 237 ff.). Im älteren Denken war jeder Rechtsstreit ein Kampf mit vorgegebenen Regeln. Das Recht war der Rahmen aller Rahmen, das Medium aller Medien, weil es den Geist des Vergleichs von unterschiedlichen Parteien in seinem Raum definierte. Garantiert wurde dies durch die metaphysisch aufgeladene Figur des Gesetzbuchs als einer geschlossenen Sinntotalität. Die theoretische Plausibilität dieser Fiktion wird nunmehr aufgelöst, insoweit das Medium Buch seine eigenen Grenzen im Computer zu ahnen beginnt. Zwar ist noch nicht abzusehen, welche Auswirkungen dieses Medium auf das Recht haben könnte. Bereits deutlich ist aber, dass der Untergang des alteuropäischen Rechtsdenkens von diesem Medium beschleunigt wird. Die Grenzen des Buchs werden sichtbar, weil die Vielzahl seiner Lesarten draußen im Hypertext registriert wird. Früher konnte der Leser noch annehmen, seine Verknüpfung von Text und Kontext zur Bedeutung sei die einzig mögliche. Jetzt aber werden diese Verknüpfungen der Einsamkeit des Lesers entzogen und im Hypertext vervielfältigt (Christensen und Lerch 2005: 101 ff.). Mit diesem Wandel der technischen Infrastruktur wird deutlich, was bisher hinter der Fiktion des Gesetzbuchs als geschlossener Sinntotalität verborgen war: der Zusammenstoß unvereinbarer Rationalitäten im Recht. Die Veränderung in der medialen Struktur löst im alteuropäischen Rechtsdenken insoweit eine Krise aus, als sie ein bislang gut verstecktes Problem plötzlich sichtbar macht. Sie macht deutlich, dass die im Recht kollidierenden Handlungsrahmen nicht einfach vergleichbar sind. Im Rechtssystem genügt es nicht zu sagen: Eigentlich haben beide Seiten recht (Seibert 1996: 106). Man kann nicht beiden recht geben, sondern muss über den Anwendungsvorrang entscheiden. Die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Entwicklungen, die man heute unter dem Stichwort Rahmen zusammenfasst, treffen sich mit denen des neueren Medienbegriffs. In der Medienwissenschaft wird dieser Begriff zunehmend vom technischen Apparat abgelöst und als Geist des Vergleichs verstanden (Groys 2009: 266 ff.). In der Nachfolge Derridas bestimmt die heutige Medientheorie ein Medium im Begriff des A als B. So bietet etwa das Medium Kunst die Chance, Skulptur mit Malerei zu vergleichen. Ein Medium ist danach ein Raum des Vergleichs. Hier trifft es sich mit der in der Philosophie entfalteten Diskussion um den Rahmen. An die Art, wie das System mittels einer Leitunterscheidung seinen Rahmen beschreibt, ist anzuknüpfen, um seine diskursive Logik zu verstehen und zu verändern. Ist das Recht der umfassende Rahmen all jener Handlungsrahmen, die in den Grundrechten gewährleistet sind, so wäre es das Medium der Medien, das alle nur irgend vergleichbaren Gegenstände vergleichbar macht. Oder ist das Recht weniger als das? Ist es vielleicht nur ein Medium für das Hervorbringen von Medien? Noch anders formuliert: Ist es als Metarahmen oder als Rahmenproduktion zu sehen? Ist es der Geist des Vergleichs oder produziert es, sofern es gelingt, erst diesen Geist?
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4. Die Einhegung der Gewalt durch das Recht Das Gerichtsverfahren will einen praktischen Konflikt dadurch einhegen, dass es ihn sprachlich inszeniert und ausarbeitet. Dies ist seine theatralische Seite, welche die vorher verletzte symbolische Ordnung wiederherstellen soll (Vismann 2011: 17 ff.). Blickt man nur auf diese Seite, besteht die Gefahr, dass das Verfahren ein unabhängig von ihm zustande gekommenes Ergebnis nur nachträglich darstellt. Wenn das Verfahren mehr sein will als Didaktik, bedarf es der Ergänzung durch eine agonale Seite, deren Aufgabe darin liegt, einen praktischen Konflikt zu transformieren in einen Konflikt um das Gesetz und die Gerechtigkeit. Betrachtet man nun allein diese andere Seite, vollzieht das Verfahren nur eine Fortsetzung oder sogar Steigerung des Ausgangskonflikts. In einem gelingenden Verfahren ergänzen sich die beiden Seiten so, dass der Konflikt durch seine Einbindung in die Logik der Darstellung als Grundlage dient, um einen den beiden Streitparteien gemeinsamen Rahmen herzustellen. Die agonale Seite dient damit der Lösung. Diese dienende Rolle wird gefährdet, wenn Gerichtsverfahren durch mediale Aufmerksamkeit oder entsprechende Tribunalisierung zur Frontlinie übergreifender Zusammenhänge gemacht werden. Die Einheit von Raum und Zeit, die auf der Bühne dazu dient, das Ende hervorzubringen, wird damit aufgesprengt und zerstört (Simon 2011: 30). Es geht dann nicht mehr um die transitorische Leistung des Verfahrens für den Konflikt, sondern um ein Ergebnis, das nicht mehr von der Argumentation und der Dynamik des Verfahrens beeinflusst wird. Ohne Inszenierung kann aber der Konflikt keinen neuen Rahmen produzieren. Die Sprache trennt Recht und Gewalt dadurch, dass sie die Sprache des Gesetzes für die Verfahrensbeteiligten öffnet. Die Verwirklichung des Rechts ist aber keine bloße Lektüre, sondern ein praktisches Verfahren, dessen überraschende Wendungen sich der Prognose des Lesers der Gesetzbücher regelmäßig entziehen. Das Verfahren als Performanz des Rechts ist weder eine Ausführung des Gesetzes noch eine Befolgung von Präjudizien, sondern eine Inszenierung, in der sich immer wieder Neues ereignet (Christensen und Lerch 2006: 46 ff.). Seine Ausgangspunkte sind die Fallerzählung und die geltenden Normtexte. Das Verfahren organisiert einen Streit sowohl um die Fallerzählung als auch um die Lesarten des Normtextes. Die Normtexte gelten zwar, das ist unstreitig. Aber ihre Bedeutung für den Fall ist noch offen. Darum wird gestritten. Die Logik des Verfahrens fordert, den Text von Recht durch den Widerstreit der Lesarten in Arbeit zu nehmen. Praktisch lässt sich der Gang dieser Arbeit am Text von Recht als semantischer Aushandlungsprozess entlang der Grundzüge der Argumentationssituation beschreiben. Die von den Parteien vorgetragenen Lesarten des Normtextes schließen sich gegenseitig aus. Dies macht den Streit aus. Die Stellungnahme einer Partei ist jeweils Gegenposition zur Stellungnahme der anderen. Keine der beiden Lesarten ist damit evident. Denn ihre fraglose Verwendung wird von der gegnerischen Lesart gestört. Beide machen aber mit ihren widerstreitenden Lesarten deutlich, dass es um denselben Gesetzestext geht (Christensen und Lerch 2005: 131). Wenn das Gericht entscheiden will, muss es den argumentativen Streit der Parteien nutzen. Am Ende des Verfahrens kann dann eine Lesart evident sein. Aber diese Evidenz ist keine, die an das Bewusstsein der beteiligten Personen gebunden ist, sondern eine Evidenz, die im Verfahren erst erzeugt wurde. Wenn alle gegnerischen Argumente integriert oder widerlegt sind, wird die verbleibende Lesart evident (Wohlrapp 2008: 347 ff.). Das Urteil vollzieht weder die Erkenntnis einer objektiv vorgegebenen Bedeutung, noch
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III. Kulturen der Kommunikation trifft es eine Entscheidung aus dem normativen Nichts. Ob es seine Aufgabe angemessen löst, ist nicht an einer objektiven Erkenntnisinstanz zu messen, sondern daran, ob es ihm gelingt, aus den vorgetragenen Argumenten im Verfahren und den vorliegenden Präjudizien eine Entscheidung zu treffen, die sich mit diesen beiden Vorgaben verträgt. Wenn Sprache im Rechtsstreit in den diametralen Gegensatz des Parteienstreits fällt, ist die Aufgabe des Rechts nicht die Schließung der Sprache des Gesetzes, sondern dessen Öffnung. Die Beteiligten haben in diesem Verfahren subjektive Rechte wie effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör, die ein faires Verfahren und die Waffengleichheit der Prozessparteien gewährleisten sollen. Dies gibt den Beteiligten die Möglichkeit, den Fortgang des Verfahrens zu beeinflussen. Eine Entscheidung, solange sie eine Rechtsentscheidung und keine bloße Gewalt sein will, muss dem Betroffenen Einfluss auf die Sprache geben, die in der Entscheidung an die Stelle seiner eigenen tritt. Wenn dagegen diese Sprache schon vorher feststeht, haben wir kein Recht vor uns, sondern nur sprachlich verbrämte Gewaltausübung. Was die beste Lesart des Gesetzes ist, kann nicht einfach festgesetzt werden − vielmehr muss man darüber streiten. Auch im Streit gilt es aber, eine kontrollierbare Objektivität zu wahren, besonders, wenn ein unabhängiger Dritter die für die jeweiligen Lesarten vorgetragenen Argumente beurteilt. Nur im Fegefeuer der Argumentation kann überprüft werden, ob eine Lesart des Gesetzes haltbar ist. Mit diesem Ansatz wird das semantische Modell einer isolierten Regelerkenntnis pragmatisch geöffnet. An die Stelle der beiden Pole des richterlichen Bewusstseins und des Normtextes ist die multipolare Beziehung des Verfahrens zu setzen. Die richterliche Gewalt verschwindet damit nicht in der Erkenntnis, sie wird aber durch das rechtliche Gehör, die Grundsätze des fairen Verfahrens und die Begründungspflichten mediatisiert und geteilt. Darin liegt die Chance des Urteils auf demokratische Legitimität.
5. Literatur (in Auswahl) Alexy, Robert 1996 Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bonfadelli, Heinz 2002 Medieninhaltsforschung: Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Konstanz: UVK. Busse, Dietrich 1988 Semantische Regeln und Rechtsnormen − ein Grundproblem von Gesetzesbindung und Auslegungsmethodik in linguistischer Sicht. In: Rudolf Mellinghoff und Hans-Heinrich Trute (Hg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, internationales Verwaltungsrecht, 23−38. Heidelberg: von Decker & Müller. Busse, Dietrich 2000 Textlinguistik und Rechtswissenschaft. In: Klaus Brinker et al. (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 803−811. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16.1.) Berlin: Mouton de Gruyter. Christensen, Ralph und Kent D. Lerch 2005 Performanz. Die Kunst, Recht geschehen zu lassen. In: Kent D. Lerch (Hg.), Recht vermitteln. Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht, 55−132. Berlin/New York: de Gruyter.
56. Justiz Christensen, Ralph und Kent D. Lerch 2006 Transkriptionen. Das Umschreiben des Rechts im Verfahren. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 15, 41−60. Duden 1999 Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden, hg. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. 3. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut. Felder, Ekkehard 2003 Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit. Berlin: Walter de Gruyter. Felder, Ekkehard, Marcus Müller und Friedemann Vogel (Hg.) 2012 Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen. Berlin: de Gruyter. Groys, Boris 2009 Einführung in die Anti-Philosophie. München: Hanser. Klatt, Matthias 2004 Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation. Baden-Baden: Nomos. Koch, Hans-Joachim 1977 Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht. In: Hans-Joachim Koch (Hg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungsund Gesetzesbindung, 13−150. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kudlich, Hans und Ralph Christensen 2009 Die Methodik des BGH in Strafsachen. Eine medienwissenschaftliche Inhaltsanalyse von Entscheidungsgründen in Strafsachen samt rechtshistorischen Ausschlussfragen. Köln: Heymanns. Lobenstein-Reichmann, Anja 2007 Medium Wörterbuch. In: Friedrich Müller (Hg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, 279−313. Berlin: Duncker & Humblot. Morlok, Martin 2008 Neue Erkenntnisse und Entwicklungen aus sprach- und rechtswissenschaftlicher Sicht. In: Bernhard Ehrenzeller, Peter Gomez, Markus Kotzur, Daniel Thürer und Klaus A. Vallender (Hg.), Präjudiz und Sprache. Precedence and Its Language, 27−74. Zürich/ St. Gallen: Dike. Müller-Mall, Sabine 2012 Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung. Weilerswist: Velbrück. Schlieffen, Katharina Gräfin von 2005 Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens. Resultate empirischer Rhetorikforschung. In: Kent D. Lerch (Hg.), Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Seibert, Thomas-Michael 1996 Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts. Berlin: Duncker & Humblot. Simon, Dieter 2011 Die Leser der Cornelia Vismann. Ein Bericht. Online unter: http://www.mopsblock.de/ images/stories/vismann3.pdf (letzter Aufruf 4. 7. 2015). Vesting, Thomas 2011 Die Medien des Rechts: Sprache. Weilerswist: Velbrück. Vismann, Cornelia 2011 Die Medien der Rechtsprechung. Frankfurt a. M.: Fischer. Vogel, Friedemann 2012 Das Recht im Text. Rechtssprachlicher Usus in korpuslinguistischer Perspektive. In: Ekkehard Felder, Marcus Müller und Friedemann Vogel (Hg.), Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen, 314−353. Berlin: de Gruyter.
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III. Kulturen der Kommunikation Wiegand, Herbert Ernst 1998 Wörterbuchforschung. Untersuchungen zur Wörterbuchbenutzung, zur Theorie, Geschichte, Kritik und Automatisierung der Lexikographie. Berlin/New York: de Gruyter. Wohlrapp, Harald 2008 Der Begriff des Arguments. Über die Beziehungen zwischen Wissen, Forschen, Glauben, Subjektivität und Vernunft. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Kent D. Lerch, Frankfurt a. M. (Deutschland) und Ralph Christensen, Ilvesheim (Deutschland)
57. Wirtschaft 1. Die Ökonomie in linguistischer Perspektive 2. Sprache und Kommunikation in ökonomischer Perspektive 3. Literatur (in Auswahl)
1. Die Ökonomie in linguistischer Perspektive Zur Frühgeschichte einer linguistischen Beschäftigung mit Themen und Problemen der Wirtschaft gehörte eine professionelle Fachlexikographie, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreiche ein- und mehrsprachige Wörterbücher für die Berufsausbildung und berufliche Praxis von Kaufleuten hervorbrachte (Winkelmann 2011: 132, Anm. 17). Vom späteren 19. Jahrhundert an begründete die Sprachwissenschaft ihre wirtschaftsbezogenen Gegenstände nicht nur entlang praktisch und didaktisch relevanter Alltagsphänomene (u. a. Fachwortschatz; Stil der Handelskorrespondenz; Verständlichkeit; sprachliche Gestaltung von Werbung), sondern erkennbar auch in Übereinstimmung mit der allgemeinen, freilich ihrerseits historisch kontextualisierten theoretischen Entwicklung der eigenen Disziplin (vgl. dazu und zur folgenden Darstellung der älteren Fachgeschichte Hundt 1995 und Winkelmann 2011, mit zahlreichen Quellenangaben). Im Kontext von Einzelphilologien positionierte Studien zur Etymologie, Wort- und Begriffsgeschichte im Sachzusammenhang von Verkehr, Handel, Geld, Maßen, Gewichten etc., auch in Verbindung mit einer umfassenderen Literatur-, Rechts- und allgemeinen Kulturgeschichte, mündeten um 1920 in die von Ewald Messing in Rotterdam begründete Wirtschaftslinguistik. Mit dem Ziel einer umfassenderen Bildung des Kaufmannes − eingeschlossen eine „linguistische Vertiefung des Fremdsprachenunterrichts“ (Winkelmann 2011: 135) − konnte diese sich zunächst an den sich etablierenden Handelshochschulen im deutschsprachigen Raum mit Schwerpunkten in Leipzig, Berlin, München, Wien und St. Gallen verankern. Wie weite Teile der Sprachwissenschaft in Deutschland, darunter später auch Hugo Siebenschein als Vertreter einer sowohl historisch als auch sprachkritisch orientierten Wirtschaftsgermanistik (Winkelmann 2011: 143−145), folgte auch Messing dem völkerpsychologischen Trend, der in den 1920er Jahren seinen zeitli-
57. Wirtschaft chen Höhepunkt erreichte (Knobloch 2005: 64). Entgegen einer Aufspaltung in sich radikalisierende Strömungen der „Feindforschung“ und der Konstitution von „eigenvölkischen Sprach- und Schicksalsmythen“ (Knobloch 2005: 64) hielt Messing (1932) − dem programmatisch „internationalen“ Charakter der Wirtschaftslinguistik entsprechend − an einer „Verbindung von national-partikularen und menschheitlich-universalen Motiven“ (Knobloch 2005: 65) fest, wie das folgende Zitat aus der Einleitung zu einer Sammlung unselbständiger Schriften belegt: Die Wirtschaftslinguistik dient der Menschheit, indem sie die sprechend-denkenden Menschen aufzeigt als Glieder einer zunächst national-, dann aber auch international geknüpften Kette, und sie erforscht und lehrt die Methoden, mittels derer wir die verschiedenen Völker aus ihrer Nationalkultur heraus verstehen und würdigen lernen. Die Wirtschaftslinguistik dient der Völkerverständigung und darüber hinaus der Selbsterkenntnis. (Messing 1932: 6, Hervorh. i. Orig., zit. n. Winkelmann 2011: 138)
Vor diesem Hintergrund wird Messing heute von der interkulturellen Wirtschaftskommunikation als ein Vorläufer in Anspruch genommen (Winkelmann 2011: 138, Anm. 32, unter Bezug auf Bolten 2003: 175). In Auseinandersetzung mit der ersten, vorstrukturalistisch-philologischen Phase der Wirtschaftslinguistik (Winkelmann 2011: 131, 140) entstand um 1930 im Kontext des Prager Linguistenkreises eine zweite, synchronisch orientierte Forschungsrichtung (vertreten vor allem durch Josef Čada, Leontij V. Kopeckij, Tomáš Krejčí und Zdenek Vančura), die Wirtschaftssprache theoretisch begriff als „eine funktionale Varietät (functional dialect), die einen Ausschnitt aus dem Gesamtsystem der jeweiligen Einzelsprache darstellt und wirtschaftlichen Zwecken dient“ (Winkelmann 2011: 142). Einer weiteren, internen Untergliederung diente das Konzept der funktionalen Stile (Winkelmann 2011: 143), auf dessen Basis sprachlich-strukturelle Erscheinungsformen zu kommunikativen Kontexten ihrer Verwendung (Handelskorrespondenz, Wirtschaftspresse, Wirtschaftswissenschaften etc.) in Beziehung gesetzt wurden. Nach 1945 wurden Fachsprachen der Wirtschaft sporadisch zum Gegenstand der Untersuchung (Forschungsüberblick: Hundt 1995). Auf lexikalischem Gebiet ist zu konstatieren, dass man es gar nicht mit der einen Fachsprache der Wirtschaft zu tun hat, sondern mit einer komplexen Wissensdomäne, in der sich verschiedene Fachgebiete und ihre Wortschätze verbinden und überschneiden; wissenschaftlich fundierte terminologische Bemühungen zielen darauf, Systeme der Benennung und Begriffsbildung nach Kriterien der Grammatik, der Logik und der Fachsystematiken zu gestalten. Auf dem Gebiet der Syntax richtet sich das Interesse etwa auf allgemein fachsprachliche „Ausdrucksmuster, die in beruflicher Kommunikation, besonders in schriftlicher Kommunikation, tendenziell gesucht werden, während sie in der Alltagskommunikation tendenziell gemieden werden“ (Forner 2006: 27), wie z. B. Relationsverben oder Nominalisierungen. Als Vertreter einer text(sorten)linguistisch und kognitionssemantisch erweiterten Fachkommunikationsforschung sieht Hundt selbst − anknüpfend an das Modell der Prager Wirtschaftslinguistik − die Aufgabe einer typologisierenden Beschreibung der Wirtschaftssprache darin, 1. Sprachmittel, die der Kommunikation ökonomischer Sachverhalte dienen, in ein Gesamtmodell der Sprachvarietäten einzuordnen, und 2. die Wirtschaftssprache intern nach Situationstypen und Textsorten, Wissensdomänen und Denkmodellen zu untergliedern (Hundt 1995: 49). Als ein Schnittpunkt diverser linguistischer Forschungsrich-
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III. Kulturen der Kommunikation tungen konnte sich besonders die Beschäftigung mit „Werbesprache“ nachhaltig etablieren (Janich 2010). In handlungs- bzw. interaktionstheoretischen Perspektiven wird der Sprachgebrauch in Unternehmen und Organisationen zum Thema gesprächs-, text- und medienlinguistischer Untersuchungen. Theoretisch treten − mit ganz unterschiedlichen methodologischen Implikationen − unter anderem die Dialoggrammatik (z. B. Schnöring 2007), die Funktionale Pragmatik (z. B. Brünner 2000) und die − auf verschiedenen Richtungen der Gesprächsanalyse basierende − Angewandte Diskursforschung (z. B. Brünner, Fiehler und Kindt 1999), die Kritische Diskursanalyse (z. B. Menz 2000), die Ethnographie der Unternehmenskommunikation (Müller 1997, 2006; Thörle 2005), die Ethnomethodologische Konversationsanalyse (Meier 1997), die Studies of Work (Bergmann 2006) und die Workplace Studies (Heath and Luff 2000) hervor. In den Perspektiven der kontrastiven, cross- und interkulturellen Pragmatik (Trosborg 2010; vgl. Habscheid 2011) können Untersuchungen dieser Art über die Grenzen einzelner Sprachen und/oder Kulturen hinaus erweitert werden (Trosborg 2010: 3): Während ein auf pragmalinguistische Gegenstände fokussierter Vergleich (Contrastive Pragmatics) heute als zu eng gilt, können kulturelle Kontexte entweder durch die Außenperspektive der Wissenschaft einbezogen werden (Cross-cultural Pragmatics) oder durch die Analyse von Interaktionen, an denen Kommunizierende aus verschiedenen Kulturen mit ihren dynamischen Wissensvoraussetzungen beteiligt sind (Intercultural Pragmatics). Neben methodologischen Problemen gilt das Interesse besonders der Anwendung: Schwerpunkte bilden pragmatische Aspekte interkultureller Kompetenz und des Linguafranca-Gebrauchs, des Sprachenlernens, des Zweit- und Fremdsprachenunterrichts, ebenso wie der Versuch, Probleme der Unternehmenskommunikation (u. a. Corporate Communication, Corporate Social Responsibility) im Spannungsfeld von Managementperspektiven, Ideologiekritik und Alltagspraxis angemessen zu erfassen. Vertretern einer (anwendungsrelevanten) modernen Wirtschaftslinguistik (Winkelmann 2011) erscheint es häufig selbstverständlich, dass diese Disziplin ein „interdisziplinäres Fach“ darstellt, „in dem die Wirtschaftswissenschaft den Rahmen beschreibt, innerhalb dessen wirtschaftliches Handeln sich vollzieht, und die Linguistik die sprachlichen Mittel beschreibt, die zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele eingesetzt werden“ (Winkelmann 2011: 153−154). Eine ähnliche Relationierung − auf der Grundlage einer ihrerseits handlungstheoretisch fundierten Linguistik − führt beispielsweise zu dem Ziel, eine ökonomische Theorie der Unternehmung durch eine sprachphilosophisch fundierte Typologie kommunikativer Handlungsspiele zu erweitern und zu klären, „wie die allgemeinen Zwecke ökonomischen Handelns im kommunikativen Handeln realisiert werden bzw. welche Zwecke kommunikativen Handelns den ökonomischen Interessen und Aufgaben gerecht werden“ (Schnöring 2007: 114; vgl. kritisch Habscheid 2009). Der Begriff Unternehmenskultur soll mithin von vornherein nur das umfassen, was den normativen ökonomischen Kalkülen entspricht. Dagegen kann in Übereinstimmung mit sozialkonstruktivistischen bzw. postmodernen Ansätzen der Organisationstheorie ein umfassendes, empirisch fundiertes Verständnis der sprachlich-kulturellen Perspektivenvielfalt in (sozialen) Organisationen als Voraussetzung für ein informiertes unternehmerisches Gestaltungshandeln begriffen werden (vgl. z. B. Habscheid 2003).
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2. Sprache und Kommunikation in ökonomischer Perspektive 2.1. Tauschwert von Sprachen, Sprache im Fokus von Rationalisierung Fragen nach dem Wert von Sprache und Sprachen werden von einer „modernen“ Sprachwissenschaft, die isolierte Zeichensysteme in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, programmatisch ausgeklammert (Coulmas 1992: 79−81). Dies erscheint insofern folgerichtig, als einen Wert haben ein zweistelliges Prädikat ist, das „keine inhärente Eigenschaft von Dingen“ aussagt, „sondern eine Relation zwischen Dingen und Menschen, in deren Leben diese Dinge eine Rolle spielen“ (Coulmas 1992: 118). Stellt man Sprache wiederum in einen anthropologischen Kontext, kann die Frage nach ihrem Wert insofern obsolet erscheinen, als sprachliche Grundfunktionen − die praxeologische, gnoseologische und kommunitäre (Ehlich 1998) − durch die elementare Ausstattung der Spezies ganz allgemein zur Geltung kommen. Allerdings sind sprachliche (wie auch andere) Begabungen individuell in unterschiedlichem Maß ausgeprägt und in Relation zu Sprachbevölkerungen kulturell divers (Coulmas 1992: 84); diese Verschiedenartigkeit verbindet sich in der gesellschaftlichen Praxis mit evaluativer Ungleichheit, wobei ökonomische Bewertungsdimensionen mit kulturellen, sozialen, ethischen und politischen verwoben sind (Coulmas 1992: 81−82, 121). Sprachliche Fähigkeiten stellen in sprachsoziologischer Perspektive für den Einzelnen ein „symbolisches Kapital“ dar (Bourdieu 1977: bes. 651−653; vgl. Artikel 13), dessen Erwerb − zumindest in zeitlicher Hinsicht − „Kosten“ verursacht (Coulmas 1992: 109); „Sprache“ kann in Form von Arbeitskraft und den auf ihr beruhenden Produkten (Coulmas 1992: 110) je nach Wechselkurs als „Ware“ (Coulmas 1992: 108) gegen Geld gehandelt werden, und sie korreliert mit dem sozialen Status von Sprecher(gruppe)n in gesellschaftlichen Diskursen und interpersonalen Interaktionen. Die Bestimmung des ökonomischen Tausch- oder Marktwertes einer Sprache ist bereits für sich genommen anspruchsvoll (Coulmas 1992: 81−95): Dieser Wert hängt nämlich nicht nur vom potenziellen Gebrauchswert ab (genauer, dem minimalen Nutzen, für den diejenigen, die sie gebrauchen, Kosten in Kauf zu nehmen bereit sind), sondern auch von den jeweiligen ökonomischen Rahmenbedingungen ihres Gebrauchs, unter anderem dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf gesamtgesellschaftlichen bzw. partiellen Märkten (Coulmas 1992: 83, 95). Der Gebrauchswert seinerseits kann zwar mit gewisser Plausibilität zum absoluten Kommunikationsradius in Beziehung gesetzt werden, hängt aber auch ab von Faktoren wie der funktionalen Differenzierung und dem darauf bezogenen Grad des strukturellen „Ausbaus“ von Sprachen, ihrer Stellung im Gefüge mehrsprachiger Kommunikationsverhältnisse, ihrem sozio-politischen und kulturellen Status (etwa im Kontext von Religion und Literatur), der geopolitischen Lage von Sprachräumen und der Dynamik von geographischer und sozialer Mobilität (Coulmas 1992: 83−90). In funktionaler Hinsicht kommt dem Status einer Sprache als Produktionsmittel eine besondere Relevanz zu, also der Frage, ob und inwieweit einzelsprachliche (und oftmals auch mehrsprachige) Kompetenz eine Bedingung für den Zugang zu ökonomisch verwertbarem Wissen und zu den von diesem Wissen abhängigen sozialen Positionen darstellt (Coulmas 1992: 90−95). So versuchte bereits der Begründer der „Wirtschaftslinguistik“ (vgl. Abschnitt 1), Ewald Messing, auf dem Ersten Internationalen LinguistenKongress in Den Haag (10.−14. April 1928) die neue Disziplin mit der Erkenntnis zu legitimieren, dass im Kontext von Unternehmungen „Sprech- und Schreibprodukte“ der
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III. Kulturen der Kommunikation „Realisierung eines Wirtschaftszweckes“ dienen und dass „Sprech- und Schreibhandlungen“ als ökonomische Arbeitsleistungen anzusehen seien (Messing 1928, zit. n. Winkelmann 2011: 134−135). Bis heute gehört die Argumentation, „dass wirtschaftliches Handeln mit einer großen Vielfalt sprachlicher Handlungsformen einhergeht“ (Winkelmann 2011: 126) und „dass eine gut funktionierende interne Kommunikation und eine zielwirksam funktionierende externe Kommunikation wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens beitragen können“ (Winkelmann 2011: 130), zu den zentralen Topoi einer (auch) auf Verwertbarkeit hin orientierten Sprachwissenschaft. Wie bereits in der Frühphase der Wirtschaftslinguistik profitiert diese Form Angewandter Linguistik besonders auch davon, dass in Kontexten internationaler ökonomischer Zirkulation vielfach sprachliche bzw. kulturelle Grenzen zu überwinden sind, mithin die globale Ausdehnung ökonomischer Prozesse über Sprach- und Kulturräume hinweg mit einem spezifischen sprachlich-kommunikativen Arbeitsaufwand einhergeht (Heller 2010: 105). Es liegt auf der Hand, dass vor diesem Hintergrund professionelle Kommunikations- und Sprachkompetenzen − sowie auf Sprache bezogene Metakompetenzen der Bedarfsplanung, Beratung, Vermittlung etc. − an Relevanz gewinnen. Dies betrifft beispielsweise die Erfindung von Produktnamen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität, die kulturelle Sensitivität transnationaler Werbekampagnen (z. B. bei der Verwendung evaluativer Lexik) oder die am Wissen der Adressaten orientierte Gestaltung produktbegleitender Instruktionstexte (Winkelmann 2011: 126−131). Jenseits der Rhetorik von Sprach- und Sprachwissenschaftsvermarktung gehört zu einem empirisch fundierten Verständnis sozio-ökonomischer Sprachverhältnisse freilich auch, dass die ökonomische Sprachverwertung, die heute „die Existenzgrundlage einer ganzen Industrie“ (Coulmas 1992: 109) darstellt, nur „für eine erlesene Minderheit der Sprachen der Welt“ (Coulmas 1992: 109) zum Tragen kommt und dass die betriebliche Rationalisierung sprachlich-kommunikativer Praktiken im Geist von Taylorismus und Standardisierung regelmäßig auch mit Maßnahmen zu deren partieller Unterdrückung einhergeht (Heller 2010: 107, unter Bezug auf Boutet 2008).
2.2. Hyperstilisierung von Sprache und Kultur, Management von Diversität Differenziertere Formen der Rationalisierung von Sprache und Kommunikation entwickeln sich im Kontext des „Post-Fordismus“ (Knoblauch 1996), insofern mit der Relation der Ware zum Kunden auch deren Sprachlichkeit und Kulturalität in den Fokus der Optimierung rückt (vgl. Heller 2010: 103−104, 106−110). Fluchtpunkt einer derartigen „Kommunikationspolitik“ (Bühler 1999), die dem Standardisierungskalkül zuwiderläuft, stellt das Ziel dar, Loyalität zum Unternehmen zu schaffen, indem Kundenbedürfnisse spezifischer und umfassender befriedigt werden (Cameron 2000b: 338). Vor diesem Hintergrund dient der kalkulierte Umgang mit sprachlich-kultureller Diversität (Heller 2010: 104−105, 106−110) nicht nur dazu, der jeweiligen Verständigungsfähigkeit und den (sprach-)ästhetischen Geschmackslagen von Kommunikationspartnern differenzierter Rechnung zu tragen; darüber hinaus sollen die Produkte und Dienstleistungen selbst durch kalkulierte „Hyper-Stilisierungen“ (Willems und Kautt 2003: 27) kommunikativ tradierter, positiv getönter sozialer Stereotype kulturell „lokalisiert“ werden (vgl. Heller
57. Wirtschaft 2010: 103; vgl. z. B. Hausendorf 2002 über die Inszenierung von „Italianität“; Motschenbacher 2006 über „Doing gender“ als semiotische und sprachliche Strategien der Werbekommunikation). Zur Kundenbindung soll nicht zuletzt auch eine Optimierung der interpersonalen Kommunikation beitragen, z. B. umfassender Service, individuelle Beratung, der konstruktive Umgang mit Beschwerden und Reklamationen und allgemein ein professionell reflektiertes Beziehungs- und Emotionsmanagement (Cameron 2000b: 338). Dies betrifft besonders den Sektor der Dienstleistungen, die für die Volkswirtschaften in ehemaligen Industriestaaten erheblich an Bedeutung gewonnen und die ökonomische Relevanz von Kommunikation in Arbeitsprozessen erhöht haben (Cameron 2005: 9). Der besondere Charakter von Dienstleistungsarbeit als Interaktion (vgl. Leidner 1993) bringt es mit sich, dass der Versuch eines rationalisierenden Zugriffs durch Organisationen besonders weit reicht, freilich dabei auch immer wieder an Grenzen kommt (vgl. Habscheid 2012): Kommunikationsarbeiter können in aller Regel nicht auf das gesamte Repertoire an Textsorten und Stilen, sprachlichen Mitteln und Formen zurückgreifen, das in einer Kultur für den jeweiligen funktionalen Kontext zur Verfügung steht; vielmehr wird ihr kommunikatives Handeln zusätzlich reguliert durch sprachenpolitische Maßnahmen der Organisation („corporate verbal hygiene practices“, Cameron 2000b: 341; vgl. auch Cameron 1995), die das Ergebnis organisationaler Entscheidungen sind und die durch Bürokratie, technische Systeme und Anweisungen auf der Basis von Hierarchien durchgesetzt werden. Wie Deborah Cameron (2000a, 2000b) am Beispiel englischer Call-Center gezeigt hat, können die Produktionsbedingungen für sprachliche Äußerungen in derartigen Kontexten in hohem Maß komplex sein: Was und wie der „Agent“ spricht, wird − wenn auch nie vollständig, so doch mehr oder weniger − von anderen gestaltet, wobei sich diverse professionelle Rollen (Teamleiter, Berater, Mystery Shopper etc.) ausdifferenziert haben (vgl. zu ähnlichen Entwicklungen im deutschsprachigen Raum Habscheid, Kleemann und Matuschek 2006). Normative Bezugsrahmen der sprachlichen Rationalisierung sind in diesem Zusammenhang nicht nur die grammatischen und phonologischen Eigenschaften nationaler Standard- bzw. internationaler Verkehrssprachen, entsprechend den sprachenpolitischen Zielen, die das Unternehmen im Interesse der Marktregulation verfolgt (vgl. Abschnitt 2.3). Darüber hinaus zielt die Regulation darauf, als Element der Markenpolitik den Stil der jeweiligen Korporation überzeugend in Szene zu setzen. Dazu kann es auch gehören, Stile der gesprochenen Sprache für die eigene Markenpolitik zu kommodifizieren (Cameron 2000b, unter Bezug auf Bells [1997] Konzept der Stilisierung). Was hierbei mitunter den Agenten abverlangt wird, wird besonders augenfällig, wenn Call-CenterDienstleistungen im Rahmen von Outsourcing- und Offshoring-Aktivitäten von lokalen Personen erbracht werden müssen, denen die sprachlichen Stilisierungsressourcen, die sich an den Erwartungen der Zielgruppen an anderen geographischen und sozialen Orten orientieren, denkbar fremd sind (Cameron 2005: 10−12), die jedoch möglichst authentisch (Cameron 2005: 15−18) wirken sollen. Vor diesem Hintergrund kommt einer neuartigen, identitätspolitisch geprägten Konzeptualisierung des Managements von Arbeitsprozessen Bedeutung zu: Vermittelt werden demnach weniger konkrete Handlungsanweisungen als verbindliche kollektive Leitbilder der Identifikation und Selbststeuerung (Alvesson and Willmott 2002). In linguistischer Perspektive (vgl. Ebert 1997, 2000) treten an die Stelle von Texten, die das Verhalten des Einzelnen durch präzise Instruktionen, Gebote und Verbote regulieren,
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III. Kulturen der Kommunikation „Sinnformeln“ (Geideck und Liebert 2003) und normativ orientierende kommunikative Gattungen (Leitbild, Wertekanon, Vision, Idealbeschreibung u. a., vgl. Ebert 2000). Derartige Diskurse nehmen nicht direkt das äußerliche Verhalten des Mitarbeiters in den Blick, sondern zielen darauf ab, den „ganzen“ Menschen in seinem subjektiven Denken, Fühlen, Wollen und Handeln − nicht zuletzt auch in sprachlicher Hinsicht − an den (oft widersprüchlichen) Rationalitäten der Organisation auszurichten (Habscheid, Kleemann und Matuschek 2006). Mit der Sprache sind stets auch ihre Sprecherinnen und Sprecher betroffen: Besonders im Kontext der Arbeitsorganisation nehmen Maßnahmen der Regulation kommunikativer Praktiken und organisationsspezifischer sprachlicher Inventare komplexe neuartige Formen an, die tief in die Identitäten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hineinwirken (Cameron 2000b: 323−324, unter Bezug auf Czerniawska 1998).
2.3. Sprachideologien, Sprachpflege und Sprach(en)politik unter ökonomischen Vorzeichen In dem Maß, wie das Bewusstsein dafür steigt, dass sprachliche Produkte und die ihnen zugrunde liegenden Fähigkeiten einen (unmittelbaren) Tauschwert besitzen, also ökonomisch zu verwerten und zu regulieren sind, nehmen Bemühungen, Marktbedingungen zu beeinflussen, sprachideologische, sprachpflegerische und sprach(en)politische Formen an (vgl. Heller 2010: 105−106). Dieser Zusammenhang lässt sich bereits für klassische Formen einer ‚Arbeit an‘ und ‚Investition in‘ Sprache (lexikographische Beschreibung, Standardisierung von Terminologie, Übersetzung, Vermittlung von Fach(fremd)sprachen im Bildungswesen etc.) als ein bedeutsamer Aspekt aufzeigen (vgl. Coulmas 1992: 96− 108). Dass sich derartige auch ökonomisch begründete Maßnahmen im historischen Maßstab und Vergleich (vgl. Coulmas 1992: 196−277) auf gesellschaftliche Kommunikations- und Wissensverhältnisse, auf Sprachvariation und Sprachwandel auswirken, liegt auf der Hand. Die gegenwärtige sprachenpolitische Entwicklung steht in Verbindung mit Sprachideologien, die − mit eingeschränkter Geltung − bereits moderne Industriegesellschaften charakterisierten und die nun, unter neuartigen technischen, ökonomischen und politischideologischen Expansions- und Wettbewerbsbedingungen, eine Steigerung und Intensivierung erfahren (vgl. Heller 2010: 104, unter Bezug auf Giddens 1990 und andere Theoretiker der Globalisierung). Unschwer lassen sich in diesem Zusammenhang kontroverse sprachenpolitische Diskurse in organisationalen und öffentlichen, nationalen und internationalen Kontexten (auch) als gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Regulation ökonomischer Beteiligungsrechte verstehen (Heller 2010: 106). Vor diesem Hintergrund treffen auch breitere Bevölkerungskreise − als Kunden, Lernende, Lehrende, Beschäftigte, Arbeitssuchende etc. − in diesem Rahmen tagtäglich ihre sprachbezogenen Entscheidungen zunehmend (auch) unter ökonomischen Kriterien (Tan and Rubdy 2008b: 2).
3. Literatur (in Auswahl) Alvesson, Mats and Hugh Willmott 2002 Identity Regulation as Organizational Control: Producing the Appropriate Individual. In: Journal of Management Studies 39(5), 619−644.
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Stephan Habscheid, Siegen (Deutschland)
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III. Kulturen der Kommunikation
58. Sport 1. Einleitung 2. Kommunikation im Sport 3. Kommunikation über Sport
4. Ausblick 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Der Sport ist ein Bereich unserer Gesellschaft, dessen organisatorische Komplexität sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bis heute in außergewöhnlicher Weise erhöht hat. Wie in kaum einem anderen gesellschaftlichen Bereich ist dabei eine funktionale Differenzierung zu erkennen, die zu einem enormen Bedeutungszuwachs des Sports geführt hat. Berücksichtigt man die verschiedenen Teilbereiche des Sports, wie z. B. den Hochleistungssport (Berufssport), den Wettkampfsport der Vereine und Verbände, den Freizeit- und Gesundheitssport und den instrumentellen Sport mit seinen vielfältigen Varianten (Präventionssport, Rehabilitationssport, Sport als Medium der Resozialisierung, der Integration etc.), so ist es dem Sport gelungen, sich durch eine nachhaltige soziale Inklusionskraft auszuzeichnen. Allein mittels des organisierten Sports in den Vereinen gelingt es, mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland an sich zu binden. Unter kommunikativen Gesichtspunkten kann der Sport in diesem Zusammenhang als ein eigener Kommunikationsraum angesehen werden. Der Prozess der funktionalen Differenzierung stellt sich dabei auch als ein Prozess kommunikativer Differenzierung dar. Aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht bildet der moderne Sport eine Kommunikationsplattform, die sich durch eine große Vielfalt auszeichnet. War es zunächst lediglich die Fußballsprache, die Sprachwissenschaftler interessieren konnte, und wurde dabei meist von der „Fußballsprache“ auf eine „Sprache des Sports“ geschlossen (vgl. u. a. Haubrich 1965; Schneider 1974; Steger 1986; Braun 1998), so wurden mittlerweile solche Analysen durch neue Themenstellungen ergänzt, wobei vor allem Kommunikationsanalysen zur Sportberichterstattung in den Massenmedien einen wichtigen Stellenwert erhalten haben (vgl. u. a. Hackforth 1975; Weischenberg 1978; Digel 1983; Volknant 1988; Muckenhaupt 1990; Burk 2003; Digel 2006). Will man den Sport aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive erfassen, so bietet es sich an, die Kommunikationssituationen und -prozesse im Sport von jenen Situationen und Prozessen zu unterscheiden, in denen über Sport kommuniziert wird. Für beide Kommunikationssorten lassen sich wiederum verbale und nonverbale, schriftliche und mündliche, visuell-bildliche und visuell-graphische Kommunikationsformen unterscheiden.
2. Kommunikation im Sport In einer wissenschaftlichen Perspektive steht die Kommunikation der Athletinnen und Athleten in den Wettkämpfen im Blickpunkt des Interesses. Dabei stellt sich die Frage, wie während eines Wettkampfes Athleten mit wem kommunizieren. Partner und Mitspie-
58.
Sport
ler sind dabei auf der einen Seite zu beachten und auf der anderen Seite geht es um die Kommunikation zwischen Gegnern. Eine besondere Bedeutung kommt in der Wettkampfsituation auch der Athleten-Trainer-Kommunikation zu, wobei von Sportart zu Sportart eigenständige Kommunikationsmuster und -situationen zu erkennen sind (vgl. u. a. Digel 1976, 1979). Besonders aufschlussreiche Kommunikationssituationen sind dabei z. B. die Auszeit im Basketball, bei der die Trainer bemüht sind, innerhalb weniger Sekunden mittels einer Taktiktafel fünf Spieler, die nach der Auszeit eingesetzt werden, auf taktische Varianten einzuschwören. Gelungene Kommunikation mittels Graphik, Zeichnung und gesprochenem Wort stellt sich dabei als eine kaum lösbare Herausforderung dar. Interessant ist auch die Kommunikation mittels vereinbarter Codes, durch die dem Gegner ein Einblick in die geplanten taktischen Strategien verwehrt werden soll. Handballmannschaften auf hohem Spielniveau verfügen in der Regel über ein Repertoire von oft mehr als 30 Spielzügen, die jeweils einer spezifischen Codierung bedürfen. Die vom Trainer initiierte Kommunikation gelingt dabei jedoch meist nur, wenn entsprechend abgestimmte Spieler zum richtigen Zeitpunkt auf dem Feld sind und sich eine günstige Konstellation in der Zusammensetzung der gegnerischen Mannschaft ergibt. Die Trainer-Athleten-Kommunikation während des Wettkampfes ist von vielen Faktoren abhängig. Entscheidend sind dabei die räumliche Distanz und die allgemeine Geräuschsituation während des Wettkampfes. Sie können bedingende Faktoren für die Wahl der möglichen Kommunikationszeichen sein. Auch die Wettkampfhandlungen der Athleten selbst bedingen die mögliche Kommunikation. Während der Schwimmwettkämpfe ist z. B. eine Beeinflussung der sportlichen Leistung durch den Trainer so gut wie nicht mehr möglich. Eine Ausnahme macht allenfalls das Langstreckenschwimmen. Ein weiterer bedingender Faktor sind die jeweiligen Regeln der Sportarten, die die Kommunikation zwischen Trainern und Athleten ermöglichen oder verbieten. Coaching während einer Leichtathletikweltmeisterschaft und bei Olympischen Spielen ist beispielsweise nur von ganz bestimmten Plätzen aus erlaubt und hat meist zur Folge, dass die Kommunikation nur über Zeichensprache möglich ist. Auch die An- oder Abwesenheit von TV- und Filmaufzeichnungen während eines Wettkampfes ermöglichen oder verhindern Kommunikation. So werden beispielsweise bei internationalen Wettbewerben auf großflächigen Videoscreens Zeitlupen nach einem Wettkampfversuch eingespielt. Dies ermöglicht den Athleten eine Fehlerkommunikation, die hilfreicher sein kann als Gesten und Zeichen, die der Trainer übermittelt, die jedoch meist nur schwer verständlich sind. Eine ausgesprochen interessante Kommunikationssituation stellen Strafinteraktionen dar, wie z. B. das Elfmeterduell beim Fußball, das Siebenmeterduell beim Hallenhandball, die Penaltysituation im Eishockey oder die Strafecke beim Hockey. Für alle Duelle im Sport gilt es, dass Gestik und Mimik auf der einen Seite und großmotorische Aktionen bzw. deren Unterlassung sich in einem interessanten Wechselspiel befinden. Dazu kann, wenn es nicht verboten ist, die sprachliche Kommunikation hinzukommen, sodass sich diese Duelle als eine vielfältige Kommunikationssituation darstellen. Diese Duelle können kommunikativ noch überlagert werden durch taktische Interventionen des Trainers, die den taktischen Interventionen der gegnerischen Mannschaft gegenüberstehen. Für die Duelle ist das gegenseitige Beobachten besonders kennzeichnend. Beim Tischtennis kommt es darauf an, dass die Hand des Gegners, die Schlägerhaltung, Drehbewegungen, der Wurf des Balles, das Treffen des Schlägers auf den Ball äußerst genau
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III. Kulturen der Kommunikation beobachtet werden, um die geeignete Gegenbewegung einleiten zu können. Grundsätzlich ist jeder Wettkämpfer bemüht, seinen Gegner zu täuschen. Finten zeichnen deshalb die besondere Eleganz der Kommunikation in den Duellen aus. Der Witz der Wettkampfkommunikation ist darin zu sehen, dass jeder bemüht ist, den Gegner kommunikativ zu überraschen, um eine Lösung für das Problem zu finden, mit der der Gegner nicht rechnet. Ist die Lösung raffiniert und kreativ, führt sie zu einem Wettkampferfolg, hat sie dabei meist auch noch einen Mehrwert erzielt. Die Zuschauer des Wettkampfes werden durch eine derartige Problemlösung besonders belohnt. Dabei kann durchaus die Gefahr gegeben sein, dass der Gegner dabei lächerlich gemacht wird und man durch eine unnötig häufige Anwendung von Tricks gegenüber einem schwächeren Gegner gegen die grundlegenden Prinzipien des Fair Play verstößt. Als zweites Untersuchungsthema zur Kommunikation im Sport muss neben der Wettkampfkommunikation die Kommunikation vor und nach den Wettkämpfen unterschieden werden. Auch hier zeigen sich uns vielfältige Kommunikationssituationen mit interessanten Kommunikationsprozessen. Aus einer wettkampftheoretischen Perspektive ist dabei besonders bedeutsam, worüber und mit wem vor dem Wettkampf kommuniziert wird, welche Rituale dabei zum Tragen kommen und welche Kommunikationsformen überhaupt möglich sind. Die mentale Vergewisserung einer Abfahrtsstrecke im alpinen Rennsport, die Musik über den Kopfhörer, die letzten Anweisungen des Trainers, das Mannschaftsgespräch in der Kabine vor dem Spiel − von Sportart zu Sportart lassen sich hierbei unterschiedliche Situationen und Prozesse unterscheiden. Dabei ist der Zeitraum zu beachten, in dem sich die jeweilige Kommunikationssituation zum Wettkampf selbst befindet. In der Praxis reicht die Kommunikation vor dem Wettkampf vom Zeitpunkt der Beendigung des letzten Wettkampfes bis zum Beginn des neuen Wettkampfs. Unter systematischen Gesichtspunkten bietet es sich jedoch an, die unmittelbare Kommunikation nach dem Wettkampf als eigenständigen Kommunikationsbereich zu erfassen, zumal in dieser Situation Kommunikationsprozesse denkbar sind, die nur indirekt als vorbereitend zu deuten sind. So z. B. die Kommunikation der Wettkämpfer unter der Dusche, die Kommunikation mit der gegnerischen Mannschaft nach dem Spiel, die Kommunikation mit den Fans, der Dialog mit der Presse bei einer anschließenden Pressekonferenz etc. (vgl. u. a. Schaffrath 2000). Neben der Kommunikation vor und nach dem Wettkampf ist die Halbzeitbesprechung eine wichtige Kommunikationssituation. Dies gilt für all jene Sportarten, bei denen über die Regeln eine derartige Kommunikationssituation geschaffen wurde. In dieser Situation stellt sich die Frage, wer mit den Wettkämpfern worüber spricht, welche Rolle die Wettkämpfer dabei selbst spielen, welche Zeitpunkte für die Kommunikation gewählt werden. Diese Situation ist unter kommunikativen Gesichtspunkten auch deshalb besonders interessant, weil nicht selten jene, die über den Sport sprechen, die Journalisten und Kommentatoren also, besonders häufig bemüht sind, diese Situation mit Kommentaren zu antizipieren. Da wird von Journalisten beispielsweise vermutet, dass der Trainer den Spielern den „Kopf gewaschen“ hat, dass der Trainer die Mannschaft in der Halbzeit „neu eingestellt“ hat, dass die Mannschaft „wie verwandelt“ aus der Kabine gekommen sei. Unter Kommunikationsgesichtspunkten hat jedoch die Kommunikation in der Kabine den Charakter eines Geheimnisses, wie überhaupt die Kommunikation vor, während und nach einem Wettkampf nur dann eine erfolgreiche Kommunikation sein kann, wenn sie sich als geschlossen und verdeckt darstellt. Vor allem muss dem Gegner der Einblick in diese Kommunikationsprozesse verwehrt sein. Problematisch ist es deshalb, wenn diese Kommunikationssituationen des Sports durch andere Kommunikationsinteressen
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Sport
beeinträchtigt werden, z. B. wenn Halbzeitbesprechungen, Auszeitinterventionen von Kameras live gefilmt und übertragen werden. Damit werden nicht nur die Zuschauer in Kommunikationsgeheimnisse eingeweiht, prinzipiell wird damit auch gegenüber dem Gegner die Kommunikation veröffentlicht. Im Kommunikationsfeld Sport lässt sich noch eine ganze Reihe von Kommunikationssituationen finden, die von einer Kommunikationstheorie des Sports zu berücksichtigen sind. Im Sport wird nicht nur bei den Wettkämpfen kommuniziert. Die Wettkämpfe sind nur deshalb möglich, weil sie in Kommunikationsprozesse von Organisationen eingebunden sind. Abteilungen, Vereine, Verbände, nationale und internationale Sportorganisationen bilden dabei jeweils eigenständige Kommunikationsforen. Vereins- und Verbandsarbeit zeichnet sich durch schriftliche und mündliche Kommunikation aus. Präsidiumssitzungen, Trainerbriefe, Satzungen, Protokolle, Sponsorenverträge, Stammtische, Netzwerke, Telefondiplomatie, Korruption, Dopingbetrug − all diese Einzelthemen verweisen auf Kommunikationssituationen, Kommunikationsprozesse oder Dokumente der Kommunikation, die sich oftmals untereinander in teilweise nur schwer verstehbaren Beziehungen befinden. Sie verweisen darüber hinaus auf Kommunikations- und Austauschprozesse mit einer komplexen Umwelt des Systems des Sports, so unter anderem zur Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Die beschriebenen Beispiele haben gezeigt, dass die Kommunikation im Sport nur unter systematischen Gesichtspunkten als eigenständiger Bereich zu fassen ist. In der Praxis wird er immer häufiger vom zweiten Kommunikationsfeld des Sports, von der Kommunikation über den Sport, tangiert. Die Kommunikation über den Sport zeichnet sich ebenfalls durch eine Vielfalt aus.
3. Kommunikation über Sport Während des Frühstücks wird der Sportteil einer Tageszeitung gelesen, bei der Arbeit sind Sportereignisse und Resultate beliebte Kommunikationsinhalte der Arbeitswelt, am Stammtisch ist der Sport ein bedeutsamer Kommunikationsinhalt und im Hörfunk, im Fernsehen und im Internet spielt der Sport längst eine äußerst dominante Rolle. Besonders häufig wurde die Rolle des Sports in den Tageszeitungen untersucht (vgl. u. a. Loosen 1998; Wipper 2003). In der Lokalberichterstattung spielt dabei der Sport eine gewichtige Rolle (vgl. u. a. Binnewies 1975). Im Hörfunk ist die Rolle des Sports als Kommunikationsthema eher nachgeordnet. Allerdings ist der Hörfunk das letzte Refugium für journalistisch anspruchsvolle Bearbeitungen des Sports, ohne dass damit ein größeres Publikum erreicht werden kann (vgl. u. a. Schaffrath 1996). Für das Fernsehen ist der Sport das wichtigste Unterhaltungsthema geworden, man kann damit die höchsten Einschaltquoten erreichen. Die journalistische Bearbeitung des Sports tritt dabei jedoch auffallend in den Hintergrund. Im Zentrum steht ein Unterhaltungsangebot, das sich durch Trivialität auszeichnet. Kritiker reden zu Recht von einer Boulevardisierung des Sportfernsehens. Unter kommunikativen Gesichtspunkten gibt es dabei mehr oder weniger interessante Einzelsituationen, wenn wir von der Kommunikation über den Sport sprechen. Bei der Liveübertragung eines Fußballländerspiels ist die Rolle des Kommunikators und dessen Kommunikation von besonderer Bedeutung. Wichtig ist auch der Zusammenhang zwischen Text- und Bildkommunikation in der Sportberichterstattung. Interessieren können auch Interviewsituationen, Kommentare und weitere journalistische
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III. Kulturen der Kommunikation Textsorten. Aus sportpublizistischer Sicht wurde immer wieder auch die Frage nach den demokratischen Verhältnissen innerhalb der Sportberichterstattung gestellt. Wie werden Frauen im Vergleich zu Männern in der Sportberichterstattung dargestellt (vgl. u. a. Klein 1985, 1986)? Wie schwarze im Vergleich zu weißen Sportlern (vgl. u. a. Maho Awes 1983)? Wie fremde Sportler im Vergleich zu den eigenen (vgl. u. a. Wernecken 2000)? Gibt es kulturbedingte Kommunikationsstile in der Sportberichterstattung? Welcher Sport wird in den Massenmedien abgebildet, welcher vernachlässigt oder gar negiert? Bei diesen und ähnlichen Fragen kann jedes einzelne Medium einer Einzelanalyse unterzogen werden. Vergleiche zwischen vergleichbaren Medien, insbesondere zwischen Tageszeitungen, zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern, zwischen nationalen Mediensystemen etc. sind dabei üblich. Dabei muss beachtet werden, dass über den Sport in überraschend vielen und nicht vorhersehbaren Situationen kommuniziert wird. Sportler sind Gäste bei Unterhaltungssendungen, über Sport wird kommuniziert, wenn Wirtschaft, Kirche, Politik, Militär, Wissenschaft, Bildung und andere gesellschaftliche Bereiche dem Sport begegnen. Über Sport wird im Parlament gesprochen, sämtliche Anzeigenblätter bedienen sich des Sports, Versatzstücke aus der Welt des Sports werden von der Werbung, von der Politik, von der Kirche und in gewissem Sinne von jedermann und jeder Frau verwendet.
4. Ausblick Sport ist ohne Zweifel Inhalt und Anlass für vielfältige Kommunikationsprozesse in unserer Gesellschaft. Er bietet eine komplexe Plattform für die verschiedenen Formen der Kommunikation. Seine kommunikationswissenschaftliche Beschreibung und Erklärung ist jedoch erst in Anfängen zu erkennen. Angesichts der immer noch wachsenden kulturellen Bedeutung des Sports in fast allen Gesellschaften der Welt wäre eine umfassende kommunikationswissenschaftliche kritische Begleitung ohne Zweifel erwünscht.
5. Literatur (in Auswahl) Binnewies, Harald 1975 Sport und Sportberichterstattung. Ahrensburg bei Hamburg: Czwalina. Braun, Peter 1998 Annäherung an die Fußballsprache. In: Muttersprache 108, 134−145. Burk, Verena 2003 Sport im Fernsehen. Öffentlich-rechtliche und private Programme im Vergleich. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Digel, Helmut 1976 Sprache und Sprechen im Sport: eine Untersuchung am Beispiel des Hallenhandballs. Schorndorf: Hofmann. Digel, Helmut 1979 Mannschaftsbesprechung in Theorie und Praxis − ein Versuch journalistischer Aufklärung. In: Leistungssport 9, 372−383. Digel, Helmut (Hg.) 1983 Sport und Berichterstattung. Reinbek: Rowohlt. Digel, Helmut 2006 Sportberichterstattung. In: Herbert Haag und Bernd Strauß (Hg.), Themenfelder der Sportwissenschaft, 329−345. Schorndorf: Hofmann.
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Helmut Digel, Tübingen (Deutschland)
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59. Gesundheit 1. Einführung 2. Arzt-Patient-Interaktion
3. Trends zukünftiger Forschung 4. Literatur (in Auswahl)
1. Einführung Die Kommunikation im Gesundheitswesen, deren Beteiligte von den Empfängern von Gesundheitsleistungen (PatientInnen) über die Erbringer dieser Leistungen (Ärzteschaft, Pflege, Apotheken, TherapeutInnen etc.), die Finanzierer (Selbstzahler, PrivatpatientInnen, Kranken-, Unfall-, Pflegeversicherung etc.) bis hin zu den gesetzgebenden Körperschaften und Interessensverbänden (Berufsverbände wie die Ärztekammern, Patientenanwaltschaften, Selbsthilfegruppen u. Ä.) reichen, ist nicht zuletzt durch eine in jüngerer Zeit stark zunehmende Differenzierung gekennzeichnet. Entsprechend vielfältig sind die Disziplinen, die sich − aus unterschiedlichsten Perspektiven und mit unterschiedlichsten Methoden − dem Forschungsgegenstand nähern. Innerhalb der Linguistik lässt sich prinzipiell die Analyse schriftlicher Textsorten von mündlichen Interaktionstypen unterscheiden. Im Bereich schriftlicher Kommunikation finden sich sowohl einige Publikationen zur interessanten Schnittstelle der Transformation mündlicher in schriftliche Diskurse (Iedema 2006) als auch einige wenige, die sich mit Spezifika der medizinischen Fachliteratur auseinandersetzen (Gotti and Salager-Meyer 2006; Pahta 2006). Der Einsatz von mehrsprachigen schriftlichen Informationstexten zur Verbesserung multilingualer Kommunikation (vgl. z. B. Parmakerli 2010) wäre ebenfalls ein lohnenswertes Forschungsgebiet. Allerdings steht eine Systematik der schriftlichen Textsorten im Gesundheitswesen noch aus, wohl auch deshalb, weil der Forschungsschwerpunkt tendenziell auf mündlichen Interaktionstypen liegt. Eine erste Typologisierung der Interaktion im Gesundheitswesen kann nach der Konstellation der Beteiligten vorgenommen werden (Ärzte, Pflege, PatientInnen, Angehörige, Therapie u. Ä.). Im Bereich der Pflegekommunikation wurden zum Beispiel die Krankenpflege (vgl. z. B. Walther 1997; Weinhold 1997) und die Altenpflege (Sachweh 2006) näher untersucht. Psychotherapeutische und psychiatrische Kommunikation (Buchholz 1998; Fritzsche und Wirsching 2005; Kütemeyer 2003; Peräkylä 2004; Schöndienst 2002; Morris and Chenail 1995) sind ebenso Gegenstand linguistisch-diskursanalytischer Untersuchungen wie zwischenärztliche Gespräche.
2. Arzt-Patient-Interaktion 2.1. Überblick Am intensivsten erforscht in der Linguistik ist allerdings die Arzt-Patient-Interaktion (API). An ihr seien exemplarisch ein Überblick über mögliche Systematisierungen und zwei Beispielsanalysen zur Illustration domänenspezifischer Charakteristika gegeben.
59. Gesundheit Seit den 70er-Jahren hat sich die Arzt-Patient-Interaktion zunehmend als Forschungsfeld der Soziolinguistik und der Diskursanalyse legitimiert und zunächst insbesondere die institutionellen Bedingungen der Kommunikation in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gestellt (Lalouschek, Menz und Wodak 1990; Menz 1991; Sarangi and Roberts 1999). Arzt-Patient-Interaktion lässt sich nach Löning (2001) makrostrukturell nach dem institutionellen Ort, der Ausrichtung der medizinischen Schule, dem Krankheitstyp, der Patientengruppe und dem konstitutiven Handlungsziel (z. B. Anamnese, Visite und dergleichen) einteilen. Eine andere Gliederung kann nach den primären Handlungstypen (Erstgespräche, Anamnesegespräche, Visiten, Entlassungsgespräche, Aufklärungsgespräche, Interviews, Sprechstundengespräche, Folgegespräche, Befundbesprechungen) getroffen werden (Nowak 2010). Des Weiteren lassen sich einige domänenbedingte Spezifika der Arzt-Patient-Interaktion beschreiben. Zu ihnen zählen an erster Stelle die kulturell geprägten unterschiedlichen Rollenzuschreibungen als Experte und Laie, die eine Asymmetrie auf der Wissensebene herstellen. Ob neue Kommunikationsmedien wie Gesundheitsplattformen und Gesundheitsforen (Laie-Laie-Kommunikation) im Internet diese Rollenzuschreibung unterlaufen oder gar teilweise aufheben, muss erst noch erforscht werden. Zusätzlich wird die Asymmetrie verstärkt durch institutionell bedingte Aufgabenverteilungen in Bezug auf die Rederechte, die es den Agenten der Institution ermöglichen, Gespräche über weite Strecken zu dominieren. Am deutlichsten zeigt sich dies bei den Unterbrechungen: ÄrztInnen unterbrechen PatientInnen signifikant häufiger als umgekehrt, indem sie Thema oder Adressat wechseln (Li et al. 2004; Menz and Al-Roubaie 2008). Drittens ist die Arzt-Patient-Interaktion gekennzeichnet durch inhaltlich divergierende Relevanzen (Mishler 1984) und Rahmenkonflikte (Todd 1983), die häufig für Kommunikationsprobleme verantwortlich sind. Schließlich ist es Aufgabe ärztlicher Gespräche, das subjektive Erleben von PatientInnen in behandelbare Symptome zu transformieren (Rehbein 1986). Für die Forschung birgt die Fokussierung auf die institutionellen Zwecke der Gespräche die Gefahr, die Patientenanliegen und deren Relevanzen aus dem Auge zu verlieren und damit einer arztzentrierten Form von Medizin den Vorrang einzuräumen (Menz und Sator 2011).
2.2. Diskriminierung sozialer Gruppen Mittlerweile ist eine große Anzahl diskursanalytischer Studienergebnisse zu verzeichnen, die systematische Diskriminierungen von sozialen Gruppen aufgrund unterschiedlicher kulturell geprägter Normen und Sprachverhaltensmuster aufzeigen, und zwar sowohl in monolingualen als auch in multilingualen Settings. Im Folgenden soll anhand von zwei Beispielen exemplarisch die Reproduktion sozialer Benachteiligungen durch spezifisches Sprachverhalten illustriert werden. Für umfassendere Darstellungen verweise ich auf einige Sammelbände (Ehlich et al. 1990; Fisher and Todd 1983; Köhle und Raspe 1982; Heritage and Maynard 2006; Löning und Rehbein 1993; Neises, Ditz und Spranz-Fogasy 2005; Redder und Wiese 1994; Menz et al. 2010) und Überblicksartikel (Hydén and Mishler 1999), in denen der Stand der linguistischen Forschung zusammengefasst ist.
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III. Kulturen der Kommunikation
2.2.1. Genderaspekte Eine der wichtigsten Variablen, die sich in der Analyse ärztlicher Gespräche, aber auch in anderen institutionellen Kontexten sehr früh als relevant herausgestellt hat, ist das soziale Geschlecht der InteraktantInnen, und zwar sowohl in Bezug auf das Geschlecht der PatientInnen als auch das der ÄrztInnen (West 1984, 1990). Diese Unterschiede können gravierende Folgen haben, denn manche medizinische Untersuchungen (Penque et al. 1998; Shaw et al. 1994) deuten darauf hin, dass etwa aufgrund unterschiedlicher Präsentationsstrategien von Schmerzen bestimmte Krankheitsbilder wie koronare Herzkrankheit (dem gefährlichsten Auslöser von Herzinfarkten) bei weiblichen Patienten häufiger übersehen werden als bei männlichen und in der Folge die Mortalitätsrate Ersterer höher ist. Sprachliche Unterschiede zeigen sich vor allem in vier unterschiedlichen Bereichen (Menz et al. 2002): − Frauen stufen ihre Schmerzen herab (schwächen sie ab und thematisieren eher das
psychosoziale Umfeld); Männer stufen ihre Schmerzen hoch (nehmen sie ernst, zeigen sich informiert und interessiert); − Frauen sehen sich selbst interaktiv als eher Schmerz ertragend (passiv in Bezug auf die Schmerzen); Männer stellen sich selbst in der Interaktion als Schmerz bewältigend dar (aktiv in Bezug auf die Therapie); − Männer zeigen stärker als Frauen den Wunsch nach Ursachenklärung; − Männer beschreiben ihre Schmerzen sehr konkret, indem sie ausführliche symptomatische Beschreibungen geben; Frauen hingegen geben kontextualisierte Schmerzbeschreibungen, indem sie kaum auf symptomatische Aspekte fokussieren und häufig Diffusitätsmarker sowie metakommunikative Äußerungen, in denen sie die Unmöglichkeit der exakten Schmerzbeschreibung thematisieren, verwenden. Damit erfüllt das sprachliche Handeln der Männer in weit höherem Ausmaß die Erwartungen der MedizinerInnen in Bezug auf die gewünschten Informationen (Lokalisation, Intensität und Dauer bzw. Häufigkeit des Brustschmerzes) als dasjenige der Frauen. Dies führt dazu, dass sie von der Ärzteseite als präziser, informativer und kooperativer wahrgenommen werden. Da der überwiegende Teil der Kardiologen nach wie vor männlichen Geschlechts ist und auch die Symptombeschreibung und klinische Differenzialdiagnose der koronaren Herzkrankheit, historisch gesehen, vorwiegend an männlichen Patienten entwickelt wurde, ist diese Verzerrung systemimmanent. Die Benachteiligung von Frauen wird tragend, obwohl sie (insbesondere in außerinstitutionellen Kontexten) Schmerzen differenzierter und vielfältiger darstellen. So verwenden Frauen zur Referenz auf Schmerzen in ärztlichen Gesprächen semantisch gehaltvolle Konzepte und weniger semantische Leerformen („es“, „das“) als Männer und nutzen vielfältigere und variantenreichere Ausdruckweisen, während Männer weitaus häufiger auf vorgefertigte Formulierungsroutinen („Schmerz haben“ und „wehtun“) zurückgreifen (Blasch, Menz und Wetschanow 2010).
2.2.2. Multilinguale Kontexte Am deutlichsten wird die kulturelle Überformung und Geprägtheit der Kommunikation in der Domäne Gesundheit am Beispiel von multilingualen Kontexten. Denn bereits, was
59. Gesundheit überhaupt als Schmerz wahrgenommen wird, und die Art und Weise, wie er sprachlich konzeptualisiert wird, sind stark von kulturellen Normen und Vorstellungen abhängig, wie Lalouschek (2010) in einer Übersicht zusammengefasst hat. Obwohl durch die Globalisierungswellen der letzten Jahrzehnte in den großen Städten Mehrsprachigkeit aufgrund von Migration zunehmend zum Alltagsfaktor geworden ist, spiegelt sie sich sowohl in der Forschung zur medizinischen Kommunikation als auch im täglichen Umgang in der ärztlichen Praxis noch unzureichend wider. Erst in den letzten Jahren hat zunehmend ein Bewusstsein eingesetzt, dass auch Krankheit und Kranksein unter kulturellen Aspekten relevant wird. Allerdings ist auch zu konstatieren, dass bisher viele Aussagen nicht über anekdotische Berichte und „mehr oder weniger klischeeartig vorgetragene Kulturunterschiede“ (Meyer 2003) hinausreichen. Es kann jedoch als gesichert gelten, dass PatientInnen, die die Erstsprache der ÄrztInnen ungenügend beherrschen, in der medizinischen Behandlung Nachteile zu gewärtigen haben. Sie bekommen nicht nur weniger affektive Zuwendung (Schouten und Meeuwesen 2006), sondern haben auch einen schlechteren Zugang zu Informationen (Bührig and Meyer 2004). In der Interaktion selbst sind gravierende Unterschiede zwischen den (seltenen) Fällen professionellen Dolmetschens und dem (viel häufigeren) Dolmetschen von Laien, meist Familienangehörigen, zu beobachten. Während Erstere in beide Richtungen übersetzen, verkürzen letztere Aussagen, sie dolmetschen oft nur teilweise und nicht systematisch in beide Richtungen, sie dolmetschen manchmal sogar falsch bzw. unzureichend und sie bringen oft ihre eigenen Anliegen und Präferenzen ein, die nicht in einem erkennbaren Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Patientin oder des Patienten stehen (Pöchhacker and Kadric 1999; Sator 2013). Die Komplexität der Verständigungsvoraussetzungen in gedolmetschten Gesprächen steigt exponentiell. Gibt es in einer dyadischen monolingualen Situation prinzipiell zwei Konstellationen (Arzt/Ärztin spricht mit PatientIn, PatientIn spricht mit Ärztin/Arzt), so steigen diese durch die Anwesenheit einer dolmetschenden Person auf dreizehn von Sator und Gülich (2013) nachgewiesene Beteiligungsformen, je nachdem, welche Sprache verwendet wird, welcheR TeilnehmerIn primär adressiert wird und wie auf den/die nicht adressierten Dritten referiert wird, ob also mit, über oder anstelle von wem anderen gesprochen wird. Die ÄrztInnen passen zwar ihre Gesprächsstrategien an, indem sie weniger komplex fragen und die Gespräche stärker strukturieren. Da allerdings gedolmetschte Gespräche nicht länger dauern als monolinguale und die Redebeiträge der ÄrztInnen keine signifikanten Änderungen zeigten, gingen die der DolmetscherInnen eindeutig zulasten der PatientInnen, deren Gesprächsanteile in gedolmetschten Gesprächen deutlich zurückgehen (Menz 2013). Da es im deutschsprachigen Raum nach wie vor als Bringschuld der PatientInnen gesehen wird, für eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit und den notwendigen Informationsaustausch zu sorgen, tragen die unterschiedlichen Rollenzuschreibungen und die damit verbundenen interaktiven Rechte, aber auch das Sprachverhalten aller Interaktionsbeteiligten, zur Reproduktion sozialer Ordnungen bei, nicht selten zum eigenen Nachteil. Eine genaue Analyse, die kulturelle Aspekte systematisch mit einbezieht, kann also zu einer Gesellschaft mit größerer Zugangsgerechtigkeit beitragen.
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III. Kulturen der Kommunikation
3. Trends zukünftiger Forschung Die starke Verbesserung und Verfeinerung visueller Aufnahmemöglichkeiten in den letzten Jahren hat auch in der Diskursanalyse einen verstärkten Fokus auf multimodale Analyseverfahren und neue diesbezügliche Erkenntnisse gelegt. Haben die ersten multimodalen Analysen sich vorwiegend auf zusätzliche visuelle Orientierungselemente konzentriert, die die verbalen Handlungen begleiten (Robinson 1998), so haben nachfolgende Untersuchungen die Zeigegeste als konstitutives nonverbales Merkmal z. B. bei der Beschreibung von Schmerzen in den Blickpunkt gerückt (Stukenbrock 2008; Sator 2010). Neuere Arbeiten entdecken folgerichtig die Integration bildgebender Verfahren in der Medizin, etwa bei mikroskopischen Operationen, als lohnenswertes Untersuchungsfeld der Diskursanalyse. Im Bereich der Telemedizin hat Mondada (2003) auf einige Besonderheiten der Kommunikation der operierenden Chirurgen hingewiesen, die sich zusätzlich an ein Publikum richtet, während Uhmann (2013) die Verwendung der mikroskopischen Operationsgeräte als zusätzliche interaktive Ressourcen beleuchtet. Auch im Bereich der chirurgischen Ausbildung ist die Bedeutung solcher Mikrogesten unterstrichen worden (Bezemer et al. 2014). Darüber hinaus rückt der Einfluss von medizinischen Informationsportalen auf die Arzt-Patient-Kommunikation verstärkt in der Forschungsvordergrund, der die aktuelle Verteilung der Experten-Laien-Position zunehmend infrage bzw. auf neue Beine stellen wird (vgl. z. B. Busch 2005). Die Transformation der Arztrolle von der eines Anordnenden zu einem begleitenden Berater könnte damit beschleunigt werden.
4. Literatur (in Auswahl) Bezemer, Jeff, Alexandra Cope, Gunther Kress and Roger Kneebone 2014 Holding the Scalpel: Achieving Surgical Care in a Learning Environment. In: Journal of Contemporary Ethnography 43(1), 38−63. Blasch, Lisa, Florian Menz und Karin Wetschanow 2010 Texttypspezifische und gendertypische Unterschiede in der Darstellung von Kopfschmerzen. In: Florian Menz, Johanna Lalouschek, Marlene Sator und Karin Wetschanow (Hg.), Sprechen über Schmerzen. Linguistische, kulturelle und semiotische Analysen, 225−293. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr. Buchholz, Michael B. 1998 Die Metapher im psychoanalytischen Dialog. In: Psyche 52, 545−571. Bührig, Kristin and Bernd Meyer 2004 Ad-Hoc-Interpreting and the Achievement of Communicative Purposes in DoctorPatient-Communication. In: Juliane House and Jochen Rehbein (eds.), Multilingual Communication, 43−62. Amsterdam: Benjamins. Busch, Albert 2005 Wissenskommunikation im Gesundheitswesen: Transferqualität in der Online-Gesundheitskommunikation. In: Gerd Antos und Tilo Weber (Hg.), Transferqualität: Bedingungen und Voraussetzungen für Effektivität, Effizienz, Erfolg des Wissenstransfers, 115− 128. Frankfurt a. M.: Lang. Ehlich, Konrad, Armin Koerfer, Angelika Redder und Rüdiger Weingarten (Hg.) 1990 Medizinische und therapeutische Kommunikation. Diskursanalytische Untersuchungen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
59. Gesundheit Fisher, Sue and Alexandra Dundas Todd (eds.) 1983 The Social Organization of Doctor Patient Communication. Washington, DC: Center for Applied Linguistics. Fritzsche, Kurt und Michael Wirsching 2005 Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Berlin: Springer. Gotti, Maurizio and Françoise Salager-Meyer (eds.) 2006 Advances in Medical Discourse Analysis: Oral and Written Contexts. Bern u. a.: Peter Lang. Heritage, John C. and Douglas W. Maynard (eds.) 2006 Communication in Medical Care: Interaction Between Primary Care Physicians and Patients. New York: Cambridge University Press. Hydén, Lars-Christer and Elliot G. Mishler 1999 Language and Medicine. In: Annual Review of Applied Linguistics 19, 174−192. Iedema, Rick 2006 (Post-)bureaucratizing Medicine: Health Reform and the Reconfiguration of Contemporar Clinical Work. In: Maurizio Gotti and Françoise Salager-Meyer (eds.), Advances in Medical Discourse Analysis: Oral and Written Contexts, 111−131. Bern u. a.: Peter Lang. Köhle, Karl und Hans-Heinrich Raspe (Hg.) 1982 Das Gespräch während der ärztlichen Visite. Empirische Untersuchungen. Wien: Urban und Schwarzenberg. Kütemeyer, Mechthilde 2003 Psychogener Schmerz als Dissoziation. In: Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung 5(3), 203−220. Lalouschek, Johanna 2010 Medizinische und kulturelle Perspektiven von Schmerz. In: Florian Menz, Johanna Lalouschek, Marlene Sator und Karin Wetschanow (Hg.), Sprechen über Schmerzen. Linguistische, kulturelle und semiotische Analysen, 15−69. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr. Lalouschek, Johanna, Florian Menz und Ruth Wodak 1990 Alltag in der Ambulanz. Gespräche zwischen Ärzten, Schwestern und Patienten. Tübingen: Gunter Narr. Li, Han Z., Michael Krysko, Naghmeh G. Desroches and George Deagle 2004 Reconceptualizing Interruptions in Physician-Patient Interviews: Cooperative and Intrusive. In: Communication and Medicine 1(2), 145−157. Löning, Petra 2001 Gespräche in der Medizin. In: Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2. Halbbd., 1576−1588. Berlin: de Gruyter. Löning, Petra und Jochen Rehbein (Hg.) 1993 Arzt-Patienten-Kommunikation. Analysen zu interdisziplinären Problemen des medizinischen Diskurses. Berlin u. a.: de Gruyter. Menz, Florian 1991 Der geheime Dialog. Medizinische Ausbildung und institutionalisierte Verschleierungen in der Arzt-Patient-Kommunikation. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Menz, Florian 2013 Zum Vergleich von ärztlichen Konsultationen zu Kopfschmerzen bei gedolmetschten und nicht gedolmetschten Gesprächen. In: ders. (Hg.), Migration und medizinische Kommunikation. Wien: v & r Vienna University Press. Menz, Florian and Ali Al-Roubaie 2008 Interruptions, Status and Gender in Medical Interviews: The Harder You Brake, the Longer it Takes. In: Discourse und Society 19(5), 645−666.
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Florian Menz, Wien (Österreich)
60. Alltag 1. Einleitung 2. Alltag als basale Handlungswirklichkeit
3. Mediale Lebenswirklichkeiten 4. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Anders als die Welt der Natur, die wir mithilfe unserer wissenschaftlichen Konstruktionen erschließen, ist die soziale Welt eine durch die Praktiken sozialen Handelns erst erzeugte Welt. Sie ist durch menschliche Praxis entstanden, in einer Weise, in der sich das Erzeugende − die Arten gesellschaftlicher Praxis − zusammen mit seinen Erzeugnissen − den Verfestigungen dieser Praxis − herausbildet und verändert. Die soziale Welt des Handelns ist stets auf die eine oder andere Art bedeutsam für die, die sich in ihr bewegen − eine Relevanz, die durch kommunikative Prozesse nicht nur hervorgebracht, sondern durch sie auch erhalten, wiederhergestellt oder erneuert wird. Dies gilt auch und gerade für das alltägliche Handeln der Menschen, das die Grundlage der Welt ihres Zusammenlebens bildet. „Unter den vielen Wirklichkeiten gibt es eine, die sich als Wirklichkeit par excellence darstellt. Das ist die Wirklichkeit der Alltagswelt. Ihre Vorrangstellung berechtigt dazu, sie als die oberste Wirklichkeit zu bezeichnen“ (Berger und Luckmann 1970: 24). Dieses Zitat von Peter Berger und Thomas Luckmann soll im Folgenden zum Anlass genommen werden, den konstitutiven Zusammenhang von alltäglichem Handeln und alltäglicher Kommunikation darzustellen, mit besonderer Berücksichtigung der Stellung, den die neueren und neuesten Kommunikationsmedien innerhalb des Alltags in gegenwärtigen Gesellschaften einnehmen.
2. Alltag als basale Handlungswirklichkeit Die soziokulturelle Welt ist nicht aus vereinzelten Absichten hervorgegangen, sie ist mit der kollektiven Herausbildung bestimmter Tätigkeiten und Tätigkeitsfelder so entstanden, dass sie unabhängig von diesen Tätigkeiten und ihren Verfestigungen gar nicht existiert. Sie besteht nur im Zusammenhang der für sie konstitutiven Praktiken, ja, sie
60. Alltag ist dieser Zusammenhang. Das, was sich so herausbildet und erhält − Einrichtungen wie Sprache, Ehe, Geld, Recht, Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Kunst usw. − gibt es nur in der Verschränkung dieser Praktiken. Um die Besonderheiten dieser Realität zu betonen, haben Peter Berger und Thomas Luckmann (1970) in der Tradition von Max Weber, Georg Simmel und Alfred Schütz von einer „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ gesprochen. Soziale Wirklichkeit, so die zentrale These des Buches von Berger und Luckmann, muss immer doppelt gefasst werden: als objektives Faktum und als subjektiv gemeinter Sinn. Entscheidend ist hierbei die Auffassung, dass das Verständnis der in einer Gesellschaft Handelnden die Grundlage für das bildet, was die objektive, von den Intentionen Einzelner unabhängige Wirklichkeit dieses Handelns ausmacht. Soziale Wirklichkeit ergibt sich aus den pragmatischen Einstellungen der Menschen, die an ihr teilhaben. Sie resultiert aus den subjektiven Wahrnehmungen, intersubjektiven Bedeutungszuschreibungen und institutionellen Verfestigungen, die zusammen die Welt ihres Handelns ausmachen. Für die Soziologie ergibt sich hieraus eine zentrale methodische Maxime: „Die Wissenschaften, die menschliches Denken und Handeln deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den − in der natürlichen Einstellung verharrenden − Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt“ (Schütz und Luckmann 1979: 25). Der Alltag wird so als jener Realitätsbereich menschlicher Gesellschaften kenntlich, dem eine tragende Bedeutung für alle weiteren Formen des Denkens, Handelns und Erlebens zukommt. Die alltägliche Lebenswelt ist daher als der Bereich zu verstehen, an dem „der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt“ (Schütz und Luckmann 1979: 25). Der Alltag ist jene Dimension des Lebens, die sozialen Akteuren sowohl in seinen Wirkungen als auch in dem, was sie in ihm bewirken können, auf vielfältige Weise bekannt und vertraut ist. Dieser Begriff des Alltags verhält sich neutral gegenüber Oppositionen wie denjenigen zwischen Alltag und Festtag, Arbeitstag und Freizeit oder privatem und öffentlichen Leben. Er bezeichnet Strukturen weitgehend, aber nicht durchgehend eingespielter Praktiken der Lebensführung und der gesellschaftlichen Organisation in ihrer ganzen Breite − im Kontrast beispielsweise zu den Wirklichkeiten des Traums, der Fiktion oder der Wissenschaft (Schütz 1971). Entscheidend für diese Welt des Alltags sind jene „Konstruktionen ersten Grades“ − Gedanken, Verständnisse, Normen, Wissensformen −, die für die historischen Lebenswelten des menschlichen Handelns und Erlebens maßgebend sind. Ein zentraler Faktor sind zudem die Relevanzen, die verschiedenen Orientierungen und Verhaltensweisen im sozialen Leben zugewiesen werden. In ihren Ordnungen besteht wesentlich das, was unter den gegebenen historischen und kulturellen Umständen als primäre Wirklichkeit des sozialen Lebens gilt. Sie legen fest, was fraglos zählt und womit fraglos zu rechnen ist. Nur auf dieser Basis alltäglicher Selbstverständlichkeiten kann sinnvoll an Überzeugungen und Normen gezweifelt und können Lösungen für jeweilige Probleme gesucht und gefunden werden (vgl. auch Wittgenstein 1979). Auch solche Probleme und der Versuch ihrer Bewältigung gehören natürlich zur alltäglichen Praxis. Zunächst und zumeist aber gilt: „Die Wirklichkeit der Alltagswelt wird als Wirklichkeit hingenommen. Über ihre einfache Präsenz hinaus bedarf sie keiner zusätzlichen Verifizierung. Sie ist einfach da − als selbstverständliche, zwingende Faktizität“ (Berger
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III. Kulturen der Kommunikation und Luckmann 1970: 26). Dabei wird davon ausgegangen, dass Personen einen Großteil ihrer Erfahrungen routinemäßig − in Übereinstimmung mit ihrem Alltagsweltwissen − machen, dass sie also Ereignisse als unproblematisch wahrnehmen, wenn und solange sie mit ihrem vorhandenen Wissen übereinstimmen. Sie verlassen sich auf Typisierungen und Rezeptwissen, was es ihnen ermöglicht, nicht in jeder Situation erneut überlegen zu müssen, wie sie etwas einordnen, interpretieren, mit Bedeutung versehen sollen. Es muss jedoch beachtet werden, dass die „Alltagswelt nicht nur als wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung von jedermann hingenommen wird, sondern daß sie jedermanns Gedanken und Taten ihr Vorhandensein und ihren Bestand verdankt“ (Berger und Luckmann 1970: 25). Was sich weitgehend von selbst versteht, muss im Handlungsvollzug als Selbstverständlichkeit immer wieder reproduziert und bestätigt werden. Von entscheidender Bedeutung für diesen Wirklichkeitscharakter ist deshalb die Erfahrung der Intersubjektivität: „Die Wirklichkeit der Alltagswelt stellt sich mir ferner als eine intersubjektive Welt dar, die ich mit anderen teile. Ihre Intersubjektivität trennt die Alltagswelt scharf von anderen Wirklichkeiten. Ich bin allein in der Welt meiner Träume. Aber ich weiß, daß die Alltagswelt für andere ebenso wirklich ist wie für mich“ (Berger und Luckmann 1970: 25; vgl. Soeffner 2004). Dieses Bewusstsein einer gemeinsamen Welt − und damit zugleich: diese gemeinsame Welt − ist wesentlich an Prozeduren der Kommunikation gebunden. Beides, die Wirklichkeit des Alltags und ihre kommunikative Vergewisserung, ist wechselseitig voneinander abhängig. Denn allein zusammen mit der Interaktion und Kommunikation innerhalb des alltäglichen Lebens gewinnen die Situationen seines Vollzugs den Charakter einer mit anderen geteilten, objektiven Handlungswelt. Bereits in Georg Simmels phänomenologischen Analysen etwa der Geselligkeit oder der Mode (1983) wird die zentrale Bedeutung und Relevanz des Alltagslebens deutlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem das Buch von Henri Lefebvre (1972) sowie die Untersuchungen alltäglicher Interaktionsrituale durch Erving Goffman (1967), die den Alltag als soziologischen Untersuchungsgegenstand wieder ins Bewusstsein gerückt haben. Die besondere Rolle, die in diesem Kontext der alltäglichen verbalen wie nonverbalen Kommunikation zukommt, stellen insbesondere die Arbeiten Harold Garfinkels und die an seine Analysen anknüpfende ethnomethodologische Konversationsanalyse heraus, deren Ziel es in erster Linie ist, zu zeigen, dass Gesellschaftsmitglieder das, was sie „als objektive, unabhängig von ihrem Zutun existierende Tatsachen wahrnehmen und behandeln, erst in ihren Handlungen und Wahrnehmungen als solche konstruieren und hervorbringen“ (Bergmann 2008: 527). Damit Handelnde ihre Handlungen koordinieren können, muss intersubjektive Verständigung aktiv und fortlaufend situativ hergestellt werden. In einer Vielzahl von methodisch unterschiedlich angelegten empirischen Studien zeigt Garfinkel (1967), wie Handelnde sich untereinander verständigen und einfache wie hochkomplexe Interaktionen ausführen. Nach Garfinkel sind es die sogenannten Ethnomethoden, die Akteure im alltäglichen Handeln einsetzen, „um diese Handlungen ‚accountable‘, also identifizierbar, verstehbar, beschreibbar oder erklärbar zu machen“ (Eberle 1997: 248). Die Konversationsanalyse hat Garfinkels Programm, diese Ethnomethoden, als „phenomena in their own right“ zu untersuchen, sowohl radikalisiert als auch transformiert. Im Mittelpunkt der Analysen stehen hier die alltäglichen Gespräche selbst − ganz im Sinne von Emanuel Schegloffs berühmtem Diktum „The talk itself was the action“ (Schegloff 1992: xviii). Für die Analyse natürlicher Interaktionen in informellen und institutionellen Gesprächskontexten gilt es hier, auf dem Weg einer strikt
60. Alltag empirischen Analyse die formalen Strukturelemente und Praktiken zu bestimmen, mittels derer die Handelnden im Gespräch soziale Ordnung herstellen. Entsprechend hat Harvey Sacks an prominenter Stelle betont, dass es Aufgabe der Soziologie sei, soziale Aktivitäten in „natürlichen“ Settings anhand einer genauen Analyse zu beschreiben. Um der Faktizität von Gesprächen ganz unterschiedlicher Spielart theoretisch wie empirisch gerecht werden zu können, hat Thomas Luckmann zudem das Konzept „kommunikativer Gattungen“ entwickelt, das darauf zugeschnitten ist, die von den Teilnehmern an Verständigungsprozessen jeweils zu bewältigenden Orientierungsleistungen unverkürzt begreifen zu können. In der Untersuchung solcher Repertoires der Kommunikation, so Luckmanns zentrale These, lässt sich erforschen, „wie die soziale Vermittlung allgemeiner und individueller Orientierungen tatsächlich geschieht“ (Luckmann 1986: 206). Dieses Konzept kommunikativer Gattungen ist mit einem aussichtsreichen methodischen Programm verbunden: Es fordert dazu auf, Kontexte, Strukturelemente und Muster kommunikativer Vorgänge systematisch zu beschreiben, um auf der Grundlage struktureller Gemeinsamkeiten Typen zu bilden. Hierin nimmt es wichtige Anregungen aus der Interaktionsanalyse Goffmans, Garfinkels sowie der Konversationsanalyse auf. Nicht zuletzt auf diesem Weg hat die Erforschung des Alltags und seiner konstitutiven Strukturen als soziologischer Forschungsgegenstand zusätzliche Impulse erhalten (Bergmann 1987; Keppler 1988; Keppler and Luckmann 1992; Keppler 1994; Knoblauch 1995), die die Theorie einer wesentlich kommunikativen Konstruktion der sozialen Wirklichkeit bestätigen.
3. Mediale Lebenswirklichkeiten Die kommunikative Ausgestaltung der Alltagswelt freilich unterliegt durchaus einem historischen Wandel. So ist das alltägliche Leben in gegenwärtigen Gesellschaften immer stärker mit Elementen der technisch vermittelten Kommunikation verwoben. Die Kommunikation mit leibhaftig anwesenden anderen gehört ebenso zu den selbstverständlichen Vollzügen des Alltags wie der Gebrauch diverser Medien. Damit hat die Grundsituation lebensweltlicher Orientierung eine durchaus neue Gestalt gewonnen. Traditionelle Formen des Wissenserwerbs sind durch eine spezifische Form der medialen Erfahrung erweitert worden, in denen die Subjekte in einem Bezug zu Situationen stehen, die ihrem handelnden Eingriff mehr oder weniger stark entzogen sind. Liveübertragungen im Fernsehen, Telefongespräche und Videokonferenzen, Praktiken des Twitterns oder des Chattens ermöglichen die Erfahrung einer (momentan oder dauerhaft) leiblich unerreichbaren Welt und zugleich eines permanenten Hineinreichens der einen in die andere. Die Wahrnehmung von Situationen jenseits der eigenen leiblich-praktischen Situation kann und muss dabei von dem Subjekt dieser mittelbaren Wahrnehmung gleichwohl auf die eigene Situation bezogen werden. Die Situation der medialen Wahrnehmung ist also immer eine Situation der Aneignung der medialen Präsentationen. Durch diese Aneignung werden mediale und reale Situation miteinander verzahnt. Sie vollzieht sich als interpretative und kommunikative Handlung innerhalb der alltäglichen Situation, in der dem jeweils Wahrgenommenen eine Bedeutung im Kontext des bisher Bekannten verliehen wird. Angesichts dieser Diagnose könnte die Vermutung naheliegen, die modernen Kommunikationsmedien hätten die sozialbildende Kraft der alltäglichen Face-to-Face-Kom-
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III. Kulturen der Kommunikation munikation unterhöhlt oder seien dabei, sie zu unterhöhlen. Im Zeitalter eines rapiden kommunikationstechnischen Wandels, würde dies bedeuten, kommt der direkten interpersonalen Verständigung die Macht einer Aus- und Umbildung sozialer Orientierungen mehr und mehr abhanden. Demgegenüber jedoch zeigen empirische Untersuchungen, dass dem beiläufigen alltäglichen Gespräch auch und gerade im Zeichen der neuen und neuesten Kommunikationstechnologien eine tragende Bedeutung für den Zusammenhalt moderner Gesellschaften zukommt. Sowohl diverse Medieninhalte (aus Zeitung, Radio, Film und Fernsehen sowie zunehmend aus dem Internet) als auch die Hardware der technisch gestützten Kommunikation (in Gestalt von Smartphones, Laptops etc.) sind zu einem wesentlichen Bezugspunkt und Bestandteil der alltäglichen Konversation geworden (vgl. Kepplinger und Martin 1986; Keppler 1994; Krotz 2001; Gehrau und Goertz 2010). Auch und gerade in den medial geprägten Lebenswirklichkeiten der Gegenwart, bedeutet dies, behält die interpersonale Kommunikation unter leibhaftig Anwesenden eine zentrale Funktion bei der Koordination und Konfiguration der alltäglichen Praxis. Neu hingegen ist, dass das mediale Geschehen in die alltäglichen Formen des diskursiven Geschehens systematisch integriert wird. Vor allem in der kommunikativen Verarbeitung innerhalb des lebensweltlichen Handelns entfaltet es seine entscheidenden Wirkungen, durch die es über den Moment hinaus einen Einfluss auf den Orientierungshaushalt einer Gesellschaft hat. In der Praxis gerade der eher beiläufigen alltäglichen Gesprächsformen bilden sich verlässliche soziale Praktiken aus − auch und insbesondere in Zeiten einer expandierenden Medientechnologie. Jüngere Untersuchungen zum Small Talk etwa verdeutlichen, dass dieser zwar „funktional vielseitig“, aber gerade deshalb „für die soziale Interaktion im Ganzen zentral“ ist und dass seine Hauptfunktion in der Herstellung von „Soziabilität und sozialem Zusammenhalt“ liegt (Coupland 2000). Andere Studien zeigen, wie beiläufige Gespräche dazu geeignet sind, in kleineren sozialen Gruppen moralische Grenzen auszuloten oder neue Formen der Intimität, des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit herzustellen (z. B. Fix 2008; Züger 1998; De Stefani und Mondada 2010). In Untersuchungen dieser Art wird deutlich, dass es auch heute noch tatsächlich die „kleinen“ alltäglichen Gattungen der Kommunikation sind, die eine Hauptlast der Aneignung handlungsleitenden Wissens und vor allem der Regelung sozialer Zugehörigkeiten tragen. Es sind nicht allein und oft gar nicht so sehr die vergleichsweise „erhabenen“ Gesprächsformen wie z. B. der argumentative Dialog, an dem sich Platon orientiert, der öffentliche Disput, die therapeutische Redekur oder selbst das „Beziehungsgespräch“ unter Paaren, die eine Koordination und Transformation kultureller Orientierungen leisten, sondern in erster Linie die Gattungen des beiläufigen Redens. Diese nur vermeintlich marginalen Praktiken stellen eine basale Form des kommunikativen Handelns und damit der Erschließung der alltäglichen Lebenswelt dar. Auf dem aktuellen Forschungsstand spricht somit vieles für die Auffassung, dass sich auch und gerade in Zeiten einer expandierenden Medientechnologie verlässliche soziale Praktiken vor allem in den Gesprächsformen des Alltags ausbilden. Der Wandel der Verständigungsverhältnisse, in dem wir dieser Tage so unübersehbar stehen, vollzieht sich nach wie vor entscheidend innerhalb der Face-to-Face-Kommunikation, in dem diese zwar ein zunehmend verändertes Gesicht gewinnt, ohne aber damit ihre Bedeutung für die Erzeugung individueller wie gemeinschaftlicher Orientierungen zu verlieren. Der Alltag der Menschen ist und bleibt eine wesentlich kommunikative Praxis, in der jene Selbstverständlichkeiten, Routinen und Rezepte der Lebensführung und des Zusammen-
60. Alltag lebens hervorgebracht, erhalten, erprobt und auf leisen Sohlen verändert werden, die den Nährboden der sozialen Wirklichkeit bilden.
4. Literatur (in Auswahl) Berger, Peter L. und Thomas Luckmann 1970 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Fischer. Bergmann, Jörg 1987 Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. Berlin/New York: de Gruyter. Bergmann, Jörg 2008 Konversationsanalyse. In: Uwe Flick, Ernst von Kardorff und Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, 524−537. Reinbek bei Hamburg: Rowohlts Enzyklopädie. Coupland, Justine (ed.) 2000 Small Talk. Harlow u. a.: Longman. De Stefani, Elwys und Lorenza Mondada 2010 Die Eröffnung sozialer Begegnungen im öffentlichen Raum. Die emergente Koordination räumlicher, visueller und verbaler Handlungsweisen. In: Lorenza Mondada und Reinhold Schmitt (Hg.), Situationseröffnungen. Zur multimodalen Herstellung fokussierter Interaktion, 103−170. Tübingen: Narr. Eberle, Thomas 1997 Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Ronald Hitzle und Anne Honer (Hg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, 245−279. Opladen: Leske + Budrich. Fix, Ulla 2008 Die Gattung „Moralisierender Spruch“. Zur Form und Funktion von gereimten moralischen Appellen. In: dies., Texte und Textsorten − sprachliche, kommunikative und kulturelle Phänomene, 215−228. Berlin: Frank & Timme. Garfinkel, Harold 1967 Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Gehrau, Volker und Lutz Goertz 2010 Gespräche über Medien unter veränderten medialen Bedingungen. In: Publizistik 55(2), 153−172. Goffman, Erving 1967 Interaction Ritual. Essays in Face-to-Face Behavior. Chicago: Aldine. Goffman, Eerving 1981 Forms of Talk. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Keppler, Angela 1988 Beispiele in Gesprächen. Zu Form und Funktion exemplarischer Geschichten. In: Zeitschrift für Volkskunde 84(I), 39−57. Keppler, Angela 1994 Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Keppler, Angela and Thomas Luckmann 1992 „Teaching“. Conversational Transmission of Knowledge. In: Ivana Markova and Klaus Foppa (eds.), Asymmetries in Dialogue, 143−165. Hempstead: Prentice Hall. Kepplinger, Hans Mathias und Verena Martin 1986 Die Funktion der Massenmedien in der Alltagskommunikation. In: Publizistik 31, 118−128. Knoblauch, Hubert 1995 Kommunikationskultur: die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin/ New York: de Gruyter.
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III. Kulturen der Kommunikation Krotz, Friedrich 2001 Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch Medien. Opladen: Westdeutscher Verlag. Lefebvre, Henri 1972 Das Alltagsleben in der modernen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luckmann, Thomas 1986 Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens. Kommunikative Gattungen. In: Friedhelm Neidhardt, Rainer M. Lepsius und Johannes Weiß (Hg.), Kultur und Gesellschaft (Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), 191−211. Sacks, Harvey 1963 Sociological Description. In: Berkeley Journal of Sociology 8, 1−17. Schegloff, Emanuel A. 1992 Introduction. In: Harvey Sacks, Lectures on conversation. Vol. 1, ix−lxii. Ed. by Gail Jefferson. Oxford: Blackwell. Schütz, Alfred 1971 Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten. In: ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, 237−298. Den Haag: Nijhoff. Schütz, Alfred und Thomas Luckmann 1979 Strukturen der Lebenswelt. Bd 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Simmel, Georg 1983 Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Soeffner, Hans-Georg 2004 Die Auslegung des Alltags − Der Alltag der Auslegung. Konstanz: UVK. Wittgenstein, Ludwig 1979 Über Gewissheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Züger, Katrin 1998 Säg öppis! − Phatische Sprachverwendung. Eine linguistische Untersuchung anhand von schweizerdeutschen Gesprächen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Bern u. a.: Lang.
Angela Keppler, Mannheim (Deutschland)
Metadiskurse Metadiscourses 61. Erinnerungskulturen 1. 2. 3. 4.
Einleitung Erinnerung/Gedächtnis Kultur(en) Erinnerungskultur(en)
5. Der Holocaust und eine transnationale europäische Erinnerungskultur 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Der zweiteilige Terminus Erinnerungskulturen führt in einer merkwürdigen Mischung aus Singularitäten und Pluralitäten Heterogenes zusammen. Erinnerung zielt im Deutschen eher auf den individuellen und subjektiven Akt eines Bezugs auf die Vergangenheit (während Gedächtnis meist den Bestand, auf den man zugreift, meint und von daher oft als Archiv vorgestellt wird [Weinberg 2006b]). Der Begriff der Kultur aber bezieht sich stets auf eine Gesellschaft (oder ihre Untereinheiten − etwa „Jugendkultur“, Subkulturen etc.). Im Begriff der Erinnerungskultur wird somit das Einfache des Erinnerns (Individuum, Akt) auf ein mit anderen Geteiltes (von daher: Allgemeines und notwendig Vielfältiges) hin geöffnet; er nimmt so Maurice Halbwachs schon Mitte des 20. Jahrhunderts geäußerte These vom kollektiven Gedächtnis auf, dass das Individuum in seinen Erinnerungen gezwungen sei, sich auch auf Dinge zu beziehen, „die außerhalb seiner selbst liegen und von der Gesellschaft festgelegt worden sind“ (Halbwachs [1950] 1967: 35). Umgekehrt bindet er die allgemeine Kultur an das Erinnern der Einzelnen zurück. Im Plural des Begriffs Erinnerungskulturen werden zudem offensichtlich Weisen des kollektiven Umgangs mit Erinnerungen unterschieden, was wiederum zwei Voraussetzungen hat: Zum einen wird die Einheit einer Erinnerungskultur (etwa als national spezifisch) unterstellt, zum zweiten, dass sich diese signifikant von anderen Erinnerungskulturen unterscheidet. Solche Einheitlichkeit wird jedoch spätestens in einer globalisierten Welt fragwürdig, da sich − vor dem Hintergrund weltweiter Migrantenströme und in der Folge zunehmender kultureller Heterogenität − Containermodelle von (National-)Kultur als (nun auch offensichtlich) untauglich erweisen. So sehr der Begriff der Erinnerungskulturen also eines der Leitparadigmen der Kulturwissenschaften (vgl. A. Assmann 2002) respektive kulturwissenschaftlich reformierter Einzelwissenschaften, insbesondere der Geschichtsschreibung, darstellt, so sind ihm doch schon als Begriff unauflösliche Unschärfen eingeschrieben.
2. Erinnerung/Gedächtnis Zunächst sind hier die drei Urszenen des abendländischen Nachdenkens über Erinnerung und Gedächtnis − Platons Anamnesis-Lehre mit ihrer Auszeichnung des Inneren des
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III. Kulturen der Kommunikation Menschen, Hesiods Anrufung der Musen als Töchter der Göttin Mnemosyne in seiner Theogonie und die Legende von Simonides von Keos als Legitimierung der Platzierung sogenannter imagines (Merkbilder) an bestimmten loci (Orte) in einem vorgestellten Raum im Rahmen der rhetorischen Mnemotechnik − zu nennen, weil schon sie den subjektiven Erinnerungsakt mit einem (vermeintlich) objektiv Wahren verbinden, das von allen geteilt wird (alle Seelen haben bei Platon in ihrem vorgeburtlichen Flug die gleichen Ideen gesehen; durch die musisch inspirierte Rede kommt bei Hesiod göttliche Wahrheit in die Welt; Simonides’ Fähigkeit, die von einem eingestürzten Haus verstümmelten Leichen durch die Erinnerung an ihren Sitzplatz zu identifizieren, richtet sich an das Gesamt der Angehörigen). Ihnen ist zudem wie allen weiteren abendländischen Gedächtnistheorien jeweils ein Widerspiel von Unendlichkeit/Unfassbarkeit, die in den Urszenen durch den Verweis auf göttliche Instanzen respektive Räume in Erscheinung tritt, und Thematisierung/Vereinheitlichung eigen, die jede ungebrochene Einheit von Erinnerung(en)/Gedächtnis zuletzt nur als Akt des Vergessens zu denken erlaubt (vgl. Weinberg 2006a). Weit deutlicher als die anderen Urszenen fokussiert die SimonidesLegende auf die Kommunizierbarkeit auswendiger Zeichen. Die Rhetorik begriff das Gedächtnis als ars, während es nach ihrem Tod im 18. Jahrhundert zunehmend als vis, als innerliche Kraft des Individuums, verstanden wurde (vgl. A. Assmann 1993: 359). Die Rückwendung zu einer rhetorischen, der Auswendigkeit verpflichteten Fassung des Gedächtnisses im Gefolge des Poststrukturalismus hat ihre Vorläufer in der verstärkten Thematisierung eines „sozialen“ (Warburg 1992: 308) oder „kollektiven“ (Halbwachs 1967) Gedächtnisses in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Profilierung des „kulturellen Gedächtnisses“ in seiner heute meist vorausgesetzten Form geht auf Jan Assmann zurück, der dieses von einem „mimetische[n] Gedächtnis“, einem „Gedächtnis der Dinge“ und einem „kommunikative[n]“ Gedächtnis (der meist drei zeitgleich lebenden Generationen) (vgl. J. Assmann 1992: 20) durch eine ausdrückliche Überlieferung von Sinn abgrenzt − und es als „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten“ versteht, „in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt“ (J. Assmann 1988: 15). Wenn Assmann hinzufügt, welche Vergangenheit die Gesellschaft darin „in der Wertperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten lässt, sagt etwas über das, was sie ist und worauf sie hinauswill“ (J. Assmann 1988: 16), wird deutlich, dass immer auch die Zukunft mit im Spiel ist. Dies wirft hinsichtlich der Erinnerungskulturen die Frage auf, wessen Erwartungen sich (auf der Grundlage welcher Machtkonstellationen) in einem kollektiven Erinnern durchsetzen.
3. Kultur(en) Der etymologisch auf den Ackerbau zurückgehende Begriff der Kultur findet seinen ersten Bezug auf die geistige Sphäre in der Rede von einer cultura animi bei Cicero (1970: 124), wird im 17. Jahrhundert auf Gemeinschaften (hier vor allem in Frontstellung zur Natur, etwa als Differenzierung von status naturalis und status culturalis bei Samuel von Pufendorf) bezogen und im 18. Jahrhundert (u. a. bei Johann Gottfried Herder) historisiert. Die Diskussion um die Frage, was Kultur sei, war dann noch einmal in besonderer Weise für die Ethnographie (als Erkundung fremder Kulturen) relevant. Ed-
61. Erinnerungskulturen ward B. Tylor nennt 1871 Kultur „that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society“ (Tylor [1871] 1920: 1). Clifford Geertz (vgl. Artikel 14) hat später Kultur als „Lebensweise eines Volkes“, aber auch kleinerer Einheiten („Klassen, Regionen, ethnische Gruppen, Minderheiten“ etc.) bestimmt: „Arten und Weisen, wie man etwas tut, ausgeprägt und charakteristisch“ (Geertz 1997: 53) − und die Möglichkeit eben solcher Einheitlichkeit gleich wieder infrage gestellt. Aktuelle Debatten stehen im Zeichen der Begriffe „Multi-“, „Pluri-“, „Trans-“ (Langenohl, Poole und Weinberg 2015) oder „Interkulturalität“ (Rieger, Schahadat und Weinberg 1999). All diese Paradigmen sind dabei geprägt von einer zuletzt räumlichen Modellierung, was der Fokussierung eher des Bestands als der einzelnen Erinnerungsakte bei Jan Assmann korrespondiert.
4. Erinnerungskultur(en) Demgegenüber stellt das Konzept der Erinnerungskulturen im Wesentlichen von Raum auf Zeit um. Es geht um Akte des Erinnerns, die ein vergangenes Ereignis oder Ereigniszusammenhänge sinnhaft vergegenwärtigen und so eine Kultur hervorbringen oder stabilisieren. Derlei Akte reichen vom Privaten − Familienalben, -feiern, Ahnenforschung − bis hin zum Öffentlichen, zum Beispiel eines Staates etwa mit seinen Nationalfeiertagen. Jeder Erinnerungskultur eignet dabei einerseits eine Vereinheitlichung der erinnerten Vergangenheit respektive ihres im Erinnern etablierten Sinns, andererseits aber konkurrieren schon in Familien, erst recht jedoch in größeren Entitäten durchaus verschiedene Fassungen vergangener Ereignisse. Gerade die vorauszusetzende Uneinheitlichkeit des Erinnerns erlaubt dabei auch den Wandel des qua Erinnerung zugeschriebenen Sinns. In der Fokussierung auf die (Erinnerungs-)Akte, die Kultur(en) erst ermöglichen, ist eine besondere Beachtung der Zeichen, mit denen das geschieht, immer schon angelegt, weshalb sich dieses Konzept am ehesten an die oben erwähnte Mnemotechnik anschließen lässt. Auf dieser Ebene ist dann allerdings jeweils ein Anlass (sei er räumlicher oder zeitlicher Art) vorauszusetzen, der zu einer Bestätigung oder Modifizierung kultureller Sinnzuschreibung führt. Diese Anlässe können ganz unterschiedlicher Art sein (Denkmale, Gedenkstätten, Museen, Bauten, Straßenbezeichnungen, Feste/Feiern, Rituale, Fotografien, Kunstwerke, aber auch [literarische] Texte etc. pp.). Die besondere Stellung der Sprachzeichen (indem sie andere Erinnerungszeichen meist begleiten oder sich ihnen auflagern) lässt sich dabei auch so fassen, dass sich die Zuschreibung kulturellen Sinns zuletzt notwendig als Erzählung vollzieht (vgl. Koschorke 2012). Angesichts dieser besonderen Stellung der Sprachzeichen verwundert es, dass die Frage nach den Erinnerungskulturen bisher in der Sprachwissenschaft so gut wie kein Echo gefunden hat. Der Begriff der „Erinnerungskulturen“ tauchte zunächst in Feuilletons auf und wurde erst seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem (geschichts)wissenschaftlichen Begriff. Als Grund dafür lässt sich unter anderem eine deutliche Abnahme des Fortschrittsoptimismus nominieren (Jürgen Habermas sprach von einer „Erschöpfung utopischer Energien“ [Habermas 1985]), was den Blick zurück (und dessen Erforschung) nahelegte. Das Konzept der „Erinnerungskulturen“ führte aber auch zu einer Grundsatzdiskussion über das Verhältnis von Erinnerung und Geschichtsschreibung, deren Differenz einige entschieden gewahrt wissen wollten, während andere darauf hinwiesen, dass auch
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III. Kulturen der Kommunikation die Fachwissenschaft durchaus nicht frei von „praktischen Orientierungsbedürfnissen“ (Cornelißen 2010) sei. Reflexionen des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Erinnerung hatte es allerdings selbstverständlich auch schon zuvor gegeben. Prominentester Zeuge ist Friedrich Nietzsche mit seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in der er dem Tier attestiert, ahistorisch durchaus glücklich zu leben, während der Mensch durch sein Erinnerungsvermögen eben zur Kultur befähigt sei. Die Menge des individuell Erinnerten und kollektiv Bewahrten könne aber auch zu groß werden, „so dass ein Uebermaass der Historie dem Lebendigen schade“ (Nietzsche 1988: 258) − und Vergessen zur Bedingung der Möglichkeit von individuellem wie gesellschaftlichem menschlichen Leben werde. Sein ab 1984 in fünf Bänden publiziertes Unternehmen der Lieux de Mémoire hat Pierre Nora als „eine in die Tiefe gehende Analyse der ‚Orte‘ − in allen Bedeutungen des Wortes − […], in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat“ (Nora 1998: 7), beschrieben. Ein solcher Zugang zur Geschichte der eigenen Nation fand bald europaweit Nachahmer. Etienne François und Hagen Schulze schreiben im Vorwort zu Deutsche Erinnerungsorte, es gehe um „die Generationen überdauernden Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ (François und Schulze 2001: 18), was allein schon die oft übermäßige Vereindeutigung des so Beschriebenen deutlich macht. Im Verweis auf die Gedächtnistheorien Nietzsches, Halbwachs’ und Noras hat Aleida Assmann ein bewohntes von einem unbewohnten Gedächtnis unterschieden; Identität wie radikale Differenz von Gedächtnis und Geschichte dementierend, schlägt sie die Begriffe „Funktionsgedächtnis“ und „Speichergedächtnis“ als „komplementäre[ ] Modi der Erinnerung“ vor. Auf der Ebene des Funktionsgedächtnisses würden „Erinnerungen und Erfahrungen verfügbar gehalten, indem sie in eine bestimmte Sinnkonfiguration gebracht werden“ (A. Assmann 1999: 134); dagegen bildeten die „Elemente des SpeicherGedächtnisses [...] jenen Fond, der sich, aus welchen Gründen auch immer, zu einem gegebenen Zeitpunkt der Verfügung entzieht“ (A. Assmann 1999: 135). Vor diesem Hintergrund steht das Modell der Erinnerungskulturen für die gezielte Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse durch Archivierung, Dokumentation, mediale Darstellung und andere öffentlichkeitswirksame Maßnahmen; einzubeziehen sind auch die Erhaltung, Restaurierung und Wiedererrichtung von historischen Bauwerken, die dann als Merkzeichen für ein bestimmtes Verständnis der eigenen Geschichte dienen − etwa als intendierte Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes bei der Dresdner Frauenkirche oder als Integration von Ruinen in ein neues Bauensemble bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin (und somit mahnender Bezug auf die zur Zerstörung führende Geschichte). In dieser Hinsicht kann der Abriss des Berliner Palasts der Republik als ein Vergessenmachen der untergegangenen DDR verstanden werden, während das an dessen Stelle wieder aufzubauende Berliner Stadtschloss andere Stränge der deutschen Vergangenheit in Erinnerung rufen soll. Die Spannweite der Effekte von Akten einer Erinnerungskultur reicht von der Neuprofilierung des Sinns eines historischen Ereignisses (vgl. Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, der den 8. Mai 1945 darin erstmals offiziell entschieden als „Tag der Befreiung […] von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ [Weizsäcker 1985] beschrieb, woran danach kaum je wieder gerüttelt wurde), der Bestätigung bisheriger Denkweisen über Vergangenes bis hin zu einer auch möglichen damnatio memoriae, indem bestimmte Ereignisse und Personen aus der nationalen Geschichte tabuisiert werden, wofür der Völker-
61. Erinnerungskulturen mord an den Armeniern im Horizont der türkischen Erinnerungskultur als Beispiel dienen kann.
5. Der Holocaust und eine transnationale europäische Erinnerungskultur Zunächst ist der Holocaust zentraler Bestandteil der deutschen wie israelischen (respektive jüdischen) Erinnerungskultur (vgl. Rupieper 2000). In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg war in Deutschland allerdings erst einmal von ihm nicht die Rede; es herrschte eine „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967), die auf einen grundsätzlichen Unwillen zur Erinnerung rückführbar ist. Erst der Jerusalemer Eichmann-Prozess (1961), die Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963−1968) und schließlich die Fragen der 68er-Generation an ihre Väter (und Mütter) führten im Verbund mit einer sich verstärkenden historischen Forschung zu einer auf den Holocaust bezogenen deutschen Erinnerungskultur. Diese drückte sich spät auch in Gedenkstätten aus, die allesamt von der Unfassbarkeit/Undarstellbarkeit dieses Ereignisses geprägt sind. Andreas Huyssen sieht allerdings angesichts der Masse der errichteten Gedenkstätten in Deutschland inzwischen eine „memory-mania of truly monumental proportions“ (Huyssen 1999: 191), von der gelte: „The more monuments there are, the more the past becomes invisible, the easier it is to forget“; es gehe tatsächlich um „Entsorgung, the public disposal of radiating historical waste“ (Huyssen 1999: 193). Im Gefolge des Falls des Eisernen Vorhangs 1989, der ja auch noch einmal in neuer Weise die Völker ehemaliger Täter und ehemaliger Opfer des 2. Weltkriegs konfrontierte, fanden sich Bestrebungen, das Gedenken an den Holocaust zu europäisieren/internationalisieren (Welzer 2007; Moisel und Eckel 2009) − so auf der Internationalen HolocaustKonferenz Anfang 2000 in Stockholm oder durch die Deklarierung des 27. Januar als Tag der Befreiung des KZ Auschwitz als offizieller Gedenktag durch viele Staaten der Europäischen Union. Allerdings gestaltet sich eine solche Vereinheitlichung angesichts des bisherigen je ganz unterschiedlichen Umgangs mit diesem Ereignis durchaus schwierig − auch, weil es von anderen, wiederum unterschiedlich bewerteten Ereignissen (im Fall von Deutschland einerseits und Polen/Tschechien andererseits: der Vertreibung [vgl. Cornelißen, Holec und Pešek 2005]) überlagert wird. Zu fragen bleibt auch, ob eine Universalisierung der Erinnerung an den Holocaust nicht vor allem eine Entkonkretisierung des Gedenkens zur Folge hat. Nach dem Untergang des Kommunismus sehen sich die Länder des ehemaligen Warschauer Paktes vor das Problem gestellt, einen angemessenen Rückbezug auf diesen an die Stelle des bisher noch vorherrschenden Verdrängens und Verschweigens zu setzen (Haslinger 2007; Troebst 2005), was gelegentlich von der Mahnung begleitet wird, über den Holocaust die im Namen des Stalinismus begangenen Verbrechen nicht zu vergessen. Während zuletzt von einer europäischen Kultur nur die Rede sein kann, wenn es auch ein einheitliches Erinnern entscheidender gemeinsamer historischer Ereignisse gibt (vgl. die dreibändige Publikation Europäische Erinnerungsorte [Boer et al. 2012]), so steht dem doch die jeweils ganz andere Rolle einzelner Staaten in dieser Geschichte entgegen, deren Unterschiedlichkeit durch eine solche Vereinheitlichung vergessen (gemacht) würde.
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III. Kulturen der Kommunikation
6. Literatur (in Auswahl) Assmann, Aleida 1993 Die Wunde der Zeit − Wordsworth und die romantische Erinnerung. In: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Erinnern und Vergessen, 359−382. (Poetik und Hermeneutik XV.) München: Fink. Assmann, Aleida 1999 Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck. Assmann, Aleida 2002 Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften. In: Lutz Musner und Gotthart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung − Praxis − Positionen, 27−45. Wien: Universitätsverlag. Assmann, Aleida 2006 Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck. Assmann, Jan 1988 Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: ders. und Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, 9−19. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Assmann, Jan 1992 Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck. Boer, Pim den, Heinz Durchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale 2012 Europäische Erinnerungsorte. 3 Bde. München: Oldenbourg. Cicero, M(arcus) Tullius 1970 Gespräche in Tusculum. Lateinisch−Deutsch. 2. Aufl. München: Artemis und Winkler. Cornelißen, Christoph 2003 Was heißt Erinnerungskultur? Begriff − Methoden − Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54, 548−563. Cornelißen, Christoph 2010 Erinnerungskulturen, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 2. 2010. Online unter: https://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen?oldid=75513 (letzter Aufruf 27. 11. 2015). Cornelißen, Christoph, Roman Holec und Jiři Pešek (Hg.) 2005 Diktatur − Krieg − Vertreibungen. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen: Klartext. François, Etienne und Hagen Schulze (Hg.) 2001 Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München: Beck. Geertz, Clifford 1997 Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten. München: Beck. Habermas, Jürgen 1985 Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien. In: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, 141−163. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Halbwachs, Maurice [1950] 1967 Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke. Haslinger, Peter 2007 Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der historischen Forschung zum östlichen Europa. In: zeitenblicke 6(2). Online unter: www.zeitenblicke.de/2007/2/haslinger/ index_html (letzter Aufruf 27. 11. 2015). Huyssen, Andreas 1999 Monumental Seduction. In: Mieke Bal, Jonathan Crewe and Leo Spitzer (eds.), Acts of Memory. Cultural Recall in the Present, 191−207. Hanover/London: Dartmouth.
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Koschorke, Albrecht 2012 Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: Fischer. Langenohl, Andreas, Ralph Poole und Manfred Weinberg 2015 Transkulturalität. Klassische Texte. Bielefeld: transcript. Mitscherlich, Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper. Moisel, Claudia und Jan Eckel (Hg.) 2009 Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive. Göttingen: Wallstein. Nietzsche, Friedrich 1988 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, 243−334. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Nora, Pierre 1998 Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer. Rupieper, Hermann-Josef 2000 Der Holocaust in der deutschen und israelischen Erinnerungskultur. Halle: MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Troebst, Stefan 2005 Postkommunistische Erinnerungskulturen im östlichen Europa. Bestandsaufnahme, Kategorisierung, Periodisierung. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego. Tylor, Edward [1871] 1920 Primitive Culture. New York: John Murray. Warburg, Aby M. 1992 Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. v. Dieter Wuttke. 3. Aufl. Baden-Baden: Koerner. Weinberg, Manfred 2006a Das „unendliche Thema“. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie. Tübingen: Francke. Weinberg, Manfred 2006b Gedächtnis/Erinnerung/Memoria/Mnemotechnik. In: Achim Trebeß (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik, 126−129. Stuttgart/Weimar: Metzler. Weizsäcker, Richard von 1985 Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Online unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/ Reden/1985/05/19850508_Rede.html (letzter Aufruf 29. 03. 2016). Welzer, Harald (Hg.) 2001 Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition. Welzer, Harald (Hg.) 2007 Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer.
Manfred Weinberg, Prag (Tschechische Republik)
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III. Kulturen der Kommunikation
62. Wissenskulturen 1. Einleitung 2. Der Begriff Wissenskultur in den Kulturwissenschaften 3. Aspekte eines kulturwissenschaftlichen Begriffs der Wissenskultur
4. Wissenschaft als Wissenskultur 5. Nichtwissenschaftliche Wissenskulturen 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Der Begriff Wissenskulturen ist in vielerlei Hinsicht unscharf. Er vereint die bereits vieldeutigen Begriffe Wissen und Kultur. Hinzu kommt das Pluralmorphem, das in kulturwissenschaftlichem Kontext zumeist als Ausdruck und Ausweis der Reflektiertheit von Differenz und Diversität gebraucht wird. Aus dieser Kombination kann von dem Kompositum Wissenskulturen kaum Eindeutigkeit oder auch nur eine gewisse Klarheit erwartet werden. Dennoch wird der Ausdruck Wissenskulturen vielfältig verwendet. Unter historischer Perspektive meint er meist Wissenschafts- und/oder Technikgeschichte (vgl. Rheinberger 2007). Der Ausdruck Kultur im Sinne von Wissenskulturen wurde prominent von Charles Percy Snow eingeführt (1959), der „Intellektuelle“ mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund und Naturwissenschaftler unterschied und diesen in plakativer Weise bestimmte Merkmale zuordnete. Diese Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, meist als Ringen der Ebenbürtigkeit der Naturwissenschaft mit der Geisteswissenschaft, stellt letztlich einen Kampf um die Legitimität als Wissenschaft dar. Sie findet sich bis in die Gegenwart etwa bei den Science Wars, ausgelöst durch Sokals Scherztext (Sokal und Bricmont 1999), oder aber auch bei der öffentlichen Debatte um den Bildungsbegriff zwischen Dietrich Schwanitz (1999) und Ernst Peter Fischer (2001). Bei der Rede von verschiedenen „Kulturen“ handelt es sich meist nicht um das tatsächliche Untersuchen verschiedener Umgangsweisen und sozialer Werthaltungen, sondern um einen Kampfbegriff zur Delegitimierung der „nutzlosen“ oder „leeren“ Geisteswissenschaften. Dies gilt auch für den Begriff der sogenannten „Dritten Kultur“ (Brockman 1996). Der Ausdruck Wissenskultur wird auch im ökonomischen Kontext im sogenannten „Wissensmanagement“ verwandt (vgl. Detel 2007: 670; Bohinc 2003) und meint dabei etwa die Art und Weise, mit unternehmensrelevantem Wissen umzugehen, sodass dieses einen möglichst hohen und nachhaltigen Beitrag für die Wertschöpfung des Unternehmens liefert.
2. Der Begriff Wissenskultur in den Kulturwissenschaften Für die Kulturwissenschaften relevant wird der Begriff Wissenskulturen mit der Anwendung kulturwissenschaftlicher Konzepte auf die Erforschung von Wissenschaft, insbesondere in den Science Studies. In diesem Kontext prominent eingeführt wurde der Be-
62. Wissenskulturen griff Wissenskulturen von Knorr Cetina (2002) durch ihre gleichnamige Monographie (vgl. auch Fried und Kailer 2003). Sie versteht unter Wissenskulturen „diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die, gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebot bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen. Wissenskulturen generieren und validieren Wissen“ (Knorr Cetina 2002: 11). Zwar ist der Begriff der Wissenskultur bei Knorr Cetina allgemeiner angelegt − sie bezieht sich unter anderem auf den Kulturbegriff von Clifford Geertz (1987; vgl. Artikel 14) −, tatsächlich handelt es sich in ihrer Studie um zwei Untersuchungen im Bereich der Naturwissenschaften (Molekularbiologie und Teilchenphysik), die an die soziologische Forschungstradition der Laborstudien und der Science Studies anschließen (vgl. Knorr Cetina 1984). Für Knorr Cetina stellt der Begriff der Wissenskultur eine angemessenere Alternative zu den Begriffen Disziplin oder auch Spezialgebiet dar. Von einer Einheitlichkeit der Naturwissenschaft oder gar der Wissenschaft kann man daher nach Knorr Cetina nicht mehr sprechen. Als entscheidend für ihre Untersuchung hat sich dabei der Fokus auf den Maschinenpark der Erkenntnisgewinnung herausgestellt, der bestimmte Sozialformen der Erkenntnisgewinnung ein- bzw. ausschließt. Insgesamt werden in ihrer Analyse somit symbolische, soziale und technische Faktoren berücksichtigt.
3. Aspekte eines kulturwissenschaftlichen Begriffs der Wissenskultur Es sollen nun Aspekte eines Begriffs der Wissenskultur vorgestellt werden, die einerseits weit genug sind, um nicht nur wissenschaftliches, sondern auch nichtwissenschaftliches Wissen zu erfassen, andererseits sollen die folgenden Kriterien es auch ermöglichen, anzugeben, wann eben nicht von Wissenskultur gesprochen werden kann. Zunächst sollen einige Voraussetzungen eingeführt werden, die sich normalerweise allgemein mit dem Kulturbegriff oder dem Wissensbegriff verbinden, um dann spezifisch auf einige Kriterien des Begriffs Wissenskultur als Kompositum einzugehen.
3.1. Kultur als Sinnzusammenhang Nach Clifford Geertz stellt eine Kultur einen von Menschen geschaffenen Sinnzusammenhang dar, der ihm dann als scheinbar objektive, „sinnvolle“ Kohärenz wieder entgegentritt. Die Arbitrarität von Kultur und deren Gebundenheit an eine mehr oder weniger große Gruppe menschlicher Akteure werden jedoch etwa im Kulturkontakt durch die Erfahrung der Fremdheit deutlich. Die kulturelle Kohärenz ist immer sinnüberschüssig und kann daher nicht mit einer Beschreibung von physischem Verhalten reduziert werden, vielmehr kommt es nach Geertz darauf an, deren kulturelle Bedeutung durch eine „dichte Beschreibung“ (vgl. Geertz 1987) zu verstehen.
3.2. Einschluss − Ausschluss Wie jede Kultur muss auch eine Wissenskultur über Verfahren verfügen zu entscheiden, wer zu ihr gehört und wer nicht (Mudersbach 2002). Diese müssen nicht unbedingt
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III. Kulturen der Kommunikation reflektiert sein, sondern können auch für die meisten Kulturmitglieder unbewusst funktionieren, indem sich etwa ein bestimmter Habitus herausbildet (Weber 1972; Bourdieu 1982; vgl. Artikel 13). Häufig finden sich explizite und implizite Ein- und Ausschlüsse. Formalisierte/ritualisierte Verfahren können durchaus neben unausgesprochenen, aber funktionierenden Mechanismen des Ein- und Ausschlusses bestehen. Einschluss und Ausschluss sind insbesondere für wissenschaftliche Wissenskulturen zentrale Momente geworden. Zunächst gibt es die disziplinäre Zugehörigkeit und Ausbildung, diese stellt eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dar, wobei vereinzelt auch immer wieder das Wissen nicht disziplinär gebundener Personen inkorporiert wird (vor allem in den Kulturwissenschaften, teilweise auch in den formalen und empiristischen Wissenschaften, beispielsweise den mathematischen Arbeiten zur Algebra des Autodidakten George Boole). Im Rahmen des Habituskonzeptes können eine Reihe von Einstellungen, Verhaltensweisen und Stilen angenommen werden, die ein Wissenschaftler oder eine Gruppe an den Tag legen muss, damit aus der formalen eine gelebte Zugehörigkeit zum „Denkkollektiv“ (vgl. Fleck 1980) wird. Nicht nur Einschluss oder Ausschluss von Personen müssen geregelt sein, sondern auch die untersuchungsrelevanten Wissensobjekte, das heißt die Beschränkung von Untersuchungen auf bestimmte konsensuale Objekte. Insbesondere in den Naturwissenschaften geht es auch darum, was überhaupt als Phänomen gelten kann. Dabei schließt das Messbarkeitsprinzip beispielsweise alles Nichtmessbare aus, was als Begriff oder Vorstellung in der Lebenswelt durchaus relevant sein kann. Das Messbare ist in den Kulturwissenschaften häufig gerade das Uninteressante an einem Untersuchungsobjekt. Ähnlich verhält es sich mit Objekten, die das grundsätzliche Erklärmodell der Naturwissenschaften infrage stellen und daher in der Regel als Fälschung betrachtet werden, selbst wenn die Fälschung im konkreten Fall nicht aufgedeckt werden kann (z. B. die sogenannten Kornkreise). Außerdem müssen bestimmte Untersuchungsverfahren, ein bestimmtes Verhalten bei Untersuchungen, an den Tag gelegt werden und spezifische „Erkenntnistechnologien“ (vgl. Knorr Cetina 2002: 21) zum Einsatz kommen. Allerdings handelt es sich hierbei um restringierende und keine ermöglichenden Bedingungen, das heißt, es können daraus keine Bedingungen für Erkenntnisse und Erkenntnisproduktion abgeleitet werden, wie Paul Feyerabend (1976) in seiner Studie Wider den Methodenzwang dargelegt hat.
3.3. Axiome und der Kern der Gewissheit Wie jede Kultur verfügt auch eine Wissenskultur über einen Kern an Gewissheit, der nicht hinterfragt wird. Dazu zählen in erster Linie Axiome, also Glaubenssätze, die keine Ableitung aus anderen Sätzen darstellen, sondern selbst Quelle produktiver Ableitungen sind. Diese Basissätze oder Axiome sind auch in der Naturwissenschaft anzutreffen und mit einer Basisvorstellung, der „Wurzelmetapher“, verbunden (vgl. Pepper 1966; Liebert 2005). Diese Glaubenssätze sind aber nicht als eine Art logische Deduktionsmaschinen vorzustellen, sondern vielmehr als Sinnthese mit Aufforderungscharakter, sie möge sich in der sozialen Wirklichkeit bewähren. Das Suchen nach Bewährung der angenommenen Sinnsätze ist konservativ, das heißt, man geht in der Regel nicht auf die Suche nach der Falsifizierung, sondern der Bestätigung und Erhärtung. Dies schließt nicht aus, dass das
62. Wissenskulturen Forschen innerhalb einer Grundannahme, beispielsweise der Quantifizierbarkeit bzw. der Messbarkeit, wie sie für Naturwissenschaften konstitutiv sind, in höchstem Maß kompetitiv und zweifelnd verläuft. Gerade Wissenschaft kann im Anschluss an Descartes als Form des systematischen und intersubjektiven Zweifels betrachtet werden. Das Zusammenspiel von Sinnbewährung und Zweifel in den Wissenschaften ist insbesondere von Kuhn (1973) im Rahmen seines Paradigmabegriffs und ausführlich von Bourdieu (1998: 28 ff.) analysiert worden. Die gezielte Suche nach Antievidenz − aus welchen Motiven auch immer − stellt einen entgegenlaufenden Impuls zur Alltagswelt dar und macht damit auch einen Teil ihres Fremdheitsmoments aus. Wissenschaft − so verstanden − ist von ihrem Wesen her antipopulär, manchmal auch nur konträr zur machtvollen Doxa politischer Interessengruppen. In letzterem Fall tritt sie in einen politischen Diskurs ein. Die zunehmend unaufhebbare Verbindung von politisch-gesellschaftlichem und naturwissenschaftlichem Diskurs ist für Bruno Latour (2002) ein typisches Merkmal spätmoderner Wissenskulturen.
3.4. Praxis Wissenskultur ist im Wesentlichen Praxis, das heißt „Wissen, wie es ausgeübt wird“ (Knorr Cetina 2002: 18). Im engeren Sinn versteht Knorr Cetina den Begriff der Wissenskultur deshalb als die „konventionellen Muster und Dynamiken [...], die sich in den Praktiken von Wissenschaftlern und Experten darstellen und die zwischen verschiedenen Expertenkontexten variieren“ (Knorr Cetina 2002: 19).
3.5. Themen/Objekte Als Bedingung für eine Wissenskultur soll als Minimalkriterium festgelegt werden, dass sich eine Personengruppe mit mindestens einem Objekt oder Thema über eine bestimmte Zeit auseinandersetzen muss. Welcher Art die Forschungsobjekte sind bzw. welche überhaupt erforscht werden dürfen, hängt von den eben beschriebenen Mechanismen des Einschlusses/Ausschlusses ab.
3.6. Tradierung Paul Feyerabend (1976, 1979) hat den Begriff der Tradition in die Wissenschaftsforschung eingeführt, einen Begriff, der weitestgehend synonym zu dem deutlich später eingeführten Begriff der Wissenskultur gebraucht werden kann. Was Feyerabend durch diesen Begriff hervorhebt, ist, dass eine Wissenskultur immer über eine Form der Tradierung verfügen muss, das heißt Formen der Weitergabe, Speicherung, Instruierung, des Lehrens und Lernens. Zugleich wird mit dem Tradierungsmerkmal auch ein relativistisches Element eingeführt: Nach Feyerabend gibt es nämlich keine ausgezeichnete Tradition, sodass jede Tradition nur mit ihren eigenen Maßstäben bewertet werden kann. Dies hat weitreichende Konsequenzen für den Wissenschaftsbegriff (siehe unten).
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III. Kulturen der Kommunikation
3.7. Reflexion Als notwendige Bedingung für eine Wissenskultur soll ferner eine mehr oder weniger ausgeprägte Reflexion über die eigene Wissenskultur (und damit zwangsläufig auch über andere Wissenskulturen) angenommen werden, die sich auch in Thematisierungen manifestiert. Reflexion soll hier in weitem Sinn verstanden werden, die also sowohl einzelne Phasen, phasenübergreifende Prozesse, die Art und Identität der zu erforschenden Objekte als auch die in diesem Prozess involvierten Subjekte einschließlich der Rolle von Forschern umfassen soll. Wissenskulturen „gedeihen in selbstreferentiellen Systemen“ (Knorr Cetina 2002: 12).
4. Wissenschaft als Wissenskultur Wissenschaft stellt die derzeit komplexeste und elaborierteste Wissenskultur dar. Daher soll sie mit einigen Ausführungen umrissen werden. Das Verständnis von Wissenschaft, dass deren Aussagen über Gesetze und Verhältnisse in der Welt selbst in einem kulturellen Kontext zu verstehen sind, geht auf eine Reihe von Arbeiten ab den 1960er Jahren zurück. Insbesondere durch die Schriften von Paul Feyerabend (1976, 1979) und Thomas Kuhn (1973), dann aber auch durch die Science Studies von Bloor (1991), Barnes, Bloor und Henry (1996), Latour (1998, 2001, 2002, 2006), Collins und Pinch (1999, 2000), Knorr Cetina (1984, 2002) und anderen wurde es möglich, Wissenschaft aus kultureller Sicht zu denken. Dadurch kamen die sozioökonomischen, kulturellen und technologischen Kontexte (Kreibich 1986) ebenso in den Blick wie die menschlichen Eigenschaften der Akteure, ihre Rollen, Stile, Bewertungsmaßstäbe und Symbole. Der agonale Charakter von Wissen und Wissenschaft wurde zunehmend als innerparadigmatisches, konstitutives Element der Wissensgewinnung und -verbreitung sichtbar (Liebert und Weitze 2006). Dabei gehen die neueren Arbeiten von Latour deutlich über eine Kontextualisierung von Wissenschaft hinaus. Latour kritisiert eine grundlegende Unterscheidung, nämlich die in Gesellschaft und Natur und demzufolge auch in Natur- und Sozial-/Kulturwissenschaften (1998, 2001, 2002). Die Argumentation kann hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden, zentral ist dabei, dass seine Aufhebung dieser Trennung von Natur und Gesellschaft dazu führt, dass sogenannte „nichtmenschliche Wesen“ (z. B. Tiere oder Mikroben) als Akteure angenommen werden, die ihre „Interessen“ über die sie erforschenden Wissenschaftler im Labor in die Gemeinschaft bringen, und sie von diesen − analog zu den politisch gewählten Repräsentanten in einem demokratischen Parlament − vertreten lassen. Wie dies im Einzelnen organisiert werden kann, entwirft er in seiner Monographie, die in der deutschen Übersetzung den programmatischen Titel Das Parlament der Dinge trägt. Dies untergräbt ein wichtiges sozialkonstruktivistisches Axiom, wonach die Wirklichkeit sozial konstruiert sein soll, das heißt, dass sie von mit kognitiven Fähigkeiten zur Konstruktion ausgestatteten Akteuren, also Menschen, ausgeht. Die Kategorien „Interesse“ oder „Politik“ sind demzufolge im konstruktivistischen Ansatz ausschließlich menschlichen Wesen vorbehalten. Die Einbeziehung nichtmenschlicher Wesen als Quasiobjekte oder Hybride stellt daher eine massive Änderung im Bereich der Grundlagen der Sozial- und Kulturwissenschaften dar. Die gravierenden Konsequen-
62. Wissenskulturen zen, die dies für einen sozialkonstruktivistischen Ansatz in den Sozial- und Kulturwissenschaften beinhaltet, sind bislang noch nicht ausdiskutiert, wenngleich die Kontroverse über diese Annahme eröffnet ist (vgl. Bloor 1999; Schroer, Kneer und Schüttpelz 2008). Im Programm der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wird versucht, einen entsprechenden Theorie- und Analyserahmen herzustellen (vgl. z. B. Thielmann, Schüttpelz und Gendolla 2012). In der Linguistik hat der Kulturbegriff im Bereich der Wissenschaftsforschung noch kaum Eingang gefunden. Zentral war die Forschung zu Fach- und Wissenschaftssprachen (als Überblick vgl. Roelcke 2010), später kamen diskurslinguistische Arbeiten, meist orientiert am Modell von Busse und Teubert (1994), oder interaktionsorientierte Forschungen hinzu (Biere und Liebert 1997; Dausendschön-Gay, Domke und Ohlhus 2010). Im Bereich der Vermittlung von Wissenschaft fanden kulturwissenschaftliche Überlegungen eher Eingang (z. B. Niederhauser 1999; Liebert 2002). Über die sogenannte Experten-Laien-Diskussion (z. B. Busch 1994; Wichter und Antos 2001) wurde zwangsläufig die Frage nach verschiedenen Kulturen gestellt, häufig wurde dies entlang einer aus der traditionellen Fachsprachenforschung kommenden Metaphorik der Vertikalität oder der Inklusivität („fachexterne Kommunikation“) als Kommunikation von Wissenschaftlern zu den „Laien“ gefasst. Ein nennenswerter Beitrag der „Laien“ zu den Wissenschaften spielte zumeist keine Rolle, bemerkenswert ist daher der Sammelband Aufstand der Laien (Kerner 1996), der durchaus an die Science Studies anschlussfähig ist (vgl. dazu auch das Modell der Gegendiskurse, Liebert 2003). Diese Form der Selbstermächtigung spielt in Zukunft sicherlich eine noch größere Rolle. Eine Auseinandersetzung mit neueren sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepten, etwa den latourschen, ist allerdings bis heute kaum sichtbar (vgl. Liebert und Weitze 2006; Schiewer 2010), was sicher mit einer relativ späten Rezeption kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Linguistik zusammenhängt (vgl. Günthner und Linke 2006).
5. Nichtwissenschaftliche Wissenskulturen Wie oben bereits angerissen, besteht eine der zentralen Kontroversen in der Frage, ob es eine ausgezeichnete Wissenskultur gibt, die kontextfrei überzeitliches universales Wissen schafft oder ob sich − im Anschluss an Paul Feyerabend und David Bloors „strong programme“ − wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Wissenskulturen nicht wesentlich unterscheiden. Da in der Argumentation Paul Feyerabends jede Tradition über eigene Maßstäbe verfügt und die Ergebnisse anhand der Maßstäbe der jeweiligen Wissenskultur gemessen werden müssen, kann beispielsweise Astrologie nur mit den Maßstäben der Astrologie und nicht mit denen der Naturwissenschaft bewertet werden. Diese Sichtweise hätte zur Konsequenz, dass wissenschaftliche Bewertungsmaßstäbe zunächst nur im Rahmen ihrer eigenen Wissenschaftskultur Geltung hätten, was für viele Wissenschaftler eine Verletzung ihres Selbstbilds und auch eine Einschränkung ihres außerwissenschaftlichen Geltungsbereichs und damit ihres Einflusses bedeuten würde (vgl. Feyerabend 1976, 1979; Sokal und Bricmont 1999; Latour 2002). Nichtwissenschaftliche Wissenskulturen wurden daher meist als Pseudowissenschaft ausgegrenzt bzw. ausgeblendet (vgl. Rupnow et al. 2008). Dadurch ist es dann kaum möglich, diese als Ressource auch für das wissenschaftliche Wissen zu sehen.
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III. Kulturen der Kommunikation Um diesen blinden Fleck zu beseitigen, kann man von peripheren Wissenskulturen oder im Anschluss an Schüttpelz (2011) von nichthegemonialen Wissenskulturen sprechen und damit eher auf Machtressourcen und weniger auf die epistemische Gültigkeit abzielen. Wissenschaft kann dabei durchaus als eine besondere, sehr elaborierte, vernetzte, reflektierte und auch dominante Wissenskultur anerkannt werden: „Die wichtigste Wissensinstitution weltweit ist die Wissenschaft selbst“ (Knorr Cetina 2002: 11). Gleichzeitig können aber auch die innovativen Züge nichthegemonialer Wissenskulturen gesehen und kulturwissenschaftlich untersucht werden.
6. Literatur (in Auswahl) Barnes, Barry, David Bloor and John Henry 1996 Scientific Knowledge. A Sociological Analysis. London: Athlone. Biere, Bernd Ulrich und Wolf-Andreas Liebert 1997 Metaphern, Medien, Wissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag. Bloor, David 1991 Knowledge and Social Imagery. 2 nd ed. Chicago: University of Chicago Press. Bloor, David 1999 Anti-Latour. In: Studies in History and Philosophy of Science, Part A 30(1), 81−112. Bohinc, Thomas 2003 Wissenskulturen. Begriff und Bedeutung. In: Ulrich Reimer, Andreas Abecker, Steffen Staab und Gerd Stumme (Hg.), Professionelles Wissensmanagement − Erfahrungen und Visionen, 371−379. Bonn: Gesellschaft für Informatik. Bourdieu, Pierre 1982 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre 1998 Vom Gebrauch der Wissenschaft. Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz: UVK. Brockman, John 1996 Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft. München: Goldmann. Busch, Albert 1994 Laienkommunikation. Vertikalitätsuntersuchungen zu medizinischen Experten-LaienKommunikationen. Frankfurt a. M./Berlin/New York: Lang. Busse, Dietrich und Wolfgang Teubert 1994 Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Überlegungen zu einer linguistischen Diskurssemantik. In: Dietrich Busse, Fritz Hermanns und Wolfgang Teubert (Hg.), Zeichengeschichte, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, 10−28. Opladen: Westdeutscher Verlag. Collins, Harry und Trevor Pinch 1999 Der Golem der Forschung. Wie unsere Wissenschaft die Natur erfindet. Berlin: Berlin Verlag. Collins, Harry und Trevor Pinch 2000 Der Golem der Technologie. Wie die Wissenschaft unsere Wirklichkeit konstituiert. Berlin: Berlin Verlag. Dausendschön-Gay, Ulrich, Christine Domke und Sören Ohlhus (Hg.) 2010 Wissen in (Inter-)Aktion. Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern. Berlin/New York: de Gruyter.
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III. Kulturen der Kommunikation Liebert, Wolf-Andreas 2003 Wissenschaftsdiskurse, Gegendiskurse und Öffentlichkeit. Problemfelder, Spannungszonen und Lösungspotenziale. In: Martin Wengeler (Hg.), Deutsche Sprachgeschichte nach 1945, 257−271. (Germanistische Linguistik 169−170.) Hildesheim: Olms. Liebert, Wolf-Andreas 2005 Metaphern als Handlungsmuster der Welterzeugung. Das verborgene Metaphern-Spiel der Naturwissenschaften. In: Hans Rudi Fischer (Hg.), Eine Rose ist eine Rose ... Zur Rolle und Funktion von Metaphern in Wissenschaft und Therapie, 207−233. Weilerswist: Velbrück. Liebert, Wolf-Andreas und Marc-Denis Weitze (Hg.) 2006 Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Wissenskulturen in sprachlicher Interaktion. Bielefeld: transcript. Mudersbach, Klaus 2002 Kultur braucht Übersetzung. Übersetzung braucht Kultur (Modell & Methode). In: Gisela Thome, Claudia Giehl und Heidrun Gerzymisch-Arbogast (Hg.), Kultur und Übersetzung. Methodologische Probleme des Kulturtransfers, 169−225. Tübingen: Narr. Niederhauser, Jürg 1999 Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung. Tübingen: Narr. Pepper, Stephen C. 1966 World Hypotheses. A Study in Evidence. Berkeley/Los Angeles: University of California Press. Rheinberger, Hans Jörg 2007 Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg: Junius. Roelcke, Thorsten 2010 Fachsprachen. 3. Aufl. Berlin: Schmitt. Rupnow, Dirk, Veronika Lipphardt, Jens Thiel und Christina Wessely (Hg.) 2008 Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schiewer, Gesine Lenore 2010 Sprach- und Literaturwissenschaft in den internationalen „Wissenskulturen“. Germanistik an der Schnittstelle neuer Ansätze der Wissens- und Techniksoziologie. In: Journal of Literary Theory 4(1), 99−120. Schroer, Markus, Georg Kneer und Erhard Schüttpelz (Hg.) 2008 Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schüttpelz, Erhard 2011 Gesellschaftliche Innovation durch nichthegemoniale Wissensproduktion. Okkulte Phänomene zwischen Mediengeschichte, Kulturtransfer und Wissenschaft. DFG-Projektbeschreibung. Online unter: http://www.uni-siegen.de/mediasreearch/nichthegemoniale_ innovation/projekt.html (letzter Zugriff 15. 3. 2016). Schwanitz, Dietrich 1999 Bildung. Alles, was man wissen muß. Frankfurt a. M.: Eichborn. Snow, Charles Percy 1959 The Two Cultures and the Scientific Revolution. London: Cambridge University Press. Sokal, Alan und Jean Bricmont 1999 Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München: Beck. Thielmann, Tristan, Erhard Schüttpelz und Peter Gendolla (Hg.) 2012 Akteur-Medien-Theorie. Bielfeld: transcript. Weber, Max 1972 Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 2: Hinduismus und Buddhismus. 5. photomech. gedr. Aufl. Tübingen: Mohr.
63. Intercultural communication
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Wichter, Sigurd und Gerd Antos (Hg.) 2001 Wissenstransfer zwischen Experten und Laien. Umrisse einer Transferwissenschaft. Frankfurt a. M./Berlin/New York: Lang.
Wolf-Andreas Liebert, Koblenz (Deutschland)
63. Intercultural communication 1. 2. 3. 4. 5.
Defining intercultural communication Contrastive approaches Imagological approaches Inter- and multilingual approaches Interactive approaches
6. Transfer approaches: intercultural competencies 7. Conclusion 8. Selected references
1. Defining intercultural communication Intercultural communication is an interdisciplinary field of research that integrates insights from linguistics, ethnography, anthropology, sociology, philosophy, cultural psychology and management, translation and literary studies. The notion of intercultural communication was first mentioned by the American anthropologist Edward Hall (1959) in his book The Silent Language. By elaborating on the importance of nonverbal communication for communicative success, he tried to improve the intercultural competencies of his fellow Americans in the competitive worldwide economic and political environment in the fifties of the previous century. Since then, intercultural communication research has spread all over the world and reflects ongoing international developments such as globalisation, migration, mobility, economic and political cooperation, supranational developments (e.g. European Union integration) and linguistic and cultural diversity in societies. The impact of intercultural communication is also increased by immense technological developments in the field of communication media. Intercultural research is relevant in many sectors of society including education, healthcare, the courts, diplomacy, military intelligence, advertising, marketing, management, public communication (where it is applied through mediation and interpretation), training, counselling, diversity management and language policies. Nowadays, three different definitions describing the field of intercultural research can be discerned. Traditionally, intercultural communication has been defined as communication between people with different linguistic and/or cultural backgrounds (e.g. Jandt 1995). This definition covers the common sense understanding of intercultural communication, but is not unproblematic, because the distinction between culture and nationality is easily overseen and factors such as institutional, legal and gender determinations, relevant for the interpretation of communication, are neglected. Therefore, a second definition has been proposed, restricting intercultural communication to communication in which linguistic and/or cultural differences are made relevant for processing the out-
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III. Cultures of communication comes of interlingual communication. For instance, Spencer-Oatey and Franklin (2009: 3) give the following definition: “An intercultural situation is one in which cultural distance between participants is significant enough to have an effect on interaction/communication that is noticeable to at least one of the parties.” This definition has been elaborated upon in studies in the field of discourse analysis and conversational analyses (e.g. Di Luzio, Günthner and Orletti 2001; Hinnenkamp 1989; Knapp 2004). The most restricted definition has been offered by Jochen Rehbein (2006) based on studies of multilingual interaction. He states that one can only speak of intercultural communication whenever at least one of the participants critically reflects on the representations, value orientations and action dispositions held by his group. In actual fact, the essence of intercultural communication is characterised here by the transformation of thinking and acting as a consequence of interaction. In sum, these definitions represent a scale from a very broad, self-evident understanding of intercultural communication as every contact between people belonging to different cultural and linguistic groups, via the concept of communicative relevance of cultural and linguistic differences, to the change of interactional and mental behaviour as a consequence of multilingual interaction. We will come back to the consequences of this determining scale as we discuss five different scientific approaches that emphasize the interdisciplinary character of intercultural communication studies.
2. Contrastive approaches The contrastive approach towards intercultural communication (in the USA one also refers to ‘cross-cultural communication’) corresponds to the broad definition of the field. In order to investigate the effect of cultural and linguistic differences on intercultural understanding, contrastive studies started by comparing two or more languages and cultures. Lado (1957) is considered to be one of the first researchers adopting this approach. According to his contrastive hypothesis, difficulties of language learning could be predicted from a systematic comparison with regard to the language learner’s first and second languages. As a consequence, these studies (cf. Fisiak 1983) compare native discourse across cultures and aim at developing not only practical solutions for language teaching, but also universal categories describing correspondences and differences between cultures and languages. In this sense, this approach also stands in the tradition of comparative historical linguistics. The paradigmatic switch within linguistics in the 1970s, from a formal (cf. Chomsky) to a functional paradigm (cf. Hymes), has also influenced the scope of contrastive studies. Whereas previously solely syntactic, morphological, semantic and lexical features were investigated, the scope of comparison has integrated more and more pragmatic and discursive characteristics of languages. An influential research project has been the Cross-Cultural Speech Act Realization Project (CCSARP) (Blum-Kulka, House and Kasper 1989). Speech acts such as complaining, apologising and inviting were analysed across languages. For instance, differences in downgraders and upgraders changing the (in)directness of speech acts were investigated. The CCSARP comparison is based on what is called functional equivalence which is described as “the presupposition for achieving a comparable function of a text or discourse in another cultural context” (Bührig, House and ten Thije 2007: 1).
63. Intercultural communication The notion of functional equivalence relates to a central methodological issue of the contrastive approach, namely the determination of a comprehensive criterion of measurement. The selection of this criterion depends on the level of comparison. In the case of a formal linguistic comparison (e.g. formal equivalence), grammatical features function as a point of reference. In the case of a pragmatic comparison, the illocutionary force of speech acts functions as the measurement criterion. The point of reference is called tertium comparationis. The adequacy and reliability of contrastive studies depend on the proper account of their tertium comparationis. For instance, Connor and Moreno (2005) have developed a multilevel model for rhetoric contrastive studies regarding text and discourse genres in which textual units, genre, purpose and other functional text characteristics are addressed. From the field of intercultural management studies, the work of Geert Hofstede (1984) should be discussed in this respect. He chose the company IBM as tertium comparationis in order to investigate how values in the workplace are determined by national cultures. By interviewing workers in IBM offices in 52 countries he developed a set of five dimensions with which national cultures can be compared mutually on a numeric scale. These dimensions are power distance, individualism versus collectivism, masculinity versus femininity, uncertainty avoidance, and short and long term orientation. Bell Ross and Faulkner (1998) discuss critically the reception of Hofstede’s work in the field of intercultural communication. His set of dimensions is an example of a one-level model that equates cultures with nation states. Other levels of comparison such as social income, educational training, regional cultural differences and gender are not included. Although Hofstede (1984) does not investigate intercultural communication himself, his work has been applied in strong support of the first definition of intercultural communication (e.g. every contact between people with a different linguistic and cultural background is intercultural). In actual fact, his dimensions are used as an essentialist explanatory framework to clarify intercultural misunderstandings (Leerssen 2007: 25). In the field of translation studies, contrastive research has resulted in the notion of the cultural filter (House 1997). This concept reformulates the Hofstede dimensions in a very restricted mode. Based on a comparison of German and English academic and literary texts and their corresponding translations, House detected recurrent adaptations of translations according to conventions in the other culture. She systematised these adaptations in a set of five dimensions of Cross-Cultural Differences that she designated as a cultural filter. These dimensions are Directness versus Indirectness, Orientation towards Self versus Orientation towards Other, Orientation towards Content versus Orientation towards Persons, Explicitness versus Implicitness, and Ad-hoc Formulation versus Use of Verbal Routines. The first pole of the opposition refers to German and the second to English conventions. Her supposition is that translators unconsciously apply this cultural filter in their translation work. Correspondingly, Tempel and ten Thije (2010) investigated whether or not German and English museum visitors, in listening to multilingual audio tours, appreciated the application of the cultural filter. Where such a comparison also leads to the formulation of other dimensions, these dimensions are culture specific and can only be applied to the contact between two (or more) specific cultures. In conclusion, one of the fundamental issues of intercultural studies that goes beyond the scope of contrastive studies, is the question of universalism versus relativism. Can the framework that has been developed be used for all cultural groups or is every cultural
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III. Cultures of communication group in need of a framework of its own? An answer to this question can be found by referring to the distinction between etic and emic frameworks. Triandis (1994: 67) summarises as follows: “Emics, roughly speaking, are ideas, behaviours, items, and concepts that are culture specific. Etics, roughly speaking, are culture general − i.e. universal.” Emics are studied within the cultural and linguistic system and etics are studied from outside the system. Hofstede’s (ibid.) dimensions are a clear example of an etic framework, whereas House’s cultural filter is an example of an emic framework, since her dimensions concern only a German-English comparison. We will encounter more emic frameworks in the interactive approach (see section 5). In the field of intercultural communication research, etic and emic frameworks are not considered to be contradictory, but rather as complementary. In actual fact, the etic-emic distinction can be considered as a basic fundamental characteristic that constitutes intercultural research itself.
3. Imagological approaches Imagological approaches are aimed at the “critical study of national characterization” (Leerssen 2007: 21) and, consequently, pursue theories of cultural or national representations and stereotypes. Coupland (2001: 3) specifies the notion of representation as follows: “Representations are the totality of semiotic means by which items and categories, individuals and social groups, along with their attributes and values, are identified, thematised, focused, shaped and made intelligible. In this sense, representing a class of items or people is more than ‘merely referring to’ them. It is the generalised set of processes by which collectivities, including human identities and attributes, are symbolically forged, confirmed or challenged.” The roots of this approach originate in comparative literary studies that, since the Enlightenment, have investigated “patterns of behaviour in which ‘nations’ articulated their own, mutually different, responses to their diverse living conditions and collective experiences, and which in turn defined each nation’s individual identity” (Leerssen 2007: 18). This approach also underpins the first definition of intercultural communication. Recent studies investigate cultural representation in films, documentaries, literature, advertisements and all kind of images and texts in public media. We will not discuss the broad range of national characterisations or archetypes that have been described regarding people and countries all over the world (see Beller and Leerssen 2007), but will focus on the theoretical notions used as the backbone of this approach. Imagologists study the dynamics between the images that characterise the Other (e.g. hetero-images) and the images that characterise one’s own national identity (e.g. self-image or auto-images). These images are derived from texts and discourses and represent recurrent and historical features of different national identities. Although these images include archetypes and national clichés, these are not completely fixed. The dynamics of the self- and hetero-images reflect historical changes in the political or economic relationship between countries involved. Edward Said’s study on Orientalism (1978) exemplifies this approach in the framework of post-colonial studies. His concept of ‘othering’ refers to the process in which the weakness of a marginalised group (the colonised) is used to reinforce the position of groups in power (the coloniser). In the field of intercultural communication studies (Holliday, Hyde and Kullman 2010), the notion of otherising is presented as the central notion to deconstruct the
63. Intercultural communication question of how the “Foreign Other is reduced to less than they are” (Holliday, Hyde and Kullman 2010: 24). Four notions are proposed as the constituents of this procedure: Stereotyping concerns the “ideal characterization of the Foreign Other” (Holliday, Hyde and Kullman 2010: 24), Prejudice concerns “judgements made on the basis of interest rather than emergent evidence” (Holliday, Hyde and Kullman 2010: 24), Culturism refers to “reducing the members of a group to the pre-defined characteristics of a cultural label” (Holliday, Hyde and Kullman 2010: 24) and Essentialism, finally, refers to a homogeneous view of culture in which people belong exclusively to one culture, speak one language and the world is divided into mutually exclusive national cultures (Holliday, Hyde and Kullman 2010: 4). The deconstruction of otherisation aims at a change of attitude in communication with someone who is foreign or different. Instead of the obligation “to understand the details or the stereotypes of the foreign culture” (Holliday, Hyde and Kullman 2010: 4) we should try to understand the complexity of cultures of other human beings who belong to groups with whom we are unfamiliar. In the field of cultural studies, Stuart Hall (1997) developed a semiotic theory of cultural representation of groups and nations that includes identity and ethnicity and showed the link between racial prejudice and media discourse. Hall’s notion of representation has been influential in the field of intercultural communication. In a study on the representation of otherness in advertisements and cultural mediation, Zarate (1994) is quoted as follows: “Representation of the Other refers back to the identity of the group that produces them […] they organise the relationship between the group and the Other and contribute to naming the alien according to the group’s internal system of references” (Zarate 1994: 19, cit. in Gautheron-Boutchatsky et al. 2004: 165). The analysis of advertisements in different countries illustrates how the representation of otherness is perceived differently in different contexts. These postmodern and semiotic theories regarding self- and hetero-images, including the issue of how these images determine the process of othering, have predecessors with parallel findings in other disciplines. For instance, within social psychology, Tajfel (1974) discusses the consequences of in-group and out-group communication for the construction of social identity. In general, his theory states that people describe the ingroup by using more positive terms than they use when describing an out-group. In sum, we claim that the question of dealing with the Foreign Other is the second fundamental characteristic that constitutes the field of intercultural communication research.
4. Inter- and multilingual approaches Interlanguage is used to refer to learner language as a system in its own right and having its own rules. This set of rules is considered as a continuum between L1 and L2. The learner gradually takes over L2 norms. These stages have been described as coherent linguistic structures. Learners may stick to a certain stage and fossilise the corresponding structures. In the 1960s and 1970s, analyses focused on phonological, morpho-syntactical and semantic interference (cf. Selinker 1972). Afterwards, the trans- and interference of pragmatic and discourse phenomena were analysed (cf. Blum-Kulka, House and Kasper 1989). The discourse completion test (DCT) is the method used to investigate the interlanguage stages of learners and compare their structures with the corresponding native
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III. Cultures of communication speaker structures. The DCT comprises a questionnaire (or a written role play) in which respondents have to fill in scripted speech acts in every day communicative situations such as complaining, refusing and inviting. In the descriptions of the communication situations, the relationships between communicators are systematically differentiated taking into account central elements from politeness theory (Brown and Levinson 1978) such as social distance, social dominance and degree of imposition. The method is also used by the contrastive studies of the CCSARP project. Indeed, the DCT accounts for learners’ stages of pragmatic knowledge based on self-assessment. In a recent historical retrospective of interlanguage research, Selinker (2012: 227) indicates the importance of “noticing the gap between one’s current state of interlanguage knowledge and the target” and refers to the idea of cognitive space between two languages that has been developed in terms of intercultural awareness (e.g. Kramsch 1998). Zhu (2014, 149) elaborates this idea by stating: “When there is communication breakdown in interactions involving non-native speakers, people tend to attribute difficulties in communication to inadequate linguistic abilities on non-native speakers’ part. However, sometimes it is not linguistic ability, but a lack of knowledge of how the system works that leads to the undesirable outcome of an interaction.” This corresponds to the distinction between pragma-linguistic and socio-pragmatic failure (Thomas 1993). Where the first represents the speakers’ limited linguistic resources, the latter highlights the appropriateness of language use in the respective culture. This exemplifies the impact of an interlanguage approach for intercultural communication in its support of diagnosing intercultural understanding problems. Moreover, there is another important contribution of the Interlanguage approach to intercultural communication research. This concerns the status of the native speaker as the ultimate norm for assessing linguistic and communicative competence. By describing learners’ stages between L1 and L2 during which speakers may fulfil communicative aims and reach (partial) understanding, these studies have paved the way for analysing the characteristic of efficient intercultural communication that does not presuppose native linguistic competences (Backus et al. 2013). English as Lingua Franca (ELF) is one important communicative mode for efficient intercultural communication all over the world. In the 1970s ELF was considered to be a learner language and an interlanguage (House 2010: 365), but soon this mode of multilingual communication was defined in its own right. Firth (1996: 26) states: “ELF is a contact language between persons who share neither a common native tongue nor a common national culture, and for whom English is the chosen foreign language of communication.” ELF may also include native speakers; however, the native norm is no longer standard and decisive for mutual understanding. In fact, in ELF, communication efficiency is more important than linguistic accuracy and it is characterised by its cooperative feature (Zhu 2014: 137). This cooperative nature is explained by a shared incompetence of its speakers (Meierkord 1996). As characteristics for intercultural communication by ELF speakers, Meierkord (1996) reports discourse strategies such as shorter turns than those produced by native speakers and frequent use of nonverbal support by laughter and hearer activities (e.g. feedback signals). Apparently, non-native speakers of English all over the world modify their speech acts and develop their own genre and communicative styles. According to Meierkord (1996), the linguistic use of English does not necessarily reflect interferences of the L1, i.e. with the speaker’s mother tongue, but instead displays structures that are typical of learner language, characterised by reduction
63. Intercultural communication and compensation due to learners’ deficits. She furthermore suggests that ELF conversations can be seen as the reflection of an “Inter”-culture (Meierkord 1996). Recent studies focus on the problems of English native speakers trying to make themselves understandable in ELF (Sweeney and Zhu 2010: fc.). By using DCT the authors found as striking “the imbalance between native speakers’ understanding of issues of intercultural communication and the inability to effectively accommodate to non-native speakers” (Sweeney and Zhu 2010). The second mode of effective multilingual communication concerns Lingua Receptiva (LaRa). This notion refers to multilingual communication in which both speakers stick to the language they are most comfortable in within a given intercultural situation, which is generally their mother tongue. They understand each other on the basis of receptive capacities in the other’s language. Rehbein, ten Thije and Verschik (2012: 249) define LaRa as follows: “Lingua receptiva is the ensemble of those linguistic, mental, interactional as well as intercultural competencies which are creatively activated when interlocutors listen to linguistic actions in their ‘passive’ language or variety.” This mode is also known as intercomprehension, receptive multilingualism or mutual intelligibility, taking into account the influence of typological distance of the languages involved. From the perspective of intercultural communication, LaRa can be considered as a potential optimum mode for effective intercultural understanding, since others are allowed to speak their own language as they respond. Bahtina (2013) investigates the meta-communicative devices supporting intercultural understanding and demonstrates that languages that are not typologically close (cf. Estonian and Russian) can also successfully be applied in a LaRa mode. The studies within this approach bring forward a third fundamental issue that constitutes intercultural communication research, namely the question of how speakers and hearers cope with linguistic norms and how the maintenance of these norms determines mutual understanding. Interestingly the studies within this approach illustrate a historical development away from error analysis towards creativity and locality in the handling of norms in achieving intercultural understanding (Hülmbauer 2014). These studies demonstrate that research into language learning is no longer solely focused on linguistic capacities and a native speaker norm, but increasingly on linguistic effectiveness, also taking into account pragmatic and cultural aspects of language learning, as well as the ability to communicate effectively across cultures regardless of the chosen language of communication.
5. Interactive approaches The interactive approach originates from the sociolinguistic (ethnography of speaking) and discourse analytical studies on language contact, and focuses on multilingual interaction. The work of John Gumperz (1982) has been ground-breaking for the analysis of intercultural breakdown and misunderstanding. His theory on contextualisation cues offers an explanatory framework to relate specific linguistic structures to presupposed cultural knowledge in a given context. Another influential work in this approach concerns Clyne’s (1994) investigation of the Australian intercultural workplace. His work leads to a revision of the conversational maxims of Grice (1975). These maxims were
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III. Cultures of communication claimed to be universal. Clyne (1994), however, integrates cultural core values in their formulation in order to maintain their universal validity. Consequently he adds a fifth maxim of manner: “In your contribution, take into account anything you know or can predict about the interlocutor’s communication expectations” (Clyne 1994: 195). A third important contribution to this approach concerns Rehbein’s (2006) theory on the cultural apparatus as the shared cultural capability of members of a certain cultural group to cope with misunderstandings. This apparatus is at work when interaction problems in critical situations are being solved. Participants have two possibilities. They can either preserve their existing opinions, representations and action dispositions or they can reflect critically on the action dispositions and representations and eventually transform them. The cultural apparatus concept underlies the most restricted definition of intercultural communication discussed previously, as it focuses only on how misunderstandings occur in interlingual communication. Interactive studies (see also Rehbein 1985; Hinnenkamp 1989; Agar 1994; Di Luzio, Günthner and Orletti 2001; Knapp 2004) illustrate that interaction analysis not only demonstrates how communication with the Foreign Other (e.g. the stranger) can be problematic, but equally how it can be successful. The publication Beyond Misunderstanding (Bührig and ten Thije 2007) exemplifies a change in research focus, moving away from intercultural misunderstanding towards the reconstruction of successful intercultural understanding. Several theoretical concepts have been proposed to facilitate the analysis. A discursive interculture (Koole and ten Thije 1994) refers to a collection of common discourse structures that interactants have developed in long-standing cooperation in multicultural teams, including structures that do not belong to their respective native languages and cultures. The concept refers to culture that is creatively built in cultural contact. This concept relates to the concept of community of practice (Lave and Wenger 1991). Initially, the latter concept was considered a common learning environment. However, in the field of multilingual and intercultural communication, it has evolved into a unit of analysis on its own to reconstruct recurrent structures of local multilingual communities. Corder and Meyerhoff (2007: 444) summarise three main characteristics: “mutual engagement of members”, “jointly negotiated enterprise” and a “shared repertoire”. The concept of community of practice might replace the traditional unit of linguistic and cultural background as an explanatory framework for intercultural (mis)understanding. Similarly, Spencer-Oatey and Franklin (2009) propose the concept of rapport and rapport management in order to create an alternative to essentialist explanatory frameworks connected to the first definition of intercultural communication. Rapport refers to “people’s subjective perceptions of (dis)harmony, smoothness-turbulence and warmth-antagonism in interpersonal relations” whereas rapport management refers to “the ways in which (dis)harmony is (mis)managed” (Spencer-Oatey and Franklin 2009: 102). These competences are the subject of the next section. In sum, the studies in the interactive approach have in common that they address a fourth fundamental issue that constitutes intercultural communication research, namely the question of how to conceptualise the common construction of success in intercultural communication bound to specific cultural collectives or communities.
63. Intercultural communication
6. Transfer approaches: intercultural competencies The final approach summarises studies on intercultural competencies that originate from cultural psychology, communication studies and education. In this transfer approach the question is to determine which aspects that have been raised by other approaches are important for intercultural competence, and how these aspects can be transferred to others. Intercultural competence is described by Deardorff (2004: 194, 2006: 248) as “the ability to communicate effectively and appropriately in intercultural situations based on one’s intercultural knowledge, skills and attitudes”. According to Knapp-Potthoff (1997) intercultural competence consists of four components: 1. knowledge of language and culture, 2. insight into general communicative principles, 3. strategies of interaction for engaging in intercultural situations, and 4. (cap)abilities to learn in and through intercultural situations. Spitzberg and Changnon (2009) discuss five different types of models of intercultural competence. Compositional models provide lists of relevant abilities, skills and traits (e.g. Spitzberg and Changnon 2009). Although useful in defining the components of competence, these models do not specify relations among said components, nor do they provide criteria or levels of competence (Spitzberg and Changnon 2009). Co-orientational models have a stronger focus on criteria of competence. These models contain interactional achievements of intercultural understanding (e.g. Byram 1997) and are more concerned with “the achievement of some base level of co-orientation toward the common referential world” (Spitzberg and Changnon 2009: 15). Developmental models comprise specific stages of progression, such as the Bennett scale (1986), which describes six stages of increasing sensitivity to difference, ranging from ethnocentrism to ethnorelativism. Where adaptational models also focus on intercultural progression, these models are more specifically aimed at describing the interdependence of participants in the process of cultural learning, including accommodation (Zhu 2014: 157). One example is the acculturation model (Berry 2005), describing four different outcomes of adapting to a host culture in relation to maintaining one’s own cultural identity: integration, assimilation, separation/segregation and marginalization (Spitzberg and Changnon 2009: 26). Correspondingly, Kim claims that individuals with cumulative intercultural experiences undergo an “intercultural evolution”, which is characterised by processes of acculturation and deculturation (Kim 2008: 360−363). Finally, causal process models sketch the interrelationships among components. Deardorff (2004, 2006) proposes such a model which, in addition to the more frequently mentioned knowledge, skills and attitudes, also focuses on desired internal and external outcomes. Although these models differ with respect to disciplinary orientation and specific objectives, they all aim to measure the success of appropriate and effective intercultural communication and relationship maintenance. Furthermore, a basic assumption underlying the above models is the ability to learn and change through intercultural contact. Actually, the fundamental issue that all transfer studies share is the question of how self-reflection can be learned and integrated in intercultural research so that ethnocentric observations and assessments can be prevented. Self-reflection, or reflective learning, is key to many approaches on teaching and learning intercultural competence, which also includes cultural self-awareness. Pedagogical materials such as critical incidents, reflective learning and ethnographic participation are all based on the assumption that reflection is the key to learning (Zhu 2014: 160).
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III. Cultures of communication Interestingly, the third definition of intercultural communication mentioned previously is the central focus of intercultural competence. In accordance with this definition, the essence of intercultural communication is characterised by the transformation of thinking and acting of at least one participant as a consequence of interaction. This critical reflection is exactly what the various models of intercultural competence have in common. Consequently, studies on intercultural competence could profit from reconstructions of what actually is taking place when interactants transform their activity in intercultural communication. Finally, more coherence in all the models of intercultural competence would be possible. The importance of intercultural competence, and therewith of transfer studies, is increasingly acknowledged both in politics and (global) business. For example, the internationalisation of higher education is increasingly promoted as it enables students to gain intercultural competences, crucial for working in globalised societies (Messelink, Van Maele and Spencer-Oatey 2015). As such, all approaches to intercultural communication, as discussed in this lemma, can ultimately feed into a better understanding of successful intercultural communication and into the question of how the corresponding required skills can be learned and stimulated through education, training and diversity management.
7. Conclusion In the presentation of approaches we discussed five fundamental issues that constitute the field of intercultural research. In conclusion we summarise these issues. 1. Intercultural communication research combines etic (universal) and emic (culture spe-
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cific) frameworks to develop explanatory models (e.g. tertium comparationis) for contrasting and comparing languages and cultures. From the Imagological approaches we examine the question of how in discourse and text (e.g. self-images and hetero-images) people deal with the Foreign Other (which includes processes of inclusion and exclusion). The Interlanguage and Multilingual approaches yield the question as to how speakers and hearers cope with different linguistic norms and how maintaining these norms determine mutual understanding (including the management of cultural and linguistic diversity). The Interactive approaches focus on the fundamental question of how intercultural understanding can be conceptualised in interaction itself (including the question of how effective communication can be assessed within a specific collective or community). The Transfer approaches focus on the integration of knowledge, attitudes, capacities and motivation in learnable intercultural competency (including the question of how self-reflection can be guaranteed).
The strength of intercultural communication research is its interdisciplinary character, which connects and integrates these issues to create a maximum impact on scientific and societal developments.
63. Intercultural communication
Acknowledgments The author would like to thank Annelies Messelink for her contributions in preparing this text.
8. Selected references Agar, Michael 1994 Language Shock. Understanding the Culture of Conversation. New York: HarperCollins. Backus, Ad, Durk Gorter, Karlfried Knapp, Rosita Schjerve-Rindler (†), Jos Swanenberg, Jan D. ten Thije and Eva Vetter 2013 Inclusive Multilingualism. Concept, Modes and Implications. In: European Journal for Applied Linguistics 1(2), 179−215. Bathina, Daria 2013 Mind Your Languages. Lingua Receptiva in Estonian-Russian Communication. Utrecht University. Bell Ross, Roberta and Sandra L. Faulkner 1998 Hofstede’s Dimensions. An Examination and Critical Analysis. In: K. S. Sitaram and Michael H. Prosser (eds.), Civic Discourse. Multiculturalism, Cultural Diversity and Global Communication, 31−40. London: Ablex. Beller, Manfred and Joep Leerssen (eds.) 2007 The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey. Amsterdam: Rodopi. Bennett, Milton J. 1986 A Developmental Approach to Training Intercultural Sensitivity. In: Journal of Intercultural Relations 10(2), 179−186. Berry, John W. 2005 Acculturation. Living Successfully in Two Cultures. In: International Journal of Intercultural Relations 29, 697−712. Blum-Kulka, Shoshana, Juliane House and Gabriele Kasper (eds.) 1989 Cross-cultural Pragmatics. Requests and Apologies. Norwood: Ablex. Brown, Penelope and Stephen Levinson 1987 Politeness. Some Universals in Language Use. Cambridge: Cambridge University Press. Bührig, Kristin and Jan D. ten Thije (eds.) 2006 Beyond Misunderstanding. The Linguistic Analysis of Intercultural Communication. Amsterdam: Benjamins. Bührig, Kristin, Juliane House and Jan D. ten Thije (eds.) 2009 Introduction. In: Kristin Bührig, Juliane House and Jan D. ten Thije (eds.), Translatory Action and Intercultural Communication, 1−7. Manchester: St. Jerome Publishing. Byram, Michael 1997 Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence. London: Multilingual Matters. Clyne, Michael 1994 Inter-cultural Communication at Work. Cultural Values in Discourse. Cambridge: Cambridge University Press. Connor, Ulla M. and Ana I. Moreno 2005 Tertium Comparationis. A Vital Component in Contrastive Research Methodology. In: Paul Bruthiaux, Dwight Atkinson, William G. Eggington, William Grabe and Vaidehi
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Jan D. ten Thije, Utrecht (Netherlands)
64. Genderdiskurse 1. Die ‚Karriere‘ der Analysekategorie gender 4. Gender Studies und die neuen 2. Geschlecht als Effekt diskursiver Biowissenschaften Praktiken und Prozesse 5. Literatur (in Auswahl) 3. Geschlecht und Performativität
Für eine Linguistik, die sich als Kulturwissenschaft versteht, sind die weitreichenden Debatten um Genderdiskurse absolut zentral. Gleichzeitig stellen diese Diskurse, das haben die gender studies gezeigt, eine Dimension jedweder kultureller, politischer und ökonomischer Prozesse dar; auch deshalb ist gender zu einer transdisziplinären Analysekategorie avanciert. Genderdiskurse markieren somit ein weites Feld, das im Kontext dieser Publikation notwendigerweise eingegrenzt werden muss. Im Folgenden wird der Begriff „Genderdiskurse“ daher vornehmlich in zweierlei Weise ausgedeutet, umschreibt er doch sowohl die Diskurse der gender studies über deren zentrale Analysekategorie als auch die Diskurse, mittels derer Geschlecht konstruiert und de- und rekonstruiert wird. Dieser Beitrag legt zuallererst die Bedeutung des Poststrukturalismus und der Diskursanalyse für das Potenzial und die Grenzen der gender studies Butlerscher Provenienz und ihre zentralen Begriffe − vornehmlich den der Performanz − dar und
64. Genderdiskurse vollzieht somit den fundamentalen Wandel unseres Verständnisses von gender/Geschlecht in den letzten Jahrzehnten nach. Interessanterweise geht diese Ausdifferenzierung des Konzepts von Geschlecht als Diskurs einher mit einer Konzentration der gender studies auf Fragen von Körper und Sexualität − auf Bereiche menschlicher Existenz und Erfahrung, die sich der Sprache notwendigerweise widersetzen. Der Beitrag schließt mit Überlegungen dazu, wie aktuelle Genderdiskurse sich dieser Herausforderung stellen und dabei einen weiteren Beitrag zur Transdisziplinaritätsforschung leisten.
1. Die ‚Karriere‘ der Analysekategorie gender Genus oder gender ist zunächst eine klassifikatorische Bezeichnung, mit der wir das grammatische und biologische Geschlecht unterscheiden, und als solche ist der Begriff schon lange im Gebrauch. Die Karriere der wissenschaftlichen Analysekategorie Geschlecht dagegen ist eng verknüpft mit dem Aufkommen der Geschlechterforschung, die sich in den achtziger und neunziger Jahren aus den amerikanischen Frauenstudien der siebziger Jahre entwickelte. Dieser Wandel oder besser diese Ausweitung der women’s studies zu den gender studies vollzog sich vor dem Hintergrund einer fundamentalen Kritik am Strukturalismus, die mit den Namen Jacques Derrida, Jacques Lacan und Michel Foucault (vgl. Artikel 12), aber auch mit den Arbeiten von Julia Kristeva, Luce Irigaray und Hélène Cixous verbunden ist. Die dekonstruktivistische Sprachphilosophie Derridas, die revisionistische Psychoanalyse Lacans und die Foucaultsche Diskursanalyse brachten zu genau jener Zeit, als auch der Feminismus zu Höchstform auflief, ein poststrukturalistisches Text-, Subjekt- und Weltverständnis hervor, das zunächst auf die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, dann auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften wirkte und in der Folge auch den feministischen Begriff gender grundlegend veränderte. Bezeichnete gender zunächst eine primär biologisch bedingte sexuelle und soziale Differenz, konzentriert sich die Geschlechterforschung der späten achtziger und der neunziger Jahre auf die kulturelle Verfasstheit oder Konstruktion dieser Differenz. Was Alice Schwarzer als „kleinen Unterschied mit großen Folgen“ beschrieben hat, entpuppte sich als ein systemisches Element kultureller Strukturen und Hierarchien. Während die frühe feministische Wissenschaft und die women’s studies das Konzept von Geschlechterdifferenz zur wissenschaftlichen Perspektive und zum politischen Potenzial erhoben, verstehen die gender studies Geschlecht als relationale Kategorie, als Kategorie, die sich mit Begriffen wie Geschlechteridentität und Geschlechterbeziehung umschreiben lässt und somit beide Geschlechter in ihrer Interdependenz betrachtet. Ein solches Verständnis von gender fußt nicht auf dem Binarismus biologisch-sozialer Differenz, sondern definiert Geschlecht als heterogene politische, soziale, kulturelle und ökonomische Konstruktion. Durch die Zuweisung von Rollen und Funktionen und mittels historisch gewachsener und perpetuierter Fiktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit, so argumentiert die Geschlechterforschung, werden Mann und Frau innerhalb einer Gesellschaft in unterschiedlichen Subjektpositionen verortet. Diese Prozesse werden auch als engendering bezeichnet. Geschlecht im Sinne der gender studies ist somit eine Umschreibung für die multiplen gesellschaftlichen, kulturellen und (geo)politischen Zwänge, denen die biologischen Körper unterworfen sind oder, weniger dramatisch formuliert, mittels derer sie überformt
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III. Kulturen der Kommunikation werden − Zwänge, die dennoch nicht notwendigerweise unausweichlich sind. Die Vorstellung von gender als konstitutives Moment kultureller Beziehungen und Prozesse wendet sich explizit gegen den Glauben an einen biologischen Determinismus. Sie stellt in Abrede, dass Anatomie Schicksal sei, wie Sigmund Freud leichtsinnigerweise behauptet hat. Sie bestärkt vielmehr die von Simone de Beauvoir in Le deuxième sexe (1949) entwickelte These, die Frau werde nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht; Gleiches macht sie jedoch auch für Männer (und Fiktionen von Männlichkeit) geltend. Subjekte finden ihre Position weder durch das, was sie sind, noch durch die Dinge, die sie tun, sondern vielmehr durch die Bedeutung und Wertigkeit, die ihr Sein und Tun im kulturellen Prozess erhalten. Anders als in der Forschung entlang der Leitlinie Geschlechterdifferenz gilt Geschlecht im Sinne der gender studies daher immer auch als prozessual, instabil und wandelbar. In der Betonung dieser Veränderlichkeit von gender liegt denn auch ein Teil des politischen Impetus, der der vorrangig analytisch ausgerichteten Geschlechterforschung allzu gern abgesprochen wird.
2. Geschlecht als Effekt diskursiver Praktiken und Prozesse Für die gender studies sind Geschlechterbeziehungen somit Resultat komplexer politischer, ökonomischer und sozialer Bedingungen und ihrer vielfältigen Ausdeutungen, aber auch ihrer diskursiven Vermittlung, das heißt ihrer Medialisierung. Diese Konzentration der gender studies auf die Diskurse und Prozesse der Geschlechterbeziehungen ist ein Effekt des eingangs erwähnten Paradigmenwechsels in den Sprach-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Die Analysekategorie gender entstand in einer Zeit epistemologischer Krisen, in der die Naturwissenschaften durch die Humanwissenschaften kritisiert und in den Sozialwissenschaften naturwissenschaftliche Paradigmen und Denkweisen von kulturwissenschaftlichen wenn auch nicht abgelöst, dann zumindest grundlegend infrage gestellt wurden. Besonders akzentuiert wurde diese Kritik durch den Dekonstruktivismus Derridas, der die Grenzen (und die gleichzeitige Unausweichlichkeit) von Metaphysik, Humanismus und Empirismus aufzeigte und die vom Strukturalismus postulierte Identität von Repräsentation und Bedeutung aufbrach − vgl. hierzu bereits den frühen Aufsatz Structure, Sign and Play in the Discourse of the Human Sciences (Derrida [1966] 1988). Laut Derrida bewegt sich Bedeutung vornehmlich auf der Ebene von Repräsentationsformen und Rhetorik. Sie wird stets im spezifischen Kontext konstituiert − in der Sprache beispielsweise im Spiel der Signifikanten, in der Gesellschaft im Zusammenwirken verschiedener Institutionen der symbolischen Ordnung. Kulturelle Bedeutung ist somit fließend und flüchtig und dabei immer auch ein Stück weit durch das Nichtgesagte, das Abwesende bestimmt. In einem solchen Verständnis von Sinngebung und Wirklichkeit ist auch Geschlecht selbst, wie Teresa de Lauretis in ihrem Buch Technologies of Gender (1987) argumentiert, (eine) Repräsentation − und die Repräsentation von Geschlecht gleichzeitig auch seine Konstruktion. An dieser Konstruktion, so betont de Lauretis, wird heute ebenso produktiv gearbeitet wie beispielsweise zur Zeit des Viktorianismus. Dabei sieht die Kritikerin gender als ein Produkt verschiedenster sozialer und kultureller Technologien und Techniken, zu denen Gesetzestexte, Kinofilme und die Rituale des täglichen Lebens ebenso gehören wie marginale kulturelle Praktiken − Praktiken wie zum Beispiel drag
64. Genderdiskurse performances, die dominante Fiktionen von Geschlecht durchkreuzen, Geschlecht im Akt der Dekonstruktion gleichzeitig aber auch rekonstruieren. Keinesfalls jedoch ist Geschlecht eine Eigenschaft von Körpern, etwas dem menschlichen Wesen Inhärentes. Unter Rückgriff auf Foucault definiert de Lauretis Geschlecht vielmehr als „the set of effects produced in bodies, behaviors and social relations“ (zit. nach de Lauretis 1987: 3). Demnach kann Geschlecht auch nicht auf spezifische gesellschaftliche Räume oder Prozesse oder gar auf die Differenz von Mann und Frau reduziert werden. Ähnlich wie Macht ist Geschlecht nicht an bestimmte Institutionen oder gar Personen gebunden. Es ist vielmehr dezentriert und allgegenwärtig. Gleichzeitig haben genauere Untersuchungen kultureller und politischer Effekte der mannigfaltigen „Geschlechtertechniken“ ein Wechselspiel zwischen Diskurs und Körper, zwischen kultureller Semantik und sexueller Differenz belegt, eine Interdependenz, die die Definition von Geschlecht als kulturelle Konstruktion letzten Endes unzulänglich erscheinen ließ. Ebenso wie die Vorstellung sexueller Differenz vermag das Konzept von Geschlecht als einem vornehmlich diskursiven Phänomen die Beziehung von Körper und Kultur nicht wirklich zu greifen. Denn weder deckt sich Geschlechteridentität eindeutig mit dem biologischen Geschlecht noch ist unsere Körperlichkeit reine Fiktion. Aus dem Wissen, dass unser Verständnis von Natur und Körperlichkeit einerseits kulturell konstruiert ist, wir uns andererseits aber auch unseres körperlichen Erlebens gewiss sein können, haben die gender studies in den späten achtziger Jahren den Begriff des Geschlechts erneut revidiert und spannende Fragen zur Verschränkung von Körper und Diskurs aufgeworfen.
3. Geschlecht und Performativität Viel beachtete Antworten hat vor allem die amerikanische Philosophin Judith Butler mit ihren Büchern Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity (1990; deutsch Das Unbehagen der Geschlechter) und Bodies That Matter. On the Discursive Limits of “Sex” (1993; deutsch Körper von Gewicht) geliefert. Zentraler Begriff ist dabei der der (gender) performativity, der unter anderem Bezug nimmt auf die Theaterwissenschaft, die Anthropologie Victor Turners, die soziologischen Arbeiten Erving Goffmans und die Sprechakttheorie von Austin und Searle. Butlers Verständnis von Geschlechteridentität als performativer Akt, als Inszenierung, besagt nicht, dass Geschlecht wie ein Kleidungsstück über den Körper gezogen, in Szene gesetzt, beliebig variiert und ebenso leicht wieder abgelegt werden kann. Die Emphase des Theatralischen unterstreicht vielmehr, dass Geschlecht nicht Natur oder Kultur, sondern stets deren Beziehung ist − eine Beziehung, die an den Schnittstellen von Körper und Rhetorik entsteht. Wie für de Lauretis ist Geschlecht auch für Butler ein Effekt diskursiver Praktiken und Machtstrukturen, die den vermeintlich natürlichen Körper nicht überformen, sondern diesen Körper − über Konzeptionen von Natur und Natürlichkeit beispielsweise − überhaupt erst erschaffen. Diese Zusammenhänge konkretisierte Thomas Laqueur in seiner Studie Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud (1990), in der er argumentierte, dass das „two-sex model“, wie wir es kennen − das Paradigma zweier biologisch unterschiedlicher und dennoch komplementärer Geschlechter −, erst im Zuge fundamentaler epistemologischer und gesellschaftlicher Veränderungen im Lauf des 18. Jahrhunderts entstand. La-
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III. Kulturen der Kommunikation queur zeigte auf diese Weise, in welchem Maß unsere Vorstellungen von biologischen Unterschieden durch kulturell konstruierte Vorgaben von Geschlecht und Macht sowie durch religiöse und politische Systeme bestimmt sind. Aufgrund dieser Interdependenz von Natur und Kultur sprechen Vertreterinnen und Vertreter der Geschlechterforschung unter Rückgriff auf Gayle Rubin (1975) häufig von einem sex/gender system, von kulturellen und kulturspezifischen Strukturen, die die Transformation des biologischen Geschlechts in Geschlechteridentitäten steuern, gleichzeitig aber auch auf unsere Wahrnehmung des geschlechtlichen Körpers zurückwirken. Dieses sex/gender system exponiert weibliche und männliche Körper in unterschiedlicher Weise. Durch die spezifisch „männlichen“ Rollen- und Funktionszuweisungen schien die Position des Mannes im Reproduktionsprozess erheblich eingeschränkt, wodurch wiederum der Eindruck der Abwesenheit des (sexuellen) männlichen Körpers im kulturellen System entstand. Die Analyse kultureller Konstruktionen von Männlichkeit − von Positionen, die im Gegensatz zum weiblich-abwesenden Anderen und Mysteriösen stets als das Normale, Universale und Transparente projiziert und lange Zeit nicht problematisiert wurden − rückte daher ins Zentrum der sogenannten men’s studies. Und ebenso wie die Genese der queer studies aus den gay studies wären auch sie ohne die Entwicklung der women’s zu den gender studies nicht denkbar gewesen (vgl. z. B. Brod 1987; Berger, Wallis and Watson 1995; Connell 1995; Kimmel 1996; Reichardt and Sielke 1998; Gilbert 2005; Martschukat und Stieglitz 2007; Watson und Shaw 2011).
4. Gender Studies und die neuen Biowissenschaften Interessanterweise werden die Kategorie gender und die Geschlechterforschung seit einiger Zeit durch die neuen Biowissenschaften auf ganz neue Weise herausgefordert. Und dies hat gerade jene Historikerin klar erkannt, die mit ihrem Essay Gender. A Useful Category of Historical Analysis (1986) maßgeblich dazu beigetragen hat, gender als eine Analysekategorie der Geschichtswissenschaften zu etablieren und deren Bedeutung erst kürzlich durch die Publikation The Question of Gender. Joan W. Scott’s Critical Feminism (2011), herausgegeben von Butler und Elizabeth Weed, gewürdigt wurde. In ihren Überlegungen zur Zukunft der Genderdiskurse, Millenial Fantasies. The Future of ‘Gender’ in the 21st Century (2001), machte Scott unmissverständlich deutlich, „[that] the increasing prominence of neurobiology, microbiology and information technology, the excitement about the Human Genome Project, and the search for genetic explanations for all physical and social conditions have posed strong challenges to constructivism“ (Scott 2001: 30). In der Tat zwingen uns die neuen Lebenswissenschaften, eben gerade jenen theoretischen Paradigmenwechsel zu überdenken, den ich als zentral für die Entwicklung der women’s zu den gender studies beschrieben habe. Die poststrukturalistische Prämisse, unsere Erfahrung der Welt sei stets durch Diskurse vermittelt, so argumentiert Scott, hat uns von der Natur und von den Körpern entfernt. Und während die gender studies der Performativität von Geschlechteridentitäten nachspürten, habe man die sexuellen Körper aus dem Blick verloren (Scott 2001: 22). Die neuen Biowissenschaften, so Scott, zwingen uns, jene Körperlichkeit wieder wahrzunehmen, die sich nicht auf den Begriff der Konstruktion reduzieren lässt. Mittlerweile hat die Geschlechterforschung diese Herausforderungen auf verschiedenste Weisen angenommen. Dabei ging es nicht mehr vorrangig darum aufzuzeigen, wie
64. Genderdiskurse Geschlechterdiskurse auch in die Methoden und Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Forschung eingeschrieben sind. Dies hatten die Arbeiten von Evelyn Fox Keller, Donna J. Haraway, Lily E. Kay und Elizabeth Grosz − um nur einige prominente (Natur-)Wissenschaftlerinnen zu nennen, die als Vertreterinnen einer feministisch motivierten bzw. durch die gender studies inspirierten Wissenschaftsgeschichte und -philosophie gelten − bereits überzeugend dargelegt. Vielmehr galt es, nach „drei Jahrzehnten Feminismus in den Wissenschaften“ (Rolin 2004) gender auch als Analysekategorie in den Naturwissenschaften zu etablieren. Angesichts des wachsenden Prestiges der Natur- und insbesondere der Biowissenschaften hat dies auch zu einer naturwissenschaftlich motivierten Kritik an den gender studies geführt und mit dazu beigetragen, dass die Kategorie sex wiederbelebt und die Debatte um eine biologisch begründete sexuelle Differenz neu entfacht wurde. Diesen Tendenzen, das Verständnis von Geschlechterdifferenz zu „renaturalisieren“, dieser „science of sex difference“ (Jordan-Young 2010) bzw. dem, was Cordelia Fine (2011), schärfer formuliert, als „neurosexism“ bezeichnet, wird vielerorts die Stirn geboten. Dabei scheinen einmal mehr die Grenzen gängiger binärer Erklärungsmuster auf − und dies gilt auch, wie Evelyn Fox Keller neben vielen anderen zeigt (2010), für die irreführende Kontroverse um die Bedeutung von nature versus nurture für Differenzparameter wie Geschlecht. Ein Verdienst der Erforschung von Genderdiskursen ist es, Zwischenräumen und -tönen Geltung und Legitimität verschafft zu haben. Anders formuliert: Die Debatten um Genderdiskurse haben mitnichten an Aktualität und Brisanz verloren, denn die Prozesse des engendering sind zwar wandelbar, doch niemals abgeschlossen, beendet.
Danksagung Ich danke Björn Bosserhoff für kompetente Unterstützung bei der Endredaktion dieses Beitrags, der auf früheren Arbeiten basiert (vgl. insbesondere Sielke 2006).
5. Literatur (in Auswahl) Beauvoir, Simone de 1949 Le deuxième sexe. Paris: Gallimard. Berger, Maurice, Brian Wallis and Simon Watson (eds.) 1995 Constructing Masculinities. New York: Routledge. Brod, Harry (ed.) 1987 The Making of Masculinities. The New Men’s Studies. Boston: Allen and Unwin. Butler, Judith 1990 Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge. Butler, Judith 1993 Bodies that Matter. On the Discursive Limits of “Sex”. New York: Routledge. Butler, Judith and Elizabeth Weed (eds.) 2011 The Question of Gender. Joan W. Scott’s Critical Feminism. Bloomington: Indiana University Press.
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III. Kulturen der Kommunikation Connell, Raewyn W. 1995 Masculinities. Cambridge: Polity Press. Derrida, Jacques [1966] 1988 Structure, Sign and Play in the Discourse of the Human Sciences. In: David Lodge (ed.), Modern Criticism and Theory. A Reader, 107−123. London: Longman. Fine, Cordelia 2011 Delusions of Gender. How Our Minds, Society and Neurosexism Create Difference. New York: Norton. Gilbert, James 2005 Men in the Middle. Searching For Masculinity in the 1950s. Chicago: University of Chicago Press. Jordan-Young, Rebecca M. 2010 Brain Storm. The Flaws in the Science of Sex Difference. Cambridge: Harvard University Press. Keller, Evelyn Fox 2010 The Mirage of a Space between Nature and Nurture. Durham: Duke University Press. Kimmel, Michael S. 1996 Manhood in America. A Cultural History. New York: Free Press. Laqueur, Thomas 1990 Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge: Harvard University Press. Lauretis, Teresa de 1987 Technologies of Gender. Essays on Theory, Film and Fiction. Bloomington: Indiana University Press. Martschukat, Jürgen und Olaf Stieglitz 2007 Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Hamburg: Hamburger Edition. Palm, Kerstin 2004 Gender − eine unbekannte Kategorie in den Naturwissenschaften? In: Therese Frey Steffen, Caroline Rosenthal und Anke Väth (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, 97−109. Würzburg: Königshausen & Neumann. Reichardt, Ulfried and Sabine Sielke 1998 What Do Men Want? The Recent Debates on Manhood and Masculinities. In: Amerikastudien/American Studies 43(4): Engendering Manhood, ed. by Ulfried Reichardt and Sabine Sielke, 563−575. Rolin, Kristina 2004 Three Decades of Feminism in Science. From ‘Liberal Feminism’ and ‘Difference Feminism’ to Gender Analysis in Science. In: Hypatia 19(1), 292−296. Rubin, Gayle 1975 The Traffic in Women: Notes on the ‘Political Economy’ of Sex. In: Rayna R. Reiter (ed.), Toward an Anthropology of Women, 157−210. New York: Monthly Review Press. Scott, Joan W. 1986 Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: American Historical Review 91(5), 1053−1075. Scott, Joan W. 2001 Millenial Fantasies. The Future of ‘Gender’ in the 21st Century. In: Claudia Honegger und Caroline Arni (Hg.), Gender. Die Tücken einer Kategorie, 19−37. Zürich: Chronos. Sielke, Sabine 2006 Let’s Talk About Gender! Zur ,Karriere‘ einer Analysekategorie. In: dies. und Anke Ortlepp (Hg.), Gender Talks. Geschlechterforschung an der Universität Bonn, 11−26. Frankfurt a. M.: Lang.
65. Politische Semantik/semantische Kämpfe
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Watson, Elwood and Marc E. Shaw 2011 Performing American Masculinities. The 21st-Century Man in Popular Culture. Bloomington: Indiana University Press.
Sabine Sielke, Bonn (Deutschland)
65. Politische Semantik/semantische Kämpfe 1. Politische Semantik 2. Semantische Kämpfe
3. Abschließende Bemerkung zu Analyse und Kritik 4. Literatur (in Auswahl)
1. Politische Semantik Die Rolle der politischen Semantik ist kulturwissenschaftlich von Belang, weil die Begriffe des Politischen relevanten Anteil an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger and Luckmann 1966; Searle 2012) haben. Sie stellen prägende Deutungsmuster bereit und generieren Handlungskonzepte, die, in Diskursen entfaltet, mit der Etablierung, Veränderung, auch Destruktion von Institutionen, Rechts- und Wirtschaftsordnungen gegebenenfalls konstitutive Kraft gewinnen. Politische Sprachverwendung ist nicht unabhängig vom politischen System. Hier geht es vor allem um die Verhältnisse in modernen Gesellschaften mit Verfassungen, die Meinungsfreiheit und demokratischen Wettbewerb um politische Macht sichern − exemplifiziert an begriffsbezogenen Auseinandersetzungen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Betrachtet man politische Sprachkämpfe genauer, so zeigt sich, dass Durchsetzung oder Verdrängung nicht selten über den einzelnen Begriff hinaus ein umfassenderes Begriffsnetz betreffen. Fast immer geht es um „framing“, d. h. die Begriffe so zu wählen und zu prägen, dass sie als Bestandteile eines umfassenderen, von Begriffskonstellationen geprägten Deutungsrahmens („frame“) funktionieren, meist in der Dynamik von Diskursen. Begriffe zu besetzen, dient dazu, Diskurse zu besetzen (Kuhn 1991: 103− 105). Der Terminus „Begriff“ wird hier als Bezeichnung für die Einheit aus Ausdruck und Bedeutung verwendet. Nicht alle Wörter sind Begriffe. In politischen Zusammenhängen fallen vor allem definite Nomina (Freiheit, Euro-Rettungsschirm), Adjektive (konservativ, nachhaltig) und Verben (demokratisieren, vergesellschaften) darunter. Begriffe, die politische Zusammenhänge knapp und meinungsbetont bündeln, emotional aufgeladen sind, normativ Geltung beanspruchen und mit hoher Frequenz öffentlich verwendet werden, heißen Schlagwörter. Schlagwörter, die unmittelbaren Zugang in das konzeptuelle Zentrum von Diskursen eröffnen, werden auch als Schlüsselwörter bezeichnet. Die Abhängigkeit politischer Entscheidungen von der Zustimmungsbereitschaft anderer bei gleichzeitigem Wettbewerb mit politischen Gegnern zeitigt auf allen Ebenen
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III. Kulturen der Kommunikation der Politik eine Präferenz für kompetitiv ausgerichtete Persuasivität. Das bedeutet Aufwertung für eigene und Abwertung für gegnerische Konzepte, Positionen und Personen. Auf lexikalischer Ebene begünstigt es Polarisierung, deren stärkste Ausprägung Fahnenwörter einerseits und Stigmawörter andererseits sind (Hermanns 1982: 91−92): Erstere sind Positivbegriffe, an denen man wie an einer Fahne erkennbar sein möchte (für linke politische Parteien beispielsweise soziale Gerechtigkeit), letztere Negativbegriffe, die man politischen Gegnern wie ein Stigma anheftet (linke politische Parteien gegenüber nicht-linken: neoliberal). Besondere Brisanz können Metaphern(netze) gewinnen. Unter suggestiver Ausnutzung assoziativer Analogien wird ein Sachverhalt (z. B. steigende Migrantenzahlen) konzeptualisiert nach dem Modell eines anderen, meist sinnlichanschaulichen Bereichs (z. B. GEWÄSSER > überfluten; Dammbruch) − mit dem Effekt, dass unter Umständen relevante Aspekte des Sachverhalts ausgeblendet werden (hier: die prinzipielle Differenz der Sphäre des Menschen − Individualität, Menschenrechte − zu physikalischen Phänomenen). Unter sprachtheoretischem Aspekt wird im Kampf um Begriffe versucht, eine zentrale Eigenschaft von Sprache, ihre Veränderbarkeit, strategisch zu nutzen − im Bild der Theorie diachroner Prozesse von Keller (1990: 91−105): Die Sprachstrategen wollen die unsichtbare Hand − eine Metapher für den ungesteuerten evolutionären Sprachwandel − in ihrem Sinne führen. Der Erfolg ist allerdings weniger von den Steuerungsbemühungen abhängig als von der Bereitschaft relevanter Medien und Bevölkerungsgruppen zur Übernahme. Analytisch kann man bei Begriffen zwischen folgenden Konstituenten unterscheiden: − dem Ausdruck, vor allem bei Substantiven, Adjektiven und Verben meist Bezeichnung
genannt, − dem Konzept (Bedeutung) mit seinen kognitiven, deontischen und konnotativen As-
pekten, − dem konzeptualisierten Sachverhalt (Referenzobjekt), sei er physisch greifbar (z. B.
Waffen) oder ausschließlich konzeptuell existent (z. B. Idee der Freiheit). Bei der Konstituente Konzept/Bedeutung sind − vor allem im Hinblick auf verschiedene strategische Operationen im semantischen Kampf − genauer zu unterscheiden: − der deskriptive Bedeutungsaspekt: Er ist weitgehend identisch mit der in Wörterbü-
chern angegebenen Bedeutung und umfasst die stabilen sachbezogenen Merkmale, die mit der Verwendung des Begriffs an den bezeichneten Sachverhalten hervorgehoben werden; − der emotionale Bedeutungsaspekt: Politische Begriffe sind − vor allem als Schlagwörter − oft emotional aufgeladen. Wie Hermanns (1995: 150 ff.) und Schwarz-Friesel (2007: 135 ff., 162 ff.) im Anschluss an Bühler gezeigt haben, gehören die im Begriff zum Ausdruck kommenden emotionalen Einstellungen wenn auch nicht immer zur kontextfreien lexikalischen, so doch zur kontext- und/oder diskursspezifischen Bedeutung; − der deontische Bedeutungsaspekt: Das ist die normative Bewertung, die im Begriff zum Ausdruck kommt (Hermanns 1986). In der Politik bleibt Bewertung − anders als etwa im Liebesgedicht − nicht subjektiv-individuell, sondern impliziert ein überindividuelles Sollen, eine intersubjektive, unter Umständen allgemeine Geltung. Motiviert
65. Politische Semantik/semantische Kämpfe wird die positive oder negative deontische Bedeutung vielfach durch emotionale Bedeutungsmomente oder Konnotationen; − Konnotationen: Das sind die mit dem Begriff usuell verknüpften Assoziationen. (In der traditionellen Semantik werden oft sämtliche nicht-deskriptiven Bedeutungsaspekte unter dem Konnotationsbegriff als diffuse Restkategorie zusammengefasst − wie schon Dieckmann (1981: 78−136) beklagt. Beispiel: Terror − Ausdruck: auf das lateinische terror zurückgehendes Fremdwort (sogenannter Interna-
tionalismus = in vielen Sprachen phonetisch-morphologisch ähnliches Wort). − Deskriptive Bedeutung: [„(systematische) Verbreitung von Angst und Schrecken durch
Gewaltaktionen (besonders zur Erreichung politischer Ziele)“] (Duden 2001). − Emotionale Bedeutung: Ausdruck von Abscheu, unter Umständen auch von Furcht
oder Zorn. − Deontische Bedeutung: [ist abzulehnen und zu bekämpfen]. − Konnotationen: z. B. Nine-Eleven-Assoziationen; Verdacht gegen Politiker, den Be-
griff zu missbrauchen u. Ä.; − Referenz: der Bezug auf die als Terror bezeichneten Geschehnisse (wobei umstritten
sein kann, ob sie die einschlägigen Bedeutungsmerkmale tatsächlich aufweisen, d. h., ob sie zu Recht so bezeichnet werden).
2. Semantische Kämpfe Der Kampf um Begriffshegemonie wird vor allem dann bemerkt, wenn er − sei es als Kritik, sei es als Befürwortung − explizit thematisiert wird. Jede Seite pflegt dabei − in einer Art naiv-realistischem Monopolanspruch − die „Richtigkeit“ der Begriffsfassung für sich zu reklamieren. Auch wenn explizite Thematisierung fehlt, findet solcher Wettbewerb unausgesetzt statt. In linguistischer Hinsicht lassen sich die Operationen danach unterscheiden, welche semiotischen Aspekte sie betreffen. Am besten untersucht sind die Angriffsformen, die − unter der markanten, allerdings linguistisch ungenauen Formulierung des damaligen CDU-Generalsekretär Biedenkopf (1973) − als Besetzen von Begriffen zusammengefasst zu werden pflegen. Berücksichtigt man bei der Analyse auch mögliche Reaktionen, so trifft man ein Ensemble weiterer Varianten: Demontage gegnerischer Begriffe, attackieren des Missbrauchs von Begriffen, auf Begriffe festnageln, verteidigen von Begriffen, auch Rückzug aus Begriffen. In Kämpfen um Begriffe manifestieren sich unterschiedliche Arten lexikalischer Konkurrenz. Die bekanntesten sind Bezeichnungskonkurrenz und Bedeutungskonkurrenz. Geht man nach dem Kriterium der Anzahl tangierter semiotischer Aspekte vor, so lassen sich fünf Haupttypen unterschieden (Klein 1991). Sie werden nun an Beispielen aus der deutschen Zeitgeschichte nach 1945 erläutert.
2.1. Bezeichnungskonkurrenz Wenn islamistische Selbstmordattentäter in weitesten Teilen der ‚westlichen Welt‘ mit dem Stigmawort Terroristen bezeichnet werden, von militanten Islamisten hingegen mit
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III. Kulturen der Kommunikation dem Begriff Märtyrer, handelt es sich um Bezeichnungskonkurrenz. Referiert wird jeweils auf dieselben Personen. Aber sie und ihr Tun erfahren ein kontrastierendes Framing. Mit dem Begriff Terroristen ist der Deutungsrahmen ‚staatliches und internationales Recht‘ gesetzt. Es wird darauf abgehoben, dass es sich um Personen handelt, die unter Missachtung des internationalen Kriegsrechts in spektakulären Gewaltaktionen mit möglichst vielen Toten Angst und Schrecken verbreiten. Die Bezeichnung Märtyrer impliziert dagegen den Deutungsrahmens ‚islamistisches Koranverständnis‘ und hebt darauf ab, dass die Personen ihr Leben für Gott opfern. Den Deutungsrahmen (Frames) ist geschuldet, dass die konkurrierenden Bezeichnungen sehr unterschiedliche Gefühlswerte, eine gegensätzliche deontische Ausrichtung und verschiedenartiges Assoziationspotenzial enthalten. Bezeichnungskonkurrenz kann sich auf ganze Begriffsnetze erstrecken. So schlug sich der ideologische Wettbewerb zwischen der Bundesrepublik und der DDR u. a. darin nieder, dass das in der Bundesrepublik hegemoniale Schlagwortnetz „soziale Marktwirtschaft“ durch die DDR-Propaganda in allen wichtigen Kategorien − wenn auch nicht in allen Schlagwörtern − konterkariert wurde. In einer frameanalytischen Darstellung mit den Kategorien als SLOTS und den Schlagwörtern als fillers ergibt sich: − RAHMENSETZENDER ZENTRALBEGRIFF: soziale Marktwirtschaft vs. Kapitalis-
mus; − FUNKTIONSPRINZIP: Wettbewerb vs. Profitmaximierung; − ZENTRALER WERT: Freiheit vs. Unwertbegriffe: Ausbeutung, Entfremdung; − HAUPTBETEILIGTE: Unternehmer vs. Kapitalist; Arbeitnehmer vs Arbeiterklasse;
Verbraucher vs. ??? − RELATIONEN ZWISCHEN DEN HAUPTBETEILIGTEN: Markt vs. ???; (Sozial-)
Partnerschaft vs. Klassenkampf, Herrschaft des Kapitals − ERGEBNIS: Wohlstand, soziale Sicherheit vs. Arbeitslosigkeit.
Es fällt auf, dass in den Kategorien HAUPTBETEILIGTE und RELATIONEN ZWISCHEN DEN HAUPTBETEILIGTEN für die Begriffe Verbraucher und Markt griffige Kontrastbezeichnungen fehlen. Diese für das marktwirtschaftliche System zentrale Seite bleibt im Marxismus-Leninismus weitgehend außerhalb des ideologischen Deutungsrahmens. Auch der gendersensible Kampf für die Verdrängung generisch maskuliner Personenbezeichnungen (Bürger) zugunsten geschlechtsmarkierender (Bürgerinnen und Bürger; BürgerInnen; neuerdings in bestimmten Milieus zur Einbeziehung Inter- und Transsexueller: Bürger_innen, Bürger*innen) fällt unter Bezeichnungskonkurrenz. Das Gleiche gilt für die sprachkritischen Kategorien Political Correctness und Euphemismus. Mit ihnen werden die Gefühlwerte und/oder die deontischen Qualitäten, die in Bezeichnungen zum Ausdruck kommen, von Kritikern aufs Korn genommen. Befürworter von Political Correctness setzen sich dafür ein, abfällige, als diskriminierend empfundene Bezeichnungen für Personengruppen (z. B. Neger) durch neutrale zu ersetzen (Farbiger, Afroamerikaner, Schwarzafrikaner). Euphemismenkritik geht in die entgegengesetzte Richtung. Sie gilt Bezeichnungen, deren emotionssemantische Blässe und neutrale oder positive Deontik dazu dienen, Schlimmes oder Unangenehmes sprachlich zu kaschieren. Das Spektrum reicht vom Euphemismus Sonderbehandlung als zynischer Nazibezeichnung für politisch oder rassistisch motivierten Mord bis zu Allerweltsbegriffen wie Diskussionen zur Verharmlosung harter Auseinandersetzungen.
65. Politische Semantik/semantische Kämpfe
2.2. Deskriptive Bedeutungskonkurrenz Bedeutungskonkurrenz, auch als „ideologische Polysemie“ bezeichnet (Dieckmann 1969: 70 ff.), liegt vor, wenn unterschiedliche Gruppierungen denselben Ausdruck in unterschiedlichen Bedeutungen verwenden. Deskriptive Bedeutungskonkurrenz betrifft vor allem Abstrakta, d. h. konzeptuell ungesättigte Begriffe, deren kontextuelle Konkretisierung erst ihre volle Bedeutung ergibt. Das bietet Freiraum für politiksprachliche Spezifizierungen. Vor allem Hochwertwörter wie Freiheit und Hoffnungsbegriffe wie Reform, auf die keine politische Kraft verzichten möchte, werden bei ideologischen Differenzen möglichst nicht (wie im Fall der Bezeichnungskonkurrenz) durch andere Begriffe konterkariert, sondern werden durch Veränderung der inhaltlichen Momente und Verschiebung der Referenz in den eigenen Deutungsrahmen integriert − bei möglichster Beibehaltung der bewährten deontischen Positivausstrahlung. Während Freiheit in der Programmtradition der SPD primär bedeutet, nicht bedrückt zu sein von entwürdigenden Abhängigkeiten, von Not und Furcht − wofür vor allem der Staat zu sorgen hat (z. B. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1998: 12), steht im Zentrum des liberalen Freiheitsbegriffs ein starker Impetus gegen staatliche Begrenzungen des Handelns der Bürger und darum die Forderung nach weniger Staat (z. B. FDP. Die Liberalen: Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft 1997, 9 ff.). Am Begriff Reform lässt sich zeigen, wie wichtig für die Analyse politischer Bedeutungskonkurrenz die Unterscheidung zwischen kontextfreier lexikalischer Bedeutung und kontextspezifischer Bedeutung ist. Im Wörterbuch finden wir die kontextabstrakte lexikalische Bedeutung: Reform: [planmäßige Neuordnung, Umgestaltung, Verbesserung des Bestehenden (ohne Bruch mit den wesentlichen geistigen und kulturellen Grundlagen)] (Duden [Deutsches Universalwörterbuch] 2001: 1287).
Die Bedeutungsangabe enthält primär deskriptive Elemente und mit „Verbesserung“ darüber hinaus eine positive deontische Markierung. Die kontextabstrakte Bedeutungsangabe ist im Hinblick auf kontextspezifische Verwendungen konzeptuell ungesättigt. Unter frametheoretischen Aspekten eröffnet die kontextabstrakte deskriptive Bedeutung Leerstellen (slots) für kontextspezifische Konkretisierungen (fillers): „Neuordnung“/„Umgestaltung“ welcher Bereiche? Durch wen? Auf welchem Weg? „Verbesserung“ für wen? Auf wessen Kosten? … Solche Konkretisierungen erfahren Begriffe im Rahmen von Diskursen. Zwar verschwand der Begriff Reform nie gänzlich aus dem politischen Sprachschatz. Aber es gab zwei Zeiträume, in denen Reformdiskurse den öffentlichen Raum beherrschten und den Zentralbegriff Reform, insbesondere die Pluralform Reformen, mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen aufluden: Reformen I: [Gesetzgeberische Maßnahmen zur Verbesserung der Situation sozial eher schwacher u./o. rechtlich benachteiligter Gruppen sowie mehr Mitbestimmung und Partizipation in Wirtschaft und Institutionen].
Reformen-Begriff I dominierte vor allem in den Anfangsjahren der sozial-liberalen Koalition (1969 − ca. 1974).
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III. Kulturen der Kommunikation Reformen II: [Gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, insbesondere durch Senkung der Arbeitskosten und Steuererleichterungen sowie Entlastung der öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherungen durch Einschränkung von Sozialleistungen].
Reformen-Begriff II gewann im Rahmen des marktliberalen Reformdiskurses ab Mitte der 90er-Jahre bis ca. 2003 immer stärkere − vor allem mediale − Hegemonie, die sich nach der „Agenda 2010“ langsam und mit der Finanzkrise ab 2008 gänzlich verlor. Die Etablierung von Reformen-Begriff II erfolgte nicht etwa per Neudefinition. Vor dem Hintergrund einer schwächelnden Wirtschaft, befeuert von Wirtschaftsverbänden und führenden Medien, einschließlich eher links eingeordneter Blätter (SPIEGEL, Stern, Süddeutsche Zeitung), wurde ein Diskurs hegemonial, in dem Reform zum Zentrum eines Schlagwortfeldes wird, das nach der Logik eines topischen Argumentationsmusters zur Legitimierung politischen Handelns geordnet ist: Indem die Schlagwörter sich auf die topischen Kategorien Daten, Datenbewertung, leitende Prinzipien und Ziele sowie die als Konklusion gefolgerten Handlungskonsequenzen verteilen, fungieren sie als In-nuceElemente einer komplexen Argumentationsstruktur: − DATEN: x Millionen Arbeitslose, Globalisierung, (deutscher) Sozialstaat − DATENBEWERTUNG: Massenarbeitslosigkeit, Gefährdung des Standorts Deutsch-
land, Überregulierung, Missbrauch des Sozialstaats − PRINZIPIEN: Freiheit, Wettbewerb, Eigenverantwortung − ZIELE: Wettbewerbsfähigkeit, Sicherung des Standorts Deutschland, (neue) Arbeits-
plätze − HANDLUNGSKONSEQUENZEN: Reformen: Deregulierung; schlanker Staat: Steuer-
erleichterungen, Privatisierung; Flexibilisierung: Senkung der Lohnnebenkosten, Lockerung des Kündigungsschutzes (Belege finden sich reichlich in Tageszeitungen, Wochenmagazinen, Wirtschaftspresse, konservativen und liberalen Parteitexten, bei Wirtschaftsverbänden und wirtschaftsfinanzierten Akteuren wie der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“.) Das Schlagwortnetz in seiner Gesamtheit lud den Zentralbegriff Reformen mit seiner zeitspezifischen Bedeutung als Reformen-Begriff II auf.
2.3. Deontische Konkurrenz Die Dynamik deontischer Bedeutungskonkurrenz manifestiert sich im Bemühen, vom Gegner gern benutzte auf- oder abwertende Begriffe umzuwerten. Um das zu erreichen, bedarf es der Änderung von Merkmalen der deskriptiven Bedeutung und daraus sich ergebenden emotionalen Einstellungen und/oder Konnotationen − gegebenenfalls unter Beibehaltung des Referenzobjekts. Hochwertwörter wie Gerechtigkeit bleiben meist verschont. Niemand möchte auf sie verzichten, so sehr ihre deskriptive Bedeutung auch ideologiespezifisch ausgeprägt sein mag (s. o. liberaler und sozialdemokratischer Freiheitsbegriff). Demgegenüber sind Begriffe, die politische Gruppierungen zur Selbstbezeichnung verwenden, oft emotional und deontisch umkämpft.
65. Politische Semantik/semantische Kämpfe Beispiel 1: sozialistisch/Sozialismus Zum Umwerten etablierter Begriffe bedarf es günstiger Bedingungen. So gelang es den sogenannten ‚bürgerlichen‘ Kräften in der Bundesrepublik, das traditionell überwiegend positiv besetzte Wort sozialistisch − das, wie die Parteibezeichnung nationalsozialistisch zeigt, vor dem Zweiten Weltkrieg nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums beliebt war − erst dann beim Gros der Bevölkerung als Stigmawort zu verankern, als der real existierende Sozialismus in der DDR immer mehr als abschreckend und prototypisch für Sozialismus empfunden wurde und den Begriff konnotativ infizierte. Beispiel 2: Umwertungspraktiken des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) Der Grundkonsens in der Akzeptanz des bundesrepublikanischen Institutionengefüges, der ab den späten 1950er-Jahren herrschte, wurde von der ideologischen Vorhut der 68er-Bewegung, dem SDS, infrage gestellt. Das manifestiert sich, wie Scharloth an SPIEGEL-Interviews führender SDS-Vertreter gezeigt hat, sprachlich in der systematischen Negativierung der Bezeichnungen für etablierte Institutionen (Zitate und Analyse nach Scharloth 2011: 280−284): Der Begriff Gesetz wird abgewertet, indem behauptet wird, dass die Gesetze nicht einfach nur Recht repräsentieren, sondern dass sie auch ganz bestimmte Machtverhältnisse repräsentieren. Dem Begriff Bundeswehr wird das − mit der Emotion Misstrauen oder gar Angst behaftete − deskriptive Merkmal [die Bevölkerung bedrohend] zugeordnet, insofern sie in erster Linie eine Bedrohung der Bevölkerung darstelle; denn die Bundeswehr hat infolge der Notstandsgesetze primär die Aufgabe, innere Unruhen zu verhindern. In anderen Fällen erfolgt die Abwertung, indem behauptet wird, dass die politische und administrative Praxis nicht dem entspreche, was die jeweilige Bezeichnung ihrer allgemeinsprachlichen Bedeutung nach beinhalte − in semantische Kategorien übersetzt: wesentliche deskriptive Merkmale würden nicht erfüllt, dafür dominierten andere, bedrohliche. So sei die Pressefreiheit, wie sie allgemein verstanden wird, … in der Praxis … heute längst zerstört. Sie sei die Manipulation eines Großkonzerns, das zu verkaufen, was er will. Und der Begriff Gewalt sei durch Gerichturteil auf harmlose studentische Protestformen (Sit-in auf dem Bürgersteig) ausgedehnt worden − eine durch die Normalbedeutung nicht gedeckte Ausweitung des Referenzbereichs des Begriffs Gewalt. Veränderungen bei den deskriptiven Bedeutungsmerkmalen stehen im Dienst der deontischen Negativierung. Vernetzt sind die Begriffe durch eine Haltung tiefen Misstrauens und die integrierende Konnotation von Machtmissbrauch.
2.4. Konkurrenz politischer Ideen als Begriffskontrast Beispiel: soziale Marktwirtschaft vs. Planwirtschaft (Auseinandersetzung vor allem zwischen CDU und SPD um die Wirtschaftsordnung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg) Hier stehen Begriffe gegeneinander, die in keinem innerlexematisch-semiotischen Aspekt übereinstimmen. Dennoch stehen sie semantisch nicht beziehungslos nebeneinander. Sie fallen unter denselben Oberbegriff (hier: Wirtschaftsordnung) und werden im Diskurs wie Antonyme verwendet.
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III. Kulturen der Kommunikation Umfassende politische Konzeptionen werden durchweg in Schlagwortnetzen durchgesetzt − häufig mit einem Fahnen- und Schlüsselwort als Zentralbegriff. Exemplarisch steht dafür soziale Marktwirtschaft. Der Begriff wurde Mitte der 1940er-Jahre kreiert als Bezeichnung für ein damals neues Wirtschaftsmodell (staatliche Rahmensetzung durch strenge Wettbewerbsordnung, Freiraum für starke Tarifparteien, soziale Mindestsicherung). In der Verbindung von sozial und Markt verdichtet sich die Sehnsucht nach Versöhnung der sozialen und der ökonomischen Dimension von Politik zum Hoffnungsund Programmbegriff. Ab etwa 1948 propagierte die CDU in Auseinandersetzung mit dem damaligen Wirtschaftsmodell der SPD und dessen Schlagwortnetz (Planwirtschaft mit den Elementen Wirtschaftsplanung, Gemeineigentum, öffentliche Kontrolle, Sozialisierung) das Konzept soziale Marktwirtschaft erfolgreich als Zentrum eines Schlagwortnetzes mit deontisch positiven Begriffen: Freiheit, (Leistungs)wettbewerb, Sozialpartnerschaft (zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern), soziale Sicherheit, in den ersten Jahren: stabile Währung, Lastenausgleich, sozialer Wohnungsbau, später: Wohlstand etc. (Wengeler 1995: 42−65; Klein 2010: 16−18). Schlagwortnetze werden vielfach nicht nur durch den Sachzusammenhang, sondern auch durch Konnotationen integriert. Beim Schlagwortfeld soziale Marktwirtschaft war das vor dem Hintergrund der Währungsreform 1948 und dem Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die Konnotation eines selbstbewussten leistungsbezogenen Optimismus.
2.5. Wettbewerb um die Attribuierung attraktiver Konnotate Dass politische Gruppierungen mit ihren politischen Begriffen identifiziert werden möchten, ist ein durchgehender Zug bei den bisher behandelten Begriffsstrategien. Der nun behandelte Typus unterscheidet sich davon: Erstens wird nicht versucht, in die Struktur eines Begriffs einzugreifen. Zweitens geht es nicht um genuin politische Begriffe, sondern darum, ähnlich der Wirtschaftswerbung Alltagsbegriffe mit positiver emotionaler Anmutung für sich zu vereinnahmen. Sie sollen zu imageprägenden Konnotationen des eigenen Parteinamens werden. Gleichzeitig soll in ihnen für die Partei Typisches oder gar Essenzielles zum Ausdruck kommen. Im Bundestagswahlkampf 2013 manifestierte sich in den Hauptslogans von CDU und SPD ein Wettbewerb um die Konnotation der überzeugendsten Gemeinschaftsorientierung, ausgetragen über die Alltagsvokabeln gemeinsam und wir: − CDU. Gemeinsam erfolgreich − Das Wir entscheidet. SPD
Gemeinsam erfolgreich greift Umfrageergebnisse auf, die der CDU die Selbstattribuierung erfolgreich nahelegten. Die Vokabel gemeinsam ist dem Selbstverständnis der CDU als Volkspartei geschuldet und konterkariert den SPD-Vorwurf, die CDU-geführte Regierung gefährde den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im Slogan fungiert gemeinsam als adverbiale Spezifizierung zu erfolgreich. Gemeinschaft ist als Leistungsgemeinschaft konzeptualisiert − auf den Wahlplakaten visuell bestärkt durch strahlende Aktivpersonen. Das ist bei der SPD anders. Mit dem Wir als entscheidender Größe ordnet sich die SPD ihren Traditionsgrundwert Solidarität in personalpronominaler Formulierung zu. Gemeinschaft ist Solidargemeinschaft zugunsten zu kurz Gekommener, wie die Personen auf SPD-Plakaten suggerieren. Es ist der Versuch, in knappster Form ein Gegenbild zur
65. Politische Semantik/semantische Kämpfe CDU-FDP-Politik und der von ihr angeblich geförderten Ichgesellschaft zu formulieren. Hintergrund waren Umfrageergebnisse, die im Begriffsfeld soziale Gerechtigkeit einen großen Vorsprung der SPD vor der CDU zeigten. Zuweilen gelingt es Politikern, sich attraktive Attribute als Konnotate zuzulegen. So konnte der SPD-Politiker und spätere Bundespräsident Johannes Rau aus dem Motto der Auftaktveranstaltung (Ahlen 16. 12. 1985) seiner Kanzlerkandidatur − Versöhnen statt spalten. Johannes Rau − den Menschen näher − die Attribute Versöhner und menschlich als lebenslange Konnotate gewinnen.
3. Abschließende Bemerkung zu Analyse und Kritik Unter kulturwissenschaftlichem und wissenschaftstheoretischem Aspekt lässt sich trefflich darüber streiten, ob das vorgestellte kategoriale Instrumentarium deskriptiv-analytisch oder kritisch-analytisch eingesetzt werden sollte, und wenn Letzteres, ob in parteilicher Absicht, um ideologisch missliebige Positionen zu attackieren − unter dem Label „Kritische Diskursanalyse“ findet sich das nicht selten −, oder ob man versuchen sollte, ein möglichst hohes Maß an Neutralität zu wahren und mit Blick nach allen Seiten relevante Verstöße gegen universelle kommunikationsethische Prinzipien offenzulegen. Die Diskussion darüber kann hier nicht mehr eröffnet werden.
4. Literatur (in Auswahl) Berger, Peter and Thomas Luckmann 1966 The Social Construction of Reality. Garden City, NY: Doubleday. Biedenkopf, Kurt H. 1973 Bericht des Generalsekretärs. In: CDU (Hg.), 22. Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Niederschrift. Hamburg 18.−20. Nov. 1973, 53−63. Bonn. Brunner, Otto, Werner Conze und Reinhard Koselleck (Hg.) 1972−1997 Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1−8. Stuttgart: Klett. Dieckmann, Walther 1969 Sprache in der Politik. Heidelberg: Winter. Dieckmann, Walther 1981 Politische Sprache. Politische Kommunikation. Heidelberg: Winter. Duden 2001 Deutsches Universalwörterbuch. 4. Aufl. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Duden. Felder, Ekkehard (Hg.) 2006 Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York: de Gruyter. Hermanns, Fritz 1982 Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Herbert E. Wiegand (Hg.), Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II, 87−108. (Germanistische Linguistik 3−6.) Hildesheim/Zürich/New York: Olms.
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III. Kulturen der Kommunikation Hermanns, Fritz 1986 Appellfunktion und Wörterbuch. Ein lexikographischer Versuch. In: Herbert E. Wiegand (Hg.), Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie VI. Bd. 1, 151−182. (Germanistische Linguistik 84−86.) Hildesheim/Zürich/New York: Olms. Hermanns, Fritz 1995 Kognition, Emotion, Intention. Dimensionen lexikalischer Semantik. In: Gisela Harras (Hg.), Die Ordnung der Wörter, 138−178. Berlin/New York: de Gruyter. Keller, Rudi 1990 Sprachwandel. Tübingen: Francke. Klein, Josef 1989 Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik. In: ders. (Hg.), Politische Semantik, 3−50. Opladen: Westdeutscher Verlag. Klein, Josef 1991 Kann man ‚Begriffe besetzen‘? Zur linguistischen Differenzierung einer plakativen politischen Metapher. In: Frank Liedtke, Martin Wengeler und Karin Böke (Hg.), Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, 44−69. Opladen: Westdeutscher Verlag. Klein, Josef 2010 Politische Sprachstrategien − dargestellt an schweizerischen, deutschen und US-amerikanischen Beispielen. In: Kersten Sven Roth und Christa Dürscheid (Hg.), Wahl der Wörter − Wahl der Waffen? Sprache und Politik in der Schweiz, 19−35. Bremen: Hempen. Koselleck, Reinhard 2006 Begriffsgeschichten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kuhn, Fritz 1991 ‚Begriffe besetzen‘. Anmerkungen zu einer Metapher aus der Welt der Machbarkeit. In: Frank Liedtke, Martin Wengeler und Karin Böke (Hg.), Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, 90−110. Opladen: Westdeutscher Verlag. Niehr, Thomas 2007 Schlagwort. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 8, 496− 502. Tübingen: Niemeyer. Scharloth, Joachim 2011 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. München: Fink. Schwarz-Friesel 2007 Sprache und Emotion. Tübingen/Basel: Francke. Searle, John R. 2012 Wie wir die soziale Welt machen. Berlin: Suhrkamp. Spieß, Constanze 2011 Diskurshandlungen. Theorie und Methode linguistischer Diskursanalyse am Beispiel der Bioethikdebatte. Berlin/Boston: de Gruyter. Stötzel, Georg 1986 Normierungsversuche und Berufungen auf Normen bei öffentlicher Thematisierung von Sprachverhalten. In: Albrecht Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Bd. 4, 86−90. (Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses, Göttingen 1985.) Tübingen: Niemeyer. Wengeler, Martin 1995 „Der Streit ‚hier Marktwirtschaft, dort Planwirtschaft‘ ist vorbei“. Ein Rückblick auf die sprachlichen Aspekte wirtschaftspolitischer Diskussionen. In: Georg Stötzel und Martin Wengeler, Kontroverse Begriffe, 35−88. Berlin/New York: de Gruyter.
Josef Klein, Berlin (Deutschland)
66. Sprachnormativität/Sprachnormen
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66. Sprachnormativität/Sprachnormen 1. 2. 3. 4. 5.
Präliminarien Sprachnormen Regeln Nichtnormative Bindungen Normativität
6. Wollensbasiertes und sollensbasiertes Normativitätskonzept 7. Normativität der Sprache 8. Desiderate 9. Literatur (in Auswahl)
1. Präliminarien Normativität meint den deontischen Sachverhalt, dass etwas getan werden soll bzw. muss; sie betrifft insbesondere Handlungen oder Handlungsprodukte − im Fall der Sprachnormativität also den Einsatz und die Gestaltung sprachlicher Mittel. Was an (einer) Sprache „gesollt“ bzw. „gemusst“ ist und in welchem Verhältnis dieses zu dem steht, was „möglich“, „üblich“, „regelmäßig“ oder gar „richtig“ ist, wird kontrovers diskutiert; desgleichen, ob diese Attribute jeweils pauschal oder sozial und kulturell differenziert anzuwenden sind. Von einer Norm ist − mit entsprechender Differenzierung − dann die Rede, wenn inhaltlich spezifizierte Normativität („Was soll bzw. muss getan werden?“) soziale Geltung erlangt (oder zumindest unter diesen Anspruch gestellt wird).
2. Sprachnormen Das grundlegende Merkmal einer Norm i. e. S. ist demnach die Verpflichtung, etwas Bestimmtes (in einer bestimmten Weise) zu tun oder zu unterlassen (Gloy 2005: 392). Normen als sozial bedingte Orientierungen, die die Organisation von (sprachlichen) Handlungen leiten (sollen), sind diesen also unabhängig von ihrer Genese vorgeordnet. Das, was durch eine Norm verpflichtend wird, kann ein „Richtiges“, „Zweckmäßiges“, „Angemessenes“ o. Ä. sein, das als dieses aber nicht selbst schon deontischen Status besitzt. Eine Norm ist im Unterschied zu anderen Zwängen (s. Abschnitt 4) gewollt bzw. wird vom Adressaten als von anderen Personen gewollt erlebt. Deshalb ist eine Norm ein intentionaler Sachverhalt, eine „Institution im Reich der Gedanken“ (Gloy 1997), und kein äußerer Tatbestand, was der empirischen Sprachnormenforschung spezifische methodische Schwierigkeiten bereitet (vgl. Gloy 2012a). Dieser Hermeneutik bedingende Status verwirft die Vorstellung, eine Norm sei zeit- und situationsüberdauernd; er akzentuiert stattdessen den auf aktuellen Zuschreibungen beruhenden oder interaktiv hergestellten Seinsmodus der Normen (Gloy 2012a: 34), darin dem Kulturbegriff Max Webers vergleichbar. Standarddeutsch z. B., andernorts zweifelsfrei als Norm institutionalisiert, muss nicht in jeder Verwendung als Norm fungieren; es kann hic et nunc den unmarkierten Fall reiner Gewohnheit darstellen und als diese von den Beteiligten behandelt werden. Deshalb ist es sinnvoll, von ihm als Norm nur zu reden, wenn erwiesenermaßen Normativität im Spiel ist.
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III. Kulturen der Kommunikation
3. Regeln Der Terminus „Regel“ bezeichnet entweder 1. einen deontischen Sachverhalt (und ist dann ein Synonym für Norm) bzw. 2. im Fall der „Spielregel“ einen hypothetischen Imperativ oder 3. einen deskriptiven Sachverhalt und stellt dann eine modellhafte Abbildung empirischer Daten dar, wie sie z. B. Sprachwissenschaftler a posteriori, also aus bereits vollzogenem Sprachgebrauch, vornehmen. Regeln im deskriptiven Sinne (3.) lassen entweder durch Induktion empirischer Daten Sachverhalte höherer Ordnung („Regularitäten“) erkennen oder − als „Erzeugungsregeln“ − prädiktiv die systemmöglichen Formbildungen umgrenzen. Im Unterschied zu Normen verlangen solche Regeln nicht, dass sie befolgt werden. Sie beschreiben lediglich eine Normalform bzw. einen Standard und es muss eigens erklärt werden, ob, warum und wie diese Normalform gegebenenfalls Verpflichtungscharakter erlangt, also in den Status einer Norm übergeht. Die Formulierung Jemand bzw. ein sprachliches Ereignis folgt einer Regel (Der Weg folgt dem Wegweiser) ist im Fall deskriptiver Regeln unangebracht. Allenfalls folgt umgekehrt das Beschreibungsinstrument Regel einer Sprachpraxis, die bereits stattgefunden hat (also, mit Derrida: Der Wegweiser folgt dem Weg).
4. Nichtnormative Bindungen Das Sollen bzw. Müssen der Normativität ist von Bindungen anderer Art zu unterscheiden. Da Handeln sich gegenüber Verhalten durch Motive und Zwecke auszeichnet, ist es schon deshalb in einem bestimmten Sinne gebunden; zusätzlich dadurch, dass es erlaubt, gesollt, gemusst sein kann (Näheres Gloy 2012b). Aber nicht jede dieser Bindungen repräsentiert die der Normativität eigene Verpflichtung. Der hypothetische Imperativ oder die konditionale Regel z. B. (Man muss X tun, damit/sofern Y) ist lediglich ein „Müssen der notwendigen Bedingung“ (Stemmer 2008: 29) und dessen Artikulation ist seinerseits nicht mehr als eine „anankastische Feststellung“ (Wright 1979: 26). Feststellungen können allerdings auch nur scheinbar deskriptiv, tatsächlich aber „von einem Müssen umklammert“ sein (Iorio 2010: 63). Dessen Explikation ergebe etwa den Hypersatz „So soll es sein: … [folgt eine Definition, was z. B. ein Phonem „ist“]“. Umgekehrt (so Giddens 1984: 131) können zweckmäßige Vorschriften mit lediglich kausalen Konsequenzen operieren (Trink kein Wasser, sonst wirst Du krank), während für normative Vorschriften die Richtigkeit des Handelns konstitutiv sei (etwa: Trink kein Wasser; in diesen Kreisen giltst du sonst als langweilig), weshalb die von ihnen auferlegte Verpflichtung keine „naturhafte“, sondern eine „konventionale Notwendigkeit“ (Thomä 1996: 639−640) sei und die Norm selbst, Tugendhat (1993: 36) zufolge, unter dem Vorbehalt stehe, gegebenenfalls aufgekündigt zu werden. Damit aber Normen als Normen störungsfrei operieren können, müssen sie Luhmann (1993: 92; vgl. Artikel 15) zufolge derartige Infragestellungen vermeiden; sie müssen mithin ihren Charakter als andernorts und anonym getroffene Entscheidungen verbergen und dem (Sprach-) Benutzer als etwas erscheinen, was eigene Entscheidungen darüber, was erforderlich ist, überflüssig macht.
66. Sprachnormativität/Sprachnormen
5. Normativität Da das Müssen der notwendigen Bedingung keinen Handlungsdruck ausübt, ist es kein normatives Müssen. Zu diesem wird es, Stemmer (2008: 38) zufolge, dadurch, dass ein Handelnder A den Zweck Y (für dessen Erreichen X getan werden muss) will − dann nämlich muss X normativ getan werden. Aber, so Glüer (2000: 453), falls A X dennoch nicht tut, sei das kein Normenverstoß, sondern nur ein Verstoß gegen eigenes Wollen. Strittig ist, ob Normativität auch evaluative Urteile (Eine gute Bewerbung ist soundso beschaffen) umfasst. Während z. B. Thompson (2008) dies bejaht, bestreitet Glüer (2000: 460) es mit dem Argument, dass ein „richtiger“ (korrekter) Sprachgebrauch nicht schon ein „gebotener“ Sprachgebrauch ist − das werde insbesondere beim Lügen offenkundig. Korrektheitsbedingungen bildeten lediglich einen Standard, der eine Klassifikation („korrekt − inkorrekt“) ermöglicht. Eine Verpflichtung des Korrekten als „geboten“ ergebe sich jedenfalls nicht aus der Semantik von Einstufungsausdrücken. Dass aber aus Standards, da sie Qualitäten (wie z. B. „rationales“ Denken) definieren bzw. musterhaft repräsentieren, in der Praxis gleichwohl Verpflichtungen werden können, betonen Links Analysen von Normalisierungsprozessen (Link 1999). Ebenfalls kontrovers wird die Frage, wo Normativität herrührt, beantwortet. Die übliche, vom Sollen (d. h. vom Wollen eines anderen) ausgehende Erklärung hält neuerdings Stemmer (2008: 46−47) für „grundsätzlich falsch“ und stellt ihr sein wollenskonstituiertes Müssen entgegen. Mit dieser Verlagerung verwirft er die Auffassung, dass Normen allein sozial kontrolliert sind. Gleichwohl nennt er zur Erklärung der Bindungskraft des Müssens auch Umstände, die in diese Richtung weisen, etwa den Fall, dass Y (oder das Wollen von Y) seinerseits von einer Norm gefordert wird, also den Fall des „normgenerierten Müssens“ (Stemmer 2008: 20) oder den Fall des „sanktionsgenerierten Müssens“ (Stemmer 2008: 157).
6. Wollensbasiertes und sollensbasiertes Normativitätskonzept Die Betonung des eigenen Wollens lässt das, was dem Akteur zur Disposition steht, thematisch werden und damit Normativität in Form einer Selbstverpflichtung; die Betonung des fremden Wollens, also des Sollens, bringt dagegen den anderen und mit ihm Machtfragen ins Spiel und ist zu verstehen als Normativität in Form einer Fremdbestimmung. Beide Positionen lassen sich der Unterscheidung in obligatio activa und obligatio passiva zuordnen. Sie bilden nicht zwingend ein aporetisches Verhältnis (etwa zwischen philosophischem und soziologischem Denken), sondern erlauben durchaus die Synthese: Das, was A will (nämlich Y), steht in seiner Macht, das, was A tun muss, sofern er Y will (nämlich X), dagegen nicht. Nur das Wollen As ist eine Selbstverpflichtung, bezüglich alles Weiteren steht A dann in der normbestimmten Situation, ein daran gekoppeltes, von anderswoher bestimmtes X tun zu müssen − und nicht etwa ein von A bevorzugtes Z. Derartige Synthesen haben sich allerdings empirisch zu bewähren, da das Wollen nicht so autonom, wie veranschlagt, sondern selbst sozialisatorisch oder kulturell überformt ist. Der kultursoziologischen Diagnose Schulzes (1992) zufolge gründet der soziale Zusammenhalt mittlerweile zwar weniger auf Traditionen, sondern verstärkt auf Wahlen
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III. Kulturen der Kommunikation der Subjekte; Sozialisationsforschung und die sozialphilosophische Debatte über eine Autonomie des Subjekts (vgl. z. B. Meyer-Drawe 1990) legen aber nahe, dass das Individuum oft nur theoretisch die Chance hat, fremde Anforderungen mit Verweis auf sein anders lautendes Wollen zu ignorieren. Entsprechend kritisch sieht Esfeld (2010) in Stemmers Vorhaben, die Geltungskraft des normativen Müssens aus einem faktischen Wollen herzuleiten, eine problematische Reduktion und plädiert für eine funktionalistische Erklärung des Normativen, wie sie etwa Jackson (1998) vorgelegt hat. Ein sollensbasiertes Konzept von Normativität räumt Einflüssen von außen die maßgebliche Rolle bei der Handlungsgestaltung ein. Seine Kernbegriffe sind − neben den statuierten Normen − der (relevante) andere und dessen normatives Erwarten, d. h. ein solches, das auch im Enttäuschungsfall („kontrafaktisch“) als Sollensforderung beibehalten wird. Als homo sociologicus müsse sich überdies der Mensch an den Erwartungen seiner Mitmenschen orientieren, sein Handeln führe deshalb immer ein soziales Sollen mit, das beanspruche, von gesellschaftlich anerkannten Interessen getragen zu sein (Fuchs-Goldschmidt 2008: 148).
7. Normativität der Sprache 7.1. Konventionalismus Der Konventionalismus stellt bedeutungskonstituierende „Regeln“ in den Mittelpunkt, die, darin einem Codemodell vergleichbar, die Iterabilität sprachlicher Einheiten, eine Konstanz von Sprecher zu Sprecher und von Fall zu Fall, gewährleisten sollen. Diese Axiomatik ist Wittgenstein, Searle, Habermas, Brandom und anderen gemeinsam. Auch Schneider (2003: 88) veranschlagt implizite Regeln, die die Beziehungen zwischen zwei Handlungen („A tun gilt als B tun im Kontext C“) konventionell festlegen; um sie zu erwerben, müsse man allerdings (die Bedeutung von) B bereits gelernt haben und dazu seien, im Sinne von Wittgensteins „Abrichtung“, mehr als konstitutive Regeln, nämlich „pädagogische Handlungen“ (Schneider 2003: 96), mithin Normierungen nötig. Offen bleibt indessen, ob diese Normen, ganz im Sinne des Konventionalismus und seiner Homogenitätsannahme, nicht doch wieder als einheitlich veranschlagt werden.
7.2. Normativismus und Sprachimmanenz Die dem Sprachgebrauch impliziten Normen will Brandom (Brandom 2001a: 239−241) „normativ“, d. h. anhand der Frage, wie man sprachliche Einheiten angemessen bzw. richtig gebrauchen sollte, explizit machen. Die Grundannahme dieses Normativismus ist, dass sprachliche Bedeutungen (intentionale Gehalte überhaupt) wesentlich über die Gültigkeit bestimmter Normen definiert sind. Bei der Analyse des BEHAUPTENs, Brandoms zentralen Gegenstandes, gehe es „stromaufwärts“ darum, welche Umstände uns auf eine fragliche Behauptung festlegen bzw. zu ihr berechtigen, und „stromabwärts“ darum, auf welche Konsequenzen sie uns festlegen bzw. zu welchen sie uns berechtigen (Brandom 2001b: 140). Der Vollzug eines Sprechakts hat in diesem Sinne inferenzielle Konsequenzen für Sprecher und Hörer. Die mit ihm gegebenen Festgelegtheiten und
66. Sprachnormativität/Sprachnormen Berechtigungen gälten „rational“, d. h. unabhängig von der persönlichen „Disposition“ Handelnder (Brandom 2001a: 247). Es geht also um ein „logisches Explizitmachen“ (Deines und Liptow 2007: 59; vgl. Brandom 2001b: 136), das allerdings − so Habermas’ Kritik an Brandom (Habermas 1999: 148−149) − der Unterscheidung zwischen „von uns gesetzten (moralischen) Normen“ und „von uns vorgefundenen Rationalitätsnormen“ ermangele. Brandoms Explizitmachen verdankt sich u. a. Searle, der in seiner Analyse, wie Sprechakte korrekt zu vollziehen seien, ebenfalls den empirischen Sprecher herausgehalten hatte. Die in die Regel einfließende Bedingung für den (von Searle favorisierten) Sprechakt VERSPRECHEN laute deshalb nicht, ein Sprecher müsse die Intention, aufrichtig zu sein, wirklich haben, sondern nur, ein Sprecher müsse anerkennen, dass diese Intention dem von ihm vollzogenen Sprechakt innewohne (Searle 1971: 95−96; Brandom 2000: 826−827). Was Brandom explizit macht, ist also eine Normativität „konstitutiver“ („transzendentalpragmatischer“) Regeln, die als Bedingungen der Möglichkeit richtiger Handlungen allerdings nicht auch schon eine Triebkraft derselben darstellen. Folglich erklären sie nicht den Sprachgebrauch oder auch nur den Schritt von Etwas ist hypothetisch bzw. definitorisch der Fall zu dieses Etwas ist gesollt.
7.3. Weitere Erklärungen Im Unterschied zu derartigen „konditionalen“ Theorien (Bach and Harnisch 1979: 166− 167, 299−300) mit Regeln des Typs „Tue X, sofern Y der Fall ist“ stellt die Normativität regulativer Regeln eine das Handeln bestimmende, mithin deontische Kraft dar. Die Kontroverse darüber, woran Sprecher ihre Sprechhandlungen orientieren, wurde in der Geschichte der Sprechakttheorie um den Aspekt der Perlokution erweitert. Als nicht konventionalisierter Zweck, um dessentwillen ein Sprecher eine Illokution, d. h. einen konventionalisierten kommunikativen Verwendungssinn, einsetzt (vgl. Holly 1979), bietet sie einen Ausweg aus der Selbstgenügsamkeit einer Illokutionstheorie. Eine andere Erweiterung nimmt Stemmer (2008: 342−348) vor. Was Searle, Habermas und Brandom zufolge als Sprachimmanenz zu veranschlagen ist, resultiert für ihn aus einer „Rahmennorm“ (z. B. der, den Gesprächspartner nicht in die Irre zu führen). Sie kann den fraglichen Sprechakt regieren und erst ihr Gewolltsein (nicht schon der Sprechakt selbst) schaffe die fraglichen Verpflichtungen (z. B. aufrichtig zu sein).
8. Desiderate Die Konzepte von Normativität gruppieren sich um mehr als eine Leitdifferenz, nämlich 1. um die Alternative, ob Normativität sprachimmanent (logisch, transzendental) oder in Abhängigkeit von Sprecherdisposition begriffen werden müsse, 2. um die zwischen Wollen und Sollen und 3. um die, ob Normen (Regeln) handlungsleitend sind oder nicht. Alle diese Konzepte, die (sprach)philosophischen einbegriffen, sind mit dem konventionalistischen Gedanken kompatibel, dass Konventionen, Normen und Regeln des Richtigen geschichtliche Phänomene sind. Dennoch werden sie zumeist als gesellschaftlich einheitlich konzipiert und nicht als mehr oder weniger lokale und ständig variierende
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III. Kulturen der Kommunikation Phänomene. Wenn nämlich Brandom (2000: 822) betont, dass die von ihm theoretisierte deontische Kontoführung eine irreduzible soziale Dimension besitze, oder wenn der dazu von ihm herangezogene space of reasons Sellars’ als kultureller Raum ausgegeben wird (so z. B. Misselhorn und Naschert 1997: 4), dann kommt damit zwar Soziales ins Spiel, aber es wird nicht soziologisch befragt, v. a. nicht auf die Heterogenität des Normativen und seine heteronome Herkunft (Gloy 2010). Überdies leidet Köllers Vorhaben (1988: 145−149), die Genese grammatischer Theorien kulturgeschichtlich zu erklären, unter der gleichfalls von ihm vertretenen These, die kulturelle Evolution verhalte sich wie die biologische (Köller 1988: 109). Das rückt Kultur unnötigerweise in die Nähe zu Natur, statt sie als ein Orientierungssystem zu begreifen, das das, was in einer sozialen Gruppe als selbstverständlich bzw. als gemeinsame Überzeugung gilt, festschreibt (Detel 2009: 182−183). Das hiermit zur Debatte stehende Überwinden von Homogenitätsannahmen (und universell geltenden Normen) kann sich auf eine Tradition berufen, die von Humboldt über de Saussures aposème bis zu Derrida reicht: die These, dass die Sprachpraxis (auch) schöpferisch, etwa eine variierende Übernahme (Januschek 1986), ist, in der es Derrida zufolge die von Searle veranschlagte Iterabilität gar nicht geben könne (vgl. dazu Gloy 1998). Das kann freilich zu einem Kulturrelativismus führen, in dem Verbindlichkeit nur noch aus dem je faktisch Akzeptierten erwächst. Hartmann und P. Janich (1996: 27−30) kritisieren dieses an Rorty und setzen dem ihren Methodischen Kulturalismus entgegen. Die Konturen dessen, was dadurch an Neuem in den Blick gerät, zeichnen sich allerdings erst schemenhaft ab (so auch bei N. Janich 2005); Gegenstände wie Lüneburger Heide oder naturidentische Aromastoffe als Kulturprodukte zu interpretieren, weist jedenfalls eine interessante Nähe zum peirceschen Interpretanten und zum Kulturbegriff Detels (2009) auf. Die Explikation dieser Beziehungen und ein Nutzbarmachen für die Sprachnormenforschung stehen freilich noch aus. Zumindest die Kontroverse, ob Normen direkt aus Einzelinteraktionen in Kleingruppen entstehen (wofür wieder neuerdings Tomasello [2009: 360] plädiert) oder ob sie − sofern nicht statuiert − oberhalb der Ebene der Interaktionen als Emergenzen (z. B. historisch objektivierter Sinnstrukturen) verstanden werden müssen (vgl. dazu Niedenzu 2012), würde dadurch neu belebt.
9. Literatur (in Auswahl) Bach, Kent and Robert M. Harnisch 1979 Linguistic Communication and Speech Acts. Cambridge, MA: MIT Press. Brandom, Robert B. 2000 Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp [Original 1994: Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discourse Commitment. Harvard: Harvard University Press]. Brandom. Robert B. 2001a Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp [Original 2000: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism. Harvard: Harvard College]. Brandom, Robert B. 2001b Objektivität und normative Feinstruktur der Rationalität. In: Lutz Wingert und Klaus Günther (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, 126−150. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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III. Kulturen der Kommunikation Iorio, Marco 2010 Was sind Regeln? In: Marco Iorio und Rainer Reisenzein (Hg.), Regel, Norm, Gesetz. Eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme, 47−68. Frankfurt a. M./Berlin: Peter Lang. Jackson, Frank 1998 From Metaphysics to Ethics. A Defence of Conceptual Analysis. Oxford: Oxford University Press. Janich, Nina 2005 Sprachkultur und Sprachkultiviertheit − ein methodisch-kulturalistischer Theorieentwurf. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 1, 14−36. Januschek, Franz 1986 Arbeit an Sprache. Opladen: Westdeutscher Verlag. Köller, Wilhelm 1988 Philosophie der Grammatik. Vom Sinn grammatischen Wissens. Stuttgart: Metzler. Link, Jürgen 1999 Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas 1972 Rechtssoziologie. Reinbek: Rowohlt. Luhmann, Niklas 1993 Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? Heidelberg: C. F. Müller. Meyer-Drawe, Käte 1990 Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München: Kirchheim. Misselhorn, Catrin und Guido Naschert 1997 Kultur, Sprache und Normativität. Tendenzen der analytischen Kulturphilosophie. In: Parapluie − elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen 3, 1−9. Niedenzu, Heinz-Jürgen 2012 Soziogenese der Normativität. Zur Emergenz eines neuen Modus der Sozialorganisation. Weilerswist: Velbrück. Schneider, Hans Julius 2003 Konstitutive Regeln und Normativität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51, 81−97. Schulze, Gerhard 1992 Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Campus. Searle, John R. 1971 Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a. M.: Suhrkamp [Original 1969: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge: University Press]. Stemmer, Peter 2008 Normativität. Eine ontologische Untersuchung. Berlin/New York: de Gruyter. Thomä, Dieter 1996 Schwierigkeiten mit dem Müssen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44, 635−653. Thompson, Judith J. 2008 Normativity. Chicago, IL: University of Chicago Press. Tomasello, Michael 2009 Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp [Original 2008: Origins of Human Communication. Cambridge, MA/London: MIT Press]. Tugendhat, Ernst 1993 Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wright, Georg H. von 1979 Norm und Handlung. Eine logische Untersuchung. Königstein/Ts.: Scriptor.
Klaus Gloy, Oldenburg (Deutschland)
67. Sprachkritik
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67. Sprachkritik 1. Sprachkritik als Teil der normalen Sprachkompetenz 2. Sprachkritische Diskurse in der Gesellschaft
3. Populäre Sprachkritik 4. Literatur (in Auswahl)
1. Sprachkritik als Teil der normalen Sprachkompetenz Sprachkritik ist die Beschreibung, Analyse und Bewertung von sprachlichen Äußerungen, die den Kommunikationsbeteiligten Anlass geben, im Kommunikationsfluss innezuhalten und über das Geäußerte zu reflektieren. Die Ziele der Sprachkritik und die Motive für Sprachkritik sind vielfältig, und sie entsprechen dem Spektrum an Motiven und Zielsetzungen, die die Sprachkritiker haben. Jeder Sprachteilhaber hat eine mehr oder weniger ausgeprägte sprachkritische Kompetenz, die Teil seiner normalen Sprachkompetenz ist. Er setzt seine sprachkritische Kompetenz, die auf seinen lexikalischen, grammatischen und textpragmatischen Kommunikationserfahrungen beruht, ein, um den jeweils anderen besser zu verstehen und sich selbst so verständlich wie möglich zu machen. Die Logik, der die Sprachteilhaber in ihrem für die Selbstreflexion offenen Sprachhandeln folgen, wird durch allgemeingültige Konversationsmaximen bestimmt, die in abgekürzter Form imperativisch formuliert werden können: Sei informativ! Sei wahrhaftig! Sei relevant! Sei verständlich! Die Konversationsmaximen sind als logische Grundlage des natürlichsprachlichen Kommunizierens von Herbert Paul Grice formuliert worden (vgl. Grice 1979; auch Wimmer 2003: 433−441) und können als der bedeutungstheoretisch „springende Punkt“ der sprachlichen Verständigung aufgefasst werden (vgl. Kemmerling 1997). Alle sprachkritische Reflexion orientiert sich an diesen Maximen der Informativität, Wahrhaftigkeit, Relevanz und Verständlichkeit. Die sprachkritische Reflexion nimmt je nach Situation und Interesse des Sprachteilhabers die sprachlichen Ausdrucksformen, die Rollen der Akteure in der Kommunikation und die Handlungssituation und deren Einbettung in die Kommunikationsgeschichte in den Blick. Das Spektrum der sprachlichen Ausdrucksformen, das je nach Anlass der sprachkritischen Reflexion im Zentrum von Analyse und kritischer Bewertung stehen kann, ist breit und reicht von Fragen des Wortgebrauchs, der Grammatik, der Textstilistik (vgl. z. B. Sandig 2006), des Fachsprachengebrauchs (vgl. Fluck 1998), der Geschlechtergerechtigkeit im Sprachgebrauch (vgl. Peyer und Groth 1996), des lebensalterspezifischen Sprachgebrauchs (vgl. zur Jugendsprache Henne 1986; Neuland 2008) bis zum Sprachgebrauch in den Neuen Medien (vgl. Schlobinski 2006). Durch zunehmende Mobilität und aufgrund extensiver Nutzung der Medien bewegen sich die Sprachteilhaber heute rezeptiv-verstehend und aktiv kommunikativ handelnd in einer Vielzahl von Kommunikationssituationen, die durch ein breites Spektrum von sprachlichen Handlungsmustern und entsprechenden Texttypen bzw. -sorten charakterisiert ist (vgl. Janich 2008; Eroms 2008). Interkulturelle Erfahrungen, die durch Arbeitsmigration und Tourismus innerhalb Europas und weltweit ständig zunehmen, stellen hohe Anforderungen an die Verstehens- und Interpretationskompetenz der Sprachteilhaber (vgl. Heringer 2004). Im reflektierten Sprachgebrauch haben die Sprachteilhaber besonders acht auf das, was sie sagen, ferner auf die Rollen, die sie selbst und ihre Partner bzw. Adressaten in
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III. Kulturen der Kommunikation der Kommunikation spielen. Über die unmittelbar situationsgebundenen Intentionen hinaus geht es dabei auch um die Kommunikationserfahrungen und -ziele der Beteiligten. Die Sprachteilhaber positionieren sich im sozialen Raum, markieren ihre Standpunkte und werden sich der Regeln ihres Sprachhandelns bewusst. Aus sprachphilosophischer Sicht kann man sagen, dass sie sich als „Intersubjekte“ begreifen (vgl. Thyen 2007: 88). Das heißt, ihre eigene Identität ist nur möglich und erfahrbar in Bezug auf den jeweils anderen bzw. die anderen. Die Rolle der Sprache wird sichtbar als Bedingung und Mittel zum Entstehen einer kulturellen Identität in einer Gesellschaft (vgl. Bieri 2011: 61−83).
2. Sprachkritische Diskurse in der Gesellschaft Die Sprachkritik hat eine lange Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht (vgl. Schiewe 1998). Aber erst seit der Aufklärung und befördert durch die Entwicklung sowie Verbreitung der öffentlichen Medien werden politisch und gesellschaftlich relevante Probleme und Fragen von allgemeinem Interesse zunehmend in öffentlichen Auseinandersetzungen bzw. Diskursen ausgetragen, die in Fällen von thematischen Zuspitzungen auch als semantische Kämpfe charakterisiert worden sind (vgl. Polenz 1999: 294−337). Der Diskursbegriff wird in der Linguistik heute relativ allgemein gebraucht für alle textlichen Handlungen, mit denen Sprachteilhaber ihre gesellschaftliche Realität bestimmen (vgl. Teubert 2010: 249−258). In semantischen Kämpfen konzentrieren sich die Diskurse auf je aktuelle gesellschaftliche Kontroversen (vgl. Felder 2012), und zwar mehr oder weniger gemäß akzeptierten Verfahren der Argumentation (vgl. Wohlrapp 2008). Da die Fähigkeit zu reflektiertem Sprachgebrauch und die ihr zugrunde liegende sprachkritische Kompetenz Teil der normalen Sprachkompetenz sind, begegnet Sprachkritik in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das heißt im privaten, im halböffentlichen und im öffentlich-politischen Raum. Mit Bezug auf sprachliches Handeln in all diesen Lebensbereichen haben Linguisten, Psychologen und Soziologen sprachkritische Analysen durchgeführt und Empfehlungen gegen „verletzende Worte“ und die „Grammatik sprachlicher Missachtung“ gegeben (vgl. Herrmann, Krämer und Kuch 2007). Ein Konzept für Argumentationsintegrität ist gegen „Hass-Sprache“ und unfaires Argumentieren entwickelt worden (vgl. Groeben 2009). Die erarbeiteten Vorschläge und Normen beziehen sich auf Aussagen, Texte und Kommunikationssituationen jeder Art. In Deutschland ist nach dem 2. Weltkrieg eine gesellschaftspolitisch bedeutsame, öffentliche Sprachkritik entstanden, die Impulse und Themen aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der politischen Geschichte Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert aufgenommen hat (vgl. Wimmer 2000a, 2000b). Deutschland, dessen beide nach dem 2. Weltkrieg entstandene Staaten, im Osten die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und im Westen die Bundesrepublik Deutschland (BRD), erst im Jahr 1989 wieder vereint wurden, gilt im Unterschied zu anderen westeuropäischen Staaten wie Großbritannien und Frankreich als die „verspätete Nation“ (vgl. Plessner 1982). Ein damit zusammenhängendes Bewusstsein von prekären gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen mag in Deutschland zur Beförderung von öffentlicher Gesellschafts- und
67. Sprachkritik Politikkritik beigetragen haben. Die ideologie- und sprachkritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der von ihm verursachten europäischen Katastrophe des 2. Weltkriegs ist in der BRD entscheidend angestoßen worden durch die Auseinandersetzung mit dem in der Publizistik entstandenen Wörterbuch des Unmenschen (Sternberger, Storz und Süskind 1957). In der DDR hat Victor Klemperer, von den Nationalsozialisten als Jude verfolgter Dresdner Romanist, 1947 seine Essaysammlung zur Sprache des Nationalsozialismus (LTI, Lingua Tertii Imperii) publiziert, die auf Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit vor 1945 beruht (Klemperer 2010). Durch Publikationen von Zeitzeugen wie Klemperer und Sternberger (vgl. Dodd 2007; Fiedler 2005) und durch die Wirkungen, die diese Publikationen gehabt haben, ist in Deutschland eine antifaschistische Sprachkritik entstanden (vgl. Polenz 1999: 314−322). Das Vokabular und die charakteristischen Sprachmuster der Nationalsozialisten sind in sprachkritischen Wörterbüchern und Dokumentationen dargestellt und analysiert worden (vgl. Berning 1964). Als ständiger Bezugspunkt im Hintergrund dieser Sprachkritik können Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache (Mauthner 1982) gelten, die zuerst Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen sind. Es gibt in der Gesellschaft und im kulturellen Leben zahlreiche Diskursfelder, in denen Sprachkritik eine Rolle spielt. Wichtige Diskursfelder sind: Politik, Verwaltung, Fachsprachen, Sprache und Recht, Finanzen, Wirtschaft, Gesundheit, Gleichberechtigung und Diskriminierung. Der Sprachgebrauch in der Politik überfordert insbesondere in Situationen von Mehrfachadressierungen häufig die Verstehensmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger (vgl. Polenz 1999: 523−575; Dieckmann 1975; Heringer 1982, 1990; Strauß 1985; Eppler 2009). Die für Wahlentscheidungen und aktive Bürgerbeteiligung erforderlichen Informationen reichen oft weit über den vom Normalbürger überschaubaren Lebensraum hinaus und erfordern außerdem europäische Perspektiven und auch Kenntnisse über politische Ereignisse weltweit (vgl. Habermas 2011). Die semantischen Kämpfe in der Politik sind entsprechend durch ein breites Spektrum von Themen und gesellschaftlichen Einstellungen und Meinungen geprägt, die Manipulationen ausgesetzt sind (vgl. Müller 2009). − Die Kommunikation zwischen öffentlicher Verwaltung und Bürgern macht immer mehr „Übersetzungshilfen“ für halbterminologisierte Ausdrücke und überkomplexe Texte erforderlich (vgl. Eichhoff-Cyrus und Antos 2008). − In der zunehmend technisierten Verwaltung der Gesellschaft und der immer komplizierter verwalteten Alltagswelt werden von den Bürger(inne)n möglichst breit gefächerte Fachsprachen- und Fremdsprachenkenntnisse erwartet. Verstehenshemmende Terminologisierungen und funktionsschwacher Fachsprachengebrauch werden kritisiert (vgl. Fluck 1998). − Die zunehmende Verrechtlichung unserer Lebenswelt in Alltag, Beruf und Freizeit macht immer mehr Verstehenshilfen für rechtssprachliche Terminologisierungen erforderlich und befördert Diskurse und Kontroversen über Rechtsnormen und ihre Begründung (vgl. Busse 1992; Christensen und Kudlich 2001; Grewendorf 1992; Jeand‘Heur 1989; Lerch 2004; Müller 2008; Müller und Wimmer 2001; Seibert 2004). − Im Gesundheitswesen sind beispielsweise Arzt-Patienten-Gespräche seit Langem ein Thema für die Sprachkritik (vgl. Lörcher 1983). − Viele finanzwirtschaftliche Vorgänge, Aktionen und Handlungen sind für die am konkreten Warenhandel orientierten Marktteilnehmer immer weniger nachvollziehbar und verstehbar. Menschliche Lebensregungen jeglicher Art nach ihrem Preis, unter dem Gesichtspunkt ihrer „Bepreisung“ (vgl. Vogl 2010: 139) zu betrachten, wird kritisch analysiert und abgelehnt. − Diskriminierende Ausdrucksweisen, die sich auf die ethnische Herkunft, das Geschlecht, die Position in der
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III. Kulturen der Kommunikation Gesellschaft oder auf körperlich-geistige Eigenschaften des Menschen beziehen, sollen vermieden werden. Die kommunikationsethische Forderung ist, die Position des eigenen Ich immer in Anerkennung des anderen als eines Gleichen zu bestimmen (vgl. Honneth 2010). Die Einhaltung einzelner normgerechter Verhaltensweisen wird oft unter dem Stichwort political correctness eingefordert (vgl. Dudenredaktion 1999: 2959). − Seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich verstärkt eine feministische Sprachkritik entwickelt (vgl. Polenz 1999: 326−332), mit dem Ziel, einen Frauen diskriminierenden Sprachgebrauch zu vermeiden und dadurch zur Verringerung der Frauendiskriminierung in der Gesellschaft und insbesondere im Berufsleben beizutragen (vgl. Pusch 1980). − Auf der Grundlage der zahlreichen Arbeiten zur Sprachkritik in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind zusammenfassend orientierende Arbeiten erschienen, die zur Etablierung der Sprachkritik in Forschung und Lehre beigetragen haben. An den Universitäten Freiburg und Greifswald sind wort- und konzeptorientierte Analysen entwickelt worden (vgl. Pörksen 1988; Schiewe 1998, 2011). An der Universität Düsseldorf sind kontroverse Begriffe des öffentlichen Sprachgebrauchs untersucht worden (vgl. Stötzel und Wengeler 1995). Am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim wurde ein Wörterbuch brisanter Wörter erarbeitet (vgl. Strauß, Haß und Harras 1989). Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) analysiert und beschreibt kontinuierlich unter sprachkritischen Gesichtspunkten relevante Diskurse in der Gesellschaft (vgl. Jäger 2009). Das Spektrum an Themen und gesellschaftsrelevanten Problemen, das unter sprachkritischen Gesichtspunkten aufgegriffen wird, überschreitet oft die engeren Fachgrenzen der Linguistik, sodass eine Zusammenarbeit der Sprachwissenschaft mit anderen Sozialwissenschaften angezeigt ist (vgl. Schwinn 1996).
3. Populäre Sprachkritik Die sogenannte populäre Sprachkritik unterscheidet sich von anderen, insbesondere wissenschaftlich begründeten Formen der Sprachkritik dadurch, dass sie den Schwerpunkt des Interesses nicht auf eine möglichst differenzierte und linguistisch begründete Analyse der fokussierten Phänomene legt, sondern vornehmlich auf Beschreibungen zielt, die mehr oder weniger explizit interessegeleitete Darstellungen und Bewertungen der fokussierten Phänomene in der Gesellschaft aufnimmt und oft mit dem Ziel diskutiert, bestimmte Entwicklungen und Trends im Sprachgebrauch zu beeinflussen. Die populäre Sprachkritik ist normativ und zielt auf eine Einwirkung auf den Sprachgebrauch, z. B. im Sinne einer Sprachpflege, die sich an jeweils üblichen Korrektheitsnormen und mehr oder weniger zeit- und anwendungsbezogenen Stilvorstellungen orientiert (vgl. Greule und Ahlvers-Liebel 1986). Der praxisorientierten Sprachpflege dienen Sprachratgeber für die Allgemeinheit (vgl. Eisenberg 2007) oder auch für bestimmte Berufsgruppen wie etwa Journalisten (vgl. z. B. Schneider 2005). Ein großes und bis heute virulentes Thema der Sprachpflege ist der Fremdwortpurismus (vgl. Polenz 1999: 264−293). Fragen der Staats- und Nationenbildung werden in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert angesichts einer − im Vergleich zu anderen europäischen Ländern − verspäteten Ausbildung einer Staatsnation in besonderer Weise mit einer Art Sprachnationalismus verknüpft (vgl. Gardt 2000: 247−271; Pfalzgraf 2006). Noch im Jahr 2000 schreibt Walter Krämer, der Vorsitzende des „Vereins deutsche
67. Sprachkritik Sprache“, zur Kritik von Anglizismen im Deutschen: „Meine Vermutung ist: wir flüchten nicht eigentlich aus unserer Sprache (das ist nur ein Symptom und für die Flüchtenden eher nebensächlich), wir flüchten aus unserer nationalen Haut als Deutsche“ (Krämer 2000: 261). Das Zitat zeigt, wie im Fremdwortpurismus Sprachkritik zu politischen Zwecken missbraucht werden kann. Es wird ignoriert, dass das Deutsche im Lauf seiner Geschichte immer eine plurizentrische Sprache war, in verschiedenen Ländern bzw. Staaten gesprochen wurde und dementsprechend nie einen bestimmten national geprägten Wortschatz hatte (vgl. Polenz 1996). Die Existenz zweier deutscher Staaten nach dem 2. Weltkrieg hat zwar zu sprachlichen Unterschieden vor allem im öffentlichen Sprachgebrauch geführt, den Kern des Wortschatzes aber nicht beeinflusst (vgl. Hellmann 1973, 1995; Polenz 1999: 555−571). Bezüglich der Beschreibung und Bewertung von Fremdwörtern ist aus linguistischer Sicht die Frage zentral, welche fremden Worteigenschaften an einem Ausdruck festgestellt werden können, wobei der Kernwortschatz einer Sprache als Maßstab für eine Orientierung dienen kann (vgl. Eisenberg 2011: 29). Entlehnung aus anderen Sprachen ist ein wichtiges Mittel der Wortschatzerweiterung und für alle natürlichen Sprachen, die immer im Kontakt mit anderen Sprachen sind, völlig normal (vgl. Moraldo 2008). Im häufigen Gebrauch verlieren Fremdwörter schnell ihre als fremd empfundenen Eigenschaften und werden zu sogenannten Lehnwörtern als Bestandteilen des üblichen Wortschatzes. Eine Inanspruchnahme der Lehnwortthematik für politische Fremdheitsdiskurse ist linguistisch nicht zu rechtfertigen. In Deutschland gibt es eine etablierte feuilletonistische Sprachkritik, die regelmäßig in den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen in Erscheinung tritt und auffälligen Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit, in der Politik, in den Medien und in der Literatur kommentiert und kritisiert. Einer der prominentesten Autoren dieser Sprachkritik ist Dieter E. Zimmer, der für die Wochenzeitung DIE ZEIT Tendenzen des Sprachwandels beschrieben und kommentiert hat und sich in seinen Buchpublikationen zuweilen polemisch gegen eine amerikanisch-kognitivistische Sprachauffassung wendet, in der für praktische Sprachkritik und Bewertungen des je aktuellen Sprachgebrauchs kein Platz ist (vgl. Zimmer 2005: 299−347). Die Gegenwartslinguistik scheint für Zimmer wesentlich amerikanisch-nativistisch-generativistisch geprägt und dementsprechend verschließt sich ihm der Blick für eine europäische Tradition der Betrachtung der natürlichen Sprache als einer offenen, unabschließbaren, sozialen Praxis. Der authentische de Saussure als einer der Gründerväter der europäischen Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts vertrat mit seiner These der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens dessen grundsätzliche Offenheit und Wandelbarkeit im Gebrauch (vgl. Jäger 2010: 162). Die kreative Vielfalt des Sprachgebrauchs in der Literatur ist von dem Journalisten Thomas Steinfeld anhand von zahlreichen Beispielen aus der deutschen Literatur unter sprachkritischen Gesichtspunkten dargestellt und analysiert worden (vgl. Steinfeld 2010). Der Journalist Bastian Sick hat in Onlinekommentaren Auffälligkeiten und Kuriositäten im aktuellen deutschen Sprachgebrauch unter die Lupe genommen und seine sprachkritischen Glossen auch in öffentlichen „Deutschstunden“ vor großem Publikum vertreten. Er versteht sich als „ironischer Geschichtenerzähler“ (Sick 2008: 15).
4. Literatur (in Auswahl) Berning, Cornelia 1964 Vom ‚Abstammungsnachweis‘ zum ‚Zuchtwart‘. Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin: de Gruyter.
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III. Kulturen der Kommunikation Biere, Bernd Ulrich und Rudolf Hoberg (Hg.) 1995 Bewertungskriterien in der Sprachberatung. (Studien zur deutschen Sprache 2.) Tübingen: Narr. Bieri, Peter 2011 Wie wollen wir leben? St. Pölten/Salzburg: Residenz. Busse, Dietrich 1992 Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. (Reihe Germanistische Linguistik 131.) Tübingen: Niemeyer. Christensen, Ralph und Hans Kudlich 2001 Theorie richterlichen Begründens. (Schriften zur Rechtstheorie 203.) Berlin: Duncker und Humblot. Dieckmann, Walther 1975 Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. 2. Aufl. Heidelberg: Winter. Dieckmann, Walther 1981 Politische Sprache. Politische Kommunikation. Vorträge, Aufsätze, Entwürfe. Heidelberg: Winter. Dieckmann, Walther 1992 Sprachkritik. (Studienbibliographien Sprachwissenschaft 3.) Heidelberg: Groos. Dodd, William J. 2007 Jedes Wort wandelt die Welt. Dolf Sternbergers politische Sprachkritik. Göttingen: Wallstein. Dudenredaktion 1999 Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Bd. 7. 3. Aufl. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Duden. Eichhoff-Cyrus, Karin M. und Gerd Antos (Hg.) 2008 Verständlichkeit als Bürgerrecht? Die Rechts- und Verwaltungssprache in der öffentlichen Diskussion. (Thema Deutsch 9.) Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Duden. Eisenberg, Peter 2007 Richtiges und gutes Deutsch. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. (Duden 9.) 6. Aufl. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Duden. Eisenberg, Peter 2011 Das Fremdwort im Deutschen. Berlin: de Gruyter. Eppler, Erhard 2009 Der Politik aufs Maul geschaut. Kleines Wörterbuch zum öffentlichen Sprachgebrauch. Bonn: Dietz. Eroms, Hans-Werner 2008 Stil und Stilistik. (Grundlagen der Germanistik 45.) Berlin: Schmidt. Felder, Ekkehard (Hg.) 2012 Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin: de Gruyter. Fiedler, Mark 2005 Sprachkritik am öffentlichen Sprachgebrauch seit 1945. Gesamtüberblick und korpusgestützte Analyse zum „Wörterbuch des Unmenschen“. Tönning/Lübeck/Marburg: Der Andere Verlag. Fluck, Hans-Rüdiger 1998 Fachsprachen und Fachkommunikation. (Studienbibliographien Sprachwissenschaft 26.) Heidelberg: Groos. Gardt, Andreas (Hg.) 2000 Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin/New York: de Gruyter.
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Rainer Wimmer, Mannheim (Deutschland)
68. Politics and policies of language
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68. Politics and policies of language 1. Language regimes 2. The political nature of language 3. Motivations and objectives
4. Actors in the field of language policy 5. Conclusions 6. Selected references
1. Language regimes Language policy can be defined as the deliberate formation, stabilization or change of a language regime (Coulmas 2005). As this term is understood here, it comprises a set of legal codes, common law rules, assumptions and ideologies pertaining to language in a society. Good historical overviews of language policy are available in Ricento (2000), Spolsky (2004), Joseph (2006) and Kamusella (2009), among others. So there is no need to recapitulate this history here. Suffice it to point out that as a field of modern scholarship, language policy came to the fore in the postcolonial period as many new states had to establish their own language regime. A language regime is the manifestation of a power structure in regards to language, but not language only. While this is obvious in colonial settings, it is also true generally. The present world order that combines some 200 states with about 6500 languages implies that political authority has to deal with linguistic diversity virtually everywhere, and it also implies that language groups are positioned in asymmetric relations within a society. Language policy must start with assessing the actual power relations obtaining in the situation at hand. In most cases these amount to hierarchical relationships between a privileged language and several disenfranchised, marginalized languages; for there is a great imbalance in the languages of the world. On the basis of data from Ethnologue (http://www.ethnologue.com/web.asp) Crystal (1999) reckons that 96 per cent of the world’s languages are spoken by only 4 per cent of the world population. Virtually every language regime thus involves majority-minorities relationships which often involve potential or actual conflict (Nelde 1987). Examples of discriminatory language regimes are plentiful: Polish was proscribed in Polish schools under Czarist Russian rule; Korean was outlawed in the Japanese empire; the use of Chinese characters was banned in Indonesia for decades. Less overt forms of discrimination are much more common. Therefore, while in the 1960s−1970s language policy was primarily concerned with language problems of newly independent postcolonial states, a major interest of language policy research today is how and to what extent language policy contributes to the reproduction or reduction of social, economic and political inequality between language groups (Tollefson 1991). Language regimes and the policies directed at these regimes can be identified at international, cross-border, national and regional levels. International organisations such as the African Union, the European Union and the United Nations have language regimes that accord official status to some languages but not others. In border regions such as Italy’s (partially) French speaking Aosta Valley or Southern Schleswig in northern Germany with many Danish speakers intergovernmental agreements protect the minorities’ interests. In the EU such agreements have been largely superseded by an elaborate European language regime (Council of Europe 1998a, b). National language regimes are in
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III. Cultures of communication most cases predicated on the assumption that a proper state should have a national language, by statute or common law (MOST Clearing House 1994−2003). On the regional level, special provisions for particular languages are often made, such as the Welsh Language Act of 1993 designed for the promotion of the Welsh language in Wales. Much like other policies, language policy is subject to vested interest and politics. Where an established language regime is to be changed to conform to a new language policy, specific language planning measures must be designed. Four conceptual approaches to language policy have been distinguished in the literature. The legal approach emphasises questions of official recognition of languages and their admissibility in state institutions such as the national assembly, courts of law, schools, etc. (Varennes 1996). The cultural approach is concerned with questions of identity, ideology and the promotion of languages for cultural purposes (Schiffman 1996). The educational approach focuses on mother tongue teaching, bilingual education, literacy and foreign language teaching (Heller & Martin-Jones 2001). And the economic approach tries to understand how language variables, e.g., multilingualism and standardization, affect economic variables, such as income distribution and national wealth (Grin 2003; Gazzola 2014). Language policy is the result of choices. Three types of choices are: choices on the macro level (status planning), choices on the micro level (corpus planning), and technological choices. Unlike other branches of the science of language, which take an interest in the natural, self-contained aspects of language, language policy takes issue with language as an artefact that is subject to deliberate formation. Choice is the key notion and point of departure of language policy.
2. The political nature of language All language choices are political. Whether a variety is accorded the status of national, official, working-language, or minority language is often highly contentious. For instance, in 2007, the General Council of the French department of Pyrénée-Orientales officially recognized Catalan as one of the languages of the department after its use in official documents had been prohibited for more than 300 years. Language status choices are politically sensitive both because they are symbolically important for the language community and because they have a bearing on what its members can do with the language: Can they receive publically financed school instruction, space in public media, information and services in public administrations, ballots, etc. Micro level choices likewise often grow out of political struggles. Designating certain forms as standard and others as sub-standard; defining norms for registering names, for instance for spouses; and authorizing technical terms and titles invariably reflect vested interest and power relations. This is even more obvious where the purge of politically inopportune or offensive language, such as sexist, racist, blasphemous and ageist expressions is at issue. Ideological doctrines, such as political correctness and freedom of expression, are here often pitted against each other. Micro choices may have repercussions on the macro level. For instance, defending a language in the name of its purity against “corruption” in the form of massive lexical borrowing is a common concern of language activists. However, as Jaffe (1999) has demonstrated for Corsican, purism can be counterproductive for adapting a language to
68. Politics and policies of language the requirements of modern communication and shedding the image of being only a carrier of tradition and marker of identity, while the majority/national language serves the functions of wider communication. Selecting a variety for teaching and learning at school is always the result of political partiality and frequently bears witness to claims to privilege and power. While the Catalan education authority regards Valencian as a dialect of Catalan, a 1982 law of the Generalitat Valenciana stipulates that Valencian is the Valencian community’s language which its citizens have a right to use (Mac and Chriost 1998). If Arabic is taught in Dutch primary schools to accommodate the Moroccan minority, the question arises whether this should be Modern Standard Arabic or Moroccan Arabic (Saidi 2001). Problems such as these where different interest groups vie for the recognition of their preferred variety are ubiquitous. Technological choices pertaining to the selection of writing systems, orthographies, scripts and other encoding systems such as Braille and electronic codes for language processing are likewise contingent on political predilection. Where writing reform proposals are to be accepted or rejected, expert advice can usually be had for either case (Coulmas 2009). In script choice − e.g., Arabic or Latin script for Turkic languages in post-Soviet Central Asia − linguistic considerations play second fiddle to ethnic, religious and political alignment (Hatcher 2008). As illustrated by the above examples, language policy decisions are rarely made on scientific grounds alone, but reflect power differentials, attitudes and special interests.
3. Motivations and objectives Language policy is invariably grounded in language ideologies which provide the motivations and objectives of particular language choices. Most prominent among these are nationalism, managing language conflicts, (indigenous and migrant) minority accommodation and/or protection, and language promotion and/or revitalization. Spreading its language internationally as a foreign language is an objective pursued by a few Western countries only, joined by Japan and, recently, China. With the exception of the latter two the languages thus promoted are those that constitute the most enduring heritage of colonialism. Organisations such as Alliance Française, Instituto Cervantes and Goethe Institut, though nominally charged with the promotion of language and culture continue to serve the goal of maintaining power and influence. The market leader in this regard, English, has provoked much discussion about “linguistic imperialism”, mainly associated with the work of Phillipson (2003) which has contributed much to bringing the power dimension of language promotion and language policy into focus. Within the context of post-colonial nation building, language policy was and in certain parts continues to be motivated by nationalism. Emulating the European model of a nation state with a dominant language that serves integrative functions seemed an obvious choice; for European nations were rich and (allegedly) monolingual, whereas postcolonial states were poor and multilingual. Serious research about any connections between linguistic fragmentation and national wealth was initiated only much later (Pool 1991; Nettle and Romaine 2000), but the formula “one nation one language” had a strong appeal to development planners. The problem was that only few autochthonous
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III. Cultures of communication languages could easily fulfil the full range of functions of the all-purpose European standard languages, lacking nationwide reach, standardization, modern terminology and prestige. Pattanayak’s (1988) argument that the dominant models of language policy assume the monolingual norms of Western societies can hardly be disputed, but the motivations of language policy in developing countries linked linguistic standardization and unification to educational advancement and economic development, rather than to heritage cultivation. Language policy was seen as a tool of nation building and social engineering. Meanwhile the discourse about language policy in Western countries, where linguistic unification and the marginalization of minority languages has been carried furthest, took a critical turn. From promoting the national language, the focus has shifted to minority rights (May 2001), reversing language shift (Fishman 1991), bilingual education (Baker 2001), multiculturalism (Lo Bianco 2007), immigration induced multilingualism (Extra and Yağmur 2012; Coulmas 2010) and the conservation of the world’s endangered languages (UNESCO). Motivations for language policy reflect political developments, but both are not always in accord. For instance, after the accession to the EU, in some Eastern European countries renewed national self-assertion came into conflict with the relatively minority-friendly language regime developed over the years in the former (Western European) EU where nationalism has been toned down. Thus a law that as of 2004 made Latvian the only language of instruction in Latvia’s public secondary schools had to be amended, contravening as it did the European Charter for Regional and Minority Languages, since Latvia is home to a large minority of monolingual Russian speakers.
4. Actors in the field of language policy Any language policy must be conceptualized and promoted, decided upon and implemented. The actors involved in these three phases can be characterized as policy sponsors, decision makers, and the executive arm of government. First, policy sponsors make a case to promote, proscribe, legalize, or tolerate an expression (e.g., “retarded” in US official documents), a variety (e.g., Valencian in Valencia) or a language (Russian in Latvia’s public schools) in specified domains of use. These can be experts, pressure groups and other associations that adopt the case as their own. Next, national, regional, municipal bodies or international organizations draw up and pass legislation or rules of procedure, for instance, granting a language official status. Given the many laws on the books that have or may be interpreted as having implications for language use, the decision makers must have legal expertise or rely on legal advice; for the rule of law in modern states has led to a high degree of legalization of language, with sometimes unanticipated and unwelcome consequences. A brief section from the European Patent Litigation Agreement (2007) may serve to illustrate how convoluted things can become: 7.2 The language regime is based on the time-honoured language regime of the EPO [= European Patent Office, F. C.] (three official languages), as adapted to post-grant litigation (on the model of the London Agreement on the application of Art. 65 EPC).
68. Politics and policies of language At first instance, the language of the proceedings will be: − Before the Central Division, the language of the proceedings before the EPO. − Before a Regional Division located in a State having an EPO official language as official language, that official language. − Before a Regional Division located in a State having either more than one or no official language which is one of the official languages of the EPO, any official language of the EPO designated by that State. Before the Court of Appeal, the language of the proceedings will always be the language of the first-instance proceedings.
Finally, if the parties agree, the Court may allow the use of a language other than the language of the proceedings during all or part of the proceedings. A language policy must be implemented by agencies of the public sector, curriculum planners, schools and many other organizations. Public and private broadcasting stations, publishers and other media are also involved, by decree or on a voluntary basis. For language policy to be effective these three actors must work closely together. The Arabisation policy of Morocco which for decades strove with little success to replace French by Arabic in the educational system illustrates well how difficult it is to dislodge an entrenched language regime (Grandguillaume 1983).
5. Conclusions Language policy is first and foremost a policy field where practical solutions and compromises rather than theoretically sound and unassailable answers must be found. The ways in which language is conceptualized have a bearing on language policy, and these ways differ markedly between the various actors of language policy. Linguists’ notions of language are more sophisticated than laypeople’s ideas, but it is far from certain that they are more germane to language policy. Yet, linguists of various sub-disciplines such as Psycholinguistics, Sociolinguistics and Language Pedagogy have valuable contributions to make to language policy. They have accumulated much knowledge about how languages are acquired by children and adults, how languages function in society, how they influence each other and change and how collective language behaviour can be influenced. Linguists can therefore provide important inputs at every step of the complex undertaking that is language policy: − − − − −
Describing and assessing the existing language regime; identifying the factors that can have a bearing on language policy making; defining realistic goals; recommending suitable methods for implementation; monitoring and assessing the effects of language policy measures.
At the same time it must be born in mind that language policy is policy rather than linguistics and that linguists, although they command superior knowledge of language as a human capacity and a social fact, have no special claim to defining or appraising policy goals.
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III. Cultures of communication
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Florian Coulmas, Duisburg (Deutschland)
IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Linguistics as the study of culture
69. Einführung: Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft 1. Ausgangslage 2. Sprachwissenschaft zwischen Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften 3. Die Sprachwissenschaft im Feld kulturalistischer Disziplinen
4. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft: eine theoretische Orientierung 5. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft: thematische Orientierungen 6. Literatur (in Auswahl)
1. Ausgangslage Die Sprachwissenschaft steht momentan noch immer (wie schon im 19. Jahrhundert) in eklatanter Weise zwischen einem den Naturwissenschaften abgeschauten Verständnis von Gegenstand, Methoden und Theorien einerseits und einem Verständnis der Sprache als eines genuin kulturellen, aus sozialen Prozessen entstehenden Mediums menschlicher Kommunikation andererseits. Der durch Snows ([1959] 1987) Bemerkung von den „zwei Kulturen“ auf den Punkt gebrachten Dichotomie „Naturwissenschaft vs. Kulturwissenschaft“ muss spätestens seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts jedoch ein gewichtiger dritter Mitspieler hinzugefügt werden: die Sozialwissenschaften (s. dazu Abschnitt 2). Der „naturwissenschaftelnden“ Gesetzesorientierung stand jedoch bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine eher kulturwissenschaftlich orientierte Konzeption von Sprache als dialogisches (W. v. Humboldt), mediales (Schleiermachers und Boeckhs Hermeneutik) und gesellschaftliches (Herder, Humboldt) Phänomen gegenüber. Die etwa in Boeckhs (1877, 19) Programm der Philologie als einer „Nachconstruction der Constructionen des menschlichen Geistes in ihrer Gesammtheit“ deutlich werdende kulturwissenschaftliche Orientierung wurde jedoch durch formalen Strukturalismus und logische Sprachtheorie im 20. Jahrhundert überrollt, wenn nicht ausradiert. Indem sich die Isolation eines von allen kulturellen, sozialen und psychologischen Aspekten gereinigten idealen Gegenstandes „Sprache“ (langue) mit einem am Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften orientierten sowie einem idealsprachlich motivierten logizistischen Verständnis von Sprache zu einer zunehmend dominanter werdenden strategischen Allianz verband, wurden alle kulturellen, sozialen, kontextuellen, medialen usw. Aspekte von Sprache in den exterritorialen Bereich einer „parole-Linguistik“ ausgelagert und ausgegrenzt, dem fachpolitisch nur widerwillig ein eigenes Existenzrecht zugestanden wurde. Auf methodischer Ebene galt die Dominanz des Szientismus auch für viele Ansätze der im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts neu aufkommenden Soziolinguistik; selbst die ebenfalls neue und neue Gegenstände in die Linguistik einführende Pragmatik ist kulturalistischen Avancen (von wenigen Ausnahmen wie Höflichkeitsforschung abgesehen) deutlich ferngeblieben. Letzteres gilt auch fast durchgängig für die aktuelle kognitive Linguistik. Aus all diesen Gründen bleibt das Feld kulturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlich reflektierter Forschung zu und über Sprache und Sprachgebrauch auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nach wie vor ein linguistischer Theorie- und Forschungsbereich mit abundantem Nachholbedarf und einer Fülle zu lösender Probleme und Aufgaben.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
2. Sprachwissenschaft zwischen Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften Gegen eine auch heute noch wirkungsmächtige Schule der modernen Linguistik, die mit Macht versuchte, diese als Zweig der Biologie zu etablieren (Chomsky) muss daran erinnert werden, dass das Nachdenken über Sprache zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu tiefen Einsichten in das Wesen dieses Phänomens geführt hat, die durchaus auch kulturelle und soziale Aspekte berührten (Herder, W. v. Humboldt, H. Steinthal, A. Boeckh, H. Paul, G. v. d. Gabelentz, F. de Saussure, E. Husserl, K. Bühler). Wenn solche Aspekte und Überlegungen in Theorie und Gegenstandsbestimmung der modernen Sprachwissenschaft jedoch nicht durchdrangen, so hat dies zwei Gründe, einen sozialhistorischen und einen wissenschaftshistorischen. Zum einen wiesen im 18./19. Jahrhundert die Sprachen unseres Kulturkreises noch nicht den heute feststellbaren Stand an Funktionsvielfalt und Differenziertheit auf, weshalb im weitesten Sinne „mediale“ Aspekte der Sprache noch nicht ins wissenschaftliche Blickfeld gelangten. Zum anderen muss auf die in ihren theoretischen und innerdisziplinären Auswirkungen bis heute kaum gewürdigte Tatsache hingewiesen werden, dass eine „Sozialwissenschaft“, die diesen Namen wirklich verdient, eine Errungenschaft erst des 20. Jahrhunderts sein sollte, weshalb in diese Richtungen gehende Überlegungen im 18./ 19. Jahrhundert, aber auch im 20. Jahrhundert selbst noch bei Autoren wie Wittgenstein höchstens implizit in präsoziologischer Form (siehe die Dialogizität bei W. v. Humboldt oder Sprachspiel- und Lebensform-Begriff bei Wittgenstein) aufscheinen, aber nicht „auf den Begriff gebracht werden“ konnten. Dies hat zur Folge, dass alle sprachtheoretischen und -philosophischen Arbeiten (aber auch die konkreten Forschungsziele und -methoden der empirischen Sprachwissenschaft) vor der Entfaltung moderner sozialpsychologischer Konzeptionen symbolischer gesellschaftlicher Interaktion (etwa bei K. Bühler, G. H. Mead, A. Schütz) unter einem eklatanten Mangel an Reflektion der sozialtheoretischen Grundlagen von Sprache und menschlicher Kommunikation leiden. Eine „Sprachwissenschaft ohne Theorie symbolischer sozialer Interaktion“ ist daher noch immer Standard und einer der wesentlichen Gründe dafür, warum sich eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Linguistik bis heute nicht in den Kern der Disziplin vorarbeiten konnte. Eine Sprachwissenschaft, die diesen Namen wirklich verdienen will, muss jedoch ihre Position in Grundlagentheorie, gegenstandsbezogener Theoriebildung sowie Methodik im Dreiecksbezug von Sozialtheorie, Geistes- bzw. Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften finden und definieren (vgl. dazu ausführlicher Busse 2005, 2009). In die immer noch erkennbare grundlagentheoretische Lücke könnte eine genuin kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik stoßen, wenn sie ihre bisweilen beobachtbare Neigung zu isolierend-verdinglichenden Hypostasierungen kulturgenerierter Phänomene („die Schrift“, vgl. Derrida, oder „das kulturelle Gedächtnis“) aufgibt und mit dem kulturellen das soziale Fundament sprachbezogener Leistungen, Produkte, Performanzen und Regularitäten zu erklären und analysieren sucht. Selbst das Gros kulturwissenschaftlich-linguistischer Forschung könnte auch momentan noch eine intensivere sozialtheoretische Reflexion ebenso gut vertragen wie eine Orientierung an dem Standard sozialwissenschaftlicher Methodenreflexion (ohne dass deren Methodiken im Einzelfall zwingend übernommen werden müssten). Wie eine engere Integration kognitivistischer, kulturalistischer und sozialwissenschaftlicher Theorien über und Methoden der Erforschung von
Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft Sprache im Einzelnen genau aussehen könnte, ist eine komplexe Frage, deren Antworten im gegebenen Rahmen jedoch leider nicht mit der gebotenen Tiefe ausgelotet werden können.
3. Die Sprachwissenschaft im Feld kulturalistischer Disziplinen Kulturwissenschaftliche Ansätze mit (unterschiedlich starker) Resonanz in den modernen Text- und Sprachwissenschaften waren etwa 1. die Strömungen von „Neostrukturalismus“, „Poststrukturalismus“ und „Postmodernismus“ (siehe Namen wie Lévi-Strauss, Lacan, Foucault, Barthes und Derrida), 2. die von Maurice Halbwachs’ (1925, 1952) bereits ab den 1920er-Jahren entwickelter Theorie des kollektiven Gedächtnisses inspirierten Arbeiten z. B. von Jan und Aleida Assmann (1997), 3. die ebenfalls bis in die 1920er-Jahre zurückliegenden Arbeiten der französischen Annales-Historikerschule (LeGoff, LeRoyLadurie, Lefebvre, Duby u. a.), 4. die ethnographisch orientierten Arbeiten aus dem Bereich der Kulturanthropologie (Tylor, Frazer, Malinowski, später Geertz [vgl. Artikel 14], Salzmann u. a.) und 5. schließlich die erstaunliche kulturalistische Wende von Autoren der (vormals stark logikzentrierten) analytischen Philosophie (wie Rorty). Ansätze einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik haben sich seit den 1990er-Jahren nicht so sehr eindeutig in diesem Feld positioniert (in dem Sinne, dass sie einen eindeutig definierten theoretischen Standort im Feld der neuen Kulturwissenschaften festgelegt hätten), vielmehr haben sie einfach Anleihen genommen bei Autoren, Theorien, Strömungen kulturwissenschaftlicher Forschungen im weitesten Sinne, wie sie in verschiedenen Nachbarwissenschaften en vogue waren. Dabei kann man drei (oder vier) Schwerpunkte theoretischer oder methodischer Orientierung ausmachen (hier in der Reihenfolge ihres historischen Auftretens): 1. die Diskurstheorie („Genealogie“, „Archäologie des Wissens“) von Michel Foucault (vgl. Artikel 12) und der von ihm angestoßenen Forschungen; 2. die Orientierung an der sogenannten Mentalitätsgeschichte, in der Anstöße der Kollektives-/Kulturelles-Gedächtnis-Theoreme mit Vorbildern aus der Annales-Historikertradition verbunden wurden; 3. gelegentlich auch Orientierungen an Jacques Derridas dekonstruktivistischer Schrift- und Schriftlichkeitskonzeption; 4. Orientierungen an modernen und postmodernen Medialitätstheoremen verschiedener Provenienz und Radikalität. In gewissem Sinne kann man zu den im weiteren Sinn kulturorientierten Ansätzen auch noch die Linguistische Gesprächsanalyse nennen, zu deren wissenschaftlichen Genen die soziologische Schule der Ethnomethodologie gehört, sowie aus der Kognitionswissenschaft kommende Modelle wie etwa die Theorie „konzeptueller Metaphern“ von Lakoff und Johnson, die heute meistens von sich als kulturwissenschaftlich verstehenden Linguisten angewendet werden. Trotz dieser verschiedentlichen Anleihen fehlt bis heute eine eindeutige Positionsbestimmung der meisten sich als kulturwissenschaftlich verstehenden linguistischen Ansätze im Feld der Kulturwissenschaften insgesamt.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
4. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft: eine theoretische Orientierung Nachfolgend sollen im Sinne einer ersten theoretischen Orientierung einige Grundlagenaspekte einer (je nach Geschmack: auch oder vorrangig) kulturwissenschaftlichen Linguistik skizziert werden. Dies dient einem ersten Überblick über diejenigen Aspekte und theoretischen Fragen, die zum Zweck einer sprachtheoretischen Grundlegung der kulturwissenschaftlichen Linguistik näherer Diskussion bzw. Ausarbeitung bedürften.
4.1. Basics: Sprache, Kognition, conditio humana Gegen ein eher an der Oberfläche des Sprachbegriffs und der Sprachtheorie verharrendes Verständnis dessen, was eine Sprachwissenschaft zu einer „kulturwissenschaftlichen“ macht, bleibt festzuhalten, dass dem Phänomen „Sprache“ bis in seine grundlegendsten Aspekte und Prinzipien ein mit demjenigen, was man üblicherweise „Kultur“ oder „kulturell“ nennt, aufs Engste verflochtenes Moment inhärent ist. Wenn „Sprache“ und „Sprachfähigkeit“ seit je her in dem Sinne als Ausweis der conditio humana begriffen werden, dass sie als ein (oder das vornehmliche) criterium discernendi zwischen „Mensch“ und „Tier“ gelten, dann ist dies wohl vornehmlich durch solche Merkmale des „Menschseins“ begründet, die als im weitesten Sinne kulturell oder kulturinduziert aufgefasst werden können, wobei gilt: Das Kulturelle ist zugleich immer auch das Soziale. Dieser Gedanke war implizit bereits bei W. v. Humboldt (1820: 35) spürbar, wenn er in so unnachahmlicher Weise schreibt, dass „das Wort […] dem Begriff […] bedeutend von dem Seinigen hinzu[fügt]“. („Das Wort, welches den Begriff erst zu einem Individuum der Gedankenwelt macht, fügt zu ihm bedeutend von dem Seinigen hinzu, und indem die Idee durch dasselbige Bestimmtheit empfängt, wird sie zugleich in gewissen Schranken gefangen gehalten.“) Man wird in diesem Gedanken Humboldts unschwer einen impliziten Verweis auf die soziale Sphäre und den sozialen Kontext der Entstehung menschlicher Begriffe (und damit von „Sprache“ im spezifisch menschlichen Sinne, aber auch von Denken/Kognition und Wissen/Episteme) sehen können. Ohne Wörter (sprachliche Ausdrucksmittel als externalisierte Instrumente gesellschaftlicher Interaktion) gibt es keine identifizierbaren Gedanken; erst durch sie bekommt Gedankliches eine Identität, Abrufbarkeit und Wiederholbarkeit; das heißt aber auch: Erst durch sie wird es wandlungsfähig und kann eine Geschichte bekommen. Zugleich geben die sozial generierten und funktionierenden sprachlichen Mittel dem Epistemischen Struktur und begrenzen es, spannen es gleichsam in das Korsett sprachkonstituierter Strukturen ein.
4.2. Elementare Medialität: Sprache als Medium erster Ordnung Da sich die Kulturalität der Sprache auf der Ebene der sozialen („kommunikativen“) Interaktion entfaltet, kann der eigentliche Grund der kulturellen Bindung von Sprache und Sprachgebrauch in ihrem fundamentalen Grundzweck und -charakter gesehen werden, den ich als elementare Medialität (oder Medialität erster Ordnung) bezeichne. Als
Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft medium (Mittleres und Mittler) zwischen zwei oder mehr in der sozialen Interaktion miteinander verbundenen Individuen ist das äußerlich wahrnehmbar gemachte Zeichen Aktivierungsanlass individuell erworbenen, aber über die Zeichenausdrücke kulturell rückgebundenen (meist auch: strukturierten) Wissens und eben genau zu diesem Zweck überhaupt in dieser Situation entäußert − äußerlich (wahrnehmbar) gemacht − worden. Diese Medialität (erster Ordnung) konstituiert dabei nicht nur allererst die Kulturalität der Sprache und des sprachinduzierten und -strukturierten individuellen wie gesellschaftlichen Wissens; der kulturelle Prozess der auf erlernten bzw. eingeübten Mustern beruhenden sozialen Interaktion macht diese Instrumente als solche (und damit als medium) überhaupt erst möglich. Oder (um es in der Redeweise mancher sprachanalytischer Philosophen auszudrücken): Medialität und Kulturalität der Sprache sind „intern miteinander verknüpft“ (d. h. begrifflich, im begrifflichen Kern der Kategorien untrennbar miteinander verbunden), d. h. zwei Seiten ein und derselben Medaille. Diese primäre Medialität der Sprache ist mit ihrer kognitiven Funktion (siehe Abschnitt 4.1) engstens verknüpft. In der Sprache (im sprachlichen Zeichen) verbinden sich zwei Aspekte der primären Medialität: Das Zeichen ist medium (tertium) als Verknüpfer einzelner Instanzen kognitiver Aktivität ebenso wie medium (tertium) zwischen zwei oder mehreren Individuen im sozialen Prozess der kommunikativen Interaktion. Beide Aspekte bedingen einander. Wie ohne das kognitive tertium im Geist kein Gedanke als Gedanke fassbar (und auch nicht entäußerbar, kommunizierbar) ist, so ist er ohne Entäußerung und Wiederaufnahme als sozial-interaktives tertium (Humboldts „Zurückstrahlen aus einer fremden Denkungskraft“) nicht stabilisierbar. Erst die sich nur in der sozialen Interaktion herausbildenden Muster der Konstitution und des Gebrauchs dieses tertiums (mediums) können diejenige Stabilität von Elementen des Wissens (und schließlich ganzen Strukturen und Netzen) begründen, die eine unmittelbare Voraussetzung dafür ist, dass man sagen kann, dass es so etwas wie „Kultur“ überhaupt gibt.
4.3. Sekundäre und posteriore Medialitäten An dieser Stelle greift unmittelbar das ein, was ich (in Abgrenzung von den unter 4.2 genannten Aspekten) als sekundäre (und weitere posteriore) Medialitäten bezeichne. Insofern Oralität und Literalität als kulturell determinierte Aspekte/Eigenschaften sozialer Interaktion begriffen werden, handelt es sich hierbei um Aspekte der Medialität sprachlicher Erzeugnisse, in denen sozial rückgebundene Muster kommunikativer Entäußerung sich in je unterschiedlicher Weise entfalten und durch ihre je spezifischen Eigenschaften (und in den je spezifischen Produktionsbedingungen der diesen Mustern folgenden Instanzen) bis auf die in diesen medialen Formen verhandelten „Inhalte“ durchschlagen können. Das sprachphilosophisch postulierte „Prinzip der Ausdrückbarkeit“ (Searle [1969] 1971: 35) findet seine Ergänzung oder gegebenenfalls Korrektur in solchen sozial konstituierten (und damit kulturell generierten und determinierten) Mustern sekundärer Medialität; es wird zu einem „Prinzip der Ausdrückbarkeit nur in einer bestimmten, medial durchformten Weise“. Gilt dies schon für die hier als „sekundär“ eingestuften medialen Aspekte der Oralität und Literalität, so gilt es umso mehr für solche posterioren Aspekte medialer Prägung, die üblicherweise unter Begriffen wie Gattungen oder Textsorten verhandelt werden. Jede instrumentale („symbolische“) Kommunikation (als gesellschaftlich rückge-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft bundene) trägt die Spuren ihrer Prägung durch sozial ratifizierte Muster (der Interaktion, Kommunikation, auch inhaltlichen/epistemischen Anordnungen) in sich. Sprache als primäres Medium der Interaktion/Kommunikation entfaltet sich in den Medien zweiter Ordnung nur unter der Maßgabe der Prägung und Strukturierung durch diese (noch stärker und direkter als die vorgenannten) kulturell beeinflussten und konstituierten posterioren Formen der Medialität. Mit anderen Worten: Was überhaupt kommuniziert werden kann, wird stets nur und immer unter dem Einfluss und der entscheidenden Prägung durch die Bedingungen der primären, sekundären und posterioren Medialität(en) gleichermaßen kommuniziert (produziert und rezipiert).
4.4. Sozialität und cultural impact Es ist wichtig, dabei zu beachten, dass die hier postulierte Sozialität von Sprache und Sprachgebrauch nicht nur (wie häufig eher zugestanden) auf den Ebenen sekundärer und posteriorer instrumentaler Strukturen durchschlägt, sondern die conditio sine qua non sprachlicher Instrumentalität im Kern (also auch auf der oben beschriebenen Ebene primärer Medialität) darstellt. Überzeugende (empirisch gestützte) Evidenz dafür gibt es aus dem Kernbereich der Kognitions- und Gedächtnistheorie. Insbesondere Bartlett (1932) hat dazu wichtige Hinweise geliefert. (Vergleiche zu den hier angestellten Überlegungen ausführlicher Busse 2007: 270 ff. Zu einer zusammenfassenden Darstellung von Bartletts Beitrag zu einer epistemisch reflektierten Sprachtheorie vgl. Busse 2012: 311 ff.) Folgt man Bartlett, dann ergibt sich, dass die schon auf der Ebene der Konstitution von Sprache (nämlich von Konventionen und Regeln, die jede Sprache tragen muss) wirksamen Prinzipien wie Abstraktion und Typisierung nicht erst in und mit Sprache (als Voraussetzungen des Entstehens sprachlicher Konventionen/Muster und damit sprachlicher Zeichen und letztlich der Sprache selbst) wirksam werden, sondern laut Bartlett bereits auf dem fundamentalen Niveau elementarster erster Gedächtnisleistungen. Diese Typisierung ist nun, so seine in unserem Zusammenhang äußerst wichtige Einsicht, kein Ergebnis rein individueller kognitiver Leistung. Sie nimmt vielmehr die sozial erwartbaren Typisierungen vorweg, nutzt sie gleichermaßen, wie sie sie vorbereitet und aufzubauen hilft. Diese Prototypisierung reflektiert aber, wie Bartletts Experimente ergeben haben, immer schon die in einer Gesellschaft vorhandenen sozialen Prototypisierungen oder Schematisierungen und trägt gleichzeitig (über den Weg der Gedächtnisleistung) zu ihrer Bildung wie zu ihrer Aufrechterhaltung bei. Daraus folgt, dass jeglicher Form von Wahrnehmung, Erkenntnis, Konzeptbildung bereits ein Moment des Typisierenden, Prototypikalischen, via Zwecke und Interessen unhintergehbar sozial Determinierten und via Konventionen implizit historisch (wenn man so will: genealogisch) Determinierten innewohnt. In den genannten Prinzipien schlägt sich jedoch die unhintergehbare Sozialität und Kulturalität der Sprache nieder − und zwar auf einer Ebene der Kognitions- und Gedächtnistheorie, die noch weit vor jeglicher Thematisierung von „kollektiven“ oder „kulturellen Gedächtnissen“ die Kulturalität und Sozialität menschlicher Kognition und Episteme an deren Fundamenten, die zugleich die Fundamente (und Ermöglichungsbedingungen) der conditio humana sind, aufspürt und theoretisch zur Geltung bringt.
Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft
4.5. Zwei Kernbereiche (und ihre Verflechtung): Episteme und Performanz Diese enge und engste Verflechtung von Medialität (verschiedener Ebenen), Kulturalität (verschiedener Aggregations- bzw. Komplexionsstufen) und Sozialität in Bezug auf Sprache, Kognition, individuelles wie kollektives Gedächtnis wirkt sich (in unserem Interessenzusammenhang) insbesondere auf zwei Ebenen kulturellen Geschehens aus, die man in einem ersten Zugriff als Episteme und Performanz identifizieren und differenzieren kann. Mit dem Begriff Episteme, der ursprünglich der Archäologie des Wissens von Michel Foucault (1969) entlehnt ist, kann zunächst einmal das gesellschaftliche Wissen in seiner Gesamtheit bezeichnet werden. Insofern sich das individuelle Wissen von Einzelnen (zumal dann, wenn es um Sprache und kommunikative Interaktion geht) nur unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Episteme entfaltet, kann unter Episteme in sprachtheoretischer Hinsicht die Gesamtheit des verstehensrelevanten Wissens verstanden werden, also desjenigen Wissens, zu dessen Aktivierung die medialen Instrumente der Sprache jeweils dienen (sollen). Eine wesentliche Grundannahme einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik ist dabei, dass eine systematische Grenze zwischen „Sprachwissen“ und „Weltwissen“ (oder „enzyklopädischem Wissen“) nicht gezogen werden kann. Vielmehr bedarf es einer linguistisch gestützten Analyse aller Spielarten von Wissen, die dazu beitragen, dass die selbst inhaltsleeren Instrumente des Mediums Sprache ihre Wissen evozierende Funktion erfüllen können. Dazu gehört auch, dass die Beiträge, die die jeweiligen sprachlichen Instrumente zur kommunikativen Wissensaktivierung leisten, je für sich analysiert und gegen die Beiträge anderer (Teil-)Instrumente differenziert und abgeglichen werden. Wichtig dabei ist: Die Episteme (oder, anders ausgedrückt, das sprachrelevante bzw. verstehensrelevante Wissen) verbindet unauflöslich die Ebene des Individuellen und Sozialen. An diesem Punkt kommt der Aspekt der Performanz ins Spiel. Wenn man davon ausgeht, dass die Episteme als zwar sozial und kulturell geprägte, aber konkret immer nur individuell verfügbare Struktur im Prozess der kommunikativen (sozialen) Interaktion entsteht, dann kommt dabei dem Aspekt der „Aktion“ ein besonderer Stellenwert zu. Insofern Aktion und Reaktion im Zuge der Nutzung instrumentaler medialer Mittel (z. B. sprachlicher Art) nur dann erfolgreich sein können, wenn sie auf Mustern des Gebrauchs, der Benutzung dieser Mittel beruhen, von denen die an der Interaktion Beteiligten entweder vorher Kenntnis hatten oder deren aktuellen Sinn und Funktion sie aufgrund der Nutzung anderweitigen Wissens konstruktiv erschließen können, kommt diesen Mustern (oder Regeln) eine zentrale Funktion zu. Wichtig ist nun dabei, dass diese Muster nach übereinstimmendem Verständnis aller zureichenden Konventions- oder Regeltheorien immer als Performanz-Muster zu gelten haben. (Dies folgt aus Wittgensteins [1953, §§ 223−226] Regelbegriff ebenso wie aus der Theorie der Konvention von Lewis 1969.) Insofern sich die Episteme als Struktur gesellschaftlich beeinflusster Konzeptualisierungsmuster beschreiben lässt (angeboten für den technischen Aspekt von deren Beschreibung wurden Begriffe bzw. Modelle wie „Schema“ und „Frame“), gründet auch sie immer in sich iterativ aneinanderreihenden Performanzen (gleich ob aktiver oder reaktiver Art). − Das Gemeinsame der beiden Ebenen/Aspekte von Episteme und Performanz liegt darin, dass es sich in beiden Fällen gleichermaßen um Fälle von Regel- und Musterbildung sowie -befolgung handelt; die Differenz darin, dass jeweils verschiedene
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Ebenen menschlicher Regelorientierung angesprochen sind, die genauer zu analysieren und zu differenzieren Aufgabe einer künftigen kulturalistisch fundierten (Sprach-, Wissens- und Handlungs-)Forschung wäre.
4.6. Theoretische Perspektiven und Horizonte Damit wäre zugleich die Perspektive einer sich als kulturwissenschaftlich verstehenden Linguistik angedeutet, die sich die Erforschung des Zusammenhangs von Sprache, Wissen und gesellschaftlicher Praxis (in Kommunikation und gesellschaftlicher Interaktion) zum Ziel gesetzt hat. In der Vergangenheit war eine kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft häufig mit kulturhistorischen Zielsetzungen und Forschungen verbunden. Dies macht einen guten Sinn, nicht zuletzt, weil alles, was man als Sprachwissenschaftler erforschen kann, zumindest aus korpuslinguistischer Perspektive zum Zeitpunkt des Erforschens bereits vergangen, mithin historisch ist. Neben diese sicherlich stark dominierende kulturhistorische Forschungsperspektive kann und sollte aber eine systematische Perspektive treten, in der die Grundbedingungen der Verflechtung von Sprache, Sprachgebrauch und Kultur weiter aufgeklärt werden. Besonders vielversprechend erscheinen dabei aus heutiger Sicht solche Forschungsperspektiven, die unter die Stichworte Medialität, Episteme, Performanz gestellt werden können. Zu diesen quasi ebenen- oder bereichsbezogenen Orientierungsbegriffen einer kulturwissenschaftlichen Linguistik sollten zwei grundlagentheoretische Orientierungen bzw. Forschungsziele treten: Strukturbedingungen und (Re-)Produktionsbedingungen (jeweils auf den vorgenannten drei Ebenen). Momentan laufen medialitätsbezogene, epistemologisch orientierte und performanzbezogene Forschungen noch eher nebeneinander her, bewegen sich teilweise in stark disparaten, kaum miteinander vermittelten grundlagentheoretischen und methodischen Fachdiskursen. Es wäre außerordentlich fruchtbar, wenn diese Orientierungen stärker miteinander verflochten würden, die Phänomene auf der einen Ebene als Voraussetzungen oder Folgen der Phänomene auf den anderen Ebenen begriffen würden. Zum Beispiel kann oder sollte eine strukturbezogene Beschreibung der gesellschaftlichen wie individuellen Episteme nicht ohne Berücksichtigung von (Re-)Produktionsbedingungen auf der Ebene der Performanz(en) erfolgen. Ebenso erfordert sie eine Berücksichtigung der medialen Aspekte auf allen Ebenen der Medialität. Umgekehrt macht eine Analyse medialer und performanzbezogener Aspekte der Sprache und Sprachproduktion/-rezeption wenig Sinn ohne Berücksichtigung des Wirksamwerdens epistemischer Elemente und der Beeinflussung durch Strukturen der gegebenen Episteme (des gegebenen gesellschaftlichen Wissens auf/in allen sprachrelevanten Ebenen und Sparten). Auch Medialität und Performanz sind (kulturtheoretisch gesehen) eng miteinander verflochten, da Muster medialer Produktion Performanzmuster sind und sich andererseits ein großer Teil sprachlicher Performanzen nur unter der Prägung durch mediale Muster und Produktionsbedingungen vollzieht. Die genannten Begriffe bzw. Aspekte: Medialität, Episteme, Performanz, Strukturbedingungen, (Re-)Produktionsbedingungen könnten fruchtbare Leitfragen einer künftigen kulturwissenschaftlich-linguistischen Forschung sein, insbesondere dann, wenn sie als systematisch interdependent nicht nur theoretisch angesehen werden, sondern wenn aus dieser Interdependenz auch im konkreten Alltag der Forschungsvorhaben Punkt für Punkt methodische Konsequenzen gezogen werden.
Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft
5. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft: thematische Orientierungen Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die Ausfächerungen und Differenziertheit, die eine Betrachtung des Zusammenhangs von Sprache und Kultur sowie der Beziehung von Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft erfahren kann, im Überblick abzubilden. Stattdessen soll der Blick auf die Haupttendenzen einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik gerichtet werden, gegliedert nach älterer und jüngerer Vergangenheit.
5.1. Traditionen Die Schwerpunkte einer kulturwissenschaftlichen Orientierung in der traditionellen Sprachwissenschaft (vom 19. Jahrhundert bis zu den 1960er-Jahren) liegen eindeutig in (nur) zwei Bereichen: (allgemeine) Sprachgeschichtsschreibung sowie Semantik/Lexikologie. Traditionelle Forschungen dazu sind in der Regel nur implizit kulturwissenschaftlich, was nicht verwundern muss, da das Etikett „Kulturwissenschaft“ ja noch recht jungen Datums ist. Nur selten, so etwa in der „Wörter-und-Sachen“-Bewegung der 1920er-Jahre (Meringer, Schuchardt; vgl. dazu Settekorn 2001 und Schmidt-Wiegand 1999), wird die kulturwissenschaftliche Orientierung auch explizit als solche vorgestellt. Andere Ansätze wie etwa die Wortfeldforschung von Jost Trier, Leo Weisgerber etc. oder die Phraseologieforschung verstehen sich selbstverständlich als Beitrag zur Kulturforschung, jedoch meist ohne dies gesondert zu betonen. Die häufig „völkerkundlich“ oder „volkstumskundlich“ geprägte Ausrichtung mancher solcher Ansätze wirkt aus heutiger kulturwissenschaftlicher Sicht oft antiquiert und fehlorientiert. Zudem leiden viele solcher Ansätze unter einer onomasiologischen Engführung. Während in der (meistens: historischen) Semantik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Kulturbedingtheit des Gegenstandes noch in den Köpfen der Forscher präsent war, schwindet dieses Bewusstsein zunehmend mit dem Siegeszug der sogenannten modernen Linguistik im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Explizit kulturwissenschaftliche Orientierungen sind auch in der allgemeinen Sprachgeschichtsschreibung eher jüngeren und jüngsten Datums (etwa seit der epochemachenden Deutschen Sprachgeschichte von Peter von Polenz 1994) und daher unter „Innovationen“ zu buchen. Ansonsten geben die Handbuchartikel des nachfolgenden Handbuchabschnitts einen detaillierten Überblick über solche Forschungsbereiche und -ansätze, die hier den „Traditionen“ einer kulturwissenschaftlichen Linguistik zugeordnet sind.
5.2. Innovationen Auch die innovativen Tendenzen und Forschungsansätze im Feld von Sprache und Kultur lassen sich in solche einteilen, die sich explizit als Beitrag zu den Kulturwissenschaften verstehen, und solche, bei denen dieser Bezug eher implizit, hingenommen, mitgedacht oder mitgewollt ist. Dabei geht vieles, was neuerdings unter dem Rubrum „Kulturwissenschaft“ verbucht wird, auf solche Wurzeln aus den Sozialwissenschaften (insbesondere der Soziologie) oder der Geschichtswissenschaft zurück, in denen die Ent-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft wicklung der dann später linguistisch genutzten Theoreme und Modelle nicht zwingend auch unter dem Stichwort „Kultur“ erfolgte. Im Gegensatz dazu stehen solche Ansätze, die sich darum bemühen, ihre jeweiligen Forschungen auch explizit in den Kontext einer allgemeineren Kulturwissenschaft zu stellen. In diesem Zusammenhang sind in den letzten Jahren eine Fülle programmatischer Aufsätze und Sammelwerke entstanden. Unter ihnen ragen insbesondere die programmatischen Arbeiten und beispielgebenden Analysen (und die von ihr angeregten Tagungen und Sammelbände) von Angelika Linke heraus, die durch eine Fülle von Aktivitäten zu einer der wichtigsten PromotorInnen einer kulturwissenschaftlichen Linguistik geworden ist (vgl. Linke 1996, 1998, 2003, 2005, 2008a, 2008b; Linke und Feilke 2009; Günthner und Linke 2006; Deppermann und Linke 2010). Bei der Erörterung innovativer Ansätze, die einer kulturwissenschaftlichen Linguistik zugerechnet werden können, lassen sich Querschnittaspekte von nach Sprachebenen sortierten Ansätzen unterscheiden (die nachfolgend jeweils in der Reihenfolge ihres Auftretens angesprochen werden). Unter dem, was man „Querschnittaspekte“ einer kulturwissenschaftlichen Orientierung in der Sprachforschung nennen könnte, ragen vor allem vier Orientierungen heraus: Diskursanalyse nach Foucault, Mentalitätsgeschichte, Sprache und (gesellschaftliches) Wissen, Medialität. Insbesondere quantitativ dominant (was die Menge an Publikationen, Tagungen, Forschungsnetzen angeht) sind Ansätze, die sich als Beitrag zu einer Diskursanalyse im Sinne des Diskursbegriffs von Michel Foucault verstehen (vgl. die Einführung von Spitzmüller und Warnke 2011). Die starke Präsenz solcher Ansätze insbesondere bei jüngeren Forscherinnen und Forschern ist teilweise sicherlich auch der fachübergreifenden Attraktivität der Diskursidee und der Ziele einer Diskursforschung geschuldet, ein Gebiet, auf dem sich neben Linguisten insbesondere Historiker und Soziologen, aber z. B. auch Literaturwissenschaftler, Politologen, Pädagogen, Philosophen tummeln. Dass es sich bei der Diskursforschung um eine Querschnittaufgabe handelt, die zahlreiche linguistische oder für das (gesellschaftliche) Funktionieren von Sprache wichtige Bereiche und Ebenen berührt, sieht man z. B., wenn man sich das Modell der „Diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse“ (DIMEAN) von Spitzmüller und Warnke 2011 anschaut. Dieses integriert (mindestens) semantische, pragmatische, textlinguistische, mediale (inkl. Mündlichkeit/Schriftlichkeit), soziolinguistische und psycholinguistische Aspekte. Es wird dabei deutlich, dass eine „Diskursanalyse nach Foucault“ (so Titel bzw. Untertitel einschlägiger Sammelbände, vgl. Warnke 2007) eher als eine Festlegung von Forschungsinteressen und -zielen denn als eine Methode im eigentlichen Sinne aufzufassen ist. Einigendes Band dieser Ansätze ist das Interesse an einer engen Verflechtung von Sprache, Wissen, und gesellschaftlichen Strukturen, Prozessen, Machtbeziehungen. In der kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik wurden unter dieser Leitidee u. a. Forschungen zur historischen Semantik (Busse 1987; Busse und Teubert 1994), zu Argumentationstopoi (Wengeler 2003; Niehr 2004), zu ideologischem Sprachgebrauch (Jäger 2004; Wodak 2009; Fairclough 1995) projektiert und/oder durchgeführt. Solchen Ansätzen teilweise benachbart (zumindest in gemeinsamen Forschungsnetzen verbunden) sind solche Ansätze, die sich einer „linguistischen Mentalitätsgeschichte“ verpflichtet fühlen, die zuerst von Fritz Hermanns (1994, 1995) als solche gefordert worden ist. Diesem Bereich lassen sich bedeutende empirische Studien wie die von Angelika Linke (1996) zuordnen. − Ohnehin ist es insbesondere die neuere Sprachgeschichte, die spätestens seit dem Grundlagenwerk von Peter von Polenz (1994 ff.) deut-
Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft lich als explizit sozialhistorisch und damit kulturwissenschaftlich etabliert und gegen die ältere diachrone (System-)Linguistik abgegrenzt und positioniert wurde, die starke Impulse für eine sich als kulturwissenschaftlich verstehende Linguistik (auch über den engeren Bereich der Diachronie hinaus) gegeben hat. (Siehe dazu die einschlägigen programmatischen Sammelbände Cherubim, Jakob und Linke 2002 und Gardt, Mattheier und Reichmann 1995.) − Zahlreiche neuere Forschungsansätze und Arbeiten in diesem Umfeld widmen sich explizit der Analyse des Verhältnisses von Sprache und Wissen. Dabei geht es um sprachliche, kognitive und gesellschaftliche Bedingungen und Aspekte der Wissenskonstitution ebenso wie darum, wie Wissen medial und sprachlich verbreitet, „gespeichert“ und strukturiert wird; siehe etwa das von Ekkehard Felder begründete Forschungsnetzwerk „Sprache und Wissen − Probleme öffentlicher und professioneller Kommunikation“ (Felder und Müller 2009) oder den von Gerd Antos betriebenen Forschungsschwerpunkt zum Wissenstransfer durch Sprache (Antos und Wichter 2005). − Unter einer stärker grundlagentheoretisch geprägten Ausrichtung beschäftigt sich mit diesem Themenkomplex auch das Programm einer „linguistischen Epistemologie“ (Busse 2005b, 2008), das auf eine Vernetzung von diskursanalytischen, kognitiven und sozialtheoretischen Aspekten zielt, also auf eine sprachwissenschaftliche Forschung, die die derzeit noch disparaten Ansätze aus kulturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und kognitionswissenschaftlichen Theorien zusammenführen und das gesellschaftliche Wissen in Bezug auf die Funktion und Leistung von Sprache bzw. sprachlichen Instrumenten analysieren will. − Insbesondere einem in weitem Sinne aufgefassten (und grundlagentheoretisch reflektierten) Verständnis von Medialität verpflichtet sind Ansätze, wie sie etwa von Ludwig Jäger begründet und koordiniert wurden (vgl. Jäger 2000, 2002; Jäger und Linz 2004; Jäger, Linz and Schneider 2010). Einer linguistischen Medienanalyse im weiteren Sinne können auch die Forschungen etwa um Claudia Fraas (2005, 2013) zugeordnet werden. Beide Forschungsansätze beschäftigen sich unter anderem auch mit dem Verhältnis verschiedener Medialitätsebenen (z. B. Sprache-Bild-Interaktionen), bei Fraas auch unter Bezugnahme auf kognitivistische (Frames) und diskursanalytische Fragestellungen, und tendieren stark dazu, die Grenzen einer Linguistik im engeren Sinn in Richtung auf eine integrierte Erforschung medialer Instrumente aller Ebenen zu überschreiten. Nach sprachlichen Ebenen (oder sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen) geordnet, sind die neueren und innovativen Ansätze einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik vor allem in folgenden Bereichen vertreten: Semantik, Pragmatik, Gesprächsanalyse, öffentliche (politische) Kommunikation, Textsorten/Textproduktion, Soziolinguistik, Konstruktionsgrammatik. Auch wenn man feststellen kann, dass es gerade ein Effekt moderner kulturwissenschaftlicher Forschung in der Linguistik gewesen ist, dass die Grenzen dessen, was man dem linguistischen Teilbereich „Semantik“ zurechnen kann, beständig aufgeweicht worden sind, wird man davon ausgehen können, dass sich ein Großteil solcher innovativer Forschungen einer im weiten Sinne aufgefassten Semantik zurechnen lässt. Dies gilt etwa für die Ansätze einer „Diskurssemantik“ (nach Foucault) und für kognitiv bzw. frameorientierte Modelle in gleichem Maß wie für alle Forschungen zum öffentlichen (insbesondere politischen) Sprachgebrauch, die fast ausschließlich semantisch (und/oder lexikalisch) orientiert sind. Zu diesem − im weiteren Sinne semantischen − Forschungsfeld gehören auch die zu solchen Zwecken intensiv genutzten Modelle der „Konzeptmetaphern“ (nach Lakoff and Johnson 1980; vgl. Liebert 1992) und der neue Ansatz des ideologisch-epistemologischen „Framing“ (Lakoff 2008).
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Stärker auf performative Aspekte des Sprachgebrauchs orientiert sind Ansätze, die sich der Pragmatik und der linguistischen Gesprächsanalyse zuordnen lassen. Da die linguistische Gesprächsanalyse nicht gedacht werden kann ohne ihre theoretischen und historischen Wurzeln in der soziologischen Richtung der sogenannten Ethnomethodologie (Garfinkel 1967; Sacks, Schegloff and Jefferson 1974), ist ihr eine kulturwissenschaftliche Orientierung avant la lettre immer schon eingeschrieben gewesen. Auch wenn gerade die linguistische Praxis der Gesprächsanalyse diese Aspekte jahrzehntelang geflissentlich ignoriert hat, kann man in der neueren und neuesten Gesprächsanalyse eine verstärkte Hinwendung zu kulturwissenschaftlichen Modellen beobachten. Die Gesprächsanalyse ist dadurch zu einem der Vorreiter einer kulturwissenschaftlichen Orientierung in der Linguistik geworden (vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Günthner [z. B. 2000, 2003] zur interkulturellen Kommunikation oder zu Genderdifferenzen in Kommunikationsstilen oder zu Gattungen als Muster kommunikativen Handelns), wie man auch einschlägigen programmatischen Aufsätzen (vgl. Günthner 2003; Günthner und Linke 2006) entnehmen kann. Eine kulturwissenschaftliche Orientierung beansprucht auch Peter Auer für sich und seine Forschungen (vgl. etwa das Programm einer „Kontextualisierungsforschung“, Auer and Luzio 1992, und den programmatischen Aufsatz Auer 2000). − Zumindest vom Gegenstand her (vielleicht weniger vom linguistischen Selbstverständnis her) haben in der Pragmatik auch die Arbeiten zur Höflichkeitsforschung einen stark kulturellen Bezug (vgl. Brown and Levinson 1978; Watts, Ide and Ehlich 1992; Held 1995). An der Grenze von Gesprächsforschung und Textlinguistik stehen Forschungen zu kulturellen Praktiken, zu denen häufig auch die „Gattungen“ mündlicher wie schriftlicher Kommunikation (bei Texten spricht man üblicherweise von Textsorten) gerechnet werden (vgl. Linke 2010). Forschungen zu diesen „alten“ linguistischen Themen erfolgten und erfolgen ebenfalls nicht immer explizit in der Programmatik einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Textlinguistische Aspekte sind insbesondere auch in der postfoucaultschen Diskursanalyse präsent (siehe das DIMEAN-Modell von Spitzmüller und Warnke 2011). Da linguistisch gesehen zwischen „Gattungen“, „Stilen“ und „Varietäten“ nicht immer säuberlich unterschieden werden kann, hat es auch die Sozio- und Variationslinguistik mit kulturwissenschaftlichen Aspekten zu tun, auch wenn dort dieser Aspekt meistens nicht explizit zur Erläuterung des eigenen Selbstverständnisses herangezogen wird. Man wird aber erwarten können, dass auch diese Teildisziplin der Linguistik sich dem Sog des „cultural turn“ auf längere Sicht nicht wird entziehen können. Zumindest personell ist dem Feld der kulturwissenschaftlichen Linguistik eine jüngste Forschungsorientierung teilweise stark affin, die sogenannte Konstruktionsgrammatik. Kulturwissenschaftliche Bezüge ergeben sich hier z. B. durch eine gesprächsanalytische Nutzung des ursprünglich von Fillmore und Goldberg (vgl. Goldberg 1995) begründeten, lange Zeit nur syntaxtheoretisch diskutierten Modells (siehe etwa die Arbeiten von Deppermann 2006, 2011), aber auch durch die große Nähe der (amerikanisch inspirierten) „Konstruktionsgrammatik“ zur (eher in Europa dominanten) Phraseologieforschung. Insbesondere in jüngster Zeit sind verstärkt Versuche zu beobachten, die Konstruktionsgrammatikdiskussion für genuin kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu öffnen (so auf einer von Lasch und Ziem 2011 veranstalteten Tagung „Konstruktionen als soziale Konventionen und kognitive Routinen“). Es ist zu erwarten, dass aus dieser Richtung noch stärkere Impulse für eine kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik ausgehen werden, die insgesamt (auch dies lässt sich derzeit beobachten) zu einer Konvergenz
Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwissenschaft etwa von diskursanalytischen, soziolinguistischen, gesprächsanalytischen Ansätzen führen könnte und auch solche Bereiche der Linguistik für eine kulturwissenschaftliche Orientierung erschließt, deren Hauptvertreter sich derzeit gegen diese Tendenz noch mit allen Händen und Füßen sträuben: z. B. die Syntax. Am Ende der Entwicklung könnte eine Situation stehen, in der man sich fragt, warum es überhaupt möglich war, die Linguistik so viele Jahrzehnte als eine Wissenschaft zu verstehen und zu betreiben, die sich nicht dezidiert als Beitrag zur Erforschung menschlicher Kultur begreift.
6. Literatur (in Auswahl) Antos, Gerd und Sigurd Wichter (Hg.) 2005 Wissenstransfer durch Sprache als gesellschaftliches Problem. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Assmann, Jan 1997 Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck. Auer, Peter and Aldo di Luzio 1992 The Contextualization of Language. (Pragmatics & Beyond NS 22.) Amsterdam: Benjamins. Auer, Peter 2000 Die Linguistik auf dem Weg zur Kulturwissenschaft? In: Freiburger Universitätsblätter 147, 55−68. Bartlett, Frederick C. 1932 Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge: Cambridge University Press. Boeckh, August 1877 Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. v. Ernst Bratuschek. Leipzig: Teubner. Brown, Penelope and Stephen Levinson 1978 Politeness. Some Universals in Language Usage. Cambridge: Cambridge University Press. Busse, Dietrich 1987 Historische Semantik. Stuttgart: Klett-Cotta. Busse, Dietrich 2005a Sprachwissenschaft als Sozialwissenschaft? In: ders., Thomas Niehr und Martin Wengeler (Hg.), Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik, 21−42. (Reihe Germanistische Linguistik 259.) Tübingen: Niemeyer. Busse, Dietrich 2005b Architekturen des Wissens. Zum Verhältnis von Semantik und Epistemologie. In: Ernst Müller (Hg.), Begriffsgeschichte im Umbruch, 43−57. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 2004.) Berlin: Felix Meiner. Busse, Dietrich 2007 Sprache − Kognition − Kultur. Der Beitrag einer linguistischen Epistemologie zur Kognitions- und Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2006/2007, 267−279. Düsseldorf: Düsseldorf University Press. Busse, Dietrich 2008 Linguistische Epistemologie. Zur Konvergenz von kognitiver und kulturwissenschaftlicher Semantik am Beispiel von Begriffsgeschichte, Diskursanalyse und Frame-Seman-
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Traditionen Traditions 70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung 1. Einleitung 2. Europäische Aufklärung − vom sprechenden Menschen zum redenden Volk 3. Zwischen Restauration und Revolution − die Historisierung des Gegenwärtigen
4. Die Bändigung des Sprachgeistes durch seine Naturalisierung 5. Gesellschaftlicher Aufbruch, Mehrsprachigkeit und Variation 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Die lebensweltliche Erfahrung diachroner und synchroner, stilistischer, situativer und medialer sprachlicher Varianz macht Sprache zu einem Kulturgegenstand besonderer Art. Als kulturelles Artefakt ist sie nicht nur variabel, sondern wird erworben und ist zugleich Grundlage wie Erzeugnis menschlichen Handelns. Als natürliche Ausstattung des Menschen ist sie wie andere körperliche Verrichtungen (Laufen, Essen, Sprechen ...) nur bedingt kultureller (Über-)Formung unterworfen. Die disziplinäre Ausdifferenzierung der Sprachwissenschaft seit dem frühen 19. Jahrhundert trägt der Vielfalt der hier nur angerissenen Aspekte Rechnung und modelliert ihren Gegenstand durch Reduktion, so auch die Sprachgeschichte. Während andere Teildisziplinen wie Soziolinguistik, Psycholinguistik, Kontaktlinguistik etc. nicht der Verwechslung von Gegenstand und seiner wissenschaftlichen Beschreibung unterliegen, ist Sprachgeschichte selten anderes als Sprachgeschichtsschreibung. In dem folgenden Beitrag soll es darum gehen, diejenigen der Sprachgeschichtsschreibung immanenten Konstrukte offenzulegen, die sich für eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Geschichte von Sprachen anbieten. Unter immanenten Konstrukten verstehe ich implizite oder explizite Vorstellungen von Geschichte und von Historizität. Ersteres findet sich in Form universalhistorischer Konstrukte (Progress oder Verfall, lineare, oszillierende, zirkuläre oder katastrophische Verläufe), Letzteres als gegenwärtige Kontextualisierung von Vergangenem und historische Begründung von Gegenwärtigem, verbunden mit Zuschreibungen von Eigenschaften wie Zeitlichkeit, Wandelbarkeit, Persistenz und raumzeitlichen Kontextualisierungen. Darin unterscheidet sich Sprachgeschichte von historischer Sprachwissenschaft (Polenz 1991/1: 17; Joseph and Janda 2008; Wegera und Waldenberger 2012: 9 f.), die ihre Gegenstände von Geschichte befreit, Variation und Wandel als inhärente Struktureigenschaften von Sprachen versteht und damit, wie etwa diachrone Typologie (Croft 1990) oder Grammatikalisierung und Natürlichkeitstheoreme (Mayertaler 1981; Wurzel 1994; Heine 2008; Dressler 2008), Diachronizität zur konstitutiven Eigenschaft ihres Gegenstands und ihrer historischen Perspektive auf Sprache macht.
70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung Für den Historiographen seiner eigenen Sprache stellt sich die Verschränkung der gegenwärtigen Sprachverhältnisse mit ihrer Geschichte als eine immer anwesende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dar. Die Offenlegung dieser (ver)doppelten Sicht auf sprachliche Tatsachen und ihrer universalgeschichtlichen Perspektivierung wäre als erste Anforderung an eine Sprachgeschichtsschreibung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu stellen. Dabei verlässt der Sprachhistoriker seinen Platz als absoluter Beobachter (Hartmann und Janich 1998: 16), aber wird er damit gleich zum teilnehmenden Beobachter? Wenn aus erkenntnistheoretischer Sicht Kultur als tradierte Praxis begriffen wird, die aus der „Schematisierung des aus einer Wir-Perspektive des Teilnehmens sich vollziehenden gemeinsame Handelns“ entsteht (Hartmann und Janich 1998: 17), dann findet sich jede Historiographie in ihrer räumlich wie zeitlich zerdehnten Perspektive vor die Schwierigkeit gestellt, dass Kultur als geronnene Praxis fremd und die WirPerspektive nicht mehr unmittelbar erfahrbar, sondern nur (re)konstruierbar ist. Dennoch bleibt die spannende Frage, ob sich methodisch-theoretische Positionen der Ethnomethodologie wie dokumentarische oder indexikalische Interpretation von Daten auf die Sprachgeschichtsschreibung übertragen lassen. Der ethnomethodologische Zugriff auf sprachliches wie nicht-sprachliches Handeln hat ja zum Ziel, Beobachtungsdaten als zeichenhafte Realisierungen kollektiver Handlungsmuster innerhalb einer Gruppe oder Population zu interpretieren (Garfinkel 1967) und steht damit vor einer der Sprachgeschichtsschreibung vergleichbaren Aufgabe, insofern Letztere die ihr zugänglichen Textzeugen hinreichend zu kontextualisieren sucht. Auch wenn sie dabei an die medialen Grenzen des geschriebenen oder bebilderten Textes stößt, liegen dennoch überzeugende, sich als soziopragmatisch verstehende sektoriale Untersuchungen etwa zur Mündlichkeit/ Schriftlichkeit, zu mittelalterlicher und neuzeitlicher Medialität und Performanz, zur Hof-, Stadt- und Landkultur und zu Umgangsformen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Formationen vor. Vor allem das Material korpusbasierter Untersuchungen, deren Zahl und Umfang durch neue Technologien in den letzten Jahren stark gewachsen ist, öffnet den Zugang zu sprachbezogenen Wissensbeständen, die sich explizit in metasprachlichen Äußerungen, implizit in Sprachwahl und dem pragmatischen Umgang mit Varianz zeigen. Sprachgeschichtsschreibung sollte also, wie es Dietrich Busse in seinem Beitrag formuliert hat, den „Zusammenhang von Sprache, Wissen und gesellschaftlicher Praxis (in Kommunikation und gesellschaftlicher Interaktion)“ (siehe Artikel 69) erforschen und darstellen. Wird diese Anforderung als Kriterium verwendet, um den Bestand an Sprachgeschichten auf substanzielle kulturwissenschaftliche Beiträge (avant la lettre) hin zu befragen, so bietet es sich an, in Krisenzeiten und Transformationsphasen oder an Bruchzonen zu suchen, in denen sich die beschriebene Reflexivität von Geschichtsschreibung im Gestus der Selbstvergewisserung, der Kritik am Bestehenden und der Anrufung eines besseren Diesseits besonders deutlich zeigt und sich in Verfallsmetaphorik wie Absterben, Abblühen, Niedergang, Verlust des Alten und inversen Attribuierungen des kommenden Neuen artikuliert. Ich will mich im Folgenden auf die Analyse von Darstellungen zur Sprachgeschichte beschränken, die auf unterschiedliche Weise die Veränderungen der Moderne indizieren: im späten 18. Jahrhundert und 19. Jahrhundert die Umstrukturierung ständischer Gesellschaftsformationen und innerstaatlicher wie globaler Machtverhältnisse (Verwaltungsmodernisierung, Kolonialpolitik), die krisenhafte Landnahme des Industriekapitalismus, die Verwissenschaftlichung veränderter Raum- und Zeitwahrnehmung mit Blick auf die Erde (Geologie), die belebte Natur (Biologie) und
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft den Menschen (Anthropologie, Medizin, Physiologie, Psychologie und Soziologie) sowie im 20. Jahrhundert das Ende der Restaurationsperiode nach dem 2. Weltkrieg. Im Einzelnen soll an vier historiographisch unterschiedlich gelagerten und wirkungsmächtigen Entwürfen gezeigt werden, wie Sprachgeschichtsschreibung den Zusammenhang von Sprache, Wissen und gesellschaftlicher Praxis zumindest teilweise in den Blick genommen hat, wobei es, und hierin zeigt sich die doppelte Bindung von Sprachgeschichtsschreibung als besondere Form eines metasprachlichen Narrativs, immer auch um die gegenwärtige Kontextualisierung von Vergangenem und historische Begründung von Gegenwärtigem geht.
2. Europäische Aufklärung − vom sprechenden Menschen zum redenden Volk Die Sprachdebatten im 18. Jahrhundert kreisen um die kulturanthropologische Frage: Was ist der Mensch? (vgl. Gessinger 1994 und Artikel 3). Deren genetische Dimension wird in vielfältigen Sprachursprungsszenarien (Gessinger und Rahden 1989), ihre epistemologischen Aspekte in wahrnehmungs- und zeichentheoretischen Beiträgen ausgedeutet (Condillac [1746] 1970, Diderot 1749). Doch folgt aus dieser Debatte − ebenso wenig aus jener, die sich um einzelsprachliche Zuschreibungen (génie des langues) kümmerte − noch nicht das Konzept einer kulturanthropologisch fundierten Sprachgeschichtsschreibung. Stattdessen sind vorwiegend enzyklopädisch orientierte einzelsprachliche Darstellungen, Wörterbücher und Grammatiken (Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart [1793−1801] 1970 und Campes Wörterbuch der deutschen Sprache 1807−1811 für das Deutsche, die Neuauflagen des Dictionnaire de l’Académie Française 1762 und 1798 und des Dictionnaire de Trévoux 1771 für das Französische sowie für das Englische das Dictionary of the English Language 1755 von Samuel Johnson in der historiographischen Tradition von John Wallis’ Grammar of the English Language [1653] 1969) und historiographische Ansätze zu verzeichnen, die vor allem aus der Ungleichzeitigkeit der Nationenbildung in Mitteleuropa ihre Motivation herleiten. Die Apotheose des grand siècle, dessen literarisiertes Französisch von Vaugelas, Voltaire, Petitot und später Brunot bis weit ins 20. Jahrhundert zur normativen Grundlegung des bon usage und der Nationalsprache erklärt wurde, das am volgare der tre corone (Dante, Petrarca, Boccaccio) orientierte Fiorentino des späten 16. Jahrhunderts als Referenz für das Italienische oder Herders Überschreibung der Germania des Tacitus zur Gründungsurkunde der Deutschen als einer Kulturnation, deren Zusammenhalt über eine reine, sich jedem Kontakt sperrende Sprache gestiftet werden sollte, die als ein Band Gründungsmythos mit Gegenwart und die Volksgemeinschaft untereinander in doppelter Weise verknüpfen sollte − aus diesen für die Nationenbildung konstitutiven und langlebigen Diskursen folgte ein kontrafaktischer Monolingualismus. Er war verbunden mit einer Abwertung oder Ausblendung diatopischer und diastratischer Varianz, die für lange Zeit für die Sprachgeschichtsschreibung konstitutiv wurde. Erst im späten 20. Jahrhundert wurde die monolingualistische Umdeutung der Nationalsprachengeschichte durch hier exemplarisch für viele genannte Arbeiten von Lodge (1993) und Chaurand (1999) für das Französische, de Mauro (1963) für das Italienische, Blex und Watts (1999), Milroy
70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung und Milroy (1985) und Watts und Trudgill (2002) für das Englische sowie Polenz (1991− 2013) für das Deutsche als unangemessen verworfen.
3. Zwischen Restauration und Revolution − die Historisierung des Gegenwärtigen Wilhelm von Humboldts Ende des 18. Jahrhunderts formulierte Zielsetzung, die Vielfalt des Einzelnen, seien es Ethnien oder Sprachen, in seinem Zusammenwirken als ein Ganzes beschreiben zu können (Humboldt [1797] 1980), hat im Projekt einer Universalgeschichte der Sprachen zunächst keinen disziplinär bestimmten Ort gefunden. Stattdessen gewinnen die einem meist teleologischen Paradigma verpflichteten Nationalphilologien an Boden, die als eine auf Sprachfunde ausgerichtete Petrefaktenkunde zwar einen Beitrag zur Identitätsstiftung im Kontext der Transformation des Ständestaats in den Verwaltungsstaat des 19. Jahrhunderts leisten wollen und auch können, die allerdings Kontextualisierungen, die gesellschaftliche Praxis einbeziehen, nur insofern vornehmen, als sie Abweichungen vom jeweiligen historiographischen Konstrukt, seien es Zeugnisse sprachlicher Minderheiten und dialektaler Varianz oder medial abweichende, nicht als geschriebene Texte repräsentierte sprachliche Äußerungen ausblenden. Der als paradigmatisch angesehenen deutschen Philologie mit den Arbeiten von v. d. Hagen, Benecke, J. Grimm, Lachmann, Müllenhoff u. a. verdanken wir eine Reihe sprachwissenschaftlicher und editorischer Artefakte wie Nordisch, Gotisch, Altsächsisch, Mittelniederdeutsch, Alt- und Mittelhochdeutsch, die bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts auch als vermeintlich gesprochene Sprachen zum Kernbestand von Sprach- und Literaturgeschichte gehörten. Einer der wichtigsten Proponenten der Nationalphilologie, Jacob Grimm, bricht in seiner Geschichte der deutschen Sprache von 1848 (Grimm [1848] 1999) mit diesem überlieferungsgeschichtlich begründeten Tableau, was in der Fachwelt für Irritationen sorgt. Scherer hält Grimms Versuch, die These der Identität von Geten und Goten mit immer neuen Belegen zu retten, für hoffnungslos romantisch, das ganze Unternehmen, im Gegensatz zur Grammatik und zum Deutschen Wörterbuch, für gescheitert und urteilt posthum, „eine Geschichte der deutschen Sprache im eigentlichen Sinne lieferte Grimm damit also nicht“ (Scherer [1885] 1985: 304). In beiden Fällen handelte es sich, wie Grimm schreibt, um ein zu „ungelegner zeit“ erschienenes Buch, das aber für diejenigen, „die aus seinem inhalt aufgabe und gefahr des vaterlandes ermessen“ wollten, „durch und durch politisch“ sei (Grimm [1848] 1999: 1). Die historische Aufgabe der Deutschen solle nach Grimm die Besinnung auf die bedeutende Rolle sein, die das deutsche Volk nach dem „abgeschüttelten joch der Römer“ (Grimm [1848] 1999: 1) als zentrale mitteleuropäische Macht im Mittelalter und der Neuzeit eingenommen habe. Nur Sprache solle die „grossen und waltenden Völker“ voneinander abgrenzen, die innere Einheit der Deutschen, die Überwindung der feudalen Zersplitterung, ein „nahes Ziel“ (Grimm [1848] 1999: 1) sein. Was Grimm also lieferte, war eher eine um die Germania als Ethnie kreisende Kulturgeschichte der indoeuropäischen Sprachen, eine Sprachengeschichte, die, angereichert durch einen weit ausholenden spekulativen Gestus, zwar nicht darauf angelegt war, die Grenzlinie zur Sprachursprungsdebatte zu überschreiten, aber dennoch
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft die wie dünn auch immer belegte asiatisch-europäische Frühgeschichte nicht eben quellenkritisch bis an die zivilisatorischen Anfänge zerdehnte und im Unhistorischen endete. Grimms Sprachengeschichte reicht wie viele nicht bis in die Neuzeit. Luther wird im Zusammenhang mit der neuhochdeutschen Schriftsprache kurz erwähnt, allein beim Blick auf die deutschen Dialekte kommt Grimm, wohl angeregt durch Schmeller, auf die Bedeutung von dialektgeographischen und lexikalischen Untersuchungen für die Sprachgeschichte zu sprechen. Je weiter sich Grimm aus der Urheimat seiner Sprachen entfernt und zu durch Texte belegten Zeiten vordringt, desto mehr lässt seine Beschreibung ihre kulturhistorische Mehrdimensionalität hinter sich und konzentriert sich auf die Beschreibung von Veränderungen in der sprachlichen Form. So folgen auf die völkergeschichtlich gegliederte Darstellung Kapitel zum Vokalismus und Konsonantismus, bevor Grimm sich dann im Einzelnen mit den germanischen Stämmen befasst. Wie später bei Schleicher gerät die Funktion von Sprache als gesellschaftliches Formativ und zugleich Ausdruck historischer Bewusstseinsformationen aus dem Blick.
4. Die Bändigung des Sprachgeistes durch seine Naturalisierung Lässt sich der eben beschriebene Zeitabschnitt, in dem neue Disziplinen wie Rechts-, Religions- und Sprachgeschichte sich zu etablieren begannen, als eine im Vergleich zur Naturgeschichte nachholende Historisierung von Kulturphänomenen charakterisieren, so wird die Zeit bis zur Jahrhundertwende durch den Versuch bestimmt, in Vorgängen, die im weitesten Sinne mit menschlichem Handeln verknüpft sind, regelhafte Veränderungen aufzufinden. Im Prozess der disziplinären Verortung und methodischen Fundierung hatten sich nämlich historisch orientierte Textwissenschaften einer wachsenden Konkurrenz neuer Forschungsfelder ausgesetzt gesehen, die von empirisch arbeitenden Wissenschaften in statu nascendi wie Naturgeschichte, Physiologie oder Geologie mit Blick auf ihre akademische Etablierung wie ihre Rezeption im breiteren Publikum erfolgreich bearbeitet worden waren. Mit Schleicher trat ein Sprachwissenschaftler auf die Bühne, der sich nicht nur metaphorisch an die Methodenlehre der neuen Leitwissenschaften anschmiegte, sondern den mit dem Geologen Lyell (1830−33, 1863) und dem Biologen Darwin (1859, 1871) verbundenen Paradigmenwechsel in der Geologie und Entwicklungstheorie in der Beschreibung der Entwicklung von Einzelsprachen nahezu zeitgleich vollzog. Schleicher hat seinen Platz hier im Kontext dieses Beitrags aus drei Gründen: zum einen, weil er sein Entwicklungskonzept für eine diachrone Umdeutung seiner morphologischen und typologischen Studien nutzte, zum Zweiten, weil er selbst eine Geschichte der deutschen Sprache publizierte, und letztlich deshalb, weil Whitney (1874) und andere auf Schleichers Vorstellungen mit kulturgeschichtlich basierten Gegenentwürfen antworteten. Darwin wie auch Schleicher haben der Geologie Lyellscher Prägung mit dem Uniformitarianismus (vgl. Naumann, Plank and Hofbauer 1992) ein Konzept entnommen, das später vor allem für die junggrammatische Sprachgeschichtsschreibung insofern konstitutiv wurde, als die Annahme, beobachtbare Veränderungen in der Gegenwart vollzögen sich nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie Veränderungen in der Vergangenheit, es ihnen erlaubte, diachrone Varianz, wie sie an den verfügbaren Quellen erkennbar war, vor allem in der Phonologie als regelhaft und in diesem Sinne ausnahmslos zu bestimmen (Christy 1983). Mit anderen Worten: Veränderungen oder Modifikationen waren
70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung kein Produkt des Zufalls, sondern folgten regelhaft aus endogenen Faktoren und exogenen Bedingungen. Damit war dem Einfluss der individuell wie kollektiv veränderlichen kulturellen Praxis und den schwankenden Sprachverhältnissen das Einfallstor in Prozesse der Sprachveränderung weitgehend versperrt, Sprache mithin grundsätzlich kein Kulturgegenstand, kein Artefakt, sondern zuallererst ein natürliches Ausstattungsmerkmal des Menschen, das sich regelhaft entwickelt. Wie nun lässt sich daraus eine Sprachgeschichte bauen, wie sie Schleicher 1860 unter dem Titel Die deutsche Sprache (Schleicher 1860) noch vor seinen explizit auf Darwin bezogenen Schriften Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft (Schleicher 1863) und Über die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen (Schleicher 1865) veröffentlichte? Schleichers Werk soll zwar „keinen gelehrten, sondern nur nationalen Zweck“ haben (Schleicher 1860: V) und zur „Klärung des deutschen Volksbewustseins und zur Kräftigung des deutschen Nationalgefühles“ beitragen (Schleicher 1860: VI), dient aber eher dem Ziel, dem gebildeten Publikum am Beispiel der deutschen Sprache seine Auffassungen über Sprache, Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft nahezubringen. Die Systematik seiner Überlegungen stützt sich auf sprachtheoretische Annahmen über den Zusammenhang von Sprechen und Denken, wie sie im 18. Jahrhundert vor allem im Kontext der Sprachursprungsdebatte vorgetragen wurden, bedient sich der sprach- und geschichtsphilosophischen Überlegungen Humboldts und Hegels und gründet auf einer naturgeschichtlich geprägten Entwicklungstheorie, die sich im Wesentlichen als eine Kombination aus genealogisch interpretierter Klassifikation und dem Postulat inhärenter, als prinzipiell gleichförmig und stetig angenommener Veränderungen beschreiben lässt. Die diachrone Umdeutung typologischer Unterschiede und Gemeinsamkeiten als genetische Abstammungsverhältnisse (Genealogisierung der Einzelsprachen und ihre Darstellung in Stammbäumen) wurde möglich, weil das Uniformitarianitätsprinzip den Pfad für die rekursive Rekonstruktion vorgab. Hinter jedem Stammbaum steht unausgesprochen die Annahme des Gleichförmigkeitsprinzips. Schleicher war in seinen typologischen Studien im Wesentlichen der Annahme von drei Haupttypen des Sprachbaus gefolgt (und hatte dazu auf Humboldts Kawi-Werk verwiesen), die nun als drei Entwicklungsstufen (vom isolierenden über den agglutinierenden zum flektierenden Sprachtyp) erscheinen. Sicheres Zeichen für miteinander verwandte Sprachen sei „vor allem die in jeder Sprache in einer eigenthümlichen Weise vor sich gehende Veränderung des ihr mit andern gemeinsamen Lautstoffes, durch welche sie sich von der andern als besondere Sprache absetzt. Diese jeder Sprache, jeder Mundart eigene Erscheinungsform des ihr mit den verwandten gemeinsamen Lautstoffes nennen wir ihre charakteristischen Lautgesetze“ (Schleicher 1860: 26). Schleicher erkennt also keine allgemeinen Lautgesetze, sondern die jeweilige gesetzmäßige Veränderung der Lautform einer Einzelsprache gegenüber ihr genetisch verwandten Sprachen: „[…] dasselbe Wort in verschiedenen Sprachen einer Sippe [muss] verschieden lauten, weil eben jedes Glied der Sippe seine eigenen Lautgesetze hat“ (Schleicher 1860: 29). In Anwendung der durch Beobachtung von Sprachveränderungen gewonnenen Gesetze könnten Sprachen nicht nur auf eine ihnen gemeinsame Grundsprache rückgeführt werden, sondern es sei die Fortsetzung der Geschichte der Sprachen auch in die Urzeit möglich. Damit kam Schleicher dem Problem des empirisch uneinholbaren Anfangs aller Sprachen gefährlich nahe und beschränkte sich darauf, bedeutungstragende Lautkomplexe (Wurzeln) als elementare Sprachformen der ältesten Sprachstufe vorauszusetzen. Mit Rekurs auf von ihm als völlig richtig bezeichnete „populäre Definition Sprache ist Den-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft ken“ (Schleicher 1860: 4) bringt er seinen Sprachbegriff auf die chiastische Formel, Sprache sei „der lautliche Ausdruck des Denkens, lautes Denken, wie umgekehrt Denken lautloses Sprechen ist“ (Schleicher 1860: 5). Mit der doppelten Bindung von Sprechen und Denken werden zwei in ihrem gegenseitigen Verhältnis für die Entwicklung der Sprachen entscheidende Instanzen ins Werk gesetzt: die als unveränderlich und ubiquitär angenommene körperliche Ausstattung des Menschen, insbesondere sein Artikulationsapparat, und seine gedankliche Tätigkeit, die Schleicher als die Fähigkeit des Menschen beschreibt, Anschauungen und Begriffe zu verbinden − was sich wiederum im Sprachlaut über seine semantische Funktion hinaus als syntagmatische Funktion abbilde. Die Materialität der Sprachlaute als zugleich physische wie intellektuelle Äußerung des Menschen und ihre unterschiedliche Form und Funktion in den Einzelsprachen sind für Schleicher hinreichend, um Sprachen nicht nur als Organismen zu beschreiben, die „unser innerstes Wesen am nächsten“ (Schleicher 1860: 3) angehen, sondern Sprachen zeigten als „höchste aller Naturorganismen [...] ihre Eigenschaft als Naturorganismen nicht nur darin, daß sie, wie diese, sämtlich in Gattungen, Arten, Unterarten, u. s. f. sich ordnen, sondern auch durch ihr nach bestimmten Gesetzen verlaufendes Wachsthum“ (Schleicher 1860: 33). Während die Betrachtung der Entwicklungsgesetze der Sprachen zur „Betrachtung ihres Lebens, ihres Werdens, Blühens, Schwindens, kurz ihrer Entwicklungsgeschichte“ (Schleicher 1860: 32) führt, wird die Erwartung, die zuvor typologischen bestimmten Classen mit ihrer zunehmenden Komplexität würden sich, diachron geordnet, als Vervollkommnung oder Höherentwicklung darstellen und uns so „das System in der Geschichte wiederzusehen“ (Schleicher 1848: 12) gestatten, durch die überlieferten Formen enttäuscht. Mit anderen Worten, die beobachtbare Geschichte der Sprachen zeigt keine Weiterbildung der sprachlichen Formen, sondern wird vielmehr von zunehmendem Verfall der Formen geprägt. Für die Auflösung der hier aufscheinenden Aporie, die letztlich aus dem Versuch resultiert, das lebenszeitliche Aufwachsen und Absterben von Organismen mit dem Konstrukt ihrer evolutionsgeschichtlich komplexer werdenden Organisation in Einklang zu bringen, hatte Schleicher in den Sprachvergleichenden Untersuchungen auf Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte verwiesen und jene Passage zitiert, in der die historischen Bewegungen von Sprache und Geschichte zusammengedacht werden (vgl. Schleicher 1848: 15). In seiner Sprachgeschichte versucht Schleicher dann, wie zuvor in den Sprachvergleichenden Untersuchungen, diese nicht erst von Hegel konstatierte Gegenläufigkeit von geschichtlichen Prozessen in zwei aufeinanderfolgende und auch systematisch unterschiedene Perioden aufzulösen: Halten wir nun diese beiden Gewißheiten zusammen: die Sprachen haben sich entwickelt, die höheren Formen sind aus niederen hervorgegangen, und die zweite, nicht minder sichere Beobachtung: die Sprachen entwickeln sich in der Periode, in welcher wir sie verfolgen können, d. h. in historischer Zeit, nicht weiter, sondern sie verfallen − combiniren wir beides, ergiebt sich von selbst das wahre Verhältniß der Sache. Die Entwickelung, die Ausbildung der sprachlichen Lautform geschah in den Perioden ihres Lebens, die vor aller Geschichte [Hervorhebung J. G.] liegen. (Schleicher 1860: 34 f.)
Die sich hier andeutende begriffliche Unterscheidung von Entwicklung und Geschichte wird auf die Phylogenese des Menschen projiziert, der zunächst Sprache als „Zweck
70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung seiner unbewusst vor sich gehenden Geistesthätigkeit“ bildet und später „geistig frei, selbstbewußt wollend, der Sprache sich nur als Mittel seiner geistigen Thätigkeit“ bedient (Schleicher 1860: 35). In der Polarität von Notwendigkeit und Freiheit zeigen sich „Sprachbildung und Geschichte [als] sich ablösende Thätigkeiten des Menschen, zwei Offenbarungsweisen seines Wesens, die nie zugleich stattfinden, sondern von denen stets die erstere der zweiten vorausgeht“ (Schleicher 1860: 35, im Original hervorgehoben). Damit entzieht sich aber die Sprachentwicklung zu höheren Formen nicht nur dem Einfluss von Geschichte und Kultur, sondern auch der Beobachtung anhand von Zeugnissen, „wir können also Entstehen und Werden der Sprache nie unmittelbar beobachten, wir können die Entwickelungsgeschichte der Sprache nur mittelst Zerlegung fertiger Sprachorganismen erschließen“ (Schleicher 1860: 35). Doch damit ist die Vorgeschichte der Sprachen und ihre formale Ausbildung in Stufen nicht grundsätzlich dem Blick des Sprachforschers entzogen, denn, so Schleicher mit Hegel, die „höher organisirten Sprachen zeigen nun durch ihren Bau ganz deutlich, dass sie die früheren Stufen durchlebt haben, sie tragen sie als aufgehobene Momente an sich“ (Schleicher 1848: 23). Während die sprachhistorischen Tatsachen einer historischen Umdeutung der typologisch begründeten Höhenentwicklung der Sprachen widersprechen, bringt Schleicher genau dies für die vorgeschichtliche Entwicklung der Sprachen in Anschlag, „man braucht nur das Nebeneinander des Systems in das Nacheinander des Werdens zu wandeln, um eine allgemeine Anschauung des vorgeschichtlichen Lebens der höher organisirten Sprachen zu gewinnen“ (Schleicher 1860: 46). Die Veränderungen in der vorgeschichtlichen wie geschichtlichen Periode sieht Schleicher gleichermaßen als strukturiert an, „wie die Entwickelung der Sprachen, so verläuft auch der Verfall derselben nach bestimmten Gesetzen, die wir durch Beobachtung der Sprachen zu ermitteln im Stande sind [...]“ (Schleicher 1860: 47). Mehr noch, je freier sich der Geist in seiner Geschichte entfalte, desto mehr entziehe er sich der Sprache, Sprachengeschichte ist „die Geschichte des Verfalls der Sprachen als solcher in Folge ihrer Knechtung durch den Geist“ (Schleicher 1848: 17). Damit sieht Schleicher Geschichte und Sprachengeschichte in einem entwicklungslogisch gegenläufig verschränkten Zusammenhang, Gesetzmäßigkeiten in der historischen Höherentwicklung gehen mit strukturellem Abbau von Sprachen einher. Den turning point, wo sich Vorgeschichte in Geschichte verwandelt, sieht Schleicher mit Hegel in der Rückkehr des menschlichen Geistes zu sich selbst, dort, wo die Sprachbildung vollendet sei und die Geschichte der Tat beginne (Schleicher 1848: 20). Wer nun erwartet hätte, dass Schleicher den als Subjekt in die empirisch zugängliche Geschichte gesetzten Menschen für die Geschichte seiner jeweiligen Sprache in Verantwortung nimmt und damit Sprachgeschichte in den Prozess der Zivilisation eingliedert, wird enttäuscht. Vielmehr werden die Sprachen in ihrer geschichtlichen Periode fast ausschließlich unter dem Aspekt von Lautwandel und Verlust der Flexionsmorphologie betrachtet und damit ihrer Geschichtlichkeit als Produkt der kulturellen Tätigkeit der Menschen völlig entkleidet. Dies resultiert nun nicht aus dem Versuch Schleichers in der Deutschen Sprache, Sprachen als Naturorganismen in ein naturgesetzliches Entwicklungsmodell einzugliedern, sondern paradoxerweise aus seiner an Humboldt und Hegel orientierten geschichtsphilosophischen Positionierung in den Sprachvergleichenden Untersuchungen von 1848, in denen Verweise auf das Tier- und Pflanzenreich nur sporadisch und eher illustrativ zu finden sind. Während der Sprachverfall also als Umkehrung einer stufenweise sich höher windenden Völkergeschichte angelegt wird, resultiert dessen Gesetzmäßigkeit als ein langsamer und stetiger Prozess, der sich überall zeige, aus
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft der Physiologie der Artikulationsorgane und der Disposition des Menschen zur Vermeidung von Anstrengung, aus der dem Menschen innewohnenden vis inertiae (Schleicher 1860: 49). So folgt dem langen, dem „Wesen der Sprachen im allgemeinen“ (Schleicher 1860: 71) gewidmeten Kapitel Vom Leben der Sprache die Rekonstruktion des indogermanischen Sprachstamms mit seinen Verzweigungen und nach einem kurzen Zwischenkapitel über die Aufgaben der Glottik als deskriptive Sprachenkunde und Grammatik (Schleicher 1860: 124) ein Abriss der mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen Grammatik als Systematik und Diachronie von Laut- und Formenbestand. Die Geschichte der Sprache(n) konnte so, wie etwa auch schon bei Herder, als die von außen aufgezwungene Zerstörung einer anfänglich einfachen, notwendigen, sinnlich basierten, einheitlichen und einheitsstiftenden Sprache geschrieben werden, deren Sprecher ihrer Freiheit zur Ausbildung kultureller und sprachlicher Höhe beraubt und damit dem soziokulturellen wie sprachlichen Verfall preisgegeben wurden. Grimm hingegen sah im Verlassen der physisch-sinnlichen Lebenswelt nomadisierender und ackerbauender Populationen die zunehmende geistige Freiheit zur Ausbildung komplexerer Formen, wobei sich das phonologische und morphologische Inventar der von ihm betrachteten Sprachen zugunsten zunehmender morphosyntaktischer Komplexität im Sinne dessen, was wir heute unter Grammatikalisierung fassen, umstrukturierte (vgl. Grimm [1851] 1864: 290−292). Schleicher schließlich verlegte den Ausbau an formaler Komplexität von Sprachen als natürlichen Wandel in eine vorhistorische Periode, in der aufgrund gleicher sprachphysiologischer Gegebenheiten auch prinzipiell gleichartige Veränderungen in den unterschiedlichen Lautsystemen der Sprachen anzunehmen seien, und überantwortete alle Prozesse, die den von ihm postulierten Gesetzmäßigkeiten von Veränderung und Varianz zuwiderliefen, der Freiheit der Menschen, aus Veränderungen Geschichte, aber nicht Sprache zu machen. Aus der Naturgeschichte als eine der Leitwissenschaften der Jahrhundertwende konnte sich die Sprachgeschichtsschreibung ihre morphologischen und genealogischen Klassifikationsmuster abborgen, aus der Physiologie den organischen Zusammenhang von Form und Funktion und von der Geologie das aus beobachtbaren Veränderungen induzierte uniformitarianistische Postulat einer gleichgültigen, das heißt ubiquitären und zeitlosen Gesetzmäßigkeit als Folge von longue-durée-Prozessen. Die geschichtsphilosophisch aufgepolsterte Eskamotierung von Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, wie sie Schleicher vorführte, erlaubte es nicht nur, die Modelle des ewigen Kreislaufs von Geburt und Tod oder das Postulat einer den Sprachen innewohnenden Perfektibilität zu verwerfen, sondern Wandel und Diachronizität als Geschichte auszugeben, was für die Folgezeit Schule machen sollte. Der politische Funktionsverlust einer so verstandenen Sprachgeschichte wird teilweise kompensiert durch die Zuweisung der flektierenden Sprachen an die „eigentlich welthistorischen Nationen“ (Schleicher 1848: 11), womit die Deutschen sich auch ohne Nationalstaatlichkeit als geschichtsmächtige europäische Mittelmacht unmittelbar an die durchweg als für die Sprachenentwicklung paradigmatisch beschriebenen indoeuropäische Sprachfamilie und damit die höchste Entwicklungsstufe von Sprachen überhaupt anschließen lassen − selbst, wenn das rezente Deutsch nur noch als historische Schrumpfform gelten kann. Damit ist in etwa das Feld abgesteckt, auf dem sich so unterschiedlich ausnehmende Entwürfe wie die vorgestellten (Herder, Grimm, Schleicher) mit ihren jeweils spezifisch verarbeiteten Geschichtskonstruktionen und unterschiedlichen Impulsen für die Sprachgeschichtsschreibung verorten lassen.
70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung Was ist daraus für eine kulturwissenschaftlich fundierte Sprachgeschichtsschreibung zu gewinnen? Es ist deutlich geworden, dass eine Modellierung historischer Prozesse in dichotomisch strukturierten Vorstellungsräumen (statt in empirisch fassbaren Sprachverhältnissen) zur Generierung von Aporien und dem Gegenstand unangemessenen Konstrukten neigt. Je näher man sich mit dem argumentativen Instrumentarium aus dem Arsenal der Debatten des 18. Jahrhunderts dem Sprachursprung wähnte, desto weiter rückte er in die Ferne und das Überschreiten der von Humboldt markierten Grenzlinie endete entweder im Mythos oder in ethnographischen Phantasmen der rekursiven Selbstidentifikation und verfiel im weiteren dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit. Die Reduktion auf die als gesetzmäßig vorausgesetzte Veränderung sprachlicher Formen, die sich methodisch zunehmend in den Mainstream des naturwissenschaftlichen Gestus einzupassen suchte, musste Sprache von ihrer kognitiven und soziopragmatischen Funktion abtrennen, um den Gegenstand methodisch und in Abgrenzung zu anderen, dezidiert geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie die Nationalphilologien kompatibel zu machen. Andererseits war der Versuch, die Geschichte einer Einzelsprache im Kontext anderer Sprachen nicht nur vergleichend, sondern in ihrem kulturellen Zusammenhang von Migration, Austausch und Adaptation zu beschreiben, ein (wenn auch eurozentrisches) multilinguales Konzept, das allerdings in der Folge durch eine zunehmend nationalsprachlich orientierte Sprachgeschichtsschreibung (Gardt 2000) auf längere Sicht verschüttet wurde.
5. Gesellschaftlicher Aufbruch, Mehrsprachigkeit und Variation Die Bifurkation der Sprachgeschichtsschreibung ab Mitte des 19. Jahrhunderts war durch die populären Veröffentlichungen Max Müllers noch akzentuiert worden und führte zu verschiedenen Anstrengungen, die aufgebrochenen Leerstellen zu füllen. Whitney wollte Sprache als kulturelles Faktum wieder in ihr Recht setzen, während Wundt die Bedeutung von individueller wie kollektiver Wahrnehmung und Kognition für die Sprachgeschichte vor allem im ersten Band der Völkerpsychologie (1900) untersuchte. Aus der antipositivistischen Kritik an den Junggrammatikern und ihrer introspektiv-individualpsychologischen Unterlegung von sprachlichem Wandel entwickelte sich der Wunsch nach einer engeren Verzahnung von Geschichte, Psychologie und Sprachwissenschaft, die um die Wende zum 20. Jahrhundert als Volkskunde und Archäologie, Völkerpsychologie und Etymologie um ihre disziplinäre Etablierung bemüht waren und sich im Programm der von Rudolf Meringer gegründeten Zeitschrift Wörter und Sachen vereinigen (Meringer 1912: 22). Allerdings erinnert der Anspruch, die verlorene Bindung von Sprache an den Menschen über eine enge Verknüpfung von Etymologie und materieller Kultur herzustellen, eher an eine Rückbesinnung auf die von Meringer auch als Referenz genannte Sprachgeschichte Jacob Grimms als an ein Projekt, in dem die „Zukunft der Kulturgeschichte“ (Meringer 1912: 22) liege. Eine Brücke zwischen der von der historischen Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert festgezimmerten historischen Grammatik und kultur- oder sozialgeschichtlich orientierten Beiträgen konnte die Volkskunde schon aufgrund ihrer Indienstnahme im Nationalsozialismus nicht dauerhaft herstellen. Auch wenn Sprachphilosophie und Sprachtheorie, die noch weit ins 19. Jahrhundert sprachgeschichtliche Konstrukte abgesichert hatten, inzwischen von der Sprachgeschichtsschreibung disziplinär abgetrennt waren,
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft war diese aber nicht der sprachphilosophischen Kritik entzogen. So sah Mauthner im Lautwandel keine „vermeintlichen Gesetze“, sondern den Zufall wirken und schrieb ihm wie auch dem Bedeutungswandel eine „Zufallsgeschichte“ zu (Mauthner 1912: 170). Im dritten Band seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (Mauthner 1913) entwarf er ein kognitiv basiertes Modell, das Sprachentwicklung aus der Bewältigung einer gemeinsamen Situation von Sprechern und Hörern und Wortbildung aus der Notwendigkeit metaphorischer Rede erklärte. Um durchzudringen, brauchten derartige Gegenentwürfe ein verändertes gesellschaftliches Umfeld und ein Rezeptionsklima, das sich erst mit Ende der Restaurationsperiode nach dem 2. Weltkrieg mit einigen Turbulenzen einstellte. Die soziopragmatisch orientierten linguistischen Arbeiten zu Beginn der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts antworten auf eine Reihe disziplinärer Entwicklungen: allen voran die Soziolinguistik angloamerikanischer Prägung sowie der europäische wie amerikanische Strukturalismus und seine Weiterentwicklungen. Durch den Faschismus und Stalinismus verschüttete und vertriebene sprachtheoretische und -philosophische Strömungen werden rezipiert. Dies wurde möglich, nachdem verkrustete akademische Strukturen aufgebrochen worden waren, sich disziplinenübergreifende thematisch orientierte Forschung organisierte, Fragen nach dem gesellschaftlichen Nutzen von Wissenschaften und nach den Verstrickungen von Wissenschaftlern und Forschungsinstitutionen in die Realisierung und Rechtfertigung faschistischer Machtausübung in Europa gestellt wurden. In den wissenschaftskritischen Fokus wurden vor allem die philologisch gebundenen, sich als historisch verstehenden Sprachwissenschaften, Indogermanistik, Dialektologie und Nachbardisziplinen wie Volkskunde gerückt. Die im Wesentlichen als historische Grammatik kanonisierte Sprachgeschichtsschreibung stand den methodischen Innovationen, die vor allem aus linguistisierten Gesellschaftswissenschaften, aus Ethnomethodologie und Handlungstheorie, nicht zuletzt aber aus den Geschichtswissenschaften selbst übernommen wurden, mehr als fremd gegenüber. Angesichts dessen, was wirtschafts-, sozial- und kultur- sowie mentalitätsgeschichtliche Forschung mit unterschiedlichen methodischen Verfahren wie longue-durée-Analysen, Mikrogeschichte und oral history in Arbeiten von Elias, Ginsburg, Ariès, Duby und anderen zutage förderte, schienen die starr periodisierten, formbezogenen und mit unhinterfragten Setzungen arbeitenden Sprachgeschichten aus der Zeit gefallen zu sein − und das waren sie auch insofern, als die Frage, was denn überhaupt Englisch, Deutsch, Französisch etc. sei, mit einer stereotypisierten Geschichtserzählung, nicht aber mit Blick auf ihre gegenwärtig zu beobachtenden Existenzformen beantwortet wurde, wenn sie überhaupt gestellt wurde. Die den Etiketten Annales, Nouvelle Histoire oder New Cultural History zugeordnete historische Forschung erschloss neue Quellentypen: das weite Panorama materieller Kultur, überlieferte und dokumentierte Formen symbolischer Interaktion wie Rituale, Zeichen, Symbole und Zeugnisse informeller Schriftlichkeit, die bislang durch die Fokussierung auf Dokumente (literarisierter) Hochkultur ausgeblendet waren. Die neue Sicht auf die Fabrikation von Geschichte als individuelle wie kollektive Praxis, die sich in sozialen, ökonomischen, kulturellen, medialen und sprachlichen Rahmen realisiert, brauchte die quellenkritische Expertise einer (historisch orientierten) Sprachwissenschaft, die ihrerseits auf den riesigen Fundus an bislang unbekannten Texten im weitesten Sinne zugreifen konnte − mit dem Ergebnis, dass eine nur modernisierte Sprachgeschichtsschreibung alter Art, die in der Regel den großen Bogen von den An-
70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung fängen bis in die frühe Neuzeit schlug, von regional oder zeitlich sektoralen, thematisch fokussierten, in jedem Fall aber empirisch gesättigten Beschreibungen verdrängt wurde. Statt geschichtsphilosophisch abgesicherter Konstrukte sollte eine nachdrücklich formulierte veränderte Perspektive auf Geschichte dazu führen, sie vom Kopf auf die Füße zu stellen und in dieser Richtigstellung diejenige Dimension wiederzugewinnen, die mit der Engführung von Sprachgeschichte als historische Grammatik und historisch-vergleichender Sprachwissenschaft zumindest im sprachhistorischen Mainstream verloren gegangen war. Davon profitierte auch die Mediävistik, die als akademisches Fach in Deutschland nach ihrer Entbindung von der historischen Grammatik sich mit eindeutig kultur- und mediengeschichtlichen Konturen (Wenzel 1995; Müller 1996; Ehler und Schäfer 1998; Wenzel, Seipel und Wunberg 2001) als Nachbardisziplin zur historischen Soziolinguistik, insbesondere mit der Aufarbeitung des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit (Jäger 2001; Raible 2006) neu ins Spiel brachte. Als wesentliche Momente dieser Auffächerung und Parzellierung entstehen regional begrenzte Untersuchungen (Stadtsprachengeschichte und dialektologisch untersetzte Regionalstudien), Arbeiten zu neuzeitlichen Standardisierungs-, Diffusions- und Konvergenzprozessen (Mattheier und Radtke 1997; Auer, Hinskens and Kerswill 2005), die bis an aktuelle Bewegungen heranreichen, zu Migration, Minderheitssprachen und Sprachkontakt, zur Mediengeschichte, zu Veränderungen im Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, verbunden mit Studien zur Alphabetisierung und zur Geschichte des Sprachunterrichts. Die Verbindung von Soziolinguistik im Sinne von social dialectology, Variationslinguistik und perceptual dialectology bzw. folk linguistics lässt den Zusammenhang von Sprachwissen, Sprecherbiographien und die soziopragmatischen Parameter für die Verwendung von Varietäten empirisch fassbar werden. Für die Sprachgeschichtsschreibung stellt sich damit auch − aber eben nicht nur − die Aufgabe, die in synchrone diasystematische Variation eingeschriebene Historizität herauszuarbeiten, eine nicht wirklich neue Aufgabe, vor die sich auch die historische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts gestellt sah. Diese hier allgemein und im Beitrag von Busse (siehe Artikel 69) mit Hinweisen auf einschlägige Literatur illustrierte Neuaufstellung von Sprachgeschichtsschreibung soll abschließend an der von Peter von Polenz vorgelegten mehrbändigen Deutschen Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (1991−1994, 2013) exemplarisch gezeigt werden. Die von der einschlägigen Forschung für die französische (Lodge 1993) und englische Sprachgeschichte (Watts 2012) erhobenen Forderungen, den Akzent auf Varianz und Mehrsprachigkeit, auf eine kritische Revision der mit Begriffen wie Standard und Dialekt verbundenen Vorstellungen von notwendiger Konvergenz zu legen und die für die franko- und anglophone Welt lange normativ aufrechterhaltene Bindung von Standardsprache und dem als national ausgewiesenen Territorium infrage zu stellen, lassen sich, wie bei Polenz deutlich wird, auf die ersten beiden Aspekte bezogen, auch auf das Deutsche übertragen. Für die Geschichte der deutschen Sprache bedeutete die späte Reichsgründung, dass eine politisch-territoriale Verortung dessen, was als Deutsch in Sprachgeschichten wie Grammatiken und Wörterbüchern beschrieben wurde, nur dann wirklich möglich gewesen wäre, wenn die ethnische wie politische Leere des Begriffs Deutsch und die Inhomogenität der Sprachverhältnisse mit ihrer unterschiedlich ausgeprägten inneren und äußeren Mehrsprachigkeit in den verschiedenen Regionen als für die Sprachgeschichte im deutschen Sprachraum konstitutiv wahrgenommen worden wären. Dass dies ihrer identitätsstiftenden Funktion zuwiderlief, zeigt in aller Deutlichkeit
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in mehreren Wellen geführte Debatte Was ist Hochdeutsch? (vgl. Gessinger 1980; Scharloth 2005). Im ersten Band seiner Sprachgeschichte legt Polenz nach einem Rückblick auf die traditionelle Historiographie des Deutschen und ihre Umbrüche nach 1980 mit Verweis auf die Arbeiten von Sonderegger (1979) konsequenterweise das Gewicht auf die Darstellung der ungleichzeitigen Veränderungen im deutschen Sprachgebiet. In der Auswahl der zitierten Forschungsliteratur, die vor allem den zweiten und dritten Band zu einem aktuellen und umfassenden Forschungsbericht macht, löst diese Darstellung vieles von dem ein, was programmatisch im Kontext der soziopragmatischen Wende gefordert wurde (Sitta und Cherubim in Sitta 1980; Schlieben-Lange und Gessinger 1982). Die für die Standardisierung der deutschen Schriftsprache zentrale Periode vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bringt Polenz auf den Begriff der Sprachkultivierung und macht damit deutlich, dass es ihm nicht bloß um eine kulturgeschichtliche Kontextualisierung sprachlichen Wandels geht. Vielmehr beschreibt er die literarisierte und teilweise normativ aufgeladene Schriftsprache als Mittel der überregionalen Verständigung im Prozess zunehmender Verschriftlichung von öffentlicher und privater Kommunikation und zugleich als Medium bildungsbürgerlicher Selbstverständigung. Neben den periodenübergreifenden Sprachgeschichten, die wie das dreibändige Werk von von Polenz oder die Nouvelle Histoire de la langue Française (1999) von Chaurand zugleich auch die Summe der neueren Forschung präsentieren, sind im Kontext von historischer Sozio- und Varietätenlinguistik zahlreiche Einzeluntersuchungen entstanden. Im Folgenden seien exemplarisch einige Studien genannt, die bisher in der Sprachgeschichtsschreibung nicht oder nur unzureichend bearbeitete neue Felder erschließen, so zur kommunikativen Praxis von nicht oder teilweise literalisierten Schreibern, den semicolti (Schikorski 1990; Erfurt 1993; Schlindwein 2003; Elspaß 2005) und von Migranten, die in anderen als in den in ihrer aktuellen sprachlichen Umgebung verwendeten Sprachen literalisiert sind (Maas 2008; Böhm 2010), zur Rolle von Oralität in sozialen Bewegungen (Schlieben-Lange 1983), zur ländlichen Schriftkultur (Maas 1995) und zur scribal community im typographischen Kontext (Hall 2008), zur Sprache der Industriearbeiter (Mattheier 1989) und im Industrierevier (Grosse 1989), zur sozialdisziplinierenden Funktion des richtigen Sprechens (Mugglestone 1995), zur Sprachnormdebatte und Konstitution bildungsbürgerlichen Selbstbewusstseins (Gessinger 1980) und zur Konventionalisierung sprachlicher Umgangsformen (Linke 1996). Die von Wimmer (1991), Gardt, Haß-Zumkehr und Roelcke (1999), Mattheier (1999) und Gardt (2000) herausgegebenen Tagungsbände zum Deutschen und zu europäischen Sprachen geben einen guten Überblick über die Forschungsergebnisse, die, angeregt durch die programmatischen Forderungen einer Neuorientierung der Sprachgeschichtsschreibung zu Beginn der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, im europäischen Zusammenhang in den zwei Jahrzenten entstanden. Zugleich wird deutlich, dass soziolinguistische, varietätenlinguistische, dialektologische wie grammatische Untersuchungen zur Gegenwartssprache nicht nur die den Beobachtungsdaten immanente strukturelle Diachronizität, sondern auch Geschichte in Form von sprachbezogenen Wissensbeständen und Praktiken von Sprecherinnen und Sprechern in ihre Untersuchungen einbeziehen müssen, mit anderen Worten, der traditionellen Aufsicht eine Sprachgeschichte von unten entgegenzuhalten. So öffnen beispielsweise korpusbasierte variationslinguistische Beschreibungen rezenter Sprachverhältnisse den Blick auf sprachhistorisch interpretierbares Laienwissen.
70. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachgeschichtsschreibung Wenn wir die Sprachverhältnisse im begonnenen 21. Jahrhundert mit Fokus auf Europa als Ausgangspunkt nehmen, dann sollte eine kulturwissenschaftlich orientierte Sprachgeschichtsschreibung danach schauen, wie sich Varianz und Wandel in Form von innerer und äußerer Mehrsprachigkeit, als Sprachenpolitik, Sprachkontakt, Medialität von gesprochener und geschriebener Sprache, Visualität und Oralität, Wahrnehmung und Bewertung von sprachlichen Varietäten und Praktiken in die Geschichte von Sprachen eingeschrieben hat und damit, wie es Dietrich Busse in seinem Beitrag schreibt, den „Zusammenhang von Sprache, Wissen und gesellschaftlicher Praxis (in Kommunikation und gesellschaftlicher Interaktion)“ (Busse, siehe Artikel 69) zu erforschen sucht. Insgesamt stellt sich natürlich die Frage, ob die jüngere Geschichtsschreibung kleinerer und größerer europäischer Sprachen sich, wie andere Teildisziplinen der Linguistik, dem „Sog des cultural turn“ (Busse, siehe Artikel 69) nicht wird entziehen können oder ob die Vielzahl sprachgeschichtlicher Erzählungen mit ihrer philologischen Expertise und ihrer methodisch reflektierten Empirie nicht ihrerseits dazu beiträgt, die Konturen dessen, was unter Kulturwissenschaft gefasst werden kann, klarer hervortreten zu lassen.
6. Literatur (in Auswahl) Adelung, Johann Christoph [1793−1801] 1970 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Hildesheim/New York: Olms. Auer, Peter, Frans Hinskens and Paul Kerswill (eds.) 2005 Dialect Change. Convergence and Divergence in European Languages. Cambridge: Cambridge University Press. Blex, Tony and Richard J. Watts 1999 Standard English. The Widening Debate. London: Routledge. Böhm, Manuela 2010 Sprachenwechsel. Akkulturation und Mehrsprachigkeit der Brandenburger Hugenotten vom 17.−19. Jahrhundert. Berlin/New York: de Gruyter. Campe, Joachim Heinrich 1807−1811 Wörterbuch der Deutschen Sprache. Braunschweig: Schulbuchhandlung. Chaurand, Jacques (Hg.) 1999 Nouvelle Histoire de la Langue Française. Paris: Édition du Seuil. Christy, T. Craig 1983 Uniformitarianism in Linguistics. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins. Condillac, Etienne Bonnot de [1746] 1970 Essai sur l’origine des connaissances humaines. Oeuvres completes. 2 Bde. Genf: Slatkine Reprints. Croft, William 1990 Typology and Universals. Cambridge: Cambridge University Press. Darwin, Charles 1859 On the Origin of Species. London: John Murray. Darwin, Charles 1871 On the Descent of Man and Selection in Relation to Sex. 2 vols. London: John Murray. De Mauro, Tullio 1963 Storia linguistica dell’Italia unita. Bari: Laterza. Dictionnaire de l’Académie Française 1762/1798 4./5. Aufl. Paris: Brunet/Smits.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Maas, Utz 2008 Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft. Die schriftkulturelle Dimension. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Mattheier, Klaus J. 1989 Die soziokommunikative Situation der Arbeiter im 19. Jahrhundert. In: Dieter Cherubim und Klaus J. Mattheier (Hg.), Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert, 93−109. Berlin/ New York: de Gruyter. Mattheier, Klaus J. 1999 Historische Soziolinguistik. (Soziolinguistica. Internationales Jahrbuch für europäische Soziolinguistik 13.) Tübingen: Niemeyer. Mattheier, Klaus J. und Edgar Radtke (Hg.) 1997 Standardisierung und Destandardisierung europäischer Nationalsprachen. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Mauthner, Fritz 1912 Zur Sprachwissenschaft. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 2. 2. Aufl. Stuttgart/ Berlin: Cotta. Mauthner, Fritz 1913 Grammatik und Logik. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 3. 2. Aufl. Stuttgart/ Berlin: Cotta. Mayerthaler, Willi 1981 Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden: Athenaion. Mendelssohn, Moses [1756] 1972 Über die Sprache. In: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 2, 27−28. (Jubiläumsausgabe 6.) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann. Meringer, Rudolf 1912 Zur Aufgabe und zum Namen unserer Zeitschrift. In: Wörter und Sachen 3, 22−56. Milroy, James 2002 The Legitimate Language. Giving a History to English. In: Richard J. Watts and Peter Trudgill (eds.), Alternative Histories of English, 7−25. London: Routledge. Milroy, James and Lesley Milroy 1985 Authority in Language. Investigating Standard English. London: Routledge. Mugglestone, Lynda 1995 ‚Talking Proper‘. The Rise of Accent as Social Symbol. Oxford: Clarendon. Müller, Jan Dirk 1996 ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Stuttgart: Metzler. Naumann, Bernd, Frans Plank and Gottfried Hofbauer (eds.) 1992 Language and Earth. Elective Affinities between the Emerging Sciences of Linguistics and Geology. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins. Paul, Hermann 1880 Principien der Sprachgeschichte. Halle: Niemeyer. Polenz, Peter von 1991−2013 Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. Raible, Wolfgang 2006 Medienkulturgeschichte. Mediatisierung als Grundlage unserer kulturellen Entwicklung. Heidelberg: Winter. Reichmann, Oskar 1998 Sprachgeschichte. Idee und Verwirklichung. In: Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Bd. 1, 1−41. 2. Aufl. Berlin/ New York: de Gruyter.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Wegera, Klaus-Peter und Sandra Waldenberger 2012 Deutsch diachron. Eine Einführung in den Sprachwandel des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt. Wenzel, Horst 1995 Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München: Beck. Wenzel, Horst, Wilfried Seipel und Gotthart Wunberg (Hg.) 2001 Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche. Wien: Kunsthistorisches Museum. Whitney, William Dwight 1874 Die Sprachwissenschaft. W. D. Whitney’s Vorlesungen über die Principien der vergleichenden Sprachforschung für das deutsche Publikum bearbeitet und erweitert von Julius Jolly. München: Ackermann. Wimmer, Rainer (Hg.) 1991 Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Berlin/New York: de Gruyter. Wundt, Wilhelm 1900 Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Bd. 1: Die Sprache. Leipzig: Engelmann. Wurzel, Wolfgang Ullrich 1994 Grammatisch initiierter Wandel. Bochum: Brockmeyer.
Joachim Gessinger, Potsdam (Deutschland)
71. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie 1. Einleitung − was heißt ,kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie‘? 2. Kulturwissenschaftliche Orientierungen bei ,Klassikern‘ der Sprachtheorie
3. Systematisches Potenzial für eine kulturwissenschaftliche Linguistik 4. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung − was heißt ‚kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie‘? Ziel des vorliegenden Artikels ist es, implizite und explizite kulturwissenschaftliche Orientierungen in ausgewählten sprachtheoretischen ,Klassikern‘ des 19. und 20. Jahrhunderts freizulegen. Der Artikel ist aber nicht in erster Linie historisch orientiert, sondern soll vor allem systematische Anknüpfungspunkte für aktuelle Diskussionen um Kulturalität und Medialität in der Sprach- und Kommunikationstheorie aufzeigen. Angestrebt ist eine Relektüre der ausgewählten Sprachkonzeptionen im Hinblick auf eine zukünftige kulturwissenschaftliche Orientierung der Linguistik.
71. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie Unter kulturwissenschaftlich orientierten Sprachtheorien sollen hier solche verstanden werden, die Sprache, Denken und Kultur nicht als ontologisch getrennt, sondern als intrinsisch miteinander verwoben begreifen und darum bemüht sind, diese Verwobenheit konzeptionell zu erfassen. Das extreme Gegenkonzept hierzu wäre die Idee einer universalen, kultur- und medialitätsunabhängigen Sprache des Denkens, wie sie etwa von Pinker (1996, 2014) entworfen und mit der Bezeichnung Mentalesisch gekennzeichnet wurde: „Eine Sprache beherrschen heißt also, zu wissen, wie Mentalesisch in Wortketten zu übersetzen ist und umgekehrt“ (Pinker 1996: 96). Begreift man dagegen bereits die konkrete Einzelsprache als ein Medium des Denkens, mit Humboldt gesprochen: als „das bildende Organ des Gedanken“ (Humboldt GS 5: 374), so ergibt sich, dass auch das Denken eine Medialität haben muss und in diesem Sinne am „transkriptiven“ Wechselspiel inter- und intramedialer Bezugnahmepraktiken (Jäger 2002; vgl. auch Artikel 10) beteiligt ist. Die Rede von einer Sprache des Geistes ist genau dann sinnvoll, wenn diese Sprache nicht als universal, sondern als kulturell und medial geprägt konzipiert wird, als eine kulturell geprägte Sprache, die eine eigene Medialität aufweist. Legt man eine solche kulturalistische Sprachidee zugrunde, dann muss − so die systematische Hauptthese der vorliegenden Überlegungen − die in der Linguistik bis heute gültige Grundunterscheidung zwischen Langue und Parole zwar nicht ad acta gelegt, aber doch reformuliert und differenziert werden: Neben dem gespeicherten Zeichenschema (= Element der Langue) und dem gesprochenen, geschriebenen oder gebärdeten Sprachereignis (= Element der Performanz/Parole) muss auch eine Performanz des Denkens in Anschlag gebracht werden. Mithilfe eines solchen Konzepts, das im zweiten Kapitel auf der Basis ausgewählter Texte Humboldts, Saussures, Vygotskijs und Wittgensteins erläutert und dargestellt werden soll, kann die in der Linguistik immer noch vorherrschende Trennung zwischen der Langue als einem ,inneren‘ Zeichensystem und der Parole bzw. Performanz als einem ,äußeren‘ Zeichengebrauch überwunden werden: Nur wenn die Linguistik diese irreführende Dichotomie aufhebt, hat sie Chancen, in Zukunft ihren Beitrag zur kultur- sowie auch zur kognitionswissenschaftlichen Debatte zu leisten.
2. Kulturwissenschaftliche Orientierungen bei ,Klassikern‘ der Sprachtheorie Die Fragestellung lässt sich also wie folgt präzisieren bzw. erweitern: Wo finden sich in unserer sprachtheoretischen Tradition Ansätze zu einer Performanz des Denkens und wie lassen sich diese im Hinblick auf heutige Fragestellungen weiterentwickeln? − Für den vorliegenden Beitrag wurde diesbezüglich eine Vorauswahl getroffen: Obwohl man sich hier selbstverständlich auch auf andere Autoren stützen könnte, wurden für die anstehende Erörterung Humboldt, Saussure und Wittgenstein als paradigmatische Fälle herangezogen. Bei allen dreien handelt es sich um profilierte Repräsentanten einer kulturwissenschaftlichen Orientierung im obigen Sinne, deren Ansätze jedoch lange Zeit von der strukturalistisch und generativ geprägten Mainstreamtradition überlagert bzw. nur sehr verkürzt rezipiert wurden. Alle drei entwickeln sprachtheoretische Überlegungen, die von Grund auf performanz- und medialitätsbezogen sind. Der Psychologe Vygotskij wurde dazugenommen, um einerseits die Idee der Performanz des Denkens zu schärfen und andererseits eine transdisziplinäre Brücke zu den Kognitionswissenschaften zu schlagen.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
2.1. Humboldt und Saussure In seinen Grundzügen des allgemeinen Sprachtypus, entfaltet Wilhelm von Humboldt seine vielerorts zitierte und für die Sprachtheorie in der Tat bahnbrechende Idee, dass „die Sprache nicht bloss die Bezeichnung des, unabhängig von ihr geformten Gedanken, sondern selbst das bildende Organ des Gedanken“ sei (Humboldt GS 5: 374). Dieser Angriff gegen überkommene Repräsentations- oder Gegenstandstheorien der Bedeutung kulminiert in der Konzeption relativer, sprachlicher „Weltansichten“ (Humboldt GS 5: 387−388), die schon für sich genommen genug Anlass bietet, Humboldt als einen kulturwissenschaftlich orientierten Forscher zu kennzeichnen. Weniger beachtet wurde, dass er der Materialität und Medialität des Sprachzeichengebrauchs, nämlich dem real erklingenden „Ton“, eine konstitutive Funktion für das Denken beimaß: „Die intellectuelle Thätigkeit ist“, so Humboldt, „an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Ton einzugehen, das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden“ (Humboldt GS 5: 375). Umgekehrt muss die intellektuelle Tätigkeit, das Denken im weitesten Sinne, den Ton durchdringen, damit dieser zum „articulirten Laut“ werden kann (Humboldt GS 5: 375). Die Entäußerung materieller Sprachzeichen ist für Humboldt notwendige Bedingung für das Denken: „Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Menschen und Menschen zu sehen, ist das Sprechen eine notwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit. In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich. Denn der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat“ (Humboldt GS 5: 377). In dieser zentralen Textpassage kommen die Sozialität und Medialität gleichermaßen zur Sprache: Nur in der „Geselligkeit“ (Humboldt GS 5: 380), im „versuchenden“ Abgleich mit anderen, können Worte ihre Bedeutung erlangen; und das Äußern artikulierter materieller Laute, die ja in der Interaktion mit anderen Sprachnutzern entstanden sein müssen, ist die Bedingung der Möglichkeit begrifflichen Denkens. Sozialität und Medialität erscheinen somit als notwendige Voraussetzungen der intellektuellen Tätigkeit. Es ist daher alles andere als weit hergeholt, in Humboldt einen Vordenker der aktuell aufkeimenden kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung zu sehen. Wie von Jäger (2010: 98) dargelegt wird, war Ferdinand de Saussure im Besitz eines Auszugs der Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, und es gibt klare Indizien dafür, dass er sich in seiner Berliner Zeit mit Humboldts Sprachphilosophie beschäftigte (Jäger 2010: 54). In seinen hinterlassenen und erst spät publizierten Notizen findet Saussure geeignete Begriffe für die von Humboldt vorgetragenen Überlegungen zu Medialität und Sozialität (Jäger 2010: 98 ff., 156 ff.). Während die Parole in den zeichentheoretischen Überlegungen des publizierten Cours keinen systematisch relevanten Ort hat, führt Saussure (1997: 359) in den Notes item den Begriff des Aposème ein. Das Aposème ist die real ertönende Lautgestalt („figure vocale“), die an sich nichts bedeutet, sondern nur dadurch Bedeutung erlangt, dass sie von Menschen in Situationen als bedeutungsvolles Zeichen konstituiert und verstanden wird. Damit dies gelingen kann, muss in der Tat eine Langue, als ein mentales System arbiträrer Zeichen, angenommen werden. In diesem Sinne ist das Zeichen ein Sème bzw. Parasème (Saussure 1997: 361), das seinen Wert („valeur“) in Differenz zu anderen Sèmes/Parasèmes desselben Systems erhält. Dieser Wert ist von Individuum zu Individuum verschieden, und er changiert und variiert auch beim einzelnen Sprecher oder Schreiber ständig. Man kann sich diese saussuresche
71. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie Langue als ein offenes, flexibles und fragiles System vorstellen, das sich − und dies ist einer der entscheidenden Unterschiede zum Cours − stets aus der Parole, aus der „Zirkulation“ der Aposèmes in der Interaktion speisen muss: „Implizites Element, das alles andere hervorbringt; daß die Sprache [langue] unter den Menschen zirkuliert, daß sie sozial ist. Wenn ich von dieser Bedingung absehe […], dann wird nichts von dem, was ich über ‚die Sprache‘ [‚la langue‘] sagen werde, wahr sein […]“ (Saussure 2003: 159). Anders als der Cours, der die Langue als eine unveränderliche „Symphonie“ beschreibt (Saussure 1972: 36), die in der Parole immer wieder aufgeführt wird, ohne dass diese Aufführungen die Symphonie verändern würden, begriff der Autor Saussure das Verhältnis von Parole und Langue als ein dialektisches: Um Aposèmes produzieren und verstehen zu können, benötigen wir mentale Netzwerke von Parasèmes; aber gleichzeitig können diese parasemischen Netzwerke nichts enthalten, was nicht in der Parole als Aposème erzeugt wurde (vgl. Jäger 2010: 156 ff.). Ganz im Sinne Humboldts lässt sich festhalten: Das Aposème ist notwendige Bedingung nicht nur für sprachliche Kommunikation mit anderen, sondern auch für das ,innere Gespräch‘ des Individuums: für das Denken. Als ertönende Lautgestalt bietet das Sprachzeichen materiale Anlässe für immer neue Deutungen und im Licht der sich fortwährend verändernden parasemischen Umgebungen eröffnen sich immer neue Spielräume des Gebrauchs. Spinnt man diesen Gedanken weiter, so zeigt sich, dass die Dichotomie von Langue und Parole, so wie sie im Cours vorgestellt wird, nicht adäquat ist und zudem logische Brüche aufweist: Neben der Arbitrarität wird die Linearität des signifiant im Cours als zweites Prinzip der Semiologie angeführt (Saussure 1972: 103). Linear kann aber nur ein tatsächlich aktualisiertes Zeichen sein (vgl. hierzu Jäger 2008: 64). Die Langue ist als System bloße Potenzialität; wir brauchen sie als Kategorie, weil Sprache auch eine Sache des Gedächtnisses ist, weil sprachliche Schemata in irgendeiner Weise ,im Kopf‘ gespeichert sein müssen − sonst wären sowohl differenzielle parasemische Netzwerke als auch artikuliertes Sprechen und Schreiben unmöglich. Aber die sprachlichen Schemata der Langue sind selbst nicht linear; viel eher handelt es sich um „Semiosepotenziale“ (Bücker 2012: 60). Die Rekonstruktion einer Langue ist immer die Rekonstruktion eines impliziten Zeichenwissens und diese Rekonstruktion kann nur auf der Basis von Performanzbeschreibungen erfolgen. Diese Überlegungen zeigen, dass das sprachliche Denken, das „innere Sprechen“ (Vygotskij), nicht als Teil der Langue beschrieben werden kann. Im Denken werden Zeichen − wenn auch unhörbar − realisiert, das „innere Sprechen“ ist linear, es bedient sich der fragilen Semiosepotenziale, die die Langue bereitstellt; im Denken finden Bezugnahmen und Prädikationen statt: Ich denke über jemanden nach; ich ärgere mich darüber, dass jemand dieses oder jenes getan hat, usw. Damit ist klar, dass die Dichotomie von Langue als einem ,inneren‘ Zeichensystem und Parole bzw. Performanz als einem ,äußeren‘ Zeichengebrauch in die Irre führt und einen entscheidenden Punkt kaschiert: Denken ist − wenn man so will − ,innerer‘ Zeichenbrauch und dies ist nicht dasselbe wie Langue. Voraussetzung für diesen inneren Zeichengebrauch allerdings ist die Entäußerung von Zeichen in der Interaktion; die ,externe‘ Zeichenspur ist unabdingbare Voraussetzung für das ,interne‘ mentale System (vgl. Linz und Jäger 2004: 11). Dies ist ein wichtiger Aspekt einer kulturwissenschaftlich orientierten Sprachtheorie: Die Performanz des sprachlichen Denkens bedarf der Performanz des Sprechens oder Gebärdens oder Schreibens, und damit ist sie kulturgebunden. Was aber macht ihre Medialität aus?
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
2.2. Vygotskij und Wittgenstein Lev S. Vygotskij (2002) erörtert das „innere Sprechen“ im Zusammenhang seiner Überlegungen zum kindlichen Spracherwerb und in Abgrenzung von Piagets Auffassung des „egozentrischen Sprechens“ (des Sprechens zu sich selbst) bei Kleinkindern. Für Piaget sei das egozentrische Sprechen Ausdruck einer anfänglich noch nicht ausreichend entwickelten Sozialisation; daher verschwinde es Stück für Stück, wenn diese Sozialisation erreicht werde (Vygotskij 2002: 423). Vygotskij vertritt die gegenteilige Auffassung: Für ihn stellt das egozentrische Sprechen „ein Phänomen des Übergangs von interpsychischen zu intrapsychischen Funktionen dar, d. h. von Formen der sozialen, kollektiven Tätigkeit des Kindes zu individuellen Formen“ (Vygotskij 2002: 416−417). Sprache und Spracherwerb sind von Anfang an sozial; das ontogenetische Entstehen des egozentrischen Sprechens ist Ausdruck einer „allmählichen Individualisation“ (Vygotskij 2002: 417) und zugleich Vorstufe des inneren Sprechens, das nun nicht mehr entäußert werden muss. Vygotskij formuliert einen treffenden Vergleich mit dem Rechnenlernen: Anfänglich benutzen Kinder ihre Finger zum Zählen und sie rechnen laut; erst später gelangen sie zum Kopfrechnen, ohne dass irgendjemand auf die Idee käme, zu behaupten, dass damit „das Rechnen überhaupt“ verschwinde (Vygotskij 2002: 423). Der Übergang von der egozentrischen zur inneren Sprache ist wesentlich durch eine „Abstraktion von der Lautseite“ (Vygotskij 2002: 421) charakterisiert. Dies bedeutet aber auch, dass die soziale und die egozentrische Sprache die Basis für das innere Sprechen bilden, und in diesem Sinne ist der Psychologe Vygotskij ein echter Gewährsmann für die kulturalistische Idee einer Performanz des Denkens: Seine Idee des inneren Sprechens ist dezidiert antiuniversalistisch, da es jeweils an eine sozial konstituierte Einzelsprache gebunden bleibt. Damit lässt sich der prima facie vielleicht abwegig erscheinende Bezug zu Wittgenstein plausibel machen: Ebenso wie Wittgenstein mit seiner Konzeption wandelbarer Sprachspiele und Lebensformen (Wittgenstein PU: 23, 19 und passim) begreift auch Vygotskij den öffentlichen Sprachzeichengebrauch als Bedingung der Möglichkeit von sprachlichem Denken. Wittgenstein stellt in seinen Argumentationen zur Unmöglichkeit einer privaten Sprache ja keineswegs die Existenz „innerer Vorgänge“ in Abrede; er insistiert nur darauf, dass die sprachliche Bezugnahme auf jegliche Referenzobjekte, also auch auf sogenannte mentale Zustände, nicht privat, sondern immer in einen öffentlichen Sprachzeichengebrauch eingebettet ist. Wittgenstein kritisiert einen metaphysischen Universalismus und entsprechende verdinglichende Redeweisen, die den Theorien über mentale Zustände häufig zugrunde liegen. Insofern lassen sich seine antisolipsistischen Argumentationen als ein ergänzendes, kritisches Korrektiv zu einer Konzeption des inneren Sprechens begreifen: Dieses muss seine Basis stets in öffentlichen, sozial geteilten Sprachspielen haben, in Performanzerscheinungen, die „äußere Kriterien“ für „innere Vorgänge“ liefern (vgl. Wittgenstein PU: 580). Solche öffentlich überprüfbaren Kriterien möchte auch Vygotskij zur Grundlage einer empirischen Untersuchung des inneren Sprechens machen und er glaubt, sie in der Analyse des egozentrischen Sprechens zu finden. Da dieses die Vorstufe zu jenem darstellt, muss − so Vygotskijs Überlegung − eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen beiden bestehen. Interessant ist nun, dass Vygotskij das innere Sprechen keineswegs nur als „Sprechen minus Laut“ (Vygotskij 2002: 431) begreift, sondern ihm − trotz aller Ähnlichkeiten mit dem egozentrischen Sprechen − spezifische Strukturen beimisst, die einer spezifischen
71. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie Medialität geschuldet sind. Schon beim egozentrischen Sprechen lassen sich syntaktische Besonderheiten ausmachen, die sich in seiner fortschreitenden Entwicklung verstärken und daher − so Vygotskijs methodologisches Kalkül − als Spezifika des inneren Sprechens angenommen werden können: Das innere Sprechen ist im Vergleich zum äußeren „scheinbar lückenhafter, fragmentarischer, verkürzter“, wofür Vygotskij eine Reihe von sprachlichen Beispielen anführt (Vygotskij 2002: 431 ff.). Insbesondere ist es durch die Tendenz zum Prädikativen gekennzeichnet, durch die Weglassung der Referenzobjekte. Diese Tendenz lasse sich mit den strukturellen Bedingungen des Mediums ,inneres Sprechen‘ erklären: Schon im situationsgebundenen mündlichen Gespräch werden die Referenzobjekte häufig nicht genannt, da sie durch den Kontext als bekannt vorausgesetzt werden; beim inneren Sprechen ist dies der Normalfall: Das Thema unseres inneren Dialogs ist uns bekannt; wir wissen, an wen oder was wir denken (Vygotskij 2002: 444). Das extreme Gegenteil hiervon stellen geschriebene Texte dar, in denen die Referenzobjekte wegen der fehlenden Kontextualisierung in der Regel genannt werden müssen. „Mündliches Sprechen nimmt demnach“ − so Vygotskij − „eine Mittelstellung zwischen dem schriftlichen und dem inneren Sprechen ein“ (Vygotskij 2002: 443−444). Das innere Sprechen wird, in Abgrenzung von gesprochener und geschriebener Sprache, als ein eigenständiges Medium gekennzeichnet, das aber − ganz im Sinne Humboldts − stets auf eine natürliche Einzelsprache bezogen bleibt: Das innere Sprechen ist ein „mit dem Wort verbundenes Denken“ (Vygotskij 2002: 457).
3. Systematisches Potenzial für eine kulturwissenschaftliche Linguistik Schlägt man nun den Bogen zu aktuellen Diskursen, so lässt sich feststellen, dass im deutschsprachigen Raum gegenwärtig unter anderem die Gesprächsforschung und die Interaktionale Linguistik als kulturwissenschaftlich orientiert charakterisierbar sind (vgl. Artikel 84). Angestrebt wird eine auf die Analyse gesprochensprachlicher Daten gestützte Linguistik, eine Sprachwissenschaft der „lebendigen Rede“ (Günthner 2003). Durch ihre konsequente Performanzorientierung hat die Interaktionale Linguistik bereits entscheidende Arbeiten zur Beschreibung der Onlineprozessierung (Auer 2000) gesprochener Sprache in Differenz zum Geschriebenen geleistet − Arbeiten, die in Vygotskijs oben referierten Überlegungen zur Syntax des mündlichen und des inneren Sprechens einen ihrer Vorläufer haben. In den letzten Jahren wurde allerdings auch immer wieder das Theoriedefizit insbesondere der Gesprächsforschung beklagt (Deppermann 2011). In der Verbindung von Interaktionaler Linguistik und Construction Grammar sehen viele Autoren Potenziale für eine bislang fehlende theoretische Fundierung. Der vorliegende Artikel sollte eine Idee davon vermitteln, dass hierbei auch von den kulturwissenschaftlich orientierten ,Klassikern‘ theoretische Impulse mit Gewinn aufgenommen werden können. In diesem Sinne baut der Artikel innerhalb der Abteilung IV („Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft“) des Handbuchs eine Brücke von den „Traditionen“ (IV, erster Teil) zu den „Neuorientierungen“ (IV, zweiter Teil) und hier insbesondere zur kulturwissenschaftlichen Orientierung in der Pragmatik (Artikel 82) und in der Gesprächsforschung (Artikel 84).
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Der antistrukturalistische Geist der Gesprächsforschung sowie der Interaktionalen Linguistik ist gut begründet und in weiten Teilen berechtigt: Die starre Trennung von Parole und Langue, wie sie etwa im Cours stellenweise präsentiert wird, kann einer Linguistik der lebendigen Rede nicht gerecht werden. Wie hier exemplarisch gezeigt wurde, gilt dies jedoch nicht für die saussureschen Quellentexte. Gerade dann, wenn sich die empirische Gesprächsforschung ein Theoriefundament geben möchte, das kognitive Prozesse einbezieht, kann die saussuresche Semiologie eine Bereicherung darstellen: Sie ist performanzorientiert und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Schematisierungsprozesse innerhalb einer fragilen und dennoch als System beschreibbaren Langue zu erfassen. Begriffe wie Aposème, Parasème, Zirkulation und Wert (valeur) sind tragfähige Kategorien einer allgemeinen Sprachzeichentheorie, die eine echte Alternative zu herrschenden kognitiven Modellen darstellen kann. Derzeit ist die Interaktionale Linguistik zunehmend bestrebt, Interaktion und Kognition miteinander zu verbinden (Deppermann 2011, 2012). Dabei stützt sie sich zu Recht auf die Konstruktionsgrammatik, die schon von ihrer Entstehungsgeschichte her weit weniger theorieabstinent ist. Zwar ist der Begriff der Konstruktion, der vor allem als Abgrenzungskategorie gegenüber dem generativistischen Kompetenzbegriff und der Vorstellung „semantisch leerer Regeln“ (Tomasello 2003: 99) entstanden ist, bis heute alles andere als geklärt. Da die Konstruktionsgrammatik aber im Gegensatz zur Generativen Grammatik explizit zeichentheoretisch ausgerichtet ist, stellt der Konstruktionsbegriff einen guten Ausgangspunkt für eine kulturwissenschaftlich orientierte Sprachtheorie dar: Konstruktionen lassen sich als kulturell geprägte Zeichenschemata begreifen; und hier bieten gerade die saussuresche Semiologie und das humboldtsche Sprachdenken einen geeigneten Theorierahmen. Auch die Parole-Langue-Unterscheidung ist − wie gezeigt wurde − keineswegs obsolet geworden. Sie muss allerdings revidiert und durch eine Performanz des Denkens, ein inneres Sprechen im Sinne Vygotskijs, ergänzt werden: Nur auf diese Weise lässt sich die vermeintliche Schlucht zwischen einer ,inneren‘ Langue und einer ,äußeren‘ Parole/Performanz überbrücken.
4. Literatur (in Auswahl) Auer, Peter 2000 On line-Syntax − Oder: Was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen. In: Sprache und Literatur 85, 43−56. Bücker, Jörg 2012 Sprachhandeln und Sprachwissen: Grammatische Konstruktionen im Spannungsfeld von Interaktion und Kognition. Berlin/Boston: de Gruyter. Deppermann, Arnulf 2011 Konstruktionsgrammatik und Interaktionale Linguistik: Affinitäten, Komplementaritäten und Diskrepanzen. In: Alexander Lasch und Alexander Ziem (Hg.), Konstruktionsgrammatik III. Aktuelle Fragen und Lösungsansätze, 207−240. Tübingen: Stauffenburg. Deppermann, Arnulf 2012 How Does ‚Cognition‘ Matter to the Analysis of Talk-in-Interaction? In: Language Sciences 34(6), 746−767. Günthner, Susanne 2003 Eine Sprachwissenschaft der „lebendigen Rede“. Ansätze einer Anthropologischen Linguistik. In: Angelika Linke, Hanspeter Ortner und Paul R. Portmann-Tselikas (Hg.),
71. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachtheorie Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis, 189−208. Tübingen: Niemeyer. Humboldt, Wilhelm von 1906 Gesammelte Schriften. Fünfter Band 1823−1826, hg. v. Albert Leitzmann. Berlin: B. Behr [zitiert als GS 5]. Jäger, Ludwig 2002 Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: ders. und Georg Stanitzek (Hg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, 19−41. München: Fink. Jäger, Ludwig 2008 Aposème und Parasème: Das Spiel der Zeichen − Saussures semiologische Skizzen in den „Notes“. In: Zeitschrift für Semiotik 30(1−2) (Themenheft „Medialität und Sozialität sprachlicher Zeichen“, hg. v. Jan Georg Schneider), 49−71. Jäger, Ludwig 2010 Ferdinand de Saussure zur Einführung. Hamburg: Junius. Linz, Erika und Ludwig Jäger 2004 Einleitung. In: Ludwig Jäger und Erika Linz (Hg.), Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, 9−14. München: Fink. Pinker, Steven 1996 Der Sprachinstinkt. München: Kindler. Pinker, Steven 2014 Der Stoff, aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Saussure, Ferdinand de 1972 Cours de linguistique générale. Édition critique préparée par Tullio de Mauro. Paris: Payot. Saussure, Ferdinand de 1997 Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte Briefe und Dokumente. Gesammelt, übers. und eingel. v. Johannes Fehr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Saussure, Ferdinand de 2003 Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß. Hg. und mit einer Einleitung versehen v. Ludwig Jäger. Übers. und textkritisch bearb. v. Elisabeth Birk und Mareike Buss. (stw 1677.) Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Tomasello, Michael 2003 Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Cambridge, MA: Harvard University Press. Vygotskij, Lev S. 2002 Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen. Hg. und a. d. Russischen übers. v. Joachim Lompscher u. Georg Rückriem. Weinheim/Basel: Beltz [dt. Erstausgabe 1964: Lev S. Wygotski, Denken und Sprechen, hg. v. Johannes Helm, übers. v. Gerhard Sewekow. Berlin: Akademie-Verlag]. Wittgenstein, Ludwig 1984 Philosophische Untersuchungen. In: ders., Werkausgabe in 8 Bänden. Bd. 1, 225−580. Frankfurt a. M.: Suhrkamp [zitiert als PU mit Angabe der Abschnittsnummer].
Jan Georg Schneider, Landau (Deutschland)
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
72. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwandeltheorie 1. Einleitung 2. Sprachwandel 3. Sprachtheorie und kulturwissenschaftliche Grundlegung
4. Kulturhistorische Konzepte des Sprachwandels in der Entwicklung der Sprachwissenschaft 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Wer sich mit natürlichen Sprachen unter dem Aspekt ihres historischen Wandels befasst, hat es notwendig auch mit kulturellen Vorgängen unterschiedlicher Art zu tun, da Sprachen, ihrem medialen Charakter entsprechend (Ehlich 1998; Jäger 2015), einen wesentlichen Anteil an der Entstehung und Ausbildung menschlicher Kulturen haben und selbst wiederum Prozesse kultureller Entwicklung auf komplexe Weise widerspiegeln können. Zu Recht geht deswegen das Handbuch zur deutschen Sprachgeschichte von einer allgemeinen kulturhistorischen Grundlegung aus: Die theoretische Basisausrichtung auch der zweiten Aufl. liefert die seit dem 19. Jahrhundert in wechselnden zeitgeschichtlichen Varianten vertretene kulturhistorisch orientierte Sprachforschung. Das ist diejenige Konzeption, die dem Sprachgebrauch prinzipiell in Wechselbeziehung zu dem kulturellen, sowohl materiellen wie geistigen, Umfeld sieht, aus dem heraus sprachliche Äußerungen ihren Sinn erhalten und zu dessen Konstituierung und Geschichte sie ihrerseits beitragen. (Besch et al. 1998−2000, I: XXXII)
Der jeder Form von historischer Sprachwissenschaft vorausgesetzte Begriff des Sprachwandels muss demnach ebenfalls kulturhistorische Zusammenhänge berücksichtigen, wenn er nicht kontrafaktischen und schwer begründbaren methodischen Idealisierungen von sprachlichen Veränderungen in der Zeit, wie sie in der Sprachforschung immer wieder vorgenommen wurden, unnötig Vorschub leisten soll.
2. Sprachwandel 2.1. Sprachwandel und lebende Sprachen Die Veränderung natürlicher Sprachen, solang sie „leben“, ist offenkundig und hat ihren letzten Grund in ihrer Leistung als spezifische menschliche Verfahren der fortwährenden sprachlichen Aneignung und Gestaltung komplexer Lebenswelten sowie in der Tatsache, dass alle Sprachen, um erhalten zu bleiben, in der Zeit, d. h. von Generation zu Generation, weitergegeben werden müssen. In diesem Sinne ist der ständige Wandel für natürliche Sprachen nicht nur funktional, sondern auch konstitutiv (Wurzel 1975; Cherubim 2003). Dabei verlangt die durch Sprache geleistete zeichenhafte Konstruktion und Vermittlung von Lebenswelten ebenso wie die Weitergabe von Sprachen zwischen den Ge-
72. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwandeltheorie nerationen immer wieder Anpassungsleistungen an unterschiedliche Formen sozialer, kommunikativer und sprachtechnischer Systematisierung, was aber keineswegs als unilineare und kontinuierliche Optimierung missverstanden werden darf. „Lebende“ Sprachen sind daher solche, mit denen diese Anpassungsleistungen aktiv und jederzeit im sozialen Verkehr innerhalb von und zwischen verschiedenen Generationen einer Sprachgemeinschaft vollzogen werden können, während die sogenannten toten Sprachen, wenn sie nicht schon vollständig aus dem kulturellen Gedächtnis der Menschheit gelöscht wurden, vor allem rezeptiv aus vorhandenen Texten rekonstruiert und bestenfalls in Form eines daraus gewonnenen philologischen Wissens wieder aktiviert und weitergegeben werden können.
2.2. Sprachwandel und Sprachanalyse Jede Wahrnehmung und Analyse natürlicher Sprachen hat es daher notwendig mit der Möglichkeit ihres Wandels zu tun, kann diesen Wandel aber, in Abhängigkeit von bestimmten Interessen oder Zielsetzungen (z. B. im Interesse einer Standardisierung von Einzelsprachen, der historischen Herleitung von Sprachstrukturen oder für die Rekonstruktion der logischen Form einer Sprache), in unterschiedlicher Weise berücksichtigen und darstellen. Wie der Sprachwandel selbst in der historischen kommunikativen Praxis prozessiert wird (vgl. Cherubim 2012a), lässt sich kaum in vollem Umfang erschließen oder voraussagen, auch wenn einzelne Präferenzen oder Tendenzen unter Umständen erkennbar sein mögen (z. B. Vennemann 1983). Dafür existieren heute recht unterschiedliche Modellvorstellungen, z. B. in Form von Markiertheits-, Natürlichkeits-, Kommunikations- oder Systemtheorien, die in Konkurrenz zueinander stehen oder sich gegenseitig ergänzen (z. B. Lüdtke 1987; Meinecke 1989; Wurzel 1997; Keller 2003; Zeige 2011). Legt man grundsätzlich einen weiten Begriff von „historischer Sprache“ zugrunde, wie es Oesterreicher (2001) tut, so muss der Sprachwandel mindestens in drei Dimensionen und auf den verschiedenen systematischen Ebenen charakterisiert werden: In der zeitlichen Dimension als Veränderung zwischen (idealisierten) Entwicklungsstufen, einschließlich zeitlicher Überschichtungen (Cherubim 2012b); in der funktionalen (d. h. nicht nur räumlichen) Dimension als Produktion von innersprachlicher Variation, einschließlich einer bestimmten Oszillation zwischen den Varianten (z. B. Roelcke 1997); in der soziopolitischen Dimension als erfolgreiche Ausdifferenzierung von Existenzformen, Einzelsprachen oder Sprachtypen, einschließlich bestimmter gegensteuernder Prozesse durch Sprachkontakte oder Sprachmischungen (z. B. Barbour und Stevenson 1998).
2.3. Sprachwandel und Sprachgeschichte Seit der Antike waren in der Geschichte der Thematisierung von Sprache immer wieder Tendenzen erkennbar, Sprachen als Objekte theoretischer Behandlung aus ihren empirischen Verwendungs- oder Praxiszusammenhängen herauszulösen und zu vergegenständlichen, was oft ihrer Verschriftlichung (Ehlich 1998: 12) oder der Konzentration auf sprachzeicheninterne Relationen oder Mechanismen (Wurzel 1975) geschuldet war. Dem standen jedoch stets auch Versuche gegenüber, Sprachen gerade in ihren konventionali-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft sierten Gebrauchszusammenhängen als „Lebensformen“ (Ludwig Wittgenstein) zu erfassen. In der historischen Sprachwissenschaft, die sich als spezielle Subdisziplin erst im 19. Jahrhundert ausbildete, hat man daher bisweilen einen systematischen Unterschied zwischen einer Theorie des Sprachwandels und einer Theorie der Sprachgeschichte postuliert (z. B. Isenberg 1965; Polenz 1991: 17). Eng damit verbunden war die Unterscheidung von inneren (endogenen) und äußeren (exogenen) Faktoren des Sprachwandels (z. B. Vachek 1962; Reiffenstein 1990; vgl. auch Lüdtke 1980 und Maitz 2012). Inwieweit solche Unterscheidungen heute noch sinnvoll und fruchtbar sind, ist umstritten. Auf jeden Fall sollten sie deutlicher als bisher aufeinander bezogen werden, damit ihre Reichweite abgeschätzt werden kann (Wurzel 1975). Auch die Differenz zwischen einer universalistischen und einer einzelsprachlichen Perspektive in der allgemeinen Sprachwissenschaft hat bisweilen dazu beigetragen, den Sprachwandel als quasiautonomes Phänomen zu konzeptualisieren und damit von seinem „unauflöslichen Bezug“ (Ehlich 1998: 15) auf das gesellschaftliche Handeln von Menschen abzutrennen, dem er sich doch erst verdankt. Ganz besonders der weitverbreitete Biologismus in der europäischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts (Jäger 1991, 2009; vgl. auch Stevick 1963) und modernere strukturalistische Versuche, sich weitgehend auf die interne Beziehungen der sprachlichen Systematik zu beschränken, haben zu derartigen Mystifikationen verleitet, als ob sich der Sprachwandel gleichsam unabhängig von der Praxis kognitiv tätiger, kommunizierender und sozial agierender Menschen ereignen könne.
3. Sprachtheorie und kulturwissenschaftliche Grundlegung 3.1. Sprachtheorie Jede Theorie des Sprachwandels setzt notwendig einen Begriff von Sprache voraus, der die Reichweite und Erklärungskraft dieser Theorie bestimmt, aber auch Ausgrenzungen vornimmt, die einer Rechtfertigung bedürfen. Die europäische Geschichte der Sprachwissenschaft (exemplarisch: Robins 1973; vgl. Stammerjohann 2009) zeigt, in welchem Maß unterschiedliche Bestimmungen von Sprache als Gegenstand theoretischer und/oder praktischer Sprachforschung seit der griechisch-römischen Antike möglich waren und analytisch umgesetzt wurden. Dabei ist davon auszugehen, dass man der offenkundigen Vielseitigkeit sprachlicher Phänomene nie in vollem Umfang gerecht werden konnte, sondern aus bestimmten Interessenlagen heraus immer nur bestimmte Aspekte fokussierte, die man für relativ bedeutsam oder besonders relevant hielt. Ebenso wäre es falsch gewesen, zu erwarten, dass es generell oder in bestimmten Phasen der Entwicklung der Sprachwissenschaft jeweils nur eine „adäquate“ Sprachtheorie gegeben haben müsse; vielmehr zeigt gerade die heterogene Entwicklung der Sprachwissenschaft, dass unterschiedliche Bestimmungen von Sprache auch zeitlich nebeneinander existierten oder sogar sinnvoll miteinander kooperieren konnten. Und dies gilt ganz besonders, wenn man nicht nur Sprachtheorien im Ganzen, sondern auch bestimmte Teiltheorien (z. B. phonologische und semantische Theorien) miteinander vergleicht.
72. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwandeltheorie
3.2. Kultur als sprachwissenschaftliches Leitkonzept Die historische Sprachwissenschaft, deren zentrales Problem die Erfassung, Beschreibung und Erklärung des Sprachwandels in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Prozessen der Umsetzungen ist, hat immer wieder mit einem Begriff von „Kultur“ gearbeitet, auch wenn dieser Begriff weder übereinstimmend gebraucht noch jemals hinreichend expliziert wurde. Daraus resultieren noch heute die bekannten Schwierigkeiten, ihn aktuell als ein übergreifendes, erkenntnisleitendes Konzept der historischen Wissenschaften zu etablieren (vgl. Bausinger 1980; Vierhaus 1995; Luhmann 1995; vgl. Artikel 15; Moebius und Quadflieg 2006; Hansen 2011). Dennoch gibt es in den verschiedenen begriffsgeschichtlichen Ansätzen tendenzielle Gemeinsamkeiten, die es sinnvoll erscheinen lassen, den Kulturbegriff als heuristisches Konzept gerade auch bei der Erforschung des Sprachwandels einzusetzen (vgl. z. B. Sonderegger 1992; Gardt, Haß-Zumkehr und Roelcke 1999; Auer 2000; Linke 2003; Gardt 2012): 1. Mit der Bezeichnung Kultur werden allgemein von Menschengruppen erzeugte und
für sie verbindlich gewordene Muster der Auseinandersetzung mit ihren Lebenswelten bezeichnet. Kulturen stellen also, wie es ein Schweizer Forschungsprogramm von 1985 formuliert hat, „Antwort(en) menschlicher Gruppen auf existenzielle Herausforderungen der natürlichen und sozialen Umwelt“ dar (Sonderegger 1992: 112; vgl. auch Müller 2003: 18). „Kultur“ soll dabei nicht im Gegensatz zu „Natur“ stehen, weil Prozesse biologischer Evolution sinnvoll durch Prozesse kultureller („tradigenetischer“) Evolution ergänzt und fortgeführt werden (vgl. z. B. Osche 1987; Vogel 1991; Jäger 1991, 2009). 2. Kulturen als kontingente, etablierte Formen menschlicher Daseinsbewältigung sind für die jeweiligen Gruppen von Menschen nicht nur verbindlich, weil sie als Deutungs- und Orientierungssysteme ihrer sozialen Praxis gelten, sondern auch, weil sie Prozesse der Ausgrenzung und Identifizierung von Personen bzw. der Integration und Adaption von Verhaltensweisen kontrollieren können. 3. Es gibt unterschiedliche Erscheinungsformen von Kultur, die auf komplexe Weise miteinander verschränkt sein können: Formen materieller Art, die in Gegenständen, Werkzeugen, Geräten, Bekleidungen, Kunstprodukten etc. ihren Ausdruck finden; Formen mentaler Art wie Einstellungen, Mentalitäten, Gefühle, Klischees, feste Assoziationen etc.; Formen sozialer Art wie Gruppierungen, Religionen, Sitten, Brauchtum, Rituale, Verwandtschaftsverhältnisse, Institutionen, kollektive Verhaltensschemata etc. und eine Vielzahl von Formen medialer Art, die über ihre informative Funktion hinaus mit einem symbolischen (z. B. rituellen) Mehrwert verbunden werden können. 4. Innerhalb der kulturellen Zeichensysteme (Posner 1991) nehmen die sprachlichen Zeichensysteme bzw. die konventionalisierten Formen sprachlichen Verhaltens wie Kommunikationsweisen, Erzähl-/Gesprächstechniken oder Textsorten insofern eine besondere Stellung ein, als sie sowohl konstitutiv (z. B. für Gruppenbildungen, Handlungsstrategien) als auch vermittelnd (z. B. als Anzeichen von konnotativen Bewertungen, Sichtweisen) wirken, außerdem selbstreflexiv eingesetzt werden und mit den anderen Formen materieller, mentaler und sozialer Art unterschiedliche Gemeinsamkeiten haben. Darüber hinaus gilt für Sprache wie für andere kulturelle Phänomene, dass sie prinzipiell historisch angelegt, d. h. aus der sozialen Praxis von Menschen in bestimmten historischen Situationen erwachsen, sind und durch diese Praxis auch ständig verändert werden können.
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3.3. Sprachwandel als Kulturwandel Wenn Sprachwandel also im Sinne einer kulturhistorischen Orientierung grundsätzlich auf den Wandel menschlicher Sprachpraxis als Auseinandersetzung mit bestimmten Lebenswelten zurückgeführt werden muss, so ist für ein angemessenes Verständnis generell nach den maßgeblichen Bedingungen dieser Praxis und deren Auswirkungen auf Prozesse des Sprachwandels zu fragen und speziell zu ermitteln, wie bestimmte soziale Erfahrungen und deren praktische Umsetzungen sich in Ausdrücken sprachlichen Verhaltens wiederfinden lassen. Bisher gängige Zugriffe verweisen unter anderem auf soziale Bedingungen wie z. B. Formen von Vergesellschaftung oder der Institutionalisierung, die Entstehung von Herrschafts- und Produktionsverhältnissen, die Herausbildung von Lebensstilen; ferner auf materielle Bedingungen wie z. B. spezielle Wohnverhältnisse, Ernährung, Verkehrsmöglichkeiten oder Kommunikationstechniken, auf mentale Bedingungen wie z. B. Wissensvoraussetzungen, Einstellungen oder Normensysteme, nicht zuletzt auch auf besondere Bedingungen jeder gestaltenden sprachlichen Aneignung und Fassung (Nomination) von Personen, Gegenständen oder Verhältnissen der Wirklichkeit, die so für unterschiedliche Zwecke der Lebenspraxis verfügbar gemacht werden (Knobloch und Schaeder 1996; Cherubim 2001; Blank und Koch 2003). Dabei kann die Untersuchung solcher Zusammenhänge, wie die bisherige Praxis zeigt, in zwei sich ergänzenden Richtungen erfolgen: Man kann z. B. einerseits prüfen, „ob nicht der geschichte unsers volks das bett von der sprache her stärker aufgeschüttelt werden könnte“ (Grimm 1853: XI; vgl. auch Grimm [1863] 1984: 223−224), oder von konkreten Texten ausgehen und „kulturanalytisch“ zu erfassen versuchen, wie Auseinandersetzungen mit bestimmten historischen Zuständen oder Vorgängen in Formen des sprachlichen Ausdrucks eingeschrieben oder aus diesen zu gewinnen sind (Maas 1986, 1987). Insgesamt stehen so unterschiedliche Zugriffe für das zur Verfügung, was heute unter dem Etikett einer „kulturwissenschaftlichen“ Orientierung für eine „neue“ historische Sprachwissenschaft gebündelt werden soll oder reklamiert wird.
4. Kulturhistorische Konzepte des Sprachwandels in der Entwicklung der Sprachwissenschaft Eine „Theorie“ des Sprachwandels zu formulieren, war ein besonderes Anliegen, das erst mit dem Versuch einer systematischen Begründung der historischen Sprachwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts in den Blick kam. Hermann Pauls Principien der Sprachgeschichte (1. Aufl. Halle 1880) ist hier aber nur das bekannteste und sicher ein herausragendes Beispiel in einer Reihe von einschlägigen Handbüchern (u. a. von William D. Whitney, Philipp Wegener, Karl Brugmann, Georg von der Gabelentz; vgl. Cherubim 1975), die versuchten, Prinzipien der historischen Sprachforschung als „Grundsätze […] aus dem Bestande der erfolgreichen Sprachforschung selbst durch Reduktion zu gewinnen […]“ (Bühler [1934] 1965: 20). Tatsächlich war Sprachwandel in der (europäischen) Sprachforschung lange kein wichtiges Thema. In der Antike (Allen 1948; Krause 1962) standen eher das Problem der Sprachrichtigkeit (Siebenborn 1976) und die Frage nach der Funktion von Sprache als Organon der Erkenntnis im Vordergrund des Interesses. Mit diesen Aspekten schien
72. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwandeltheorie das keineswegs übersehene Faktum der natürlichen Veränderung von Sprache in der Zeit, das später in grammatischen Diskussionen und philologischen Textanalysen ausgiebiger thematisiert wurde (Uhlfelder 1963), nur schwer verträglich zu sein. Kulturhistorische Aspekte des Sprachwandels wurden aber bereits in den früh einsetzenden semiotischen und speziell etymologischen Diskussionen von Philosophie, Grammatik und Rhetorik in den Blick genommen. Einschlägige Fragestellungen ließen sich dabei mit der Problematik der Sprachzeichenkonstitution (Natur vs. Konvention) verknüpfen und fanden ihren besonderen Ausdruck in komplexeren Ansätzen zu anthropologisch orientierten Kulturentstehungslehren, die frühere mythologische Konstruktionen der Welt ersetzten und vor allem von bestimmten philosophischen Richtungen (z. B. Demokrits, Epikurs) stärker ausgearbeitet wurden (vgl. Delacy 1939; Müller 2003). In der Renaissance, die antike Vorstellungen zum Teil explizit wieder aufgriff, kam vor allem im Umfeld der Diskussionen über die „questione della lingua“ ein größeres Interesse an historischen und sozialen Zusammenhängen lebender Sprachen und damit auch an Problemen des Sprachwandels auf (vgl. Hall 1936; Read 1977; Bahner 1978), was nicht nur zu säkularisierenden Umdeutungen der biblischen Berichte von Sprachentstehung und Sprachentwicklung führte (so schon in Dante Alighieris Programmschrift De vulgari eloquentia um 1300), sondern auch zum Entwurf von Modellen degressiver oder progressiver Sprachentwicklung und zu Spekulationen über mögliche Ursachen des Sprachwandels. Darüber hinaus wurden derartige kulturhistorische Reflexionen durch die zunehmende Erschließung und Vergleichung vieler europäischer und außereuropäischer Sprachen gefördert, die von Gelehrten wie Justus Scaliger, Theodor Bibliander, Conrad Gesner u. a. vorangetrieben wurden (vgl. Peters 1972; Metcalf 1953a). Der dabei entstehende Kulturpatriotismus (Huber 1984) lieferte dann in der Barockzeit eine hinreichende Motivation für die stärkere Beschäftigung mit der Geschichte der einzelnen Vernikularsprachen, die als „Hauptsprachen“ legitimiert und gegenüber den „heiligen“ Sprachen (Hebräisch, Griechisch, Latein) aufgewertet werden sollten (Metcalf 1953b; Borst 1960; Blume 1978). Eine systematisch begründete und detaillierte empirische Erforschung des Sprachwandels lag aber weithin noch außerhalb der Interessen und der Möglichkeiten der Zeit. Eine ausgesprochen kulturhistorisch orientierte Sprachforschung wurde dann durch die Aufklärung begünstigt: Historisches Wissen erschien nun generell interessant, weil damit überkommene Dogmen und Traditionen kritisch überprüft und sprachliche Daten, die jetzt auch in größerem Umfang zur Verfügung standen, zunehmend für neue Formen einer praktisch orientierten Wissenschaft vom Menschen genutzt werden konnten (Cherubim 2008). Schon die Hinwendung Giambattisto Vicos zum „mondo civile“ (Principi di Scienza Nuova 1725, Abs. 331) wiesen den richtigen Weg (Apel 1963; Coseriu 1972: 69 ff.; Ricken et al. 1990: 66 ff.), was dann durch die bedeutenden „sensualistischen“ Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt wurde. Für die deutsche Sprache und die Problematik des Sprachwandels ist hier besonders auf die Ansätze Johann Gottfried Herders (Ricken et al. 1990: 249 ff.) und Johann Christoph Adelungs (Bahner 1984; Laudin 2002) einzugehen, aber auch die Entwicklung der idealistischen Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts und Jacob Grimms historisch-vergleichende Sprachforschung (vgl. Cherubim 1985) entfalten − trotz ihrer Anlehnung an biologistische Vorstellungen bei Letzterem − deutlich solche kulturhistorischen Zugriffe auf den Sprachwandel, wie sie im 18. Jahrhundert in der Diskussion waren, aber auch im 19. Jahrhundert,
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft z. B. bei Gesellschaftstheoretikern wie Karl Marx und Friedrich Engels, noch diskutiert wurden (Ricken et al. 1990: 271 ff.; vgl. auch Geier 1979). Für Hermann Paul ([1880] 1970: 6 f.) gehörte dann die Sprachgeschichte oder die historische Sprachwissenschaft, auch wenn er sich methodisch an den Gesetzeswissenschaften orientierte, explizit zu den Kulturwissenschaften: Sie sei eine Form der Kulturgeschichte, die sich vor allem mit dem Zusammenwirken der psychischen und physischen Faktoren im „Sprachleben“ zu befassen habe. Dabei war für ihn der gesellschaftliche Aspekt, den er mit dem Begriff des Usus verband, eher sekundär. Die soziale Wechselwirkung der Individuen aufeinander und zwischen Generationen mussten primär in den Einzelpsychen aufgesucht und beschrieben werden (1970: 7, 12 ff.). Das aber, was heute von einer kulturhistorisch orientierten Sprachgeschichte erwartet wird, dass man den „materiellen Inhalt“, d. h. „alle Erfahrungen und Erlebnisse“, die „Wirkungen in der Sprache hinterlassen haben“, die also in ihr „niedergelegt“ sind, ins Auge fasse, war für Paul gerade nicht „die eigentümliche Aufgabe der Sprachwissenschaft“, vielmehr könne sie dazu „nur in Verbindung mit allen übrigen Kulturwissenschaften“ beitragen (Paul 1970: 17). Pauls Behandlung der unterschiedlichen Phänomene des Sprachwandels in seinen Prinzipien zeigte dann auch sehr deutlich, wie sehr er sich auf die „innere“, d. h. zeichenkonstitutive Mechanik der Sprachen beschränkte, sodass externe, d. h. sozial motivierte Prozesse wie z. B. die Verschriftlichung von Sprachen, die Sprachmischung oder die Ausbildung von Gemeinsprachen nur am Rand mitbehandelt wurden. Eher in diese Richtung gingen aber die Ansätze seiner romanistischen „Gegner“ wie z. B. Hugo Schuchardts, Karl Voßlers oder Leo Spitzers (1943) und ausgesprochen kulturhistorische Konzepte des Sprachwandels lagen vor allem der späteren „Wörter und Sachen“-Forschung (Meringer 1909) und der „kulturmorphologischen“ Schule der Dialektforschung (Maurer 1942; Grober-Glück 1982; Lerchner 1986; Mattheier 1986) am Beginn des 20. Jahrhunderts zugrunde. Speziell die reichen Ergebnisse der ebenfalls in dieser Zeit entstandenen deutschen Sprachkontaktforschung (Seiler 1913−1924) oder der historischen Wortforschung (Maurer und Rupp 1974−1978), aber auch der noch ins 19. Jahrhundert zurückreichenden historischen Namenforschung oder der sogenannten Sondersprachforschung von Friedrich Kluge u. a. wären ohne kulturhistorische Fragestellungen oder Zugriffe so nicht möglich gewesen. Im 20. Jahrhundert lassen sich dann kulturhistorische Ansätze sowohl in der psychologischen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit (z. B. bei Havers 1931) wie bei den europäischen Anfängen der Soziolinguistik (z. B. Sommerfelt 1954; vgl. Cherubim 1975: 44 ff.) finden, ebenso in vielen Arbeiten der einschlägigen sowjetischen (vgl. Girke und Jachnow 1974) und der ethnologisch orientierten amerikanischen Richtungen (vgl. Hymes 1964; Kjolseth und Sack 1971; Coulmas 1974). Explizit kulturwissenschaftlich fundiert sind heute die verschiedenen Spielarten der historischen Semantik und Pragmatik, der Gesprächs- und Diskursforschung (Busse, Hermanns und Teubert 1994; Cherubim 1998; Busse, Niehr und Wengeler 2005; Kilian 2005), nicht zuletzt die Konzeption einer modernen sozialgeschichtlichen Aufarbeitung des Deutschen, wie sie vor allem Peter von Polenz (1994−2000), auch im Rückgriff auf eine vielseitige aktuelle Forschung, vertreten hat. Dass dabei freilich der Begriff des Sprachwandels nicht nur sehr stark ausgeweitet und durch Berücksichtigung immer neuer Erscheinungsformen poröser, d. h. auch schwerer systematisierbar, wird (Weinreich, Labov and Herzog 1968; vgl. Polenz 1998), stellt für manche Sprachtheoretiker sicher ein Problem dar, ist aber im
72. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachwandeltheorie Interesse der empirischen Relevanz und des anzustrebenden gesellschaftlichen Nutzens sprachhistorischer Analysen (vgl. auch Cherubim 2003) unvermeidbar.
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73. Kulturwissenschaftliche Orientierung in Dialektologie/Sprachgeographie Wurzel, Wolfgang Ulrich 1997 Natürlicher Grammatischer Wandel, ‚unsichtbare Hand‘ und Sprachökonomie − Wollen wir wirklich so Grundverschiedenes? In: Thomas Birkmann, Heinz Klingenberg, Damaris Nübling und Elke Ronneberger-Sibold (Hg.), Vergleichende germanische Philologie und Skandinavistik. Festschrift für Otmar Werner, 295−308. Tübingen: Niemeyer. Zeige, Lars Erik 2011 Sprachwandel und soziale Systeme. Hildesheim/Zürich/New York: Olms.
Dieter Cherubim, Braunschweig (Deutschland)
73. Kulturwissenschaftliche Orientierung in Dialektologie/Sprachgeographie 1. Dialektologie/Sprachgeographie und Kulturwissenschaft 2. Dialektologische Forschungsparadigmen im diachronen Überblick
3. Fazit 4. Literatur (in Auswahl)
1. Dialektologie/Sprachgeographie und Kulturwissenschaft Der Gegenstand dialektologischer Forschung ist grundsätzlich als kulturwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand begreifbar: Wie andere Varietäten des Deutschen werden auch seine Dialekte als Systeme im Allgemeinen willkürlich formulierter sprachlicher Zeichen verstanden, wobei besonders zwei Eigenschaften (nach Hansen 2003: 73) gerade auch für die Untersuchung von Dialekten von besonderer Bedeutung sind: 1. Die Art des Systems von Zeichen, die − anders als etwa bei der standardisierten Hochsprache − von einer relativen Heterogenität und Veränderbarkeit gekennzeichnet ist, und 2. die relative Uneindeutigkeit der kommunikativen Funktionen bzw. die Multifunktionalität dialektaler Äußerungen. Auch wenn der Dialekt sich als Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften besonders eignet, ist die Verortung der Dialektologie als eine kulturwissenschaftliche Disziplin in der Regel nicht explizit, da sich die Disziplin trotz ihrer teilweise engen Anbindung an historische, soziologische oder anthropologische Forschungsrichtungen im Wesentlichen als sprachwissenschaftlich (auch: literaturwissenschaftlich) versteht und so heute auch in der Forschungslandschaft begegnet. Es ist dennoch evident, dass dialektologische Forschung kulturwissenschaftliche Fragestellungen berührt. Von den von Auer (2000) formulierten Charakteristika einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik sind für die Dialektologie vor allem folgende besonders augenfällig: − Empirische Ausrichtung: Die neuere Dialektologie untersucht natürliche Sprachdaten,
die von Individuen spontan (oder in vielen Fällen auch durch Fragebögen/Fragebücher elizitiert) geäußert werden.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft − Interpretative Analyse der Sprachdaten: Neben einer systematischen Strukturbeschrei-
bung steht in einigen dialektologischen Forschungsrichtungen auch die Beobachtung und Interpretation sprachlicher Ausdrucksformen bzgl. ihrer Funktionen und Bewertung im Fokus. − Historische Ausrichtung: Die diatopische Variabilität der Sprache wurde in der Dialektologie immer auch diachronisch betrachtet, da hier Ursachen für die synchron beobachtbare Variabilität zu finden und daraus gegebenenfalls grundlegende Prinzipien des Sprachwandels abzuleiten sind. Unterschiedliche dialektologische Forschungsparadigmen konzentrieren sich mehr oder weniger auf die genannten kulturwissenschaftlich interpretierbaren Charakteristika. Diachron betrachtet, lassen sich Verschiebungen in der Ausrichtung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Dialekten erkennen.
2. Dialektologische Forschungsparadigmen im diachronen Überblick 2.1. Paradigmen einer vorwissenschaftlichen Dialektologie Nimmt man den Beginn einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Dialekten des Deutschen mit der Untersuchung der bairischen Dialekte durch Schmeller (1821) an, so kann jede Beschäftigung mit Dialekten vor diesem Datum als vorwissenschaftlich betrachtet werden. Eine metasprachliche Beschäftigung mit den Dialekten des Deutschen ist (nach Steger 1982: 399) bereits für die Zeit des Humanismus und Barock zu konstatieren, in der beginnende Standardisierungstendenzen und -bestrebungen Dialekte in Gegensatz zur Kultur- bzw. Hochsprache brachten. Dialektkenntnisse werden als nützlich betrachtet, wenn diese beim Gebrauch der Hochsprache dazu dienten, Dialektismen zu vermeiden (so bei Frangk 1531, zitiert nach Socin 1888), da Dialekte als regellos, niedrig und derb galten. Implizit liegt hier eine soziale Bewertung der sprachlichen Varietäten vor, die die Dialekte metasprachlich mit der Hochsprache kontrastiert.
2.2. Kulturwissenschaftliche Ansätze in der Dialektologie seit dem 19. Jahrhundert Mit der grammatischen Untersuchung der Mundarten Bayerns von Schmeller (1821) beginnt die empirische, regionale und historisch ausgerichtete Dialektforschung in Deutschland und Europa. Schmeller lässt in seine Untersuchung explizit soziale Kriterien einfließen, da unter anderem zwischen ländlicher Aussprache und Aussprache der Gebildeten unterschieden wird. Die soziale, außersprachliche Kriterien mit einbeziehende Ausrichtung Schmellers wird auch in seinem Bemühen deutlich, der Diskriminierung von Dialektsprechern entgegenzuwirken, indem einerseits dialektale Sprachformen in ihrem Wert erkannt wurden und andererseits soziale Unterschiede durch die Einrichtung von Hochsprachenunterricht überwunden werden sollten (Berthele 2004: 722).
73. Kulturwissenschaftliche Orientierung in Dialektologie/Sprachgeographie Die „klassische“ Dialektologie der Marburger Schule, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte, ist eng mit dem Namen Georg Wenker und seinem Deutschen Sprachatlas verbunden und durch die Auseinandersetzung mit junggrammatischen Analysemethoden gekennzeichnet. Diese sind diachron ausgerichtet und an naturwissenschaftlichen Methoden (insbesondere im Bereich der Lautphysiologie, Sievers 1876, 1901) orientiert. Sprache wird als im Wesentlichen regelgeleitetes Gebilde verstanden und Sprachwandel z. B. im lautlichen Bereich nach dem Prinzip der Lautgesetze erfasst (u. a. Paul 1880). Im Bereich der Dialektologie wird die Ortsmundart als eine isolierbare und grundsätzlich homogene Einheit betrachtet. Die Arbeiten von Holthausen (1886), Schönhoff (1908) oder auch in den Niederlanden Simons (1889) stellen Beispiele für die Umsetzung des junggrammatischen Ansatzes in der Dialektologie dar, deren Charakteristikum einerseits die Situierung der rezenten Mundarten in einen historischen Kontext bis zum Altsächsischen, Altfriesischen, Althochdeutschen bzw. bis zum Westgermanischen ist, andererseits eine Konzentration auf die Darstellung von Laut- und Formenlehren. Diesem Forschungsparadigma stellt Georg Wenker nun eines entgegen, das explizit empirisch und interpretativ ist. Seit 1877 werden von ihm von Marburg aus in über 40 000 Erhebungsorten im Deutschen Reich per standardisiertem Fragebogen und indirekter Erhebungsmethode Daten zu örtlichen Basisdialekten erhoben (Knoop, Putschke und Wiegand 1982). Forschungsinteresse des Sprachatlas-Projektes ist neben der Erarbeitung von Sprachkarten (vgl. Lieferungen des Deutschen Sprachatlas 1927 ff., vgl. außerdem den Digitalen Wenkeratlas 2001 ff.), die einen synchronen Sprachzustand abbilden, auch deren Interpretation in Bezug auf diachrone Entwicklungen sowohl in sprachlicher als auch landesgeschichtlicher Hinsicht. Die Sprachkarten bilden in dem Sinne kulturgeschichtliche Aspekte ab, als sie sich als Ergebnis einer von einem prestigereichen Zentrum ausbreitenden sprachlichen Neuerung interpretieren lassen (Berthele 2004: 727). Es lassen sich aus den dialektologischen Daten Folgerungen hinsichtlich typischer Verkehrswege und Kulturräume ziehen. In diese Richtung lassen sich zahlreiche Arbeiten in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts, u. a. auch Arbeiten von Theodor Frings (Frings 1956; Aubin, Frings und Müller 1926) zum Rheinland, interpretieren. Hier werden nach sogenannter extralinguistischer Methode (Niebaum und Macha 1999: 94) dialektologische Isoglossen mit politischen oder konfessionellen Grenzen und ökonomischen Entwicklungen korreliert und das Vorkommen von Laut- oder Wortformen durch den Einfluss alter Kulturlandschaften und Verkehrsscheiden erklärt. Hierauf aufbauend sind u. a. für Südwestdeutschland (Mauer 1942), das Ostmitteldeutsche (Polenz 1954; Große 1955) und Ostfranken (Steger 1968) sprachhistorisch orientierte Arbeiten entstanden, die die Sprachentwicklung mit außersprachlichen Faktoren wie Mobilität, Siedlungsgeschichte, Brauchtum u. a. in Verbindung brachten. Hinsichtlich einer im Vergleich zu junggrammatischen Grundsätzen neuen Methodik hebt Berthele (2004: 725 f.) auch die Rolle der Württemberger Schule in Tübingen rund um Bohnenberger und Haag (1898) hervor, die eine empirische Basis mittels direkter Befragungen und eine Darstellung und Interpretation der erhobenen Daten im Sinne einer kulturhistorischen Betrachtung durchführen. Es lassen sich hier methodisch und hinsichtlich des kulturhistorischen Interesses Parallelen zum Atlas Linguistique de la France (1902 ff.) feststellen, der unter Leitung von Jules Gilliéron entstanden ist. Moder-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft ne Sprachatlas-Projekte seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (z. B. der Südwestdeutsche Sprachatlas [SSA], vgl. Steger und Schupp 1993) schließen in wesentlichen Punkten daran an.
2.3. Soziale Dialektologie und moderne Ansätze Unter den modernen Sprachatlas-Projekten nimmt der Mittelrheinische Sprachatlas (1994 ff.) eine Sonderstellung ein, da hier systematisch soziale Faktoren in die Untersuchung einbezogen wurden, u. a. das Alter der Gewährspersonen sowie deren Mobilität (vgl. Bellmann 1994), sodass hier zwei Gruppen typischer Dialektsprecher gegeneinander kontrastiert wurden: der ältere Bauer (um 75 Jahre) und der jüngere, berufspendelnde, das heißt mobilere Handwerker oder Arbeiter (um 35 Jahre). Ein Ergebnis des Atlanten ist, dass abhängig von Alter, Beruf und Mobilität die dialektale Tiefe in den Sprechergruppen unterschiedlich und eine Unterscheidung zwischen Basisdialekt (bei älteren, nicht mobilen Sprechern) und Regionaldialekt sinnvoll ist. Man kann diese Forschungsmethode mit der „sozialen Dialektologie“ nach Labov (1966) in Verbindung bringen, nach der der Sprachgebrauch in sozialen Umgebungen betrachtet wird. Neben der Untersuchung des Dialektgebrauchs abhängig von sozialen Faktoren werden in der modernen Dialektologie vor allem das Verhältnis von Dialekten und Standardvarietäten zueinander bzw. die in den unterschiedlichen Regionen sichtbar werdenden Dialekt-Standard-Konstellationen (Schmidt 1998; Auer 2005) zum Gegenstand der Forschung. Die moderne Regionalsprach- und Standardsprachforschung (vgl. u. a. Lenz 2003; Spiekermann 2008; Kehrein 2012) ließen sich nach Auer (2000: 59) als konstruktivistisch-kulturanthropologisch beschreiben. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Varietäten in spezifischen situativen und sozialen Kontexten lässt die Vorläufigkeit und Variabilität sprachlicher Normen erkennen, da Konvergenzen und Divergenzen zwischen den Varietäten als typische Sprachwandelerscheinungen sichtbar gemacht werden. Die Dialektologie wendet sich von ihrem eigentlichen Gegenstand in dem Sinne ab, dass mit Umgangs-/Regionalsprachen und Standardvarietäten, zunehmend in einer vertikalen Perspektive, höhere Sprachrepertoires systematisch erforscht und in ihrer sprachgeographischen, aber auch sozialen und situativen Dimension erfasst werden. Zu den modernen Ansätzen in der Dialektologie gehört die Laiendialektologie (auch: Ethnodialektologie, perceptual dialectology, folk linguistics, vgl. Preston 1993, 1999; Anders, Hundt und Lasch 2010), die sich mit individuellen Einstellungen zu Dialekten, das heißt deren Verbreitung und Begrenzung, typischen Merkmalen sowie ihrer Bewertung befasst. Es handelt sich dabei um subjektive Wahrnehmungen von Dialekten (und anderen Varietäten oder Sprachen), die sich individuell innerhalb einer Sprachgemeinschaft herausbilden und u. a. auf stereotypen Vorstellungen über Varietäten, Stile und Sprachen sowie deren Benutzer beruhen. Diese Richtung ließe sich als kognitiv-kulturanthropologisch (nach Auer 2000: 58) begreifen. Die Wahrnehmung von Dialektgrenzen orientiert sich sehr häufig an politischen, geographischen, konfessionellen oder historischen Grenzen (vgl. u. a. Stoeckle 2014). Dies lässt Rückschlüsse über die mentale Repräsentation sowohl der Sprach- als auch der Kulturräume zu. Ziel von laiendialektologischen Untersuchungen ist es nicht zuletzt, Ursachen von Sprachwandelphänomenen auf die Spur zu kommen und soziolinguistisch relevante Faktoren wie Stigma und Prestige,
73. Kulturwissenschaftliche Orientierung in Dialektologie/Sprachgeographie über die Sprachformen und damit Sprechergruppen definiert werden (vgl. Hoenigswald 1966; Labov 1972), zu isolieren.
3. Fazit Es lässt sich erkennen, dass die Dialektologie und Sprachgeographie durchaus Forschungsrichtungen umfasst, die kulturwissenschaftliche Fragestellungen berühren. Die empirische Erforschung der Zusammenhänge von Sprache − gerade auch lokal oder regional verankerter Sprache − mit historischen, gesellschaftlichen, ökonomischen oder konfessionellen Gegebenheiten ist offensichtlich und in den extralinguistischen Forschungsparadigmen der Dialektologie grundlegend. Das Individuum als Träger der Dialekte steht im Mittelpunkt moderner Ansätze der Dialektologie, wobei sowohl seine Sprachkompetenz als auch sein Sprachgebrauch und seine subjektiven Einstellungen zentrale Forschungsfragen darstellen. Das Individuum wird dabei in seinem sozialen Kontext, das heißt innerhalb der Sprechergruppe, der Sprechsituation und der durch das geteilte Sprach- und Weltwissen gegebenen Rahmenbedingungen, betrachtet: Außersprachliche Faktoren werden zur Beschreibung und Erklärung des Sprachverhaltens herangezogen. Auch wenn die Dialektologie im Kern durchaus kulturwissenschaftlich interpretiert werden kann, ist es augenfällig, dass eine Selbstbezeichnung in dieser Richtung bislang nicht bzw. nur in Einzelfällen zu beobachten ist.
4. Literatur (in Auswahl) Anders, Christina Ada, Markus Hundt und Alexander Lasch (Hg.) 2010 „Perceptual Dialectology“. Neue Wege der Dialektologie. Berlin/New York: de Gruyter. Atlas Linguistique de la France 1902−1920 siehe Gilliéron und Edmont. Aubin, Hermann, Theodor Frings und Josef Müller 1926 Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Bonn: Röhrscheid. Auer, Peter 2000 Die Linguistik auf dem Weg zur Kulturwissenschaft. In: Freiburger Universitätsblätter 147, 55−68. Auer, Peter 2005 Europe’s Sociolinguistic Unity, or: A Typology of European Dialect/Standard Constellations. In: Nicole Delbecque, Johan van der Auwera and Dirk Geeraerts (eds.), Perspectives on Variation. 7−42. Berlin/New York: de Gruyter. Bellmann, Günter 1994 Einführung in den Mittelrheinischen Sprachatlas MRhSA. Tübingen: Niemeyer. Bellmann, Günter (Hg.) 1994−2002 Mittelrheinischer Sprachatlas. 5 Bde. Tübingen: Niemeyer. Berthele, Raphael 2004 Dialektsoziologie − Soziolinguistische Aspekte der Dialektologie. In: Ulrich Ammon, Norbert Dittmar, Klaus Jürgen Mattheier und Peter Trudgill (Hg.), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, 721−738. Berlin/New York: de Gruyter.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Digitaler Wenkeratlas 2001 ff. siehe Schmidt und Herrgen. Deutscher Sprachatlas 1927 ff. Auf Grund des Sprachatlas des deutschen Reichs v. Georg Wenker, begonnen v. Ferdinand Wrede, fortgesetzt v. Walther Mitzka u. Bernhard Martin. Marburg: Elwert. Frings, Theodor 1956 Sprache und Geschichte. 3 Bde. Halle a. d. Saale: Niemeyer. Gilliéron, Jules und Edmond Edmont 1902−1920 Atlas Linguistique de la France. Paris: Champion. Große, Rudolf 1955 Die meißnische Sprachlandschaft. Dialektgeographische Untersuchungen zur obersächsischen Sprach- und Siedlungsgeschichte. Halle a. d. Saale: Niemeyer. Haag, Karl 1898 Die Mundarten des oberen Neckar- und Donaulandes. Reutlingen: Hutzler. Haarmann, Harald 2004 Soziolinguistische Aspekte der Kulturanthropologie. In: Ulrich Ammon, Norbert Dittmar, Klaus Jürgen Mattheier und Peter Trudgill (Hg.), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, 769−785. Berlin/New York: de Gruyter. Hansen, Klaus P. 2003 Kultur und Kulturwissenschaft. 3. Aufl. Tübingen/Basel: Francke. Hoenigswald, Henry M. 1966 Language Change and Linguistic Reconstruction. Chicago: University of Chicago Press. Holthausen, Ferdinand 1886 Die Soester Mundart. Laut- und Formenlehre nebst Texten. Norden: Soltau. Kehrein, Roland 2012 Regionalsprachliche Spektren im Raum. Zur linguistischen Struktur der Vertikale. Stuttgart: Steiner. Knobloch, Clemens 2010 Language and Space. The kulturmorphologische Ansatz in Dialectology an the German Space Ideology, 1920−1960. In: Peter Auer and Jürgen Erich Schmidt (eds.), Language and Space. Vol. 1: Theories and Methods, 107−125. Berlin/New York: de Gruyter. Knoop, Ulrich, Wolfgang Putschke und Herbert Ernst Wiegand 1982 Die Marburger Schule: Entstehung und frühe Entwicklung der Dialektgeographie. In: Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke und Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, 38−92. Berlin/New York: de Gruyter. Labov, William 1966 The Social Stratification of English in New York City. Washington, D. C.: Center for Applied Linguistics. Labov, William 1972 Sociolinguistic Patterns. Pennsylvania: University of Pennsylvania Press. Lenz, Alexandra N. 2003 Struktur und Dynamik des Substandards. Eine Studie zum Westmitteldeutschen (Wittlich/ Eifel). Stuttgart: Steiner. Maurer, Friedrich 1942 Oberrheiner, Schwaben, Südalemannen. Räume, Kräfte im geschichtlichen Aufbau des deutschen Südwestens. Straßburg: Hünenburg. Mittelrheinischer Sprachatlas 1994−2002 siehe Bellmann. Niebaum, Hermann und Jürgen Macha 1999 Einführung in die Dialektologie des Deutschen. Tübingen: Niemeyer.
73. Kulturwissenschaftliche Orientierung in Dialektologie/Sprachgeographie Paul, Hermann 1880 Principien der Sprachgeschichte. Halle: Niemeyer. Polenz, Peter von 1954 Die altenburgische Sprachlandschaft. Untersuchungen zur ostthüringischen Sprach- und Siedlungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer. Preston, Dennis R. 1993 Folk Dialectolgy. In: Dennis R. Preston (ed.), American Dialect Research, 333−377. Amsterdem/Philadelphia: Benjamins. Preston, Dennis R. 1999 Handbook of Perceptual Dialectology. Vol. 1. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins. Schmeller, Johann Andreas 1822 Die Mundarten Bayerns, grammatisch dargestellt. München: Thienemann. Schmidt, Jürgen Erich 1998 Moderne Dialektologie und regionale Sprachgeschichte. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 117, 163−179. Schmidt, Jürgen Erich und Joachim Herrgen (Hg.) 2001 ff. Digitaler Wenkeratlas (DiWA). Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas. Online unter: http:www.diwa.info/titel.aspx (letzter Aufruf 2. 12. 2015). Schönhoff, Hermann 1908 Emsländische Grammatik. Laut- und Formenlehre der emsländischen Mundarten. Heidelberg: Winter. Sievers, Eduard 1876 Grundzüge der Lautphysiologie zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Weimar: Breitkopf und Härtel [Nachdruck Hildesheim/New York: Olms 1979]. Sievers, Eduard 1901 Grundzüge der Phonetik. 5. verbesserte Aufl. Leipzig: Breitkopf und Härtel [Nachdruck Hildesheim/New York: Olms 1976]. Simons, Leo 1889 Het Roermondsch dialect, getoetst aan het Oud-Saksisch en Oud-Nederfrankisch. Gent: o. V. Socin, Adolf 1888 Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. Heilbronn: Henninger. Spiekermann, Helmut 2008 Sprache in Baden-Württemberg. Tübingen: Niemeyer. Steger, Hugo 1968 Sprachraumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken. Das Lautsystem der Mundarten im Ostteil Frankens und seine sprach- und landesgeschichtlichen Grundlagen. Neustadt a. d. Aisch: Degener. Steger, Hugo 1982 Methodologische Problemfelder und wissenschaftssystematische Aspekte in der Dialektologie. In: Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke und Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, 397−424. Berlin/New York: de Gruyter. Steger, Hugo und Volker Schupp (Hg.) 1993 Einleitung zum Südwestdeutschen Sprachtalas I. Marburg: Elwert. Stoeckle, Philipp 2014 Subjektive Dialekträume im alemannischen Dreiländereck. Hildesheim/Zürich/New York: Olms.
Helmut H. Spiekermann, Münster (Deutschland)
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
74. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Grammatik/Syntax 1. 2. 3. 4.
Einleitung Universalgrammatik Kulturanthropologische Orientierung Grammatik in Sprache und Musik
5. Grammatik und Medialität 6. Zusammenfassung 7. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Aktuelle, international führende Grammatiktheorien oszillieren in ihrem Umgang mit kulturellen Erscheinungen zwischen zwei extremen Positionen. Auf der einen Seite steht die kulturellen Phänomenen gegenüber aufgeschlossene, kulturanthropologisch orientierte Sprachtypologie, die von einer irreduzierbaren Diversität und kulturellen Varianz der aktuell über 6 000 existierenden Sprachen der Welt ausgeht. Auf der anderen Seite positioniert sich die generative Grammatik Noam Chomskys, die von einer biologisch codierten Universalgrammatik ausgeht. Genauer besehen, gestaltet sich die kulturwissenschaftliche Einordnung dieser beiden Forschungsrichtungen weniger eindeutig. Zum einen hat Chomskys sprachlicher Universalismus kulturgeschichtliche Wurzeln, u. a. in der grammaire générale von Port Royal und in Leibniz’ Bemühungen um eine lingua universalis. Zum anderen gibt es aktuelle Forschungsansätze, die in genuin kulturellen Erscheinungen wie etwa der Musik und Schrift universelle, sprachanaloge Ordnungsprinzipien aufdecken. In diesem Artikel werden die beiden gegensätzlichen Forschungsinteressen daher als Universalität versus Diversität charakterisiert. Die kulturwissenschaftliche Einordnung der beiden grammatiktheoretischen Pole ergäbe sich dann aus dem jeweiligen historisch gegebenen Selbstverständnis der Kulturwissenschaften. Da die aktuellen einflussreicheren kulturwissenschaftlichen Ansätze primär an Diversität interessiert sind (vgl. Jaeger et al. 2004; Nünning und Nünning 2008), stehen sie der sprachwissenschaftlichen Diversitätsforschung näher als dem linguistischen Universalismus. In diesem Artikel wird zunächst die generative Grammatik Chomskys als grammatiktheoretisch extremer Pol vorgestellt (Abschnitt 2). Auf diesem Hintergrund lassen sich alternative, den aktuellen Kulturwissenschaften näherstehende Entwicklungen im Bereich der Grammatik besser einordnen: die kulturanthropologische Orientierung (Abschnitt 3), die musikbezogene Grammatikforschung (Abschnitt 4) und die medialitätsbezogene Perspektive (Abschnitt 5). Diese Entwicklungen stellen eine relativ kleine Auswahl aus dem großen Spektrum der neueren Grammatikforschung dar; sie sind allerdings repräsentativ für aktuelle kulturwissenschaftlich relevante Forschungsparadigmen in der Sprachwissenschaft.
2. Universalgrammatik Noam Chomsky (1982, 2006; Hauser, Chomsky and Fitch 2002) geht von einem sprachlichen Dualismus zwischen der menschlichen Sprachfähigkeit im engeren Sinn (language
74. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Grammatik/Syntax faculty narrow sense) und den manifesten Sprachen aus. Sprachfähigkeit beruht auf einem artenspezifischen genetischen Code, der allen und nur Menschen eigen ist und als Universalgrammatik (UG) in Erscheinung tritt. Sprachen hingegen sind Produkte soziokultureller Prozesse, deren Voraussetzung die Sprachfähigkeit ist (Bierwisch 1992: 17). In den Theorieversionen älteren Zuschnitts (bis ca. 1995) war das wichtigste Ziel, das „logische Problem“ (auch „Induktionsproblem“) des Erstspracherwerbs zu erklären: Wie kann ein Kind in so kurzer Zeit auf der Grundlage einer relativ kleinen Menge von Sprachdaten die Regeln seiner Muttersprache erwerben? In der neuesten Ausprägung seiner Theorie, dem Minimalistischen Programm (ab ca. 1995), rückte die evolutionäre Fragestellung nach dem Ursprung der Sprache in den Mittelpunkt. Chomsky nimmt an, dass die Sprachfähigkeit im engeren Sinn auf eine spontane Mutation zurückgeht, die vor weniger als 100 000 Jahren unabhängig von der Evolution anderer soziokultureller und kognitiver Fähigkeiten stattfand. Aus dieser evolutionären Perspektive betrachtet, muss die Universalgrammatik minimal sein. Die einzige Aufgabe des grammatischen Systems besteht darin, sprachliche Ausdrücke zu generieren, die phonetisch und semantisch in jeweils eigenen Systemen interpretiert werden können (vgl. Chomsky 2006). Die Sprachfähigkeit im engeren Sinn wird als ein Berechnungssystem verstanden (computational system). Herzstück dieses Systems ist eine rekursive Verkettungsoperation (external merge) und eine Kopieroperation (internal merge bzw. copy). Erstere generiert komplexe sprachliche Ausdrücke aus einfacheren, z. B. Peter kommt aus Peter und kommt. Letztere sorgt dafür, dass sprachliche Elemente an verschiedenen Positionen im Satz auftreten können: Kommt Peter? vs. Peter kommt. Eine weitere Operation garantiert, dass nur Elemente mit zueinanderpassenden Merkmalen verkettet werden (feature checking bzw. agree). So scheitert die Merkmalsüberprüfung beim komplexen Ausdruck der Mann sehen dem Kind aufgrund inkompatibler Numerus- und Kasusmerkmale. Eine weitere Annahme ist, dass das Berechnungssystem rein syntaktischer Natur ist. Somit bildet die Syntax als zentrale Komponente der Universalgrammatik den Forschungsmittelpunkt (Syntaxzentriertheit). Das syntaktische Berechnungssystem interagiert zwar mit anderen kognitiven Systemen, ist allerdings diesen vorgelagert und arbeitet als autonomes Modul (Modularität). Die Universalgrammatik besteht aus Prinzipien, die Parameter für Sprachvariation beinhalten. Während in älteren Theorieversionen viele Prinzipien mit ausbuchstabierten Parametern nötig waren, um Spracherwerb zu erklären, nimmt der Minimalismus nur sehr wenige universell invariante Berechnungsoperationen wie die oben beschriebenen an. Der Großteil der grammatischen Erscheinungen einer Sprache, aber auch sprachliche Diversität, ist nicht Teil des Berechnungssystems. Zum einen zieht man dafür variierende grammatische Eigenschaften der Elemente im Lexikon heran. Zum anderen geht man von äußeren kognitiven Faktoren aus (vgl. Chomsky 2006). Damit überlässt die neuere generative Grammatik den größten und komplexesten Teil der Grammatik den Kulturund Kognitionswissenschaften (vgl. u. a. Newmeyer 2005; Jackendoff 2007). Diese allgemeine Darstellung der generativen Grammatik in ihrer strikten, von Noam Chomsky geprägten Version ist hinreichend, um auf diesem Hintergrund alternative Entwicklungen im Bereich der Syntax, die in den nächsten Abschnitten vorgestellt werden, einordnen zu können.
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3. Kulturanthropologische Orientierung Dezidierte kulturwissenschaftliche Orientierungen im Bereich der Grammatik findet man in Forschungsansätzen, die kulturanthropologische Wurzeln haben. Im Unterschied zur deutschsprachigen Tradition einer philosophisch begründeten Anthropologie geht die von Franz Boas ([1911] 1969), Edward Sapir (1921) und Benjamin Lee Whorf (1956) geprägte empirische Kulturanthropologie von einem Kulturrelativismus aus, der ausdrücklich anthropologische Konstanten und universale Wissenssysteme negiert. Kulturen seien nur aus ihrem eigenen Kontext heraus interpretier- und beschreibbar. Anlass war die Erforschung der Sprachen der amerikanischen Ureinwohner, die sich in Vokabular und Grammatik deutlich von den europäischen Sprachen unterscheiden und zur linguistischen Relativitätsthese (auch Sapir-Whorf-These) führte, wonach jede sprachliche Gemeinschaft in ihrer eigenen linguistisch determinierten Kultur und Gedankenwelt lebt. Zwar gelten inzwischen einzelne Analysen, wie etwa Whorfs Analyse der Zeitvorstellung der Hopi-Indianer, als überholt, dennoch erfährt der linguistische Relativismus in den letzten beiden Jahrzehnten eine Renaissance (z. B. Lucy 1992; Perkins 1992; Gumperz and Levinson 1996; Werlen 2001; Everett 2005; Evans and Levinson 2009; Pederson 2010). Dieser Neuansatz wurde von komparatistischen Untersuchungen wie denen von Lucy (1992) ausgelöst. Lucy befasst sich mit der Unterscheidung zwischen nicht-zählbaren Nomen, z. B. Pappe, *eine Pappe, *zwei Pappen, und zählbaren Nomen, z. B. eine Schachtel, zwei Schachteln, im Englischen, in einer numerusmarkierenden Sprache, und Yukatekischen, einer Mayasprache ohne Numerusunterscheidung. Mithilfe verschiedener Testverfahren deckt Lucy bestimmte nicht-sprachliche Korrelate dieser Unterscheidung in den beiden Sprachen auf. So waren in einem Test Dinge gleicher Form mit Dingen von gleichem Stoff zu vergleichen, etwa eine Schachtel aus Pappe, ein Stück Pappe und eine Schachtel aus Kunststoff. Die meisten englischsprachigen Probanden klassifizierten nach zählbaren Dingen (Schachtel zu Schachtel), die meisten yukatekischen Probanden nach dem nicht-zählbaren Stoff (Pappschachtel zu Stück Pappe). Lucy führt diese Unterscheidung auf die unterschiedliche grammatische Behandlung von Nomen im Yukatekischen und Englischen zurück, ein Befund, der nicht zuletzt aufgrund der methodischen Schwierigkeiten, sprachliche Relativität zu operationalisieren, nicht unhinterfragt blieb (vgl. Pederson 2010). Die kulturrelativistische Orientierung hat auch weitere subtilere Manifestationen. Sie zeigt sich u. a. in einer kulturegalitären Haltung, die den europäisch zentrierten Hoheitsanspruch relativiert. So lässt sich generell − auch in Ansätzen, die der generativen Grammatik nahestehen − eine Öffnung der Grammatikforschung für Fragen der kulturellen Diversität und eine Aufwertung von Substandardsprachen feststellen, wie etwa Pidgin und Kreolsprachen (Arends, Muysken and Smith 1995; Holm 2000; McWhorter 2005; Bickerton 2008), Jugendsprachen und Ethnolekte (Clyne 2000; Androutsopoulos 2001; Wiese 2009, 2012).
4. Grammatik in Sprache und Musik Zu den kulturanthropologisch begründeten Entwicklungen gehört auch ein gesteigertes Interesse an Überschneidungen zwischen Sprache und Kulturtechniken im engeren Sinn.
74. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Grammatik/Syntax Forschungen über Korrespondenzen zwischen Musik und Sprache haben seit der einflussreichen generativen Theorie tonaler Musik von Lerdahl und Jackendoff (1983) einen Aufschwung erlebt (vgl. Temperley 2001; Jackendoff and Lerdahl 2006; Falk 2009; Rebuschat et al. 2011). Ein eigenes Gebiet stellt die experimentelle neurophysiologische Hirnforschung dar, die sprachliche und musikalische Verarbeitung vergleicht (z. B. Koelsch et al. 2005; Patel 2008). Jackendoff und Lerdahl verfolgen eine allgemeine kognitionswissenschaftliche Perspektive, aus der sich Parallelen zwischen Sprache und Musik nur indirekt und nur auf der abstrakten Ebene der formalen strukturellen Organisation, der Grammatik, ergeben. Musikalische wie sprachliche Kompetenz (capacity), die kreative Fähigkeit eines Hörers, Musik bzw. Sprache zu verarbeiten, beruht auf einer (nur unbewusst verfügbaren) prinzipiengeleiteten Grammatik. So basiert die rhythmische Organisation tonaler Musik auf der Interaktion zwischen Gruppierungsstruktur und metrischer Struktur. Die dritte entscheidende Strukturkomponente ist die Tonstruktur (Jackendoff and Lerdahl 2006). Gruppierung partitioniert die musikalische Oberfläche in kleinere Konstituenten, wie etwa Motive und musikalische Phrasen, und findet ihr Pendant in sprachlichen Konstituentenstrukturen. Sie sind, wie sprachliche Konstituenten und die Gruppierung in der visuellen Kognition, rekursiv und hierarchisch organisiert: Kleinere Einheiten sind vollständig in größeren Einheiten enthalten und größere Einheiten sind vollständig in kleinere Einheiten aufgeteilt. Gruppierung unterliegt allgemeinen kognitiven Gestaltprinzipien wie Proximität bzw. Kontiguität: Die Elemente einer Einheit sind nicht durch Elemente anderer Einheiten oder durch Pausen unterbrochen. Die metrische Struktur ist eine hierarchische, temporal strukturierte Abfolge von Schlägen (beats) und findet ihre sprachliche Parallele in der strukturierten Abfolge von betonten und unbetonten Silben, Wörtern und Phrasen. Die musikalische Tonstruktur schließlich ist die regelhafte Organisation von Tönen. Ihr sprachliches Pendant ist die Tonhöhenstruktur, eine der wichtigsten Komponenten der Intonation, die bezeichnenderweise auch Sprechmelodie genannt wird. Fazit ist, dass die Strukturen in der Musik formale Homologien zu sprachlichen Strukturen aufweisen, nur dass sie im Gegensatz zu diesen keine referenzielle Bedeutung transportieren. Jackendoff und Lerdahl interpretieren diese Ähnlichkeiten dahingehend, dass die Grammatik von Sprache und Musik auf allgemeineren kognitiven Prinzipien beruht. Damit entwerfen sie nicht nur ein neues kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm (vgl. Fabb 2010 zur Sprache und Literatur), sondern auch ein alternatives Modell zu Chomskys Universalgrammatik, deren Konstituentenstrukturprinzip merge nur der Sprachfähigkeit im engeren Sinn zugrunde liegt (vgl. Abschnitt 2).
5. Grammatik und Medialität Eine wichtige Quelle sprachlicher Varianz ist, dass Sprache prinzipiell in verschiedener Medialität bzw. Modalität realisiert werden kann, nämlich als Laut-, Gebärden- oder Schriftsprache. Eine bis heute sehr einflussreiche Auffassung geht von einem Primat der Lautsprache aus. Ihr allein komme der Status eines voll entwickelten natürlichen Sprachsystems zu, der eine ggf. angeborene Grammatik zugrunde liegt (vgl. Abschnitt 2). Im Widerspruch zur theoretischen Verteidigung der Lautsprache und als Zeichen einer lang anhaltenden Medienkonfusion wurde in der Grammatikforschung außerhalb der
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Phonologie überwiegend geschriebene Sprache behandelt. Die Syntax gesprochener Sprache wird erst in jüngster Zeit intensiver erforscht (vgl. Miller and Weinert 1998; Biber et al. 1999; Auer 2000; Fiehler et al. 2004; Fiehler 2005; Ágel und Hennig 2007; Schwitalla 2011). Zu den charakteristischen Eigenschaften mündlich realisierter Syntax gehören u. a. Herausstellungen (in der stadt − da hab ich gestern den leo getroffen), Apokoinukonstruktionen (er hat ihm millimeterweise hat er ihm einigstochen), Verbzweitstellung nach weil oder obwohl (ich will das geld nicht weil was soll ich damit) und Reduktionen wie die Auslassung von Subjektpronomen (wünsche ein schönes Fest). Die Materialität des Gesprochenen ist Teil eines umfassenderen konzeptuellen Mündlichkeitsbegriffs (vgl. Koch und Oesterreicher 1994), auf dessen Grundlage die konzeptuelle Mündlichkeit neuer Kommunikationsformen wie SMS, E-Mail und Chat intensiv erforscht wird (vgl. Beißwenger 2001; Androutsopoulos und Schmidt 2002; Ziegler und Dürscheid 2002). Mit der rapiden Entwicklung der Forschung über Gebärdensprachen und Schriftsysteme in den letzten Jahrzehnten hat man viele neue Erkenntnisse über Sprachsysteme gewonnen, die nicht im lautlichen Medium realisiert werden. Sie zeigen, dass nicht-lautlich materialisierte Sprache einerseits mediumspezifische Züge trägt, andererseits allgemeinen Prinzipien folgt, die auch in Lautsprachen zu finden sind. Am Beispiel der Silbe, einer in allen Modalitäten inzwischen gut untersuchten Einheit, lassen sich mediumspezifische wie mediumunabhängige Charakteristika illustrieren (modalitätsvergleichend Primus 2003, für weitere Einheiten Domahs und Primus 2016). Die mediumübergreifende Eigenschaft der Silbe ist eine Alternationsstruktur, in der der Silbennukleus als konstitutive Einheit ein wahrnehmungsprominentes Segment beherbergt. Die Alternationsstruktur verlangt jedoch mindestens eine weitere Einheit, die mit einem nicht wahrnehmungsprominenten Segment besetzt ist (einen Silbenonset und ggf. eine Silbencoda). Spezifika des Mediums, z. B. kontinuierliche Schallereignisse in der Lautsprache, Bewegung im Raum in der Gebärdensprache und diskrete graphisch-visuelle Einheiten in der Schrift, schlagen sich bei der Realisierung dieser Alternationsstruktur nieder. In der Lautsprache wird die Alternationsstruktur als kontinuierlicher An- und Abstieg von Schallfülle bzw. Sonorität substanziiert. Im Nukleus wird der Sonoritätsgipfel erreicht, zu den Silbenrändern hin nimmt die Sonorität graduell ab. In der Gebärdensprache wird die Alternationsstruktur als Abfolge von Bewegung und Position realisiert. Die Bewegungskomponente einer Gebärde ist wahrnehmungsprominenter als die Position der Artikulatoren und wird mithin im Silbennukleus bevorzugt. In Schriftsystemen, die sich des modernen römischen Alphabets bedienen, ist das Mittelspatium in einem virtuellen vertikalen Vierlinienschema wahrnehmungsprominent. Buchstaben, die vollständig innerhalb des Mittelspatiums platziert sind, bilden den Nukleus einer Schreibsilbe. Solchen Buchstaben kann, muss aber kein lautsprachlicher Vokal entsprechen. Auch im Bereich der Morphologie und Syntax gibt es inzwischen modalitätsvergleichende Untersuchungen, die sich allerdings auf Laut- vs. Gebärdensprachen beschränken (vgl. Neidle et al. 2000; Dotter 2001; Leuninger und Happ 2005; Pfau et al. 2012).
6. Zusammenfassung In diesem Artikel wurden einflussreiche grammatiktheoretische Entwicklungen vorgestellt, die mit Chomskys Universalismus und dem kulturanthropologischen Relativismus
74. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Grammatik/Syntax zwei extreme Pole bilden. Während Chomsky von einer genetisch codierten, universellen Sprachfähigkeit, der Universalgrammatik, ausgeht, stehen kulturanthropologisch geprägte Grammatikforscher, allen voran die Anhänger neuerer Versionen der sprachlichen Relativitätsthese, sprachlichen und kulturellen Universalien skeptisch gegenüber. Die kulturrelativistische Orientierung hat allerdings auch andere, subtilere Manifestationen. Sie zeigt sich u. a. in einer kulturegalitären Haltung, die zur generellen Öffnung der Grammatikforschung für Substandardsprachen wie Pidgin-, Kreol- und Jugendsprachen sowie Ethnolekte führte. Zu den kulturwissenschaftlich relevanten Entwicklungen gehört auch ein gesteigertes Interesse an Überschneidungen zwischen Sprache und Kulturtechniken im engeren Sinn wie etwa der Musik. Strukturen in der Musik weisen formale Parallelen zu sprachlichen Strukturen auf, die Jackendoff und Lerdahl dahingehend interpretieren, dass die Grammatik von Sprache und Musik auf allgemeineren kognitiven Prinzipien beruht. Damit entwerfen sie ein Grammatikmodell, das sowohl Chomskys Auffassung von universaler Sprachfähigkeit im engeren Sinn als auch extreme kulturrelativistische Positionen infrage stellt. Weitere Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Varianz beziehen sich auf die Medialität von Sprache. Mit der rapiden Entwicklung der Forschung über Gebärdensprachen und Schriftsysteme in den letzten Jahrzehnten hat man viele neue Erkenntnisse über nicht-lautlich realisierte Sprachsysteme gewonnen. Sie zeigen, dass nicht-lautlich materialisierte Sprache einerseits mediumspezifische Züge trägt, andererseits allgemeinen Prinzipien folgt, die auch in Lautsprachen zu finden sind. Im Widerspruch zur theoretischen Verteidigung der Lautsprache steht der Fokus der älteren Grammatikforschung auf geschriebener Sprache. Ein Fokuswechsel auf die Grammatik gesprochener Sprache und auf konzeptuelle Mündlichkeit fand erst in jüngerer Zeit statt.
7. Literatur (in Auswahl) Ágel, Vilmos und Mathilde Hennig (Hg.) 2007 Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer. Androutsopoulos, Jannis K. 2001 From the Streets to the Screens and Back Again. On the Mediated Diffusion of Ethnolectical Patterns in Contemporary German. Essen: LAUD. Androutsopoulos, Jannis K. und Gurly Schmidt 2002 SMS-Kommunikation: Ethnografische Gattungsanalyse am Beispiel einer Kleingruppe. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 36, 49−80. Arends, Jacques, Pieter Muysken and Norval Smith (eds.) 1995 Pidgins and Creoles. An Introduction. Amsterdam: Benjamins. Auer, Peter 2000 Online-Syntax − Oder: was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen. In: Sprache und Literatur 31, 43−56. Beißwenger, Michael (Hg.) 2001 Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion, Sozialität und Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Stuttgart: ibidem. Biber, Douglas, Stig Johansson, Geoffrey Leech and Susan Conrad 1999 Longman Grammar of Spoken and Written English. London: Longman.
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Beatrice Primus, Köln (Deutschland)
75. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik 1. Vorbemerkung 2. Was ist Kultur? 3. Sprachwissenschaft, Semantik und Kulturwissenschaft
4. Semantiktheoretische Kontroversen 5. Die Praxis der kulturwissenschaftlich orientierten Semantik und ihre Aufgaben 6. Literatur (in Auswahl)
1. Vorbemerkung Eine Darstellung des Problems „kulturwissenschaftlicher Orientierung in der Semantik“ kann nicht ohne eine Reihe von Begriffsklärungen auskommen, die insbesondere die Frage betreffen, was unter Kultur und kulturwissenschaftlich verstanden werden soll und in welchem Sinne von Semantik als von einem Theoriefeld die Rede ist, auf dem verschiedene Ansätze miteinander konkurrieren. Die folgende Entfaltung des Themas wird deshalb mit begriffsexplikativen Ausführungen verbunden sein.
2. Was ist Kultur? Bei der Betrachtung des Wortes Kultur ist zu unterscheiden zwischen einem Alltagsgebrauch des Wortes mit hohem extensionalen Umfang und einem ebenso vielschichtigen und ausdifferenzierten Expertengebrauch (oft von Kulturwissenschaftlern), hinter dem ausgeklügelte Definitionen stehen (vgl. auch die Artikel 2, 18, 35, 69). Sigmund Freud versteht unter „‚Kultur‘ die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“ (Freud 1989: 220). Der Ethnologe Clifford Geertz
75. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik (vgl. Artikel 14) hingegen definiert Kultur folgendermaßen: „Der Kulturbegriff, den ich vertrete [...], ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht“ (Geertz 1983: 9). Die meisten Definitionen reichen von der Gesamtheit des menschlichen Vermögens, sich der Natur und ihren Bedingungen anzupassen und ihrer in einem konkreten Sinne (zum Beispiel im Ackerbau) wie in einem übertragenen Sinne durch Bildung und Erziehung Herr zu werden, bis hin zum einzelnen daraus resultierenden Produkt, dann von bestimmten, den Menschen vom Tier abgrenzenden Verhaltensformen hin zu gesellschaftlich üblichen Verhaltensnormen (im Sinne Freuds zu sozialen Beziehungspraktiken). Die jeweilige Raum- und Zeitgebundenheit wird dabei zumeist mitreflektiert. Für die Domänen der Alltagskultur wie der wissenschaftlichen Fachkultur gilt, dass jede der Definitionen zum einen selbst von der Kultur abhängig ist, in der sie geprägt wurde, und zum anderen auf diese zurückwirkt. Kulturbegriffe sind damit sowohl Spiegel und Produkt als auch konstitutive Pfeiler oder besser: semiotische Textbausteine derjenigen Kultur, in der sie gebraucht werden. Die Spannung besteht darin, dass Kultur dem Menschen zwar als allgemein anthropologische Eigenschaft zugeschrieben wird, sich aber dennoch in jeder einzelnen menschlichen Gemeinschaft (Nation, Religion, soziale Gruppe usw.) in je eigener Weise entfaltet, also die ganze Dimension zwischen Universalität einerseits und Individualität andererseits umfasst. Das Besondere an der Definition von Clifford Geertz ist die Betonung der semiotisch-interpretativen Beschreibungsdimension, bei der die Schaffenskraft des Menschen als ein mit dem anderen handelndes animal symbolicum (Cassirer 2007: 51) und damit die Vielfalt der kulturellen Bedeutungsgewebe („Bedeutungsgespinst“, Cassirer 2007: 50) bzw. des kulturell Geschaffenen in den Fokus rücken. Mit Pluralität und symbolischer Brechung beginnen das Beziehungshandeln (Freud), die Sozialität und damit verbunden die Hierarchisierung und mit der Hierarchisierung die Bewertung kulturellen Verhaltens, denn (so Bausinger 2003: 273): „Der Ausdruck [Kultur] kann als Beschreibungsbegriff verwendet werden und dient in vielen Fällen als Wertbegriff.“ So ist etwa der im nationalen deutschen Kulturdiskurs wirkende elitärbildungsbürgerliche Kulturbegriff nur die innergesellschaftliche Exklusionsparallele zum über die Grenzen einer sogenannten Kulturnation hinausgehenden Kulturchauvinismus. Was für den einen oder die eine soziale Gruppe das Qualitätssiegel Kultur erhält, kann von dem anderen oder von der anderen Gruppe einhellig als kulturlos klassifiziert werden (z. B. Hip-Hop- oder Popkultur). Und, was für die eine Zeit noch nicht oder nicht mehr Kultur ist, kann es in einer anderen durchaus sein (z. B. Naturalismus). Wenn der Kulturbegriff dazu beiträgt, die eigene Identität zu stützen, gar das eigene soziale Image zu erhöhen bzw. Feindbilder zu konstituieren, fungiert er als Zauberwort gegen den anderen, das andere bzw. andere Kulturen. Die dazugehörigen Stichworte wären in abstraktem Verständnis Fremdheit, Alterität und Abgrenzung, konkret in ihrer Auswirkung erscheinen sie nicht selten als handfeste Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Kulturchauvinismus. Beispiele hierzu wären die rassentheoretischen Konstrukte Gobineaus oder Chamberlains, in denen die sogenannten „Menschenrassen“ in kulturtragend, kulturschöpferisch oder kulturzerstörend untergliedert werden (Lobenstein-Reichmann 2008: 22, 503). Die Stichworte Kulturpessimismus und Kulturkritik gehören ebenfalls zu allen Diskursen über Kultur hinzu. Jede Epoche führt ihre eigenen semantischen Kämpfe darüber, was
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft als Kultur zu gelten hat und was nicht. Kultur ist damit nicht nur selbst ein historisches Ideologem und ein Totalitätsbegriff im Sinne von Fritz Hermanns (1999: 361), also eine Kollektivbezeichnung, ein „ontologisches commitment“ (Hermanns 1999: 361), mit der die Vielheit parallel existierender gleichrangiger Kulturen als Einheit gefasst wird, sondern Kultur ist, vielleicht gerade aufgrund der Pluralität seiner Ausprägungen, auch ein Kampfbegriff, mit dem man das je Eigene handlungs- und inhaltssemantisch gegen das je andere durchzusetzen versucht. Die dazugehörige linguistische Prämisse lautet nun: Alles wirklich Interessante und kulturell Relevante innerhalb einer Gesellschaft ist zumindest sprachlich fassbar, wenn nicht sogar prinzipiell sprachlich konstituiert, und es findet seinen Niederschlag und seine Begründung in den verschiedenen Semantiken, über die Menschen in semiotischen Textbausteinen, das heißt in Wörtern, Sätzen, Texten und Diskursen, miteinander in sozialen Kontakt treten und handeln. Das Symbolsystem Sprache, vorkommend in den Texten jeweiliger sozialer Sinnwelten, gilt als das integrative und konstitutive Teilsystem eines umfassenderen, komplexeren Symbolsystems, das wir „menschliche Gesellschaft“ nennen (Eco 2002: 32; Lobenstein-Reichmann 2009: 253; vgl. auch Reichmann 2004). „Man stiftet Menschheit, wenn man Gesellschaft stiftet; aber man stiftet Gesellschaft, wenn man Zeichen austauscht“, so Eco (2002: 108). Kultur bzw. Kulturen sind dann Ergebnisse des menschlichen Sprechens, vor allem aber des menschlichen Semantisierens und damit seit jeher Gegenstand jedes sprachbezogenen Nachdenkens. Kultur und Sprache können daher nicht voneinander getrennt betrachtet werden, was den sogenannten linguistic turn zu einer entscheidenden Schubkraft der Kulturwissenschaft werden ließ.
3. Sprachwissenschaft, Semantik und Kulturwissenschaft Sprachwissenschaft kann als Kulturwissenschaft nicht erst durch den linguistic turn und die cultural studies der Siebzigerjahre begonnen haben (zur Geschichte der Kulturwissenschaft: Nünning 2005: 125), sondern hat eine lange Tradition (dazu Gardt 2003: 271). Für die Neuzeit können besonders zwei Linien herausgehoben werden: zum einen die nationalsprachliche Orientierung, die auf den Sprachphilosophien Johann Gottfried Herders und Wilhelm von Humboldts gründet und Nationalsprachen als Ausdruck wie als Konstituenten nationaler Denkformen und Mentalitäten ansieht (vgl. etwa Trabant 1990). Zu diesem der Romantik verpflichteten erkenntnistheoretischen Zugang kommt zweitens die diskurs- und soziolinguistische Orientierung in der modernen Semantik hinzu, die Sprache in ihrer inneren Mehrsprachigkeit, ihrer spezifischen Varietäten-, Diskurs- und Situationsgebundenheit untersucht (vgl. Wodak et al. 1998; Reichmann 2011a; Schröter 2011; Lobenstein-Reichmann 2008, 2013; Neuland 2015). Entsprechend kann man eine innerkulturelle, eine transkulturelle und eine interkulturelle Linguistik unterscheiden. In herkömmlichen Fachzusammenhängen wären daher alle sprachwissenschaftlichen Disziplinen gefragt, die inhaltsbezogen arbeiten, das heißt bezogen auf trans- und interkulturelle Fragestellungen vor allem Translatologie und Komparatistik; speziell im Hinblick auf die Innerkulturalität sind es vor allem Sprachgeschichte, Lexikologie, Lexikographie, Metaphorologie, Begriffslinguistik, Rhetorik und Stilistik, Soziolinguistik, schließlich Text- und Diskurslinguistik, und zwar insofern, als sie alle ihre Ergebnisse als integralen
75. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik Teil eines sprachlich-kulturellen Zusammenhangs sehen, dessen einzelne Bauteile sich wechselseitig konstituieren und in ein Gesamtgefüge münden, das sich strukturell und geschichtlich per definitionem von jedem anderen solcher Gefüge unterscheidet. Semantik als Wissenschaft von den Bedeutungen muss folglich von der Morphem- und Wortsemantik über die Satz- und Text- bis hin zur Diskurssemantik reichen. In ihrer unlösbaren Verbindung zu kulturellen und vor allem kulturhistorischen Kontextualisierungen hatten entsprechende Untersuchungen in allen einzelsprachbezogenen, oft und bezeichnenderweise nationalsprachlich orientierten Philologien, Linguistiken und Kulturwissenschaften einen festen Platz. Im Bereich der Germanistik wären mindestens folgende ideengeschichtlich langfristig wirksamen Forschungsparadigmen und -gewichtungen zu nennen: die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkende barocke Ursprachentheorie mit dem Konzept der semantischen Eigentlichkeit (Gardt 2005; Lobenstein-Reichmann und Reichmann 2015), die schon erwähnte Tradition des nationalkulturellen Verständnisses der Sprachphilosophie Humboldts mit den Stichwörtern Weltansicht und innere Form, die romantisch inspirierte Lexikographie Jacob Grimms mit dem Zentralkonzept Urbegriff, die Stammwortideologie des 17. (Justus Georg Schottelius) bis 20. Jahrhunderts (Mittelhochdeutsches Wörterbuch 1963 von Benecke, Müller und Zarncke; schweizerisches Idiotikon), das einzel- oder gar nationalsprachbezogene Modell der Sprachgeschichtsschreibung (vgl. dazu Reichmann 2001), die sogenannte Sprachinhaltsforschung Leo Weisgerbers (1972), die Fassung des sprachlichen Feldbegriffs durch Jost Trier (1931), auch die Anbindung der Kategorialbedeutung an die Einzelsprache in der sogenannten funktionalen Grammatik sowie der Begriff der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung (z. B. bei Wladimir Admoni 2002). Zu betonen ist allerdings auch, dass alle diese Forschungsrichtungen niemals ihre inneren Widersprüche verbergen konnten und Überlagerungen mit Gegenkonzepten aufwiesen. Als Gegenkonzepte seien genannt: die Sprachkonzeption der Aufklärung (mit den Wörterbüchern von Johann Christoph Adelung, Joachim Campe, aspektuell auch von Daniel Sanders), die junggrammatische Tradition, alle letztlich soziologisch motivierten Theorien, in denen die jeweilige Gesamtheit Sprache/Kultur als eine von vielen möglichen Ausprägungen der allgemeinen menschlichen Sprachkraft bzw. der Befähigung zu Kultur betrachtet wurden, sodass die theoretische Vorgabe eines zu innerer Geschlossenheit und Abgrenzung tendierenden je einmaligen/besonderen/überlegenen Sprach- und Kulturgebildes gekreuzt wurde von der gegensätzlichen Vorgabe systeminterner Divergenz und einer strukturell und geschichtlich grundsätzlichen Kontakthaftigkeit (Reichmann 2011b). In der gegenwärtigen Sprachwissenschaft ist eine umfassende Wendung von der nationalen Orientierung zur soziologischen und zur kognitionsbezogenen Semantik zu konstatieren. Unabhängig davon, ob man einer auf Vorstellungstheorien beruhenden Semantik anhängt (wie Paul [1880] 1995: 75; Saussure [1916] 1967), einer Merkmals- bzw. Komponentensemantik (Pottier 1963), der Prototypensemantik bzw. Stereotypensemantik (Rosch 1975; Putnam 1979) oder der pragmatischen Semantik (Peirce [1903] 1998; Wittgenstein [1953] 1984; Austin [1955] 1972; Searle 1969; Grice 1989; Heringer et al. 1977) bzw. der modernen Framesemantik (Fillmore 1977; Konerding 1993; Ziem 2008): Sobald menschliche Beziehungen, linguistisch gesprochen: das Prinzip der Konvention, das der Erfahrung und das der Sozialität, akzeptiert werden, kommt man nicht ohne die Einbettung derselben in eine irgendwie geartete historisch gefasste Kulturalität aus.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
4. Semantiktheoretische Kontroversen Eine kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik scheint nach den vorausgegangenen Ausführungen geradezu selbstverständlich zu sein. Dass dies dennoch nicht so ist, liegt nicht erst an der Frage nach der Kulturalität, sondern bereits am semantischen Kampf um die Semantik selbst. Umkämpft sind dabei vor allem drei grundsätzliche Stellungen bzw. Glaubensfragen, die je nach Beantwortung Theorie, Methode, Gegenstand und Relevanz semantischer Fragestellungen bestimmen. Diese Glaubensfragen (vgl. Gardt 2007: 40) betreffen: − erstens die alte, immer noch geführte Diskussion, ob Sprachwissenschaft eine Geistes-
wissenschaft oder eine Naturwissenschaft ist (Letzteres z. B. vertreten durch August Schleicher, die Generative Grammatik, zum Teil die kognitive Linguistik), − zweitens, ob Sprache auf ausdrucksformalen Regelsystemen und Gesetzmäßigkeiten (amerikanischer Strukturalismus) oder auf inhaltskulturellen Aushandlungsprozessen beruht (pragmatische Semantik), − drittens, ob sie nur ein Werkzeug zur Abbildung einer außersprachlichen Wirklichkeit ist (Frege 1892; Carnap [1928] 1998; traditionelle Wörter- und Sachenforschung, Widerspiegelungstheorie [vor allem in marxistischen Theorien]) oder ob sie der Ordnungsherstellung und der Strukturierung der Welterschließung (Herder, Humboldt, Schleiermacher, Sprachtheorie der Romantik) dient bzw. das entscheidende Konstitutiv von Sinngebung und Sinnerschließung, gar von Welt überhaupt ist (z. B. Weisgerber, Konstruktivismus). Ist Sprache affizierend oder effizierend, Spiegel oder kulturund inhaltsschaffende Kraft des Menschen? Je nach Beantwortung dieser Fragen wird die Semantik als elementarer Bestandteil einer semiotischen Weltvorstellung, im Sinne von Kultur als Text, entweder zur interdisziplinären Leitwissenschaft aller Text- und Kulturwissenschaften (Semiotik, Philosophie/ Sprachphilosophie, Literaturwissenschaft, Kommunikationswissenschaften, Kognitionswissenschaften, Psychologie/Sprachpsychologie, Theologie, Rechtswissenschaft, Geschichte und vieles mehr) oder sie wird zur „armen Verwandten“ (Hörmann 1994: 60) einer ausdrucksorientierten Syntax wie in der Generativen Grammatik, in einigen Formen der kognitiven Linguistik, im amerikanischen Strukturalismus, aber auch in der dominant ausdrucksorientierten Laut- und Formengeschichte der Germanistik. Dies hat zur Folge, dass das Semantische als nicht lingual und folglich als nicht linguistisch marginalisiert oder gar aus dem Gegenstandsbereich der Linguistik ausgeschlossen wird. Hörmann (1994: 11) kommentiert: „Gerade der fast messianische Anspruch, mit welchem sie [die Generative Linguistik] vielfach vertreten wurde und noch vertreten wird, macht ihr Schweigen (oder ihre nichtssagenden Antworten) auf die Frage nach Meinen und Verstehen umso peinlicher.“ Der amerikanische Strukturalist Bloomfield, für den Sprache als ausdrucksformales Regelsystem inhaltsabstinent bleiben muss, trieb dieses Schweigen bewusst auf die Spitze, als er schrieb: „Meanings cannot be defined in terms of our science“ (Bloomfield 1933: 167). Für Geeraerts liegt die Ursache dieser Semantikverweigerung auf der Hand: „If the main aim of linguistics is to identify the genetic basis of the language capacity of the human species, then meaning is not the most obvious place to start. The meanings expressed in a language are typically historically and culturally diverse, and the vocabulary of a language is probably that part of the language that is most subject to change“ (Geeraerts 2010: 111). Semantische Fragestel-
75. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik lungen werden also deshalb vernachlässigt, weil sie kulturell und historisch sind, in entsprechender Weise mit den Menschen und ihren Gruppierungen variieren und damit, anders als die in aller Regel statisch und relativ stabil angenommenen ausdrucksseitigen Inventare und Regelsysteme, zu schwer greifbaren Größen werden. Noch im völlig anders begründeten Dekonstruktivismus bzw. Poststrukturalismus fürchtet man sich vor dem „‚Gleiten des Signifikats unter den Signifikanten‘, d. h. der grundsätzlichen Instabilität“ (Nünning 2005: 12) der Beziehung der Ausdrucksseite zur Inhaltsseite, weil in der Differenz überall Spuren vorangegangenen Sprechens und damit vergangenen Semantisierens sichtbar werden. Die Angst vor der Semantik ist die Angst vor dem Nicht(be)greifbaren, dem Nichtdefinierbaren: Denn, so Friedrich Nietzsche (1988: 317): „Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“ Sich der inhaltsorientierten Zeichenanalyse zu verweigern, hieße, das Geschehen wie das Geschehene aus den Augen zu verlieren, sich jeder gesellschaftlichen Kritikfähigkeit zu berauben. Semantik als Lehre vom permanenten kulturellen Wandel durch das Sprechen und im Sprechen passt nicht in ein ausschließlich biologistisches oder physikalistisches, auf Gesetzmäßigkeiten beruhendes Sprachverständnis, weil, so Jäger (2003: 80), „wir es bei der Sprache − wie bei den Erkenntnisgegenständen der Kulturwissenschaften überhaupt − mit einer Entität zu tun haben, die weder nur ein Artefakt des menschlichen Geistes, noch allein ein Element der natürlichen Ausstattung des Menschen darstellt, sondern die in einem schwer zu bestimmenden Verhältnis synthetisiert ist sowohl aus dem Gattungserbe der Spezies als auch aus ihren kulturellen Hervorbringungen“. Und er schließt diese Ausführungen mit den Worten (Jäger 2003: 91): „[Man] wird einräumen müssen, dass Sprache, Kultur und Geschichte, die das Leben der Gattung seit etwa 50 000 Jahren bestimmen, Teil unseres gattungsgeschichtlich entstandenen biologischen Erbes sind. Die Kulturalität des Menschen ist Teil seines biologischen Programms und seine mentalen Vermögen sind eng mit seiner Leiblichkeit verwoben.“ Welche sinnvollen Ergebnisse eine kognitive, auf Leiblichkeit basierende Semantik haben kann, wenn sie mit kulturwissenschaftlichen Methoden zu arbeiten bereit ist, lässt sich am Beispiel der Metapherntheorie von Lakoff und Johnson zeigen. Obwohl die genannten Autoren Metaphern mehr als angeborene Verhaltensdispositionen sehen, sie vorwiegend naturwissenschaftlich (biologisch-physikalisch) verorten, alles Kulturelle geradezu mit Verlegenheit gegenüber der Leiblichkeit erwähnen (Lakoff und Johnson 2011: 70) und schließlich dann an den Rand drängen, lassen sie mit ihrer Theorie dennoch Raum für kulturwissenschaftliche Anknüpfungen und kombinierende Anwendungen. Auch Dirk Geeraerts (2010: 249) argumentiert für eine stärkere Verbindung von „psychology, language use, and a broader cultural and historical canvas“ und fordert gerade auch die kognitive Semantik dazu auf, sich in Zukunft verstärkt zu fragen: „What is the role of social factors in linguistic meaning, and how does cognitive semantics deal with the sociohistorical situatedness of meaning?“ Gegen die rein naturwissenschaftliche Begründung der kognitiven Semantik postuliert er: „But historical and cross-cultural research has made clear that metaphors may have historically and culturally specific sources, i.e. sources that are not universal but that tie in with a specific culture and a specific historical development.“ Ob die hier angedeutete Öffnung der kognitiven Linguistik in Zukunft zu einer kulturwissenschaftlichen Orientierung in der Semantik führen wird (vgl. dazu auch Schwarz-Friesel und Chur 2001: 20; zur kognitiven Wende in der Linguistik vgl. Schwarz 2008: 15), ist dennoch fraglich, was als Begründung zur dritten Glaubensaussa-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft ge führt, in der es um die affizierte Semantik gegenüber einer handlungsorientierten effizierenden geht. Wenn Geeraerts von sources schreibt, die kulturspezifisch und nicht universal seien, dann kommt er in die Nähe der seit Humboldt immer wieder diskutierten Weltansichtsthese. Dies bedeutet: Einzelsprache (auch: der einzelne Dialekt, die einzelne Fachsprache, die einzelne Textsorte, der einzelne Diskurs) konstituiert nach ihren jeweils spezifischen inhärenten Regeln eine je einzelsprach- bzw. einzelvarietätenabhängige Sicht auf die Welt, also eine bestimmte Semantisierung der Welt. Demnach gibt es nicht vor jedem Sprechen eine Welt als unhinterfragbare metaphysische Bezugsgröße für alles, was man einzelsprachlich und einzelkulturell aus ihr machen mag, sondern sprachliche Semantisierung ist das Konstituens von Welt. Das bedeutet auch, dass man bei der Vermittlung einer Sprachwelt in eine andere (konkret bei der Übersetzung) prinzipiell tiefer gehende Schwierigkeiten hat als im Horizont der Abbildthese, deren Grundgedanke darin besteht, dass sprachliche Inhalte letztlich immer an den außersprachlich existierenden Gegebenheiten verifizierbar sind. Kulturwissenschaftliche Semantik ist bei der Abbildthese dann eine die außersprachliche Realität nur irgendwie repräsentierende Praxis. Kulturwissenschaftliche Semantik im Sinne der Weltansichtsthese ist dagegen eine effizierende Praxis, bei der es erst zur Weltkonstitution kommt, das heißt, dass mit jedem Semantisieren eine neue semantische Welt konstituiert wird. Kultur ist im ersteren, affizierenden Sinne letztlich eine dem Ansatz nach außersprachliche, soziale Realität, auch wenn sie sprachlich bezeichnet und ein wenig aspektualisiert wird. Im effizierenden Sinne wäre Kultur eine Gegebenheit, die ihre einzelne Existenzform in jedem Sprechakt neu, anders als vorher und anders als in anderen Sprechakten gewinnt. Die meisten Semantiktheorien leben im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen. Man versucht in den Extremen entweder zu beschreiben, wie Welt als feststehende Größe erkenntnistheoretisch verstanden und kategorisiert und anschließend kodiert wird, oder man zeigt auf, wie Menschen die Welt in bedeutungsvollem und bedeutungsschaffendem Handeln fortwährend neu schaffen. Hat die ebenfalls als kognitivistisch angesehene Prototypensemantik Eleanor Roschs (1975) in ihrer Standardversion noch ausgeprägt psychobiologische Züge und den Glauben an eine mehr oder minder kategorisierbare Welt, die sich universal in allen menschlichen Köpfen gleichermaßen nachzeichnen lässt, wobei das relativierende „mehr oder minder“ bereits der große Fortschritt gegenüber der dichotom organisierten Merkmalssemantik war, setzt Putnam ihr entgegen (1979: 37): „Man kann’s drehen und wenden, wie man will, Bedeutungen sind einfach nicht im Kopf.“ Sie brauchen culture wie linguistic community wie convention (Putnam 1975: 249): „In ordinary parlance a ‚stereotype‘ is a conventional (frequently malicious) idea (which may be wildly inaccurate) of what an X looks like or acts like or is.“ Der reziproke Prozess zwischen der Kulturbegründung der Semantik und der Kultur als Ergebnis von Semantisierungen leuchtet auf. Doch bleiben seine Beispiele, ebenso wie die der anderen Prototypensemantiker, noch im Bereich von Konkretgegenständen (des Typs tiger oder leopard, elm trees oder beech trees, Tassen, Vögel) stecken. Alle Ausdrücke, die mehr als nur typische Vertreter von etwas Gegenständlichem sind, entziehen sich der Unterwerfung unter das Denken in Prototypen (zur Kritik siehe Schmied 2002: 292). Mit der Erkenntnistheorie ist eine weitere Strömung in der linguistischen Semantik angesprochen, die Wissenslinguistik, wie sie zum Beispiel im Netzwerk Sprache und Wissen (vgl. Felder 2008; Felder und Müller 2009 mit gleichnamigem Publikationsorgan) vertreten wird. Semantisches Hauptarbeitsgebiet ist neben der Toposanalyse die in die Diskurslinguistik eingebettete Frametheorie (Fillmore 1977; Konerding
75. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik 1993; Ziem 2008). Frames werden dabei als kognitive Repräsentationsformate verstehensrelevanten Wissens verstanden, Wissen und Handeln „als kollektive Praxen […] im Sinne von Verhaltens- und Handlungsweisen einer Kultur oder eines bestimmten kulturellen Bereichs“ (Konerding 2009: 83). Obwohl der Begründer der Frametheorie, Charles Fillmore, ebenfalls aus einer biologistisch-kognitivistischen Schule kommt, hatte auch er bereits deutlich gemacht, dass „das Welt- und Sprachwissen keine säuberlich zu trennende[n] Bereiche der menschlichen Kognition darstellen“ (nach Ziem 2009: 208) und dass Sprache immer kulturell eingebettet ist (Fillmore 1977: 63): „People, in learning a language, come to associate certain scenes with certain linguistic frames.“ Scenes are „not only visual scenes but familiar layouts, instutional structures, enactive experiences, body image; and, in general, any kind of coherent segment, large or small, of human beliefs, actions, experiences, or imaginings“ (zu „Frames im Einsatz“ vgl. Ziem 2009). Die kulturwissenschaftliche Orientierung in der Semantik ist demnach überall offensichtlich, vor allem aber in der Untersuchung der kollektiven Praxen. Und genau um diese kollektiven Praxen sollte es in einer kulturwissenschaftlichen Semantik gehen.
5. Die Praxis der kulturwissenschaftlich orientierten Semantik und ihre Aufgaben In einer kulturwissenschaftlich orientierten Semantik steht vor allem das soziale, kulturelle und gesellschaftliche Handeln in und durch Sprache im Vordergrund. Untersucht werden (sollen) unter anderem der semantische Wandel, speziell auch semantische Kämpfe. Weniger metaphorisch ausgedrückt: gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die das gesamte Spektrum menschlicher Beziehungssysteme angehen − politisch, sozial, kulturell (dazu z. B. Felder 2006). In der Regel kreisen diese Kämpfe um zentrale Wörter, Begriffe und Topoi, womit sie lexikologisch zum Gegenstand folgender Disziplinen werden: 1. einer kulturwissenschaftlich orientierten Lexikographie (Haß-Zumkehr 1999; Reich-
mann 2012 und öfter); 2. einer semantisch orientierten Begriffsgeschichte bzw. Begriffslinguistik (z. B. mit ei-
nem historischen Begriffsbegriff: Brunner, Conze und Koselleck [1972] 2004; Koselleck 1979, 2010; sprachwissenschaftlich: Stötzel und Wengeler 1995; LobensteinReichmann 1997, 2008; Bär 1999; Gardt 2003, 2005); 3. einer semiotisch orientierten Kultur- und Mentalitätsgeschichte, die zugleich Kommunikationsgeschichte ist (vor allem Hermanns 1989, 1995, 1999, 2003 und öfter; aber auch z. B. Linke 1996; Lobenstein-Reichmann 2013, 2014); 4. einer auf Topos- und Argumentationsanalysen basierenden Diskurslinguistik (Wengeler 2003; Spieß 2011; Luth 2015). Die Einbindung von Begriffen und Topoi in pragmasemiotische Handlungszusammenhänge zum Beispiel bei der Untersuchung des politisch-gesellschaftlichen Begriffebesetzens (Klein 1989; Liedtke, Wengeler und Böke 1991; Luth 2015) bzw. bei deren Ideologisierung und medial bestimmten Kontextualisierung lässt eine von der Pragmatik isolierte Betrachtung der Semantik in der Praxis kaum zu. Begriffe und Topoi sind zudem nicht nur eingebettet in die jeweiligen zeitspezifischen Diskurse, sondern bilden die se-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft mantischen Knoten, mit deren Hilfe nicht nur die Einzeldiskurse konstituiert und abgrenzbar werden. Sie machen zusammen mit den Diskursen insgesamt das von Geertz beschriebene Bedeutungsgewebe aus (Busse und Teubert 1994; Busse, Niehr und Wengeler 2005; speziell: Lobenstein-Reichmann 2008 und öfter). Die zum Teil zum Paradigma erhobene Formel „Kultur als Text“ reicht dabei als interpretationsorientierende Kurzdefinition bei Weitem nicht aus. Kultur ist semiotisches Beziehungshandeln im Sinne Freuds, in dem sich die kollektiven Praxen einer Sprecher-, das heißt Kulturgemeinschaft, nicht nur spiegeln und so interpretiert werden können, sondern in dem sie auch immer wieder neu geschaffen werden. An einem Beispiel, das Semantik, Translationswissenschaft, Lexikologie, Kulturwissenschaft, Geschichte und Pragmatik gleichermaßen betrifft, kann dies abschließend veranschaulicht werden. Oskar Reichmanns Untersuchung zum Wortschatz frühneuhochdeutscher Bibelübersetzungen vergleicht etwa ein halbes Dutzend Bibelwerke des 15. und 16. Jahrhunderts unter lexikalsemantischen Aspekten. Das Ergebnis lautet: Die jeweiligen lexikalischen Varianten belegen das Bestreben der Übersetzer, für sie außer Frage stehende ahistorisch konstante Bibelinhalte im Sinne der je eigenen theologischen Ausrichtung richtig, dem originalen Inhalt und der Überlieferung gemäß zu übersetzen. Damit stehen die selektiv intentional eingesetzten zielsprachlichen Ausdrücke gleichzeitig für die jeweiligen konfessionellen Interpretationen, Deutungen bzw. Semantisierungen des Bibeltextes und nutzen diese als Argumentationsinstrumente in den theologischen Auseinandersetzungen der Zeit. Sie sind damit theologisch-kulturelle Handlungseinheiten. Oder wie Gardt (2003: 275) es formuliert: „Die Praxis des Übersetzens und die Reflexion über Sprache […] sind aufs Engste verknüpft mit kulturellen Zusammenhängen, mit theologischen und politischen Fragen der Zeit.“ Damit werden aus scheinbar einfachen Wortsemantiken im Ernstfall existenziell relevante Handlungssemantiken, die tief in die menschliche Gesellschaft hineinreichen und sie neu konstituieren. Der Übersetzer und theologische Reformator Martin Luther schreibt 1532 im Hinblick auf theologisches Sprechen (WA 36, 131, 21): „Es sindt nicht Redewort, ßunder lebewort, quae possunt stare in vita et morte contra peccatum.“ Das darin enthaltene Versprechen als semantische und pragmatische Größe hat nicht nur die deutschsprachige Kultur für Jahrhunderte geprägt.
6. Literatur (in Auswahl) Admoni, Wladimir 2002 Sprachtheorie und deutsche Grammatik. Aufsätze aus den Jahren 1949−1975, hg. v. Vladimir Pavlov und Oskar Reichmann. Tübingen: Niemeyer. Austin, John L. [1955] 1972 Zur Theorie der Sprechakte. Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny. Stuttgart: Reclam. Bär, Jochen A. 1999 Sprachreflexionen der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. (Studia Linguistica Germanica 50.) Berlin: de Gruyter. Bausinger, Hermann 2003 Kultur. In: Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.), Handbuch interkulturelle Germanistik, 271−276. Stuttgart/Weimar: Metzler.
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Anja Lobenstein-Reichmann, Göttingen/Heidelberg/Prag (Deutschland/Tschechien)
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
76. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der historischen Semantik 1. Historische Semantik als multi- und interdisziplinäre wissenschaftliche Praxis 2. Probleme
3. Zukünftige Perspektiven einer historischen Semantik 4. Literatur (in Auswahl)
1. Historische Semantik als multi- und interdisziplinäre wissenschaftliche Praxis Mit der Bedeutung lexikalischer Einheiten, ihrem Wandel und ihrer synchronen wie diachronen Variabilität befassten sich Sprachreflexion und Sprachwissenschaft schon früh, nämlich im Rahmen lexikografischer Darstellungen und der ihnen vorausgehenden lexikologischen Analysen. Paul (1886) systematisiert und klassifiziert erstmals die Arten des Bedeutungswandels und gründet damit eine Tradition, die bis zu Fritz (2006) und Teilen der kognitiven Semantik (z. B. Löbner 2003) reicht. Das kognitionssemantische Interesse ist auf generelle Regeln der Variation sprachlicher Zeichen (v. a. Metapher und Metonymie) gerichtet; vor diesem Hintergrund stellen semantische Geschichten nur Beispielmaterial zur Verfügung. Die seit dem frühen 19. Jahrhundert möglich gewordene Etymologie hat immer beansprucht, nicht nur die Form-, sondern auch die Bedeutungsgeschichte von Wörtern zu erforschen; Letzteres muss für Epochen ohne größere Textüberlieferung (z. B. das frühe Mittelalter) relativ allgemein und hypothetisch bleiben. Unter Etymologie wird heute oft die Identifizierung von Entlehnungen, die bekanntlich auch die Bedeutung eines Worts betreffen können, gefasst. Die historische Semantik im engeren Sinne entsteht in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute greifbar in einigen wissenschaftlichen Praxen unterschiedlicher Disziplinen, denen ein dominant ergebnisbezogenes Interesse historischsemantischer Analysen gemeinsam ist. Die historische Semantik weist Überschneidungen mit der traditionellen Ideengeschichte (Archiv für Begriffsgeschichte ab 1955; Zeitschrift für Ideengeschichte ab 2007), mit der historischen Lexikografie und mit der Diskursanalyse auf. Im engeren Sinne lässt sich das Entstehen der historischen Semantik als ein Ergebnis des Ende der 1960er-Jahre einsetzenden linguistic turn in den Kulturwissenschaften auffassen. Wenig wechselseitige Kenntnisnahme scheint es zwischen der historischen Semantik und der bzw. den kognitionslinguistischen Theorie(n) semantischen Wandels gegeben zu haben (vgl. Löbner 2003: 370−373; Aitchison 1997: 191−204). Es werden nachfolgend ohne weitere Differenzierung nur einige der wesentlichen Arbeiten der historischen Semantik aufgeführt. Dabei werden die Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlicher Praxis und wissenschaftlicher Konzeptbildung ebenso in den Blick genommen wie die Probleme, die sich aus der Multidisziplinarität der historischen Semantik ergeben. Den Abschluss bilden Überlegungen zur Lösung der identifizierten Probleme. Etwa gleichzeitig entstanden zwei Gruppen: die Cambridger Gruppe mit Arbeiten zur historischen Semantik des Englischen (Williams 1967, 1972, 1976; kritisch dazu Pocock 1971; Skinner 1979, der sich auf Austins Sprechakttheorie beruft; Skinner 2002;
76. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der historischen Semantik zu Skinner siehe Palonen 2003) und die Heidelberg-Bielefelder Gruppe zur historischen Semantik des Deutschen (Koselleck 1967 mit Bezug auf Koebner 1953; Brunner, Conze und Koselleck 1972−1997; Koselleck 1979, 2006; kritisch dazu Busse 1987; vergleichend Richter 1990; mit einem komparativen Ansatz Hampsher-Monk, Tilmanns and Vree 1998). Gleichzeitig entstand zum Deutschen das Historische Wörterbuch der Philosophie (Ritter, Gründer und Gabriel 1971−2007), ein Wörterbuch, das seine Konzeption von einer traditionellen Ideengeschichte zur Begriffsgeschichte im moderneren Sinne wandelte. Zum Französischen entstand das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680−1820 (Gumbrecht et al. 1985−2000; Reichardt 1998), zum Niederländischen in komparativer Perspektive die History of Concepts (Hampsher-Monk, Tilmanns and Vree 1998). Danneberg (2002) diskutiert kritisch, ob man Metapherngeschichte als Teil der historischen Semantik betrachten könne. Die finnische History of Political and Social Concepts Group (HPSCG) beruft sich sowohl auf Koselleck als auch auf Skinner und betont den interdisziplinären Zugang: „Only through comparisons between cultural and linguistic spheres [...] it is possible to establish the specificities of a nation’s and polity’s political and social trajectory.“ (Web-Plattform Concepta). Die Zeitschrift für Ideengeschichte, gegründet 2007, will, nachdem sich die „Schlagwortstürme […] gelegt“ haben, über die verschiedenen Traditionen reflektiert hinausgehen (Raulff, Schmidt-Glintzer und Seemann 2007: 4). Es waren Philosophen und Historiker, die als Erste historisch-semantische Praktiken anwandten, um den Wandel von Bewusstsein und Wahrnehmung zu beschreiben bzw. zu untersuchen. Sprachwissenschaftler taten dasselbe zuerst im Rahmen diachroner Lexikografie, allerdings ohne den weiter ausgreifenden Erkenntnisanspruch, der Philosophen, Historiker und in jüngerer Zeit Diskursforscher eint. Die klassische Lexikografie bleibt in der Regel auf das Einzelwort und seine (polyseme diachrone) Semantik beschränkt, wohingegen die Praxen der historischen Semantik mit ihren Erkenntnisinteressen weiter ausgreifen und mindestens Wortfelder, wenn nicht semantische Netze komplexerer Art in den Blick nehmen. Neuere Lexikografie, insofern sie das strukturelle Potenzial Neuer Medien ausnutzt, könnte allerdings den Zielen einer historischen Diskurssemantik sehr viel näherkommen und über das isolierte Wort und seinen Begriff hinausgelangen. Andererseits spielt das besondere Einzelwort und seine Semantik im Sprachbewusstsein der Sprecher eine herausgehobene Rolle, weil vielfach eine Identität von ursprünglicher und eigentlicher bzw. wahrer oder Kernbedeutung angenommen wird. Obwohl diese Gleichsetzung linguistisch unhaltbar ist, stellt das Laieninteresse an der ursprünglichen Bedeutung die Anschlussfähigkeit der historischen Semantik sowohl an gesellschaftliche Diskussionen als auch an nicht-linguistische Disziplinen sicher.
2. Probleme Die Interdisziplinarität der historischen Semantik findet fast ausschließlich in Form methodisch-theoretischer Kritik der jeweils einen historisch-semantischen Disziplin und ihrer Praxis an der der jeweils anderen statt (exemplarisch Skinner 1979, Busse 1987) − von einer echten Interdisziplinarität ist man damit weit entfernt. Die dabei zentralen Kategorien zu definieren, wird von der Sprachwissenschaft beansprucht. Der Anspruch ist aber nur eingeschränkt erfolgreich, insofern die historische Semantik in jüngerer Zeit
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft dazu tendiert, im transdisziplinären Feld der Diskursforschung aufzugehen und darin nur ein diskursanalytisch relevantes Element unter anderen zu sein (vgl. Spitzmüller und Warnke 2011). Im Hinblick auf methodische Fragen scheint den meisten Kritikern durchaus bewusst, dass das Beharren auf theoretisch-methodischen Maximalforderungen die wissenschaftliche Praxis der historischen Semantik verunmöglicht, deren Gegenstandsbereich überkomplex ist. Busse (1987) zeigt am ausführlichsten, inwiefern für die historische Semantik nur eine hermeneutische (keine positivistische, empirische) Methodik, die immer schon mit hochgradiger Komplexität umgehen musste, infrage kommt. Der Einsatz lexikostatistischer bzw. korpuslinguistischer Verfahren (zuerst Guilhaumou et al. 1974; neuerdings vermehrt im Rahmen der Diskursforschung) steht dabei nicht grundsätzlich im Widerspruch zur hermeneutischen Basis (vgl. Haß 2007).
2.1. Fachlexikalische Probleme Es existiert keine alle Praxen der historischen Semantik und der beteiligten Disziplinen übergreifende einheitliche Terminologie. Als Gemeinsamkeiten lassen sich aber feststellen: a) Die Ausdrücke Begriff, Idee, idée, idea, Konzept, concept, meaning, sense bedeuten in etwa das Gleiche. b) Mit all diesen Ausdrücken wird auf das semantische Potenzial des Wortzeichens referiert. c) Die Semantik wird von der Zeichenform, bezeichnet als Wort, word bzw. vocabulary, abgegrenzt. Was in der einen Disziplin historische Semantik heißt, wird in anderen als Begriffsgeschichte, history of concepts, conceptual history bezeichnet. Allen Ansätzen gemeinsam ist auch, dass sie einen engen, aber nicht näher präzisierten Zusammenhang voraussetzen zwischen historischer Semantik auf der einen Seite und Konstrukten wie Diskursgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Affektgeschichte, histoire des mentalités auf der anderen Seite. Ein meist unreflektiertes, aber zentrales Problem liegt vor im gemeinsamen Kern der Konzepte, die mit Kontext, Bezugsrahmen, culture, society benannt werden, insofern damit auf nur vage gefasste Einflussfaktoren des semantischen Wandels referiert wird. Das für jedwede Spielart historischer Semantik zentrale Konzept des Kontextes müsste theoretisch schärfer gefasst werden. Ein zweites Problem betrifft das, was mittels der semantischen Analyse aus Texten bzw. Sprachgebräuchen herausgearbeitet und in der (z. B. lexikografischen) Praxis explizit gemacht werden soll. Dieses Konzept, das sich mitunter schwer vom eben genannten Problem des Kontextes abgrenzen lässt, wird je nach Ansatz außerordentlich unterschiedlich benannt: value, belief, Denken und Fühlen, social philosophies, Wissens- und Wirklichkeitskonstitution. Es fehlt ein theoretisches Konzept für die über das Einzelwort hinausgehenden semantischen Gemeinsamkeiten, wie sie z. B. unter dem Schlagwort Demokratisierung für die Aufklärungszeit festgestellt werden können. Vor allem die beiden zuletzt genannten Probleme schränken die Akzeptanz der historischen Semantik in der ,harten‘ Linguistik stark ein. Nimmt man das Wissenschaftssystem als Ganzes in den Blick, wird die historische Semantik auf der einen Seite oft nur als Hilfsdisziplin auf dem Weg zu einer umfassenden Kultur-, Gesellschafts- oder Bewusstseinsgeschichte (Busse 1987) behandelt. Auf der anderen Seite wird im Zuge der (postmodernen) Modularisierung allen (theoretischen) Wissens und Bewusstseins „selbstgenügsame Metatheorie“ grundsätzlich „gefürchtet“ (Raulff, Schmidt-Glintzer und Seemann 2007: 5) und es werden „Neuansätze […] aus profunder Kenntnis des
76. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der historischen Semantik Archivs“ befürwortet (Raulff, Schmidt-Glintzer und Seemann 2007: 4). Mit Letzterem ist eine (Rück-)Besinnung auf philologisch-praktische Arbeit an Texten und anderen Medien gemeint. Damit erscheint die historische Semantik derzeit ausgespannt zwischen zwei Problembegriffen einer Kulturtheorie (Kontext und belief/Wirklichkeitskonstitution), von deren Ausarbeitung ihr zukünftiges (linguistisches) Potenzial abhängig ist. Erstens ist die historische Semantik angewiesen auf einen präziseren, aber dennoch operationalisierbaren Kontextbegriff, insofern Letzterer einen wesentlichen Teil der Erklärung für semantischen Wandel liefern soll. Zweitens steht und fällt ihre Relevanz für Wissenschaft und Gesellschaft mit der besseren Konturierung ihres Erkenntnisziels belief/Wirklichkeitskonstitution, um derentwillen die ergebnisorientierte, stets exemplarisch realisierte historische Semantik überhaupt und in Abgrenzung zur Theorie des semantischen Wandels betrieben wird. Zu klären ist, welche psychische und/oder soziale Größe mit historischer Semantik eigentlich erkannt und beschrieben werden soll. Was an der historischen Semantik terminologisch (noch) defizitär erscheint, hat aber Potenzial für Anschlüsse an gesellschaftliche Orientierungsinteressen über die Systeme der Wissenschaften hinaus. Dass bestimmte kulturelle und/oder gesellschaftliche Faktoren den semantischen Wandel dieser oder jener Wörter erklären, ist prätheoretisch vollkommen plausibel. Ebenso plausibel erscheint die Annahme, dass die semantische Geschichte des einen oder anderen Worts Auskunft geben kann über die Art der Wirklichkeitskonstitution der betreffenden Sprechergemeinschaft, die nicht selten diejenige der Linguistinnen und Linguisten (und ihrer Adressaten) selbst ist − unsere Wörter enthüllen unser Denken und Fühlen. Damit die beiden genannten Problembegriffe nach einer theoretischen Klärung ihre relative Durchsichtigkeit und Anschlussfähigkeit behalten, müsste die Klärung ohne Überstrukturierung und Formalisierung auskommen und eher prototypische Kategorien modellieren, die der Dynamik bzw. Fluidität des Gegenstands Rechnung tragen.
2.2. Methodische Probleme Die Befriedigung des diachronen semantischen Erkenntnisinteresses der historischen Semantik wird von vornherein auf ausgewählte Wörter (keywords; Grundbegriffe) bzw. Wörter aus key areas eingeschränkt, deren Relevanz als Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung wie des gesellschaftlichen Interesses unangefochten ist. An der Spitze der Werteskala erscheint in Williams (1967, dt. 1972) das Konzept von Kultur (culture), gefolgt von Industrie, Demokratie, Klasse, Kunst. Im Vergleich zu der Praxis der Geschichtlichen Grundbegriffe (Brunner, Conze und Koselleck 1972−1997) zeigt sich trotz des viel größeren Umfangs des Vokabulars der Geschichtlichen Grundbegriffe die gleiche, vom Wert des Gegenstands geleitete Auswahl der relevanten Wörter/Konzepte aus dem Bereich der politischen Verfassung sowie die Fokussierung der gleichen historischen Epoche, nämlich der Zeit um 1800 mit Ausgriffen ins 19. und 20. Jahrhundert. Mithin sind es Französische Revolution, Aufklärung und Industrialisierung, die das Interesse der historischen Semantik motivieren. In ihrer französischen Tradition kommt hinzu, dass in den historischen Quellentexten aus der Französischen Revolution (erstmals?) Reflexion und Kritik politischer Sprachverwendung durch historische Subjekte selbst greifbar werden. Die heutige historische Semantik beobachtet deshalb den strategischen
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Wortgebrauch und -missbrauch der Revolutionsepoche und seine Folgen für den Bedeutungswandel auf zwei Ebenen: im Sprachgebrauch und in der Thematisierung des Sprachgebrauchs durch historische Subjekte. Das niederländische Projekt einer Conceptual History begründet zusätzlich zur Epoche um 1800 die Renaissance als „a kind of proto-Sattelzeit“ (Boer 1998: 21) und verweist damit auf die Einzelsprach- und Kulturabhängigkeit der bisherigen historischen Semantik, entwickelten sich doch die Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert zu einer global agierenden Großmacht. Daraus scheint abgeleitet werden zu können, dass jeweils solche Wörter zum Gegenstand einer historischen Semantik werden, die die Epochen gesellschaftlichen Umbruchs und besonderer Dynamik markieren. Mit der Herausgehobenheit der key words korrespondiert die Wahl literarischer und philosophischer Quellentexte, d. h. die Wahl von Texten, denen ungeprüft ein höherer Orientierungswert zugesprochen wird. Mit fortschreitendem diskurslinguistischen Einfluss und der Entdeckung des Alltags in der Geschichtswissenschaft wird die sprachliche Basis vielfältiger und durch Einbeziehung auch alltäglicher Kommunikate unterschiedlicher Medialität und Materialität deutlich erweitert. Text-Bild-Beziehungen sind als Gegenstand der historischen Semantik diskutiert und gefordert worden (Gelderen 1998); die Analyse multimodaler Kommunikate bedarf aber technischer Möglichkeiten der entsprechenden Repräsentation, wie sie sich erst im 21. Jahrhundert zu etablieren beginnen. Erst im Ansatz untersucht zu sein scheinen die Frage nach den Relationen der keywords/Konzepte untereinander und die nach ihrem Status im Diskurs. Eingehender wurde diskutiert, dass Wortbedeutungen nichts Statisches, sondern immer etwas Parole-Induziertes sind, die im Gebrauch betrachtet werden müssen. Wörter/Konzepte werden damit zu verdichteten Projektionsflächen, die in der Lage sind, dynamische Diskursphänomene zu repräsentieren.
3. Zukünftige Perspektiven einer historischen Semantik 3.1. Motivationen und Anschlüsse Im Unterschied zum theoretisch zu bestimmenden Erkenntnisziel der historischen Semantik deuten die (gelegentlich individuell-biografischen) Motivationen der Forscher immer auch Anschlussmöglichkeiten der historisch-semantischen Praxis für Nichtwissenschaftler an. Schon Williams (1976) betont seine Neigung für die historische Semantik durch das Interesse an Wandel (change), development, variation und wird darin von eigener kultureller Differenzerfahrung nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg geleitet. Demgegenüber ist das weitverbreitete Interesse am Ursprung (origin) der Wortbedeutung (wie in der Etymologie artikuliert) nachrangig. Das Interesse an historischer Semantik fokussiert damit die von Sprechern erfahrbare Pluralität in der Semantik lexikalischer Zeichen, die in einer diachronen Perspektive leichter zugänglich gemacht werden kann als in einer synchronen. Dabei muss auch für Letztere eine von Sprecher(gruppen)perspektiven abhängige Polysemie angenommen werden. Die historische Semantik kann wohl in jeder historischen Situation anknüpfen am Bedürfnis nach Selbstvergewisserung der Gesellschaft (bzw. einiger Gruppen) insbesondere in Bezug auf Politik, Macht und Recht; mit einzelnen Konzepten/Begriffen ist dies
76. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der historischen Semantik besser zu leisten als mit komplexeren Reflexionen. Voraussetzung für erfolgreiche Anknüpfungen ist jedoch die Bewältigung zweier Herausforderungen: Erstens muss es gelingen, die Tatsache der Differenz zwischen der Materialität des (Wort-)Zeichens und dem Konzept/Begriff auch Nichtwissenschaftlern zu vermitteln; im alltagssprachlichen Umgang mit dem Ausdruck Begriff fehlt das Bewusstsein dieser Differenz. Zweitens muss es inner- und außerhalb von Wissenschaft gelingen, die Tatsache zu vermitteln, dass die in der historischen Semantik vereinzelt beschriebenen Konzepte/Begriffe nicht für sich stehen, sondern lediglich exemplarische Fenster in komplexe diskursive Prozesse öffnen und dass diese Prozesse, durch das Fenster der einzelnen Begriffe betrachtet, gewissermaßen eingefroren erscheinen. Mit anderen Worten: Eine Handvoll Konzepte, historisch beschrieben, sind nicht gleichzusetzen mit dem Diskurs, dem Wertesystem oder der Mentalität einer Epoche, um derentwillen sich die Gesellschaft für historische Semantik interessiert.
3.2. Problembearbeitung Wenn eine historische Semantik nicht vollends in der Diskursforschung aufgehen soll, weil sie dort möglicherweise marginalisiert wird, könnte eine visuelle Repräsentation der Vernetztheit der Einzelkonzepte eine Alternative mit Zukunft darstellen. Vernetzungen sind auf mindestens zwei Ebenen zu visualisieren: auf der interkonzeptuellen Ebene und auf der Ebene, auf der Konzepte und Kontexte interagieren. Wenn es gelänge, die beiden oben genannten Problembegriffe des Kontextes und den des belief respektive der Wirklichkeitskonstitution mit neuen theoretischen Anstrengungen aus ihrer Beliebigkeit herauszuführen, ließe sich die historische Semantik als zur historischen Diskursanalyse komplementäre Perspektive und Methode neu erfinden. Die Perspektive vom Einzelwort her ist so wenig obsolet wie die Perspektive vom Gesamtdiskurs her. In der aktuell interessierenden Interdisziplinarität von historischer Semantik, Diskursanalyse und theoriebezogener Erforschung des semantischen Wandels (vielleicht ist auch die Geschichtswissenschaft und -schreibung noch hinzuzunehmen) käme es zuletzt darauf an, die gewohnten Reflexe wissenschaftlicher Kritik zu hinterfragen: Die Theorie der wissenschaftlichen Kritik braucht eine Erweiterung um die Dimension der Forschungspraxis. Sie müsste aufzeigen, auf welche Weisen die historische Semantik die Überkomplexität ihres Gegenstands reduzieren kann, ohne Plausibilität zu verlieren und ohne die Dynamik und Fluidität ihrer Gegenstände zu leugnen.
4. Literatur (in Auswahl) Aitchison, Jean 1997 Wörter im Kopf. Eine Einführung in das mentale Lexikon. Aus d. Engl. v. Martina Wiese. Tübingen: Niemeyer. Bödeker, Hans Erich (Hg.) 2002 Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen: Wallstein.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Boer, Pim den 1998 The Historiography of German Begriffsgeschichte and the Dutch Project of Conceptual History. In: Iain Hampsher-Monk, Karin Tilmans and Frank van Vree (eds.), History of Concepts. Comparative Perspectives, 13−22. Amsterdam: University Press. Brunner, Otto, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.) 1972−1997 Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart: Klett. Busse, Dietrich 1987 Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart: Klett-Cotta. Concepta International Research School in Conceptual History and Political Thought. Online unter http://www.concepta-net.org/organization (letzter Aufruf 24. 2. 2016). Danneberg, Lutz 2002 Sinn und Unsinn einer Metapherngeschichte. In: Hans Erich Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, 259−421. Göttingen: Wallstein. Fritz, Gerd 2006 Historische Semantik. Stuttgart: Metzler. Gelderen, Martin van 1998 Between Cambridge and Heidelberg. Concepts, Languages and Images in Intellectual History. In: Iain Hampsher-Monk, Karin Tilmans and Frank van Vree (eds.), History of Concepts. Comparative Perspectives, 227−238. Amsterdam: University Press. Guilhaumou, Jacques 1989 Sprache und Politik in der Französischen Revolution. Vom Ereignis zur Sprache des Volkes (1789−1794). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Guilhaumou, Jacques, Denise Maldidier, Antoine Prost und Régine Robin 1974 Langage et Idéologies. Le Discours comme objet de l’Histoire. Paris: Les Èditions Ouvrières. Gumbrecht, Hans Ulrich, Roger Chartier, Martin Fontius und Rolf Reichardt (Hg.) 1985−2000 Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680−1820. Hefte 1− 19/20. München: Oldenbourg. Hampsher-Monk, Iain, Karin Tilmans and Frank van Vree (eds.) 1998 History of Concepts. Comparative Perspectives. Amsterdam: University Press. Haß, Ulrike 2007 Korpus-Hermeneutik. Zur hermeneutischen Methodik in der lexikalischen Semantik. In: Fritz Hermanns und Werner Holly (Hg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, 241−261. Tübingen: Niemeyer. Koebner, Richard 1953 Semantics and Historiography. In: The Cambridge Journal 7, 131−144. Koselleck, Reinhart 1967 Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 9, 81−99. Koselleck, Reinhart 1979 Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Koselleck, Reinhart 2006 Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Löbner, Sebastian 2003 Semantik. Eine Einführung. Berlin: de Gruyter. Palonen, Kari 2003 Quentin Skinner. History, Politics, Rhetoric. Cambridge: Polity. Paul, Hermann 1886 Prinzipien der Sprachgeschichte. 2. Aufl. Halle a. d. S.: Max Niemeyer.
77. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Lexikologie Pocock, John Greville Agard 1971 Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History. New York: Atheneum. Raulff, Ulrich, Helwig Schmidt-Glintzer und Hellmut Th. Seemann 2007 Einen Anfang machen. Warum wir eine Zeitschrift für Ideengeschichte gründen. Editorial. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1, 4−6. (Online unter: http://www.z-i-g.de/pdf/ ZIG_1_2007_editorial.pdf [letzter Aufruf 26. 8. 2015]). Reichardt, Rolf (Hg.) 1998 Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte. Berlin: Duncker & Humblot. Richter, Melvin 1990 Reconstructing the History of Political Languages. Pocock, Skinner, and the Geschichtliche Grundbegriffe. In: History and Theory 29(1), 38−70. Ritter, Joachim, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.) 1971−2007 Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bde. Basel: Schwabe. Skinner, Quentin 1979 The Idea of a Cultural Lexicon. In: Essays in Criticism 3, 205−224. Skinner, Quentin 2002 Visions of Politics (Vol. I: Regarding Method, Vol. II: Renaissance Virtues, Vol. III: Hobbes and Civil Science). Cambridge: University Press. Spitzmüller, Jürgen und Ingo H. Warnke 2011 Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin: de Gruyter. Williams, Raymond 1967 Culture and Society 1780−1950. London: Chatto & Windus. Williams, Raymond 1972 Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von ‚Kultur‘. München: Rogner & Bernhard. Williams, Raymond 1976 Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. London: Fontana/Croom Helm.
Ulrike Haß, Essen (Deutschland)
77. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Lexikologie 1. Vorbemerkung: Gegenstandsbestimmung 2. Kulturanalyse
3. Fazit 4. Literatur (in Auswahl)
1. Vorbemerkung: Gegenstandsbestimmung Lexikologie soll hier verstanden werden als „Theorie und Praxis von den Strukturierungen im Wortschatz“ (Lutzeier 2002: 1). Kulturanalytische Lexikologie stellt die Struk-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft turen eines Wortschatzes nach semantisch-inhaltlichen Aspekten dar, indem sie Wortschatzgebrauch in den jeweiligen situativen Kontext stellt und diesen als Gebrauchsbedingung erklärt. Unabhängig davon, ob diese Gebrauchsbedingungen politische, gesellschaftliche, historische sind oder ob sie als Fach- oder Gruppenspezifika die Verwendung eines bestimmten Wortschatzes bestimmen, sind sie als kulturell determinierte Phänomene zu deuten. Dass es eine kulturanalytische Lexikologie, spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts auch mit dem Selbstbewusstsein einer solchen, gab und gibt, steht damit außer Frage. Sei es die allgemeine Lexikologie, sei es die Fach-, Berufs- oder Gruppensprachforschung (siehe unten), sei es eine funktionale lexikologische Perspektive wie die der Scheltwörter (Klenz [1900/1910] 1991) − die kulturgeschichtliche Deutung war lexikologischen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen gleichsam stets eingeschrieben. Wortschätze sind dynamisch und kulturell geprägt. Dieser Sachverhalt motiviert die Wortschatzforschung von Beginn an.
2. Kulturanalyse Kulturanalytische Lexikologie steht in dem Traditionszusammenhang einer Ausdifferenzierung der Kulturwissenschaft (im Kontext des cultural turn, siehe 2.2) aus der Kulturgeschichte (als Volkskunde, siehe 2.1). Die Grenzen dieser Disziplinen oder Teilgebiete sind alles andere als klar gezogen, müssen es vielleicht auch nicht sein. Diese Entwicklung des Fachgebiets von der kulturgeschichtlichen zur kulturwissenschaftlichen Wortschatzforschung ist im Folgenden darzustellen.
2.1. Kulturgeschichte: Traditionen des Fachgebiets Die Grundvoraussetzungen der kulturgeschichtlichen Lexikologie lauten: 1. Wortschatz ist zu großen Teilen lexikalisch-semantisch verdichtete Kulturgeschichte. 2. Menschen in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten haben unterschiedliche Wortschätze − eine triviale, aber als Voraussetzung zu formulierende Feststellung. Unter dieser Voraussetzung ist eine lange Tradition der kulturgeschichtlichen Sprachwissenschaft und insbesondere der Lexikologie entstanden. Johann Christoph Adelung versteht Cultur als „die Veredlung oder Verfeinerung der gesammten Geistes- und Leibeskräfte eines Menschen oder eines Volkes“ (Adelung [1793] 1970, s. v. Cultur) und entspricht damit dem idealistischen Denken des 18. Jahrhunderts. Sprache als Kulturerscheinung wird in dieses Modell im Sinn eines symbiotischen Verhältnisses integriert: „Sprache [stehet] mit der Cultur eines jeden Volkes in dem genauesten Verhältnisse.“ Sprachgeschichte sei insofern „nie ohne beständige Rücksicht auf den jedesmahligen Zustand und Fortschritt der Cultur“ zu erklären (Adelung 1781: 14). Zwar ist diese Idee der Sprachgeschichte als Kulturgeschichte auch noch der lexikologischen Kulturanalyse des 19. Jahrhunderts eingeschrieben, allerdings ohne den von Adelung erhobenen pädagogisch-normativen Anspruch und ohne Bezug auf eine nach soziologischen Gesichtspunkten bestimmte Sprechergruppe, sondern im Sinn volkskundlicher Wort(schatz)kunde. Sprache ist in dieser Konzeption nicht Gegenstand von Kultur wie im 18. Jahrhundert, sondern deren Vermittlerin. Lexikologie hat damit die Aufgabe
77. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Lexikologie der Kulturrepräsentation. Sie muss als Grundlegung sowohl der Fach- und Gruppensprachforschung als auch der Soziolinguistik gelten. Einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der frühen Fach- und Gruppensprachforschung sowie der Etymologie, Friedrich Kluge, ist davon überzeugt, dass „alle sprachwissenschaftliche Arbeit immer auch kulturgeschichtliche Arbeit ist“ (Kluge 1912: V). Da sprachwissenschaftliche Arbeit im 19. und früheren 20. Jahrhundert, wenn sie sich nicht grammatischen bzw. morphologischen Erkenntnisinteressen verpflichtete, wortbezogen war, ist Kulturgeschichte im Selbstverständnis des Fachs in die lexikologische Fragestellung eingeschrieben. Ein Beispiel für dieses Selbstverständnis gibt die Etymologie der neuhochdeutschen Sprache von Herman Hirt (1. Aufl. 1909, 2. Aufl. 1921), die, entgegen der Titelbezeichnung, in hohem Maß lexikologische Befunde bereithält. Zwar vermittelt sie, wie zu erwarten, das Wissen der Laut- und Formengeschichte, dies jedoch in lexikologischen Zusammenhängen: „Wortschatzsammlung“ einschließlich Mundarten, „Standes- und Berufssprachen“, „Sprachliche Versteinerungen“ und „Eigennamen“ und die Darstellung der „Ursachen von Bedeutungswandel“ in der Form einer Sprachgeschichte stellt sich Hirt als Aufgabe, mit der Überzeugung, dass wir „aus der Sprache […] ein Spiegelbild der Kultur“ erhalten. Deshalb sei „Sprachgeschichte […] sicherlich ein Teil Kulturgeschichte“ (Hirt 1921: 4). Insbesondere prägen diese Fragestellungen kulturanalytischer Lexikologie eine hoch entwickelte Fach- und Gruppensprachforschung: Studentensprache (Kluge 1895), Schülersprache (Eilenberger [1910] 1981), Soldatensprache (Horn 1898), Seemannssprache (Kluge 1911), Bergmannssprache (Veith 1870/1871), Druckersprache (Klenz [1900/ 1910] 1991), Rotwelsch (Kluge 1901) sind einige der lexikologischen Gegenstände, die hinsichtlich ihres Wortbestands und seiner Bedeutung ebenso wie in Bezug auf den Einfluss auf die Allgemeinsprache untersucht wurden.
2.1.1. Wörter-und-Sachen-Forschung Gleichzeitig erhält die kulturanalytische Lexikologie mit der Wörter-und-SachenKonzeption (vgl. Schmidt-Wiegand 1999) insofern eine neue Perspektive, als die seit der Antike gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem wieder gestellt wird. Mit der Überzeugung von der Anpassung des Wortschatzes an kulturgeschichtliche Entwicklungen stellt die lexikologische Forschung von Sach- und Wortschatzbereichen eine klassische Aufgabenstellung zur „wechselseitigen Erhellung von Wortforschung und Sachforschung“ (Schmidt-Wiegand 1999: 8) dar. Die onomasiologische Frage nach den Bezeichnungen für eine Sache, die semasiologische Frage nach den Bedeutungen eines Wortes zur Bezeichnung einer Sache „sind Teil einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik, die synchron und diachron vorgeht, indem sie durch die Verbindung verschiedener synchroner Ebenen Diachronie für eine bestimmte kulturelle Entwicklung in einem größeren Zeitraum herstellt“ (Schmidt-Wiegand 1999: 8). Rudolf Meringer, der „in der Vereinigung von Sprachwissenschaft und Sachwissenschaft die Zukunft der Kulturwissenschaft“ (Meringer [1909] 1999: 37) sieht, gibt im Vorwort der von ihm 1909 gegründeten Zeitschrift Wörter und Sachen seiner Überzeugung Ausdruck, „daß Sprachwissenschaft nur ein Teil der Kulturwissenschaft ist, daß die Sprachgeschichte zur Worterklärung der Sachgeschichte bedarf, sowie die Sachgeschichte, we-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft nigstens für die ältesten Zeiten, der Sprachgeschichte nicht entraten kann“ (Meringer 1999: 37). Der zweite bedeutende Begründer dieser Konzeption, Hugo Schuchardt, markiert dagegen eine Hierarchie, wenn er das Verhältnis zwischen Sache und Wort als Abhängigkeit des Letzteren vom Ersteren beschreibt: „im Verhältnis zum Wort ist die Sache das Primäre und Feste; das Wort ist an sie geknüpft und bewegt sich um sie herum“, unter der Voraussetzung, dass „zwischen Sache und Wort immer die Vorstellung“ stehe (Schuchardt [1912] 1999: 66). Eine Weiterentwicklung der Wörter-und-Sachen-Konzeption ist die onomasiologisch-wortfeldbezogene Perspektive. Zu verweisen ist auf Franz Dornseiffs Standardwerk Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen (1934), vor allem aber auch auf die eine strukturalistische Dimension erschließende onomasiologische Perspektive der Wortfeldtheorie von Jost Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes (1931), und der Fortentwicklung dieses Modells durch Leo Weisgerber (1934). In den 1930erJahren hat Leo Weisgerber mit seiner Konzeption der Inhaltsforschung diese Perspektive weiterentfaltet. Weisgerber nähert mit Beiträgen wie Von den Kräften der deutschen Sprache oder Vom Weltbild der deutschen Sprache seine Weltbildthese einer biologistisch-rassistischen Argumentation an.
2.1.2. Wörterbücher als kulturgeschichtliche Dokumente und Archive Der enge Konnex zwischen Lexikologie und Lexikografie ist vielfach dargestellt worden (vgl. u. a. Reichmann 1986; Haß-Zumkehr 2001; exemplarisch für das Rechtswörterbuch Lemberg 2008). Dabei ist in der Lexikografie wie auch in der Lexikologie zu unterscheiden zwischen einerseits kulturanalytisch lesbar, andererseits kulturanalytisch angelegt. Unter der Voraussetzung eines weiten Kulturkonzepts ist jedes Wörterbuch kulturanalytisch lesbar, dessen Inhalt (Lemmaansätze, Paraphrasen und gegebenenfalls zitierte Belege) als wortbezogene Repräsentation kulturgeschichtlichen Wissens verstanden wird. Kulturanalytisch angelegt ist Lexikografie, wenn sie konzeptionell und explizit einen kulturanalytischen Anspruch erhebt. Frühes historisches Beispiel für eine solche programmatische lexikografische Kulturanalyse ist Georg Henischs integriertes Wörterbuch Teütsche Sprach vnd Weißheit. Thesavrvs Lingvae et Sapientiae Germanicae. Es vermittelt insbesondere das sich entwickelnde Bildungs- sowie das Fach-, Spezial- und enzyklopädische Wissen seiner Zeit (vgl. Kämper 2001). Ebenso ein integriertes Wörterbuch, dessen kulturanalytisches Programm bereits im Titel festgeschrieben ist, ist Johann Leonhard Frischs Teutsch-Lateinisches Wörterbuch (1741), das den Standard- und Fachwortschatz sowie veraltete Wörter darstellt und etymologische Angaben enthält (vgl. Powitz 2001). Lexikografisch repräsentierte kulturanalytische Lexikologie bedeutet bei Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritische[n] Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1793−1801) die Darstellung und Beschreibung des Wortschatzes − allerdings nicht wie bei Henisch oder dem grimmschen Wörterbuch nach dem Thesaurusprinzip, sondern im Zeichen der „Veredelung“ und mit pädagogischem Anspruch die für hoch entwickelt gehaltene Sprache der „obern Classen“ unter Ausschluss der „bloß dem Volke eigene[n] Wörter“ und des „ganzen Wust[s] des niedrigen Lebens“ (Adelung 1970, Vorrede). Kulturgeschichte bedeutet, diesem Konzept entsprechend, Geschichte
77. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Lexikologie des kultivierten Umgangs (vgl. Henne 2001). Jacob und Wilhelm Grimm schließlich nehmen im Deutschen Wörterbuch die Integrationsidee Henischs und vor allem Frischs auf, indem sie die lexikalischen Elemente der Berufssprachen (Hirten, Jäger, Vogelsteller, Fischer, Schiffer, Winzer, Bergleute, Imker, Gärtner), außerdem u. a. Rotwelsch und Kriegssprache, als Teil der deutschen Sprache beschreiben (vgl. das Vorwort in Grimm 1854).
2.2. Kulturwissenschaft Das neue Paradigma der kulturwissenschaftlichen Linguistik lässt sich als Folge einer Neukonzeptualisierung des Kulturkonzepts um 1900 verstehen (vgl. Daniel 2001: 445− 451). Ein weites Kulturverständnis einerseits, Theorie- und Methodenreflexion andererseits sind die Kennzeichen der neuen kulturanalytischen Forschung. Insbesondere der von Max Weber formulierte Kulturbegriff prägt den neuen kulturwissenschaftlichen Ansatz: „,Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber [1904] 1988: 180; Daniel 2001: 449). Diese Vorstellung wird z. B. von Clifford Geertz (vgl. Artikel 14) aufgenommen, der Kultur als „selbstgesponnene[s] Bedeutungsgewebe“ versteht und Kulturwissenschaft damit als Interpretationswissenschaft fasst, die Bedeutung rekonstruiert (Geertz 1983: 9). Mit diesem Paradigmenwechsel ist Kulturanalyse nicht mehr im traditionellen Sinn der Kulturgeschichte eine thematisch oder inhaltlich bestimmte Disziplin, sondern im Sinn moderner Kulturwissenschaft eine Perspektive, ein „kulturgeschichtliches Vorgehen“ (Daniel 2001: 11−12). Unter dieser Voraussetzung ist das Programm einer kulturwissenschaftlich orientierten Linguistik formuliert worden, die empirisch, interpretativ, partikularistisch, gebrauchsorientiert und historisch operiert (vgl. Auer 2000: 60−61). Die zahlreichen Publikationen, die in diesem neuen Verständnis von Kulturwissenschaft erschienen sind, machen deutlich, dass sich gerade die lexikologisch orientierte Linguistik dem kulturwissenschaftlichen Paradigma in produktiver Weise geöffnet hat (vgl. exemplarisch Gardt, Haß-Zumkehr und Roelcke 1999; Schröder, Kumschlies und Gonzalez 2001; Cherubim, Jakob und Linke 2002; Gardt 2003; Wengeler 2006; Kämper und Eichinger 2008). Freilich hat diese Öffnung des Fachs im Zeichen der Kulturanalyse und des cultural turn sehr spät stattgefunden (vgl. Linke 2011; Günthner und Linke 2006). Freilich lassen die Neuerungsschübe innerhalb der Sprachwissenschaft lexikologische Arbeiten im klassischen Sinn als Wortschatzuntersuchungen in den Hintergrund treten. Lexikologie als Perspektive behält damit zwar ihr prinzipielles Erkenntnisinteresse an Bestand und Struktur von Wortschätzen bei. Dieses Erkenntnisinteresse erscheint aber als Teil weiter gefasster Fragestellungen. Als neuere Entwicklungen sollen im Folgenden exemplarisch Kognitionslinguistik, linguistische Diskursanalyse sowie die Sprache-und-Wissen-Forschung dargestellt werden.
2.2.1. Kognitionslinguistik Kognitive Linguistik fragt nach dem Zusammenwirken von mentaler Repräsentation und der Verarbeitung sprachlichen Wissens (vgl. Schwarz 2008: 8), sodass kulturwissen-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft schaftliche Lexikologie in Kategorien der kognitiven Linguistik das mentale Lexikon, den „human word store” (Aitchison 1994: 10), in seiner kulturellen Geprägtheit zum Gegenstand hat. Das Lexikon ist „Nahtstelle formaler und inhaltlicher Strukturbildung“ (Schwarz 2008: 105). Insofern „Umwelterfahrungen notwendig sind, um die mentalen Konzeptraster zu spezifizieren“ (Schwarz 2008: 110), wird die Rolle des kulturellen Bezugs sichtbar: Es stellt sich nun nämlich aus kulturanalytischer Perspektive die Frage nach dem Prozess der Konzeptualisierung, der in überkommener lexikologischer Terminologie als onomasiologische Strukturierung bezeichnet werden kann. Die Kulturgeprägtheit von Konzepten wird dann evident, wenn z. B. der Gebrauch emotional hoch belasteter Schlüsselwörter kontrastiv-interkulturell untersucht wird wie etwa Heimat mit jeweiligen Entsprechungen (vgl. Wierzbicka 1995), die eine Unterscheidung der drei Konzeptarten universal, unique und intermediate nahelegen: Universal concepts are shared by all human groups and in all probability are innate. Unique concepts belong to a single human group (usually, a single language community) and reflect this group’s unique experience and way of life. Intermediate concepts may be more or less wide-spread across cultures and reflect certain commonalities of human experience; or they may be characteristic of a certain geographic and/or cultural area, in which case they are likely to reflect commonalities of experience and way of life based on contact. (Wierzbicka 1995: 103)
Ein weiterer Ansatz kulturwissenschaftlich relevanter kognitiver Lexikologie ist im Rahmen der insbesondere von Eleanor Rosch vertretenen Prototypenforschung darstellbar. Zwar steht die Frage der Kulturgeprägtheit von Prototypen nicht im Zentrum ihrer Forschung zur Prototypikalität von Kategorienexemplaren (vgl. z. B. Rosch 1978). Gleichwohl ist unbestritten, dass sie ein Faktor bei Prozessen der Kategorisierung bzw. Prototypikalisierung sind. Insofern ist die interkulturelle Kontrastierung von Kategorien durchaus eine Forschungsperspektive: „Analysis of the best-example prototypes of categories may provide us with a new, psychologically real, and fruitful basis for comparison of categories across cultures“ (Rosch 1974: 118). Die Grenzen kultureller Geprägtheit von Kategoriensystemen weist allerdings die Forschung zur Wahrnehmung und lexikalischen Repräsentation von Grundfarben auf (Basic Color Terms). Berlin und Kay stellen erhebliche Unterschiede zwischen der anthropologischen Universalität von Farbwahrnehmungen (nämlich etwa elf) einerseits und der Kulturgeprägtheit des wesentlich differenzierteren Bezeichnungsinventars von Farben andererseits fest (vgl. Berlin and Kay 1969).
2.2.2. Linguistische Diskursanalyse Das lexikologische Interesse diskursanalytischer kulturwissenschaftlicher Forschung richtet sich auf Fragen nach der Strukturierung, Funktionalisierung und Kontextualisierung von Wort und Wortgebrauch im Diskurs. Linguistische Diskursanalyse ist eine inzwischen fest etablierte Teildisziplin kulturwissenschaftlicher Linguistik mit einer ausgeprägt lexikologischen Dimension. Erkenntnisziel der lexikologisch orientierten Diskursanalyse ist insbesondere die Rekonstruktion von Konzeptualisierungsprozessen gesellschaftlich bzw. politisch zentraler Schlüsselthemen oder Leitideen sowie die diskursive Struktur der sprachlichen Repräsentationen dieser Themen. Insofern sind viele ihrer
77. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Lexikologie Befunde im weitesten Sinn der Sprache-und-Politik-Forschung zuzuordnen. Die insbesondere in der Politolinguistik (vgl. Artikel 88) interessierende Frage nach Leit-, Schlüssel- und Fahnenwörtern erhält von daher Evidenz (vgl. Strauß, Haß und Harras 1989; Stötzel und Wengeler 1995). Diskursanalyse, die einen sprachgeschichtlichen Beitrag leistet, fragt dagegen z. B. nach der thematischen Struktur und nach lexikalisch-semantischen Repräsentationen von Diskursen in Umbruchsituationen sowie nach deren kommunikativer Funktion (vgl. Kämper 2005). Aus der Perspektive der Diskursanalyse führt der enge Zusammenhang zwischen lexikologischer Forschung und lexikografischer Ergebnispräsentation zur Diskurslexikografie. Aufgabe der Diskurslexikografie ist es, den einen Diskurs lexikalisch-semantisch strukturierenden und verdichtenden Wortschatz darzustellen sowie die Komplexität und Kohärenz von Diskursen (als thematisch bestimmte sprachliche Einheiten jenseits der Textebene) und ihre Funktionen abzubilden. Unter dieser Voraussetzung macht ein Diskurswörterbuch die thematische, begriffliche und semantische Ordnung des Diskurses − die seine Kohärenz erzeugt − auf der Wortebene sichtbar. Die Struktur eines Diskurswortschatzes besteht aus der Summe des begrifflich-semantischen Potenzials der lexikalischen Diskurselemente und der Summe der regelmäßigen Beziehungen, die diese Elemente untereinander eingehen. Insofern ist diese Ordnung sowohl semasiologisch als auch onomasiologisch darstellbar als ein semantisches Netz von Bedeutungsbeziehungen, in denen die lexikalischen Elemente eines Diskurses zueinander stehen. Diskurslexikografie hat ihren Platz zwischen dem allgemeinsprachlichen, weitgehend kontextfernen Standardwörterbuch und dem kontextnahen Spezialwörterbuch (vgl. Kämper 2007; Kämper 2015; http://www.owid.de/wb/disk45/einleitung.html).
2.2.3. Sprache-und-Wissen-Forschung Insofern Wörter Wissen repräsentieren, wobei dieses als „organisierte Information“ (Solso 2005: 242) verstanden wird, und insofern Wissen historisch und erworben ist, sind Wörter unter dem Aspekt der Wissensforschung Gegenstand kulturwissenschaftlicher Lexikologie. Während ein Zugang zur wortbezogenen Klassifizierung von Wissensarten die Vertikalität von Wortschatzvariationen als Repräsentationen von Experten- und Laienwissen modelliert und damit eine Schematheorie voraussetzt (vgl. Wichter 1994), schließt der Wissensrahmen konstituierende Ansatz an die von Charles Fillmore begründete und vielfach weiterentwickelte Framesemantik an (s. Busse 2008; Konerding 1993; Ziem 2008). Im Lichte der Hypothese, dass sie akkumuliertes, kulturgeprägtes Wissen klassifizieren und strukturieren, werden Wörter im Rahmen dieser Forschungsperspektive als Repräsentationen und Strukturelemente von Wissensrahmen verstanden. Die eminent wortbezogene Rahmenkonzeption dokumentiert etwa die Unterscheidung des sogenannten klassifikatorischen Wissensrahmens als weltbezogenes Wissen vom handlungsbezogenen Wissensrahmen (Schule − Lehrer − Klassenbuch). Repräsentationen klassifikatorischen Wissens sind z. B. onomasiologische Bezeichnungsfelder wie Strom − Fluss − Bach (vgl. Busse 2007). Die kulturelle Dimension von Wissen und seinen lexikalischen Repräsentationen wird an diesem Beispiel evident.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
3. Fazit Der Beitrag hat, nachdem er die Geschichte der traditionellen kulturanalytisch angelegten Wortschatzforschung und deren lexikografische Beschreibung skizziert hat, herausgestellt, dass ein Unterschied besteht zwischen einer Forschungsperspektive, die kulturanalytisch lesbar ist und einer solchen, die sich als konzeptuell kulturanalytisch angelegt erweist. In Bezug auf Letztere sollte deutlich werden, dass cultural analysis ein neues Paradigma der Lexikologie darstellt, das diese durch entsprechende neue methodische Ansätze und Fragestellungen aufgenommen hat. Insofern setzt sich das seit Beginn der Wortschatzforschung und der frühen Lexikografie bestehende kulturgeschichtliche Erkenntnisinteresse mit präzisierter Methodenreflexion und differenzierten Erkenntnisinteressen fort.
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Heidrun Kämper, Mannheim (Deutschland)
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78. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Phraseologie 1. Einleitung 2. Laienlinguistische Zugänge 3. Vorwissenschaftlich-lexikographische Zugänge
4. 5. 6. 7.
Parömiologische Zugänge Linguistische Phraseologieforschung Resümee Literatur (in Auswahl)
Nach einer Skizzierung der Problemstellung aus phraseologischer Sicht [1] werden kulturwissenschaftliche Zugänge zur Phraseologie besprochen, die noch außerhalb der phraseologischen Forschung im engeren Sinne oder an deren Rand liegen (laienlinguistische [2], vorwissenschaftlich-lexikographische [3] und parömiologische Zugänge [4] − wobei letztere teils volkskundlich orientiert sind, teils aber auch schon linguistisch-phraseologisch). Im Rahmen der linguistischen Phraseologieforschung kommt Kultur besonders bei bestimmten Typen von Phrasemen zur Sprache, nämlich den Idiomen [5.1.1] und den Routineformeln [5.1.2]. Weitere relevante Aspekte sind: die spezifische Art von kulturellem „Wissen“ zwischen Synchronie und Diachronie [5.2] sowie der Kontrast zwischen den Phraseologien verschiedener Sprachen und Kulturen [5.3]. Ein Resümee [6] stellt den Bezug zur leitenden Konzeption des Handbuchs her.
1. Einleitung In der Phraseologie im engeren linguistischen Sinn (seit den 1970er-Jahren im deutschsprachigen Raum und in der Romania, vorher schon in der Sowjetunion) ist eine kulturwissenschaftliche Orientierung erst jüngeren Datums, im Gegensatz zur volkskundlichen Parömiologie (siehe Abschnitt 4). Arbeiten wie die von Teliya et al. (1998) sowie Dobrovoľskij und Piirainen (1996 und 2005) sind richtungsweisend geworden. Sabban (2007) gibt einen Überblick und sehr nützliche Begriffsklärungen. Ich versuche nicht, die zum Teil divergierenden Kulturbegriffe solcher Arbeiten zu diskutieren − das wäre ein Artikel für sich −, sondern referiere die Konzeptionen der jeweiligen Autoren. Wenn in phraseologischen Arbeiten Kulturaspekte thematisiert werden, sind Formulierungen wie „Kultur manifestiert sich in der Phraseologie“ an der Tagesordnung. Dobrovoľskij und Piirainen (2005: 214−251) unterscheiden, partiell in Anlehnung an die Typologie von Teliya et al. (1998), für ihre Untersuchung der „figurativen“ Phraseologie (also in erster Linie der Idiome und Sprichwörter) eine Reihe von kulturellen Bereichen, die sich in der Phraseologie manifestieren, vor allem: social interaction (deren Normen besonders in Sprichwörtern tradiert werden), material culture (Kleidung, Werkzeuge etc.), intertextual phenomena (Phraseme, die aus bestimmten Textquellen stammen wie der Bibel), fictive conceptual domains (Aberglauben, volkstümliche Vorstellungen in der Medizin), cultural symbols (z. B. Farb-, Tiersymbolik). Welche konzeptuellen Probleme sich spezifisch in der Phraseologie ergeben, wird in 5.3. diskutiert.
78. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Phraseologie
2. Laienlinguistische Zugänge Phraseologie gilt auch außerhalb der Wissenschaft als besonders ergiebiger Träger kultureller Informationen. Laien finden Zugang zur Phraseologie, und zwar vor allem zu Idiomen und Sprichwörtern, durch das „Vorurteil“, diese sprachlichen Ausdrücke hätten eine besondere Affinität zu der eigenen oder einer fremden Kultur. Am deutlichsten zeigt sich dies in phraseologischen Spezialsammlungen, die von sprachinteressierten Laien erstellt werden. Solche Sammlungen stellen bis zum heutigen Tag jeweils einen kulturspezifischen Aspekt in den Vordergrund, mit dem die Sammeltätigkeit und die Publikation des Gesammelten motiviert werden: Phraseologismen gelten als kultursemiotische Repräsentanten lokaler oder regionaler Eigenschaften. Unter kontrastivem Aspekt wird z. B. die schweizerische Kommunikationskultur von Deutschen mit Maximen wie Zurückhaltung, Vorsicht, Understatement usw. charakterisiert. „Während es beispielsweise in Norddeutschland üblich ist, in einem Restaurant etwas herrisch einzufordern (‚Ich krieg die Schweinsmedaillons‘ [...]), heißt es in der Deutschschweiz sehr viel vorsichtiger ‚Ich hätt gärn die Chalbsmedaillons‘ [...]. ‚Ich krieg‘ impliziert fraglosen Gehorsam. ‚Ich hätt gern‘ bekundet einen Bedarf, einen Wunsch.“ (Scholz 1999: 13−14). Theoretische und empirische Arbeiten zu laienlinguistischen Konzepten machen deutlich, dass es im Rahmen einer idiomatisch-kommunikativen Kompetenz eine „folk awareness“ für Indirektheit gibt, für den Unterschied von „what is said“ und „what is actually meant“ (Niedzelski and Preston 2000: 247−249, im Kontext von „Second language acquisition“), der sich besonders in der Phraseologie auswirkt. Zum Beispiel nimmt ein chinesischer Student die amerikanisch-englische Abschiedsformel come and see me sometimes wörtlich und macht sich damit unmöglich.
3. Vorwissenschaftlich-lexikographische Zugänge In den Jahrhunderten vor einer wissenschaftlichen Parömiologie und Phraseologie finden Phraseme explizit Berücksichtigung in Sprichwortsammlungen und seit Beginn der neuhochdeutschen Lexikographie auch innerhalb von Wörterbüchern, als Komponente von Wortartikeln oder als Anhang zu einem Wörterbuch (wie bei Schottel [1663] 1967: 1100−1147, Von den Teutschen Sprichwörtern und anderen Teutschen Sprichwortlichen Redarten). In den Sammlungen wird weitgehend kein Unterschied gemacht zwischen Sprichwörtern und anderen Typen von Phrasemen. Durchweg jedoch wird der Zusammenhang von Sprache und Kultur als selbstverständlich angesehen. Erasmus von Rotterdam in seiner monumentalen Sammlung (zwischen 1500 und 1536 entstanden, in verschiedenen Ausgaben publiziert) begreift Sprichwörter und Idiome als Teil einer gesamteuropäischen kulturellen Tradition, während andere Sammler wie z. B. der Deutsche Johannes Agricola eher auf die native Sprache und Kultur setzen. Im Vorwort („Worzu die sprichwortter dienen“) seiner Sammlung (Agricola [1534] 1970) wird die Sprache explizit mit dem Leben der Menschen und den dafür seit alters nötigen Regeln in Verbindung gebracht. Auch noch für die Lexikographie des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, die in mancher Hinsicht bereits die Anforderungen einer modernen wissenschaftlich fundierten Lexikographie erfüllt, ist der Zusammenhang von Sprache und Kultur eine Selbstverständlichkeit (so etwa Jacob Grimm [1854: LII] im Vorwort in Band 1 des
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Deutschen Wörterbuches unter 18. „Sitten und bräuche“). Auch die Mundartwörterbücher, z. B. Schmellers Bayerisches Wörterbuch (1827−1837), zeigen seit ihren Anfängen ein besonderes Interesse an den kulturgeschichtlichen Zusammenhängen.
4. Parömiologische Zugänge In der volkskundlich orientierten parömiologischen Forschung hat die kulturwissenschaftliche Orientierung eine lange Tradition. Das Schwergewicht der Studien lag auf dem Sprichwort, aber es gibt prominente Ausnahmen, die sich besonders den „Redensarten“ (die auch als „sprichwörtlich“ galten) widmeten (z. B. Kuusi 1957; Grober-Glück 1974; Röhrich 1991). Röhrich weist in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten auf die engen Zusammenhänge von Parömiologie und linguistischer Phraseologie hin. Heute ist es nahezu eine Selbstverständlichkeit, dass Sprichwörter auch als Gegenstand linguistischer Forschung zu gelten haben (vgl. dazu den Sammelband von Steyer [2012], der zahlreiche dezidiert linguistische Beiträge enthält). Parömiologen befassten sich mit Phrasemen vor allem als Reflex von Sachkultur, von Realien, die räumlich vom einzelnen Dorf bis zu globaler Verbreitung verfolgt wurden. Röhrich stellt im Vorwort seines Lexikons das kulturhistorische Interesse heraus: Redensarten, die auf ältere Bräuche, Handwerke usw. zurückgehen und heute „verblasst“ sind und „die einer kulturhistorischen Herleitung bedürfen“. Wendungen wie die Hände in den Schoß legen, gegen den Strom schwimmen sind seiner Meinung nach nicht erklärungsbedürftig, weil die Metapher leicht zu verstehen ist. „Bei Wendungen dagegen wie Maulaffen feilhalten [...] − am Hungertuch nagen sind die Substantive erklärungsbedürftig“ (Röhrich 1991: 10). Und zwar deshalb, weil es sich um „Gegenstände der alten Volkskultur“ handelt, die heute nicht mehr bekannt sind. Die Fülle von Arbeiten, die sich − wenn auch häufig nur in Bezug auf einzelne Sprichwörter und eher anekdotisch − mit kulturellen Bezügen von Sprichwörtern befassen, kann man ermessen, wenn man in Mieders Bibliographie zur Parömiologie und Phraseologie (2009) das Sachregister mit seiner schier unüberblickbaren Fülle von Einträgen für „culture“ (Mieder 2009, 2: 970−973) beizieht. Problematisch ist die Tendenz zahlreicher Arbeiten zu Sprichwörtern − aber auch zu anderen phraseologischen Klassen −, einem Volk, einer Nation, einer Sprachgemeinschaft eine bestimmte „Weltsicht“, ein „Weltbild“ zuordnen zu wollen. Mieder (2004: 137) hält dies nur bei größter Vorsicht für möglich.
5. Linguistische Phraseologieforschung 5.1. Typen von Phrasemen − Zentrum und Peripherie In der Literatur zur Phraseologie sind es im Wesentlichen zwei Typen von Phrasemen, die hinsichtlich ihres Kulturbezugs Beachtung gefunden haben: die Idiome und die Routineformeln. Demgegenüber sind Kollokationen unter diesem Aspekt kaum bearbeitet, da ihr kulturelles „Potenzial“ weniger offensichtlich ist. Idiome sind inhalts- und
78. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Phraseologie ausdrucksseitig auch für den Laien die auffälligsten phraseologischen Erscheinungen, während Kollokationen meist gänzlich unauffällig bleiben. Daher war in der Phraseologieforschung häufig die Rede von „Zentrum“ und „Peripherie“ − mit einer graduellen Abstufung der Idiomatizität. In jüngster Zeit ist diese Auffassung zunehmend relativiert worden, besonders unter dem Einfluss der Korpuslinguistik und theoretischer Richtungen wie der Konstruktionsgrammatik (vgl. die Überblicke in den Artikeln 7, 88, 89, 90 der HSK-Bände Phraseologie [Burger et al. 2007]). Bereits 1994 und deutlicher noch 1996 (besonders 192 ff.) hat Feilke mit dem Konzept einer „idiomatischen Prägung“ und dem Akzent auf dem „präferierten Ausdruck“ gezeigt, dass es bei bestimmten Mehrwortverbindungen, die auf den ersten Blick keine „Idiomatizität“ im Sinne der Phraseologie aufweisen, nicht damit getan ist, sie im Hinblick auf Produktion und Verstehen als syntaktisch und lexikalisch regelhafte Strukturen aufzufassen. „So ist die idiomatische Selektion und Kombination von ‚jung‘ und ‚Glück‘, ‚freudig‘ und ‚Ereignis‘ sowie ‚stolz‘ und ‚Vater‘ nicht unter Rekurs auf die literale lexikalische Bedeutung der beteiligten Lexeme zu erklären, sondern lediglich durch Verweis auf ein in unserer Kultur bekanntes Ereignisschema und eine übliche Praxis des Sprechens darüber“ (Feilke 1994: 237). Gerade die „Peripherie“ der Phraseologie dürfte somit ein hohes kulturwissenschaftliches Potenzial aufweisen. Angesichts der gegenwärtigen Forschungslage beschränke ich mich jedoch im Folgenden auf eine Besprechung der Idiome und Routineformeln.
5.1.1. Idiome Bei den Idiomen ist es vor allem ihre semantische Struktur, die Bezüge zu kulturellen Aspekten aufweist. Idiome haben meist eine zweistufige Semantik: eine „wörtliche“ und eine „phraseologische“ (figurative) Ebene. Im unauffälligen Gebrauch steht jeweils die phraseologische Ebene im Vordergrund, während die wörtliche Ebene im Hintergrund verbleibt. Die phraseologische Ebene kann aber jederzeit durch geeignete kontextuelle Arrangements in den Vordergrund gerückt werden. Während in der volkskundlichen Parömiologie (siehe Abschnitt 4) vor allem diejenigen Idiome von Interesse sind, deren phraseologische Ebene synchron nicht mehr mit der wörtlichen Ebene in Verbindung gebracht werden kann (z. B., weil ein Element des Ausdrucks synchron gar nicht mehr geläufig ist, wie in am Hungertuch nagen, oder weil die ursprüngliche Metapher nicht mehr transparent ist, wie in jemandem einen Korb geben), steht in der kulturbezogenen Phraseologie gerade der Bezug der Ebenen im Vordergrund. Man spricht hier von der „Bildhaftigkeit“ („Figurativität“) des Idioms, wobei die wörtliche Ebene als Bildspender (oder „Ausgangsbereich“), die phraseologische Ebene als Bildempfänger (oder „Zielbereich“) aufgefasst werden kann. Je nachdem worauf sich der Fokus richtet, stehen andere Fragen im Vordergrund. Besonders deutlich kulturell geprägt sind in vielen Sprachen bestimmte semantische Bereiche, die als Bildspender für charakteristische Bildempfängerbereiche dienen. Für die luxemburgische Phraseologie hat dies Filatkina (z. B. 2002 und 2005) gezeigt. Der Ausgangsbereich Weinbau z. B. spielt für die Konzeptualisierung mehrerer Zielbereiche eine zentrale Rolle. In Bezug auf die phraseologische Ebene ist es die Frage nach ihrer Zuordnung zu konzeptuellen Bereichen: So gibt es Bereiche von Bildempfängern (Zielbereiche), die in manchen Sprachen besonders dicht besetzt sind, wie den Bereich der Emotionen etwa im Deutschen (Dobrovoľskij 1997: 171−203). Die
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft zu Beginn zitierten, von Dobrovoľskij und Piirainen herausgearbeiteten kulturell relevanten Bereiche betreffen in erster Linie charakteristische Ausgangsbereiche. Der Bereich der Intertextualität fällt aus der semantischen Analyse nach Ausgangs- und Zielbereich heraus, insofern es hier um die Tradierung von einzelnen Phrasemen mit ihrer auf die Quelle zurückgehenden semantischen Struktur und deren eventuellen historischen Wandel geht.
5.1.2. Routineformeln Routineformeln haben oft wie die Idiome eine zweistufige semantische Struktur, insofern die wörtliche Ebene bis zu einem gewissen Grad desemantisiert ist. Das sieht man z. B. beim interlingualen Vergleich der tageszeitlichen Grußformeln, die sich oft auf der wörtlichen Ebene entsprechen, ohne dass der Gebrauch der Formeln völlig parallel wäre (z. B. deutsch guten Abend / italienisch buona sera). Der Gebrauch der Formeln ist es, der in hohem Maß kulturell geprägt ist. (Ein aktueller Forschungsüberblick zu Routineformeln findet sich in Hyvärinen 2011.) Während Idiome als referenzielle Phraseme der Kategorisierung der Welt dienen und in dieser Hinsicht kulturelle Prägung aufweisen können, sind Routineformeln von vornherein Elemente von kulturellen Praktiken. (Der von Dobrovoľskij und Piirainen [2005] für Figurativität reklamierte Kulturbereich social interaction ist also nicht nur für Idiome und Sprichwörter relevant, sondern in viel höherem Maß für Routineformeln.) Sie sind in geschriebenen und gesprochenen Texten unverhältnismäßig häufiger als Idiome (vgl. Colson 2008: 197) und sollten schon deshalb intensiver unter kulturwissenschaftlichem Aspekt behandelt werden, als dies bisher geschehen ist. Diese Forderung hat bereits Sabban (2004: 409−411) gestellt. Gemäß Lüger (2007: 445) sind Routinen „anzusehen als verfestigte, wiederholbare Prozeduren, die den Handelnden als fertige Problemlösungen zur Verfügung stehen“. Dabei spielen sprachliche Routinefomeln eine zentrale Rolle, insofern sie der Erleichterung der Kommunikation und des Formulierens dienen, z. B. am Beginn und bei der Beendigung einer Kommunikationssituation. Zugleich verweisen sie „auf eine bestimmte soziale Ordnung, auf die Art und Weise, wie die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft sich zueinander verhalten [...]. Die Gesprächspartner bringen mit dem Einsatz der betreffenden Routineformeln zum Ausdruck, dass sie sich einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen und die betreffende Ordnung, die jeweils geltenden Normen respektieren und aufrechterhalten“ (Lüger 2007: 446). Unter diesem Aspekt sind sie in hohem Maß kulturspezifisch (Lüger 2007: 453) und die Unkenntnis der betreffenden Gebräuche kann zu beträchtlichen interkulturellen Missverständnissen führen (siehe Abschnitt 2 das Beispiel des chinesischen Studenten bei Niedzielski and Preston 2000).
5.2. Kulturelles Wissen in der Phraseologie − das Verhältnis von Synchronie und Diachronie Wenn man sagt, dass Kultur sich in der Phraseologie „manifestiere“, dann ist meistens (auch) gemeint, dass kulturelle Traditionen in der Phraseologie konserviert sind, dass Phraseme wichtige Träger des „cultural memory“ (vgl. Assmann 1992) sind, insofern sie kulturelles „Wissen“ tradieren. In der kognitiven Linguistik wird teilweise recht fahr-
78. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Phraseologie lässig mit dem Begriff des Wissens umgegangen. So behauptet Piirainen (2008a: 207), dass die kognitive Perspektive uns erlaube „to put aside any strong distinction between a synchronic and a diachronic level of analysis and instead place the relevant knowledge structures which underlie phrasemes [...] at the centre of phraseological research“. Diese Behauptung lässt sich nur rechtfertigen, wenn klargemacht wird, was genau unter „knowledge“ verstanden wird. Ganz sicher ist es nicht das aktuell verfügbare Wissen des heutigen Sprechers, sondern ein eher diffuses Konglomerat von Traditionen unterschiedlichen Alters und sehr verschiedener Herkunft, z. B. aus Fachsprachen, aus literarischen Texten, aus Fabeln etc. (vgl. dazu auch Sabban 2008). Filatkina (2002, 2005) bietet Beispiele dafür, wie die Schichten von kulturellem Wissen auseinandergehalten werden können. Der Weinbau bietet die Motivationsgrundlage (den Ausgangsbereich) für viele luxemburgische Idiome, z. B. si hu kee Patt a keng Hattmei ‚sie haben kein Glas Wein und keine Hotte mehr‚ sie sind verarmt‘ (2002: 40). Die Idiome mit der Komponente Hotte sind gemäß Filatkinas empirischer Befragung nur noch der ältesten Generation voll geläufig, die Jungen kennen sie nicht mehr. Was ist das also für eine Art von „Wissen“? Für die heutigen Sprecher ist es nicht mehr präsent − und zwar nicht nur die Motivation, sondern die Phraseme überhaupt −, aber es kann wieder zugänglich gemacht werden. Einen soziolinguistisch äußerst aufschlussreichen Paradefall für die Schichtung von phraseologischem Wissen bietet nach Idström (2010) das zu den gefährdeten Sprachen gehörende Inari Saami, das im nördlichen Finnland gesprochen wird. Im Lauf des 20. Jahrhunderts fand ein dramatischer kultureller Wandel statt und um 1950 gingen die meisten Familien auch sprachlich zum Finnischen über. Seit 1990 gibt es − anscheinend erfolgreiche − Versuche der Revitalisierung. Doch nur noch 250 ältere Personen haben Inari Saami als Erstsprache. In der Phraseologie haben sich metaphorische Konzepte erhalten, deren kulturelle Korrelate mit Sicherheit nicht mehr lebendig, für die ältesten Sprecher allenfalls erinnerbar sind. So reflektieren die Zeitmetaphern und -metonymien den intensiven Umgang mit Naturphänomenen, „where daily life followed the rhythm of nature, consisting of reindeer, fishing, hunting and wheather“ (Idström 2010: 174).
5.3. Kontrastiver Sprach- und Kulturvergleich Einzelne Phraseme interlingual zu kontrastieren, ist wenig aufschlussreich und führt nur zu anekdotischen Beobachtungen, wie es Colson (2008: 191) anhand von komparativen Phrasemen illustriert. Wenn der Sprachvergleich einen Ertrag für den kulturellen Aspekt erbringen soll, muss es sich zumindest um den Vergleich von Bildfeldern bzw. Zielkonzeptfeldern handeln. Ergiebiger als der Vergleich zweier (beliebiger) Sprachen sind großräumigere Vergleiche (Colson 2008: 192−193). In der Phraseologieforschung gibt es − der Forschungstradition entsprechend − zahlreiche kontrastive Arbeiten mit Deutsch als dem einen Vergleichsobjekt, neuerdings auch solche mit Englisch als Vergleichsgröße (Literatur bei Colson 2008). Ein mehrseitiger Vergleich wie bei Dobrovoľskij und Piirainen (1996) mit sieben Sprachen (Deutsch, Niederländisch, Englisch, ein niederdeutscher Dialekt, Russisch, Finnisch und Japanisch, also teilweise auch mit genetisch nicht verwandten Sprachen) oder die Arbeit derselben Autoren (Dobrovoľskij and Piirainen 2005), die den Kreis dieser Sprachen noch einmal erweitert haben, sind derzeit noch Raritäten. Schließlich muss der Vergleich theoriegeleitet erfolgen und darf nicht an willkürlich gewähltem phraseologischen Material durchgeführt werden.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Welcher Art können die Einsichten sein, die auf kontrastivem Weg gewonnen werden? Zunächst kann der Vergleich heuristischen Wert haben, insofern man durch ihn Merkmale der einen (meist der eigenen) Sprache sieht, die man sonst nicht bemerkt hätte. Földes (1996: 91−94) beschreibt aus der Sicht des Ungarischen „landeskundlich besonders relevante phraseologische Sachgebiete des Deutschen“ (z. B. Volksglaube, Aberglaube, historische Ereignisse, literarische Texte, Eigennamen usw.). Der Vergleich kann auch dazu führen, Fehlurteile in Bezug auf die Spezifik eines bestimmten kulturellen Phänomens zu korrigieren. Hier ist z. B. auf die weitverbreitete Praktik von Mundartwörterbüchern zu verweisen, das vorgeführte phraseologische Material als einzigartig, als regional oder gar ortsspezifisch zu charakterisieren. Ein Vergleich mit anderen Mundarten des gleichen Mundartareals oder sogar darüber hinaus zeigt dann oft, dass das vermeintlich regional Spezifische weitere Verbreitung hat und nicht selten sogar standardsprachlich existiert. Sodann kann ein Vergleich größere Kulturräume nachweisen wie etwa die in den europäischen Sprachen weitverbreiteten Biblismen oder Phraseme aus der antiken Tradition. Schließlich kann ein weiträumiger Vergleich Hinweise darauf liefern, dass es sich bei einem bestimmten Bereich nicht um kulturspezifisches Phrasemgut, sondern um Universalien handelt, wie es etwa für die körperbasierten idiomatischen (somatischen) Idiome − bis zum Beweis des Gegenteils − behauptet wird (vgl. auch Colson 2008: 193). Wie vorsichtig man sein muss, wenn man die Verbreitung eines Phrasems über den Bereich einer Sprache hinaus erklären will, zeigen einerseits Studien zur Entlehnung von Phrasemen in verwandte und unverwandte Sprachen (Mokienko 1998), andererseits die neueren Arbeiten von Piirainen zu den „widespread idioms“ (Piirainen 2008b, 2010). Piirainen hat mehr als 70 Sprachen in Europa (geographisch verstanden) und außerhalb Europas mittels Expertenbefragung auf Gemeinsamkeiten der Idiomatik und deren potenzielle Quellen hin untersucht und kann dank ihrer Resultate einige weitverbreitete, aber kaum wissenschaftlich begründete Annahmen (z. B., dass das Englische die hauptsächliche Quelle für weitverbreitete Idiome darstelle) kritisch hinterfragen. Eine besonders wichtige Quelle scheint „Intertextualität“ zu sein, also die Tatsache, dass bestimmte Texte oder Textgruppen die Basis für weiträumige Verbreitung darstellen (Piirainen 2010: 19−20). Das gilt in hohem Maß für die Bibel. Es scheint weit weniger zu gelten für die klassischen Texte der Antike. Hingegen spielen neuere Texte wie die LederstrumpfRomane von James Fenimore Cooper (1789−1851) eine bisher nicht vermutete Rolle für die Ausbreitung von Idiomen, die mit der Kultur der Indianer zu tun haben (der letzte Mohikaner, das Kriegsbeil begraben usw.) (Piirainen 2008b: 252). Pamies-Bertrán (2008) zeigt aber an reichem Belegmaterial − vor allem aus spanischer Perspektive −, wie schwierig es ist, Entlehnungsvorgänge von anderen Ursachen interlingualer Übereinstimmung abzugrenzen, zumal die verschiedenen Ursachen sich überlappen können.
6. Resümee Aus der Sicht des Laien, des Volkskundlers, des Sprichwortsammlers bzw. Sprichwortforschers haben Phraseme einen selbstverständlichen kulturellen Aspekt, und dies seit der frühen Neuzeit. In der linguistischen Phraseologieforschung demgegenüber ist das kulturwissenschaftliche Interesse relativ jungen Datums. Dabei ist die Figurativität des
78. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Phraseologie Idioms aus einzelsprachlicher wie sprachvergleichender Perspektive ein zentrales Thema, das den Anschluss an die allgemeine linguistisch-literaturwissenschaftliche Metapherntheorie erlaubt. Eine neuere Entwicklung besteht in der Hinwendung zu den lange Zeit als „peripher“ betrachteten, auf den ersten Bick „unauffälligen“ Mehrwortverbindungen wie Routineformeln und Kollokationen, deren kulturwissenschaftliches Potenzial erst in Ansätzen erkannt und erforscht ist.
7. Literatur (in Auswahl) Agricola, Johannes [1534] 1970 Sybenhundert und fünfftzig teütscher Sprichwörter, verneüwert und gebessert. Mit e. Vorw. v. Mathilde Hain. Nachdr. Hildesheim: Olms. Assmann, Jan 1992 Das kulturelle Gedächtnis. München: Beck. Burger, Harald, Dmitrij Dobrovoľskij, Peter Kühn und Neal R. Norrick (Hg.) 2007 Phraseologie/Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2 Bde. Berlin/New York: de Gruyter. Colson, Jean-Pierre 2008 Cross-Linguistic Phraseological Studies. An Overview. In: Sylviane Granger and Fanny Meunier (eds.), Phraseology. An Interdisciplinary Perspective, 191−206. Amsterdam: John Benjamins. Dobrovoľskij, Dmitrij 1997 Idiome im mentalen Lexikon. Ziele und Methoden der kognitivbasierten Phraseologieforschung. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier. Dobrovoľskij, Dmitrij und Elisabeth Piirainen 1996 Symbole in Sprache und Kultur. Studien zur Phraseologie aus kultursemiotischer Perspektive. Bochum: Brockmeyer. Dobrovoľskij, Dmitrij and Elisabeth Piirainen 2005 Figurative Language. Cross-Cultural and Cross-Linguistic Perspectives. Amsterdam: Elsevier. Feilke, Helmuth 1994 Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Feilke, Helmuth 1996 Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Filatkina, Natalia 2002 Zum kulturellen Aspekt der Phraseologie des Lëtzebuergeschen. In: Elisabeth Piirainen und Ilpo Tapani Piirainen (Hg.), Phraseologie in Raum und Zeit, 33−57. Baltmannsweiler: Schneider. Filatkina, Natalia 2005 Phraseologie des Lëtzebuergischen. Empirische Untersuchungen zu strukturellen, semantisch-pragmatischen und bildlichen Aspekten. Heidelberg: Winter. Földes, Csaba 1996 Deutsche Phraseologie konstrastiv − intra- und interlinguale Zugänge. Heidelberg: Groos. Granger, Sylviane and Fanny Meunier (eds.) 2008 Phraseology. An Interdisciplinary Perspective. Amsterdam: John Benjamins.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm 1854−1960 Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. Leipzig: Hirzel. Grober-Glück, Gerda 1974 Motive und Motivationen in Redensarten und Meinungen. Aberglaube, Volks-Charakterologie, Umgangsformeln, Berufsspott in Verbreitung und Lebensformen. Textband. (Atlas der deutschen Volkskunde. Neue Folge. Beiheft 3.) Marburg: Elwert Hyvärinen, Irma 2011 Zur Abgrenzung und Typologie pragmatischer Phraseologismen − Forschungsüberblick und offene Fragen. In: dies. und Annikki Liimatainen (Hg.), Beiträge zur pragmatischen Phraseologie, 9−43. Frankfurt a. M.: Lang. Idström, Anna 2010 Inari Saami Idioms of Time. In: Yearbook of Phraseology 1, 159−178. Korhonen, Jarmo, Wolfgang Mieder und Elisabeth Piirainen (Hg.) 2010 Phraseologie. Global − areal − regional. Akten der Konferenz EUROPHRAS 2008 vom 13.−16. 8. 2008 in Helsinki. Tübingen: Narr. Kuusi, Matti 1957 Regen bei Sonnenschein. Zur Weltgeschichte einer Redensart. (Finnish Folklore Communications 171.) Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia. Lüger, Heinz-Helmut 2007 Pragmatische Phraseme: Routineformeln. In: Harald Burger, Dmitrij Dobrovoľskij, Peter Kühn und Neal R. Norrick (Hg.), Phraseologie/Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1, 444−459. Berlin/New York: de Gruyter. Mieder, Wolfgang 2004 Proverbs. A Handbook. Westport, CT/London: Greenwood Press. Mieder, Wolfgang 2009 International Bibliography of Paremiology and Phraseology. 2 Vol. Berlin/New York: de Gruyter. Mokienko, Valerij M. 1998 Phraseologisierung von Europäismen oder Europäisierung von Phraseologismen? Divergente und konvergente Prozesse in phraseologischen Systemen europäischer Sprachen. In: Wolfgang Eismann (Hg.), EUROPHRAS 95. Europäische Phraseologie im Vergleich. Gemeinsames Erbe und kulturelle Vielfalt, 539−555. Bochum: Brockmeyer. Niedzielski, Nancy A. and Dennis R. Preston 2000 Folk Linguistics. Berlin/New York: de Gruyter. Pamies-Bertrán, Antonio 2010 National Linguo-Cultural Specificity vs. Linguistic Globalization. The Case of Figurative Meaning. In: Jarmo Korhonen, Wolfgang Mieder und Elisabeth Piirainen (Hg.), Phraseologie. Global − areal − regional. Akten der Konferenz EUROPHRAS 2008 vom 13.− 16. 8. 2008 in Helsinki, 29−41. Tübingen: Narr. Piirainen, Elisabeth 2008a Figurative Phraseology and Culture. In: Sylviane Granger and Fanny Meunier (eds.), Phraseology. An Interdisciplinary Perspective, 207−228. Amsterdam: John Benjamins. Piirainen, Elisabeth 2008b Phraseology in a European Framework. A Cross-Linguistic and Cross-Cultural Research Project on Wide Spread Idioms. In: Sylviane Granger and Fanny Meunier (eds.), Phraseology. An Interdisciplinary Perspective, 243−258. Amsterdam: John Benjamins. Piirainen, Elisabeth 2010 Common Features in the Phraseology of European Languages: Cultural and Areal Perspectives. In: Jarmo Korhonen, Wolfgang Mieder und Elisabeth Piirainen (Hg.), Phraseologie. Global − areal − regional. Akten der Konferenz EUROPHRAS 2008 vom 13.− 16. 8. 2008 in Helsinki, 15−27. Tübingen: Narr.
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung Röhrich, Lutz 1991 Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 5 Bde. Freiburg i. Br.: Herder [Digitale Ausgabe]. Sabban, Annette 2004 Wege zu einer Bestimmung der Kulturspezifik sprachlicher Formeln. In: Christine PalmMeister (Hg.), EUROPHRAS 2000, 401−416. Tübingen: Stauffenburg. Sabban, Annette 2007 Culture-Boundness and Problems of Cross-Cultural Phraseology. In: Harald Burger, Dmitrij Dobrovoľskij, Peter Kühn und Neal R. Norrick (Hg.), Phraseologie/Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1, 590−605. Berlin/ New York: de Gruyter. Sabban, Annette 2008 Critical Observations on the Culture-Boundness of Phraseology. In: Sylviane Granger and Fanny Meunier (eds.), Phraseology. An Interdisciplinary Perspective, 229−241. Amsterdam: John Benjamins. Schmeller, Johann Andreas 1827−1837 Bayerisches Wörterbuch. Stuttgart: Cotta. Scholz, Christian 1999 Schweizer Wörter. Mundart und Mentalität. 3. Aufl. Zürich: Nimbus. Schottel, Justus Georg [1663] 1967 Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. 2 Bde. (Deutsche Neudrucke, Barock 11−12.) Tübingen: Niemeyer. Steyer, Kathrin (Hg.) 2012 Sprichwörter multilingual. Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie. Tübingen: Narr. Teliya, Veronika, Natalya Bragina, Elena Oparina and Irina Sandomirskaya 1998 Phraseology as a Language of Culture − its Role in the Representation of a Cultural Mentality. In: Anthony P. Cowie (ed.), Phraseology. Theory, Analysis, and Applications, 55−75. Oxford: Clarendon Press.
Harald Burger, Zürich (Schweiz)
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung 1. Fachlichkeit und Fachkommunikationsforschung 2. Fachlichkeit als Kulturhandeln: etymologische Evidenzen 3. Kulturbegriff
4. Fachkultur als Fachsprachkultur 5. Fachkultur und Fachkulturforschung 6. Moderne Aufgabenbereiche der Fachkulturforschung 7. Literatur (in Auswahl)
1. Fachlichkeit und Fachkommunikationsforschung Fachsprachen sind der kommunikative Ausweis der modernen, vernetzten, globalisierten Welt. Eigentlich ist nichts mehr spezifisch unfachlich. Alle Kommunikation ist fachbezo-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft gen, spezialisiert, verlangt differenzierte, genaue Kenntnisse zur Sache, über die gesprochen wird (vgl. Kalverkämper 1990). Kommunikation der Moderne ist Fachkommunikation. Insofern hat sich dieses Paradigma einen zentralen Stellenwert in den Gesellschaften als Bildungsfaktor erobert. Die dazu erfolgte wissenschaftliche Begleitung lässt sich in drei Schritten mit sechs Elementen (1. bis 6.) beschreiben, die den Bogen spannt von der Linguistik zur Kulturwissenschaft: Die Disziplin, die sich mit fachbezogener Sprache, mit Kommunikation-im-Fach, beschäftigt (Hoffmann, Kalverkämper und Wiegand 1998−1999), hatte sich schon im Abgleich mit den erlangten Wissenschaftspositionen der Linguistik und der Translationswissenschaft im Lauf ihrer Entwicklung ab den 1960er Jahren an einen sich makrotisch verändernden Objektbereich angeglichen, und zwar 1. von einer (rein lexikalisch orientierten und lexikographisch interessierten) Terminolo-
gielehre ab den 1960er Jahren (vgl. Kalverkämper 1980) 2. zu einer systematischen, das heißt langueorientierten Fachsprachenforschung in den
Folgejahren (Hoffmann 1985; Kalverkämper 1990) und 3. einer an den Kommunikaten und den Texten selbst interessierten, also parolebezoge-
nen (wie aber auch systemisch [Langue] orientierten) Fachtextlinguistik und Fachtextsortenlinguistik (Kalverkämper 1983; Hoffmann 1988) sowie schließlich 4. zu einer Fachkommunikationsforschung, die die Kommunikation-im-Handeln, also die Pragmatik des Kommunizierens, in den analytischen Blick nimmt (Kalverkämper 1996) und dem dort pragmatisch, in den Textabläufen und Textverbindungen zu beheimatenden Konzept der 5. Fachtextsorten-in-Vernetzung (Kalverkämper und Baumann 2016). Es ist es nun an der Zeit, eine weitere Neubestimmung vorzunehmen und das Format der aktuellen Fachkommunikationsforschung nochmals zu erweitern, nämlich hin in die Kulturdimension hinein (Kalverkämper 1995) zu einer 6. Fachkulturforschung. Eben diese hat ihre anthropologischen Evidenzen in der prähistorischen Zeit, einerseits pragmatisch, andererseits dann auch sprachlich-begrifflich, sodass die Informationen des Folgekapitels als kreative historische Grundlage des neu vorgestellten Begriffs Fachkulturforschung (Kalverkämper 2009a, 2016) verstanden werden sollten.
2. Fachlichkeit als Kulturhandeln: etymologische Evidenzen 2.1. Lateinisch colere Wer Näheres zum Begriff Kultur sucht, kann eine Antwort nur im Bereich des Handelns finden. Denn Kultur als Vorhandensein, als Phänomen, als Gegebenheit ist von Menschen gemacht, wird von ihnen getragen, unterliegt dem Willen und Können des Menschen, wandelt sich − eben wie der Mensch selbst −, unterliegt dem menschlichen Denken und Fühlen sowie dem Geschmack und jeweils geltenden Zeitgeist. Der Mensch ist ein Kulturwesen, Kultur und deren Qualität, die Kulturalität, sind also an den Menschen gebunden und eine spezifische Manifestationsweise seines Daseins und Wirkens in der
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung Welt. Sie gehört zur conditio humana und bildet somit eine anthropologische, das heißt den Menschen als solchen auszeichnende, ja ihn bestimmende Qualität. Tiere haben folglich keine Kultur. Diese spezifische Qualität, die Kulturalität, betrifft bestimmte Merkmale der Beschaffenheit, des Soseins, der Wiedererkennbarkeit und geistigen, ästhetischen und pragmatischen Erfahrbarkeit von Kultur. So sind beide Vorkommen − Kultur und Kulturalität − zwar begrifflich zu differenzieren, sie beziehen sich aber gemeinsam auf einen besonderen Ausweis menschlichen Handelns. Dieser ist in den prähistorischen Zeiten verankert, als der Mensch nach seinem Nomadenleben begann, sesshaft zu werden (Neolithikum, vor etwa 12.000 Jahren, beginnend im Fruchtbaren Halbmond). Die erste spezialisierte Leistung mit nachhaltigem Erfolg ist da der Ackerbau, mit dem wohl ersten Kulturwerkzeug, nämlich dem Pflug. Sein „Arbeiten“ schafft dann auch den fundamentalen Gegensatz, der sich seitdem bis heute, bis in die aktuelle Diskussion um Mensch und seine Umwelt, zieht: nämlich den Gegensatz von Natur und Artefakt. Das Artefakt, also das menschliche Wirken mit Werkzeug zu einem Ziel, dem Werk (lat. ars ‚[Hand-]Werk‘, ‚Kunstfertigkeit‘, ‚Geschicklichkeit‘ [griech. τέχνη téchnē] und facĕre ‚tun‘, ‚machen‘), hat dann prinzipiell mit Veränderung der Natur zu tun: Sie wird − der Einsatz des Pfluges führt dies anschaulich vor − verwertet, benutzt, verändert, gestört und zerstört, neu geschaffen, ausgebeutet. Der Berufsstand, der dies, zumal mit dem Pflug, praktiziert, ist der des Bauern. Aus der bäuerlichen Arbeitswelt ist dann auch jenes Wort − lat. colĕre − als ‚pflegen‘, ‚[Acker] bebauen‘, ‚bearbeiten‘, sodann, ganz passend ‚abwarten‘, schließlich auch ‚wohnen‘, ‚sich bleibend aufhalten‘, schließlich semantisch erhöht ‚geistig pflegen‘, ‚ausbilden‘, ‚veredeln‘ („kultiviert“), entsprechend der indogermanischen Wurzel *quel‚sich drehend herumbewegen‘, erwachsen. Das Partizip Perfekt Passiv zu colĕre − lateinisch cultus − lässt das Substantiv cultus wie auch cultūra ‚Bearbeitung‘, ‚Pflege‘, ‚Anbau‘, ‚Ackerbau‘, ‚Landwirtschaft‘ entstehen, das im Lauf der Geschichten der lateinisch beeinflussten europäischen Sprachen das Stammwort für den Begriff ‚Kultur‘ liefert (engl. culture, franz. culture, ital. cultura, span./portug. cultura, neugriech. κουλτούρα kultúra, ungar. kultúra, finn. kulttuuri, türk. kültür, russ. культура kultura). Und die besondere Pflege und Sorgfalt im Beachten von fachlich notwendigen Handlungen gerade im nicht irdischen, nämlich transzendenten, göttlichen Bereich war dann mit lat. cultus ‚Verehrung‘, ‚Anbetung‘, ‚Kultdienst‘ − Natur (Erde, Fruchtbarkeit, Nahrung) und Göttlichkeit waren im Altertum engst verwoben − ebenfalls entsprechend gefasst. So umspannt der Begriff im Lauf der Geistesgeschichte schon im Altertum die Merkmalweite − von der konkreten handwerklichen Arbeit an der Natur − über die Gepflegtheit des menschlichen Verhaltens und mitmenschlichen Auftretens − bis hinauf zu den numinosen Sphären und der Achtung ihnen gegenüber.
Schon diese drei Begriffsstufen zeichnen sich aus durch Wissen um etwas, Kenntnis haben von etwas, Ausbildung (gehabt) haben, berufliche Spezialisierung durchlaufen haben, fachliches Können besitzen.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
2.2. Historische pragmatische Zusammenhänge Und in der Tat ist die enge Nähe von Kultur und Fach bzw. als Qualitäten formuliert: von Kulturalität und Fachlichkeit nicht zu bestreiten, da schon in den Anfängen der Geistesgeschichte der Menschheit evident verankert (Kalverkämper 1992a). Die Etymologen der 1940er, 1950er Jahre sprechen von der „Wirkwelt“ des Menschen und schließen damit an die onomasiologischen, an die sachkundlichen, Fachlichkeit und Sprache verbindenden Arbeiten an, die die sogenannte Wörter-und-SachenForschung in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat (besonders bekannt sind die Forschungen der Romanisten Wilhelm Meyer-Lübke oder Hugo Schuchardt). Über wortgeschichtliche Zusammenhänge ließen sich kultursoziologische Gemeinsamkeiten, ja anthropologische Grundlagen entdecken. Eine spezielle Wirkwelt, die bis in die indogermanische − also bis in eine um die siebentausend Jahre zurückliegende, wohl recht evident im 4. Jahrtausend v. Chr. aktive − Zeit (Epoche der Jungsteinzeit/Neolithikum, ca. 11 500 bis ca. 2 200 [Kupfersteinzeit] v. Chr.) reicht, hat der Etymologe Jost Trier (1894−1970) in seiner philologischen Arbeit Lehm. Etymologien zum Fachwerk (1951) aufgearbeitet. Trier erkennt aus der etymologisch nahegelegten Anschaulichkeit heraus, dass im Verhältnis von Urgemeinschaft und Arbeit der Zaun eine zentrale Funktion innehatte. Wörter des Teilens, Verteilens, des Anteils, des Teils, des Messens, des Zumessens, des Rechnens lassen darauf schließen (Trier 1951: 57). Da derlei Handlungen − Verteilung von Jagdbeute und des Ertrags der Arbeit, das Essen, Opfern, Helfen, der Tanz und der Zauber − nicht ohne Gemeinschaft denkbar sind, gehört die Vorstellung vom Zaun aus Menschen, vom genossenschaftlichen Ring, von der gegenseitig kreisenden Arbeitshilfe, von der „planenden, beratenden, entscheidenden und rechtfindenden Versammlung“ (Trier 1981: 141), vom hegenden Mannring hierzu (þing, conventus, convivium, funus, gratulatio, nuptias celebrare, munis, munera ‚Reihendienste‘, communitas und andere vermitteln sie uns auch heute noch [Trier 1951: 23, 25]). Vom Zaun ist die Erfahrung nicht weit entfernt, durch Weiterflechten Wände zu erstellen, durch Verstärkung mit Stielen und Balken tragfähige Fachwerkwände zu erhalten. Mit diesem Schritt, so vertreten es die Anthropologen, die Prähistoriker und die Sozialgeschichtswissenschaftler, hat der (ab ca. 10 000 v. Chr., dem Ende der letzten Eiszeit) sesshaft werdende, somit produzierende Mensch (zuerst im Raum des sogenannten Fruchtbaren Halbmondes am östlichen Mittelmeer und in Mesopotamien [Euphrat, Tigris]) grundlegende Voraussetzungen für kulturelle Entwicklungen auf Fortschritt, auf eine Zivilisation hin geschaffen. Das Geflecht im Fachwerk wird − in nachbarschaftlicher Gemeinschaftsarbeit (RingGedanke!, Miteinander [lat. communis]-Sein) − mit Lehm verschmiert, am Holz abgegrenzt, geglättet und verzierend bekratzt. Für diese umfangreichen Arbeiten bot die indogermanische Wurzel *lei-, wie sie sich in Lehm, Leim, lat. limus ‚Bodenschlamm‘, ‚Schmutz‘, ‚Kot‘ zeigt, die Grundbedeutung (Trier 1951: 11, 14), die das Zu- und Verstreichen, Zusammenpappen der Fachwerkwand meint. Auch das Abgrenzen (gegenüber dem Fachwerkholz der Häuserwand) verdeutlicht sich in lat. limes ‚Grenze‘, einem Zaunwort (Trier 1951: 13), das sein Maß an den überschaubaren Verhältnissen des Fachwerkhausbaus nahm. Über die Kratzfeile oder das Reibebrett (lat. lima) sind Beziehungen zu lat. litera ‚Zeichen‘, das zu ‚Buchstabe‘ wird, gegeben (Trier 1951: 12), was auch sachlich mit der formalen Ähnlichkeit von Fachwerkwand und Wachstafel auffällt.
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung Der metonymische Sprung vom Zaun zum Umzäunten liegt nahe (Trier 1951: 14), ebenfalls mit gleicher Wurzel, wie griech. λειμών leimō´n ‚Wiese‘ als eingezäuntes Geländestück (‚Weide‘) zeigt, griech. λίμνη límnē ‚Teich‘, der im Deutschen selbst nach dem ‚Deich‘ bezeichnet ist, der ihn umgibt und begrenzt, griech. λιμήν limē´n als ‚natürliche oder künstlich geschaffene Hegung‘, ‚Bucht‘ oder eben ‚Hafen‘ (wozu auch noch die Hegebedeutungen ‚Schirmstätte‘, ‚Zufluchtsort‘ passen). Bei diesem Hafenwort taucht über Namen (Hafen Πώγων Pō´gōn, Πηγαί Pēgaí) eine indogermanische Wurzel, nämlich *pag-, *pak-, auf, die sich nicht, wie *lei-, an das Handlungsumfeld des Lehms anlehnt, sondern an die gemeinschaftsbildende Vorstellung vom ‚Ring‘ anknüpft (Trier 1951: 16, 20): Lat. pāx ‚Friede‘ (gehört zum Verb pacīscī ‚übereinkommen‘, ‚verabreden‘, ‚einig werden‘, ‚Vertrag schließen‘, im Zusammenhang mit pangĕre [siehe unten]), pactum ‚Übereinkunft‘, ‚Vertrag‘, ‚Verabredung‘ (Partizip Perfekt Passiv von pacīscī), pāgus ‚Gau‘, ‚Gemeinde‘, ‚Gilde‘, ‚Bezirk‘, seinerseits abgeleitet von pangĕre ‚festschlagen‘, ‚einrammen‘, ‚zusammenfügen‘, ‚festsetzen‘, ‚bestimmen‘ (vgl. althochdt. fahan ‚fangen‘, ‚umgreifen‘, ‚erfassen‘), schließlich auch compāgēs als ‚Zusammengefüge‘, ‚Gefüge‘, ‚zusammengesetzter Bau‘, ‚Fachwerkbau‘. Über griech. πήγνυναι pē´gnynai (dorisch πάγνυναι pā´gnynai) ‚festmachen‘, ‚zusammenfügen‘, ‚befestigen‘ und lat. pangĕre (‚befestigen‘, ‚einrammen [der Befestigungswand, des Wehrwalls, des Abgrenzungszauns]‘‚ mit dem zugehörigen Substantiv pāgus ‚Dorf‘, ‚Gau‘, ‚Bezirk‘ als vom Zaun eingefasster und somit begrenzter, befestigter [Lebens- und Wirkungs-]Bereich) und dem Adjektiv pāgānus ‚zur Gemeinde gehörig‘, ‚abgesondert (von der äußeren Umwelt)‘, haben die romanischen Sprachen ihre Wörter für den Begriff ‚Land‘ entwickelt: so franz. le pays, ital. il paese, port. o país und span. el país. Den ‚Land‘-Wörtern der Romania − also pays, paese, país − liegt der arbeitsweltliche Gehalt des hegenden Rings, die handwerkliche Vorstellung vom Einrammen und verflechtenden Zusammenfügen noch zugrunde: Das Land ist eingegrenzt, als eigener Bezirk begrenzt durch eingestemmten Flechtzaun, der diejenigen, die innerhalb des Befestigungs- und Wehrzauns, des Mauerrings leben, umschließt und ihnen Identität verleiht, zugleich damit aber auch diejenigen, die draußen sind und somit nicht dazugehören, eben ausgrenzt und damit analog zur Identität der einen begrifflich die Alterität der anderen schafft. Die lautgesetzlich konsequenten Weiterentwicklungen von lat. pāgus in den germanischen Sprachen − wie altsächs. fac ‚Umfassung‘, ‚Umzäunung‘, angelsächs. fœc ‚Abteilung‘, ‚althochdt. fah ‚Teil‘, ‚Abteilung (eines Raumes oder Gewässers)‘, ‚Schutzwehr‘ − verweisen dagegen auf handwerkliche Tätigkeiten: nämlich auf ‚Abteilungen‘, ‚Abgrenzungen‘, wie sie die BAUERN, die FISCHER und die BAUHANDWERKER − die ersten beruflichen Tätigkeiten mit der Sesshaftwerdung − sowie, dann ebenfalls als ein Ur-Beruf: die BERGLEUTE (kistenartiger Sicherheitsausbau von Grabungsstollen) fertigten und für ihre je beruflich-fachlichen Zwecke (Mauergerüstbau, Wehrbau, Fangkästen, Speicherkisten, Abstützungsgewerke) benötigten und einsetzten. Der Begriff des Faches hat von hier seine für ihn typischen Merkmale fest erhalten: nämlich die des Eingegrenzten, des Zusammenseins (lat. communis esse [in communis stecken cum und moenia − ‚miteinander dieselben Mauern haben‘]), eben als Ort von ‚Kommunikation‘, damit aber zugleich auch einen Begriff des Ausgrenzens erhalten, somit also des Abgegrenztseins, des nicht zur communio ‚innerhalb der Mauer‘ mit ihrer Kommunikation Gehörens, einen Begriff also der nur mühevollen, oft aussichtslosen
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Überwindbarkeit − von innen hinaus („Fachmann-Laie-Kommunikation“) oder aber auch von außen hinein („Quereinsteiger“). In den romanischen Sprachen manifestiert sich dies als Weiterentwicklung von pāgus semantisch eher bodenständig, raumgebunden, als geographische Grenzziehung (‚Land‘); in den germanischen Sprachen dagegen findet sich nach den konkreten Fächern und Gefachen im Handwerkswesen dann, ganz dominant und heute primär geltend (wer denkt schon bei ‚Fach‘ zuerst an den Zwischenraum vom ‚Gefache‘ einer Wand oder an das ‚Schubfach‘ vom Schrank?), jene Bedeutung, die die Bildungsvermittlung kategorisiert, aufteilt, ordnet (Schul- und dann Studienfächer wie Mathematik oder Deutsch); so gewichten durch die Abfolge auch die einsprachigen Wörterbücher (wie Duden zum Beispiel) in ihrem Informationsangebot zu dem Lemma ‚Fach‘. Hier sind die begrifflich-semantischen Entwicklungen nochmals überblicksartig zusammengefasst:
2.3. Fachbegriff als Kulturbegriff Fach ist damit ein kulturwissenschaftlich höchst wichtiger und zentraler Begriff, der auf Urformen der sozialen Organisation (Ring, Hauswandbau, Mauer um das Lebensumfeld
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung [„Dorf-/Stadtmauer“]) zurückführt; der zudem die anfänglichen Weisen werkzeuggestützter Arbeitsteilung (wie Fischer, Bauern, Bauhandwerker, Bergleute) aufnimmt; und der sich außerdem noch auswirkt auf kulturelle − fast mag man sagen: auf kultivierte − Errungenschaften der Menschheitsentwicklung. Hierzu war litera oben schon angesprochen worden, und das Wirken mit literae birgt ebenfalls die Wurzel *pag-: Denn lat. pangĕre bedeutet auch ‚schreiben‘ (und [schriftlich] ‚ver-/abfassen‘ oder ‚verfertigen‘), pāgina (‚Blatt Papier‘, ‚Seite‘) ist dazu die ‚Schreibfläche‘, und zwar aus dem Mark der Papyrusstaude (vgl. Trier 1951: 74), also aus einer (speziellen) Art von Brei − wobei man sich auf ‚Lehm(brei)‘ zum Verschmieren rückbesinnen sollte. Der Zaun, das Fachwerk kommen hier deutlich zum Vorschein; german. wrîtan ‚schreiben‘, engl. write, dt. ritzen, reißen (vgl. Grundriss, Reißbrett, Aufriss), alle aus der sehr reich entwickelten indogermanischen Wurzel *ụer- (Trier 1951: 61, 76), über Vermittlung einer Form *ụéri-/*ụréi-, verweisen auf das Fach-‚Werk‘, dessen indogermanische Wurzel *ụerghier durchscheint. „Das Geflecht des Zauns *ụrei- ist die morphologische Grundlage von wrîtan. Die Urbedeutung dieses Schreibworts wäre ‚die letzte schmückende und zeichensetzende [scil. Zeichen setzende] Hand anlegen bei der Herstellung des Fachwerks‘“ (Trier 1951: 77). „In die Fachfläche zu reißen, ist eine Weise des wrîtan“ (Trier 1951: 76), ‚schreiben‘ hat „am Fachwerk begonnen“ und wir finden dies noch in Formen wie lat. verbum ‚Wort‘, ‚Ausdruck‘, vērus ‚wahr‘, ‚echt‘, ‚wahrhaftig‘, ‚aufrichtig‘, in dt. Wort und wahr, got. wrohs ‚Anklage‘ und wrikan ‚verfolgen‘ − lauter Wörter mit der Begrifflichkeit des Mannrings, des gemeinschaftsbildenden Menschenzauns und der dabei unabdingbaren Kommunikation. So dürfte der Fachbegriff von den anthropologischen Grundbefindlichkeiten der indogermanischen Dunkelzeit seit etwa 5 000 v. Chr. aus die Brücke in jene Kulturformen der Antike schlagen, die als nunmehr Schriftkulturen differenzierte Einteilungen und Abfächerungen von Handlungen − als Juristen, Theologen, Mediziner, Handwerker, Händler usw. − herausbildeten. Die Scheidung von einerseits − erwerbsmäßigen, produktiven Arbeiten, von Handwerken, von praktischen Aufgaben,
und andererseits von − allgemeinbildenden, theoriegeleiteten, geistigen Tätigkeiten
ist der Ursprung der modernen Trennung in (Kalverkämper 1998a) − einerseits praktisch-handwerkliche und − andererseits theoretisch-wissenschaftliche Fächer.
3. Kulturbegriff 3.1. Anthropologische Rahmenevidenzen Der Ausgang bei den anthropologischen Grundlagen des menschlichen Handelns, das eigentlich stets ein fachliches war und ist, legt es auch nahe, die Rahmenbedingung Kultur ebenfalls mit anthropologischem Zugriff begreifen zu sollen. Dabei ist Kultur selbst als ein durch fachliches Handeln ausgestalteter Bedingungsraum für die Lebenspraxis in all ihren Facetten und Vielheiten − alltagspragmatischen, beruflichen, forscheri-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft schen, ästhetischen, freizeitlichen, dabei geistig-intellektuell wie auch manuell-körperlich oder technik-unterstützt ausgeführt − zu bestimmen. Daraus wird auch schon der anthropologische Rahmen sichtbar, der sich auf die Bestimmung des Menschen bezieht als zuerst homo sociologicus (‚Gemeinschaftswesen‘), das er nur sein kann, weil er ein homo loquens (‚Sprechwesen‘) organisch und praktisch ist, der sich und seine Welt über Sprache organisiert und begreift, woraus sich zwangsläufig ableitet, dass er dazu notwendig ein homo interpres (‚Verstehwesen‘) sein muss bzw. ist, das im Handeln-inder-Welt sich seine Welt, seine Gemeinschaft, sein Aktionsfeld, sein Ich erschließt, schafft und weiterbildet: also homo faber (‚Wirkwesen‘). So wäre der Mensch als Kulturwesen anthropologisch zu bestimmen als soziales und dabei kommunikatives (‚sprachhandelndes‘) Wesen, das sein Sprachhandeln (Pragmatik) mit Faktenhandeln, Tun, Wirken, Ausführen, Umfeldgestaltung also, begleitet.
3.2. Definition (definitio per proprietates) Für die Erfassung eines Kulturbegriffs ist es sinnvoll, die Rahmenpositionen zu wählen, also homo sociologicus und homo faber, die die beiden anderen mit einschließen. Eine Definition kann in solch einem Fall der Spannbreite anthropologischer Kategorien nicht eine Seinsdefinition sein, sondern formuliert sich, in Anlehnung an die Logik, als definitio per proprietates, als Definition, die durch die Zusammenstellung von Merkmalen (proprietates) zustande kommt, letztlich also eine beschreibende Definition, durchaus mit der Option der Offenheit. Hier seien die konstitutiven Züge eines anthropologisch fundierten Kulturbegriffs (vorsichtiger formuliert: abendländischen Kulturbegriffs, denn es gäbe ja durchaus auch asiatische, afrikanische, orientalische und mögliche andere Kulturbegriffe) vorgestellt: 1.
Auf den homo sociologicus (Gemeinschaftswesen) richten sich folgende Aspekte: − die identifikationsstiftende gleiche SPRACHE als gemeinsame Bindung; − die kollektiv empfundenen WERTVORSTELLUNGEN und verhaltenssteuernden Inhalte; − identitätsstabilisierende ÄUSSERE MANIFESTATIONSWEISEN von Werten, Zielen, sozialen Erfahrungen; − tradierte Formen des FEIERNS und des Gedenkens; − Konsens bei der Gestaltung und Strukturierung des ALLTAGS; − als unabdingbar und sozial verbindlich angesehene Markierungen im LEBENSLAUF der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft; − konventionalisierte Formen des Umgangs miteinander und der SOZIALEN ORDNUNG; − gemeinsam akzeptierte und kaum infrage gestellte EINSCHÄTZUNGSGRUNDLAGEN gegenüber Fremdem, Andersartigem, Neuem − was sich insbesondere in Klischees und gefestigten VORURTEILEN zeigt.
2.
Den wirkenden Menschen (Wirkwesen) betrifft die Kategorie des homo faber, der mit folgenden Komponenten den Kulturbegriff mitkonstituiert: − KUNSTSCHAFFENDER AUSDRUCKSWILLE in Literatur und den (bildenden wie darstellenden) Künsten und deren Selbstverständnis in der Auseinandersetzung
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung zwischen traditionsbezogener Beharrung und zukunftsgerichteter Veränderung (Konstanz und Variation; Statik und Dynamik); − weitgehender Konsens bei der Gestaltung und Bewertung von ARBEITSPROZESSEN (Beruf, Zugehörigkeit zu einem Fach oder einer Disziplin, soziale Rolle durch Fachwissen, gesellschaftliche Reputation von Ausbildung und geschulten Kenntnissen, Integration von Wissenschaft in gesellschaftliche Meinungsbildung und Akzeptanz, Stellenwert von Allgemeinwissen, Einschätzung des Wertes von Arbeit); − forschender Gestaltungsdrang in den WISSENSCHAFTEN und TECHNOLOGIEN, was eng mit Fortschritt verbunden ist, dabei aber auch einbezieht: − Kontakte des TRANSFERS, Kooperation und Wettbewerb; einschließlich und unverzichtbar − die Bereitschaft und Fähigkeit zu einer PHILOSOPHISCHEN BEGLEITUNG, zu einer ethischen Rückbesinnung und Korrekturoffenheit, zu einer moralischen Reflexion, zu einer kritisch-sozialen Inspektion, zu einer Sensibilisierung für Grenzen des Machbaren und für eine prinzipielle Verantwortung vor der Zukunft. Die Alltagsverrichtungen wie auch die fachlichen Arbeitshandlungen in den verschiedenen Berufen und Fachgebieten, die Lebensverfeinerung durch Kunst wie auch Leitlinien des Denkens und Fühlens − sie sind als Gemeinschafts- und als Wirkwelten hier so vorhanden, dass, nimmt man alles in allem, eigentlich kein nicht-kultureller Bereich denkbar ist: Kultur ist da manifest, wo Menschen handeln, interagieren, kommunizieren. Folglich ist Kultur keine Dingqualität, keine den außersprachlichen Gegenständen zuschreibbare Qualität, die ihnen ablesbar eigen wäre, gleichsam ihnen naturgegeben, sondern prinzipiell ist Kultur eine Handlungsqualität, in die natürlich das Resultat der Handlung (der Gegenstand [zum Beispiel ein Gemälde], das literarische Werk, die architektonische Bauleistung, das Open-Air-Klavierkonzert usw.) mit eingeschlossen ist, gleichsam als sinnlich wahrnehmbare Manifestation von Kulturalität.
4. Fachkultur als Fachsprachkultur Kultur und Kulturalität sind für den handelnden Menschen ohne Sprache und deren Verwendung als Kommunikation nicht möglich. Fachkultur wäre also gleichsam zu ergänzen durch den Ausdruck Fachsprachkultur. Sprachkultur stammt als Begriff aus dem Prager Strukturalismus; er ist von Harald Weinrich (1985) in ganzer Breite wiederbelebt worden, wenn auch mit starker Orientierung an der (gehobenen) Literatur. Hierzu sollte sich das Handeln, und im globalisierten Maßstab besagt dies: das fachliche Handeln − somit sprachlich dazugehörig: die Fachkommunikation −, als Kulturausweis gesellen, als pragmatische, angewandt-orientierte Sprachkomponente der Kultur bzw. im globalen Zusammenhalt gesehen: der Kulturen. Die Fachsprachkultur könnte man sogar noch (gleichwertig) gewichten
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft − im Sinne von Fachsprach(en)-KULTUR, das heißt Kulturalität der Fachsprache(n) und − im Sinne von Fach-SPRACHKULTUR, das heißt des fachlichen, darüber hinaus: des
global-fachlichen Bestands von Sprachkultur. Beide Aspekte des Sprachlichen sind in dem Handlungsoberbegriff Fachkultur enthalten.
5. Fachkultur und Fachkulturforschung Das Format für eine Disziplin der Kommunikation, der Fachbezogenheit, der Fach-, Wissenschafts-, Berufssprachen, der gesellschaftlichen Relevanz, der Bildung ist aufgezeigt (Baumann, Dörr und Klammer 2014), die nunmehr zu erweiterten Dimensionen aufbrechen muss, eben weil die technischen Entwicklungen (Neue Medien) und mit diesen die gesellschaftlichen Dispositionen (Mondialität, globale Vernetzung, Kenntnisnahme um Ereignisse rund um die Welt, Nachrichten und Eigenerfahrungen aus der Fremde) rasant wachsend dies nahelegen. Im Bereich fachlicher Kommunikation (Fachkommunikation), immerhin der internationalen Hauptkommunikation, gelten die Aktivitäten bereits seit geraumer Zeit als grenzenüberschreitend, und dies global, wenngleich die dieses repräsentierende Disziplin − als Fachkulturforschung − noch nicht etabliert, aber, so sei mit Nachdruck betont, in ihrer Evidenz postuliert, somit in der aktuellen Wissenschaftslandschaft innovativ ist: Fachkulturforschung begreift sich als − global ausgelegt, womit sich notwendig ergibt, das Vorgehen − kulturbezogen anzulegen (Galtung 1983; Clyne 1987, 1993), was aber letztlich im
Rahmen der Globalität besagt: − interkulturell und folglich auf Vergleich gerichtet: Gemeinsamkeiten, die man verwer-
ten kann; Unterschiede, die man sensibel berücksichtigen muss, um Konflikte zu vermeiden (Hofstede 1980, 1991); ein solches komplexes Format muss, soll es effizient funktionieren, − interdisziplinär geweitet sein, sodass die Disziplin selbst, hier: die Fachkommunikati-
onsforschung, diesen modernen Rahmenansprüchen der Globalität und weltweiten Geltung entsprechen kann, indem alle methodischen und instrumentalen Ressourcen der Nachbardisziplinen im Disziplinensystem genutzt werden können. Methodologisch ist daraus zu schließen, dass der Vergleich die einzig sinnvolle Vorgehensweise darstellt (vgl. Baumann und Kalverkämper 1992; Kalverkämper 1992b), zumal die Begriffskomponenten des Inter- dies sowieso nahelegen (Kalverkämper 2009b: 65−72): Vergleich repräsentiert letztlich das Konzept des Inter-. Zwar bieten die Wissenschaften im Umfeld von Sprachen seit Langem vergleichsbezogene Disziplinen an − − − − −
die Vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik, Motivforschung), die Vergleichende (Kontrastive) Linguistik, die Sprachkontaktforschung, die Interlinguistik (internationale Plansprachen − wie Volapük oder Esparanto oder andere).
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung Doch hier speziell richtet sich der methodologische Anspruch von Vergleich (Kalverkämper 1992b) auf die − globale − und somit: − interkulturelle Geltung sowie auf − mondial relevante Gesellschaftsthemen wie
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Finanzen und Handel, Techniktransfer, Wissenschaftsaustausch, internationale Kooperation (Konzeption, Ressourcen, Produktion, Vertrieb [Distribution], Verwertung/Nutzung [Konsumption], Evaluation).
6. Moderne Aufgabenbereiche der Fachkulturforschung Letztlich lassen sich alle Aufgabenbereiche zurückführen auf ein Zentrum der Kontakte und Kooperationen: Es geht um die interkulturellen KONVENTIONEN und deren (Be-) Achtung: (Eben darin liegt das kulturwissenschaftliche Potenzial einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Linguistik, Soziologie, Kulturwissenschaft und möglichen anderen) so auswahlweise vorgestellt: − − − − − − −
− − − − − −
Höflichkeitskonventionen; Textkonventionen; körperkommunikative Konventionen (Kalverkämper 1998c, 2000); Erwartungsmuster für Handlungsabläufe; Tabus − gesellschaftlich-inhaltlich, als nationale Konvention für Familie, Medien, Werbung, Themen in öffentlichen Veranstaltungen; Diskretionsweisen im täglichen Leben; Bildungstraditionen − für die Allgemeinbildung wie auch − für die Fachausbildung; gesellschaftliche Konzeptualisierung von Arbeit bzw. Beruf; Gesprächsorganisationen (Verteilung des Rederechts, Pausen, Formen der Redemacht − letztlich Aspekte einer interkulturellen Rhetorik [Kalverkämper 2014]); Handlungsweisen und „Fettnäpfchen“; Vorurteile, mentale Muster, Stereotype des Sehens und Bewertens; Unternehmensführung; Werbung − für die ja sowieso die inhaltlichen wie formalen Bearbeitungskriterien der Internationalisierung (Neutralität zur Kulturspezifik, kulturenübergreifende kulturelle Akzeptanz von Text und Bild, Vermeidung kultureller Affronts im internationalen und somit interkulturellen Kontakt) gegenüber der Lokalisierung (Angepasstsein an die kulturspezifischen Gepflogenheiten, Beachtung der kulturellen Geltungen, Berücksichtigung von Erwartungen und Konventionen im Sinne von Sitten und Gebräuche) gelten.
Die Fachkulturforschung dürfte mit diesen weit ausgreifenden, dem gegenseitigen kulturellen Verstehen und der internationalen Verständigung dienenden Merkmalen (und sicher noch weiteren) als die Zentraldisziplin für globale Kommunikation erscheinen und
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft kann somit einen wissenschaftlichen Beitrag für ein friedenstiftendes Verständnis fremdkultureller Handlungsweisen leisten.
7. Literatur (in Auswahl) Baumann, Klaus-Dieter (Hg.) 2011 Fach − Translat − Kultur. Interdisziplinäre Aspekte der vernetzten Vielfalt. 2 Bde. (Forum für Fachsprachen-Forschung 98/99.) Berlin: Frank & Timme. Baumann, Klaus-Dieter, Jan-Eric Dörr und Katja Klammer (Hg.) 2014 Fachstile. Systematische Ortung einer interdisziplinären Kategorie. (Forum für Fachsprachen-Forschung 120.) Berlin: Frank & Timme. Baumann, Klaus-Dieter und Hartwig Kalverkämper (Hg.) 1992 Kontrastive Fachsprachenforschung. (Forum für Fachsprachen-Forschung 20.) Tübingen: Narr. Clyne, Michael 1987 Cultural Differences in the Organization of Academic Texts. In: Journal of Pragmatics 11, 211−247. Clyne, Michael 1993 Pragmatik, Textstruktur und kulturelle Werte. Eine interkulturelle Perspektive. In: Hartmut Schröder (Hg.), Fachtextpragmatik, 3−18. (Forum für Fachsprachen-Forschung 19.) Tübingen: Narr. Galtung, Johan 1983 Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft. In: Leviathan 2, 303−338. Hoffmann, Lothar 1985 Kommunikationsmittel Fachsprache. Eine Einführung. 2., völlig neu bearb. Aufl. (Forum für Fachsprachen-Forschung 1.) Tübingen: Narr. Hoffmann, Lothar 1988 Vom Fachwort zum Fachtext. Beiträge zur Angewandten Linguistik. (Forum für Fachsprachen-Forschung 5.) Tübingen: Narr. Hoffmann, Lothar, Hartwig Kalverkämper und Herbert Ernst Wiegand (Hg.) 1998−1999 Fachsprachen/Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft/An International Handbook of Special-Language and Terminology Research. 2 Bde. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/Handbooks of Linguistics and Communication Science 14.1/2.) Berlin/New York: de Gruyter. Hofstede, Geert 1980 Culture’s Consequences. International Differences in Work-Related Values. Beverly Hills, CA/London: Sage. Hofstede, Geert 1991 Cultures and Organizations. Software of the Mind. Intercultural Cooperation and its Importance for Survival. London: McGraw-Hill. Kalverkämper, Hartwig 1980 Die Axiomatik der Fachsprachen-Forschung. In: Fachsprache [Wien] 2, 2−20. Kalverkämper, Hartwig 1983 Textuelle Fachsprachen-Linguistik als Aufgabe. In: Helmut Kreuzer und Brigitte Schlieben-Lange (Hg.), Fachsprache und Fachliteratur, 124−166. [= Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 13(51/52).] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
79. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Fachsprachenforschung Kalverkämper, Hartwig 1990 Gemeinsprache und Fachsprachen − Plädoyer für eine integrierende Sichtweise. In: Gerhard Stickel (Hg.), Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven, 88−133. (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1989.) Berlin/New York: de Gruyter. Kalverkämper, Hartwig 1992a Die kulturanthropologische Dimension von „Fachlichkeit“ im Handeln und Sprechen. Kontrastive Studien zum Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen. In: Jörn Albrecht und Richard Baum (Hg.), Fachsprache und Terminologie in Geschichte und Gegenwart, 31−58. (Forum für Fachsprachen-Forschung 14.) Tübingen: Narr. Kalverkämper, Hartwig 1992b Hierarchisches Vergleichen als Methode in der Fachsprachenforschung. In: Klaus-Dieter Baumann und Hartwig Kalverkämper (Hg.), Kontrastive Fachsprachenforschung, 61− 77. (Forum für Fachsprachen-Forschung 20.) Tübingen: Narr. Kalverkämper, Hartwig 1995 Kultureme erkennen, lehren und lernen. Eine kontrastive und interdisziplinäre Herausforderung an die Forschung und Vermittlungspraxis. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen. Zur Theorie und Praxis des Sprachunterrichts an Hochschulen 24, 138−181. Kalverkämper, Hartwig 1996 Im Zentrum der Interessen. Fachkommunikation als Leitgröße. In: Hermes. Journal of Linguistics/Revue de Linguistique/Tidsskrift for Sprogforskning/Zeitschrift für Linguistik 16, 117−176. (Online unter: http://download2.hermes.asb.dk/archive/download/H16_ 07.pdf [letzter Aufruf 13. 12. 2015]). Kalverkämper, Hartwig 1998a Fach und Fachwissen. In: Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Fachsprachen/Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft/An International Handbook of Special-Language and Terminology Research. Bd. 1, 1−24. Berlin/New York: de Gruyter. Kalverkämper, Hartwig 1998b Rahmenbedingungen für die Fachkommunikation. In: Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Ernst Wiegand (Hg.), Fachsprachen/Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft/An International Handbook of Special-Language and Terminology Research. Bd. 1, 24−47. Berlin/New York: de Gruyter. Kalverkämper, Hartwig 1998c Körpersprache. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. IV, 1339−1371. Tübingen: Niemeyer. Kalverkämper, Hartwig 2000 Fachliche Körpersprache. In: Klaus-Dieter Baumann, Hartwig Kalverkämper und Kerstin Steinberg-Rahal (Hg.), Sprachen im Beruf. Stand − Probleme − Perspektiven, 45− 81. (Forum für Fachsprachen-Forschung 38.) Tübingen: Narr. Kalverkämper, Hartwig 2009a Fachkommunikation im globalen Fortschritt. Fachkulturforschung als innovatives Konzept − der Weg ins 21. Jahrhundert [Plenumsvortrag auf dem XVIIth European Symposium on Languages for Specific Purposes, 17−21 August 2009, Aarhus, Danmark]. Kalverkämper, Hartwig 2009b Das wissenschaftstheoretische Paradigma der Translationswissenschaft und ihr gesellschaftlicher Kontext. In: Hartwig Kalverkämper und Larisa Schippel (Hg.), Translation zwischen Text und Welt − Translationswissenschaft als historische Disziplin zwischen Moderne und Zukunft, 65−114. (TransÜD. Arbeiten zur Theorie und Praxis des Übersetzens und Dolmetschens 20.) Berlin: Frank & Timme.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Kalverkämper, Hartwig 2014 Rhetorik und Globalisierung. Herausforderungen an eine Leistungsdisziplin. In: Gert Ueding und Gregor Kalivoda (Hg.), Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, 725−774. (Rhetorik-Forschungen 21.) Berlin/Boston: de Gruyter. Kalverkämper, Hartwig 2016 Fachkulturforschung. Fachkommunikation im Zeitalter der Globalisierung. Berlin: Frank & Timme. Kalverkämper, Hartwig und Klaus-Dieter Baumann (Hg.) 2016 Fachtextsorten-in-Vernetzung. Interdisziplinäre Innovationen. Berlin: Frank & Timme. Trier, Jost 1951 Lehm. Etymologien zum Fachwerk. (Münstersche Forschungen 3.) Marburg: Simons. Trier, Jost 1981 Wege der Etymologie. Nach der hinterlassenen Druckvorlage mit einem Nachwort hrsg. v. Hans Schwarz. (Philologische Studien und Quellen 101.) Berlin: Schmidt. Weinrich, Harald 1985 Wege der Sprachkultur. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.
Hartwig Kalverkämper, Berlin (Deutschland)
80. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Stilistik 1. 2. 3. 4.
Vorbemerkung Der Grundbegriff Stil − Schnittmengen Der Grundbegriff Kultur − Schnittmengen Ausgewählte zentrale Kategorien der Stilistik − unter kulturwissenschaftlichem Aspekt 5. Entwicklung des Stilbegriffs in der Sprachwissenschaft − aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
6. Kulturbezogene Auffassung von Stil in anderen Disziplinen 7. Ausblick 8. Literatur (in Auswahl)
1. Vorbemerkung Ganz gleich, ob man das Phänomen Stil aus historischer, das heißt rhetorisch bzw. neoidealistisch-hermeneutisch orientierter Perspektive betrachtet oder aus aktueller pragmatisch-textlinguistisch-semiotischer Sicht, man kann es nicht denken und erörtern, ohne dabei Kultur im Blick zu haben. Stil lässt sich nicht aus dem kulturellen Bedingungsgefüge, dem er seine Existenz verdankt, lösen. Die Art und Weise, wie etwas gedacht, wie das Gedachte mit sprachlichen und anderen Zeichen zum Ausdruck gebracht und zur Rezeption angeboten wird, wie sich das soziale Subjekt dabei notwendigerweise selbst darstellt, also die Hervorbringung von Denk- wie Artefaktstilen, darunter auch Sprachsti-
80. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Stilistik len, ist soziokulturell und soziosemantisch (Sornig 1981; Hess-Lüttich 2004) gebunden. Der kulturelle Bezug findet sich − mehr oder weniger ausgeprägt, direkt oder indirekt, in der Perspektive durchaus nicht einheitlich − in allen Stilauffassungen wieder, von der szientistisch-strukturalistischen abgesehen. Explizit gemacht und in stiltheoretische Überlegungen einbezogen wird Kulturalität von Stil aber erst in jüngster Zeit (vgl. Linke 2009) und dies auch nur punktuell.
2. Der Grundbegriff Stil − Schnittmengen Die Kategorie Stil begegnet in vielen Disziplinen, jedoch selten in definierter Form. Nicht einmal die Umrisse der Kategorie sind bisher klar. Trotz der stetig wachsenden Zahl philosophischer, soziologischer und historischer Versuche, den Begriff Stil zu explizieren, habe man sich − so Kindt und Müller (2005: 336) − bisher nicht einmal auf die Umrisse einer Definition einigen können. Es sei − wie Heering (2007: 361) formuliert − kein Konzept erkennbar und ebenso keine Trennung zwischen wissenschaftlicher und alltagssprachlicher Verwendung. In der Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist das Konzept des Stils − besonders mit Bezug auf Ludwik Fleck − weitverbreitet, allerdings auch hier in uneindeutiger Verwendung. Weiss moniert, Stil und Stilisierungen aller Art seien zwar „allgegenwärtiger Bestandteil unseres Alltags, unserer Kultur“, es fehle aber ein theoretisches Konzept, ein „Einvernehmen über Rolle und Tragweite des Begriffs“ (Weiss 1997: 147). Das Wissen um Stil wie um seine „allgegenwärtige Kulturgebundenheit“ wird, so lässt sich aus dem Gesagten schließen, unreflektiert vorausgesetzt. Dabei, so Weiss (2009: 1286) mit Bezug auf Gumbrecht (1986: 777), sei Stil als eine „Form des Verhaltens und Handelns“ aber „die kulturwissenschaftliche Kategorie per excellence“. In der kulturwissenschaftlichen Stildiskussion der 1980er-Jahre (vor allem Gumbrecht und Pfeiffer 1986) ist die Kategorie heftig umstritten. Die Kritik an der „diffuse[n] Allgegenwart des Stilbegriffs“ und der „Undurchsichtigkeit seiner Implikationen“ (Pfeiffer 1986: 693) dominiert die Diskussion. Gerade diese Vagheit verwandelte die Kategorie Stil aber „in einen Suchbegriff für Schwachstellen der ihn verwendenden kulturwissenschaftlichen Disziplinen“ (Pfeiffer 1986: 693), machte ihn also, so die notwendige Schlussfolgerung, zu einem kulturwissenschaftlichen Grundbegriff mit seinen Leistungen und Schwächen (siehe unten). In der Sprachwissenschaft gab und gibt es trotz ausgeprägter stiltheoretischer wie -analytischer Bemühungen in den letzten vierzig Jahren teilweise immer noch eine ähnliche Situation. Stil wurde und wird in einschlägigen Arbeiten zwar als zentrale Kategorie behandelt (vgl. Sandig 2006), allerdings im Wissen um deren Unschärfe. Sandig spricht von der „Komplexität des Gegenstandes“ (Sandig 2006: 1 f.) und von dessen „unscharfe[n] Ränder[n]“ (Sandig 1986: 23). Sowinski (2007: 1393) meint, die Geschichte und die Auffassungen von Stil seien durch eine „Fülle an Begriffen und Definitionen gekennzeichnet“, die in jeweils fachlicher und epochaler Ausprägung manifest werden. Er bezieht sich auf Gauger (1995), für den Stil insofern eine komplexe und interdisziplinäre Kategorie ist, als sich stilistische Phänomene auf unterschiedlichen sprachlichen und systematischen Ebenen zeigen und in den verschiedensten Bereichen der verbalen und nonverbalen Symbole, der Gegenstände und menschlichen Verhaltensweisen zu lokalisieren sind (vgl. Sowinski 2007: 1393). Stil erscheint − so die Schlussfolgerung − als ein
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft axiomatischer, undefinierter Grundbegriff (vgl. Großbegriff, Linke 2009: 1131), von dem das Begriffssystem des entsprechenden Wissensgebietes abgeleitet wird, ohne dass man nach einer Ausgangsdefinition fragt. Man begegnet einem solchen unhinterfragten Gebrauch auch beim Umgang mit der Kategorie Kultur (vgl. Artikel 69 und 83). Gibt es nun in den voneinander abweichenden Stilauffassungen eine Schnittmenge von übereinstimmenden Bedeutungselementen? Wo liegt das Gemeinsame, das Stil zu einer „kulturwissenschaftlichen Kategorie per excellence“ (siehe oben) macht? Die ohne kulturellen Bezug nicht denkbare Schnittmenge des Stilbegriffs lässt sich folgendermaßen bestimmen: − Stil wird zum einen für die Form von Artefakten, also für materialisierte, demnach
wahrnehmbare, und kollektiv vereinbarte Gestaltungsweisen verwendet, als Sprachstil (bzw. als Architekturstil, Kleidungsstil, Epochenstil etc.). Hier geht es um das Wie, die Gestalt, in der die in einer Kultur üblichen sprachlichen und andere semiotischen Stilelemente gebraucht werden, und darum, was durch diese Gestalt auf einer sekundären Ebene an sozialen Informationen mitgeteilt werden soll (Selbstdarstellung des Mitteilenden, Herstellung einer Beziehung zum Adressaten der Mitteilung). Dabei steht auch der soziokulturell bedingte Status und Wandel dieses Wie infrage − ein Wandel, der sich gruppengebunden vollzieht und Konventionen/Formen/Muster entwickelt, denen Gruppen folgen, von denen sich das Individuum aber auch im Sinne der Differenzherstellung (bewusst) abheben kann. − Zum anderen wird Stil eingesetzt für die Wege des Denkens, für die sich in unserem Kopf vollziehende, nicht unbedingt wahrnehmbare Art und Weise, wie Gedanken entwickelt werden, als Denkstil. Denkstile bestimmen Denkwege und Denkergebnisse. Nach Fleck 1980 sind sie im oben entwickelten Verständnis kollektiv, das heißt soziokulturell bestimmt. − Gemeinsam ist beiden Vorstellungen, Form der Sprache und Form des Denkens, dass Artefakte eine (gruppenbedingte und zeitbezogene) Gestalt haben, die soziokulturell bestimmt und geeignet ist, soziale/kollektive Bezüge herzustellen. Mittlerweile gibt es in der Sprachwissenschaft jedoch ein theoretisch geschärftes und wohl auch auf andere Disziplinen übertragbares Verständnis von Stil, sodass sich die bisher hingenommene oder als normal akzeptierte Unschärfe aufzulösen beginnt. Es liegt eine pragmatisch-semiotische Stilauffassung vor, deren Berücksichtigung das „Chaos“ (Sandig 1986: 13) der Verwendung der Kategorie Stil überwinden und deren soziokulturelle Gebundenheit deutlich machen könnte. Das Neue ist hier vor allem der Handlungsbezug: − Stil ist eine „sozial relevante […] Art der Handlungsdurchführung“ (Sandig 2006: 9).
Wie man handelt, wie man etwas mitteilt, ist sozial von Bedeutung. − Die Art, wie eine sprachliche Handlung durchgeführt wird, das heißt, welche unter
mehreren konventionell verfestigten Möglichkeiten ausgewählt wird, sagt etwas. In diesem Sinne ist Stil „variierende Sprachverwendung mit einem vielfältigen Bedeutungspotential“ (Sandig 2006: 533). − Die Stilherstellung ist auf kollektiv vereinbarte Stile und deren Muster bezogen, indem sie ihnen folgt oder im Sinne eines (intendierten) Musterbruchs von ihnen abweicht. In jedem Fall wird etwas mitgeteilt.
80. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Stilistik − „Stil ist Teilaspekt von Texten (und Gesprächen) und […] in seiner Variabilität auf
die Vielfalt kommunikativer Zwecke und Bedürfnisse zugeschnitten“ (Sandig 2006: 533). − „Er spiegelt die Vielfalt kommunikativen Handelns, ist insofern integraler Bestandteil kommunikativer Kultur“ (Sandig 2006: 533). Dieser Stilbegriff ist an die Vorstellung von kollektiv Handelnden gebunden. Der jeweilige Gebrauch von Stilmöglichkeiten geschieht im Bezug auf Gruppen und Subgruppen, die zur Konstitution und zum Ausdruck ihrer Identität (soziale) Stile herausbilden (vgl. Sandig 2006: V). Die beobachtbare Vielzahl der Stile wird als Widerspiegelung gesellschaftlicher Vielfalt betrachtet. Dabei spielt nach Linke (2009: 1134) die Form in ihrer Typik als das Stil und Kultur Verknüpfende die entscheidende Rolle. Stil sei als Mitbedeutendes und zugleich als Formkategorie zu verstehen, wobei Formen und Ausdrucksmuster Domänen von Gesellschaft markieren (Linke 2009: 1134). Eine signifikante Form stehe auch für einen gemeinsamen Bedeutungshorizont. Fazit: „Kollektivstile sind […] also immer als kulturelle Stile zu lesen. Ihre Analyse ist eine Form von Kulturanalyse“ (Linke 2009: 1136). So bietet die Suche nach dem Stil „die Chance, die Kultur einer Epoche oder Region in all ihren Spielarten, künstlerischen, technischen oder wissenschaftlichen, als eine Ganzheit, eine Einheit zu begreifen und, von der Geschichte ausgehend, durch eine interkulturelle Blickweise die Spaltung der Kulturen zu überwinden“ (Weiss 2009: 1297).
3. Der Grundbegriff Kultur − Schnittmengen Ähnlich wie im Fall Stil wurde und wird auch Kultur wie ein Grundbegriff verwendet, als eine vorausgesetzte, oft unscharf gebrauchte Kategorie. Auch hier ist man sich der Problematik mittlerweile bewusst und diskutiert das Problem inner- und interdisziplinär (etwa Daniel 2002: 443 ff.). Da es aber bisher keinen Konsens darüber gibt, ob man von einer einheitlichen Disziplin Kulturwissenschaft ausgehen solle oder ob der kulturelle Ansatz innerhalb der einzelnen Disziplinen besser geeignet sein könne, die kulturelle Verfasstheit von Gesellschaften zu erfassen, drohe Kultur, so das Handbuch der Kulturwissenschaften 1 (Jaeger und Liebsch 2004: VII), „zu einem Allgemeinplatz zu werden, der keinerlei analytische Trennschärfe mehr besitzt und die Fragestellungen, Perspektiven, Methoden, Funktionen und Erkenntnisleistungen der mit ihr befassten Wissenschaften nicht mehr zu bündeln und begründen vermag“. Für den hier diskutierten Zusammenhang ist es aber unumgänglich, zu klären, welcher der verschiedenen im Gespräch befindlichen Kulturbegriffe − möglicherweise modifiziert − heranzuziehen ist, wenn man im Bereich des Sprachgebrauchs Stil und Kultur aufeinander beziehen will. Weniger naheliegend ist bei einer solchen Entscheidung der Rückgriff auf den Kulturbegriff der kognitiven Linguistik, der Kultur als angeborene Verhaltensdisposition versteht. Aber auch, wenn, wie es teilweise der Fall ist, Kultur nicht ausschließlich im Sinne einer natürlichen Ausstattung, sondern auch als Symbolsystem (Geertz 1987; vgl. Artikel 14; Helfrich 2003) aufgefasst wird, und auch, wenn Kognition nicht als rein autonomes, sondern als kontextbezogenes und „durchaus durch kulturell variable Gegebenheiten beeinflusst[es]“ (Schwarz-Friesel 2004: 85) Phänomen betrachtet wird (Rickheit 1995), bleibt doch die Tatsache der Textabstinenz. Die Textebene und damit auch die Stilebene
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft stellen keine Gegenstände für kognitive Herangehensweisen (Schnotz 2000: 498) dar, was heißt, dass der Text und sein Stil als Instrumente kulturellen Handelns analytisch nicht wahrgenommen werden. Geht es um Texte und deren Stil, braucht man einen zwar nicht „antikognitiven“, aber doch vorrangig pragmatisch/sozial bestimmten Kulturbegriff, der Kultur „als Auseinandersetzung einer Gemeinschaft mit ihrer und Anpassung an ihre Umwelt, also als ein − kognitives und soziales − Orientierungssystem“, und zugleich als eine Art „semiotisches und rituelles Netzwerk“ begreift (Földes 2003: 9 ff.). Damit wird man der Tatsache gerecht, „dass Kulturen sich durch die in ihnen gängigen Textsorten“ sowie durch deren „(kulturübliche) Gestaltungsformen“, also auch durch Stile, unterscheiden (Hermanns 2003: 369). Angesichts der ausufernden Bestimmungen von Kultur haben Antos und Pogner (2003: 396) den Weg gewählt, die gemeinsamen Schnittmengen in den Verwendungsweisen von Kultur zusammenzufassen: − Kulturen sind Symbolsysteme, das heißt als Wissens-, Bedeutungs- oder Sinnsysteme
konzipiert. − Diese Symbolsysteme erst ermöglichen soziales Handeln. Sie geben überindividuelle
Wirklichkeitskonstruktionen vor, bieten Orientierungsmuster und konstituieren Identitäten. − Kultur wird als Prozess sozialer Konstruktion, „in engem Zusammenhang mit der jeweiligen kulturellen Semantik“ gefasst. Die zentralen Begriffe − Symbolsystem, Orientierungsmuster, soziale Konstruktion − haben auch in kulturbezogenen Überlegungen innerhalb der Sprachwissenschaft ihren Stellenwert. Linke hat dies für die Sprachgeschichte gezeigt, indem sie die Leistung von Sprache als „Medium symbolischer Schöpfung und Setzung“ (Linke 2003: 44) betrachtet, mit dem Menschen „in Symbolisierungsakten ihre Lebenswelt und ihr Verhalten zu dieser Welt“ (Linke 2003: 44) gestalten. „Die symbolisierende Kraft von Sprache“ wird dabei „auch in den Formen und Mustern des Sprachgebrauchs“ verortet (Linke 2003: 44 f.). Zu diesen Formen und Mustern zählen selbstverständlich auch die Stile, Formen, die es Menschen ermöglichen, ihre Welt und ihr Verhältnis zu dieser Welt zu gestalten. In Bestimmungen dieser Art wird Kultur nicht mehr im Gegensatz von Hoch- und Alltagskultur gedacht, sondern als Gesamtheit der Prozesse und Artefakte, die die Existenz einer Gemeinschaft ermöglichen. Kulturwissenschaften, so Assmann (2006: 15), „interessieren sich dafür, wie das vom Menschen Gemachte, die Kultur, gemacht ist, d. h. unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Verfahren, Funktionen und Konsequenzen“. Das schließt die Hochkultur mit der besonderen Wertschätzung des „‚Ästhetischen‘ im Sinne einer Kultivierung und Sublimierung der Sinne“ (Assmann 2006: 10) ebenso ein wie die Alltagskulturhervorbringungen, das heißt alles das, was Menschen in einer Gemeinschaft gemeinsam handelnd konstituieren, um ihr Miteinander bewältigen zu können. Damit ist man auf eine Entscheidung zwischen Hochkultur und Kultur der Lebenswelt nicht mehr angewiesen, sondern kann beide Arten von Kultur als gleichberechtigt konstitutiv für eine Gesellschaft akzeptieren (Hall 1999; Winter 1999: 150 ff.). Die Stilistik kann sich ungestraft beiden gleichermaßen zuwenden. Sieht man einmal von der Wertung ab, die bei Hochkultur traditionell immer mitgedacht wird, bleibt die sachliche Feststellung einer für hochkulturelle Artefakte spezifischen ästhetischen Elaboriertheit. Dieses Faktum ist entscheidend, wenn man Individualstil, Personalstil, Autorstil und ähnliche Kategorien betrachten will, die sich in der Regel
80. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Stilistik auf literarische, also ästhetisch elaborierte Texte beziehen. Im Sinne einer lebensweltlichen Kulturauffassung lassen sich nun solche Artefakte ebenso in die Kulturanalyse einbeziehen wie alle anderen, die sogenannten Alltagshervorbringungen. Kunst und Literatur werden diesen nicht entgegengesetzt, sondern „als ein Teil der übergreifenden Kultur“ wahrgenommen (Assmann 2006: 14). Bei der Betrachtung von Texten aus dem nicht literarischen Bereich als Teil lebensweltlicher Kultur tritt der ästhetische Aspekt zurück und die spezifische Leistung sprachlich-stilistischer Mittel, sozial zu wirken, der Selbstdarstellung, der Gruppeneinbindung und Ähnlichem zu dienen, wird nun relevant. Wörter, Wendungen, Gattungs- und Textsortenwissen, Stilmuster, Stiltypen, Stilverfahren, Stilmittel verschiedenster Art sind Teil des kulturellen Fundus, mit dem beides − der Ausdruck des Ästhetischen und der des Sozialen − bewirkt wird. Mit diesen Bemerkungen ist der Schritt vom übersprachlichen Kulturbegriff zu einem sprachlich orientierten getan. Dessen Kern ist, dass Sprache nichts unabhängig Existierendes ist, sondern dass die Mitglieder einer Gemeinschaft ihre Sprache im Gebrauch gemeinsam hervorbringen. Sie entwickeln in ihrer Lebenspraxis nicht nur fortlaufend Wissens- und Bedeutungssysteme, sondern auch kulturell geprägte und kulturkonstitutiv wirkende Muster, Formen, Routinen und Verfahren, zu denen typische formale Ausprägungen stilistischen Handelns (siehe unten) ganz zweifellos gehören (vgl. Feilke 1996: 1998).
4. Ausgewählte zentrale Kategorien der Stilistik − unter kulturwissenschaftlichem Aspekt Das Inventar an Kategorien, das sich in der literatur- wie sprachwissenschaftlichen Stilistik herausgebildet hat, zeigt − auf verschiedenen Ebenen − die Kulturgebundenheit von Stil. Es handelt sich dabei sowohl um Kategorien mit Bezug zur Hochkultur als auch um solche, die sich auf alltagskulturelle Gegebenheiten beziehen. Sie alle sind im Sinne einer lebensweltlichen Kulturauffassung gleichberechtigte und in ihrem speziellen Anwendungsbereich unentbehrliche Kategorien. Dass sie unsystematisch entwickelt wurden und nicht scharf voneinander abgrenzbar sind, macht sie nicht überflüssig. In der doppelten Perspektive von Hoch- und Alltagskultur werden nun ausgewählte Kategorien vorgestellt. Zeitstil und Epochenstil (vgl. Müller 2009) gelten als − nur rückblickend ermittelbare − Phänomene der Hochkultur. Sie werden künstlerischen und kunsthandwerklichen Artefakten zugeschrieben und als kulturelle Markierungen einer Zeit/Epoche verstanden. Mit ihren Formmerkmalen stellen die Artefakte, obwohl höchst individuelle Hervorbringungen, doch das Bild dieser gesellschaftlich-politisch und kulturell bestimmten Zeit/ Epoche erst her, zugleich werden sie durch diese ihrerseits geprägt. Beide Kategorien, Zeitstil wie Epochenstil, gelten als problematisch. Ihr Gebrauch setzt erstens voraus, dass es abgrenzbare gesellschaftliche Perioden tatsächlich gibt, und zweitens, dass sich im nicht selten vorhandenen Nebeneinander verschiedener Kunstrichtungen in einer Zeit doch typische Formmerkmale (Text, Bild, Möbelstück) finden lassen. Beginnt die Abgrenzung bei den Formmerkmalen, spricht man von Epochenstil (Stil des Barock, der Gründerzeit etc.), orientiert sie sich an zeitlichen Zäsuren, ist die Rede vom Zeitstil (Stil des 17. Jahrhunderts). Der Unsicherheit, ob und wie sich solche zeitlich-epochal bestimmten Stile zweifelsfrei ermitteln lassen, steht aber offensichtlich unsere nicht be-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft streitbare, kulturell erworbene Fähigkeit gegenüber, Stilausprägungen verschiedenster Artefakte in ihrer kulturellen Gebundenheit rückwirkend einer bestimmten Phase zuzuordnen und sie danach zu beschreiben. Auch die Kategorien Individualstil, Personalstil und Werkstil werden fast ausnahmslos auf literarische (zum Teil auch philosophische und wissenschaftliche) Texte bezogen. Es geht im Kontext der Hochkultur um die Leistung des Einzelnen, durch die Wahl seiner Mittel einem Text bzw. einem ganzen Werk eine ausgeprägt eigene Form zu geben und damit zugleich die eigene Individualität für andere sichtbar zu machen. Es liegt auf der Hand, dass hier unerwartete, nicht kollektiv vereinbarte stilistische Lösungen am Platz sind. Es ist aber ebenso offensichtlich, dass keine der individuellen Lösungen Wirkung hätte, sähen die Rezipienten sie nicht vor dem Hintergrund der üblichen, erwarteten, kollektiv verwendeten Mittel und nähmen sie sie nicht als gewollte Abweichung wahr. Das Kollektive, Soziale, kulturell Vereinbarte „spielen“ im Hintergrund also immer „mit“. Die Betrachtung von Texten der Hochkultur steht gegenwärtig nicht im Zentrum der Stilistik. Jedoch weist Adamzik (vgl. Artikel 85) mit Recht darauf hin, dass Artefakte dieses Bereichs in der Sprachwissenschaft erneut einen Platz bekommen müssten. Das ist aber erst wieder möglich, seitdem der neoidealistische Ansatz der Stilistik durch pragmatisch-funktionale Stilauffassungen abgelöst wurde und so auch die Betrachtung von Artefakten alltagskultureller, nicht literarischer Prägung ihre Berechtigung bekommen hat. Nun kann man sich mit neuem Wissen (z. B. über Stilsemiosis, kulturelle Signifikanz von Zeichen, Text[sorten]- und Stilbeziehungen) auch wieder literarischen Texten zuwenden. Für die Untersuchung alltagskultureller Texte stehen u. a. Kategorien wie Rollenstil, Gruppenstil, soziale Stile zur Verfügung (Fix, Habscheid und Klein 2001; Habscheid und Fix 2003). Sie existieren, weil Stil als soziokulturelles Phänomen an gruppenweise Verwendung und damit an Wiederholung und Wiedererkennung gebunden ist (Linke 2009: 1138): Alle einer Gruppe Zugehörigen tun in derselben Situation dasselbe und stellen damit Gruppenbindung her, das heißt, sie gestalten eine auf Konformität beruhende Beziehung zu den Mitgliedern der Gruppe. Tun sie das aber nicht, sondern weichen sie vom Vorgegebenen ab, ist Distanz zur Gruppe die Folge, oft ein Mittel sozial bestimmter Selbstdarstellung. Wie auch immer man sich stilbezogen entscheidet, man sagt jeweils etwas über sich und sein Verhältnis zur Gruppe aus. Stil wird vor handlungstheoretischem wie kommunikativem Hintergrund auch nach Sachverhalts- und Handlungsbereichen sowie Funktionen und Handlungsarten betrachtet, deren Umsetzung er jeweils dient. Eine Vielzahl von im lebensweltlichen Sinne kulturbezogenen (sich teilweise überschneidenden) Kategorien ist vorhanden. Auf Soziales beziehen sich z. B. die Kategorien Stilregister, Registerrepertoires, Stilschichten. Ihre Anwendung ermöglicht soziale Einbettung und setzt die Fähigkeit voraus, zu entscheiden, welche Stillage für welche Situation die passende ist. Auf Handlungsbereiche bezogen sind Funktionalstile, für einen bestimmten gesellschaftlichen Kommunikationsbereich typische Verwendungsweisen sprachlicher (und anderer) Mittel, die danach eingesetzt werden, wie sie der dominierenden Funktion des jeweiligen Handlungsbereiches wie z. B. Wissenschaft, Institutionen, Alltag, Medien, Literatur am besten gerecht werden. Quer durch die Handlungsbereiche, je nach Situation und Intention werden Handlungstypen (Sandig 1984: 269) wie Verhandlungsstil, Interviewstil, Argumentationsstil eingesetzt. Innerhalb der großen Handlungsbereiche (siehe oben) verfügen Institutionen und
80. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Stilistik Berufsrollen über eigene Stile wie z. B. Gebetsstil, Predigtstil, juristischer Stil, professoraler Stil. Es ist keine Frage, dass die in Auswahl genannten, exemplarisch angeführten Kategorien kulturell vereinbarte Handlungsweisen erfassen. Sie stehen für kollektiv hervorgebrachte Arten, sich in bestimmten Situationen und Handlungsbereichen, mit bestimmten Intentionen und Funktionen, nach festgelegten Rollen- und Gruppenbildern sprachlich angepasst bzw. abweichend zu verhalten. Es ist auch unstrittig, dass es sich um historische Kategorien handelt. Je nachdem, wie eine kulturelle Gemeinschaft ihre Entwicklung nimmt, werden sich auch die Kategorien entwickeln.
5. Entwicklung des Stilbegriffs in der Sprachwissenschaft − aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Üblicherweise werden zwei, zuweilen auch drei Phasen der Entwicklung der Stilistik angesetzt. Alle sind sie, wenn auch unterschiedlich perspektiviert, kulturbezogen. In der ersten, rhetorisch-normativen Phase, „deren systematische[r] Ort bis zum 18. Jahrhundert die Rhetorik“ war (Göttert und Jungen 2004: 23), verstand man unter Stilistiken Regelzusammenstellungen für den richtigen und angemessenen Sprachgebrauch (aptum). Diese Regelwerke „entstanden […] in jeweils prägenden gesellschaftlichen und geistigen Kontexten“ (Göttert und Jungen 2004: 23). Mit der anthropologischen Wende des 18. Jahrhunderts bildet sich eine andere Stilauffassung heraus, die als Folge der Bewusstwerdung des Individuellen Stil nun als Ausdruck des Individuums und des Natürlichen (vgl. Göttert und Jungen 2004) versteht und zugleich als Phänomen der Hochkultur. Soziokulturell bestimmte Normierung gab es freilich auch hier. Um sich individuell, das heißt „anders“ auszudrücken und so verstanden zu werden, muss man sich auf die Vorstellung der Rezipienten von dem, was „normal“ ist, verlassen können. Man kann mit Göttert und Jungen (2004: 24) eine dritte, „analytische Phase“ ansetzen, für die die Autoren als Novum Beobachtung, Beschreibung und Systematisierung von Stil ansetzen, eine Liste, die dringend der Ergänzung durch Theoretisierung bedarf. Kulturelle Bezüge gibt es in dieser Phase immer, wenn man von der unter szientistischem Vorzeichen stehenden strukturalistischen Richtung absieht, die sich an naturwissenschaftlichen Methoden und quantifizierenden Verfahren orientiert und nicht „Wesens-“, sondern „Ordnungseinsichten“ sucht (Fucks 1953: 506). Ausgeprägt kulturalistisch dagegen ist der strukturalistisch-semiotische Ansatz, wie ihn Lotmann (1973) und Mukarovsky (1982) vertreten. Sie berufen sich auf Kultur als hierarchisch organisiertes Zeichensystem. An die Zeichen sind kulturelle Bedeutung und sozialer Wert gebunden. Sprachliche Äußerungen werden erst durch ihre besondere kulturelle Signifikanz zum Text. Dieser Ansatz lebt fort in Stilistiken, die von der Zeichenhaftigkeit des Stils ausgehen (pragmatische und semiotische Auffassung; Sandig 2006; Lerchner 1984) und Stil als eine sekundäre, über die Form konstituierte Bedeutungsebene des Textes betrachten. Die dezidierte Auffassung von Stil als sozial bedeutsamem Phänomen setzt ein mit der Entwicklung der pragmatischen Stilistik (vor allem Sandig 1986, 2006; Püschel 2008), die Stil als „sozial relevante Art der Handlungsdurchführung“ (Sandig 2006: 9) ansieht. Die unterschiedlichen Arten, wie man einen Text (gleich welcher Art) formuliert
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft oder ein Gespräch führt, gelten als bedeutsam für die Aufrechterhaltung bzw. Veränderung sozialer Ordnung (Sandig 2006: 16). Sie dienen der Selbstdarstellung des Textproduzenten, der Gestaltung der Beziehung zum Rezipienten, der Markierung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. zu einem Milieu und sind in Kommunikationsbereichen besonders relevant, in denen soziale Rollen einen hohen Stellenwert haben. Die von der Prager Schule herkommende Funktionalstilistik (Fleischer und Michel 1975; Fleischer, Michel und Starke 1993) geht davon aus, dass es einen korrelativen Zusammenhang gibt zwischen Außersprachlichem (Tätigkeitsbereichen, Kommunikationssituationen) und sprachlichen Gebrauchsweisen, die hierfür jeweils typisch sind. Damit kommen soziokulturelle Bezüge ins Spiel. Nach der Art der außersprachlichen Korrelationen werden Funktionalstile unterschieden (siehe oben), die das ausmachen, was den jeweiligen Funktionszusammenhang präsentiert. Diese Auffassung versteht sich als auf das gesellschaftliche, soziale Funktionieren hin orientiert. Die Gedanken werden in der Textlinguistik (Adamzik 2004) und Soziolinguistik (Löffler 1994) aufgenommen. Grundsätzlich anders ist das Herangehen in der Gesprächsstilistik (Selting 2008), die einem konstruktivistischen, interaktionalen Ansatz folgt. Stil wird, auf das Mündliche bezogen, als eine Erscheinung betrachtet, die gemeinsam von den Interagierenden hervorgebracht und aus sozial und interaktiv interpretierten Merkmalen konstituiert wird. Die Art des Ausdrucks reagiert nicht nur auf die Umstände, unter denen kommuniziert wird, sondern sie schafft die Umstände dieses Kommunikationsereignisses selbst mit und hat demzufolge eine dezidiert soziale Funktion.
6. Kulturbezogene Auffassung von Stil in anderen Disziplinen Deutlich erkennbar wächst das Interesse an der Stilistik wieder: Anregung und Bedarf kommen sowohl „von innen“ wie auch „von außen“. So entdecken z. B. die Teildisziplinen Soziolinguistik, Textlinguistik, Gesprächsanalyse, Kommunikationslinguistik und andere Stil als eine nützliche Analyse- und Erklärungskategorie. Die kulturalistische Reaktivierung der Kategorie Stil und das Ausloten ihrer Möglichkeiten geschehen aber auch sehr stark „von außen“, so z. B. aus der Richtung der Soziologie, der Ästhetik, einer allgemeinen Kulturwissenschaft und, wenn es um Denkstil geht, aus der Wissenschaftstheorie. In der Soziologie stößt man auf die spezifizierten Kategorien Denkstil und Lebensstil. Während beim Gebrauch von Denkstil die wissenssoziologische und kognitive Seite von Stil, das Denken und dessen sozial bestimmte Gestaltung in den Blick genommen wird und damit der Handlungsbereich der Wissenschaft, geht es bei Lebensstil um den kultursoziologischen Blick auf die Gestaltung des Alltags, das heißt darum, dass alle Artefakte, um sinnlich wahrnehmbar zu sein, eine Form bekommen müssen, die etwas über die soziale Eingebundenheit der Artefakte aussagt. Sie ermöglicht das Markieren sozialer Gruppenzugehörigkeit (oder Nichtzugehörigkeit) und deren Wahrnehmbarkeit für die „Beobachter“ (vgl. Bourdieu [1982] 1997; vgl. Artikel 13; Schulze 1995; Soeffner 2000). Das Interesse der soziologischen Ästhetik richtet sich dezidiert auf die Frage, wie Individuen und Kollektive damit umgehen, sich ästhetisch präsentieren und sich dabei für soziales Anpassen oder Abheben entscheiden zu müssen, und wie sie dies zeichenhaft realisieren. Die zentrale Vorstellung von Stil als Mittel des Anpassens an Kollektive wie
80. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Stilistik des Abgrenzens von diesen, die Entwicklung von Distinktionsmustern, begegnet zuerst bei Simmel ([1895] 1998: 57 f.) und als Grundmuster soziologischer Arbeiten später u. a. bei Bourdieu, Schulze und Söffner. Soziale Milieus werden auch durch ihren distinkten Sprachgebrauch charakterisiert. In den Kulturwissenschaften spielt das Problem des Musterhaften und des Abweichens in der Form u. a. eine Rolle bei der Bestimmung der zentralen Kategorie Tradition. Tradition, eine anthropologische Konstante, gilt als für die Fortexistenz von Gesellschaften und für deren Überlieferungsprozesse zuständig. Assmann (1986) fasst die in diesem Kontext von ihr untersuchten kulturellen Anpassungs- und Abhebensverfahren, also Verfahren der Bestätigung oder Gefährdung der Tradition, mit den Kategorien Stil und Stilisierung. Tradition verfügt über restriktive, auch über kreative Stilpotenzen. Gegenüber der restriktiven führt die kreative Potenz zum Abweichen und damit möglicherweise zur Herausbildung neuer, auch stilistischer Traditionen.
7. Ausblick Die Zukunft linguistischer stiltheoretischer Arbeiten wird in der konsequenten Durchsetzung eines kulturwissenschaftlichen Prinzips bestehen. Das macht die fällige, vielversprechende Kooperation mit anderen mit Stil befassten kulturwissenschaftlich arbeitenden Disziplinen möglich. Die sprachwissenschaftliche Stilistik würde auf diese Weise einmal zur Kenntnis genommen werden, was bisher nicht der Fall ist.
8. Literatur (in Auswahl) Adamzik, Kirsten 2004 Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen: Niemeyer. Antos, Gerd und Karl-Heinz Pogner 2003 Kultur- und domänengeprägtes Schreiben. In: Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.), Handbuch interkulturelle Germanistik, 396−400. Stuttgart/Weimar: Metzler. Assmann, Aleida 1986 „Opting in“ und „opting out“. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung. In: Hans Ulrich Gumbrecht und Karl L. Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, 127−143. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Assmann, Aleida 2006 Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Schmidt. Bourdieu, Pierre [1982] 1997 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Daniel, Ute 2002 Kompendium Kulturgeschichte. Theorie, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Feilke, Helmuth 1996 Sprache als soziale Gestalt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Ulla Fix, Leipzig (Deutschland)
81. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Übersetzungswissenschaft
81. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Übersetzungswissenschaft 1. Ausgangspunkt interlingualer Transfer 2. Translationstheorie als Handlungstheorie 3. Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung 4. Machtstrukturen im Feld der Übersetzung
5. Translation als soziale Praxis und politische Ethik 6. Der übersetzungshermeneutische Ansatz 7. Zusammenfassung 8. Literatur (in Auswahl)
1. Ausgangspunkt interlingualer Transfer Übersetzen als Mittlertätigkeit im Dienst der Verständigung in der Welt unterschiedlicher Sprachen ist eine jahrtausendealte Praxis. Erste theoretische Überlegungen dazu traten im Zusammenhang mit der Bibelübersetzung auf, als Übersetzer Rechenschaft über ihr Tun ablegen mussten (vgl. Hieronymus’ Epistel an Pammachius, Über die beste Art des Übersetzens, abgedruckt in Störig 1973: 1−13). Solche Rechenschaftsberichte stellten freilich noch keine Übersetzungswissenschaft dar, sie haben jedoch die Vorstellung vom Übersetzen lange Zeit geprägt. Bereits die Vorreden und Begleitreden, die Übersetzer im 15. Jahrhundert ihren Übertragungen aus dem Lateinischen in die Volkssprachen in den frühen volkssprachlichen Druckschriften beifügten, diskutieren etwa Fragen des Verhältnisses der Sinn-um-Sinn- und der Wort-für-Wort-Übertragungen auf einem hohen theoretischen Niveau. Dabei stand schon bald das spannungsreiche Verhältnis von „Treue“ und „Freiheit“ des Übersetzens, das heißt der methodische Gegensatz zwischen einer genauen Nachzeichnung ausgangssprachlicher Textstrukturen einerseits und der Annäherung an die Verstehensvoraussetzungen der Leser in einer anderen Sprache und Kultur andererseits, im Vordergrund (vgl. etwa Schleiermacher [1813] in Störig 1973: 47 ff. oder Humboldts Einleitung zu seiner Agamemnon-Übersetzung [1816] in Störig 1973: 71 ff.). Die Übersetzungswissenschaft folgte im Grunde seit dem 19. Jahrhundert den Entwicklungslinien der Sprachwissenschaft, die sich von dem frühen philologisch-hermeneutischen hin zu einem eher linguistisch-analytischen Sprachverständnis fortbewegte. Nach dem 2. Weltkrieg entstand eine Forschung zur maschinellen Übersetzung, wobei mithilfe von Computersystemen Satzstrukturen aus einer Sprache automatisch per Analyseprozeduren in eine andere Sprache übertragen werden sollen (Locke and Booth 1955). Neben regelbasierten Modellen hat sich inzwischen insbesondere der statistische oder stochastische Ansatz der maschinellen Übersetzung als Erfolg versprechend erwiesen (Ney 2003). In den 1970er-Jahren hat die sogenannte Leipziger Schule die Übersetzungswissenschaft als linguistische Teildisziplin definiert und ein kommunikationstheoretisches Modell des Informationstransfers zwischen Sender und Empfänger entwickelt. Das wissenschaftliche Interesse konzentrierte sich auf die Beschreibung der Zuordnungsbeziehungen auf der Systemebene der Sprachen als „Aufgabe der linguistischen Übersetzungswissenschaft“ (Koller 1992: 151). Das Übersetzen galt als „interlingualer Transfer“ und das Ziel der Wissenschaft war eine Operationalisierung gefundener Transferregeln unter Wahrung des Informationsgehalts. „Das translatorische Grundproblem besteht demnach
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft darin, die Invarianz auf der Inhaltsebene trotz eines Kodierungswechsels auf der Ausdrucksebene zu wahren“ (Kade 1968: 63). Die Bedeutung kultureller Unterschiede jenseits bloßer Sprachstrukturen rückte nach den Ansätzen des frühen 19. Jahrhunderts und Humboldts Einsicht, „dass die Verschiedenheit der Sprachen in mehr, als in der Verschiedenheit der Zeichen besteht […] und dass mehrere Sprachen in der That mehrere Weltansichten sind“ (Humboldt [1905] 1968: 420), erst wieder in den Blick bei Eugene Nida (1964), der sich im Auftrag der Amerikanischen Bibelgesellschaft um eine wissenschaftliche Grundlegung für Bibelübersetzungen zum Zweck der Mission unter entlegenen indigenen Völkern bemühte. Missionare, die sich in ihrer Verkündigung sehr wörtlich an ihre Bibel hielten, stießen bisweilen auf Unverständnis und unerwartete Reaktionen bei ihren Zuhörern. Nida konzedierte, dass die „Wirkungsgleichheit“ der Sprachzeichen in der Zielsprache wichtiger sei als die wörtliche Übereinstimmung zwischen Übersetzung und Original. Als Übersetzungsmethode wurde die Tiefenanalyse schwieriger Syntagmen in Elementarsätze, deren Transfer in die andere Sprache und dann eine funktionsgerechte Synthese entwickelt (Nida und Taber 1969: 32). Die Wende einer satzbezogenen Linguistik hin zur Textlinguistik gegen Ende der 1970er-Jahre wurde auch von der Übersetzungswissenschaft nachvollzogen, indem „normative Äquivalenzforderungen“ auf Textebene (Koller 1992: 215) entwickelt, „übersetzungsrelevante Texttypen“ (Reiß 1976) entworfen sowie die Sprechakttheorie für die Untersuchung von Textsorten und eine „Strategie des Übersetzens“ (Hönig und Kußmaul [1982] 1996) fruchtbar gemacht wurden und die literarische Qualität in Übersetzungen aufgrund kreativer Sprachformen untersucht wurde (Levý 1969). All dies führte freilich nicht über die Text- und Sprechaktebene hinaus und kulturelle Fragestellungen traten allenfalls am Rand auf.
2. Translationstheorie als Handlungstheorie Die in den 1970er-Jahren erfolgte pragmatische Wende der Linguistik bewirkte auch eine Umorientierung der Übersetzungswissenschaft. Da Reden als zielgerichtetes sprachliches Handeln verstanden werden kann, bietet sich die allgemeine Handlungstheorie als Rahmen für eine Übersetzungstheorie an, die produktionsorientiert Anhaltspunkte geben will. Diese neue Sicht der Dinge im Bereich der deutschen Übersetzungswissenschaft wurde im Wesentlichen durch Hans J. Vermeer (1978) angestoßen. Im Rahmen einer Handlungstheorie kann das Problem der kulturellen Einbettung der Übersetzung angemessener berücksichtigt werden als in nicht pragmatisch orientierten linguistischen Modellen. Vermeer stellte fest: „Translationstheorie […] ist Subdisziplin der ‚interkulturellen Kommunikation‘“ (1978: 99). In diesem Kontext wird Kultur als ein Ensemble von Erwartungsnormen in einer Gesellschaft verstanden (Göhring [1978] 2002: 108), sodass die traditionelle Vorstellung von „Kultur“ als Zeugnis künstlerischer Leistungen überwunden werden kann (Böhme, Matussek und Müller 2000: 165). Und in kritischer Auseinandersetzung mit der linguistischen Vorstellung des Übersetzens als interlingualer Transfer verliert nunmehr − im Sinne der Skopos-Theorie − der Ausgangstext seine bestimmende Stellung, während der Zweck der Übersetzung im Zielbereich zur „Domi-
81. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Übersetzungswissenschaft nante aller Translation“ (Reiß und Vermeer 1984: 96) wird. Mit funktionalen Erwägungen zum Zweck und zu kulturellen Unterschieden zwischen Ausgangs- und Zieltext können nun Abweichungen in einer Übersetzung begründet werden, was einen definitiven Bruch mit der Vorstellung der philologischen Genauigkeit beim Übersetzen darstellt. Der „interkulturelle Transfer“ beim Übersetzen führt zu einer Adaptation entsprechender Aussagen eines Textes im Translat, wenn die Autorintention erreicht werden soll. In einem „Faktorenmodell der Translation“ (Reiß und Vermeer 1984: 148) spielt dementsprechend der Situationskontext in Ausgangs- und Zielkultur die größte Rolle und die Bedürfnisse der Zieltextrezipienten sind für den Translator wichtiger als die Struktur des Ausgangstextes, bis hin zu einer völlig freien Neuformulierung. Dies hat insbesondere die Forschungen zur Funktionsgerechtigkeit von Übersetzungen in der Fachkommunikation befruchtet (Schmitt 1985).
3. Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung Zeitgleich ist in den 1980er-Jahren, aber völlig unabhängig von den Entwicklungen in Deutschland, im englischen Sprachraum eine Form deskriptiver Übersetzungsforschung entstanden, die Descriptive Translation Studies (Toury 1995). Übersetzungen werden nicht mehr an normativen Sinnerwartungen gemessen, sondern sie werden als Produkte, so, wie sie eben sind, analysiert. Übersetzungen gelten als ein kulturelles Faktum, als geschichtliche Objekte in einer Zielkultur. Im Extremfall impliziert dies, dass jeder Text als Übersetzung eines anderen Textes akzeptiert wird, auch wenn es sich nur um Pseudoübersetzungen handelt. Das Augenmerk richtet sich allein auf die Wirkungen der Texte in der Zielkultur. Die Literatur einer Gesamtkultur wird als „Polysystem“ (Even-Zohar 1990) gesehen, das durch den Einfluss von übersetzten Texten Veränderungen erfahren kann. Übersetzungen können durchaus sprachlich eine „innovative, primäre Rolle“ (primary translation) spielen, indem sie ungewöhnliche neue Gedankengänge, Methoden, literarischen Geschmack und fremde Weltbilder in ein literarisches Polysystem einführen. Die meisten Übersetzungen sind allerdings sekundäre Übersetzungen, die sich den stilistischen Normen des zielsprachlichen Polysystems anpassen, ja sogar originäre Charakteristika der Ausgangssprache um einer leichten Lesbarkeit willen aufgeben. Der Beitrag der Übersetzungen zur interkulturellen Bereicherung des literarischen Lebens wurde seit 1983 auch am Sonderforschungsbereich „Die Literarische Übersetzung“ der Universität Göttingen untersucht (Kittel 1988). Das Hauptarbeitsmittel waren Fallstudien, die an einzelnen besonders interessanten oder wirkmächtigen literarischen Texten im Vergleich mit ihren deutschen Übersetzungen angefertigt wurden. Daraus entstand allmählich eine Art Kulturgeschichte der Übersetzung. Das auf diese Weise verstandene Übersetzen spielt sich in einem institutionellen Geflecht von Verlegern, Herausgebern und Literaturkritikern ab, wodurch es nahegelegt wird, auch deren Rolle genauer ins Auge zu fassen.
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4. Machtstrukturen im Feld der Übersetzung Übersetzungen sind immer das Ergebnis eines selektiven Prozesses. Man kann fragen, warum manche Texte gar nicht übersetzt werden und wer Übersetzungen mit welchem Ziel veranlasst. Welches Bild einer fremden Kultur wird in und durch Übersetzungen hervorgebracht? Fragen wie diese konstituieren einen Untersuchungsbereich, der sich in den 1990er-Jahren stark in den Vordergrund der Translationstheorie geschoben hat. Der Forschungsgegenstand wird hier vor allem bestimmt durch die Reaktion von Autoren, Lesern und Übersetzern auf Texte aus ehemaligen europäischen Kolonialländern und durch den Umgang mit deren Sprache und Weltansicht. Übersetzen kann in diesem Kontext insofern als ein „Prozess der Macht“ verstanden werden, als es dem Prinzip der „Assimilation des Fremden“ folgt, also der Anpassung des fremden, zu übersetzenden Textes an die Erwartungen des Zielpublikums. Im Zuge postmoderner Ablehnungen des kulturellen Ethnozentrismus und Kolonialismus wird ein solches Übersetzungsmodell sehr kritisch gesehen und Übersetzer werden immer wieder mit der Aufforderung konfrontiert, sich der Voraussetzungen des Modells bewusst zu werden (Venuti 1995). Es wird in der einschlägigen Literatur kritisch hinterfragt, wie fremde Kulturen in Übersetzungen konstruiert und repräsentiert werden (Bassnett and Lefevere 1998) und welches Machtspiel um Wissens- und Sinnkonstruktionen sich in den Übersetzungen zeigt. Dabei verschieben sich im Raum dieses Wissenschaftsdiskurses durchaus mitunter die ideologischen Positionen. Wie nicht zuletzt in Übersetzungsanthologien deutlich wird, sehen moderne afrikanische Autoren in den ehemaligen Kolonialsprachen heute nicht mehr ein Mittel der Orientierung an der europäischen Norm, sondern Mittel der kreativen Betonung des Unterschiedes, durch die es möglich wird, in einer Fremdsprache das eigene, z. B. afrikanische Denken auszudrücken. Auch das im Rahmen des postmodernen Diskurses sich entfaltende feministische Denken, die Untersuchungen zum vermeintlich anderen, kreativeren Schreiben von Frauen, führte bald zu der Frage nach Strategien „feministischer Translation“ (Flotow 1998). So wurde etwa an der Universität Graz ein Projekt zur feministischen Übersetzungsforschung durchgeführt, in dessen Rahmen Arbeiten über vergessene Übersetzerinnen, die Diskriminierung der Frau durch die Sprache, die Entwicklung frauengerechter Sprache, das Bild der Frau in Romanen und deren Übersetzung entstanden sind (Messner und Wolf 2000). In feministischer Perspektive traten dann im Interesse „kreativer Fehlübersetzung“ (Prunč 2007: 292) häufig Kategorien wie Treue und Verantwortung dem Originaltext gegenüber zurück oder wurden nur selektiv angewendet.
5. Translation als soziale Praxis und politische Ethik In der praktischen Translationsarbeit stellt sich für Übersetzer, die ihre Tätigkeit im Sinne der skizzierten theoretischen Entwicklungen kritisch reflektieren, häufig die Frage, ob und wie sie ihre kritische Position in den Prozess des Übersetzens einbringen können/ dürfen. Ist es legitim, nur solche Texte zu übertragen, die politisch von ihnen vertreten werden können? Die soziale Praxis des Übersetzens kann ethische Implikationen haben. Erich Prunč (2007: 327) deutet in der Forschung einen Paradigmenwechsel zur „Transla-
81. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Übersetzungswissenschaft tionssoziologie“ an, in der die soziale Bedingtheit der Berufsfelder von Translatoren untersucht werden soll. Die zuerst aus deskriptiven Analysen im Sinne postmodernen Denkens gewonnenen Einsichten in ideologische Zusammenhänge des Übersetzens führten nach und nach zu der expliziten Forderung nach einer politischen Haltung der Übersetzer im postkolonialen Diskurs. Der „Postkolonialismus“ entstand um 1980 als internationale, zumeist englischsprachige Intellektuellenbewegung, die mit Polemik und Analysen den fortdauernden Kolonialismus in den Köpfen der westlich-eurozentrischen Theoretiker kritisierte. Verpönt war das Reden über das Wesen „fremder“ Kulturen, betont wurde kulturelle Hybridität. Es drängt sich die Frage nach möglichen Strategien auf, mit deren Hilfe gleichsam „translationspolitisch“ die Übersetzung als Mittel der (geistigen) Entkolonialisierung eingesetzt werden könnte (Tymoczko 2006). In zahlreichen Aufsätzen hat Homi K. Bhabha Repräsentationsformen der „kulturellen Differenz“ und Konzepte der „Hybridität“ und des überkulturellen „Dritten Raumes“ dargestellt und theoretisch entfaltet (Bhabha 2000). Durch Globalisierung und Migration entsteht − wie er zeigt − in der Gegenwart eine Fülle sogenannter hybrider Kulturen, die im Rahmen etablierter Sprachgemeinschaften in ihrer Kommunikation oftmals über hybride Sprachvarietäten verfügen. Die Vorstellung einer treuen Übersetzung durch einen unparteilichen Translator wird unter diesen Voraussetzungen zunehmend fragwürdig und die verordnete Norm der Objektivität scheint nur dem Versuch zu dienen, die Machtspiele zwischen den Kulturen zu verdecken. „Weil Translation per se parteiisch ist, ist es legitim, sie in den Dienst eigener politischer und kultureller Anliegen zu stellen. Die ethische Wertigkeit eines solchen translatorischen Handelns ist […] von dem Ziel, dem die Manipulation dient, abzuleiten“ (Prunč 2007: 296). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Übersetzung notwendig manipulativ sei. Prunč ist überzeugt: „Am Faktor Macht und seiner sozialen Verortung, an der Rekonstruktion der machtgeleiteten Prozesse der Repräsentation, der Produktion von Wissen und Konstruktion von Identitäten und Kulturen führt kein Weg mehr vorbei“ (Prunč 2007: 309). Die Übersetzungen − so Prunčs Ansicht − sollten sich von überkommenen (Äquivalenz-)Normen lösen. Weltweit wird nun die ethische Aufgabe des Übersetzers darin gesehen, die traditionelle Marginalität einheimischer Texte und Sprachen im Vergleich zur Kolonialsprache zu überwinden und das Übersetzen selbst in den Vordergrund zu rücken. So tragen auch die Übersetzungen zum steten Bedeutungswandel der sogenannten Originale bei. Die übersetzerische Ethik hat sich im Rahmen des skizzierten Konzepts theoretisch von einer Loyalität zum Ausgangstext hin zu politischem Aktivismus verwandelt.
6. Der übersetzungshermeneutische Ansatz Aus der Reflexion der gesellschaftlichen Rolle des Translators resultiert freilich die Frage nach dessen Verantwortlichkeit. Nach wie vor gilt ja, dass das Übersetzen eine soziale Dienstleistung ist, um Verständigung zu ermöglichen. Leser erwarten, dass eine Übersetzung den Inhalt der Textvorlage verlässlich wiedergibt, ohne dass das (unverständliche) Original oder gar mehrere Übersetzungen desselben gelesen werden müssten. Überdies muss gefragt werden, wie ein Übersetzer sich von den Machtversuchungen, die mit dem
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Akt des Übersetzens verbunden sind, selbstkritisch freimachen kann, um sich für das zu übermittelnde Fremde in den Kulturen zu öffnen und damit sein Arbeitsziel der Präzision im Übersetzen zu verwirklichen (Stolze 2003: 209). Im Rahmen eines solchen Konzeptes wird Translation als eine Aktivität von Personen und nicht von Maschinen oder abstrakten sozialen Rollen betrachtet und es ergeben sich neue Anknüpfungspunkte an die sprachphilosophische Hermeneutik (Cercel 2010). In hermeneutischer Perspektive sind auf Seiten des Übersetzers ein historisches Bewusstsein, dialogische Offenheit, dynamische Wissensvernetzung und ein breit angelegtes kulturelles und fachliches Wissen neben sicherem Sprachgefühl erforderlich. Ausgegangen wird hier von dem Grundgedanken, dass ein Übersetzer, der mit der Aufgabe einer Textvermittlung betraut ist, den Text zunächst selbst verstehen muss, um dann in der Zielsprache nach der angemessenen übersetzerischen Formulierung zu suchen. Die zu übersetzenden Texte werden im Modus der Übersummativität, Multiperspektivität und Individualität (Paepcke 1986: 103) wahrgenommen: Sie bilden jeweils eine eigene Einheit, deren Sinnganzes mehr als die Summe ihrer Teile ist und die multiperspektivisch von verschiedenen Lesern unterschiedlich interpretiert wird. Eine „hermeneutische Übersetzungskompetenz“ (Stolze 2015) behandelt Texte ganzheitlich und versucht, das von adäquatem Vorwissen im Rahmen des hermeneutischen Zirkels getragene Verstehen zu begründen. Der hermeneutische Zirkel besteht darin, dass der Leser/Übersetzer sein Vorwissen im Interesse des Verstehens an den Text heranträgt, an dem es sich bewähren muss. Der Text seinerseits wirkt im Verstehensversuch modifizierend auf das Vorwissen zurück. Die Adäquatheit des Vorwissens ist also keine fertige Voraussetzung des Verstehens, sondern sie stellt sich kontinuierlich im Zuge der Bewegung des hermeneutischen Zirkels als ein sich ausbildendes und transformierendes „Vorurteil“ (Gadamer 1965: 250 ff.) ein. Das Verständnis wird fundiert mittels „translatorischer Orientierungsfelder“ wie Kontext, Diskursfeld, Begrifflichkeit und Aussageform (Stolze 2015: 167). Beim Formulieren der Übersetzung für Leser in einer anderen Kultur spielen dann Aspekte der Rhetorik wie Kohärenz, Medialität, Stilistik, Textfunktion und Inhaltsspezifik eine wesentliche Rolle (Stolze 2015: 256). Alle diese Aspekte können mit sprachwissenschaftlichen Methoden beschrieben werden, da das Formulieren einer Übersetzung letztendlich ein sprachliches Handeln ist. Dabei geht es nicht um philologische Anpassung, sondern um die holistische Motivation translatorischer Strategien auf der Basis der eigenen Interpretation. Auch wenn ein jeweiliges Verständnis bzw. eine jeweilige Übersetzung immer nur den Status je vorläufiger Entwürfe haben, die bei jedem neuen Gedanken zu Revisionen führen können, wird durch die Forderung nach kritischer Reflexion und dauerhafter Erweiterung der Wissensbasis im Blick auf kulturelle Besonderheiten und fachliche Charakteristika eine Zuverlässigkeit der Übersetzungen angestrebt. Orientierungsmaßstab ist nicht der Ausgangstext in seiner Sprachgestalt, sondern die Homogenität der kognitiv präsenten Mitteilung. Das übersetzerische Ziel der „Stimmigkeit“ (Stolze 2015: 219) ist dann erreicht, wenn eine zielsprachliche Formulierung gefunden wurde, die genau das auszudrücken vermag, was man verstand und hat sagen wollen. Ausgangs- und Zielkultur treffen im Übersetzer aufeinander, denn dieser hat kognitiv Zugang zu beiden. Als Koautor reagiert er weder auf linguistische Strukturen noch auf vorgegebene Machtkonstellationen, sondern formuliert verantwortlich mit dem Blick auf kulturspezifische Besonderheiten und Verstehensvoraussetzungen. Es geht um Enkulturation und nicht um Äquivalenz. Ob im direkten Vergleich zwischen Übersetzung und
81. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Übersetzungswissenschaft Ausgangstext wörtliche oder nicht-wörtliche Bezüge feststellbar sind, ist relativ unerheblich. Entscheidend sind die Präzision der Wiedergabe des Gemeinten und die Wirkung des Ganzen.
7. Zusammenfassung In der Entwicklung der Übersetzungswissenschaft von einem Anhängsel verschiedener sprachwissenschaftlicher Richtungen hin zu einer eigenständigen Disziplin mit dem Forschungsgegenstand der Übersetzung als Prozess und als Produkt zeigt sich deutlich ein allmähliches Bewusstwerden kultureller Faktoren. Immer wieder wurden Anstöße aus benachbarten Disziplinen aufgenommen. Eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Übersetzungswissenschaft ergibt sich immer dort, wo explizit oder auch implizit auf die Bedeutung kultureller Unterschiede verwiesen wird oder diese bei Analysen mit einbezogen werden.
8. Literatur (in Auswahl) Bassnett, Susan and André Lefevere (eds.) 1998 Constructing Cultures. Essays on Literary Translation. Clevedon/Philadelphia: Multilingual Matters. Bhabha, Homi 2000 Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg. Böhme, Hartmut, Peter Matussek und Lothar Müller 2000 Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Hamburg: Rowohlt Cercel, Larisa 2010 Übersetzung und Hermeneutik − Traduction et Herméneutique. Budapest: ZETA Books. Even-Zohar, Itamar 1990 Polysystem Studies. Tel Aviv: The Porter Institute for Poetics and Semiotics. Flotow, Luise von 1997 Translation and Gender. Translation in an ‘Era of Feminism’. Manchester: St. Jerome. Gadamer, Hans-Georg 1965 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2. Aufl. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck). Göhring, Heinz [1978] 2002 Interkulturelle Kommunikation. Die Überwindung der Trennung von Fremdsprachen- und Landeskundeunterricht durch einen integrierten Fremdverhaltensunterricht. In: ders., Interkulturelle Kommunikation. Anregungen für Sprach- und Kulturmittler, hg. v. Andreas F. Kelletat und Holger Siever, 107−130. Tübingen: Stauffenburg. Hönig, Hans G. und Paul Kußmaul [1982] 1996 Strategie der Übersetzung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. 4. Aufl. Tübingen: Narr. Humboldt, Wilhelm von [1905] 1968 Über den Nationalcharakter der Sprachen. In: ders., Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 17 Bde. Bd. IV, 420− 435. Berlin: B. Behr’s. Nachdruck Berlin: de Gruyter. Kade, Otto 1968 Zufall und Gesetzmäßigkeit in der Übersetzung. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie.
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Radegundis Stolze, Darmstadt (Deutschland)
Neuorientierungen New directions 82. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Pragmatik 1. 2. 3. 4. 5.
Überblick Ethnomethodologie Interkulturelle Pragmatik Interaktion und kulturelle Skripte Die Interaktionsmaschine
6. Kulturalität und gemeinsame Aufmerksamkeit 7. Resümee 8. Literatur (in Auswahl)
1. Überblick Die Thematisierung kulturwissenschaftlicher Fragestellungen in der Perspektive der Pragmatik hat unterschiedliche, teilweise konkurrierende Forschungstraditionen und -paradigmen hervorgebracht. Ausgehend von der Darstellung der ethnomethodologischen Forschungstradition sollen die Ansätze der interkulturellen Pragmatik sowie die Theorie der kulturellen Skripte vorgestellt werden. Vertiefend soll auf die Konzeption einer kulturell geprägten Interaktionsmaschine sowie auf die Vorstellung einer kulturkonstitutiven Kooperation kommunizierender Zeichengeber eingegangen werden. Insgesamt wird sich zeigen, dass innerhalb der pragmatischen Theoriebildung vor allem modernerer Prägung ein reiches Reservoir an kulturwissenschaftlichen Themen und Perspektiven vorliegt.
2. Ethnomethodologie In den Vierziger- und Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich das sozialwissenschaftliche Paradigma der Ethnomethodologie, wie es von Harold Garfinkel unter dem Einfluss des phänomenologischen Soziologen Alfred Schütz begründet worden war (s. Garfinkel 1967a, 1967b; Schütz 1932). Stand für Schütz die Kategorienbildung und Typisierung durch den Menschen als soziales Wesen in seiner alltäglichen Einstellung im Vordergrund, so transponierte Garfinkel diese Grundfragestellung in die Perspektive der beschreibenden Soziologie, und dies mit dem Ziel, die weitgehend unbemerkten Hintergrundannahmen des alltäglichen Handelns sichtbar und aus der Perspektive der Handelnden selbst beschreibbar zu machen. Die Ethnomethodologie, die darauf aufbauende Konversationsanalyse (s. u. a. Sacks, Schegloff and Jefferson 1974) sowie die Ethnographie des Sprechens (Hymes 1962) haben wesentlich dazu beigetragen, Fragen zur kulturellen Bedingtheit sprachlichen Handelns in den Mittelpunkt des sozial- wie sprachwissenschaftlichen Interesses zu stellen. Unter dem Stichwort der Ethnographie der Kommunikation (Gumperz and Hymes 1972)
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft kristallisierten sich sehr früh Ansätze heraus, die das Gesprächsverhalten sowohl im angelsächsischen Kulturbereich als auch in anderen Kulturen kontrastierend untersuchten und somit wichtige Einsichten in die Spezifik kommunikativ-kultureller Muster ermöglichten. Gleichzeitig wurden in der ethnisch-kulturellen Verschiedenheit diejenigen Züge deutlich, die kulturübergreifend festgehalten werden konnten und den Vergleich überhaupt erst ermöglichten, so etwa in Bereichen des turn-taking und des Respekterweisens. Vor dem Hintergrund dieser frühen Ansätze wurden Konzepte entwickelt, die sich stärker auf die sprachliche Signalisierung von kultureller Zugehörigkeit bezogen und unter dem Stichwort der Kontextualisierung spezifische sprachliche Merkmale, etwa beim Code-Switching, festzumachen erlaubten (v. a. durch Gumperz 1982; Auer 1992). In einer Perspektivenumkehr wurden differente Formen sprachlicher Kommunikation nicht nur als Anzeichen von oder Signal für kulturelle Zugehörigkeit aufgefasst, sondern auch als konstituierende Elemente für Kultur und in weiterer Konsequenz als prägend für die Ausbildung kognitiver Kategorien, und dies in ausdrücklicher Berufung auf das Konzept der (kulturellen) Relativität (Gumperz and Levinson 1996).
3. Interkulturelle Pragmatik Die Auffassung sprachlichen Kommunizierens als Teil einer kulturellen Praxis wird darüber hinaus in Studien zur interkulturellen Pragmatik vertreten, die sich auf spezifische Phänomene wie z. B. dasjenige der sprachlichen Realisierung von Höflichkeit beziehen. Hier wird untersucht, welches Reservoir an Realisierungsmöglichkeiten für Sprechakte in unterschiedlichen Sprachen vorliegt (so Kasper and Blum-Kulka 1993). Auf der anderen Seite ist in einer universellen Perspektive Höflichkeit vor allem von Leech (1983) sowie Brown und Levinson (1978, 2007) untersucht worden, die sich auf Konstanten der Gesichtswahrung in der Kommunikation beziehen. An diese Arbeiten hat sich eine interkulturelle Höflichkeitsforschung angeschlossen, die Kodierungen von Nähe, Distanz, Ehrerbietung u. a. in den Fokus nimmt (s. hierzu die Sammelbände von Watts 1992; Bargiela-Chiappini 2011; Ehrhard, Neuland und Yamashita 2011). Eine Kritik und Reformulierung der auf Grice zurückführenden Ansätze der (inter)kulturellen Pragmatik unternimmt Istvan Kecskes (s. Kecskes and Zhang 2009), der sich innerhalb eines dynamischen Bedeutungsmodells (dynamic model of meaning) vom statischen Gebrauch pragmatischer Kernbegriffe wie Intention, Kooperation, gemeinsamer Hintergrund (common ground) distanziert und die genannten Instanzen sprachlichen Kommunizierens als aus dem Diskurs emergent auffasst. Gerade Situationen interkultureller Kommunikation zeigen seiner Meinung nach deutlich, dass nicht von einem festen, für alle Beteiligten gemeinsamen Hintergrundwissen ausgegangen werden kann. Vorherrschend ist vielmehr eine egozentrische Sicht der beteiligten Kommunikationspartner, die auf dem Weg eines Trial-and-Error-Verfahrens im Lauf der Kommunikation wechselseitig angepasst wird und so auf dynamische Weise konversationelle Kooperation hervorbringt. Grundlegend für Kommunikation ist also nicht a priori wechselseitiges Wissen, sondern zunächst individuelles und sodann in der Situation erzeugtes gemeinsames Wissen (s. a. Kecskes and Mey 2008).
82. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Pragmatik
4. Interaktion und kulturelle Skripte Neben den Forschungsfeldern der interaktionalen Soziolinguistik und der interkulturellen Pragmatik stehen in neuerer Zeit vor allem zwei einflussreiche Ansätze im Vordergrund, die die Frage nach dem Verhältnis von Kulturwissenschaft und Pragmatik von den Voraussetzungen für Kulturentstehung und -entwicklung her stellen. So wird einerseits die Erforschung der kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens auf kulturanthropologischer Basis vorangetrieben (vor allem Tomasello 2010, 2011), andererseits wird Kommunizieren als Teil einer kulturellen Praxis aufgefasst, innerhalb derer Formen der Interaktion in ihrer kulturspezifischen Ausprägung identifiziert und beschrieben werden können (z. B. in neueren Ansätzen von Enfield und Levinson [2006]). Durch diese Forschungsanstrengungen kann einerseits der Begriff der nicht-natürlichen Bedeutung genauer auf seine kulturellen Wurzeln zurückgeführt werden, indem seine Entwicklung beim Kind eingebettet wird in die Entstehung des ökologischen Selbst und des sozialen Selbst; so wird eine Abgrenzung gegenüber naturalistischen Bedeutungstheorien möglich, die sich auf den Begriff der natürlichen Bedeutung als Grundlagenbegriff für eine allgemeine Sprach- und Kommunikationstheorie beziehen (so beispielsweise Garrett Millikan 2004). Andererseits entsteht durch die Arbeiten von Enfield und Levinson die Möglichkeit, sprachliches Kommunizieren in Verbindung mit anderen signifikanten Faktoren wie Mimik, Gestik sowie der räumlichen Positionierung der Gesprächspartner in ihrer jeweils spezifischen Medialität auf kulturübergreifende Gemeinsamkeiten hin zu untersuchen. Die gebrauchsbasierte Vorstellung einer interaction engine (Enfield and Levinson 2006) steht dabei in einer Gegenüberstellung zu kognitionswissenschaftlich basierten Begriffen einer social cognition (Jackendoff 1992, 2007), eines cognitive culture system (Talmy 2000) oder eines interaction gene (Pinker 1997). Dem eher universalistisch orientierten Ansatz von Enfield und Levinson stehen kulturrelativistische Ansätze gegenüber, die von kulturspezifischen Sprechhandlungsmustern ausgehen und nur in einem aufsteigenden Vergleich zu (wenigen) kulturübergreifenden Kategorien gelangen. Als eine ausdifferenzierte Position ist diejenige von Anna Wierzbicka zu nennen, die in ihrer Konzeption eines cultural script strikt einer bottomup-Strategie folgt, wobei sie dann als Ergebnis eines mehrstufigen Abstraktionsprozesses zu explizit universellen Einheiten einer semantischen Metasprache gelangt (s. Wierzbicka 1997, 2003). Ein cultural script bezieht sich auf stillschweigend akzeptierte Normen, Werte und Praktiken, die in einer bestimmten Gesellschaft etabliert sind. Sie werden dokumentiert in einer natürlichen semantischen Metasprache, deren Funktion es ist, diese Normen u. a. auf den Begriff zu bringen. Es geht dabei einerseits um die sprachspezifische semantische Beschreibung von Ausdrücken, in denen der jeweilige kulturelle Kernbestand kodiert ist, aber es wird auch auf Redensarten, Kollokationen bis hin zu konversationellen Routinen und Anredeformen zurückgegriffen. In einem weiteren abstraktiven Schritt wird dann auf der Basis des Vergleichs der einzelsprachlichen Befunde das allen natürlichen Sprachen gemeinsame Grundvokabular ermittelt, das in Form konzeptueller Primes auftritt. Diese weisen kombinatorische Eigenschaften auf, die letztlich eine „universelle Grammatik“ der scriptbezeichnenden Ausdrücke ergeben. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes ist die Verallgemeinerung zu dem Paradigma der Ethnopragmatik durch Goddard (2002, 2006). Im Licht dieser Gegenüberstellung wird man das Verhältnis von sprachlichem Handeln und Kultur grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen universalistischer und relati-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft vistischer Perspektive festmachen müssen. Bevor konkrete Fragestellungen aufgeworfen werden, soll allerdings auf eine wichtige begriffliche Voraussetzung hingewiesen werden. Sprachliches Handeln − der Gegenstand der Pragmatik − und Kultur können nicht widerspruchsfrei als zwei unabhängige Instanzen einander gegenübergestellt werden, vielmehr ist sprachliches Handeln in seinen etablierten sowie weniger etablierten Formen als Teil der kulturellen Praxis einer Sprechergemeinschaft aufzufassen. Das begriffliche Dilemma, das dadurch entsteht, dass Sprache und Kultur einander gegenübergestellt werden, andererseits aber sprachliche Verfahren zu den kulturellen Verfahren einer Sprechergemeinschaft gerechnet werden, lässt sich am ehesten dadurch auflösen, dass man Erstere als einen Teil Letzterer auffasst, wobei dann die Frage sinnvoll nur nach der Beziehung von sprachlich-kulturellen zu nicht-sprachlich-kulturellen Verfahrensweisen gestellt werden kann.
5. Die Interaktionsmaschine Als eine einflussreiche Position mit universalistischer Grundtendenz wurde der Ansatz von Enfield und Levinson skizziert. In Form eines neuen Forschungsprogramms stellen sie die Untersuchung der Vergesellschaftung des Menschen in den Vordergrund (human sociality), die an der Fähigkeit zum strukturierten interaktiven Austausch festgemacht wird. Diese Fähigkeit beruht vor allem auf der Teilhabe an einer gemeinsamen mentalen Welt, die sich konstituiert aus spezifischen wechselseitigen Erwartungen an das Verhalten, die Glaubenseinstellungen und das Wissen der jeweils anderen. Diese Art der kooperativen, mental vermittelten Interaktion ermöglicht die Akkumulation kulturellen Kapitals, das letztlich für die historische Emergenz von Kultur eine wesentliche Vorbedingung darstellt (s. Enfield and Levinson 2006: 1). Die Grundthese des von Enfield und Levinson entwickelten Forschungsprogramms lautet, dass die Weitergabe einer Welt von sozialen Organisationen und Werten von Generation zu Generation eine Entlastungsfunktion hat, die es nicht mehr notwendig macht, die gesellschaftlichen Konstruktionsleistungen immer wieder aufs Neue zu erbringen (s. Enfield and Levinson 2006: 1). Kultur wird dabei als ein interdependentes Netzwerk von Phänomenen aufgefasst, die als spezifisch menschlich gelten können, wie Kooperation, die Fähigkeit zur Zuschreibung von Intentionen, geplante Täuschung u. a. Insofern liegt hier also ein konträrer Entwurf zum dynamischen Bedeutungsmodell von Kecskes vor. Allen Ansätzen dieses Levinsonschen Forschungsparadigmas ist gemeinsam, dass sie Kulturalität auf die Fähigkeit zur Zuschreibung von Handlungen, Motiven, Intentionen und Glaubenseinstellungen und auf die daraus folgenden Interpretationsleistungen zurückführen. Als Teilparadigmen, die jeweils relevante Aspekte dieses Netzwerks näher beleuchten, werden die Theory of Mind, die Gricesche Pragmatik, die schon erwähnte Mikroanalyse sozialer Interaktion sowie die evolutionäre Anthropologie genannt (s. Enfield and Levinson 2006: 4 ff.). Theory of Mind ist dabei die Bezeichnung für die Fähigkeit eines Individuums, anderen Individuen mentale Zustände (wie Glauben) zuzuschreiben, wobei diese Zuschreibung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt geleistet werden kann. Ontogenetisch wird die Ausbildung einer Theory of Mind als eine Voraussetzung zur Durchführung gemeinsamen Handelns aufgefasst, was wiederum als Vorstufe der kulturellen Entwicklung des Kindes gesehen werden kann. Ihr Fehlen wird allgemein als Kriterium für Entwicklungsstörungen wie Autismus aufgefasst (s. Baron-Cohen 1995).
82. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Pragmatik Als zweite Säule der mentalen Welt wird das Gricesche Kommunikationsmodell benannt, das schon in der Architektur der Bedeutungserklärung das Erkennen kommunikativer Intentionen enthält. Als Folge einer Theory of Mind ist die Fähigkeit der Zuschreibung von Intentionen durch einen Adressaten zu sehen, wobei dies wiederum Gegenstand einer − sekundären − Intention des Sprechers ist. Grundlegend für das kommunikative Verstehen ist die Annahme der jeweiligen Adressaten, dass das verwendete Zeichen im Sinne eines „recipient design“ (s. Sacks and Schegloff 1979) gewählt wurde, also im Hinblick auf die interpretative Kompetenz des Adressaten. Die Zuschreibung einer kommunikativen Intention wird dabei vor einem Hintergrund von Kooperativitätsannahmen gemacht, die die Schlussprozeduren zur Ermittlung der Äußerungsbedeutung in entscheidender Weise beschränken und leiten (s. Grice 1975). Kulturelles Wissen wird in diesem Modell − bzw. in seiner Interpretation durch Enfield und Levinson − ausdrücklich auch auf den Zeichengebrauch selbst bezogen, sodass einerseits kulturelle Artefakte als emergentes Produkt des Zeichengebrauchs aufgefasst werden − also im Sinne von Sprache als Kultur. Auf der anderen Seite werden die reichen Hintergrundannahmen in Form von Kooperativitätsunterstellungen, die wiederum in einzelnen Maximen oder Prinzipien ausdifferenziert sind, als gleichsam geronnene Formen des Kommunizierens und als Voraussetzungen für kommunikatives Verstehen aufgefasst − also im Sinne von Sprachgebrauch auf der Grundlage von kulturell bedingten Prinzipien (s. Enfield and Levinson 2006: 6). So erscheint hier die eingangs vollzogene Gegenüberstellung von Sprache und Kultur/Sprache als Kultur in einer Sichtweise aufgehoben, die von der jeweils eingenommenen Perspektive auf den Prozess der Intentionszuschreibung abhängt. Die beiden weiteren Bereiche, die von Enfield und Levinson genannt werden (Mikroanalyse sozialer Interaktion/evolutionäre Anthropologie) sind entweder wie Ersterer schon erwähnt worden oder werden wie Letzterer noch ausführlicher behandelt werden, sodass sie hier lediglich genannt werden. Es soll stattdessen noch ein Blick auf den Versuch von Levinson geworfen werden, die menschliche Fähigkeit zu sozialer Interaktion und damit zur Kulturgenese auf eine universelle human interaction engine zurückzuführen, eine Interaktionsmaschine, die den Menschen dazu befähigt, in sozialen Austausch mit seinen Mitmenschen zu treten (s. Levinson 2006). Das kulturanthropologische Programm von Levinson kann auf den Nenner gebracht werden, dass bei der Suche nach universellen Strukturen des menschlichen Geistes nicht auf die Sprache fokussiert wird, sondern vorgängig universelle Züge oder Strukturen der Interaktion ausgemacht werden, die zumindest teilweise sprachlichen oder kulturellen Unterschieden zwischen Ethnien unterliegen (s. Levinson 2006: 40). Insofern wird hier durchaus ein universalistisches Programm vertreten, andererseits aber eines, das einen glatten Gegenentwurf zur Idee einer universellen Grammatik darstellt. Sprache ist, wie Levinson herausstellt, nicht das Explicans, sondern das Explicandum (Levinson 2006: 42). Ist die Struktur der alltäglichen menschlichen Interaktion der zu untersuchende Gegenstand, so sind die spezifisch menschlichen Fähigkeiten, die der kulturell geprägten Interaktionsstruktur unterliegen, das Erkenntnisziel eines solchen kulturanthropologischen Forschungsprogramms. Interaktion ist das Vehikel für Kultur (Levinson 2006: 55), wobei die dabei wirksame Interaktionsmaschine nicht als starres Formgebilde zu verstehen ist, sondern als ein Bündel allgemeiner Prinzipien, die mit lokalen Prinzipien zusammenwirken, um so zu unterschiedlichen kulturellen Konstruktionen zu führen.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
6. Kulturalität und gemeinsame Aufmerksamkeit Ein weiterer Ansatz, der hier exemplarisch vorgestellt werden soll, ist das einflussreiche Paradigma der evolutionären Anthropologie, das u. a. von Michael Tomasello vertreten wird. Im Fokus der Forschungsanstrengungen dieser Forschergruppe steht − so einer der Buchtitel − die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (Tomasello 2006). Kulturalität wird hier von den Voraussetzungen her gedacht, die handelnde und kommunizierende Individuen im frühen Kindesalter erwerben und auf deren Grundlage sie kulturelle Artefakte als solche erkennen und handelnd beeinflussen können. In Übereinstimmung mit der Griceschen Sprach- und Kommunikationstheorie ist eine wesentliche Voraussetzung hierfür das Erkennen und Zu-erkennen-Geben von Intentionen im Zuge der Interaktion mit Erwachsenen, wobei der sich herausbildende Begriff von Intentionalität die Möglichkeit eröffnet, Gegenstände der alltäglichen Umwelt als Resultat intentionalen Handelns auf unterschiedlichen Ebenen aufzufassen. Auf diese Weise wird kulturelles Verstehen rückgebunden an seinen Ursprung in der Ontogenese, nämlich an die Kompetenz, Intentionen zuschreiben zu können sowie die Zuschreibung von Intentionen durch andere ebenfalls zu intendieren. In vielfältigen experimentellen Studien können Tomasello und andere zeigen, dass es Kleinkindern schon ab einem Alter von ca. neun Monaten darauf ankommt, mit hinweisenden Zeigegesten andere über einen Gegenstand oder Sachverhalt zu informieren, wobei nicht nur der Gegenstand bemerkt, sondern auch die Geste als Zeigegeste erkannt und ratifiziert werden soll (s. Tomasello, Carpenter and Liszkowski 2007). Indem sie ein soziales Selbst herausbilden, beginnen Kleinkinder, eine Reihe von Verhaltensweisen zu zeigen, die auf das Ziel der gemeinsamen Aufmerksamkeit (joint attention) ausgerichtet sind, und diese Fähigkeit ist nur möglich, wenn andere Personen als intentionale Akteure verstanden werden, deren Beziehungen zu äußeren Gegenständen dann verfolgt werden können (s. Tomasello 2006: 84) Es wird angenommen, dass dem Kind die Fähigkeit angeboren ist, ein Verständnis für seine Artgenossen als intentional Handelnde auszubilden, wobei diese Entwicklung durch die Identifikation mit den Erwachsenen in Gang gesetzt wird. Intentionales Verstehen erschließt so dem Kind die spezifisch menschlichen Formen kultureller Vererbung, denn es kann so − wie schon erwähnt − die intentionsgeprägte Dimension der Verhaltensmittel erkennen, die andere zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen. Eine der Kernthesen von Tomasellos Forschungsprogramm lautet, dass Kinder nur dann in der Lage sind, die kognitiven Fertigkeiten ihrer Mitmenschen, die sich in einem spezifischen kulturellen Milieu manifestieren, zu nutzen, wenn sie zur Zuschreibung von Intentionalität in der Lage sind. Das Hineingeborenwerden in ein reiches kulturelles Milieu kann zwar für diesen Prozess unterstützend wirken, ist aber allein nicht hinreichend, wenn die benannte Fähigkeit nicht aufgebaut wird. Kooperativität ist dabei eine wesentliche Grundlage für den Prozess der wechselseitigen Intentionszuschreibung und dies ist, verglichen mit (anderen) Primaten, eine spezifisch menschliche Praxis. Kooperieren, also das konkurrenzfreie Verfolgen eines gemeinsamen Ziels erfordert einen freigiebigen Austausch von Information. Andere zu informieren ist allerdings eine Praxis, die bei nicht-menschlichen Primaten nicht vorkommt. Aus den Studien Tomasellos ergibt sich, dass Kinder schon ab einem Alter von circa zwölf Monaten, also vor dem Einsetzen des Spracherwerbs, andere durch Gesten informieren; die untersuchten Schimpansen und anderen Menschenaffen allerdings verwenden weder Zeigegesten noch andere Kommunikationsmittel, um andere hilfreich zu informieren. Auch ein Verständnis informierender
82. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Pragmatik Zeigegesten ist nicht gegeben. An der Praxis des kooperativen Informierens im Kindesalter lassen sich also in verdichteter Form die Kernelemente der Kulturgenese aufzeigen, und zwar sowohl ontogenetisch im Sinne einer früh einsetzenden Fähigkeit der Intentionszuschreibung also auch phylogenetisch im Sinne einer gegenüber Primaten spezifisch menschlichen Fähigkeit (s. Tomasello 2010).
7. Resümee Die vorgestellten Ansätze einer kulturwissenschaftlichen Pragmatik zeigen, dass eine Theorie des sprachlichen Handelns und der kommunikativen Kooperativität ohne Reflexion auf die kulturellen Grundlagen des Zeichengebrauchs nicht möglich ist. Dabei geht es einerseits um die Kulturbedingtheit sprachlicher Kommunikation in einer Perspektive der Emergenz oder aber im Sinne gegebener Interaktionsmuster in Anlehnung an den von Pierre Bourdieu geprägten Begriff des Habitus (s. Bourdieu 1976; vgl. Artikel 13), andererseits um die Ausbildung der Kategorie der Intentionalität beim Kind als Voraussetzung für das Erkennen und die Aneignung kultureller Artefakte. Die Entstehung kommunikativer Muster, ihr Gebrauch und ihr Erwerb als konstitutiver Teil der kulturellen Praxis einer Gesellschaft stellen somit einen genuinen Gegenstand der Pragmatik dar.
8. Literatur (in Auswahl) Auer, Peter and Aldo di Luzio (eds.) 1992 The Contextualization of Language. Amsterdam: Benjamins. Baron-Cohen, Simon 1995 Mindblindness: An Essay on Autism and Theory of Mind. Cambridge, MA: MIT Press. Bargiela-Chiappini, Francesca (ed.) 2011 Politeness across Cultures. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Bourdieu, Pierre 1976 Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brown, Penelope and Stephen Levinson 1978 Universals in Language Usage: Politeness Phenomena. In: Esther Goody (ed.), Questions and Politeness: Strategies in Social Interaction, 56−289. Cambridge: Cambridge University Press. Brown, Penelope and Stephen Levinson 2007 Politeness: Some Universals in Language Usage. 3 rd ed. Cambridge: Cambridge University Press. Cicourel, Aaron V. 1974 Methode und Messung in der Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Cicourel, Aaron V. 1975 Sprache in der sozialen Interaktion. München: List. Dunbar, Robin (ed.) 1999 The Evolution of Culture. Edinburgh: Edinburgh University Press. Duranti, Alessandro (ed.) 2001 Key Terms in Language and Culture. Malden: Blackwell.
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Frank Liedtke, Leipzig (Deutschland)
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IV. Linguistics as the study of culture
83. Culture and the notion of discourse 1. Discourse and culture: first approximations 2. Theories relating culture to discourse 3. A constructionist view of the relationship between culture and discourse 4. Selected references
1. Discourse and culture: first approximations Discourse, as it is understood here, refers to the entirety of human verbal communications, or texts, anywhere and from its beginnings to the present. For the most part, this discourse has been lost; only tiny fragments, most of them fairly recent, have been recorded and are accessible to analysis. This discourse in general is rarely an object of analysis. More often we study special discourses, delimited by various parameters such as a time segment, a region, a defined set of situations, speakers, keywords, a defined saturation of intertextual links between its texts, rather than links to texts outside. The parameters are set either by observers external to the discourse in question (e. g. discourse analysts), or by observers inside the discourse (members of the discourse community). They are arbitrary and have to be negotiated with the discourse communities concerned, whether that of the external or internal observers. Normally not all contributions to a given special discourse are accessible for analysis, and a contingent sample of them (a corpus) will have to be compiled according to defined principles. There are many other discourse definitions. Often discourse is said to be a social practice. However it is argued here that it is discourse alone that constitutes society and consequently constructs all social practices including itself by way of autopoiesis (cf. Teubert 2010). Culture can be viewed as a modern concept born in the 18th century in western discourse, a concept that can be applied by discourse external and internal observers to any discourse. A rather exhaustive historical overview is to be found in Jörg Fisch’s entry Zivilisation, Kultur in the encyclopaedia Geschichtliche Grundbegriffe. According to Fisch, culture can never be part of the non-symbolic world outside discourse: “If we could look at culture free of values and purely descriptively, then it wouldnʼt be culture but nature, in the sense of something existing independently of humankind, and would have to be regarded as such; humankind itself would be no more than a part of nature.” (Fisch 1992: 680, my translation). Culture is seen as what distinguishes humankind from nature. Opinions differ as to whether culture is not also material. Fisch views culture as symbolic, i. e. as negotiated within a discourse, and rejects the idea that culture also includes the materiality (natural objects, artefacts and individuals) of a social world. Others see it as an interplay between the real world (the world outside discourse) and the meaning assigned to it. Andreas Reckwitz (2002) discusses the issue of materiality in his synopsis of a range of contemporary cultural theories. A. L. Kroeber and Clyde Kluckhohn (1952), too, provide a useful overview of 164 definitions of culture. Here are some further examples: “Culture may be defined as behaviour peculiar to homo sapiens, together with material objects used as an integral part of this behaviour, specifically, culture consists of language,
83. Culture and the notion of discourse ideas, beliefs, customs, codes, institutions, tools, techniques, works of art, rituals, ceremonies, and so on.” (Tylor 1871: 1) “The essence of a culture is not its artifacts, tools, or other tangible cultural elements but how the members of the group interpret, use, and perceive them.” (Banks and McGee Banks 1989: 8) “Culture consists of patterns explicit and implicit, of and for behaviour acquired and transmitted by symbols, constituting the distinctive achievements of human groups, including their embodiments in artifacts.” (Kroeber and Kluckhohn 1952: 47) “[Culture] denotes a historically transmitted pattern of meanings embodied in symbols, a system of inherited conceptions expressed in symbolic form by means of which men communicate, perpetuate, and develop their knowledge about and attitudes toward life.” (Geertz 1973: 89) “Human beings live in societies and create cultures. […] The ‘symbol’ replaces the gene as the chief organizing component of social evolution. Although based upon a set of general organic capabilities, the symbolic qualities of social systems have to be learned anew by each generation. […] Communication is the basis of culture and language the basis of communication.” (Giddens 1986: 264).
While some definitions juxtapose discourse-external artefacts or social practices and their interpretation, others take a more constructionist approach that locates culture solely in symbolic interaction between the members of a discourse community, understood as society. In other words, discourse is either informed by culture, or it constitutes culture. Natural objects, artefacts, social institutions such as marriage or ideology, and the individual turned subject, too, whether monadic or collective, are conceived of as either creating culture or being created by it. Another question is to whether culture is seen as creating itself through discourse, by discussing and interpreting social phenomena in terms of culture, or whether it is seen as the result of social practices. The relationship between culture, discourse and society has been discussed in a number of (often overlapping) transnational research paradigms, some of which will be discussed below. Other relevant approaches are left aside due to lack of space, for instance pragmatism, the history of mentalities, and poststructuralism. Sadly, but not surprisingly, most of the schools dealing with these issues are situated outside the sphere of linguistics.
2. Theories relating culture to discourse 2.1. French discourse theories At the height of the (neo)structuralist movement in France, visible in the enormous influence Claude Lévi-Strauss wielded over intellectual life, there were already the beginnings of a countermovement. One is associated with R. Barthes; the other with M. Foucault (cf. article 12). Barthes’ approach was semiotic. While he had a wide view of the semiotic, including not only language but all kinds of material signs, culture for him was less the acts of individual creators (authors) than the impact texts and other semiotic
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IV. Linguistics as the study of culture commodities have on their consumers. For Barthes, still distinguishing between discourse and meta-discourse, culture is the ensemble of myths, socially constructed narratives of all sorts which become naturalised over time in discourse, and not their interpretation (Barthes 1968). For Foucault, neither producers nor consumers of culture (understood as semiotic content) are agents. As subjects, they are bound to construct their selves according to the requisites demanded by the dominant discourses of which they are part. They follow the procedures “suggested or prescribed to individuals in order to determine their identity, maintain it or transform it […], through relations of self-mastery or self-knowledge” (Foucault 1997: 87).
2.2. Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies The Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (set up in 1964 and shut down in 2008) took a (neo-)Marxist approach to cultural studies, situating culture in a class context. The leading figure was Stuart Hall. The Centre’s intellectual roots include Mead, Williams, Thompson and neo-Marxists like Gramsci and Althusser, but also Barthes and Foucault. The materiality of culture (for instance a cover photo) was understood as the representation of a discourse construct, for instance of beliefs, values and behaviours associated with the depicted object. Meaning is largely the result of hegemonic discourse and thus ideological. Culture is communicated as media discourse and thus becomes a commodity controlled by the hegemony; people have to accept it as consumers due to the lack of an alternative forum (Hall 1997).
2.3. Critical discourse analysis (CDA) and discourse-theoretical analysis (DTA) Norman Fairclough (Fairclough (1989): Language and Power) is seen as the founding father of Critical Discourse Analysis (CDA), developed since the 1980s as a linguistic approach inspired by Halliday’s systemic functional grammar. It superseded the earlier programme of Critical Linguistics (Hodge and Kress [1979] 1993). Other key proponents are Ruth Wodak and Teun van Dijk. CDA views discourse as a social practice forming the base of all cultural construction. Indebted to Foucault, Bakhtin and Kristeva, but also to Althusser’s neo-Marxism, its emancipatory agenda seeks to reveal the manipulative ideological content of dominant discourses (e. g. media discourse). CDA is frequently criticised because it does not subscribe to a particular linguistic methodology and is therefore considered by some to lack objectivity. In recent years corpus linguistics seems to have become the more generally endorsed research paradigm. Profoundly inspired by Laclau and Mouffe (2001), Nico Carpentier and his group have developed over recent years Discourse Theoretical Analysis, which differs from CDA in its more explicit poststructuralist and post-Marxist agenda and in its constructionist stance, maintaining that not only objects but subjects, too, are discursively constituted. The range of cultural topics is similar to CDA, but also to the Birmingham Centre, featuring media, arts, advertisements, virtual realities and internet blogs (Carpentier and Spinoy 2008).
83. Culture and the notion of discourse
2.4. Sociology of knowledge Mannheim’s sociology of knowledge (Mannheim [1929] 1968) together with Schütz’ lifeworld (Schütz [1932] 1967) sparked off Berger’s and Luckmann’s The Social Construction of Reality (1966), a paradigm distinguishing the natural world, about which true scientific knowledge can be obtained, from social reality, which is negotiated between the members of a culture and thus symbolic. Stimulated by Foucault, it has focused since the mid-nineties of last century on discourse (conceptualised as the “materiality of discursive events, actors, practices, dispositifs and knowledge structurings” (Keller 2011: 53), and has begun to assert the communicative construction of reality. Culture is seen as both stable and open to change, as “the meaning of signs, symbols, images, actions or things is more or less fixed in socially, spatially, and temporally or historically situated (and therefore transformable) order of signs” (Keller 2011: 51). David Bloor and his Edinburgh school of the sociology of scientific knowledge go further and favour a strong programme which denies a fundamental distinction between nature and social structure, between true and false beliefs, thus moving towards a more relativistic constructivism (Bloor 1999). An overview of some relevant trends can be found in Stehr and Meja (2005).
2.5. Social constructionism There are three distinct relevant camps of social constructionism dealing with culture, discourse and society. One is the Discourse and Rhetoric group at the University of Loughborough, represented mainly by Potter (1996) and Ashmore, which now mostly focuses on a post-cognitive programme of Discursive Psychology: “Discursive psychology builds upon the traditions of rhetoric (in the sense of Michael Billig) and ethnographic studies of cultures. People are viewed as having ways of describing and explaining their actions within the set of cultural practices” (Edwards 2009). A similar approach is connected with the group around Shotter and Kenneth and Mary Gergen, with their specific view of the social construction of the self through symbolic interaction (Shotter 1984; Gergen and Gergen 2010). Harré and his followers reject the relativism particularly of the Loughborough group and argue that symbols in any code have to be grounded lastly in innate natural, universal concepts, thus advocating a special variety of realism (Harré 1986). A comprehensive criticism of social constructionism is found in Hacking (1999).
2.6. Cultural anthropology Cultural anthropology is a diverse field. Ethnomethodology, an approach originally developed by Garfinkel, shares many notions with social constructionism. For Geertz (cf. article 14) his discipline is part of the humanities, and far removed from the hard sciences. His agenda of thick descriptions has its emphasis on the semiotic, and its focus on interpretation: “Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in
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IV. Linguistics as the study of culture search of meaning” (Geertz 1973: 5). Ethnographic description is “interpretive; what it is interpretive of is the flow of social discourse; and the interpreting involved consists in trying to rescue the ‘said’ of such discourse from its perishing occasions” (Geertz 1973: 20). This view is shared by Kuper (1999: 227), who describes culture as “a matter of ideas and values, a collective cast of mind. The ideas and values, the cosmology, morality, and aesthetics, are expressed in symbols, and so − if the medium is the message − culture could be described as a symbolic system.” The discursive aspects of culture as a perspective of a given society, and of culture as the object of anthropological observers, have been explored in Clifford’s and Marcus’ seminal reader Writing Culture (1986).
2.7. John Searle’s social reality In more recent times, Searle, originally firmly rooted in the metaphysical realism associated with much of analytic philosophy, and an early proponent of the philosophy of mind, came to distinguish the natural world, about which true statements can be made, from the social world, which he now sees as a social construct created through a speech act of declaration. For him, culture is “the manifestation of collective intentionality”, (Searle 1995: 228) a concept more or less equivalent to that of social constructionism. His distinction between the reality of nature and social reality resembles the division made in the early sociology of knowledge. In Making the Social World (Searle 2010: 93, 109, 114 f.), Searle insists that “all institutional facts are linguistically created and linguistically constituted and maintained”, that “[l]anguage is constitutive of social reality” and that “nonlinguistic institutional phenomena [can] be explained only in terms of language”.
2.8. Hermeneutics Hermeneutics is the art of making sense of a text or a text segment (or any non-textual semiotic sign) by viewing it as a node in a diachronically organised network of other texts or text segments to which this text/text segment is intertextually linked. While Schleiermacher still primarily sought to understand the author’s intentions, more recent approaches, those by Gadamer and Ricœur in particular, aim at interpreting the text in question as a reaction to texts preceding the text (segment) in question and provoking reactions in subsequent texts. Interpretation is collaborative in so far as it takes place within an interpretive community. Gadamer’s objective is to achieve a fusion of the temporal horizon in which the text in question emerged, with the horizon of its interpreters, informed by everything that has been said about ever since it entered discourse. “[T]he horizon of the present cannot be formed without the past. There is no more an isolated horizon of the present in itself than there are historical horizons which have to be acquired” (Gadamer 1989: 305). Only discourse can create meaning: “Language is the fundamental notion of operation of our being-in-the-world and the all-embracing form of the constitution of the world” (Gadamer 1989: 3). Interestingly, his concept of Bildung translates as culture in English, even though Gadamer contrasts it with Kultur, a concept not valued highly by him. As he sees it, Kultur is what can be acquired in a methodical way, while Bildung is a contingent state of one’s mind: “Bildung is not
83. Culture and the notion of discourse achieved in the manner of a technical construction” and it “has no goal outside itself” (Gadamer 1989: 10). Thus Gadamer’s concept of Bildung resembles culture, as it is understood, for instance, by Geertz.
2.9. Niklas Luhmann’s systems theory In Luhmann’s systems theory (cf. article 15), society manifests itself in communication, i. e. in what is here called discourse. Society for Luhmann is what happens in the space between monadic subjects, who themselves are not part of it and only loosely coupled with it. “Communication is not a direct transmission of meaning or information between persons. Instead, communication forms a closed system in relation to which the persons communicating belong to the environment” (Arnoldi 2001: 6). Communication cannot be seen as action, only as process, as conscious action and intentionality are merely discourse constructs. Communication, or discourse, is an autopoietic, self-referential, organic, contingent system developing unpredictably over time, a system that makes sense by observing itself (cf. Luhmann 1998: 105 et passim). We can look at communication, or discourse, from two perspectives, from the inside or from the outside. Luhmann borrows from von Foerster the concept of second-order observation, which seeks to avoid the blind spots that first-order observation cannot do without. Thus it institutes a second observer who observes the first observer’s self-observation, just as the cultural anthropologist observes the sense a population makes of itself. Luhmann is predominantly interested in the origin of our modern western concept of culture, which he dates back to the 17th century. He relates it to the then gradually emerging interest in comparing materialisations of culture, a “deconstruction of being ‘Sein’ and appearance ‘Schein’,” leading to an abstraction from materiality and creating the notion of culture as a selfreferential object of discourse (Luhmann 1995: 40).
3. A constructionist view of the relationship between culture and discourse Interpretation is free, and so my reading of the approaches detailed above cannot be but biased. New ideas do not merge ex nihilo; they are not the fruits of solitary minds. It is the contingent reformulation, permutation and recombination of what has been said before that creates innovation. Together, these approaches have led to my own synthesis, which I set forth here. All innovation results from sharing and exchanging symbolic content. “Culture,” says Edward Tylor, “is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society” (Tylor 1871: 1). Culture and discourse are two aspects of the same human capability, namely to go beyond nature by collaborating in assigning meaning to the world outside and to the behaviour we exhibit and encounter. Culture, as understood here, is the discursive reflection or interpretation of the sense members of a discourse community ascribe to the environment they share. The discourse of culture is self-referential. It keeps talking about itself. We discuss what has been said about the world we live in and about the objects of this world, including ourselves and other
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IV. Linguistics as the study of culture people, all of which has been created by talking about it. What appears to us as the world outside, with its discrete items, material and immaterial objects, processes, states, events and subjects, is the world as it is constructed in and through discourse. By taking part in discourse, we try to match our interpretation of the world with that of our discourse partners, or try to improve on it. We tell each other what we observe, what is happening, what we are doing and what others are doing, thus creating customs, beliefs and morals. Without language there is no culture. Feral children can survive in wilderness, but without people to communicate with they cannot have culture. Making sense is a collaborative effort. Culture presupposes collectivity. Culture is the collaborative activity of endowing a shared reality with meaning. People do it by talking about it. For in any given situation it takes at least two to pick out an as yet unnamed segment or aspect of an already discursively constructed reality and to agree on the sign which stands for it. At any iteration of this sign, it will be embedded in a new context, which may cause dissent. Thus meaning needs to be continually renegotiated. Whenever we contribute something to discourse, we do it because we feel the need to react to what has been said before. Every new interpretation will make us see our shared reality in a new light. Symbolic interaction implies renewing, endorsing, modifying, or dismissing previous contributions to discourse. Discourse is, of necessity, plurivocal. Culture is the progression of interpretations of what already has been interpreted, continually introducing innovation in form of deviance from previous reified conceptualisations. Discourses and cultures have a diachronic dimension. Like other autopoietic, self-organising systems, they keep evolving in contingent and unpredictable ways. The discourses we distinguish do not occur in isolation from each other. They are all part of discourse at large. New interpretations often result from the confrontation with the way in which reality is constructed in a different discourse. For discourses, and consequently cultures as well, do not exist in isolation. They overlap, they disseminate and they feed on each other. Everyone takes part in a multitude of discourses, e.g. private, professional, national or intellectual discourses. Interdiscursivity is the well of cultural change. Culture is one of the phenomena constructed by discourse, as is society and its subjects, and as is discourse itself. Subjects can observe culture only if culture is already part of their discourse. Even before the arrival of anthropologists, societies without a concept of culture practiced culture, but did not rubricate this practice as culture. The anthropological observers tend to equate culture with the presence of social institutions, the categories of which they have arbitrarily constructed in their own culture, for instance kinship, marriage, work, property, or behavioural codes. Thus the observers approach the culture under observation with the parameters offered by their discipline, and the society they observe will try to make sense of their observers and their parameters by relying on their own parameters. As a result, both cultures, both discourses will change. As hermeneutics tells us, there is no other way. All cultural analysis cannot be but biased. The goal is never scientific truth, but widening the horizon of understanding both for external observers and those observing themselves. Cultural analysis, just like discourse analysis, is not a hard science based on a spelt-out methodology. It is part of the humanities, the sciences humaines, the Geisteswissenschaften. What academic culture research can contribute is no more than extracting relevant evidence from a discourse under observation, organising and presenting it to those concerned. This interpretive communi-
83. Culture and the notion of discourse ty consists of both the academic peers and of the people whose culture is concerned. It is up to both of them to reflect the procured evidence and thus to add a new layer of interpretations on top of those which already exist. Those contributing to a discourse or a culture are its subjects. What we call a subject is contingent; it has been constructed in discourse. Personhood as we take it for granted is not a natural category. Ever since the 18th century, subject in the western world tends to mean an autonomous individual, endowed with reason and intentionality and free to act as they want. But that is by no means a universal concept. People in the modern western world grow up in symbolic interaction with carers who constantly tell them about their feelings, their thoughts, their reflections, their plans, their actions, and they encourage children to do the same. To perceive oneself as a diachronically continuous self, responsible today for yesterday’s deeds, as a person thinking of herself as having free will, and forced to compete with others, does not come naturally. It presupposes consciousness, the awareness of selfhood in others, and the capability to frame one’s behaviour as planned and leading to an intended result. While agency, intentionality and self-awareness appear universal from a western observer’s perspective, discourses of many non-western societies, for instance Samoan discourse (Duranti 2006: 34), find no gain in talking about it. Western culture, too, has a tradition of rejecting agency when activity results in unintended and disadvantageous consequences. The global financial crisis of 2008 was described by leading bankers not as their doing, but as an infelicitous concatenation of events for which no one is to blame. The subsequent austerity measures, too, are seen not so much as exacted by somebody’s arbitrary agency than necessitated by the universal laws of economics. However if austerity leads to riots, then our hegemonic discourse considers rioting individuals criminally responsible for the damage that takes place. A culture always speaks in more than one voice. Culture is the result of an (ongoing) symbolic interaction of assigning meaning to one’s shared reality. In collaboration with others, we can change the meaning attached to signs, we can re-construct the objects our discursive reality consists of. Those taking part in a culture or discourse form a virtual interpretive community, a community which is free to replace the inherited cultural reality with one of their own choosing. Today, much of what is on offer is provided by an increasingly monopolised media discourse representing the hegemonic apparatuses of a society, and much is presented as incontestable factuality. But it is up to discourse communities themselves to make sense of the world they encounter in discourse. While we, the subjects, are ourselves constructs of culture and discourse, we can also take charge of what has constructed us. People do not have to accept interpretations forced upon them. They can make up their own mind. Once they learn that culture is less a given, and more something to collaboratively create, they can replace any official culture by one that suits their own interests, diverse as these may be.
4. Selected references Arnoldi, Jakob 2001 Luhmann. An Introduction. In: Theory, Culture & Society 18, 1−13. Banks, James. A. and Cherry A. McGee Banks 1989 Multicultural Education. Issues and Perspectives. Boston, MA: Allyn & Bacon.
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Wolfgang Teubert, Birmingham (United Kingdom)
84. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gesprächsforschung 1. Einleitung 2. Aspekte einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Gesprächsforschung 3. Zur Dynamisierung des Kulturkonzeptes in der Gesprächsforschung − die interaktive Konstruktion von Kultur: doing culture
4. Schlussfolgerung 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Vor gut 120 Jahren vertrat Hermann Paul (1880: 6) die Position, dass die Sprachwissenschaft nicht nur eine Kulturwissenschaft sei (hierzu auch Auer 2000: 57), sondern − aufgrund ihres Gegenstandes wie auch angesichts der Elaboriertheit ihrer Methoden − die Kulturwissenschaft par excellence darstelle, zumal Historizität und Kulturalität unablösbar mit Sprache verwoben seien (s. Günthner und Linke 2006: 7−8). Umso erstaunlicher ist es, dass die Sprachwissenschaft bis heute − wie die Herausgeber des Handbuchs
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft (Jäger et al. in der Einleitung dieses Handbuchs) zu Recht betonen − „an kultur- und medienwissenschaftlichen Debatten der Geistes- und Sozialwissenschaften nur zögerlich und insgesamt zu wenig teilgenommen“ hat (hierzu auch Günthner und Linke 2006). Bis ins 21. Jahrhundert hinein hat sich der „Mainstream“ der Linguistik mit einem äußerst reduzierten Gegenstands- und Interessensbereich begnügt und Kultur zum Epiphänomen erklärt (Jäger 2006). Diejenigen Teilbereiche der Linguistik, die sich dennoch mit kulturwissenschaftlichen Fragen befassen, wie die Soziolinguistik, die Anthropologische Linguistik, die Gender Studies, die Gesprächsforschung, die Interkulturelle Kommunikationsforschung etc., haben ihre Konstitution vor allem Anstößen von außen zu verdanken wie den kommunikationstheoretischen Überlegungen von Grice (1967), der Sprechakttheorie (Austin [1962] 1975), der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967), der Konversationsanalyse (Sacks, Schegloff and Jefferson 1974), der Ethnographie der Kommunikation (Gumperz and Hymes 1964, 1972), Goffmans Interaktionssoziologie (1981, 1986) etc. Diese motivierten sie dazu, Sprache in ihrer tatsächlichen Verwendung und damit im sozialen Handeln zu betrachten. Bezeichnenderweise wurden (und werden teilweise heute noch) diese Ansätze von der strukturalistisch orientierten „Kernlinguistik“ als „Bindestrich-Linguistiken“ bzw. als „Linguistik light“ ausgegrenzt (hierzu detaillierter Günthner und Linke 2006; Ehlich 2006; Jäger 2006; Senft 2006).
2. Aspekte einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Gesprächsforschung Zahlreiche Arbeiten der Gesprächsforschung, die sich der Sprachverwendung in informellen wie institutionellen, in face-to-face- wie in medial vermittelten Kommunikationssituationen widmen, veranschaulichen, dass sprachliche Bedeutung kulturell geprägt ist und folglich eine Analyse von Sprache in Alltagsinteraktionen nicht ohne Einbezug kultureller Kontexte sinnvoll möglich ist; dies erfordert die Anreicherung der Konversationsanalyse mit ethnographischen Daten (s. Gumperz 1982 sowie Günthner 1993: 37 ff.). In diesem Sinne sind auch das Plädoyer von Deppermann (2000) bzgl. der Notwendigkeit einer „ethnographischen Gesprächsanalyse“ sowie die Texte in den von Di Luzio, Günthner und Orletti (2001) und Kotthoff (2002) herausgegebenen Sammelbänden zu Kultur und Kommunikation zu verstehen. Einerseits stellt Sprache die Ressource dar, die Mitgliedern von Gemeinschaften die soziale Konstruktion von Wirklichkeit (Berger und Luckmann [1966] 1969) überhaupt erst ermöglicht; zum anderen fließt kulturelles Wissen sowohl in die Produktion als auch in die Interpretation sprachlichen Handelns ein (Gumperz 1982; Günthner 1993; Foley 1997; Senft 2006). Betrachtet man ein simples Beispiel wie Verabschiedungsroutinen in Alltagsinteraktionen, so wird bereits ersichtlich, dass für die Interpretation von Formeln wie Auf Wiedersehen!, Tschüss!, Ade!, Adele!, Hau rein!, Servus!, Ciao!, Mit freundlichen Grüßen!, hdl, LG, Auf Wiederhören! etc. kulturelles Wissen unabdingbar ist und damit Wissen darüber, welche Alternativen in einer kulturellen Gemeinschaft zur Verfügung stehen, welche Formen welche sozialen Kontexte indizieren und welche Bedeutungen damit kontextualisiert werden (soziale Nähe vs. Distanz, regionale oder soziale Zugehörigkeit, Formalität vs. Informalität, kommunikative Gattungen, Mündlichkeit/Schriftlichkeit, mediale Kommunikation etc.). Für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Gesprächsforschung können darüber hinaus
84. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gesprächsforschung aber auch kulturübergreifende Fragen von Relevanz sein, wie: Weshalb verwenden Menschen überhaupt verfestigte Routinen zur Verabschiedung? Wann verabschieden wir uns mittels Routineformeln und wann nicht (s. auch Duranti 1997)? Weshalb enden SMSBotschaften häufig ohne Verabschiedungsfloskeln und weshalb fehlen sie bei Briefen dagegen nur selten? Wie kommt es, dass man sich in China mit Gehen Sie langsam! (Man man zou!) und in der Türkei mit Gehen Sie lachend! (Güle, güle!) verabschiedet? Für die Entwicklung einer kulturwissenschaftlich orientierten Gesprächsforschung war neben der Ethnomethodologischen Konversationsanalyse vor allem das in den 1960er-Jahren von den Anthropologen und Sprachwissenschaftlern John Gumperz und Dell Hymes (1964, 1972) begründete Forschungsprogramm der „Ethnographie des Sprechens“ (später: „Ethnographie der Kommunikation“) prägend. Innerhalb dieser Forschungsrichtung, die an die von Boas, Sapir, Whorf, Haas etc. etablierte Tradition der Vernetzung sprachwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Fragestellungen anknüpfte, wurden empirische Untersuchungen zum Sprachgebrauch in divergierenden kulturellen Gruppen durchgeführt. Diese beleuchteten nicht nur die Vielfalt sprachlicher Formen und Funktionen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten (Gumperz and Hymes 1964, 1972; Bauman and Sherzer 1974; Saville-Troike 1977, 1982; Duranti 1988), sondern sie trugen auch entschieden dazu bei, Sprache als zentrale Grundlage kommunikativen Handelns im jeweiligen sozialen und kulturellen Umfeld zu erfassen (hierzu auch Günthner und Linke 2006): Analysen von Sprache wurden in den Alltag zurückgeholt und damit zu den Menschen, die mittels Sprache (mündlich wie auch schriftlich, in unterschiedlichen informellen wie auch formellen, privaten wie auch institutionellen, massenmedial vermittelten etc. Kontexten) kommunizieren. Dabei zeigte sich rasch, dass sprachliche Praktiken stets kulturelle Praktiken sind (Günthner 1999; Di Luzio, Günthner and Orletti 2001): Welche Handlungen wir wem gegenüber in welchen Kontexten mit welchen sprachlichen Mitteln ausführen, kann ohne Rückgriff auf Analysen kultureller Praktiken nicht zufriedenstellend erforscht werden (hierzu auch Gumperz 1982; Günthner 1993, 1999; Gumperz and Levinson 1996; Di Luzio, Günthner and Orletti 2001; Günthner und Linke 2006). Auch wurde deutlich, dass der Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur sehr viel komplexer und weniger additiv ist, als eine bloße Nebeneinanderstellung von „Sprache und Kultur“ suggerieren könnte (Günthner 1999; Günthner und Linke 2006). Kultur und Sprache lassen sich nicht einfach als zwei voneinander getrennte Entitäten betrachten (Silverstein and Urban 1996); Kultur ist kein dem Interaktionsprozess „aufgepfropftes Etwas“, sondern integraler Bestandteil jeder menschlichen Interaktion: Einerseits manifestieren sich kulturelle Prozesse in der kommunikativen Praxis − beispielsweise in der Art, wie wir sprechen und handeln bzw. wie wir die Äußerungen und Handlungen des Gegenübers interpretieren, wie wir Ereignisse konzeptualisieren. Zum anderen werden aber auch kulturelle Konventionen, Ideologien, Werte, Kategorien etc. in der Kommunikation konstruiert, reproduziert und modifiziert (Günthner 2003, 2011).
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
3. Zur Dynamisierung des Kulturkonzeptes in der Gesprächsforschung − die interaktive Konstruktion von Kultur: doing culture In Anlehnung an den Sozialkonstruktivismus (Berger und Luckmann [1966] 1969) geht die Gesprächsanalyse davon aus, dass soziale und kulturelle Phänomene (wie kulturelle Zugehörigkeit, Gender, Status, formelle/informelle Situationen etc.) keine gegebenen Entitäten darstellen, sondern von den Interagierenden mit produziert werden. Die Gesprächsanalyse fragt folglich danach, wie diese sozialen Phänomene und Kontexte in konkreten Alltagshandlungen erzeugt werden und somit auch wie kulturelle Zugehörigkeiten und Differenzen in alltäglichen Interaktionen konstruiert werden (Günthner 1999, 2013a). Mit dieser Frage nach der alltäglichen Konstruktion sozialer Wirklichkeit im interaktionalen Handeln zeichnet sich zugleich eine Dynamisierung des Kulturkonzeptes ab: Kulturelle Diversitäten, Zugehörigkeiten wie auch Ausgrenzungen werden nicht länger als gegebene Entitäten, sondern als alltägliche Errungenschaften im Sinne von doing culture betrachtet, das Mitglieder von Gemeinschaften in ihren Alltagsinteraktionen durchführen (s. auch Günthner 1993, 1999, 2010, 2011, 2013a, 2013b; Sarangi 1994; Günthner und Luckmann 2001, 2002; Hörning und Reuter 2004; Kotthoff 2004). Mit dem Konzept des doing X wird − in Anlehnung an die Arbeiten der Ethnomethodologen Harold Garfinkel (1967) und Harvey Sacks ([1964−68] 1992a, [1968−72] 1992b) − der Aspekt der interaktiven Hervorbringung sozialer, als selbstverständlich und gegeben betrachteter Phänomene betont. Zugleich werden die methodischen Weisen, in denen Interagierende diese scheinbar sozialen Gegebenheiten in Alltagsgesprächen selbst produzieren, fokussiert. Für die Gesprächsanalyse bedeutet dies, dass sie sich der detaillierten Beschreibung und Analyse derjenigen kommunikativen Umstände und diskursiven Praktiken zuwendet, unter denen Kulturalität, kulturelle Zugehörigkeiten, soziale Kategorien etc. interaktiv erzeugt und erfahren werden (Günthner 1999, 2011, 2013a): Was tun GesprächsteilnehmerInnen, um kulturelle Differenzen bzw. Zugehörigkeiten interaktiv relevant zu setzen bzw. wie setzen sie diese relevant und zu welchem Zweck? Dieser Prozess der interaktiven Herstellung von kulturellen Zugehörigkeiten − von doing culture − soll im Folgenden anhand eines Gesprächsausschnittes illustriert werden. Das Gespräch entstand in Zusammenhang mit einem von mir geleiteten Forschungsprojekt zu Sprache und Migration. StudentInnen führten narrative Interviews mit Jugendlichen in verschiedenen Jugendzentren in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen durch (für die Aufzeichnung des vorliegenden Gesprächs danke ich meiner Hilfskraft Anna-Lena Körber). Die Studentin Ira unterhält sich mit den Jugendlichen Samir, Ali, Mesut und Karim über Jugendsprache und deren Unterschiede zur Sprache der Erwachsenen. Der folgende Ausschnitt setzt ein, nachdem Samir und Ali Ausdrücke in Arabisch, Kurdisch und Deutsch präsentiert haben, die sie als typisch für ihre Jugendsprache betrachten und die sich ihrer Meinung nach von der Sprache der Erwachsenen unterscheiden. Ab Zeile 114 führt Samir typische Begrüßungsformeln an, die die Jugendlichen („wir alle“; Z. 115) bzw. Vertreter der jeweiligen kulturellen Gruppen verwenden: JUGENDZENTRUM NORDDEUTSCHLAND: Interview 17 (2009) 113
Ali
das sind ja die UNterschiede eigentlich hh’ von jetzt so ge[sehen von-]
84. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gesprächsforschung 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156
Samir [das sind die-]das sind die ähm WÖRter was wir alle sagenzum beispiel, der ARaber sagt immer () der KURde sagt immer (.) ez kurbAne cane te. ((wörtliche Übersetzung: ‚ich opfere mein Leben für dein Leben‘)) [der deu ] ja der TEU- DEUtsche sagt zum beispiel MOIN MOI:N; Ali [( )] Ira ((lacht)) Samir oder ( ) Ali diese wörter (und) sätze setzen eigentlich nur wir kaNACKen ein; also bei beispiel jetzt die DEUTschen, hOlländer die und diese REST;
und das ist ja eigentlich in DIEse richtung; s’s (bisschen) FRÖHlicher; (–) [bei uns ist] wollen wir einfach nich EINsetzen; ??? (( lacht )) weil bei uns geht SO was nicht AB. und das hört sich bisschen (.) verSCHWULT an; [das ist einfach] bei uns dieser SLANG, ??? ( )] Ali und das auch das ist EINfach so. Samir zum beispiel bei uns ist das so, weiß nichtwenn wir zigaretten GEben, dann sagen wir aber die deu- ey
S? ((lacht)) Samir da komm ich drauf nIE so klar, zum beispiel in der BErufsschuLE? die sagen ey
da DENK ich immer soey wegen so einer ZIgarette, und dann sagen die auch noch DANkeschön, dann bedanken sie sich für den to- für den TOD, was eigentlich RICHtig [( )] Karim [( )] JUgendsprache ( ) Samir ja ja WEIß ich ja und zum beispiel,
Samir liefert zunächst Beispiele für Begrüßungssequenzen unter Jugendlichen in verschiedenen Sprachen (Arabisch, Kurdisch und Deutsch). Den „generisch“ eingeführten Vertretern der jeweiligen ethnischen Gruppe („der ARaber“ Z. 117 und „der KURde“ Z. 118) werden Begrüßungsformeln in der betreffenden Sprache zugeordnet: „der ARa-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft ber sagt immer “; „der KURde sagt immer“; „ez kurbAne cane te.“ (Auf Deutsch übersetzt bedeutet dies: „ich opfere mein Leben für dein Leben“). Hier sei angemerkt: Arabische MuttersprachlerInnen gaben an, dass das Wort „worek“ nicht arabisch sei. Die betreffenden Jugendlichen übersetzten „worek“ (im Gespräch selbst) u. a. als ‚hallo und so‘. In Zeile 119 führt Samir schließlich auch „den Deutschen“ ein, der mit „MOIN MOI:N;“ grüßt. Ali setzt in Zeile 124 zu einer Erläuterung ein und führt gegenüber Ira aus, dass nur „wir kaNACKen“ solche „wörter (und) sätze“ verwenden. Die Selbstattribuierung ist insofern aufschlussreich, als hier eine von außen stammende negative Kategorisierung von der entsprechenden Gruppe (Jugendliche mit Migrationshintergrund) aktiv aufgegriffen und als Selbstkategorisierung umfunktionalisiert wird. Die zuvor erwähnten Kurden und Araber weist Ali nun der sozialen „Wir“-Gruppe der „kaNACKen“ zu, die sich auch sprachlich von den Deutschen, die sich mit einem in Norddeutschland unmarkierten „MOIN MOI:N“ begrüßen, unterscheidet. Mit der Zuordnung „wir kaNACKen“ (Z. 124) werden zugleich kulturelle Differenzen zwischen uns („wir kaNACKen“) und ihnen (den Deutschen) situativ konstruiert und damit ein Zuschreibungsprozess des „Eigenen“ und „anderen“ in Gang gesetzt (Hahn 1994: 140; Günthner 1999). Ali baut ab Zeile 124 die von Samir begonnene Kontrastierung der Redeweisen zwischen den Arabern und Kurden auf der einen Seite und den Deutschen auf der anderen Seite aus und konstruiert weitere kulturelle Zugehörigkeiten: Die Deutschen werden nun zusammen mit den Holländern und „diese[m] REST“ (Z. 125) einer gemeinsamen Gruppe zugeordnet, die sich mit einem beschwingt und freundlich klingenden „guten ↑TAG, wie ↑gEhts;“ (Z. 126−127) begrüßt. Diese Art der Begrüßung lehnen die Jugendlichen für sich selbst ab: „wollen wir einfach nich EINsetzen;“ (Z. 130), „weil bei uns geht SO was nicht AB.“ (Z. 132). Mit der Bewertung „das hört sich bisschen (.) verSCHWULT an;“ (Z. 133) bringen sie die Sprechweise der „DEUTschen, hOlländer“ und dem „REST“ mit Verweichlichung bzw. einem unmännlichem Duktus in Verbindung. Die kultur- und ethniengebundene Zuweisung von Gesprächsstilen und Interaktionsweisen wird schließlich von Samir weiter ausgebaut, indem dieser das Ausborgen und sich Bedanken für Zigaretten als weiteres Beispiel zur Kontextualisierung einer Opposition zwischen „uns“ (Z. 137, 139, 140) und „die deu-“ (Z. 141) liefert. Mit dem in direkter Redewiedergabe präsentierten Dialog untermauert er die zuvor aufgebauten kulturellen Zugehörigkeiten und Abgrenzungen: Während die eigene Gruppe („wir“) eine klare und deutliche Sprache spricht: „NIMM“ (Z. 140), stilisiert Samir die Rede der verweichlichten Deutschen („die deu“; Z. 141), die mittels einer leise und sanft klingenden Stimme die Rückgabe der Zigarette am nächsten Tag versprechen: „“ (Z. 142) bzw. „“ (Z. 144). Samir mokiert sich hierbei über den höflichen Gesprächsduktus der Deutschen: „und dann sagen die auch noch DANkeschön,“ (Z. 152). Als ironische Bewertung fügt er hinzu: „dann bedanken sie sich für den to- für den TOD,“ (Z. 153). Anhand dieser Sequenz lässt sich beobachten, wie die Interagierenden im Sinne von doing culture kulturelle Zugehörigkeiten und Differenzen aufbauen und relevant setzen. Die eingeführten kulturellen Kategorien („die DEUTschen, hOlländer die und diese REST;“ vs. „wir kaNACKen“) werden hierbei durch entsprechende „kategoriengebundene Aktivitäten“ (Sacks 1992a), wie durch divergierende Arten der Begrüßung und des sprachlichen Habitus beim Ausborgen von Zigaretten, gestützt.
84. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gesprächsforschung
4. Schlussfolgerung Geht man davon aus, dass soziale und kulturelle Wirklichkeiten nicht einfach gegeben sind, sondern von Mitgliedern in ihrem alltäglichen und sozialen Handeln erzeugt werden, so erweist sich die verbale Kommunikation als zentraler Ort zur Erforschung kultureller Phänomene. Kultur offenbart sich wesentlich darin, wie Interagierende in ihren Alltagspraktiken soziale Aktivitäten herstellen, wie sie soziale und kulturelle Kategorien erzeugen und wie sich Konventionalisierungen und Habitualisierungen als Ergebnis kommunikativer Praktiken konstituieren.
5. Literatur (in Auswahl) Auer, Peter 2000 Die Linguistik auf dem Weg zur Kulturwissenschaft? In: Freiburger Universitätsblätter 147(39), 55−68. Austin, John L. [1962] 1975 How to Do Things with Words. Oxford: Oxford University Press. Bauman, Richard and Joel Sherzer (eds.) 1974 Explorations in the Ethnography of Speaking. London/New York: Cambridge University Press. Berger, Peter und Thomas Luckmann [1966] 1969 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer. Deppermann, Arnulf 2000 Ethnographische Gesprächsanalyse: Zum Nutzen einer ethnographischen Erweiterung für die Konversationsanalyse. In: Gesprächsforschung online 1, 96−124. (Online unter: http://www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2000/heft2000.html [letzter Aufruf 4. 7. 2015]). Di Luzio, Aldo, Susanne Günthner and Franca Orletti (eds.) 2001 Culture in Communication. Amsterdam: Benjamins. Duranti, Alessandro 1988 Ethnography of Speaking: Towards a Linguistics of the Praxis. In: Frederick J. Newmeyer (ed.), Linguistics: The Cambridge Survey IV: Language: The Socio-Cultural Context, 210−228. Cambridge: Cambridge University Press. Duranti, Alessandro 1997 Linguistic Anthropology. Cambridge: Cambridge University Press. Ehlich, Konrad 2006 Die Vertreibung der Kultur aus der Sprache. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik (Themenheft „Linguistik und Kulturanalyse“) 34(1/2), 50−63. Foley, William A. 1997 Anthropological Linguistics. An Introduction. Malden/Oxford: Blackwell. Garfinkel, Harold 1967 What is ethnomethodology? In: id. (ed.), Studies in Ethnomethodology, 1−34. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Goffman, Erving (ed.) 1981 Forms of Talk. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Goffman, Erving 1986 Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. Boston: Northeastern University Press.
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84. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gesprächsforschung Hahn, Alois 1994 Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Walter M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, 140−166. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hörning, Karl H. und Julia Reuter 2004 Doing Culture: Kultur als Praxis. In: Karl H. Hörning und Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, 9−15. Bielefeld: transcript. Jäger, Ludwig 2006 „ein nothwendiges Uebel der Cultur“. Anmerkungen zur Kulturwissenschaftlichkeit der Linguistik. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik (Themenheft „Linguistik und Kulturanalyse“) 34(1/2), 28−49. Kotthoff, Helga (Hg.) 2002 Kultur(en) im Gespräch. Tübingen: Narr. Kotthoff, Helga 2004 Overdoing Culture. Sketch-Komik, Typisierung und Identitätskonstruktion bei Kaya Yanar. In: Karl H. Hörning und Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, 184−200. Bielefeld: transcript. Paul, Hermann 1880 Principien der Sprachgeschichte. Freiburg: Universitätsverlag. Sacks, Harvey [1964−68] 1992a Lectures on Conversation. Vol. I. Cambridge, MA: Blackwell. Sacks, Harvey [1968−72] 1992b Lectures on Conversation. Vol. II. Cambridge, MA: Blackwell. Sacks, Harvey, Emanuel A. Schegloff and Gail Jefferson 1974 A Simplest Systematics for the Organization of Turn-Taking for Conversation. In: Language 50, 696−735. Sarangi, Srikant 1994 Intercultural or not? Beyond Celebration of Cultural Differences in Miscommunication Analysis. In: Pragmatics 4(3), 409−428. Saville-Troike, Muriel (ed.) 1977 Linguistics and Anthropology. Washington, DC: Georgetown University Press. Saville-Troike, Muriel 1982 The Ethnography of Communication. An Introduction. Oxford: Blackwell. Senft, Gunter 2006 Völkerkunde und Linguistik. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik (Themenheft „Linguistik und Kulturanalyse“) 34(1/2), 87−104. Silverstein, Michael and Greg Urban 1996 The Natural History of discourse. In: Michael Silverstein and Greg Urban (eds.), Natural Histories of Discourse, 1−20. Chicago: The University of Chicago Press.
Susanne Günthner, Münster (Deutschland)
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
85. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Textlinguistik 1. 2. 3. 4.
Vorbemerkung Zur Identität der Textlinguistik Zum Textbegriff Medialität und Materialität
5. 6. 7. 8.
Über den Einzeltext hinaus Was liegt unter der Oberfläche? Fazit Literatur (in Auswahl)
1. Vorbemerkung Angesichts des Schlagworts Kultur als Text (Bachmann-Medick 2004) sollte man von der Textlinguistik einen besonderen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Debatte erwarten können. Die folgenden Überlegungen versuchen zu zeigen, in welchem Sinne und warum diese Erwartung oft enttäuscht wird, inwiefern auch das Aufgreifen von Topoi der Debatte und die Ausrichtung an diversen Turns die Lage nicht unbedingt verbessern und welche Perspektiven für die Zukunft aussichtsreich sind. Dem ist vorauszuschicken, dass Textlinguisten sich sehr wohl einer kulturwissenschaftlichen Orientierung verpflichtet fühlen. Die extrem vielfältige und unscharfe Verwendung des Begriffs Kultur(wissenschaft) macht es allerdings unvermeidlich, dass man vielfach aneinander vorbeiredet. Angesichts dessen erscheint es angezeigt, in einer reflexiven Wendung auch die disziplinären Kulturen als Konstruktionen von Identitäten und Alteritäten zu behandeln, d. h. aufzuzeigen, gegenüber welchen anderen Ausrichtungen sich die Textlinguistik als kulturwissenschaftlich orientiert versteht und aus welcher (Fremd-)Sicht sie Defizite aufweist.
2. Zur Identität der Textlinguistik Die Textlinguistik ist in der Sprachwissenschaft fest etabliert, hat aber eine recht unscharfe Kontur. Ulla Fix kennzeichnet sie als „höchst lebendige Disziplin“, die sich immer mehr differenziert und zugleich ausweitet (Fix 2009a: 11). In diesem Erfolg liegt auch eine Schwäche, denn es fragt sich, inwieweit man der fundamental interdisziplinär orientierten und alte Traditionen aufgreifenden Textlinguistik überhaupt den Charakter einer Disziplin zuerkennen kann. Je mehr sie sich ausweitet und differenziert, desto mehr gewinnt sie den Charakter eines großen Dachs, unter dem sich eine Reihe von Spezialgebieten versammeln lässt. Dazu gehören innerhalb der Sprachwissenschaft die Medien-, Fachsprachen-, Polito-, Wirtschaftslinguistik usw. sowie die Gesprächs- und Diskurslinguistik, die man teils als Schwester-, teils als Tochterdisziplinen der Textlinguistik präsentiert. Außerhalb nennt Fix u. a. Theologie, Rechts-, Altertums-, Literaturwissenschaft, Ägyptologie. Ähnlich wie für van Dijk (1980) bildet dies für Fix den Anlass, zu erwägen, ob die „Textlinguistik, deren Gegenstand Texte und Textsorten an sich sind, […] die geeignete Vertreterin des Anspruchs einer Querschnittswissenschaft sein [könnte], indem sie eine allgemeine Terminologie und Methoden für die Auseinandersetzung mit Texten liefert“ (Fix 2009a: 82). Am anderen Pol steht eine Sichtweise, die Textlinguistik „insbe-
85. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Textlinguistik sondere zu Prüfungszwecken“ auf die Untersuchung satzübergreifender Phänomene, letzten Endes die Stichwörter Kohäsion und Kohärenz, „geradezu reduziert“ (Hausendorf 2008: 324). Beide Perspektiven führen Wolfgang Wildgen dazu, der Textlinguistik in seinem Versuch einer Bilanz der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts kein eigenes Kapitel zu widmen: „Sie taucht in ganz unterschiedlichen Kontexten auf, teilweise schon im Rahmen traditionell philologischer Arbeitsrichtungen (z. B. in der ‚romantischen Sprachwissenschaft‘) […]. Es handelt sich also eher um die Ausweitung der Methoden zur Beschreibung sprachlicher Strukturen auf Wort- und Satzebene auf den Text als um eine eigenständige und neue Forschungsrichtung des 20. Jh.s“ (Wildgen 2010: 4).
3. Zum Textbegriff Wenn es um Terminologie geht, dann steht natürlich zuallererst der Ausdruck Text im Fokus. Dessen Definition treibt allerdings nur die Textlinguistik besonders um und hat viel Energie absorbiert (vgl. Fix et al. 2002), ohne dass sich dabei eine Annäherung an andere Disziplinen und die Laiensicht abzeichnete. Mit Kultur als Text wird Kultur als verstehbare bzw. zum Verstehen bringbare Größe behandelt, die Formel markiert die Hinwendung zu einer interpretativen, hermeneutischen Kulturanthropologie im Sinne von Geertz (vgl. Artikel 14). Impliziert ist damit, dass Verstehen einer schwierigen Aufgabe entspricht, die sich gegenüber fremden Lebensformen stellt bzw. immer dann zur Herausforderung wird, wenn sich das Verstehen gerade nicht von selbst einstellt, wenn die Selbstverständlichkeiten des eigenen Common Sense versagen. Ein textlinguistisches Pendant dazu kann man in der Formel Sprache als Text (Scherner 1984) sehen. Diese Gedankenfigur steht am Beginn der Textlinguistik in Deutschland, programmatisch begründet von Peter Hartmann, und zwar gegen die Systemlinguistik. „Mit ‚Text‘ kann man alles bezeichnen, was an Sprache so vorkommt, daß es Sprache in kommunikativer oder wie immer sozialer, d. h. partnerbezogener Form ist“ (Hartmann 1964: 16). Dieser Ansatz konzeptualisiert also Sprachwissenschaft als grundsätzlich verwendungsorientiert und begreift das sogenannte System als bloße „Abstraktion aus der Sprachrealität“ (Hartmann [1968] 1978: 99) − und nicht als eine Realität, die ,hinter dem Sprechenʻ existierte oder diesem zugrunde läge (vgl. Krämer und König 2002). Wenngleich über diesen Ansatz am ehesten eine Brücke zu anderen Kulturwissenschaften herstellbar ist, sind die Fragestellungen und entsprechend die Alteritäten doch grundlegend verschieden. Am wichtigsten ist, dass das Kernkonzept dieses Ansatzes nicht Verstehen ist, sondern Kommunikation, Gebrauch von Sprache, und zwar jedweder Gebrauch von Sprache. Während ein wesentliches Element der neuen Kulturwissenschaften darin besteht, die Beschränkung auf Artefakte der Hochkultur zu überwinden, tut sich die Sprachwissenschaft und teilweise auch die Textlinguistik dagegen mitunter schwer damit, solche überhaupt einzubeziehen. Zu sagen, deren Schöpfer ,kommuniziertenʻ mit den heutigen ,Rezipientenʻ, hat ja auch durchaus kontraintuitive Züge. Die Anfangsphase der Textlinguistik war dagegen durch eine intensive Zusammenarbeit mit der Literatur- und anderen Kunstwissenschaften geprägt, diese wird jedoch in den meisten Übersichten über ihre Entwicklung bezeichnenderweise ausgeblendet, und zwar ausgerechnet im Rahmen einer ,Wendelogikʻ. Danach sei die Textlinguistik entstanden innerhalb der Systemlinguistik, und zwar als Überwindung der vordem angeblich
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft allgemein geltenden Auffassung, der Satz bilde die oberste Ebene linguistischer Beschreibung (vgl. anders Brinkers frühen Überblick über den Forschungsstand, 1971: 219). Erst die ,pragmatische Wendeʻ habe dann zur kommunikativ-funktionalen Betrachtung geführt, die wiederum durch eine ,kognitive Wendeʻ abgelöst worden sei. Inzwischen besteht (ein eigentlich ja auch trivialer) Konsens darüber, dass dem Text als einem komplexen Phänomen nur eine integrierte Betrachtungsweise gerecht werden kann − auch, wer der Funktion und dem situativen und gesellschaftlich-historisch-kulturellen Kontext besondere Aufmerksamkeit schenken möchte, kann ja nicht daran vorbeisehen, dass Texte auch eine Struktur haben und kognitiv-psychisch verarbeitet werden müssen. Der Leitbegriff Kommunikation bzw. kommunikative Funktion und die ,pragmatische Wendeʻ insgesamt haben die Identität der Textlinguistik gegenüber der Systemlinguistik zwar geschärft, von einer kulturwissenschaftlichen Orientierung gleichzeitig jedoch eher weggeführt. Denn diese Wende hat sich bekanntlich konkret in Gestalt der Adaptation einer universalpragmatisch verstandenen Sprechakttheorie niedergeschlagen, die die Sprecherperspektive privilegiert und dem Hörer (fast) nur die Rolle überlässt, dessen Intention auf der Grundlage der geteilten Konventionen zu rekonstruieren. Dies entspricht geradezu einem dezidiert antihermeneutischen Konzept. Es lässt sich am besten demonstrieren an glatt ablaufender zweckrationaler Kommunikation, deren Einsinnigkeit (nur eine dominante Illokution usw.) auch noch quasidefinitorisch festgesetzt wurde. Zum prototypischen Gegenstand der Textlinguistik wurden so Gebrauchstexte, die einen besonders geringen Verstehensaufwand erfordern und als Ausgangspunkt hermeneutischer Bemühungen oder auch als Träger des kulturellen Gedächtnisses überhaupt nicht infrage kommen. Den deutlichsten Beleg dafür stellt die Konzeption des HSK-Bandes zur Text- und Gesprächslinguistik dar (Brinker et al. 2000/2001), in dem der literarische Bereich ausgeklammert bleibt. Diese Entwicklung, die die ,schönenʻ Texte der Literaturwissenschaft überlässt und sich für Kunstkommunikation generell nicht interessiert (vgl. Hausendorf 2011), hat nicht nur der Textlinguistik, sondern der ganzen Disziplin erheblich geschadet und sicher wesentlich zu dem Stereotyp der kulturfernen Linguistik beigetragen. Für die Zukunft gilt es, diese Entwicklung wieder zu korrigieren. Das ist insofern nicht schwierig, als es ja immer Ansätze gegeben hat, die selbstverständlich literarische Texte (auch) behandelten und den Austausch mit geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen pflegten (vgl. programmatisch Fix 2003). Allerdings sind die Anzeichen dafür, dass sich ,dieʻ Textlinguistik allgemein auf diesem Weg befindet, eher schwach und dies hängt ironischerweise nicht zuletzt mit Bemühungen zusammen, an gewisse Turns anzuschließen.
4. Medialität und Materialität 4.1. Bilder, Sehflächen, Körper Während für die Kulturwissenschaften sprachliche Gebilde seit je nur einen unter vielen anderen Gegenständen bilden, betrifft die spezifische Kompetenz von Linguisten gerade diesen ,Codeʻ. Für die Textlinguistik (wie für andere Textwissenschaften) ist es allerdings selbstverständlich, dass bei mehrcodalen und -medialen Kommunikaten das Zusammenspiel der verschiedenen Mittel zu berücksichtigen ist. Für die Bedeutung des Medialen ist
85. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Textlinguistik die Sprachwissenschaft insgesamt nie blind gewesen, sie hat diesen Gedanken vielmehr kontinuierlich tradiert, und zwar v. a. bei der Besprechung der beiden Grundmodalitäten des Sprachgebrauchs, gesprochener und geschriebener Sprache (vgl. Kapitel 5). Dass nicht-sprachliche Mittel nicht nur das Gefühl und die Sinne stärker ansprechen, sondern auch für die Formulierung komplexer Inhalte und den Erkenntnisprozess besonders wichtig sind, ist speziell für die Fachsprachenforschung evident. Unzweifelhaft ist natürlich ebenso, dass angesichts der technischen Entwicklung und der Neuen Medien das Nichtverbale (in bestimmten Textsorten) eine ungleich größere Rolle spielt als früher. Für die Text- (bzw. Sprachverwendungs-)Linguistik haben die neuen Textsorten und Kommunikationsformen zu einer willkommenen Bereicherung der Untersuchungsgegenstände und -aspekte geführt. Welchen (weiteren) Einfluss haben angesichts dessen die Bemühungen um Anschluss an die kulturwissenschaftlichen Turns gehabt? Der erste betrifft den Textbegriff selbst, der ausgeweitet werden soll auch auf nonverbale Elemente − besonders programmatisch kommt dies in der Prägung Bildlinguistik (statt linguistische Untersuchung von Text-Bild-Zusammenhängen) zum Ausdruck (vgl. z. B. Diekmannshenke, Klemm und Stöckl 2011; Große 2011). Eine solche Ausweitung des linguistischen Textbegriffs ist m. E. jedoch kontraproduktiv und bietet speziell keine Chance zu einer Annäherung an die Kulturwissenschaften. Denn diese arbeiten durchaus auch − wahrscheinlich sogar meistens − mit der normalen Lesart ,Sprachwerkʻ, z. B., wenn statt der Analyse des Dramentextes die Aufführung/Performance ins Zentrum gerückt wird. In dem Programm Kultur als Text geht es ja nicht etwa darum, die übliche Textdefinition zu ändern, sondern es ist eine rhetorische Figur, die die Vorstellung vom (Schrift-)Text als prototypischem Gegenstand von Verstehen und Interpretation ausbeutet. Wer Bilder ernstlich als Unterfälle von Text definiert, macht die Pointe des iconic turn gerade zunichte. Die zweite Auswirkung geht etwas tiefer und schließt an den performative turn an, der die immer neue Aktualisierung von Zeichen in ihrer je einzigartigen Materialität und Körperlichkeit betont, diese eben nicht als letzten Endes gleichgültige Varianten eines identischen Signifikanten behandelt. In der Textlinguistik wird in diesem Zusammenhang oft von der neuen Aufmerksamkeit für die Oberfläche gesprochen (vgl. z. B. Linke und Feilke 2009; Fix 2009b: 105 ff.; Habscheid 2011). Dieser Ausdruck ruft natürlich auch die gängige Rede von der Benutzeroberfläche auf (Schnittstelle zwischen Benutzer und Maschine bzw. Computerprogramm) und passt sich damit in den Kontext computergestützter Kommunikation ein. Mit diesem Ausdruck wird nun allerdings der Produkt(statt Prozess-)Charakter von Texten betont, es sind ja Körper, konkrete Objekte, die Oberflächen haben, während das, was menschliche Körper bei Vorträgen, Theateraufführungen, rituellen Handlungen, kommunikativen Events usw. ausführen, in der Zeit ablaufende Vollzüge sind, Performances eben, denen man mit dem Beschreibungsvokabular für Körper nicht gut beikommen kann. Diese Fokussierung des materiellen Produkts im Rahmen des performative turn ist zunächst einmal erstaunlich. Viel leichter lässt sich ja der Aus- bzw. Aufführungscharakter von Kommunikation anhand gesprochener Sprache aufzeigen.
4.2. Herstellung von Sinn An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf die Gesprächs- bzw. Konversationsanalyse notwendig, da diese lange vor dem performative turn in den Kulturwissenschaften, und
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft zwar im Anschluss an die Ethnomethodologie, einen Untersuchungsansatz entwickelte, der die Frage stellt, wie die Beteiligten einer Interaktion im Gespräch gemeinsam Ordnung, Sinn, soziale Wirklichkeit hervorbringen (vgl. für die Rezeption in der Textlinguistik Heinemann und Viehweger 1991: 77 ff.; Heinemann und Heinemann 2002: 53 ff.). Den Kernbegriff bildet der Ausdruck Kontextualisierung(shinweis), der darauf abhebt, dass die Beteiligten einander erkennbar anzeigen (müssen), wie sie ihre Äußerungen meinen und verstehen (vgl. Artikel 84). Strikt phänomenologisch orientiert, darf der Forscher nur Daten auswerten, die auch an der ,Oberflächeʻ (der minutiös transkribierten Gespräche) erscheinen (prosodische und paraverbale Merkmale, Code-Switching u. v. a. m.). Der Gedanke, dass sich auf diese Weise empirisch rekonstruieren lässt, wie Sinn entsteht, wird nun in der Textlinguistik neuerdings fusioniert mit einem Konzept aus ihrer Frühzeit, den Kriterien für Textualität nach Beaugrande und Dressler (1981). In Analogie zum Ansatz der Generativistik, wohlgeformte von nicht-wohlgeformten Strukturen, grammatische Sätze von ungrammatischen zu unterscheiden und dafür klare Bedingungen zu formulieren, hat man versucht, solche auch für die Satzverknüpfung aufzufinden. Bei Beaugrande und Dressler ist dies eigentlich nur noch eine Reminiszenz, denn tatsächlich folgen sie einem strikt kommunikativ ausgerichteten Ansatz. Leider ist jedoch gerade ihre in sich nicht stimmige Definition (vgl. Adamzik 2004: 49 ff.) zu den meistzitierten Passagen in textlinguistischer Literatur geworden. Danach ist ein Text eine kommunikative Okkurrenz, die sieben Textualitätskriterien erfüllen müsse und andernfalls als Nichttext zu behandeln sei. Auf den Nachweis der (inzwischen unbestrittenen) Unhaltbarkeit dieser Bestimmung ist viel Energie verwandt worden, die Kriterien selbst bilden aber immer noch eine allgemeine Referenz. Hausendorf und Kesselheim (2008) ersetzen nun den Begriff -kriterien durch -merkmale, greifen das Konzept der Kontextualisierungshinweise auf und gelangen so zu Textualitätshinweisen, nämlich (sprachlichen und nicht-sprachlichen) Eigenschaften eines wahrnehmbaren Ganzen, die es dem Leser gestatten, daraus einen lesbaren Text zu rekonstruieren (die Merkmale „zum Sprechen zu bringen“, Hausendorf und Kesselheim 2008: 18; vgl. dazu ausführlicher Adamzik 2016: Kapitel 3.2.1). Gesichert wäre damit die Möglichkeit, den performativen Charakter auch von Schrifttexten aufzuweisen − auf diese beschränken sich Hausendorf und Kesselheim ausdrücklich, denn: „Mündliche Kommunikation erfordert einen eigenständigen Beschreibungsrahmen“ (Hausendorf und Kesselheim 2008: 12). Auch Habscheid (2009), der ihren Ansatz aufgreift (und die theoretischen Hintergründe übrigens deutlicher erkennen lässt), schließt „Kommunikationsformen, die durch eine örtliche und/oder zeitliche Kopräsenz der Kommunikationspartner charakterisiert sind“ (Habscheid 2009: 9), ausdrücklich aus der Betrachtung aus. Damit verschwindet freilich ein zentrales Anliegen konversationsanalytischer Arbeit, nämlich nachzuzeichnen, wie die Beteiligten den Sinn gemeinsam herstellen. Selbstverständlich kann man festlegen, dass „Texte grundsätzlich das Dokument einer Kommunikation zwischen Autor und Leser [sind], das im Moment der Lektüre entsteht“ (Hausendorf und Kesselheim 2008: 17), nur haben wir zu dem, was im Moment der Lektüre geschieht, im Allgemeinen keinen Zugang. Bei Schrifttexten muss die ,strikt empirische, rekonstruktionslogische Forschungshaltungʻ (vgl. Habscheid 2009: 25) andere Wege suchen (vgl. Kapitel 5). Wenn die aus der Konversationsanalyse übernommene Forschungshaltung, die Perspektive der Beteiligten einzunehmen, die ja auch Geertz’ semiotische Kulturforschung
85. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Textlinguistik (vgl. Artikel 14) prägt, zu einer als kulturwissenschaftlich wahrgenommenen Textlinguistik führen soll, wäre es allerdings angebracht, ein anderes Erbteil weniger zur Schau zu stellen. Dies ist die Privilegierung des Alltags. Die Faszination der unscheinbaren, normalerweise gerade nicht bewusst wahrgenommenen Textualitätshinweise geht nämlich einher mit einer besonderen Aufmerksamkeit für ,kleine Texteʻ, Artefakte, die die anderen Kulturwissenschaften kaum interessieren bzw. die für sie nur dann interessant werden, wenn sie für den (teilnehmenden) Beobachter fremd und schwer verstehbar sind, wenn es tatsächlich der Rekonstruktion einer ungewohnten Lebenswelt bedarf, um Irritationen auszuräumen. Straßenschilder, Etiketten auf Kleidungsstücken, Aufdrucke auf Verpackungen und Geräten usw. sind für die Zeitgenossen in ihrer eigenen Kultur Banalitäten, die, unter die Lupe der Textlinguistik gerückt, das Vertraute und Selbstverständliche verfremden. Statt also Fremdes verständlich zu machen, wird Verständliches fremd gemacht.
5. Über den Einzeltext hinaus Es gilt auch gerade nur für die besonders banalen Alltagstexte, dass wir keinen Zugang zu den Reaktionen darauf haben. Das den Stil kommentierende Schreiben des Kunden auf einen telefonischen (!) Kontakt mit Bankmitarbeitern bezeichnet Habscheid (vgl. 2009: 24) daher schon als ,seltenen Glücksfallʻ. Keine Schwierigkeiten bereitet es dagegen, im Bereich der öffentlichen Kommunikation Reaktionen auf Texte zu finden, das Internet gibt überdies jetzt auch leichten Zugang zu ,schriftlichen Dialogenʻ im halböffentlichen und ,privatenʻ Bereich − die Vermischung dieser Bereiche gehört natürlich zu den zentralen Phänomenen unserer Gesellschaft und eröffnet insbesondere der Medienlinguistik (vgl. Artikel 92) ein breites neues Betätigungsfeld. In thematisch zusammengehörigen, insbesondere gesellschaftlich brisante Sujets betreffenden Texten sieht die Diskurslinguistik (vgl. Artikel 83) ihr spezielles Arbeitsfeld. Die ,allgemeine Textlinguistikʻ (wenn man den Hinweis von Fix so interpretieren will) sollte dagegen einen Beschreibungsapparat entwickeln, um verschiedenartige Beziehungen zwischen Texten erfassen zu können. Das erfordert die endgültige Verabschiedung der aus der Anfangszeit der Textlinguistik stammenden und dem systemlinguistischen Denken verpflichteten Annahme, statt des Satzes sei nun der Text als oberste Ebene linguistischer Beschreibung zu behandeln. Zu den ,Textualitätskriterienʻ bzw. ,-merkmalenʻ gehört ja auch, man kann fast schon sagen: seit je, die Intertextualität. In diesem Zusammenhang hat sich eine Reihe von Ansätzen zu Textsortennetzen, -feldern, -verbünden usw. entwickelt (vgl. Adamzik 2011), ohne dass sich bislang eine Vereinheitlichung der Redeweisen abzeichnet. Der neueste, ambitionierteste und durchdachteste Beitrag stammt von Sigurd Wichter (2011), der nichts weniger vorlegen will als einen Beschreibungsapparat Zur Kommunikation in und zwischen Gesellschaften (Untertitel), vom Privatgespräch bis zur globalen Kommunikation der Weltbevölkerung. Er bezeichnet ihn als Reihentheorie und sieht in der Reihe die Grundeinheit der Kommunikation und zugleich die oberste Ebene. Reihen sind nämlich rekursiv aufgebaut und zeichnen sich durch lokale Geschlossenheit (Textualitätsmerkmal nach Hausendorf und Kesselheim: Begrenzbarkeit) und globale Offenheit (Textualitätsmerkmal: intertextuelle Beziehbarkeit) aus. Ebenso wie bei den eben behan-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft delten Ansätzen ist für Wichter die Eigenperspektive der Kommunizierenden zentral. Aus genau diesem Grund aber hält er eine getrennte Betrachtung von mündlicher und schriftlicher Sprache für verfehlt. Als Oberbegriff für Text und Gespräch benutzt er den Ausdruck Kommunikat. Beides zusammen ist nämlich (häufig) Bestandteil einer Reihe, die einem übergeordneten Zweck dient (seine Beispiele reichen von Gesprächen einer Familie im Tagesablauf über Karl Valentins Buchbinder Wanninger bis zum Diskurs zur Agenda 2010). Dies führt weg von der (klassifikatorisch gemeinten) Entgegensetzung mündlicher und schriftlicher Sprache hin zur Betrachtung ihres Miteinanders über einen mehr oder weniger langen Zeitraum hinweg, wobei die Akteure selbst (durchaus unterschiedliche) Zusammenhänge rekonstruieren, nämlich Mengen von Kommunikaten als Reihen interpretieren, d. h. auf möglicherweise zeitlich weit auseinanderliegende (mündliche oder schriftliche) Kommunikate verweisen können, um (neue) Kohärenz herzustellen. Gegenüber dem konversationsanalytischen Ansatz, bei dem der Forscher − anders als die Akteure (!) − aus methodischen Gründen nur Zugriff auf das aufgezeichnete (und transkribierte) Material hat, legt die Reihentheorie der linguistischen Hermeneutik (vgl. Hermanns und Holly 2007) keine Beschränkungen auf. Die integrierte Betrachtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. für einen systematischen Vergleich Stein 2003) wird nicht nur der Intertextualität, sondern auch der (lokalen und globalen) Inter-, Multimedialität und -modalität gerecht und kann das Konzept der Transkriptivität aufgreifen (vgl. Artikel 37). Ein Fazit muss also lauten, dass man im Bemühen darum, den iconic turn nicht zu verpassen, gleichzeitig wesentliche andere Perspektiven aus dem Auge verlieren kann.
6. Was liegt unter der Oberfläche? Die Rede von Textoberflächen führt noch auf einen weiteren blinden Fleck der Textlinguistik. Wer Oberfläche sagt, meint notwendigerweise mit, dass es mindestens eine tiefere Schicht gibt. Mit diesem Ausdruck setzt man sich daher auch der Gefahr aus, mit Generativisten verwechselt zu werden. Tatsächlich muss sich die Textlinguistik mit dieser disziplinären Kultur aber nicht mehr auseinandersetzen, denn der Versuch, auch Texte in das syntaktische Ableitungssystem einzubeziehen, ist ein kurzes Intermezzo aus der Experimentierphase der frühen Generativistik geblieben (vgl. Adamzik 2004: 25 ff.). Auch geht es hier nicht um die ,Tiefenstrukturʻ eines Textes im Sinne eines Komplexes von Propositionen (vgl. Heinemann und Heinemann 2002: 74 ff.) oder dergleichen. Die Überlegungen setzen vielmehr ganz an der Frage nach der Bedeutung der materiellen Oberfläche an und suchen die dazu passende Tiefe zu rekonstruieren. Während es bei den Alltagstexten etwas schwierig ist, diese zu identifizieren, springt sie gerade im Bereich des Prototyps von Texten ins Auge, nämlich bei solchen, die über Jahrhunderte überliefert werden. Denn dass sie so lange überliefert werden, bedeutet ja, dass sie in den unterschiedlichsten Gestalten/Oberflächen reproduziert werden, wobei die Skala von Faksimiledrucken der Handschrift über Jubiläums- oder Schmuckausgaben und Billigversionen bis hin zu Hörbüchern und digitalen Fassungen reicht. Im einfachsten Fall ist bei allen diesen Ausgaben der Wortlaut identisch und ,nurʻ die Oberfläche (samt eventuellen Illustrationen, musikalischen Unterlegungen o. Ä.) variiert. Diese unterschiedlichen ,Oberflächenʻ entsprechen den ,Inszenierungenʻ eines identischen Etwas, dem ,Text ohne materielle Oberflächeʻ.
85. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Textlinguistik Erstaunlicherweise hat sich für diese Lesart von Text noch keine terminologische Prägung durchgesetzt, ja es scheint nicht einmal ein allgemeines Bewusstsein dafür vorhanden, dass man für diese Schicht einen Begriff bereitstellen sollte. In Adamzik (2008a) wird vorgeschlagen, sie als virtuellen Text zu bezeichnen. Die Sache kompliziert sich erheblich dadurch, dass die Akteure immer noch davon ausgehen, mit ,demselbenʻ Text zu tun zu haben, wenn der Wortlaut leicht, stark oder auch vollständig verändert ist. Es gibt verschiedene Fassungen, Bearbeitungen, Kürzungen, Transkriptionen in ein anderes Medium (Verfilmung, Comicversion) und schließlich auch noch Übersetzungen. Man muss also virtuelle Texte verschiedener Ebenen ansetzen. Eine besonders starke Berücksichtigung hat in der Textlinguistik hingegen eine noch darunter liegende Schicht gefunden, die von Textsorten bzw. -mustern (vgl. Adamzik 2008b). Hier besteht allerdings auch die größte Gefahr, in systemlinguistisches Denken zurückzufallen. Auch wer sich ausdrücklich der Untersuchung des Sprachgebrauchs verschreibt, tradiert die Logik der Langue-Parole- bzw. Kompetenz-Performanz-Dichotomie ja noch mit. Wenn man nun Textsorten als Stanzformen für Texte begreift, ist ihr Status durchaus vergleichbar dem von vorgegebenen abstrakten Strukturen, die man nur noch durch konkretes Sprachmaterial ,auffüllenʻ muss, damit sie zu Tokens eines zugrunde liegenden Types werden. Der Ausschluss literarischer Texte findet hier seine Begründung. Denn bei diesen kann man schlechterdings von der Individualität des Einzeltextes nicht absehen und ihn lediglich oder in erster Linie als Exemplar einer Sorte (der Gattung) betrachten. In Bezug auf Textsorten fällt auch am häufigsten, ja inzwischen regelmäßig der Ausdruck Kultur (vgl. v. a. Fix, Habscheid und Klein 2001) und hier sind auch die für kulturwissenschaftliche Fragestellungen interessantesten Ergebnisse erzielt worden. Das hängt damit zusammen, dass man dabei gern vergleichend vorgeht, speziell diachron und/oder sprachkontrastiv. Auf diese Weise kommen tatsächlich fremde Lebenswelten in den Blick, die irritieren können und zu hermeneutischer Arbeit auffordern. Wie ergiebig das unter kulturwissenschaftlicher Perspektive ist, hängt allerdings davon ab, welche Textsorten unter welchen Fragestellungen bearbeitet werden und welche Kollektive man miteinander vergleicht. Handelt es sich um aus eurozentrischer Sicht exotische Alteritäten, in der eigenen Gesellschaft existierende Sub- und Gegenkulturen oder historisch entfernter liegende Sprachstadien, können auch Texte aus der Alltagspraxis hochrelevant sein. Dass der Vergleich aber nicht von selbst zu kulturwissenschaftlich ertragreichen Erkenntnissen führt, belegen am besten die zahlreichen Untersuchungen, die explizit fordern, dass als Tertium Comparationis nur übereinzelsprachlich oder gar universell existierende Textsorten infrage kommen. Schon deren eventuell unterschiedlicher kultureller Sinn wird damit fast zwangsläufig ausgeblendet, von anderen kulturwissenschaftlich relevanten Gesichtspunkten ganz zu schweigen.
7. Fazit Wie die Sprachwissenschaft insgesamt umfasst die Textlinguistik ein sehr breites Spektrum von Ausrichtungen. Diese stehen einer kulturwissenschaftlichen Orientierung mehr oder weniger nahe. Der Beitrag versucht zu zeigen, wie der Innovationsimperativ immer wieder zu verengten Sichtweisen führt. Dazu gehört zunächst, die Textlinguistik als eine
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft in den 1960er-Jahren neu entstandene Disziplin zu präsentieren. Den alleinigen Bezugspunkt, der damit zugleich zur ,Normalausprägungʻ der Linguistik gemacht wird, bildet dabei die erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene sogenannte Systemlinguistik. Deren erklärtes Ziel bestand darin, die Linguistik als eine ,autonome Disziplinʻ von anderen Text- und Kulturwissenschaften abzukoppeln. In einer Variante der Textlinguistik bleibt es beim Autonomiepostulat, sie wird als ebenenspezifische Subdisziplin („über den Satz hinaus“) konstruiert. Die sogenannte pragmatische Wende richtet sich dann gegen den Ausschluss der Sprachverwendung (Parole) aus dem Gegenstandsbereich der Linguistik und erklärt Kommunikation (statt Sprache) zu deren zentralem Objekt. Dies erfolgt im Rahmen eines universalpragmatischen Ansatzes, der Texte − in teilweise dezidiert antihermeneutischer Tendenz − als Produkte regelgeleiteten zweckrationalen Handelns begreift. Fokussiert werden (hoch)konventionalisierte Textsorten, während Literatur ausdrücklich aus der Betrachtung ausgeschlossen bleibt. Dabei betont man zwar die Kulturgeprägtheit von Textsorten, in den Blick kommt aber nur die Tradierung abstrakter Schemata, nicht die von Texten. Der Anschluss an den iconic bzw. material turn schließlich führt zur Forderung nach einem erweiterten Textbegriff, der Nicht- und Parasprachliches einbezieht sowie die Materialität der Signifikanten betont. Eine gleichzeitige Verengung des Blickwinkels geht damit insofern einher, als Textualität an Visualität gebunden und die Behandlung mündlichen Sprachgebrauchs in eine andere Subdisziplin verwiesen wird. Noch gravierender erscheint, dass dabei der Charakter von Texten als − statischen − Einzelgegenständen in den Vordergrund rückt und allenfalls ihre individuelle Rezeption einbezogen wird, nicht aber ihre immaterielle Seite (u. a. der Wortlaut), die nur von kulturellen Gemeinschaften tradiert werden kann. Am ergiebigsten bleiben daher diejenigen Ausrichtungen, die sich von solchen Verengungen fernhalten und sich stattdessen an einer sehr alten Einsicht orientieren: Sprachen und Varietäten − die sich nur in Gesprächen und Texten realisieren − sind per se kulturkonstitutiv.
8. Literatur (in Auswahl) Adamzik, 2004 Adamzik, 2008a
Kirsten Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen: Niemeyer. Kirsten Der virtuelle Text oder: Die Rolle der Sprachgemeinschaft für die Herstellung von Textualität. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 36, 355−380. Adamzik, Kirsten 2008b Textsorten und ihre Beschreibung. In: Nina Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen, 145−175. Tübingen: Narr. Adamzik, Kirsten 2011 Textsortennetze. In: Stephan Habscheid (Hg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation, 367−385. Berlin/Boston: de Gruyter. Adamzik, Kirsten 2016 Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin/Boston: de Gruyter. Bachmann-Medick, Doris (Hg.) 2004 Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen: Francke.
85. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Textlinguistik Beaugrande, Robert-Alain de und Wolfgang Ulrich Dressler 1981 Einführung in die Textlinguistik. Tübingen: Niemeyer. Brinker, Klaus 1971 Aufgaben und Methoden der Textlinguistik. Kritischer Überblick über den Forschungsstand einer neuen linguistischen Teildisziplin. In: Wirkendes Wort 21, 217−237. Brinker, Klaus, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.) 2000/2001 Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2 Bde. Berlin/New York: de Gruyter. Diekmannshenke, Hajo, Michael Klemm und Hartmut Stöckl (Hg.) 2011 Bildlinguistik. Theorien − Methoden − Fallbeispiele. Berlin: Erich Schmidt. Dijk, Teun A. van 1980 Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Tübingen: Niemeyer. Fix, Ulla 2003 Interdisziplinäre Bezüge der Textsortenlinguistik. In: Jörg Hagemann und Sven F. Sager (Hg.), Schriftliche und mündliche Kommunikation. Begriffe − Methoden − Analysen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Klaus Brinker, 89−100. Tübingen: Niemeyer. Fix, Ulla 2009a Stand und Entwicklungstendenzen der Textlinguistik (I/II). In: Deutsch als Fremdsprache 46, 11−20, 74−85. Fix, Ulla 2009b Aktuelle linguistische Textbegriffe und der literarische Text. Bezüge und Abgrenzungen. In: Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur, 103− 135. Berlin/New York: de Gruyter. Fix, Ulla, Kirsten Adamzik, Gerd Antos und Michael Klemm (Hg.) 2002 Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Fix, Ulla, Stephan Habscheid und Josef Klein (Hg.) 2001 Zur Kulturspezifik von Textsorten. Tübingen: Stauffenburg. Große, Franziska 2011 Bild-Linguistik. Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Habscheid, Stephan 2009 Text und Diskurs. München: Fink. Habscheid, Stephan (Hg.) 2011 Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. Berlin/Boston: de Gruyter. Hartmann, Peter 1964 Text, Texte, Klassen von Texten. In: Bogawus 2, 15−25. Hartmann, Peter [1968] 1978 Textlinguistik als linguistische Aufgabe. In: Wolfgang Dressler (Hg.), Textlinguistik, 93−105. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Hausendorf, Heiko 2008 Zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft: Textualität revisited. Mit Illustrationen aus der Welt der Urlaubsansichtskarte. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36, 319−342. Hausendorf, Heiko 2011 Kunstkommunikation. In: Stephan Habscheid (Hg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation, 509−535. Berlin/Boston: de Gruyter. Hausendorf, Heiko und Wolfgang Kesselheim 2008 Textlinguistik fürs Examen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Heinemann, Margot und Wolfgang Heinemann 2002 Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion − Text − Diskurs. Tübingen: Niemeyer. Heinemann, Wolfgang und Dieter Viehweger 1991 Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen: Niemeyer. Hermanns, Fritz und Werner Holly (Hg.) 2007 Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Tübingen: Niemeyer. Krämer, Sybille und Ekkehard König (Hg.) 2002 Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ortner, Hanspeter und Horst Sitta 2003 Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft? In: Angelika Linke, Hanspeter Ortner und Paul R. Portmann (Hg.), Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis, 3−64. Tübingen: Niemeyer. Linke, Angelika und Helmuth Feilke (Hg.) 2009 Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Tübingen: Niemeyer. Scherner, Maximilian 1984 Sprache als Text. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlich begründeten Theorie des Textverstehens. Forschungsgeschichte − Problemstellung − Beschreibung. Tübingen: Niemeyer. Stein, Stephan 2003 Textgliederung: Einheitenbildung im geschriebenen und gesprochenen Deutsch − Theorie und Empirie. Berlin/New York: de Gruyter. Wichter, Sigurd 2011 Kommunikationsreihen aus Gesprächen und Textkommunikaten. Zur Kommunikation in und zwischen Gesellschaften. Tübingen: Niemeyer. Wildgen, Wolfgang 2010 Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Versuch einer Bilanz. Berlin/New York: de Gruyter.
Kirsten Adamzik, Genf (Schweiz)
86. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung 3. Mündliche und schriftliche Praktiken und 1. Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Kompetenzen des Individuums: Modalitäten menschlicher Sprachpraxis Erwerbsaspekte von Individuen und Gemeinschaften 2. Konzepte von mündlichen und schriftlichen 4. Varianz in Verständigungssystemen und -praktiken Kommunikationssystemen und ihren 5. Literatur (in Auswahl) Funktionen in kulturellen Gemeinschaften
86. Kultur in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung
1. Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Modalitäten menschlicher Sprachpraxis von Individuen und Gemeinschaften Eine „kulturwissenschaftliche Orientierung“ bei der Betrachtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit lenkt zunächst den Blick auf die Tatsache, dass beides sprachliche Praktiken sind, die auf komplizierte Weise (Fitch 2005) humanspezifisch sind. Bereits die Herausbildung mündlicher Verständigungssysteme im Verlauf der Evolution stellt einen entscheidenden Selektionsvorteil für menschliche Gruppen dar, der in der Schnittstelle zwischen biologischer Weiterentwicklung der Art (z. B. Gewicht des Gehirns) und der auftretenden Fähigkeit zu kulturellem Lernen anzusiedeln ist. Die lange Reifung des menschlichen „Traglings“ außerhalb des Mutterleibs in einer auf sprachliches Lernen hin funktionierenden Kommunikationsgemeinschaft (Papoušek 1994; Quasthoff 2011) führt den kaum zu entwirrenden Zusammenhang zwischen genetischer Anlage und interaktionsabhängiger Enkulturation beim menschlichen Spracherwerb vor Augen: Dieser Zusammenhang zeigt, wie überlebensnotwendig für den menschlichen Säugling, der bei Geburt relativ unreif ist, die Soziabilität einer Gemeinschaft mit ihren lautsprachlich vermittelten Handlungsanweisungen, -grundlagen und -maximen ist. Die Errungenschaft vor ca. 5000 Jahren, mithilfe von körperexternen symbolischen Speicherverfahren zunehmend komplexe Informationen jenseits der zeitlichen und räumlichen Kopräsenz zu bewahren und weiterzugeben, hat die kulturelle Entwicklung menschlicher Gemeinschaften in immenser Weise beschleunigt, insofern sich jetzt auf der Grundlage von Schrift ein effizienteres Verfahren der intergenerationellen Weitergabe von kollektivem und individuellem Wissen (Raible 1994) bzw. der Bewahrung des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses (Assmann und Assmann 1994) herausbilden konnte. Eine eher anthropologische Sichtweise (Scollon and Scollon 1995) macht demgegenüber darauf aufmerksam, dass die Sprachzentriertheit im Verständnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in vielen Forschungen eine Einschränkung des Blicks zur Folge hatte, insofern mindestens mündliche kulturelle Praktiken nur in ihrer Verwobenheit mit gestischen, tänzerischen, paraverbalen, musikalischen Elementen zu verstehen sind. Aber auch aus dieser Sicht haben wir es mit Modalitäten der Kommunikation zu tun, die an die menschliche Sprachfähigkeit gebunden sind. Angesichts des Umfangs der Forschungen zu Mündlichkeit einerseits und Schriftlichkeit andererseits wird sich dieser Artikel auf den Zusammenhang − nicht die Dichotomie − zwischen beiden Modalitäten als kulturelle Praktiken des Menschen konzentrieren. Dabei werde ich zwischen mündlichen und schriftlichen Formen- sowie Verständigungssystemen in ihrer funktionalen Verwendung in Gemeinschaften auf der einen Seite (2) und den kulturell eingebetteten Praktiken von einzelnen Sprechern und Schreibern in ihren jeweiligen kommunikativen Kontexten auf der anderen Seite unterscheiden, also zwischen sprachlich verfestigten „cultures“ und „events“ (Scollon and Scollon 1995). Zu Letzteren gehören etwa die Art der Sprech- und Schreibprozesse sowie ihr Zusammenspiel bzw. die entsprechenden Kompetenzen und ihr Erwerb (3), die wiederum die Konzeptualisierungen auch auf Systemebene erhellen können (4).
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
2. Konzepte von mündlichen und schriftlichen Kommunikationssystemen und ihren Funktionen in kulturellen Gemeinschaften Wie erwähnt, unterscheide ich im Folgenden zwischen den analytischen Ebenen der basalen Formensysteme sowie der Verständigungssysteme als Repertoires von Gemeinschaften sowie den Praktiken in kontextueller Verwendung in konkreten Äußerungsereignissen. Mit Formensystemen beziehe ich mich auf die phonologische bzw. graphematische Formseite der elementaren Strukturelemente natürlicher „verschrifteter Sprachen“ (Eisenberg 1994), wobei ich wie Eisenberg (1994: 1369) davon ausgehe, dass der grammatisch fundierte Begriff „Sprachsystem“ übergeordnet gegenüber den Realisierungen in unterschiedlichen Formen ist. Der Ausdruck Verständigungssystem bezieht sich im vorliegenden Kontext auf Konzepte „gesprochener“ bzw. „geschriebener Sprache“, die mit den Modalitäten der Sprachverwendung jeweils formale und/oder funktionale Aspekte verbinden. Diese werden also mindestens terminologisch − funktional oder normativ begründet − an die Realisierungsformen Sprechen oder Schreiben (weniger an ihre rezeptiven Pendants Verstehen oder Lesen) gebunden. Merkmalspaare wie „transitorisch vs. überdauernd“, aber auch „syntaktisch komplex vs. parataktisch“ gehören auf diese analytische Ebene. Wir werden zeigen, dass derartige Merkmale (Dürscheid 2006: 26−27) oft auf einem wenig trennscharfen bzw. theoretisch expliziten Konzept von Sprache beruhen. In einer strikt funktionalen Perspektive sind Verständigungssysteme aus meiner Sicht evolutionär verdichtete Werkzeuge, die sich über lange Entwicklungszeiträume den Verwendungsbedürfnissen der Sprachgemeinschaften angepasst haben und dabei durchaus auch systeminternen Prozessen der Herausbildung struktureller Ordnungen unterliegen. Die mit technischen Mitteln auch in ihrer mündlichen Realisierungsform dokumentier- und auf diese Weise beobachtbaren situierten Praktiken einzelner Sprecher/Schreiber im Vollzug (Diskurse, Texte) stellen gegenüber den Systemebenen die Analyseebene dar, auf der kontextuelle und damit kulturelle Bezüge am unmittelbarsten zum Ausdruck kommen und in ihrer funktionalen Motiviertheit rekonstruierbar sind (s. Abschnitt 3). Nach gegenwärtiger Einschätzung liegen die funktionalen Ursprünge schriftlicher Formensysteme im wirtschaftlichen, nicht etwa im magisch-religiösen Bereich: Die Notwendigkeit, im Rahmen einer erhöhten Bevölkerungszahl und größerer Mobilität in Handelsbeziehungen Warenmengen über Zeit und Raum festzuhalten, führte zunächst zur Verfeinerung einfacher körperexterner mnemotechnischer Verfahren: „Fünf Zählsteine für fünf Kühe und fünf anders geformte Zählsteine für fünf Schafe“ wurde symbolisch verdichtet durch ein Zeichen für „Kuh“ und ein Zeichen für „fünf“ (Coulmas 1994: 257). Zählen und Zahlen waren damit entscheidende Geburtshelfer der Schrift in frühen Entwicklungsstufen (Chrisomalis 2009). Die Entstehung und v. a. die Weiterentwicklung von Schrift war also an sich sozial und ökonomisch differenzierende Gesellschaften sowie an die zunehmenden Möglichkeiten der Überwindung von Distanzen gebunden, die die Notwendigkeit der Bewahrung von Informationen auch über größere Zeitspannen hinweg erzeugten. Mit anderen Worten: Die kleinräumigen oralen Verständigungsmittel reichten offenbar für die Erfüllung dieser Funktionen nicht mehr aus, behielten aber zunächst ihren Stellenwert für die übrigen kommunikativen Bedürfnisse. Mit der Verfügbarkeit von Schrift und deren Ausbrei-
86. Kultur in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung tung nicht nur über regionale, sondern auch soziale Räume hinweg änderte sich das kulturelle Gefüge einer Gesellschaft erheblich, aber eben durchaus nicht schlagartig: Aspekte wie Verbreitung (etwa durch Druck oder andere Formen der Vervielfältigung wie im gegenwärtigen „Zeitalter der Elektronik“), Ausmaß der Zugänglichkeit in Gesellschaften mit ihrer Verknüpfung zu Bildung sowie geteilte Wertschätzung der Literalität als wesentliches Merkmal einer Kultur spielen eine entscheidende Rolle bei der literalen Prägung von Kulturen. Die Geschichte der unterschiedlichen schriftlichen Formensysteme mit ihren unterschiedlichen Entstehungsgebieten (Chinesisch, Sumerisch, Ägyptisch; vgl. Dürscheid 2006: 97−124) kann hier nicht nachgezeichnet werden (vgl. jedoch Coulmas 1994; Harris 1986). In formaler Hinsicht ist die Frage entscheidend, ob (bzw. in welchem Ausmaß) das jeweilige Schriftsystem einen semantischen Bezug hat, also direkt auf außersprachliche Objekte Bezug nimmt (prototypisch: Ideogramme), bzw. die Lautform der gesprochenen Sprache repräsentiert (phonographischer Charakter), also in diesem Sinne ein sekundäres System darstellt. Eisenberg (1994) unterscheidet die Schriftsysteme in „alphabetische“, „Silbenschriften“ (beide lautbasiert) und „logographische“. Wichtig ist bei der Unterscheidung zwischen Laut- bzw. Bedeutungsbasiertheit festzustellen, dass nach vorherrschender moderner Auffassung auch ursprünglich bedeutungsbasierte Systeme wie das chinesische nie ganz ohne Lautsprachbezug waren (Dürscheid 2006: 69). In gewissem Zusammenhang mit den unterschiedlichen Typen von Schrift werden verschiedene Erklärungsansätze zum Verhältnis von Schrift und mündlicher Sprache diskutiert: Die Annahme, dass Schrift als onto- wie phylogenetisch sowie semiotisch und funktional sekundäres System untrennbar mit Lautsprache verbunden bzw. von ihr abgeleitet sei, steht der Auffassung gegenüber, dass Schrift eine gewisse Autonomie aufweise (Coulmas 1994). Beide Argumentationen sollten jedoch nicht als Alternativen gegeneinander ausgespielt werden, sondern hängen von der Perspektive ab, die die theoretische Modellierung jeweils einnimmt (vgl. auch Dürscheid 2006: 41): Unter dem Entwicklungsgesichtspunkt ist die Mündlichkeit sicher sowohl auf der Ebene der Gemeinschaften wie der Individuen im Normalfall zeitlich primär. Daraus jedoch abzuleiten, dass Verwendungsaspekte wie Schreiben und Lesen in jedem Fall den Umweg über die Mündlichkeit machen würden, wäre allerdings verfehlt. Besonders institutionelle Sprachverwendung hat Gattungen und Formen (z. B. der Bescheid, das Gesetz) entwickelt, die heute fest an Schrift gebunden sind (s. jedoch Abschnitt 4). Diese Diskussion um die Autonomie der Schriftlichkeit betrifft also nicht nur die Schriftsysteme im engeren Sinne, sondern beeinflusst auch die Konzepte dessen, was „gesprochene“ bzw. „geschriebene Sprache“ als Verständigungssysteme im Kern ausmacht. Die Unterstellung einer Dichotomie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird nicht nur durch die Unterscheidung zwischen „Medium“ (benutztes Formensystem) und „Konzeption“ (Verständigungssystem) (Koch und Oesterreicher 1994; s. u.) herausgefordert. Auch die zunehmende Einsicht in die interne Heterogenität der Modalitäten eben nicht nur im Hinblick auf unterschiedliche Schriftsysteme, sondern v. a. auch bezogen auf unterschiedliche schriftliche und mündliche Praktiken sowie den unterschiedlichen kulturellen Stellenwert, den Gesellschaften schriftlichen Praktiken und Kompetenzen zuschreiben (Cook-Gumperz 1986a; Hornberger 1994: 426−427; Scollon and Scollon 1995: 21), verbietet die Redeweise von „der“ Mündlichkeit und „der“ Schriftlichkeit. Sozialkonstruktivistische Ansätze zeigen beispielsweise, in welchem Ausmaß die Ein-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft stellungen gegenüber Schriftlichkeit im Zusammenhang mit der Wertschätzung formaler Bildung differieren (Cook-Gumperz 1986b). Die Schriftbasiertheit der institutionellen Kommunikation hält bestimmte Klientengruppen nicht nur aufgrund ihrer Kompetenz, sondern auch ihrer Identitätskonstruktion von der Teilhabe ab (Quasthoff 2012a). „Die Schriftsprache“ − dies sei den folgenden Überlegungen zur Rolle der Modalitäten in Gemeinschaften vorangestellt − gibt es also ebenso wenig wie „die gesprochene Sprache“. Einer der „Klassiker“ in der Beschreibung „oraler und literaler“ Kulturen und damit der Rolle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Gemeinschaften ist Walter J. Ong ([1982] 1987). Er verband mit der „Technologisierung des Wortes“ nicht nur tief greifende Veränderungen der entsprechenden Gesellschaften, sondern auch im kollektiven und individuellen Denken der durch sie geprägten Menschen. Die Überwindung der inhärenten Transitorik des Gesprochenen, die Bewahrung über Zeit und Raum durch Schrift, ermöglicht die Tradierung von Literatur und kollektiven Gedächtnisinhalten außerhalb der Erinnerung lebender Menschen, also die Ergänzung des „kommunikativen“ durch das „kulturelle Gedächtnis“ in der Terminologie der Assmanns (Assmann und Assmann 1994). Dadurch werden nach Ong in gleicher Weise sowohl die sprachliche Form des zu Bewahrenden als auch das komplexe Denken des Einzelnen beeinflusst: Vor der Entstehung von Schrift, in „primär oralen Kulturen“, also solchen (kaum noch bestehenden), die ohne die Verfügbarkeit von Schrift ausschließlich von Mündlichkeit geprägt sind, waren „mnemonische Muster“ nötig, die „auf unmittelbare orale Darbietung zugeschnitten sind“ (u. a. rhythmische Muster, Alliterationen und Assonanzen, formelhafte Ausdrücke; Ong 1987: 40). Nach Ong ist es auch dieser transitorische Charakter der lautlichen Form der Sprache, der die Denkprozesse bestimmt (Ong 1987: 39): Nur Memorierbares könne gedacht werden (Ong 1987: 40). Auf diese Weise setzt er die Merkmale „von Denken und Ausdruck in einer primär oralen Gesellschaft“ (Ong 1987: 42) allzu umstandslos in eins. Aus linguistischer Sicht sind jedoch die (schriftlichen) Kommunikationsmittel und -strukturen, die tatsächlichen − kulturell und institutionell geprägten − sprachlichen Praktiken von Mitgliedern der Sprach- und Kulturgemeinschaften in mündlicher und schriftlicher Modalität und die kognitiven Prozesse zunächst analytisch zu trennen. Erst dann können Korrespondenzen und Abhängigkeiten thematisiert werden. Aus dieser Sicht ist es nicht gesprochene „Sprache“ im Sinn eines Zeichen- oder Verständigungssystems, die geprägt ist von Formen zur Gedächtnisstützung einerseits sowie zur rhetorischen und kommunikativen Performanz andererseits, sondern es handelt sich eher um Muster und Konventionen der Tradierung und Darbietung von Literatur bzw. kollektivem Wissen in einem jeweiligen kulturellen Rahmen, die das Gattungsrepertoire (Bergmann and Luckmann 1995) in seinen jeweiligen Ausprägungen ausmacht. Diese Ausprägungen müssen im Übrigen offenbar auch in vergleichbar mündlich geprägten Kulturen nicht in derselben Weise auftreten (Scollon and Scollon 1995). Folgerichtig ist es nicht Schriftsprache, die die lexikalischen und syntaktischen Formen zur Vermittlung von Inhalten ohne Rückgriff auf die physische Verfügbarkeit des Sprechers und seiner Origo zur Verfügung stellt, sondern das Sprachsystem im Sinn der unterschiedlichen Repertoires von Formen und Mitteln. Die Bedingungen der Zerdehnung der Sprechsituation (Ehlich 1989) erfordern dann in den schriftlichen Praktiken angesichts des fehlenden physischen Kontextes der Rede desambiguierende Hinweise und generell die Verwendung von sprachlichen Mitteln der Explizierung von in der Ko-
86. Kultur in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung präsenz Gegebenem (s. Abschnitt 4). Was die Gemeinschaft der Schreibenden entsprechend an Gewohnheiten der Genreverwendung und ihrer sprachlichen Indizierung ausformt, führt dann zur Hypostasierung einer „Schriftsprache“. Ich greife nun auf der Grundlage dieser Überlegungen unterschiedliche, prominent diskutierte Konzepte zur Charakteristik „der Schriftsprache“ bzw. „der gesprochenen Sprache“ auf und wende mich damit den Modellierungen zu modalitätstypischen Verständigungssystemen zu. Unter diesen ist gegenwärtig im deutschsprachigen Raum die Unterscheidung von Koch und Oesterrreicher (1985, 1994) in „konzeptionelle“ bzw. „mediale“ Mündlichkeit/Schriftlichkeit sicher die bekannteste. Die mediale Unterscheidung bezieht sich auf die Art der Realisierung der jeweiligen Äußerungen, also in unserer Einteilung auf das verwendete Formensystem, und ist dichotomisch in „phonisch“ und „graphisch“ aufzuteilen. Die konzeptionelle Seite dagegen beschreibt den „Duktus, die Modalität der Äußerungen sowie der verwendeten Varietäten“ und greift damit eher die Ebene des Verständigungssystems auf. Die konzeptionelle Ebene der Unterscheidung sei auf einem Kontinuum zwischen den Polen mündlich und schriftlich anzuordnen (Koch und Oesterrreicher 1994: 587). Für diese Unterscheidung markieren prototypische Gegensatzpaare wie − raum-zeitliche, aber auch soziale, emotionale, „referentielle Nähe/Distanz“, − situations-/handlungsentbunden vs. -gebunden, − monologisch vs. dialogisch
die Unterschiede. Da sie graduell gedacht sind und damit nur die jeweiligen Pole bezeichnen, gibt es Abstufungen und „Grauzonen“ in der Zuordnung zu den jeweiligen Modalitäten. Mit der kategoriellen Unterscheidung in medial/konzeptionell liefert der Zugang von Koch und Oesterreicher also ein Beschreibungsinstrument, das es erlaubt, einige der Unstimmigkeiten aufzufangen, die mit früheren dichotomischen Auffassungen von Mündlichkeit/Schriftlichkeit einhergingen. Diese waren oft allein an den Realisierungsformen orientiert, verbanden damit aber auch „stilistische“ Konventionen und erzeugten folgerichtig zahlreiche Inkongruenzen zwischen Medium und benutzter sprachlicher Varietät: So ist ein mündlich vorgetragener (gar abgelesener) Vortrag, der zuvor schriftlich ausformuliert wurde, klarerweise ein anderer Fall von „Mündlichkeit“ als das informelle Faceto-Face-Gespräch zwischen Nahestehenden, die auf dem Küchentisch zurückgelassene Notiz eine andere Art von Schriftlichkeit als das veröffentlichte Buch. Elektronisch unterstützte Kommunikationsformen schließen diese naive Dichotomie weiter aus: SMS, Twitter, Chats sind oft (nicht immer!) an konzeptioneller Mündlichkeit orientiert, wiewohl sie medial schriftlich realisiert werden − und prägen im Übrigen inzwischen auch bereits ihre eigenen Merkmale aus (Beißwenger 2010). Die konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit quer zu den medialen Feldern wird in ihrer Skalierung zwischen den Polen „Nähe“ und „Distanz“ wesentlich an „Äußerungsformen“ (Koch und Oesterreicher 1994: 588) gebunden, für die die Autoren die folgenden Beispiele geben: familiäres Gespräch, Telefongespräch, Privatbrief, Vorstellungsgespräch, Zeitungsinterview, Predigt, wissenschaftlicher Vortrag, Leitartikel, Gesetzestext. Leitend ist hier also die Vorstellung von Kommunikationsanlässen, die entsprechende Genres ausprägen. Die Prominenz des Ansatzes von Koch und Oesterreicher hat also sicher damit zu tun, dass die oben angeführte Dichotomie sowie die Unterstellung jeweils modalitätsinterner Homogenität überzeugend aufgebrochen wurden.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Maas (2008) nimmt die Unterscheidung in medial und konzeptionell (= strukturell) auf und führt das Gegensatzpaar „orat und literat“ ein, um auch terminologisch zu markieren, wenn es um eine Charakteristik auf struktureller Ebene des Verständigungssystems geht. Die Varianz auf dieser Ebene bindet er an den Registerbegriff, wobei er in „informell, informell-öffentlich und formell“ mit ihren jeweiligen Domänen Familie, enge Freunde − Straße Marktplatz − Institutionen unterscheidet. Im Unterschied zu dem Ansatz von Koch und Oesterreicher stellt Maas die explizite Verbindung zu Aspekten des Erwerbs „literater“ Formen und zu sprachlichen Bildungszielen in Erst- und Zweitsprache her, indem er argumentiert, dass der „Ausbau“ der Sprache zu einer Explizitform aus Gründen der kognitiven und kommunikativen Funktionalität geboten sei, um komplexe und differenzierte Prozesse in beiden Bereichen zu ermöglichen. Damit ist der sprachtheoretisch sehr explizite Entwurf von Maas nahe an Konzepten, die u. a. unter dem Begriff „Bildungssprache“ (Gogolin und Lange 2010; Morek und Heller 2012) gegenwärtig angesichts der zunehmend nachweisbaren Heterogenität sprachlicher Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern die bildungswissenschaftliche und sprachdidaktische Debatte um die Aufgabe der Schule prägen. Literate wie bildungssprachliche Kompetenzen sind dabei in der Nähe von „Schriftsprache“ angesiedelt, die aufgrund ihrer medialen Produktions- und Rezeptionsmodalitäten ein größeres Maß an Planung und Revision und damit Komplexität ermöglicht bzw. Explizitheit erfordert, aber sie sind keinesfalls an mediale Schriftlichkeit gebunden: Neuere Forschungen zum Erwerb zeigen vielmehr, wie literate Komptenzen systematisch in medialer Mündlichkeit grundgelegt werden (s. Abschnitt 3). Scollon und Scollon (1995) führen das Konzept der „somatischen Kommunikation“ als Ersatz für Mündlichkeit ein und kontrastieren sie mit der Kommunikation, die sich einer „technological intervention“ zwischen „Körpern“ (Scollon and Scollon 1995: 27) bedient. Diese Konzeption überwindet ebenfalls viele der diskutierten Defizite der traditionellen Dichotomie mit ihren inhärenten Unterstellungen der jeweiligen internen Homogenität. Das gilt zum Teil auch für solche, die auch bei einer Unterteilung in konzeptionelle und mediale Aspekte noch nicht gelöst sind: Der Rückgriff auf Gattungen oder Register, projiziert auf die Modalitäten, führt dort zu der Unterstellung der Bindung der Kommunikationsanlässe (vgl. die Liste von Koch und Oesterreicher 1994: 588, Abb. 44.1) an die Modalitäten, während das Konzept der somatischen Kommunikation − ohne Kenntnis der Medial-konzeptionell-Unterscheidung − wiederum, in anderer Form, an das Medium (den Körper) bindet. Ein kurzer Blick auf den Umgang von Sprechern/Schreibern im Vollzug ihrer kontextualisierten Praktiken soll das Bild komplettieren und aus dieser Perspektive Hilfen für die Kategorisierungen auch auf Systemebene (4) liefern.
3. Mündliche und schriftliche Praktiken und Kompetenzen des Individuums: Erwerbsaspekte Wie erwähnt (s. Abschnitt 2), sind die Einstellungen und Wertschätzungen, die der Schriftlichkeit entgegengebracht werden, die entsprechenden Kompetenzen und ihre Verteilung über die sozialen Strukturen von Gesellschaften hinweg sowie nicht zuletzt die Prominenz mündlicher Präsentationsformen in verschiedenen Kulturen sehr unterschied-
86. Kultur in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung lich ausgeprägt. Die Ausbildung performativer Fähigkeiten etwa beim mündlichen Erzählen hat auch in manchen modernen, nicht mehr primär oralen Gesellschaften einen hohen Stellenwert (Dauenhauer and Dauenhauer 1995; Kotthoff 1995). Die antike Kunst der Rhetorik taucht − so könnte man argumentieren − in trivialisierter Form in den sogenannten soft skills als Teil moderner Schul- und Universitätsausbildung wieder auf. Die modernen Massenmedien haben in „Kulturen sekundärer Mündlichkeit“ (Ong 1987), die von der Beherrschung der Schrift aus mündliche oder mündlichkeitsnahe Praktiken mit technischer Unterstützung (Telefon, Radio, Fernsehen) nutzen, neue Formen inszenierter Mündlichkeit hervorgebracht (Holly 1996), die auf nicht medial vermittelte Praktiken zurückwirken können. Die Einstellungen gegenüber der Schriftlichkeit, die in hochdifferenzierten westlichen Gesellschaften oft an Institutionen gebunden ist (Schule, Behörden), sind sehr unterschiedlich und können für bestimmte Milieus als schwer vereinbar mit der eigenen Identität betrachtet werden (Quasthoff 2012a). Gleichzeitig wird die Beherrschung schriftsprachlicher Praktiken in vielen Gesellschaften als ein wesentlicher Indikator von Bildung und damit von Status angesehen (vgl. etwa die Prominenz der Lesekompetenz in der ersten PISA-Studie: PISA-Konsortium Deutschland 2001), was sich auch an der Ambiguität des Ausdrucks literacy in der internationalen Bildungsforschung (im Sinn von Grundbildung und Schriftlichkeit) ablesen lässt. Diese wenigen Bemerkungen mögen den weiten kulturellen Rahmen skizzieren, in den mündliche und schriftliche Praktiken in modernen westlich geprägten Gesellschaften eingebettet sind. Vor dem Hintergrund der oben geführten Diskussion greife ich vergleichbare, aber medial unterschiedlich realisierte Praktiken in Erwerbsprozessen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit als ein Feld heraus, in dem die Relationen zwischen den Modalitäten besonders gut sichtbar werden. Forschungen zum Schriftspracherwerb, also der Beherrschung des graphischen Formensystems, sowie zum Erwerb von Schreib- und Lesekompetenz im Sinn von Textkompetenz zeigen, wie wesentlich vorschulische, insbesondere familiale Erfahrungen im Umgang mit Schrift und Texten (Müller 2012) sind. Gleichzeitig zeigen derartige Forschungen aber auch, in welcher Weise die Benutzung eines breiten Themen- und Gattungsrepertoires (Morek 2012; Heller 2012) in mündlicher Familienkommunikation wesentlich für den Sprachausbau und die Teilhabe an Unterrichtskommunikation ist. In beiden Bereichen ist zu bedenken, dass Schriftsprache den Vorschulkindern in der Regel lediglich in medialer Mündlichkeit zugänglich ist. So zeigen die mündlichen Fantasieerzählungen mancher Erstklässler aus unseren Korpora (DASS 2000−2003; OLDER 2002−2005) deutliche Spuren schriftsprachlicher Vorlagen, auf die andere Kinder nicht zurückgreifen können (Quasthoff, Ohlhus und Stude 2009). Bei den dort ebenfalls erhobenen mündlichen Erlebniserzählungen sowie den Spielanleitungen finden sich solche Spuren nicht − allerdings lassen sich im Längsschnitt am Ende des dritten Schuljahrs Spuren schriftsprachlicher Modelle auch im Mündlichen beobachten. Der Blick auf die Genreunterscheidung in dieser ontogenetischen Schnittstelle zwischen bereits bis zum gewissen Grad ausgeprägten mündlichen Praktiken und den neu zu erwerbenden schriftlichen ist für die vorliegenden Überlegungen besonders aufschlussreich. Es zeigte sich in unseren längsschnittlichen Untersuchungen, dass die globale Strukturierungskompetenz (Quasthoff 2009) der Grundschüler in ihren ersten schriftlichen Texten im Vergleich zu ihren mündlich geäußerten bei den Fantasieerzählungen eher zunahm, während sie bei Erzählungen persönlicher Erlebnisse und bei Spielanleitungen eher abnahm (Ohlhus und Quasthoff 2005).
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Zur Erklärung dieser Beobachtung muss man sich vergegenwärtigen, dass das Erzählen von persönlichen Erlebnissen und das Erklären von Spielen als genuin interaktive Muster funktional zur Alltagskultur von Kindern und Erwachsenen gehören, während das Ausdenken und mündlich Zum-Besten-Geben von Fantasieerzählungen eher Aufgabencharakter hat (Ohlhus 2014) und anderen Interaktionsregularien gehorcht, also etwa „monologischer“ verläuft. Die sprachlichen Modelle (Quasthoff 2011), an denen die Kinder sich orientieren können, sind jeweils auch unterschiedlich: Mündliche, konversationell tief eingebettete Diskurseinheiten, deren Kokonstruktion unter Mitwirkung des Kindes gerade die Grundlage des Erwerbs ist (Hausendorf und Quasthoff 1996), sind zu unterscheiden von vorgelesenen, also medial mündlich realisierten, aber „konzeptionell“ schriftlich formulierten Vorlagen. Dabei unterscheidet sich der Prozess des Vorlesens, der häufig relativ wenig interaktiv organisiert ist (Wieler 1997; Ping 2011), von denen der rein mündlichen, nicht thematisch gelenkten Interaktion. Fantasiegeschichten dürften also auch im kulturellen Wissen des Kindes schrift- und institutionen(schul)affin sein. Es ist also nicht verwunderlich, dass Kinder die Vorteile der schriftlichen Produktionsbedingungen (Planungsmöglichkeit, Entkopplung des Ausdenkens und sprachlich Realisierens, zeitraubender Produktionsprozess, der zur strukturellen Fokussierung führt) bei Fantasieerzählungen mehrheitlich zur textlichen Optimierung im Schriftlichen nutzen konnten. Die Nachteile (Wegfall der prosodischen und körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten sowie der interaktiven Unterstützung durch den Zuhörer) wirkten sich hingegen im Schriftlichen bei denjenigen Genres negativ aus, die in der kindlichen Sozialisation an die somatisch und interaktiv geprägten Produktionsbedingungen ungesteuerter Mündlichkeit gebunden sind. Dieser Blick auf den frühen Umgang mit den Anforderungen schriftlicher Produktionsprozesse zeigt gleichsam wie im ontogenetischen Brennglas, auf welche Weise es dann doch wieder die speziellen schriftlichen bzw. mündlichen Produktionsbedingungen sind, die zu jeweils mehr oder weniger gelungenen Praktiken führen. Die Tatsache, dass sich diese Bedingungen in unterschiedlichen Genres unterschiedlich auswirken, verweist jedoch auf eine gewisse Affinität zwischen Genres und kontextuellen Bedingungen der Produktion. Bedenkt man, dass die Genres jeweils mündlich wie schriftlich realisiert werden (können), aber gleichzeitig im jeweiligen kulturellen Wissen manchmal mehr mit der einen oder anderen Modalität verbunden sind, so ermöglicht unsere Datenkonstellation die Einsicht, dass es weniger die mediale Realisierung, sondern der Grad der Gebundenheit an körperliche Ausdrucksformen und interaktive Praktiken ist, die die Affinität der Genres zu den Modalitäten ausmacht.
4. Varianz in Verständigungssystemen und -praktiken Diese Überlegung führt zu dem Versuch einer etwas anders gefassten Bestimmung der Varianz in menschlichen Verständigungssystemen und -praktiken unter Berücksichtigung der Modalitäten: Es gibt eine basale Achse der Varianz, die sich an den Funktionen der jeweiligen kommunikativen Ereignisse orientiert und in der historischen Tradierung zur Herausbildung von Gattungen (Bergmann and Luckmann 1995) bzw. Handlungsmustern führt, denen ihre Zwecke quasi musterhaft inhärent sind. Wir sind hier also auf der Beschrei-
86. Kultur in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung bungsebene der global organisierten und konventionalisierten Verwendungsmuster. Wie die oben angeführten Überlegungen gezeigt haben, sind diese Genres prinzipiell „medial“ blind, d. h., sie können jeweils schriftlich oder mündlich realisiert werden. Wenn es eine Affinität zu einer der Modalitäten gibt (wie die der persönlichen Erlebniserzählung oder Spielanleitungen in unseren Daten zur Mündlichkeit oder die eines Gesetzestextes zur Schriftlichkeit), so sind diese Affinitäten eine Frage der jeweils dominanten kulturellen Praktiken einer Gemeinschaft und des daraus folgenden kulturellen Wissens. Die spezielle Ausprägung der Praktiken führt entsprechend zu einem Formen- und Mittelinventar, das dann mit den Modalitäten in Verbindung gebracht wird. Für die achtjährigen Kinder unserer Daten gehören z. B. schriftlich − literarisch − gestaltete Erlebniserzählungen in Form etwa von Autobiographien oder auch gedruckte Spielanleitungen noch nicht in gleicher Weise zum Gattungswissen wie im Fall von Märchen oder Fantasiegeschichten. Entsprechend verfügen sie noch nicht über die einschlägigen Verfahren zu ihrer Realisierung außerhalb der gewohnten Kontexte. Zu Gesetzestexten gehört in unserer Kultur der Charakter von zeitlicher Überdauerung, der an Schriftlichkeit gebunden ist. Bei anderen Rechtskonzepten in primär mündlichen Kulturen bezieht sich Rechtsprechung jedoch auch auf mündlich tradierte Normen und es dürfte eine Frage der Zeit sein, wann Videoaufzeichnungen etwa als Testament anerkannt werden. Gattungen als funktionale Verfestigungen der gesamten Breite der Varianz kommunikativer Zwecke in Gesellschaften prägen ihre jeweiligen formal-sprachlichen Konventionen aus, die nicht im Einzelnen mehr funktional motiviert sein müssen, sondern im Sinn von Kontextualisierungshinweisen (Gumperz 1982) das Genre indizieren oder andere situative Rahmungen hervorbringen: Eine Anrede konstituiert das Genre Brief, die Varianz zwischen „Liebe [Vorname]“, „Sehr geehrter Herr [Nachname]“ oder „Hi [Vorname]“ wiederum steuert die Rahmung des Briefes bezüglich Beziehung zum Adressaten, Anlass etc., wobei die letzte Variante wiederum eine „Grenzüberschreitung“ zwischen „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ nutzt und die funktionelle Ähnlichkeit zwischen den unterschiedlichen Markierungen der Eröffnung eines Encounters (Begrüßung bzw. Anrede) zum Ausdruck bringt. Obwohl also Gattungen nicht zwingend an bestimmte mediale Realisierungsmodi gebunden sind (die Nachricht auf einem Anrufbeantworter ist oft auf den ersten Blick wie ein Brief gerahmt), gibt es im gesellschaftlichen Wissen abgelegte Kopplungen zur dominanten Verwendung. Deshalb werden manche genretypischen sprachlichen Markierungen als „schriftsprachlich“ aufgefasst, obwohl sie eher spezifische kommunikative Zwecke indizieren. Neben der Varianz nach Zwecken im „kommunikativen Haushalt“ einer Sprachgemeinschaft gibt es eine zweite Achse der Varianz. Sie bezieht sich auf sprachliche und andere kommunikative (prosodische, nonverbale) Repertoires, die einzelsprachliche Verständigungssysteme bzw. auch zum Teil sprachübergreifende Konventionen (Hoffmann und Quasthoff 2013 jeweils bereitstellen: Lexikalische Ausdrücke, syntaktische Baumuster, vorgeformte Ausdrücke, Konnektoren zum Ausdruck von Relationen zwischen Propositionen etc. Die jeweilige Verfügbarkeit (Sprachkompetenz!) über diese Repertoires kann die Präferenz für bestimmte Genres in der Verwendung mit steuern (vgl. Quasthoff 2012b; Hoffmann und Quasthoff 2013). Prinzipiell ermöglicht diese Verfügbarkeit über sprachliche Mittel und Formen überhaupt erst sprachliches Handeln generell.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Auf dieser Achse der Varianz lassen sich Verwendungsfunktionen abbilden, die verschiedene Aspekte der klassischen Modalitätsunterscheidung aufnehmen: Die Art der Verfahren ist zum Teil tatsächlich an das Medium gebunden: Prosodische und nonverbale Mittel stehen im Schriftlichen nicht zur Verfügung und müssen verbalisiert oder auf visuelle Weise angedeutet werden (Smileys, Emoticons), wenn sie aus anderen funktionalen Gründen (s. u.) verwendet werden sollen. Syntaktische Verfahren sind zum Teil an die zeitlichen Bedingungen der Äußerungsproduktion und des Arbeitsgedächtnisses gebunden: Lange Linkseinbettungen und komplexe Hypotaxen sind beispielsweise in der mündlichen Rezeption kaum zu prozessieren. Bestimmte lexikalische Varianten, die angeblich zur Schriftlichkeit gehören, wie etwa ein ausgebautes fachsprachliches Repertoire, können dagegen ebenso in mündlichen Kommunikationsanlässen zwischen entsprechenden Fachleuten verwendet werden. Andere Merkmale, die mit „Schriftlichkeit“ assoziiert werden, haben weniger mit den unmittelbaren zeitlichen und medialen Produktions- und Rezeptionsbedingungungen zu tun, sondern mit den kommunikativen Funktionen „zerdehnter“ (Ehlich 1989) und situationsentbundener Verständigung. Beide Funktionen erfordern ein höheres Maß an Explizitheit in der Informationsgebung für den Fall von Kommunikation mithilfe „technologischer Intervention“ (Scollon and Scollon 1995). Das liegt aber nicht an der Tatsache eines vermittelnden Werkzeugs wie Schrift oder elektronische Speicherung, sondern ergibt sich aufgrund der Anwendung eines sehr basalen Prinzips der menschlichen Interaktion: recipient design (Sacks 1995: 438). Da der Adressat einer schriftlichen Äußerung aufgrund seiner räumlichen und zeitlichen Distanz zum Zeitpunkt und Ort der Äußerungsproduktion zur Verständigung darauf angewiesen sein kann, Informationen zu erhalten, die eben nicht mit dem gemeinsamen Wissen aus der Sprechsituation und der unter Umständen damit korrespondierenden sozialen Nähe gegeben sind, dann muss der Schreiber in Befolgung dieses Prinzips sehr viel mehr explizieren als im Fall von Kopräsenz und geteiltem Wissen. Er tut dies aber nicht wesentlich, weil er „Schriftsprache“ anwendet, sondern, weil er seinem Adressaten Verstehen ermöglichen will. Da er sich nicht an synchronen nonverbalen oder verbalen Rückmeldungen seines Adressaten orientieren kann, muss er diese Informationsgebung auch unter Umständen sehr intensiv planen und bewusst gestalten. Die Verfahren einer derartigen Planung können sich die Revisionsmöglichkeiten schriftlicher Texte oder andere medial-schriftliche Möglichkeiten zunutze machen. Den prinzipiell interaktiven Charakter dieses Prinzips sieht man aber daran, dass auch mündliche Verständigung Verfahren zur Anpassung des Gesagten an die Erwartungen und den Wissensstand des Adressaten hat. Je breiter und vielfältiger (Maas würde sagen: „ausgebauter“) das Repertoire an sprachlichen Mitteln und Formen ist, das dem Produzenten eines Diskurses oder Textes zur Verfügung steht, desto erfolgreicher wird er generell über verschiedene Kommunikationsanlässe hinweg Verständigung herstellen können. Im Fall von Kommunikationen mit wenig geteiltem Wissen außerhalb von Kopräsenz wird die Anforderung an sein Repertoire jedoch grundsätzlich höher sein, denn missglückte Verständigung kann hier nicht geheilt werden durch verstärkte Anstrengungen des Adressaten (Hausendorf und Quasthoff 1996) oder andere kokonstruktive Verfahren der Verständigungssicherung. Mit anderen Worten: Es ist das Ausmaß an (nicht) geteiltem Wissen und (nicht) geteilter Verantwortung für die Verständigung, das den Unterschied ausmacht zwischen „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“.
86. Kultur in der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung Es ist in funktionaler Perspektive folgerichtig, dass Sprachgemeinschaften auch auf der Systemebene Formen und Verfahren hervorgebracht haben, die zur Erfüllung dieser funktionalen Bedingungen besonders geeignet sind. Sie werden deshalb frequent verwendet bei entsprechenden Kommunikationsanlässen. Da Systeme von Formen und Repertoires einschließlich ihrer Verwendungskonventionen ihren Sitz im Wissen der Sprach- und Kulturgemeinschaften haben und daraus ihre Indikatorenkraft ableiten, werden entsprechende Formen und Verfahren zu „Schriftsprache“ und „gesprochener Sprache“ hypostasiert.
5. Literatur (in Auswahl) Assmann, Aleida und Jan Assmann 1994 Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt und Siegfried Weischenberger (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in Kommunikationswissenschaften, 114−140. Opladen: Westdeutscher Verlag. Beißwenger, Michael 2010 Chattern unter die Finger geschaut: Formulieren und Revidieren bei der schriftlichen Verbalisierung in synchroner internetbasierter Kommunikation. In: Vilmos Ágel und Mathilde Hennig (Hg.), Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung, 247−294. Berlin/New York: de Gruyter. Bergmann, Jörg and Thomas Luckmann 1995 Reconstructive Genres of Everyday Communication. In: Uta M. Quasthoff (ed.), Aspects of Oral Communication, 289−304. Berlin/New York: de Gruyter. Chrisomalis, Steven 2009 The Origins and Co-Evolution of Literacy and Numeracy. In: David R. Olson and Nancy Torrance (eds.), The Cambridge Handbook of Literacy, 59−74. Cambridge: Cambridge University Press. Cook-Gumperz, Jenny 1986a Introduction: The Social Construction of Literacy. In: Jenny Cook-Gumperz (ed.), The Social Construction of Literacy, 1−15. Cambridge: Cambridge University Press. Cook-Gumperz, Jenny (ed.) 1986b The Social Construction of Literacy. Cambridge: Cambridge University Press. Coulmas, Florian 1994 Theorie der Schriftgeschichte. In: Hartmut Günther und Otto Ludwig (Hg.), Schrift und Schriftlichkeit/Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/An Interdisciplinary Handbook of International Research, 256−264. Berlin/New York: de Gruyter. Coulmas, Florian 2003 Writing Systems: An Introduction to their Linguistic Analysis. Cambridge: Cambridge University Press. DASS 2000−2003 Korpus: Diskursfähigkeiten als sprachliche Sozialisation: Individuelle Unterschiede in den Diskursstrukturen von Schulanfängern unter ontogenetischen, interaktiven und institutionellen Aspekten, gefördert von der DFG. Dauenhauer, Richard and Nora Marks Dauenhauer 1995 Oral Literatur Embodied and Disembodied. In: Uta M. Quasthoff (ed.), Aspects of Oral Communication, 97−111. Berlin/New York: de Gruyter. Dürscheid, Christa 2006 Einführung in die Schriftlinguistik. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Uta M. Quasthoff, Dortmund (Deutschland)
87. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Psycholinguistik 1. Die Ausgangslage 2. Zur Vorgeschichte einer methodologischen Fiktion 3. Grenzgänger zwischen den Denkstilen
4. Denkbare Axiomatiken oder inkompatible Perspektiven? 5. Fazit 6. Literatur (in Auswahl)
1. Die Ausgangslage Wie alle Bindestrich-Linguistiken verdankt auch die Psycholinguistik ihren eigentümlichen Gegenstand einer methodologischen Abstraktion. Aus der Gesamtheit der Phänomene, die „Sprache“ ausmachen, wird die Schicht der mentalen Verarbeitungsprozesse herausgeschnitten und als Fähigkeit oder Wissen dem sprachmächtigen Individuum zugeschrieben − gelegentlich auch bloß dem Gehirn des Sprechers. Der hoch abstraktive Charakter dieser Gegenstandskonstruktion wird sofort sichtbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir z. B. „Sprache“ nur nennen, was eben nicht dem einzelnen Individuum, sondern einer Zeichen- und Kommunikationsgemeinschaft zugerechnet werden kann,
87. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Psycholinguistik oder wenn man bedenkt, dass die grammatische Tradition ganz überwiegend auf der (gleichfalls abstraktiven) Analyse geschriebener Texte beruht. Ob es sich bei dieser gegenstandskonstitutiven Abstraktion um eine „verständige“ Abstraktion (im Sinne Hegels) handelt, ob ihr also in der Wirklichkeit der sprachlichen Vorgänge etwas konsistent Abgrenzbares entspricht, das ist eine andere Frage. Die moderne Psycholinguistik der letzten 50 Jahre, in ihren Anfängen geprägt durch die generative „Flucht in den Kopf“ (hin zum Sprachwissen eines idealen Sprecher-Hörers), ist in jedem Fall ein Kind derjenigen fachgeschichtlichen Trends, die auch außerhalb der Generativen Grammatik und bei deren Konkurrenten auf eine stärker prozessrealistische Modellierung sprachlicher Vorgänge hinauslaufen. Aber nicht nur das: Die moderne Psycholinguistik ist zugleich auch untrennbar verquickt mit einem weiteren Langzeittrend der Sprachwissenschaftsgeschichte, mit dem Trend nämlich zur Szientifizierung der Methoden und Denkmodelle und zur Partizipation am Prestige und Exaktheitsideal der „harten“ Naturwissenschaften. Dabei wird, mit einiger Zwangsläufigkeit, auch der Gegenstand der Disziplin szientifiziert. Es ist also nicht verwunderlich, dass z. B. ein rezentes Lehrbuch der Psycholinguistik mit Gall, Broca und Wernicke lediglich einige ältere Hirnphysiologen in die eigene Ahnengallerie aufnimmt − dann kommt schon Chomsky! (Höhle 2010: 19 ff.). Keinesfalls möchte man gesehen werden in der Gesellschaft oder in der Tradition „geisteswissenschaftlicher“ Psychologen (oder dessen, was man dafür hält). Vor diesem Hintergrund versteht es sich, dass man das Stichwort „Kultur“ in den Glossaren psycholinguistischer Lehr- und Handbücher vergebens sucht. Die Modellvorstellung, dass Sprechen und Verstehen den Einzelnen in einen institutionell vorgetanen kulturellen Zusammenhang einfädeln, an dem er sodann partizipiert, findet sich stattdessen in einer anderen Bindestrich-Linguistik: in der ethnografisch-anthropologischen des Titeltyps Language, Mind, and Culture (z. B. Kövecses 2006). Was die herrschenden Forschungsmethoden betrifft, so dominiert in der anthropologischen Linguistik die (beobachtende und deutende) Feldarbeit, in der Psycholinguistik dagegen das zugespitzte Laborexperiment, das die eigene hermeneutische Fundierung verschämt verleugnet und in der Scheinevidenz der „Daten“ verbirgt. Nur was laborexperimentell auf allgemeine Gesetze der Sprachverarbeitung bezogen werden kann, qualifiziert sich gemeinhin als „Psycholinguistik“. Das „Subjekt“ der Sprachverarbeitung ist in der Psycholinguistik eine Art Maschine und deren Programmierung gilt als weitgehend vorgetan durch die biologische und neurologische Beschaffenheit des Gehirns. Erforderlich für den Spracherwerb (und für das Funktionieren des Prozessors) ist eine Umgebung, in der eine natürliche Sprache gesprochen wird. Lediglich geringe und variable Anteile der Programmierung dieser „Maschine“ gelten indes für abhängig von den (strukturellen) Besonderheiten der Einzelsprache. Als Beleg für den weitgehend automatischen Charakter der menschlichen Sprachverarbeitung gelten Beobachtungen wie der Wortüberlegenheitseffekt (Stroopeffekt), der zeigt, dass es uns so gut wie unmöglich ist, einen verbalen Input nicht zu prozessieren, selbst dann, wenn das Experiment unsere Aufmerksamkeit auf andere Reize lenkt. Die Parameter der Sprachverarbeitung, an denen die Psycholinguistik interessiert ist, sind die des menschlichen Sprachvermögens schlechthin, die der faculté de langage. Anfänglich, in den generativen Jahren, erwarteten die Psycholinguisten, allein die Modellformate ihrer Strukturbeschreibungen in der prozessualen „Realität“ des Experimentes wiederzufinden. Spätestens in den 80er-Jahren jedoch verblassten diese (ent-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft täuschten) Erwartungen. Allgemeinpsychologische Modellgedanken kamen auf (Netzwerke, Aktivierungsmodelle, Konnektionismus, inkrementelle Verarbeitung etc.). Das Verhältnis zwischen Struktur- und Prozessdaten wurde komplex und indirekt. Die Spendersphäre der erfolgreichen Modelle freilich blieb erhalten: Sie stammen auch weiterhin aus der maschinellen Sprachverarbeitung und spiegeln deren Entwicklungslogik. Fortschritte brachten ab den 80er-Jahren die technischen Möglichkeiten, Sprachverarbeitungsprozesse in Echtzeit (online) anzuzapfen. Gleichwohl: Modellbildung und strikt experimentelle Praxis bilden auch weiterhin eine Barriere gegen kulturwissenschaftliche Orientierungen in der Psycholinguistik. Das war nicht immer so und es muss auch nicht so bleiben.
2. Zur Vorgeschichte einer methodologischen Fiktion Zur modernen Psycholinguistik gehört die illusio des Neuanfangs. Mit der behavioristischen und assoziationistischen Sprachpsychologie der Vorgänger hatte man gebrochen und von der „alten“ Sprachpsychologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Knobloch 1988) wusste und weiß man nichts mehr − abgesehen von höflichen Verbeugungen gegen die frühe Versprecherforschung Rudolf Meringers (z. B. 1908) oder die frühe Spracherwerbsforschung der Sterns (Stern und Stern 1907), die bis heute üblich sind. Die alte, vorwiegend (aber keineswegs ausschließlich) deutschsprachige Sprachpsychologie war in allen ihren Spielarten relativ offen für kulturwissenschaftliche Orientierungen. Entweder war sie „völkerpsychologisch“ fundiert (Steinthal, Wundt), dann sah sie in den einzelsprachlichen Traditionen Sedimentierungen der Kultur und Weltsicht ihrer Sprecher. Oder sie war „individualpsychologisch“ fundiert (Wegener, Paul), dann sah sie in der Dynamik des kommunikativen Verkehrs die Haupttriebkraft einzelsprachlicher Strukturbildung, was in die Annahme einer zumindest partiellen funktionalen Motivierung vorfindlicher Strukturen in den Einzelsprachen führt − und vielfach auch in die Annahme, der prozessuale Einsatz sprachlicher Mittel sei durch deren kommunikative Funktionen mitmotiviert. Es ist wichtig festzuhalten, dass beide Figuren einander keineswegs implizieren. Man kann der Meinung sein, dass die Herausbildung sprachlicher Strukturen funktional motiviert sei, ihr fallweiser Einsatz aber auf der funktionalen Neutralisierung von Konstruktionen im analogischen Gebrauch beruht. Die Pointe der „Individualpsychologen“ seit Wegener (1885) ist eine andere. Sie betrifft den dialogischkooperativen Charakter von „Bedeutung“, die somit eben nicht per „Kognition“ umstandslos dem Individuum zugerechnet (bzw. in dessen Kognition verortet) werden kann. Dass „Bedeutung“ zwischen den interagierenden Individuen entsteht und von ihnen partiell und perspektivisch angeeignet wird zur sozial-kulturellen Selbstprogrammierung der Kognitionen und der Orientierungen, ist die axiomatische Klammer aller „kulturwissenschaftlichen“ Ansätze in der Psycholinguistik seit Wegener (1885). Wir finden diesen Gedanken entfaltet in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Karl Bühler (1934), bei George Herbert Mead und in der kulturhistorischen Psychologie Lew Wygotskis − und bei den minoritären Psycholinguisten der Gegenwart, die sich auf diese Traditionen berufen und beziehen. Aus der Axiomatik der mainstream-Psycholinguistik ist er hingegen ebenso verschwunden wie die „völkerpsychologische“ Tradition. Diskreditiert hat sich diese letztere durch den (lächerlich leicht zu widerlegenden) populären Whorfianismus mit seiner Annahme einer einzelsprachlichen Relativität der
87. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Psycholinguistik Wahrnehmung und Kognition (vgl. für eine populär geschriebene, aber sehr gründliche Neubewertung Deutscher 2010), aber in Deutschland noch zusätzlich durch die völkische Variante dieser Lehre in der (von Leo Weisgerber geprägten) Sprachinhaltsforschung. Ein handfester Effekt dieser Selbstdiskreditierung ist aber auch noch, dass Autoren sich leicht dem Verdacht aussetzen, sie seien Parteigänger des Einzelsprachrelativismus, wenn sie kulturelle Orientierungen in der Psycholinguistik geltend machen. Weniger leicht erklärlich ist es, dass auch interaktionistische und kulturhistorische Traditionen aus der Axiomatik der modernen Psycholinguistik weitgehend verschwunden sind, obwohl Autoren wie Mead und Wygotski in den formativen Jahren der Psycholinguistik durchaus eine Renaissance erlebten. Rückführen lässt sich das ideengeschichtlich auf die Kommunikationsblindheit der heraufziehenden Generativen Linguistik, institutionell hingegen auf die fortschreitende fachliche Ausdifferenzierung von Bindestrich-Linguistiken: Was auch nur entfernt mit „Kultur“ zusammenzuhängen schien, wurde im Zuge der pragmatisch-kommunikativen Wende anderen Subdisziplinen (Pragmatik, Textlinguistik, Gesprächsanalyse) zugewiesen. Denkstilaffinitäten und die gemeinsame Allianz mit dem algorithmischen Ideal einer (maschinellen) Sprachverarbeitung hielten Psycholinguistik und formale Linguistik auch dann noch in enger Wechselwirkung, als der Glaube an die Prozessrelevanz von Strukturbeschreibungen nachzulassen begann. Die nämlichen Affinitäten ließen (und lassen) dialogisch-interaktionistischen Denkmodellen innerhalb der Psycholinguistik kaum Entfaltungsmöglichkeiten − nicht zuletzt, weil sie die vermeintlich festen Größen der Symbolverarbeitung tendenziell verflüssigen: Wie soll man Bedeutungen modellieren, die sich zu „wörtlichen“ überhaupt nur in der extrakommunikativen Perspektive verfestigen, im Gebrauch hingegen flüssig bleiben und von Fall zu Fall konstellativ errechnet werden (vgl. Scheerer 1996; Rommetveit 1983)? Und wie formale und per UG fixierte grammatische Strukturen, wenn die online-Grammatisierung sprachlicher Äußerungen (auch) von lokalen dialogischen Perspektivenverschränkungen abhängt? Was wird aus der Modularität der Syntax, wenn nur pragmatisch-interaktiv im Verkehr bestätigte Konstruktionen die Grammatik einer Sprache bilden (Feilke 1996: 24)? Und was aus den monologischen sprachlichen Kognitionen, wenn sie auf soziale Akte der Koordination von Aufmerksamkeit zurückgehen und verweisen? Vor diesem Hintergrund haben kulturwissenschaftliche Orientierungen immer mit dem Verdacht zu kämpfen, sie könnten (und wollten womöglich sogar) die gesamte Geschäftsgrundlage der experimentellen Psycholinguistik infrage stellen. Mit ihnen − so der verbreitete Argwohn − könnte der ganze mühsam entsorgte hermeneutische Ballast wieder an Bord gelangen und den szientifischen Glanz der Experimente trüben.
3. Grenzgänger zwischen den Denkstilen Charakteristisch für die Grenzgänger zwischen etablierter Psycholinguistik und kulturwissenschaftlichem Denken ist daher zunächst einmal, dass eintrittswillige Kulturwissenschaftler durch harte experimentelle Praxis die methodologische Zugangsvoraussetzung zum Feld erwerben. So empfehlen sich kulturwissenschaftliche Orientierungen in der Psycholinguistik fast zwangsläufig durch den Nachweis experimenteller Implementierbarkeit. Dafür gebe ich in diesem Abschnitt einige Beispiele. Stets spielt dabei eine Rolle, dass das Laboratorium selbst ein sozialer Kontext ist, wodurch die Fiktion einer reinen Sprachverarbeitung nicht wenig beeinträchtig wird.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Weiterhin müssen diejenigen, die die Verarbeitungsrelevanz kultureller Kontextfaktoren bejahen, diese gleichsam sekundär in den Laborkontext einbetten. Sätze in vacuo scheinen bessere Objekte der experimentellen Praxis zu sein, weil sie direkte Zusammenhänge zwischen linguistischer Struktur und Verarbeitung suggerieren, indem sie das Labor ausblenden − während kulturelle Kontexte unter Laborbedingungen kaum nachgestellt werden können, weil das Labor der ultimative Kontext bleibt. Und wer kulturwissenschaftlich denkt, für den ist das Laborexperiment einfach eine kulturelle Praxis unter anderen, die eben ihre eigenen Tatsachen konstituiert. Wenn wir von der methodologischen Front (hermeneutische Feldarbeit bzw. teilnehmende Beobachtung vs. Laborexperiment) zur axiomatischen Front wechseln, so verschiebt sich das Bild ein wenig: Für den kognitiven mainstream liefert die (kulturelle) Praxis des Sprechens und Verstehens lediglich ein Betätigungsfeld für die weitgehend innerlichen, endogenen und individuellen kognitiven Ressourcen der Individuen. Dagegen steht und fällt eine kulturelle Orientierung mit der Annahme, die kulturelle Matrix der sozialen Interaktionen sei selbst eine erstrangige Produktivkraft für das, was am Ende als Sprachkompetenz des Individuums erscheint. Mit einer treffenden Formulierung Velichkovskys (1996: 4): Aus der Frage What is inside of your head? wird die Frage What is your head inside of? In der kulturalistischen Perspektive kann sich das sprachliche Können und (später auch) Wissen der Individuen nur innerhalb der Matrix sozialer Interaktionen überhaupt entfalten. Die Grenze zwischen Biologie und Kultur wird dergestalt neu bestimmt, dass die mitgebrachte Ausstattung die Individuen dafür prädestiniert, aus der externen Sprache der sozialen Interaktionen, in die es von Anfang an verwickelt ist, die Informationen zu extrahieren, die es zum Mitsprechen (ebenso wie zum Mitdenken) befähigen, und dass die ultimativ, d. h. am Ende eines durch Schrift und Schriftlichkeit weitergetriebenen Aneignungsprozesses, aussehen wie ein autonom angeborenes Symbol-Regel-System. Die ideengeschichtlichen Traditionen, aus denen solche kulturellen Orientierungen an den Rändern der Psycholinguistik abstammen, sind stets die gleichen: die kulturhistorische Psychologie Wygotskis, die dialogische Kulturwissenschaft Bachtins, die interaktionistische Sozialpsychologie Meads und die Sozialphänomenologie in der Folge von Alfred Schütz. Am stärksten ist die Tradition der kulturhistorischen Psychologie in der interaktionistischen Spracherwerbsforschung vertreten (von Jerome Bruner 1987 bis Michael Tomasello 2009). Handgreiflich fassbar werden die Differenzen zum kognitiven mainstream dort etwa am Symbolbegriff. Für den Kognitivisten fungiert das Symbol als Träger geordneter Information im Kopf des Individuums, das von vornherein und biologisch auf die algorithmische Verarbeitung solcher Symbolverkettungen eingestellt ist. Für die kulturhistorische Psychologie ist das Symbol ein kommunikatives Verhalten, semiotisiert in Akten der koordinierten Aufmerksamkeit (joint attention) und so weit dekontextualisiert, dass es die mit seinem Gebrauch verbundenen Erfahrungsinvarianzen organisiert und schließlich autonom zu repräsentieren scheint. Im interaktiven Stützsystem für den Spracherwerb (Bruner spricht gern vom LASS, vom Language Acquisition Support System) ist die Fähigkeit, Bezugspunkte für geteilte Aufmerksamkeit zu etablieren, zu entwickeln und zu routinisieren, die entscheidende kulturelle und kognitive Ressource des Individuums. Sie steht gegen Ende des ersten Lebensjahres zur Verfügung und wird dann zum Turbolader des Spracherwerbs. Den beiden konkurrierenden Architekturen des Sprachsymbols begegnet man in verwandelter Form wieder im experimentellen Paradigma der referentiellen Kommunika-
87. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Psycholinguistik tion, das sich als zweites Einfallstor für kulturwissenschaftliche Orientierungen erweist. Hier geht es um die Faktoren, die die Auswahl referierender Ausdrücke im Dreieck von Sprecher, Hörer und konkurrierenden Referenzobjekten steuern (vgl. für einen Überblick: Clark and Bangerter 2004). Ausgehend von monologischen Konzeptionen, bei denen im Experiment allein die Anzahl und Ähnlichkeit der Referenzobjekte variiert wurde, entwickelt sich (maßgeblich beeinflusst von Herbert Clark) Zug um Zug ein Konzept, das dem kooperativen, common ground zwischen Sprecher und Hörer voraussetzenden und schaffenden Charakter dieser elementaren Teilhandlung des Sprechens Rechnung trägt. Welche subtilen (gewöhnlich nur in der Pragmatik wahrgenommenen) Präsuppositionen bei der kooperativen Etablierung von Referenz eine Rolle spielen, belegt ein (ebenfalls von Clark und anderen durchgeführtes) Experiment, in dem Versuchspersonen ein Bild vorgelegt wurde, auf dem Ronald Reagan (damals US-Präsident) und ein zweiter, unbekannter Mann zu sehen waren. Gefragt wurde dann in einer der beiden Formulierungen: a) You know who this man is, don’t you? b) Do you have any idea at all who this man is?
Natürlich wurde this man in der Kondition a) auf Ronald Reagan und in b) auf den zweiten, unbekannten Herrn bezogen, was belegt, dass auch kulturelle Annahmen über geteilte Wissensbestände in die Kokonstruktion von Referenz eingehen. Die axiomatische Relevanz dieser psycholinguistischen Referenzstudien ist beträchtlich, zeigen sie doch die sozial-kooperative und dialogische Architektur referentieller Symbole unter experimentell leicht zu variierenden und zu kontrollierenden Bedingungen. Das Sprachsymbol steht hier ersichtlich nicht für eine feste individuelle Repräsentation, es koordiniert − einmal mehr − Gesprächsteilnehmer auf einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, der damit ein Teil des verfügbaren und im Fortgang der Kommunikation adressierbaren common ground wird (und z. B. in künftigen Interaktionen der gleichen Teilnehmer verkürzt adressiert werden kann). Den schrittweisen Übergang von der improvisierten Beschreibung im Dienst der Referenz zum „deckenden“ Namen (so hätte Wegener 1885 formuliert) illustriert dann ein ebenfalls von Clark und Mitarbeitern stammender Versuch, bei dem die Versuchspersonen eine von vielen Tangramfiguren (= improvisierte visuelle Objekte ohne Standardnamen) für einen abwesenden Hörer identifizieren müssen. Aus deskriptiven Formaten des Typs the person iceskating with two arms wird dann in der zweiten oder dritten Runde der Name the iceskater. Was den reflexiv-partnertaktischen Charakter referierender Ausdrücke unterstreicht. Clark und Bangerter (2004: 40) sprechen von einem „conceptual pact“ zwischen den teilnehmenden Versuchspersonen, von einem „temporary agreement about how they were to conceptualize the referent“. Ist dieser Pakt geschlossen, können Umschreibungen, Vergleiche und hedges entfallen. Kein Zweifel, dass diese Versuchsanordnung wesentliche Eigenschaften des kulturellkooperativen Prozesses nachstellt, in dem Klassen von Referenten konventionelle Standardbezeichnungen in einer Sprachgemeinschaft erhalten. Kein Zweifel auch, dass damit der schlussendliche Inhalt eines vom Individuum gelernten und angeeigneten Sprachsymbols rückgebunden bleibt an dessen konventionelle (und kulturelle) Koordinationsleistungen. Das dynamisch-offene Verhältnis zwischen Beschreibung und Bezeichnung garantiert im Übrigen, dass es eine kulturalistische Bedeutungs- und Referenzlehre völlig ohne whorfianische Implikationen geben kann.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Auch Ragnar Rommetveits dialogische Semantik (Rommetveit 1983) wächst aus einer Kritik an den Zwängen zur methodologischen Reduktion des Gegenstands in der Laborsituation − verbunden mit dem Anspruch, auch dialogische Bedeutungsprozesse könnten laborexperimentell erforscht werden. Die Kritik setzt in der Sache da an, wo Clark und Bangerter (2004) auskommen: beim „referential consensus“ als dem minimalen Ausgangspunkt für die dialogische Aushandlung des Äußerungssinns durch die Teilnehmer. Die alte Praxis bevorzugte die Verarbeitung von „Systemsätzen“ in vacuo unter experimentellen Bedingungen. Sie verselbstständigt die (kompositionale) sprachliche Aussagebedeutung gegen die kontingenten Bedingungen der Äußerung und steht somit in maximalem Gegensatz zur Interaktions- und Gesprächslinguistik, schaufelt dabei aber den hermeneutischen Aufwand lediglich auf die andere Seite, hin zur theoriegetriebenen Interpretation der Labordaten. Im Effekt nähern sich kulturwissenschaftliche Orientierungen in der Psycholinguistik fast immer der gesprächsanalytischen Axiomatik an (z. B. O’Connell and Kowal 2008). Interaktionistische Erwerbsforschung, das theoretisch-experimentelle Paradigma der referentiellen Kommunikation und die dialogische Semantik stehen für drei kulturwissenschaftliche Orientierungen, die sich am Rand der Psycholinguistik etabliert haben. Natürlich gibt es noch andere, aber die drei skizzierten Bereiche zeigen exemplarisch Bruchstellen und Übergangsfelder zwischen experimenteller Pragmatik und mainstreamPsycholinguistik.
4. Denkbare Axiomatiken oder inkompatible Perspektiven? Folgt man der Tradition des szientifisch ernüchterten Kulturbegriffs, so erfasst dieser − ganz ohne evaluative oder programmatische Überschüsse − die Gesamtheit der nicht genetisch tradierten und/oder symbolisch organisierten Verhaltensweisen einer Gruppe oder Population von Lebewesen. So gesehen, spricht auch die Verhaltensbiologie dann mit einigem Recht von „Kultur“, wenn etwa Singvogelsubpopulationen eigene, lokale Gesangstraditionen ausbilden, die von der jeweils nachwachsenden Generation gelernt werden müssen, oder wenn Primatengruppen spezielle Formen von Werkzeuggebrauch oder Nahrungsbereitung herausbilden und lokal tradieren. Von „Kultur“ wäre dann grundsätzlich zu sprechen, wenn die phänotypische Variation des Verhaltens lokal und quasilamarckistisch durch Traditionsbildung kanalisiert und gebahnt wird (quasilamarckistisch, weil der Modus der Weitergabe in diesem Fall gerade nicht genetisch ist). Kulturell in diesem Sinne ist zweifellos der Lern- und Weitergabemodus der Einzelsprache (langue), kulturell in diesem Sinne ist auch die Gesamtheit der Praktiken des Sprechens und Redeverstehens beim Individuum, bis hin zur kognitiven Fremd- und Selbstprogrammierung der Sprecher. Vor diesem Hintergrund fragt man sich natürlich, ob Psycholinguistik anders als kulturwissenschaftlich überhaupt betrieben werden könne. Auf der anderen Seite wird die Anlage zum Erwerb einer natürlichen Sprache (faculté de langage) gewiss genetisch weitergegeben und neuronal programmiert und im fachlichen Selbstverständnis der neueren Psycholinguistik dominiert der Anspruch, diese genetisch-biologische, auf das Individuum zugerechnete Fähigkeit explizierend zu modellieren. Der experimentellen Laborpraxis traut man offensichtlich zu, die Gräben der kulturellen Bahnungen zu überbrücken und direkte Evidenz von der speziesspezifischen
87. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Psycholinguistik Sprachfähigkeit zu liefern. Für den Kulturalisten freilich ist bereits das Material, mit dem die Sprecher operieren, intersubjektiv und kulturell geformt, die Praktiken und Konstruktionen können also nicht umweglos dem Gehirn (oder gar den Genen) des Individuums zugerechnet werden. Wer psycholinguistisch auf die bildgebenden Verfahren der Neurologie (oder auf das Gen FOX P2) setzt, der gleicht ein wenig dem sprichwörtlichen Narren, der seinen verlorenen Schlüssel da sucht, wo es zufällig hell ist, weil er ihn sonst ohnehin nicht finden würde. Das Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit strahlt augenblicklich Neurologie und Genetik an, sie sind Prestigewissenschaften − woraus aber nicht folgt, dass dort auch die Antworten auf Fragen der Sprachverarbeitung zu finden sind. Vom Gen FOX P2 glaubt man zu wissen, dass es irgendetwas mit Sprache zu tun hat, man weiß aber auch, dass es an der Herz- und Darmregulation beteiligt und auch bei den (mit Recht für nicht eben gesprächig geltenden) Mäusen zu finden ist. Anders gesagt: Auch ein Kulturalist zweifelt nicht daran, dass das Gehirn Zentralorgan der individuellen Sprachverarbeitung ist und dass die Sprachkompetenz genetische Prärequisiten verlangt. Er bezweifelt allerdings, dass die kulturellen Parameter der Sprachverarbeitung im Labor einfach abgeschaltet, eingeklammert, überbrückt werden können, ohne dass der Untersuchungsgegenstand Schaden leidet, weil er das symbolverarbeitende Gehirn auch für ein Ergebnis der kulturellen Selbstprogrammierung von Kommunikationsgemeinschaften hält. So gesehen, wird ein Kulturalist viele Experimente der mainstream-Psycholinguistik für höchst interessant halten, aber er wird aus ihren Daten andere Schlussfolgerungen ziehen als diese (vgl. Knobloch 1994: 146−165).
5. Fazit Psycholinguists are typically less concerned with the pragmatics of language use than they are with the architecture of the language processor (or production system) where the emphasis is on a single person comprehending words, sentences or texts apart from real life communicative situations. (Gibbs 2004: 50)
Das Unternehmen der mainstream-Psycholinguistik steht und fällt mit dem Realitätsstatus der von ihr konstruierten vor- und außerkulturellen Sprachverarbeitungsmaschine. Für deren reale Existenz spricht der hochgradig automatische, mechanische und vom intentionalen Bewusstsein abgekoppelte Charakter der sprachlichen Produktion und Rezeption. Der allerdings kann ebenso gut daraus hergeleitet werden, dass fast alle kulturellen Gewohnheiten uns, wenn sie hinreichend institutionalisiert sind, als „zweite Natur“ imponieren. Weiterhin gilt, dass man im Feld hermeneutisch kennenlernen muss, was man hernach unter Bedingungen der methodologischen Reduktion im Labor studieren möchte. Gleich mehrfach könnte sich die Verarbeitungsmaschine als Produkt kultureller Praktiken erweisen: der naturalisierten Praktiken des gesellschaftlichen Sprechens und der kulturellen Praktiken der Laborforschung selbst.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Bruner, Jerome D. 1987 Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Clark, Herbert H. and Adrian Bangerter 2004 Changing Ideas about Reference. In: Ira A. Noveck and Dan Sperber (eds.), Experimental Pragmatics, 25−49. Houndsmills: Palgrave Macmillan. Deutscher, Guy 2010 Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. München: Beck. Gibbs, Raymond W. 2004 Psycholinguistic Experiments and Linguistic-Pragmatics. In: Ira A. Noveck and Dan Sperber (eds.), Experimental Pragmatics, 50−71. Houndsmills: Palgrave Macmillan. Hagtved, Bente Eriksen and Astri Heen Wold 2003 On the Dialogical Basis of Meaning: Inquiries into Ragnar Rommetveit’s Writings on Language, Thought, and Communication. In: Mind, Culture, and Activity 10(3), 186− 204. Höhle, Barbara (Hg.) 2010 Psycholinguistik. Berlin: Akademie. Hörmann, Hans 1976 Meinen und Verstehen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Knobloch, Clemens 1988 Geschichte der psychologischen Sprachauffassung in Deutschland von 1850 bis 1920. Tübingen: Niemeyer. Knobloch, Clemens 1994 Sprache und Sprechtätigkeit. Sprachpsychologische Konzepte. Tübingen: Niemeyer. Kövecses, Zoltán 2006 Language, Mind, and Culture. New York: Oxford University Press. Meringer, Rudolf 1908 Aus dem Leben der Sprache: Versprechen, Kindersprache, Nachahmungstrieb. Berlin: B. Behr. Noveck, Ira A. and Dan Sperber (eds.) 2004 Experimental Pragmatics. Houndsmills: Palgrave Macmillan. O’Connell, Daniel and Sabine Kowal 2008 Communicating with One Another. Toward a Psychology of Spontaneous Spoken Discourse. New York: Springer. Rommetveit, Ragnar 1983 In Search of a Truly Interdisciplinary Semantics. A Sermon on Hopes of Salvation from Heredetary Sins. In: Journal of Semantics 2(1), 1−28. Scheerer, Eckart 1996 Orality, Literacy, and Cognitive Modelling. In: Boris M. Velichkovsky and Duane M. Rumbaugh (eds.), Communicating Meaning. The Evolution and Development of Language, 211−256. Mahwah, NJ: Erlbaum. Stern, Clara und Wilhelm Stern 1907 Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Leipzig: Ambrosius Barth. Tomasello, Michael 2009 Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Velichkovsky, Boris M. 1996 Language Development et the Crossroads of Biological and Cultural Interactions. In: id. and Duane M. Rumbaugh (eds.), Communicating Meaning. The Evolution and Development of Language, 1−26. Mahwah, NJ: Erlbaum.
88. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik Velichkovsky, Boris M. and Duane M. Rumbaugh (eds.) 1996 Communicating Meaning. The Evolution and Development of Language. Mahwah, NJ: Erlbaum. Wegener, Philipp 1885 Untersuchungen über die Grundfragen des Sprachlebens. Halle a. d. S.: Niemeyer.
Clemens Knobloch, Siegen (Deutschland)
88. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik 1. Einleitung 2. Kulturwissenschaftliche Linguistik 3. Politolinguistik seit der Nachkriegszeit
4. Politolinguistik als Kulturwissenschaft 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Die Politolinguistik ist eine relativ junge Disziplin der Linguistik, die ihren (sperrigen) Namen einer Publikation Armin Burkhardts (1996: 82) verdankt: „Für die bisher namenlose Disziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit der Untersuchung der politischen Sprache im allgemeinen und deren […] Teilbereichen im besonderen beschäftigt, möchte ich die Bezeichnung Politolinguistik vorschlagen.“ Aus diesem Definitionsvorschlag geht bereits hervor, dass es eine Politolinguistik avant la lettre gegeben hat. Hier ist insbesondere an rhetorische Fragestellungen zu denken, die auf politische Texte appliziert werden (vgl. Klein 1998: 186). Die Geschichte der Politolinguistik im engeren Sinn setzt in der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit ein. Die Erfahrungen mit der Nazidiktatur wie auch die Teilung Deutschlands weckten ein gesteigertes Interesse an Fragen der „angewandten“ Linguistik, an Fragen nach den Handlungsfunktionen von Sprache (vgl. Niehr 2014a: 19 ff.). Insofern lässt sich die Politolinguistik innerhalb der linguistischen Pragmatik verorten. Bevor sinnvolle Aussagen über kulturwissenschaftliche Orientierungen politolinguistischer Arbeiten möglich sind, bedarf es einer knappen Vergewisserung darüber, was unter kulturwissenschaftlicher (Polito-)Linguistik verstanden werden soll. Danach erfolgt ein notwendigerweise summarischer Überblick über vorliegende politolinguistische Arbeiten und ihre kulturwissenschaftliche Orientierung. Ein Kapitel zu Politolinguistik und Kulturwissenschaft bildet den Abschluss dieses Artikels.
2. Kulturwissenschaftliche Linguistik Im letzten Jahrzehnt hat es eine intensive Diskussion über kulturwissenschaftliche Orientierungen in der Linguistik gegeben (vgl. den Überblick bei Wengeler [2006: 1−2] und
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft die exemplarischen Analysen bei Busse, Niehr und Wengeler 2005). Im Folgenden soll kurz skizziert werden, was das spezifisch kulturwissenschaftliche Moment der Linguistik ausmacht (s. Auer 2000: 60−61). Gemeint ist, dass 1. eine so verstandene Linguistik sich nicht mit Abstraktionen einer idealen Sprache beschäftigt, sondern mit konkreten sprachlichen Äußerungen bzw. Texten, die von sprachlich handelnden Individuen hervorgebracht wurden. 2. Das sprachlich handelnde Subjekt mit seinen vielfältigen Intentionen steht dabei stets im Zentrum. 3. Kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik beschäftigt sich nicht nur mit den Standardvarietäten von Sprachen, sondern auch und gerade mit „Dialekten, Sondersprachen, Regiolekten etc.“ (Auer 2000: 61). Schließlich fokussiert sie sich 4. auf die Ausdrucksund Appellfunktion von Sprache und berücksichtigt 5. dabei, dass sie es „mit einem Gegenstand zu tun hat, der sich wandelt […]“ (Auer 2000: 61). Politolinguistik als Teildisziplin der Linguistik, die v. a. „die pragmatische[], d. h. die kommunikative Funktion der Sprache“ (Klein 1998: 190) berücksichtigt, ist daher kaum anders als mit Bezug auf kulturwissenschaftliche Paradigmen vorstellbar.
3. Politolinguistik seit der Nachkriegszeit 3.1. Nachkriegszeit bis Sechzigerjahre Während und nach der Zeit des 2. Weltkriegs setzten sich Sternberger, Storz und Süßkind sowie Victor Klemperer mit der Sprache im Nationalsozialismus kritisch auseinander (vgl. Sternberger, Storz und Süskind [1957] 1986 sowie Klemperer 2007 und [1947] 2010). Ihre nach dem Krieg erscheinenden Werke waren der Anfang einer Reihe von Publikationen, die eher sprachkritisch als sprachwissenschaftlich zu nennen sind (vgl. Girnth 2015: 14 ff. und zum Verhältnis von Politolinguistik und Sprachkritik Burkhardt 2011 und Niehr 2011). Im Sinne von Auer (2000: 60−61) wird man solchen Arbeiten ihre kulturwissenschaftliche Orientierung nicht absprechen können. Dass diese Orientierung allerdings zulasten sprachwissenschaftlicher Methodik ausfiel, haben Linguisten − allen voran Peter von Polenz ([1963] 1986) − später deutlich machen können (vgl. Schiewe 1998: 242 ff.; Klein 1998: 188; Niehr i. Vb. a). Als Reaktion auf Einwände einer sich als strukturalistisch verstehenden Linguistik, die den Autoren des Wörterbuchs des Unmenschen eine Reihe handwerklicher Fehler vorwarf wie z. B. die Hypostasierung von Sprache, die Vermischung von langue und parole sowie die Nichtunterscheidung von Synchronie und Diachronie, schrieben diese: Dieser Linguist [de Saussure] studiert jede Sprache, als ob sie gar nicht gesprochen würde, als ob sie tot wäre. […] Die Absonderung der Sprache vom sprechenden Menschen bildet also offenbar das methodische Prinzip dieser Art Wissenschaft. Sie scheint zu verfahren wie der Sammler von Käfern und Schmetterlingen, der diese Wesen abtöten und aufspießen muß, bevor er sie untereinander vergleichen und einordnen kann. (Sternberger, Storz und Süskind [1957] 1986: 314)
Im Streit zwischen Sprachkritik und Sprachwissenschaft (vgl. zusammenfassend Dodd 2007; Polenz 2005; Kilian, Niehr und Schiewe 2010: 13 ff.; Niehr i. Vb. a) trafen mithin
88. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik strukturalistische und kulturwissenschaftliche Positionen hart aufeinander. Inwieweit allerdings die Saussure zugeschriebenen („strukturalistischen“) Positionen tatsächlich mit Saussures Auffassungen vereinbar sind, ist durchaus fraglich, kann aber an dieser Stelle nicht diskutiert werden (vgl. Jäger 2010). Auch die in den 50er-Jahren in der BRD entstandenen Arbeiten zur Sprache der DDR (vgl. dazu Bauer 1993 und den Überblick bei Hellmann 2011) mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, den Maßstäben der deskriptiven Linguistik nicht zu genügen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, das Deutsch der Bundesrepublik als das „eigentliche, richtige“ Deutsch (Polenz 1999: 427) anzusehen und allein die Veränderungen im DDRDeutsch für eine drohende „Sprachspaltung“ verantwortlich zu machen. Sie sind eher als „politisch-polemisch“ (Polenz 1999: 427) denn als politolinguistisch einzustufen (vgl. Dieckmann 1967: 164−165). Möchte man die überwiegende Mehrzahl politolinguistischer Arbeiten dieser Phase zusammenfassend charakterisieren, so kommt man nicht umhin, ihren kulturwissenschaftlichen Anspruch anzuerkennen. Problematisch an diesen Arbeiten erscheint hingegen, dass sie in klarem Widerspruch zu einer sich als deskriptiv verstehenden Linguistik stehen. Auf diesen Widerspruch machte seinerzeit allerdings schon Walther Dieckmann in mehreren Publikationen aufmerksam und leitete damit eine methodische Neubesinnung ein. Bereits 1967 konstatiert er in einem Aufsatz, dass die vorliegenden vergleichenden Untersuchungen zur Sprache in der BRD und der DDR für die Sprachwissenschaft wenig ertragreich seien: Statt einer sachlichen empirischen Beschreibung und einer sorgfältigen Bestandsaufnahme spielen von der Einleitung bis zum Schluß sprachtheoretische Prämissen und politisch-ideologische Standpunkte in die Argumentation hinein, wobei ungewiß nur ist, ob die letzteren die ersteren stützen sollen oder umgekehrt. (Dieckmann 1967: 164).
Beides aber ist für eine deskriptive Analyse politischer Kommunikation inakzeptabel. Eine „vorurteilslose Beschreibung des sprachlichen Befundes“ (Dieckmann 1975: 24) wird spätestens seit Dieckmanns Einführung in die Politolinguistik, die bis heute zu Recht als Standardwerk gilt, als unverzichtbare Voraussetzung für eine politolinguistische Analyse angesehen.
3.2. Politolinguistik seit den 70er-Jahren Im Zuge der sogenannten pragmatischen Wende in der Linguistik erweiterte sich auch das Themen- und Methodenspektrum der Politolinguistik. Die inzwischen wohlvertrauten Ansätze der Pragmatik (Sprechakttheorie, Konversationsmaximen, Implikaturen, Präsuppositionen) wie auch Argumentationsanalyse, Semantik und Textlinguistik wurden für die Politolinguistik zunehmend fruchtbar gemacht. Damit einher ging die Besinnung auf methodische Prinzipien der deskriptiven Linguistik. Solchen Ansätzen ist eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise inhärent, da sie jeweils die (sprach)handelnden Individuen mit ihren unterschiedlichen Intentionen und die Appellfunktion von Sprache in das Zentrum der Analyse rücken (vgl. Klein 1998: 190). Hier ist zunächst eine Beschränkung auf die lexikalische Ebene zu beobachten. So werden beispielsweise Schlag-, Schlüssel, Fahnen- und Stigmawörter und die
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft ihnen inhärente Programmatik einer intensiven Analyse unterzogen (vgl. z. B. Europäische Schlüsselwörter 1964; Hermanns 1994; Klein 1989; Liedtke, Wengeler und Böke 1991) und teilweise lexikographisch erschlossen (vgl. z. B. Diekmannshenke 1994; Niehr 1993; Schmitz-Berning 2000; Schottmann 1997; Shrouf 2006; Stötzel und Wengeler 1995; Strauß, Haß und Harras 1989; Wülfing 1982). Neben diese lexikalisch-semantische Forschungstradition tritt zunehmend die Beschäftigung mit Texten. So werden etwa Parteiprogramme (vgl. z. B. Ballnuss 1996; Hermanns 1989, 1991; Niehr 1996 und die Beiträge in den Sonderheften der Zeitschrift Aptum 1, 2006, und 3, 2013) oder Politikerreden analysiert (vgl. z. B. Holly 1996; Klein 2005 und die Beiträge in Burkhardt und Pape 2000) und politische Textsorten typisiert (Klein 2000). Zunehmendes Interesse besteht ebenfalls an der medialen Inszenierung von Politik (vgl. z. B. Dörner 2001; EppingJäger und Jäger 2007; Holly 1993; Niehr 2007), die sich in TV-Auftritten (vgl. z. B. Holly, Kühn und Püschel 1986; Klein 1990) und zunehmend auf den Websites von Politikern und in den sozialen Netzwerken (vgl. z. B. Diekmannshenke 2013; Klemm 2007, 2011; Niehr 2010) finden lässt.
3.3. Diskursanalyse Seit mehr als einem Jahrzehnt ist in der Politolinguistik der Trend zu beobachten, die Beschränkung auf Einzelwörter und -texte aufzugeben und „Diskurse“ zu analysieren − verstanden als thematisch und zeitlich geordnete Text- bzw. Aussagennetze, die über Textkorpora erschließbar sind (vgl. Busse und Teubert 1994; Niehr 2014b; Spitzmüller und Warnke 2011; Keller et al. 2010, 2011). Es geht in solchen Diskursanalysen „um die Beschreibung der Veränderung von Bedeutungen, um die Beschreibung von typischen Handlungs-, Denkmustern und Handlungsstrategien, um die Konstanz, die Tradierung, den Wandel und die Verhandlung von Bedeutungen“ (Spieß 2011: 181). Ebenfalls verspricht man sich, Aufschluss über das Denken, Fühlen und Wollen der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft zu gewinnen, mithin über vorherrschende Mentalitäten bzw. Einstellungen (vgl. Hermanns 1995, 2002). Dazu bedient man sich großer Textkorpora, die meist mithilfe korpuslinguistischer Analysemethoden ausgewertet werden, um „Strukturen, die statistisch auffällig sind, sichtbar zu machen“ (Bubenhofer 2009: 16). Die hier angesprochenen statistisch auffälligen Strukturen können prinzipiell auf allen sprachlichen Ebenen zu finden sein. In der Politolinguistik hat man als kleinste Einheit die Wortebene gewählt. Größere Einheiten (Kollokationen, Metaphern, Argumente) sind mit korpusanalytischen Methoden ebenfalls erforscht worden (vgl. z. B. Böke 1997, 2000; Haß 2003; Niehr 2004; Wengeler 2003). Diese Analysen bedienen sich serieller Quellen, um diachrone Veränderungen im Diskurs sichtbar zu machen, mithin um Diskursgeschichte zu schreiben. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht bei der Ermittlung statistischer Auffälligkeiten stehen bleiben. Diese werden vielmehr zum Ausgangspunkt weiterführender Fragestellungen. So wird beispielsweise gefragt, inwieweit ein veränderter Sprachgebrauch auf eine veränderte „Weltsicht“ schließen lässt oder inwieweit sich eine andere (politische) Einstellung im Sprachgebrauch niederschlägt. Solche Studien verstehen sich eo ipso als kulturwissenschaftliche, sehen sie es doch als ihre Hauptaufgabe an, den sozialen und kommunikativen Charakter von Sprache zu erforschen. Dies gilt auch für die Kritische Diskursanalyse/Critical Discourse Analysis. Sie beruft sich − wie auch andere Spielarten der Diskursanalyse − auf Foucault (vgl. Busse
88. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik 2013; vgl. Artikel 12) und versteht sich als ,interdisziplinär aufgestellte Kulturwissenschaftʻ (vgl. Jäger 2005: 54). Ihr geht es in erster Linie um Machtstrukturen, „um die Funktion von Diskursen als herrschaftslegitimierenden und -sichernden Techniken in der kapitalistischen bzw. globalisierten Gesellschaft“ (Jäger 2005: 55). Der entscheidende Unterschied zur deskriptiven Diskursanalyse besteht darin, dass die Kritische Diskursanalyse sich als „politisches Konzept“ (Jäger 2005: 68) versteht. Sie geht folglich über die deskriptive Analyse von Diskursen hinaus, indem sie sich gegen politisch missliebige Zustände wendet, „gegen Krieg, gegen Rassismus, gegen Ausgrenzungen aller Art, gegen ökologische Fehlentwicklungen oder gegen die Anhäufung von Reichtum auf Kosten sozial ohnedies ‚schwacher‘ Bevölkerungsteile“ (Jäger 2005: 69). Mit dieser politischen Positionierung provoziert sie allerdings Ideologievorwürfe, die im Zusammenhang mit den sprachkritisch-polemisch motivierten Arbeiten zur Sprache im Nationalsozialismus und der DDR bereits diskutiert wurden (vgl. Abschnitt 3.1.; zur Kritik an der Kritischen Diskursanalyse vgl. Niehr 2013: 77 ff., 2014b: 50 ff.).
4. Politolinguistik als Kulturwissenschaft Betrachtet man die Geschichte der Politolinguistik, so erscheint letztere als kulturwissenschaftliche Disziplin par excellence. Gerade die im letzten Abschnitt angesprochene Diskursanalyse scheint Gewähr dafür zu bieten, dass die kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik nicht aus dem Blick gerät. Abzugrenzen von den bisher genannten Arbeiten, die sich im Paradigma der Diskursanalyse verorten, sind hingegen Arbeiten, die sich ausschließlich korpuslinguistischer bzw. inhaltsanalytischer Methoden bedienen (vgl. Artikel 95). Diese Methoden liefern − insbesondere, wenn man sich elektronisch erschlossener Korpora bedient − mit geringem Aufwand große Datenmengen. Es scheint jedoch durchaus zweifelhaft, welche Aussagekraft derartig generierte Daten besitzen. Zu Recht bemerkt Ulrike Haß-Zumkehr (2003: 163−164): So viel von elektronischen Korpora für die Erforschung des Sprachgebrauchs auch zu halten ist, so falsch wäre es, anzunehmen, sie spuckten unmittelbar verwertbare Antworten auf linguistische Fragen aus. […] Ferner ist zu beachten, dass kein Korpus je ‚die‘ Sprache bzw. ‚den‘ Sprachgebrauch repräsentiert, sondern bestimmte Ausschnitte, bei denen darüber gestritten werden kann, wie zentral oder peripher sie für dasjenige sind, das wir für ‚die‘ deutsche Sprache halten.
Die Ergebnisse der hier angesprochenen Korpusabfragen bedürfen demnach also linguistischer Interpretation, einer Korpushermeneutik (vgl. Haß 2007). Dies ist insbesondere auch einer neueren Spielart der Korpusanalyse entgegenzuhalten, deren Vertreter für eine rein lexikostatistische Auswertung von Korpora argumentieren. Derartige Auswertungen sollen ohne Vorannahmen, mithin induktiv bzw. corpus driven erfolgen: Mit der Steigerung der Speicher- und Rechenkapazitäten von Computern ist es zudem möglich geworden, große Datenmengen nicht nur zu befragen, sondern induktiv Strukturen in den Daten zu entdecken. (Scharloth, Eugster und Bubenhofer 2013: 347)
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Aufgrund der zugrunde liegenden großen Datenmengen sei es allerdings schlechterdings unmöglich, die Texte des Korpus zu lesen oder gar zu interpretieren: Die Datenmengen, mit denen nach unseren Vorstellungen im Rahmen datengeleiteter Analysen gearbeitet werden sollte, sind viel zu umfangreich, als dass sie noch durch Lektüre erschlossen, geschweige denn aufwendig kodiert werden könnten. Eine qualitative Deutung jedes einzelnen Textexemplars scheidet daher von vorneherein als Option aus. (Scharloth, Eugster und Bubenhofer 2013: 349)
Derartige Analysen sollen nach Scharloth, Eugster und Bubenhofer (2013: 346) die hermeneutisch orientierte linguistische Diskursanalyse ablösen, die ihre „gesellschaftsanalytische[] Potenz und gesellschaftliche[] Relevanz“ weitgehend verloren habe. Fraglich bleibt allerdings bei einem solchen Vorgehen, welcher Erkenntnisgewinn den auf diese Weise gewonnenen Ergebnissen zukommt. Dies gilt in besonderer Weise für Fragestellungen, die sich nicht allein aufgrund statistischer Auswertungen bearbeiten lassen, für die Analyse politischer Kommunikation allerdings zentral sind. So ist es beispielsweise bislang nicht möglich, metaphorischen Sprachgebrauch oder konklusive Sprechhandlungen allein mittels Analysesoftware zu identifizieren. Dies liegt daran, dass es sich um Phänomene handelt, die sich einer einfachen, regelbasierten Beschreibung weitgehend entziehen und zudem auf das Kontext- und Weltwissen der Rezipienten rekurrieren (vgl. Niehr et al. 2015, Niehr i. Vb. b). Abgesehen von diesem Identifikationsproblem, ist vollkommen unklar, wie eine Analyse derartiger Phänomene allein mit lexikostatistischen Methoden erfolgen soll, zumal bereits die grundlegende Unterscheidung zwischen Gebrauch und Erwähnung sprachlicher Mittel eines hermeneutischen Zugriffs bedarf. Gerade aber für empirischquantitative Analysen, die den Anspruch erheben, Aussagen über den politischen Sprachgebrauch zu machen, ist diese Unterscheidung unverzichtbar (vgl. Niehr 2004: 129 ff.). Plausibler als die Fiktion einer Sprachanalyse, die allein aufgrund von statistischen Auswertungen zu brauchbaren diskursanalytischen Ergebnissen gelangt, scheint demgegenüber eine andere Annahme: Diese geht davon aus, dass Korpusanalysen, die auf große Textkorpora mittels Data-Mining-Techniken zugreifen, Strukturen sichtbar machen können, die anschließend einer linguistisch-hermeneutischen Interpretation unterzogen werden müssen (vgl. Niehr 2014b: 72 ff.). Erst eine solche Kombination aus quantitativen und qualitativen Analysemethoden liefert mögliche Antworten auf (polito)linguistische Fragen danach, wie die jeweils im Fokus der Analyse stehenden Akteure sprachlich handeln, wenn sie Fragen über die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung diskutieren.
5. Literatur (in Auswahl) Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 1 2006 (Themenheft zum Bundestagswahlkampf 2005). Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 3 2013 (Themenheft zum Bundestagswahlkampf 2013). Auer, Peter 2000 Die Linguistik auf dem Weg zur Kulturwissenschaft? In: Freiburger Universitätsblätter 147, 55−68.
88. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik Ballnuß, Petra 1996 Leitbegriffe und Strategien der Begriffsbesetzung in den Grundsatzprogrammen von CDU und SPD. In: Hajo Diekmannshenke und Josef Klein (Hg.), Wörter in der Politik. Analysen zur Lexemverwendung in der politischen Kommunikation, 29−76. Opladen: Westdeutscher Verlag. Bauer, Dirk 1993 Das sprachliche Ost-West-Problem. Untersuchungen zur Sprache und Sprachwissenschaft in Deutschland seit 1945. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Böke, Karin 1997 Die „Invasion“ aus den „Armenhäusern Europas“. Metaphern im Einwanderungsdiskurs. In: dies., Martin Wengeler und Matthias Jung (Hg.), Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag, 164−193. Opladen: Westdeutscher Verlag. Böke, Karin 2000 „Gastarbeiter“ auf deutsch und auf österreichisch. Methodik und Empirie eines diskursanalytischen Vergleichs. In: Thomas Niehr und Karin Böke (Hg.), Einwanderungsdiskurse. Vergleichende diskurslinguistische Studien, 158−194. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bubenhofer, Noah 2009 Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/New York: de Gruyter. Burkhardt, Armin 1996 Politolinguistik. Versuch einer Ortsbestimmung. In: Josef Klein und Hajo Diekmannshenke (Hg.), Sprachstrategien und Dialogblockaden. Linguistische und politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kommunikation, 75−100. Berlin/New York: de Gruyter. Burkhardt, Armin 2011 Linguistisch begründetes Missvergnügen. Über systembezogene und polit(olinguist)ische Sprachkritik. In: Jürgen Schiewe (Hg.), Sprachkritik und Sprachkultur. Konzepte und Impulse für Wissenschaft und Öffentlichkeit, 97−123. Bremen: Hempen. Burkhardt, Armin und Kornelia Pape (Hg.) 2000 Sprache des deutschen Parlamentarismus. Studien zu 150 Jahren parlamentarischer Kommunikation. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Busse, Dietrich 2005 Sprachwissenschaft als Sozialwissenschaft? In: ders., Thomas Niehr und Martin Wengeler (Hg.), Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik, 21−43. Tübingen: Niemeyer. Busse, Dietrich 2013 Linguistische Diskurssemantik: Rückschau und Erläuterungen nach 30 Jahren. In: ders. und Wolfgang Teubert (Hg.), Linguistische Diskursanalyse: neue Perspektiven, 31−53. Wiesbaden: Springer VS. Busse, Dietrich, Thomas Niehr und Martin Wengeler (Hg.) 2005 Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Tübingen: Niemeyer. Busse, Dietrich und Wolfgang Teubert 1994 Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der Historischen Semantik. In: Wolfgang Teubert, Dietrich Busse und Fritz Hermanns (Hg.), Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, 10−28. Opladen: Westdeutscher Verlag. Dieckmann, Walther 1967 Kritische Bemerkungen zum sprachlichen Ost-West-Problem. In: Zeitschrift für deutsche Sprache 23, 136−165.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Dieckmann, Walther [1969] 1975 Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. Mit einem Literaturbericht zur 2. Aufl. Heidelberg: Winter. Diekmannshenke, Hajo 1994 Die Schlagwörter der Radikalen der Reformationszeit (1520−1536). Spuren utopischen Bewußtseins. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Diekmannshenke, Hajo 2013 Chatten − Bloggen − Twittern. Möglichkeiten der Partizipation an Politik im Internet. In: Jörg Kilian und Thomas Niehr (Hg.), Politik als sprachlich gebundenes Wissen. Politische Sprache im lebenslangen Lernen und politischen Handeln, 251−269. Bremen: Hempen. Dodd, William J. 2007 Jedes Wort wandelt die Welt. Dolf Sternbergers politische Sprachkritik. Göttingen: Wallstein. Dörner, Andreas 2001 Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Epping-Jäger, Cornelia und Ludwig Jäger 2007 „Mehr Licht. Fischer Live“. Die ‚Visa-Affaire‘ als Medienereignis. In: Irmela Schneider und Christina Bartz (Hg.), Formationen der Mediennutzung I: Medienereignisse, 139− 158. Bielefeld: transcript. Sprachwissenschaftliches Colloquium (Bonn) = Hugo Moser, Wolfgang Schmidt-Hidding, Mario Wandruszka, Leo Weisgerber und Margarete Woltner (Hg.) 1963−1967 Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. 3 Bde. München: Hueber. Girnth, Heiko 2015 Sprache und Sprachverwendung in der Politik. Eine Einführung in die linguistische Analyse öffentlich-politischer Kommunikation. 2., überarb. u. erw. Aufl. Berlin/Boston: de Gruyter. Haß, Ulrike 2007 Korpus-Hermeneutik. Zur hermeneutischen Methodik in der lexikalischen Semantik. In: Fritz Hermanns und Werner Holly (Hg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, 241−261. Tübingen: Niemeyer. Haß-Zumkehr, Ulrike 2003 Hat die Frauenbewegung Wortschatzgeschichte geschrieben? Chancen und Probleme korpuslinguistischer Analysen. In: Martin Wengeler (Hg.), Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Diskurs- und kulturgeschichtliche Perspektiven, 161−179. (Germanistische Linguistik 169−170.) Hildesheim: Olms. Hellmann, Manfred W. 2011 Zwei Staaten − eine Sprache? Zwei Staaten − zwei Sprachen? Ein Rückblick auf das komplizierte Verhältnis von Politik und Sprachwissenschaft bis 1989. In: Bettina Bock, Ulla Fix und Steffen Pappert (Hg.), Politische Wechsel − sprachliche Umbrüche, 51− 74. Berlin: Frank & Timme. Hermanns, Fritz 1989 Deontische Tautologien. Ein linguistischer Beitrag zur Interpretation des Godesberger Programms (1959) der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In: Josef Klein (Hg.), Politische Semantik. Beiträge zur politischen Sprachverwendung, 69−149. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hermanns, Fritz 1991 „Leistung“ und „Entfaltung“. Ein linguistischer Beitrag zur Interpretation des Ludwigshafener Grundsatzprogramms (1978) der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. In: Frank Liedtke, Martin Wengeler und Karin Böke (Hg.), Begriffe besetzen.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Klein, Josef 1998 Politische Kommunikation − Sprachwissenschaftliche Perspektiven. In: Otfried Jarren, Ulrich Sarcinelli und Ulrich Saxer (Hg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, 186−210. Opladen: Westdeutscher Verlag. Klein, Josef 2000 Textsorten im Bereich politischer Institutionen. In: Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd., 732−755. (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 16.1.) Berlin/New York: de Gruyter. Klein, Josef 2005 Reden für den Frieden. Die Singularität der Reden des UNO-Generalsekretärs. In: Dietrich Busse, Martin Wengeler und Thomas Niehr (Hg.), Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik, 323−335. Tübingen: Niemeyer. Klemm, Michael 2007 Der Politiker als Privatmensch und Staatsperson. Wie Spitzenpolitiker auf persönlichen Websites in Text und Bild ihre Images konstruieren (wollen). In: ders. und Stephan Habscheid (Hg.), Sprachhandeln und Medienstrukturen in der politischen Kommunikation, 145−175. Tübingen: Niemeyer. Klemm, Michael 2011 Bilder der Macht. Wie sich Spitzenpolitiker visuell inszenieren (lassen) − eine bildpragmatische Analyse. In: Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm und Hartmut Stöckl (Hg.), Bildlinguistik. Theorien − Methoden − Fallbeispiele, 187−209. Berlin: Schmidt. Klemperer, Victor 2007 Die Tagebücher 1933−1945. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. v. Walter Nowojski, Mitarbeit: Christian Löser. Berlin: Digitale Bibliothek. Klemperer, Victor [1947] 2010 LTI: Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausg. letzter Hand hg. und komm. von Elke Fröhlich. Stuttgart: Reclam. Liedtke, Frank, Martin Wengeler und Karin Böke (Hg.) 1991 Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag. Niehr, Thomas 1993 Schlagwörter im politisch-kulturellen Kontext. Zum öffentlichen Diskurs in der BRD von 1966 bis 1974. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Niehr, Thomas 1996 Von der „Bewahrung deutscher Identität“ und der „Erhaltung des Bestandes und der Gesundheit des deutschen Volkes“. Analysen zum Parteiprogramm der Republikaner von 1987. In: Hajo Diekmannshenke und Josef Klein (Hg.), Wörter in der Politik. Analysen zur Lexemverwendung in der politischen Kommunikation, 77−95. Opladen: Westdeutscher Verlag. Niehr, Thomas 2004 Der Streit um Migration in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Eine vergleichende diskursgeschichtliche Untersuchung. Heidelberg: Winter. Niehr, Thomas 2006 „Bewahren, was wir für die Zukunft brauchen.“ Textsortenmischung und ihre Funktion am Beispiel des Wahlmanifests der SPD. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 1, 25−42. Niehr, Thomas 2011 Politische Sprache und Sprachkritik. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3, 278−288.
88. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Politolinguistik Niehr, Thomas 2013 Politolinguistik − Diskurslinguistik: gemeinsame Perspektiven und Anwendungsbezüge. In: Kersten Sven Roth und Carmen Spiegel (Hg.), Perspektiven einer angewandten Diskurslinguistik, 73−88. Berlin: Akademie. Niehr, Thomas 2014a Einführung in die Politolinguistik. Gegenstände und Methoden. Göttingen/Bristol: Vandenhoeck & Ruprecht. Niehr, Thomas 2014b Einführung in die linguistische Diskursanalyse. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Niehr, Thomas i. Vb. a Bewerten und Beschreiben in Sprachwissenschaft und Öffentlichkeit: Forschungsfelder und sprachtheoretische Grundlagen einer linguistischen Sprachkritik. In: Gerd Antos, Thomas Niehr und Jürgen Spitzmüller (Hg.), Handbuch Sprache im Urteil der Öffentlichkeit. (Handbuch Sprachwissen 10.) Berlin/Boston: de Gruyter [erscheint]. Niehr, Thomas i. Vb. b Argumentation in Texten. In: Kersten S. Roth, Martin Wengeler und Alexander Ziem (Hg.), Handbuch Sprache in Politik und Gesellschaft. (Handbuch Sprachwissen 19.) Berlin/Boston: de Gruyter [erscheint]. Niehr, Thomas, Eva Dickmeis, Bianka Trevisan und Eva-Maria Jakobs 2015 Neue Wege der linguistischen Diskursforschung. Computerbasierte Verfahren der Argumentanalyse. In: Zeitschrift für Diskursforschung 2, 113−136. Polenz, Peter von [1963] 1986 Sprachkritik und Sprachwissenschaft. In: Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, 289−319. Berlin: Ullstein. Polenz, Peter von 1999 Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band III: 19. und 20. Jahrhundert. Berlin/New York: de Gruyter. Polenz, Peter von 2005 Streit über Sprachkritik in den 1960er Jahren. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 2, 97−111. Scharloth, Joachim, David Eugster und Noah Bubenhofer 2013 Das Wuchern der Rhizome. Linguistische Diskursanalyse und Data-driven Turn. In: Dietrich Busse und Wolfgang Teubert (Hg.), Linguistische Diskursanalyse. Neue Perspektiven, 345−381. Wiesbaden: VS. Schmitz-Berning, Cornelia 2000 Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York: de Gruyter. Schottmann, Christian 1997 Politische Schlagwörter in Deutschland zwischen 1929 und 1934. Stuttgart: Heinz. Schröter, Melani und Björn Carius 2009 Vom politischen Gebrauch der Sprache. Wort, Text, Diskurs. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Shrouf, Naser A. 2006 Sprachwandel als Ausdruck politischen Wandels. Am Beispiel des Wortschatzes in Bundestagsdebatten 1949−1998. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Spieß, Constanze 2011 Diskurshandlungen. Theorie und Methode linguistischer Diskursanalyse am Beispiel der Bioethikdebatte. Berlin/Boston: de Gruyter. Spitzmüller, Jürgen und Ingo Warnke 2011 Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin/Boston: de Gruyter. Sternberger, Dolf, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind [1957] 1986 Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Berlin: Ullstein.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Stötzel, Georg und Martin Wengeler 1995 Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York: de Gruyter. Strauss, Gerhard, Ulrike Haß und Gisela Harras 1989 Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Berlin/New York: de Gruyter. Wengeler, Martin 2003 Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960−1985). (Reihe Germanistische Linguistik 244.) Tübingen: Niemeyer. Wengeler, Martin 2006 Linguistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in diesen Band. In: Martin Wengeler (Hg.), Linguistik als Kulturwissenschaft, 1−23. Hildesheim/Zürich/New York: Olms. Wülfing, Wulf 1982 Schlagworte des Jungen Deutschland. Mit einer Einführung in die Schlagwortforschung. Berlin: Schmidt.
Thomas Niehr, Aachen (Deutschland)
89. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der linguistischen und sprechwissenschaftlichen Rhetorik 5. Kulturbegriffe in der sprechwissenschaftlichen 1. Rhetorik ohne Kulturwissenschaft Rhetorik 2. Kulturwissenschaft ohne Rhetorik 6. Kultur und Rhetorik: deskriptiv vs. evaluativ 3. Linguistische Rhetorik? Auf jeden Fall 7. Literatur (in Auswahl) ohne Kulturorientierung! 4. Kulturorientierung in der Sprechwissenschaft
1. Rhetorik ohne Kulturwissenschaft Kulturwissenschaftliche Orientierung und Rhetorik − das sollte ein Gleichklang sein, weil Rhetorik eigentlich nicht anders als in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive gedacht werden kann, vor allem, weil ihre Anfänge ethnozentrisch sind, ihre Geschichte transkulturell ist. Sprachliche Richtigkeit als Hellenismós zu bezeichnen, ist ethnozentrisch, genauso wie die römische Entsprechung Latinitas; der Übergang der Rhetorik aus der griechischen Welt nach Rom ist ein transkultureller Prozess, der sich fortsetzt bis in unsere Tage: Rhetorik war immer und ist auch heute noch ein multikulturelles und transkulturelles Phänomen. Verwunderlich nur, dass etwa die Rhetorikforschung (ich nenne prototypisch die interdisziplinäre Autorenschaft des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik) zwar natürlich immer kulturspezifische Differenzen der Rhetorik im Nachzeichnen der
89. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Rhetorik historischen Entwicklung über 2500 Jahre thematisieren muss, aber kaum eine explizit kulturwissenschaftliche Perspektive einnimmt. Das Historische Wörterbuch der Rhetorik kennt kein Stichwort Kultur, kein Stichwort Ethnorhetorik. Der Artikel Ethnographie der Rhetorik (Bargatzky 1994) ist ganz und gar ethnologisch angelegt, thematisiert gerade nicht explizit die Kulturalität der abendländischen Rhetorik, sondern sucht völkerkundliche Analoga der Rhetorik, so auch noch im Handbuch Rhetorik und Stilistik etwa Meyer (2008, 2009). Insgesamt sind weder die Artikel aus der Rhetorikforschung noch die aus der Linguistik kulturorientiert angelegt. Der Artikel Kulturphilosophie im Nachtragsband des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik stellt erstmals die Verbindung zu den Kulturwissenschaften her, thematisiert aber nicht die Kulturalität der abendländischen Rhetoriken, sondern interpretiert sie nur kulturwissenschaftlich. Aber mit Lachmann, Nicolosi und Strätling (2008), besonders mit Kopperschmidts Auffassung von Rhetorik als ,kulturelle Praxisʻ und Mattenklotts und Roblings Entdeckung einer Rhetorik sine verbo bei Cassirer, ist vielleicht eine Wendung möglich Richtung Rhetorik in kulturwissenschaftlicher Perspektive? Auch der Anfang einer letztlich kulturvergleichenden Stilistik deutet darauf hin, z. B. Eggs (2008). Wie sehr eine kulturwissenschaftliche Dimension in der Rhetorikforschung notwendig ist, zeigen Reduktionismen, wenn sie fehlt. Es treten dann einander ausschließende Auffassungen von Rhetorik auf, die entweder die antike Rhetorik unverändert in der Moderne oder moderne Lesarten des Rhetorischen schon in der Antike wiederfinden (vgl. Gutenberg 1996). Ein kulturorientierter Ansatz würde sowohl das transkulturell Gemeinsame als auch das kulturspezifisch Verschiedene herausarbeiten und namentlich konstatieren, dass die Rhetorik niemals wirklich untergegangen war, wie manche behaupten, vielmehr kontinuierlich existierte, und sei es nur in Form von Didaktiken oder Ratgeberliteratur oder eben unter anderem Namen: Jede komplexe Gesellschaft braucht eine Kommunikationstéchne, sei es Aufsatzlehre oder Verkaufspsychologie. Ein kulturorientierter Ansatz könnte das Auftreten von Kommunikationstéchnai unter anderen Bezeichnungen selbst als ein kulturelles Muster bestimmter Epochen oder gesellschaftlicher Sektoren verstehen.
2. Kulturwissenschaft ohne Rhetorik Auf der anderen Seite kennen die „Kulturwissenschaft(en)“ (z. B. Joachimstaler und Kotte 2008) die Rhetorik kaum trotz ihrer Bezugslinien zu und Überschneidungen mit Politikwissenschaft und Ethnologie. Nicht einmal Werke, die den Bezug von ,Kulturwissenschaft und Zeichentheorieʻ aufgreifen (Karmasin und Winter 2003) stoßen auf das Konzept Rhetorik. Dagegen rechtfertigt das Vorkommen eines einzigen Aufsatzes Ferdinands Lassalles Rhetorik (Stirner 1973) in einem Sammelband Aspekte einer kritischen Kulturwissenschaft nicht den Titel Rhetorik, Ästhetik, Ideologie (Goth, Balzer und Wickler 1973). Auch wenn die Kultursemiotik (Pankow 1998) die Rhetorik zeichentheoretisch-textanalytisch nutzt, ist Rhetorik damit noch kein Zentralbegriff der Kulturwissenschaft(en). Im Handbuch Literaturwissenschaft (Anz 2007) gibt es einen Artikel, der ausnahmsweise unter dem Titel Rhetorik und Poetik die „Rhetorik als Kulturwissenschaft“ begreift (Till 2007: 435). Allerdings spielt sich der „rhetorical turn“, von dem Till spricht, nicht in
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft erster Linie in den „Kulturwissenschaften“ ab (Till 2007: 437), den Humanities, sondern in den Sciences! Es wäre hier ein Anschluss möglich an Überlegungen zu epistemologischen Dimensionen der Rhetorik (Kopperschmidt 1997; Meyer 2003; Kalivoda 2007). Auch Roblings Artikel Rhetorisches Handeln als kulturelles Handeln (2014) ist nicht wirklich ein Durchbruch zur Kulturorientierung in der Rhetorikforschung. Er bleibt beim Begriff von Kultur als Kultiviertheit in der alten rhetorischen Bildung stehen. Gleichzeitig lässt eine Formulierung wie „die Übertragung der Handlungskonzepte von Cassirer und Aristoteles auf die Rhetorik“ (Robling 2014: 492) den Leser ratlos: Hat Aristoteles nicht die Rhetorik theoretisch grundgelegt? Welche seiner Handlungskonzepte können auf sie übertragen werden? Die anschließende Analyse einer Bismarckrede vermag auch keinen klaren cultural turn zu verdeutlichen. Hettigers Untersuchung über die Analogie im interkulturellen Lernen (2014: 339) scheint ein Einstieg in kulturwissenschaftliche Anwendungen rhetorischer Konzepte zu sein. Aber die Rhetorik selbst wird immer noch nicht kulturwissenschaftlich fokussiert. Ivo Streckers Erzählung Zur Liaison von Ethnologie und Rhetorik (2014) scheint auf den ersten Blick den Durchbruch zur kulturwissenschaftlichen Rhetorikforschung zu bedeuten. Aber über die institutionelle Zusammenarbeit des Ethnologen mit Tübingen hinaus bleiben viele Aspekte ungesehen: dass orale Kulturen eine differenzierte oratory haben, gibt ihnen noch keine Rhetorik, denn die ist keine Praxis, sondern eine Téchne. Die Frage nach der je spezifischen Rhetorik unterschiedlicher Kulturen schließlich bleibt ungestellt. Rhetorik in cultural studies verankern zu wollen, ist sicher sinnvoll; aber es ist ausgesprochen unproduktiv, wenn das geschieht auf der Grundlage eines so diffusen und die klassische Rhetorik strukturalistisch verzerrenden Rhetorikkonzepts wie das von Roland Barthes (Greene 2008). Die Rhetorik für die Kulturwissenschaft(en) war − und ist? − schwierig zu entdecken. Das ist kein Wunder, wenn ein Kulturphilosoph wie Blumenberg sich der Rhetorik eben nicht kulturwissenschaftlich, sondern anthropologisch annähert (1981) und Kopperschmidt (2000), offenbar dem nachfolgend, einen Sammelband rhetorische Anthropologie herausgibt, dessen Beiträge sehr häufig kulturspezifische Aspekte haben − aber sie eben anthropologisch fokussieren und nicht kulturwissenschaftlich: Homo ist zwar anthropologisch loquens, vielleicht sogar orator, aber rhetoricus nur kulturspezifisch! Mit Streckers Reihe Studies in Rhetoric and Culture (erschienen bisher: Carrithers 2009; Strecker and Tyler 2009; Gudeman 2009; Meyer and Girke 2011) sollte aber letztlich die Verbindung von Rhetorikforschung und Kulturwissenschaft gelungen sein; schließlich kann man den Homo rhetoricus auch kulturanthropologisch konzipieren.
3. Linguistische Rhetorik? Auf jeden Fall ohne Kulturorientierung! „Das Interesse der Linguistik an Rhetorik“ (Spillner 1977) ist eins, das „eigentlich bestehen sollte“ (Spillner 1977: 92). Gerd Antos redet zwar von „Ansätzen einer linguistischen Rhetorik“ (1981), aber es bleibt bei vereinzelten Übernahmen, Annäherungen und Reformulierungen. Und natürlich fehlt auch die Kulturorientierung! Noch nicht einmal der Beitrag von Dieter Cherubim (1992) mit einem spezifisch kulturhistorischen Thema zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Rhetorik scheint
89. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Rhetorik sich selbst als kulturwissenschaftlich zu sehen − genau wie die übrigen nicht-linguistischen Beiträge gegenwärtiger Rhetorikforschung im selben Band. In Linguistik als Kulturwissenschaft (Schröder, Kumschlies und Gonzáles 2001) schließlich, in dem man den cultural turn der Linguistik vermuten könnte, findet sich kein einziger Beitrag zur Rhetorik. Und Glücks Artikel, die im Metzler Lexikon Sprache „Kultur“ thematisieren (2010a, 2010b, 2010c, 2010d), stellen keinen Bezug zur Rhetorik her. Das gilt auch für den Sammelband Sprache − Kognition − Kultur von Kämper und Eichinger (2008), der ohne das Konzept Rhetorik auskommt, obwohl in den kulturwissenschaftlich-orientierten Beiträgen viele Themen behandelt werden, die zur Rhetorik gehören (Eichinger 2008; Hansen 2008; Linke 2008; Busse 2008); Deppermann (2008) kommt trotz der Konzeptualisierung von Hermeneutik ohne die komplementäre Rhetorik aus! Ausnahmen sind Biere (2008), der in seinem Schlussabschnitt das − explizit schleiermachersche! − Trivium Hermeneutik, Rhetorik, Dialektik wenigstens programmatisch erwähnt, wenn auch nicht ausführt, und natürlich Knape (2008) − der aber kein Linguist ist! Die Autoren im Handbuch Rhetorik und Stilistik, die Rhetorik kulturwissenschaftlich betrachten, sind auch keine Linguisten, sondern Rhetorikforscher. Linguisten, die in der Handbuchabteilung Rhetorik und Stilistik in Anwendung über Politiker-, Verwaltungs-, Rechts-, Werbungssprache etc. schreiben, begreifen diese Lebens- und Diskussionsbereiche nicht als Kulturen. Außer einer sehr oberflächlichen Anknüpfung bei Kotthoff (2009) ist die einzige linguistische Rhetorikdarstellung mit einem sehr breiten, gleichzeitig historisch und systematisch stimmigen Rhetorikbegriff, die explizit die Beziehung zu kulturtheoretischen Konzepten herstellt, die von Kalverkämper (2000). Er greift das Konzept der Kultureme auf (Kalverkämper 2000: 10), konstatiert die prinzipielle „Kultur(ein)gebundenheit“ aller Kommunikation (Kalverkämper 2000: 11), stellt „Textualität, Kommunikativität, Pragmatik, Kultur“ (Kalverkämper 2000: 9, 12) als Komponenten „des weiten und komplexen Formats der Rhetorik“ (Kalverkämper 2000: 12) in eine Reihe − all das bleibt aber auszuführen! Eine Vielzahl von Arbeiten, obwohl mit genuin rhetorischen Fragen befasst, verwendet nicht einmal den Terminus. Andere beziehen sich auf Teilaspekte des rhetorischen Systems, die sie aber verabsolutieren. Nur wenige versuchen eine Gesamtintegration von Rhetorik und Linguistik, viele haben Rhetorik nur als Titelterminus ohne inhaltlichen Bezug. In dem Sinne, in dem es eine linguistische Pragmatik oder linguistische Stilistik als Teildisziplin oder Bindestrichlinguistik gibt, existiert eine linguistische Rhetorik nicht. So sieht es auch Kindt (2008), obwohl er seinen Text einen Ergebnisbericht aus der Linguistischen Rhetorik nennt: „Eine Forschungsrichtung mit dem offiziellen Namen ‚Linguistische Rhetorik‘ gibt es […] nicht“ (Kindt 2008: 147). Und ihre Kulturorientierung ist fast null.
4. Kulturorientierung in der Sprechwissenschaft Anders als in der Linguistik muss man bei der Sprechwissenschaft nicht fragen, ob Rhetorik überhaupt thematisiert wird: Sie ist obligatorisch ein Teilfach. Sprechwissenschaft, auch schon ihre Vorform Sprechkunde, betrachtet Rhetorik als eines ihrer Teilgebiete (neben anderen) und sieht sich insofern als moderne Replik der antiken Rhetorik,
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft als sie selbst mit ihrer Komplementärdisziplin Sprecherziehung den pädagogischen Anwendungsaspekt der Rhetoriktheorie des Altertums zu realisieren beansprucht. Das ist einerseits zutreffend, andererseits sind die Bereiche von Stimmbildung, Standardaussprache, Körperausdruck in der modernen Sprechwissenschaft ein eigenes Teilfach − Elementarprozesse von Sprechen und Hören, pädagogisch: Sprechbildung −, in der antiken Rhetorik sind sie integraler Teil, der auf die actio/pronuntiatio zielenden exercitationes (Quintilian). Auch variieren die Definitionen nicht so stark wie in der Linguistik. Die Differenzen sind hier auch nicht relevant. So kann man hier sogleich die Arbeiten aufsuchen, die explizit die Kategorie Kultur im Feld des Rhetorischen thematisieren. Dies setzt mit Beginn der 90er-Jahre ein. In den sprechwissenschaftlichen Publikationen im Teilfach Rhetorik war bis dahin die Kulturalität, wie in der ganzen Rhetorikforschung, natürlich implizit. Dies nachzuzeichnen ist eine andere Aufgabe. Ein explizites Frageinteresse, das es erlaubte, von einer Kulturorientierung der Reflexion zu sprechen, taucht nach meiner Kenntnis zum ersten Mal im Sammelband Culture and Communication (Slembek 1991) auf, eine Sammlung von Vorträgen des International Colloquium on Speech Communication, und zeigt damit auch, woher die deutsche Sprechwissenschaft ihre Inspiration für das Interesse an der Kategorie Kultur bezog: von den Arbeiten zu intercultural und crosscultural communication der US-amerikanischen Schwesterdisziplin Speech communication (zum neuesten Stand vgl. Artikel 93). In den frühen 90er-Jahren erschienen eine Reihe von Sammelbänden und Aufsätzen, die eine kulturwissenschaftliche Dimension des Rhetorischen thematisieren: Gutenberg (1992a, 1992b), Geißner, Herbig und Dahmen (1995), Sorayas Diplomarbeit (1998), Forsters Dissertation (1997b) mit ihren Vor- und Nacharbeiten, Bose (1994), die zum ersten Mal die DDR-Ausländerphonetik methodisch mit der Didaktik rhetorischer Kommunikation westdeutscher Prägung verknüpft, Geißner (1992, 1996), wiederum Slembek (1991) und Slembek (1997), wo sie ihre Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation als Buch zusammenfasst, unter dem gleichen Titel wie Gutenberg (1992a), der auch in Kapitelüberschriften in Gutenberg (1992b, 1994: 189) gewählt wurde. Noch peinlicher allerdings ist es, wenn Allhoff (1998) interkulturelle Kommunikation als Herausforderung an die Sprecherziehung bezeichnet, ohne die zahlreichen Vorarbeiten im Fach auch nur zu erwähnen. Zugleich ist mit den Vorträgen der Berliner Tagung 1997 der Deutschen Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung (DGSS) ein ganzer Band der Reihe Sprache und Sprechen der interkulturellen Kommunikation gewidmet (Jonach 1998).
4.1. Kooperation mit Deutsch als Fremdsprache Forsters Dissertation (1997) und Bose (1994) verweisen darauf, dass die sprechwissenschaftliche Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation noch eine andere Quelle hat: die Kooperation mit Deutsch als Fremdsprache. Schon Erich Drachs posthum erschienene Grundgedanken der Deutschen Satzlehre (1937) waren wesentlich motiviert von Fragestellungen aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache, verstanden sich geradezu als eine auf sprechwissenschaftlichen Konzepten basierte Grammatik des Deutschen für den Ausländerunterricht. Geißner setzte die
89. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Rhetorik Tradition der sprecherzieherischen Angebote für Deutsch als Fremdsprache fort (1958, 1959) bzw. näherte sich einem Problem, das die ältere Sprechkunde/Sprecherziehung so nicht kennen konnte, dem „Sprachunterricht für Gastarbeiterkinder“ (Geißner 1981), später hatte Slembek sich ganz auf diese beiden Bereiche konzentriert und entwickelte auf allen Sektoren sprecherzieherischer Arbeit Konzepte für den Deutschunterricht mit Ausländern: Sprechdenken und Hörverstehen, Lautbildung, Sprache, therapeutische Kommunikation, Gesprächserziehung, Literatur, zuletzt Argumentation (vgl. auch Slembek 1984a, 1984b, 1983b, 1981a, 1979 sowie Gutenberg 1989: 13). Diese − zugegeben quantitativ etwas dürftige − westdeutsche Tradition wird ergänzt durch sehr reichhaltige empirische und pädagogisch-praktische Ergebnisse der DDR-Sprechwissenschaft und Sprecherziehung, vor allem auf den Teilgebieten Lautbildung und Intonation im engeren Sinn. Die im Literaturverzeichnis von Gutenberg (1992a) genannten Titel (empirische Arbeiten und Lehrwerke) sprechen quantitativ für sich.
4.2. Kulturorientierung seit den späten 90er-Jahren Das kulturorientierte Frageinteresse setzt sich in den späten 90er-Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fort mit unterschiedlichen Akzenten: Wirtschaftskommunikation in Europa (Geißner, Herbig und Wessela 1999; Forster 1999; Gutenberg 1999), Kommunikationskulturen intra- und interkulturell (Heilmann 2005), Sprechen und Handeln in Kulturen (Barthel 2001), Rhetorik zwischen Tradition und Innovation (Mönnich 1999), interpersonelle Kommunikation: Analyse und Optimierung (Bose und Neuber 2011), Erforschung und Optimierung der Callcenterkommunikation (Hirschfeld und Neuber 2011), wobei die letztgenannten Sammelbände sich nicht komplett dem Phänomen der Kulturalität widmen, aber einige kulturthematisierende Beiträge haben.
5. Kulturbegriffe in der sprechwissenschaftlichen Rhetorik Von einer schlichten Auffassung interkultureller Kommunikation als eines Teilgebiets des Rhetorischen (was weitestgehend vorherrscht) entwickelt sich dabei in einigen Arbeiten allmählich ein Begriff des Kulturellen als fundamentaler Eigenschaft der Kommunikation, also auch der Rhetorik (Gutenberg 1996; Heilmann 2005; Geißner 1998; Soraya 1998; Gutenberg 2001: 51, 249−256). Dabei dringt das Fach nicht zu einer Explizierung der Kategorie Kultur vor, auch wird das Verhältnis der Terminologien interkulturelle Kommunikation, Kommunikation in Kulturen, Ethnorhetorik und -hermeneutik nicht diskutiert. Auch Gutenberg 1996, die einzige Arbeit, die versucht, den Kulturbegriff auf die Rhetorikgeschichte selbst anzuwenden, sagt nicht explizit, was unter Kultur zu verstehen sei, sondern setzt das Konzept der russischen kulturhistorischen Psychologie voraus. Auch in Gutenberg (2001), wo interkulturelle Kommunikation geradezu als eines der Zukunfts-Projekte der Sprechwissenschaft propagiert wird, gibt es keinen eigenen Definitionsversuch. Und ausgerechnet Gutenberg 2009, wo Normativität in der Rhetorik diskutiert wird, thematisiert die Kulturalität nicht explizit. Auch Kammhuber (2004) übernimmt nur eine der kulturwissenschaftlichen Definitionen.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Geißners Vorschlag, die Kulturalität jeglicher Rhetorik mit Ethnorhetorik und Ethnohermeneutik zu fassen (1998), wirkt auf den ersten Blick nur wie eine überflüssige terminologische Verkomplizierung: Warum sollte man kulturelle Gemeinschaften und Subkulturen Ethnien nennen − wo dieser Terminus doch in der Ethnologie anders verwendet wird? Aber die falsche Analogie, die in der Ethnographie des Sprechens und der Ethnomethodologie noch durchaus fruchtbar war, wird in Soraya (1998) zur kulturrelativistischen Ideologie: „Objektkonstanz“, „Kausalität“ oder das „Paradigma“ von der Sonne „als Stern“ (Ist das ein Paradigma? Ein Paradigma von der Sonne als Planet gab es nie!) sind eben keine „Hilfskonstruktionen des Glaubens“ (Soraya 1998: 35) und stehen damit nicht auf einer Ebene mit dem „Azande-Orakel“ (Soraya 1998: 33). An diesem völlig überzogenen Kulturbegriff sind natürlich kulturwissenschaftliche Konzepte schuld, die Kultur letztlich konstruktivistisch verstehen, darunter auch Ansätze, die sich auf Cassirer berufen.
6. Kultur und Rhetorik: deskriptiv vs. evaluativ Gegenüber diesem extremen, letztlich konstruktivistischen Kulturbegriff, zu dem die Konzepte Ethnorhetorik und Ethnohermeneutik zu verführen scheinen, ist den Verwendungen des Terminus Kultur in Sprechwissenschaft und Linguistik ein moderater Kulturbegriff implizit: Der Siedepunkt des Wassers ist nicht kulturabhängig, variiert höchstens mit dem Luftdruck, aber ob er in Fahrenheit, Celsius oder Réaumur gemessen wird, das ist kulturspezifisch. Vieles von dem, was heute Kultur genannt wird, wurde früher von der Soziologie, der Sozialpsychologie, der Psychologie, den Geisteswissenschaften usw. behandelt − die Rede ist hier vom erweiterten Kulturbegriff. Der normative Kulturbegriff findet sich in den älteren Bindestrichdisziplinen Kultursoziologie, Kulturpsychologie etc. Wenn es einen Sinn haben soll, das Kulturelle vom Sozialen, Psychischen, Sprachlichen etc. zu unterscheiden, dann ist es das Moment der Differenz, das in den Verwendungen des Wortes Kultur steckt, das die Verwendungen begründen könnte: Sprachlichkeit ist anthropologisch-universell, die jeweilige verwendete Sprache ist Kultur. Sozialität ist anthropologisch-universell − die jeweilige soziale Formation ist Kultur. Die Funktion von Artefakten kann transkulturell sein: Die holzkampschen Gegenstandsbedeutungen, die verallgemeinerten Zwecksetzungen von Werkzeugen sind universell (Holzkamp 1976): Löffel gibt es in jeder Kultur, nur können sie ganz verschieden aussehen − und manche halten ihn nur in der linken Hand. Gerade hier gilt es doppelt vorsichtig zu sein. Einerseits ist Kultur nicht auf Menschen beschränkt, wie der Artikel Kultur im Metzler Lexikon Sprache (Glück 2010a) und der Artikel Kulturphilosophie im Historischen Wörterbuch der Rhetorik annehmen (Robling 2012). Es gibt primatologische Erkenntnisse, nach denen die eine Schimpansenpopulation Termiten auf die eine, die andere Population auf eine andere werkzeugbenutzende Art erntet − und dies durch Tradition weitergibt −, das sind verschiedene Kulturen! Zweitens ist Sozialität nicht nur eine anthropologische Kategorie, sondern auch eine historische. Gesellschaften sind, nach den klassenlosen Urgesellschaften der Jäger und Sammler, immer Klassengesellschaften. Aber ob sie in Kasten organisiert sind oder in Ständen, ob Despotien organisiert sind wie in Ägypten oder wie in Mesopotamien, Demokratien wie in der Polis oder in Rom, wie in Athen oder wie in Sparta − das ist ein
89. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Rhetorik kultureller Unterschied! Es haben wahrscheinlich auch die klassenlosen Urgesellschaften unterschiedliche Kulturen ausgebildet: südafrikanische Buschmänner versus australische Aborigines. Ob Polis, ob Despotie, es handelt sich um Staaten. Und auch Staatlichkeit scheint eine nicht-kulturelle Kategorie zu sein, sondern eine transkulturell soziale. Dass Staatlichkeit entsteht, ist wohl kein Kulturphänomen; auch nicht, welche Art von Staatlichkeit − es scheint im Altertum geographisch und ökonomisch bestimmt, ob Despotien oder Demokratien sich bilden (die Demokratien sind von der Antike bis ins 18. Jahrhundert die Ausnahmen). Die genauen Verhältnisse sind nicht hier im Detail zu untersuchen. Entscheidend ist, auch für Kultur auf der Ebene von Teilgesellschaften, Jugendgruppen, Vereinen etc., dass es sich um ein System von Denk- und Handlungsweisen handelt, auch Produktionsweisen, die nicht primär objektiv-materiell determiniert sind, sondern letztlich auf Sitte, Brauch, Herkommen beruhen (gleichgültig, ob die Bräuche 1000 oder zehn Jahre alt sind). Entscheidend ist weiterhin, dass diese Verhaltens-, Denk-, Arbeitssysteme, die wir Kulturen nennen, eine eigene Geschichte haben, eine eigene Logik und Dynamik ihrer Entwicklung; dass sie eine unglaubliche materielle Geschichtsmächtigkeit entfalten können: Die Religionen dieses Planeten sind dafür in der Vergangenheit und (leider auch) in der Gegenwart drastische Beispiele. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Kultur und Stil. Stile sind Arten, Aufgaben zu lösen, funktional identisch, modal jeweils verschieden. Vor allem das Moment der Jeweiligkeit ist kulturtheoretisch entscheidend. Dabei mag der eine oder andere Stil die Aufgabe weniger gut lösen. Dann wird er verschwinden − oder er wird seinen Nutzern Nachteile bescheren. Eine Kultur, die, wie die Zeugen Jehovas, Bluttransfusionen ablehnt, muss mit Todesfällen rechnen − oder dem Staatsanwalt. Und wie verhält es sich mit Rhetorik? Offenbar ist das (trotz Blumenberg 1981 und Kopperschmidt 2000, s. o.) keine anthropologische Kategorie. Geredet haben die Menschen, seit sie Menschen sind, aber seit wann hatten sie Redelehren? Damit sind wir beim Definiens des Rhetorischen. Rhetorik ist eine techné, eine Kunstlehre, die in unterschiedlichen Kulturen und Epochen unterschiedlich konzeptualisiert wird. Die meisten, vor allem linguistischen, aber auch literaturwissenschaftlichen Rezeptionen von Rhetorik nehmen das Wort für den Begriff, ohne zu merken, dass der Blickwinkel, unter dem sie auf Rhetorik stoßen, Produkt eines kulturhistorischen Prozesses ist, der auch terminologisch unterschiedliche Aspekte des Gesamtphänomens Rhetorik in den Vordergrund schob. Daraus ergaben sich einige Vereinseitigungen. Entweder man historisierte zu sehr und verstand unter Rhetorik das, was Aristoteles geschrieben hatte − und nichts sonst −, oder man literarisierte zu sehr und blieb also bei der Figurenlehre stehen oder man linguistisierte zu sehr und identifizierte Rhetorik mit einer Handlungstheorie der Sprache oder man philosophierte zu sehr und machte aus Rhetorik eine spezifische Erkenntnistheorie für spezifische, nämlich soziale und ethische Sachverhalte. In der Sprechwissenschaft selbst rhetorisierte man zu sehr: Alle Komplexprozesse mündlicher Kommunikation, die nicht Dichtungssprechen und Sprechen des Schauspielers waren, gingen in Rhetorik auf. Der bislang verwendete, aller Kulturwissenschaft zugrunde liegende − ebenso allen Kulturorientierungen in anderen Humanwissenschaften − Begriff von Kultur ist deskriptiv und allumfassend: Letztlich ist alles Kultur, was tradierte Spezifikation des Denkens, Handelns, Arbeitens, des Lebens überhaupt einer Gemeinschaft im Unterschied zu anderen Gemeinschaften ausmacht.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Das Wort Kultur aber hat immer noch eine wertende Konnotation. Dies entspricht auch einer Erfahrungsrealität, dass etwa Reden als mehr oder weniger, als besonders gut oder gerade noch gelungen empfunden werden, unabhängig vom perlokutionären Effekt oder Redeerfolg. Wenn wir wissenschaftlich den Terminus Kultur für den deskriptiven Kulturbegriff reservieren wollen, dann wäre es denkbar, für diese Dimension die Kategorie des Ornatus neu zu definieren. Zwar wird Ornatus gemeinhin mit einem sprachfigurenüberladenen Pomp, eben dem asianischen Stil, identifiziert. Es wäre aber möglich, ihn nicht als überflüssige Preziosität des Stils zu begreifen, sondern als ästhetischen Mehrwert, als das kunstvolle Surplus, im Sinne eines wertenden Kulturbegriffs. Ornativ wäre dann das, was über die latinitas, das funktionale aptum, das ethische decorum hinaus einen besonderen Witz aufwiese (elegante Argumentation, gelungene Pointen etc.), eine besonders kunstvolle Beherrschung der Hochsprache, eine Raffinesse in Grammatik und Lexik, die aber nicht als überladen empfunden würde, sondern eben als besonders gekonnt. Von hier aus könnte man über die elocutio hinausgehen und einen solchen ästhetischen Mehrwert auch in der inventio und dispositio, gar in der actio usw. aufsuchen. Ornativ wäre dann das Rhetorische im Modus des Ästhetischen (vgl. Gutenberg 1994: 363 ff.), es wäre eine mögliche Integration des delectare als Dimension nicht nur eines bestimmten genus, sondern jeder Rede und jedes Gesprächs.
7. Literatur (in Auswahl) Allhoff, Dieter 1998 Interkulturelle Kommunikation als Herausforderung an die Sprecherziehung. In: sprechen 1, 4−10. Antos, Gerd 1981 Rhetorisches Textherstellen als Problemlösen. Ansätze zu einer linguistischen Rhetorik. In: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Perspektiven der Rhetorik, 192−222. (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 43/44.) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Anz, Thomas (Hg.) 2007 Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände − Konzepte − Institutionen. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart: J. B. Metzler. Bargatzky, Thomas 1994 Ethnographie der Rhetorik. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2, 1507−1512. Tübingen: Niemeyer. Barthel, Henner (Hg.) 2001 Sprechen und Handeln in Kulturen. Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Biere, Bernd Ulrich 2008 Sprachwissenschaft als verstehende Wissenschaft. In: Heidrun Kämper und Ludwig Eichinger (Hg.), Sprache, Kognition, Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, 226−276. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Blumenberg, Hans 1981 Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, 104−136. Stuttgart: Reclam. Bose, Ines 1994 Gesprächsfähigkeit als Ziel im Fremdsprachenunterricht Deutsch für Fortgeschrittene − Ansätze zur Verbindung von Arbeitsmethoden aus Phonetik und Rhetorik. In: Horst
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Goth, Karl Michael Balzer und Lutz Winckler (Hg.), Rhetorik, Ästhetik, Ideologie. Aspekte einer kritischen Kulturwissenschaft. Stuttgart: J. B. Metzler. Strecker, Ivo 2014 Zur Liaison von Ethnologie und Rhetorik. In: Gert Ueding und Gregor Kalivoda (Hg.), Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, 503−527. (Rhetorik-Forschungen 21.) Berlin/Boston: Walter de Gruyter. Strecker, Ivo and Stephen Tyler 2009 Culture and Rhetoric. (Studies in Rhetoric and Culture 1.) New York/Oxford: Berghahn Books. Till, Dietmar 2007 Rhetorik und Poetik. In: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände − Konzepte − Institutionen. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, 435−465. Stuttgart: J. B. Metzler.
Norbert Gutenberg, Saarbrücken (Deutschland)
90. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gestenforschung 1. Einleitung 2. Kulturbegriffe für die Gestenforschung 3. Kultur und Geste: anthropologische Ansätze 4. Kulturen und Gesten: ethnologische Ansätze 5. Soziokulturelle Perspektiven auf multimodale Interaktion
6. Verkörperung, kognitive Schemata und mediale Repräsentation: ikonographische Ansätze 7. Schlussbemerkungen 8. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Eine kulturwissenschaftlich orientierte Gestenforschung sieht sich angesichts des Plurals der Kulturwissenschaften mit der gegenstandskonstituierenden Aufgabe konfrontiert, dem Zusatz „kulturwissenschaftliche Orientierung“ eine näher umrissene Bedeutung zu verleihen. Bis dato existiert zwar kein als solcher definierter Zweig innerhalb des noch relativ jungen, pluridisziplinären Gebiets der Gestenforschung (s. Müller et al. 2013, 2014). Gleichwohl gibt es verschiedene etablierte Ansätze und Methoden, die in ihrer Zusammenschau bereits einen substanziellen Beitrag zu einer zumindest kulturwissenschaftlich motivierten, multimodalen Sprachgebrauchs- und Interaktionsforschung geleistet haben. Angesichts der zentralen Rolle, die der menschliche Körper durch seine soziokulturelle Bedingtheit und Praxis in semiotischen bzw. performativen Akten spielt, erscheint es angebracht, der empirischen Gestenforschung einen festen Platz in einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Linguistik einzuräumen (zu Gebärdensprachen vgl. Artikel 91). Da linguistische Kategorien und Theorien der idiosynkratischen Semiotik
90. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gestenforschung und Medialität des Körpers nur begrenzt gerecht werden können, beziehen zahlreiche Gestenforscher allgemeine, über die menschliche Lautsprache hinausgehende semiotische Prinzipien (z. B. Peirce 1960) in ihre Theorierahmen mit ein (vgl. Enfield 2009; Fricke 2012; Haviland 2000; Mittelberg 2013a). Von einem multimodalen und verkörperten (embodied, Johnson 1987) Sprachverständnis ausgehend, spannt sich dieser Artikel entlang der folgenden Fragestellungen auf: Worin genau könnte eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Gestenforschung bestehen und welcher Kulturbegriff könnte als grundlegend vorausgesetzt werden? Welches wären ihre genuinen Forschungsfragen und welche methodischen Implikationen würde sie zeitigen? Unter Gesten werden hier Hand- und Armkonfigurationen, Hand- und Armbewegungen sowie Ganzkörperposen und -bewegungen verstanden, die die visuell-aktionalen Komponenten einer multimodalen Äußerung ausmachen und kommunikative Funktion haben (Kendon 2004; Müller 1998). Spontane redebegleitende Gesten umfassen u. a. deiktische Hinweise auf Dinge, Orte, Ideen, Redebeiträge und Personen oder schematische bzw. sehr reduzierte bildliche Andeutungen von Dingen, Handlungen oder räumlichen Konstellationen, die erst im Verbund mit der synchron produzierten Lautsprache und anderen kontextuellen Faktoren ihre lokale Bedeutung entfalten (Jakobson 1987; Mittelberg and Waugh 2014). Emblematische Gesten, sogenannte emblems (McNeill 1992), sind Gesten mit kulturell definierten Form-Bedeutungs-Korrelationen wie z. B. die Victorygeste, die aus einem mit Zeige- und Mittelfinger geformten V besteht. Ihre Bedeutung wird ohne lautsprachlichen Zusatz verstanden. Aufgrund ihrer dynamischräumlichen Medialität sind Gesten, ob vorwiegend indexikalischer, ikonischer oder symbolischer Natur, besonders geeignet, räumliche und performative Dimensionen einer komplexen Mitteilung zur inneren und äußeren Betrachtung hervorzubringen und so intersubjektiv erfahrbar zu machen. Dabei bilden Gesten nicht nur ab oder verweisen auf etwas anderes, sondern erzeugen auch neues semiotisches Material oder stellen Verbindungen zwischen Sprechenden und ihrer gegenständlichen und sozialen Umwelt aktiv her (vgl. Streeck, Goodwin and LeBaron 2011). Sie können individuell oder kollektiv Erinnertes oder im Moment Geschehendes evozieren, aber auch Dinge oder Beziehungen, von denen der Sprechende nur eine gewisse Ahnung hat, ertasten. Gesten können, so gesehen, dynamische, material gewordene Rückbesinnungen verkörpern, prototypische Formen suggerieren oder auch Visionen im Sinne von Vorwärtsentwürfen hervorbringen (Assmann 1999: 28; vgl. Mittelberg 2012; Mittelberg, Schmitz und Groninger 2016). Wie andere Medien nehmen Gesten konstitutiv Anteil an Assoziations- und Codierungsprozessen: Gestische Zeichen reproduzieren bzw. transformieren sich durch mimetische und intertextuelle Verfahren in ineinandergreifenden kognitiv-medialen Prozessen der Mimesis (Calbris 1990; Müller 2010a; Wulf 2010), der Bezugnahme (Goodman 1997; Jäger, Fehrmann und Adam 2012) und in symbolischen Handlungen (Bourdieu 1972; vgl. Artikel 13; Bredekamp 2010). Inwiefern Form und Gebrauch von natürlichen Medien (z. B. gesprochene Sprache, Gestik, Mimik, Gebärdensprache, Proxemik) in Interaktion mit kulturellen Praktiken, Medien und Technologien die kulturelle Semiose global und in bestimmten Kulturen oder Gruppen vorantreiben, kann hier nicht erschöpfend erörtert werden (vgl. etwa Wulf und Fischer-Lichte 2010). Auch aus der zweitausendjährigen Kulturgeschichte der Gestenbetrachtung können nur einige ausgewählte Fälle besprochen werden (einen Überblick geben etwa: Bremmer and Roodenburg 1992; Kendon 2004; Müller 1998, 2002). Im Folgenden sollen zentrale Ansatzpunkte der Gestenforschung sowie eine Auswahl empi-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft rischer Studien im Licht verschiedener Kulturbegriffe und im Sinne der in diesem Band unternommenen kulturwissenschaftlichen Reorientierung der Sprachwissenschaft verortet und für zukünftige Arbeiten fruchtbar gemacht werden.
2. Kulturbegriffe für die Gestenforschung Kultur, im weitesten Sinn verstanden als formgebendes und sinnstiftendes semiotisches Verfahren, in dem der handelnde Mensch medial mit seiner Umwelt in Beziehung tritt (vgl. Artikel 2 sowie die Artikel 11−18), zeigt der Wissenschaft seit jeher ein Janusgesicht. Diese ihr zukommende Doppelnatur besteht dabei in einer reziproken Wechselwirkung, die Kultur einerseits als durch menschliches Handeln erzeugten Sinnzusammenhang und andererseits menschliches Handeln selbst wiederum als kulturbedingt erscheinen lässt. Kultur konstituiert sich also in menschlichem Handeln, wirkt aber selbst in Gestalt von Institutionen, Ritualen, Gepflogenheiten und Regularitäten auf menschliches Verhalten und Handeln zurück (Elias 1976). Eine kulturelle Semantik natürlicher und kultureller Medien muss nun inmitten dieser sich in zwei gegenläufigen Richtungen entfaltenden Prozesse ansetzen, um sowohl kulturelle Hintergründe und Schemata als auch kulturschaffende Aspekte (nicht) regelkonformer Handlungen, (nicht) institutionalisierter Bedeutungen und Symboliken in all ihrer Komplexität dechiffrieren zu können. Eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Gestenforschung sollte zudem die Rolle des Körpers und der Körperlichkeit des menschlichen Sprachhandelns (Alloa und Fischer 2013) unter diesen Gesichtspunkten theoretisch wie empirisch ausloten. Tomasellos Begriff der shared intentionality (Tomasello 1999) bzw. Searles Begriff der collective intentionality (Searle 1990) setzen an diesem Punkt an, indem sie aus evolutionstheoretischer Perspektive die biologisch begründete Fähigkeit des Menschen zu Intentionalität höherer Ordnung zum Ausgangspunkt für jede Kulturproduktion und -rezeption machen. Im weiteren Rahmen dieser Theorie gerät die geteilte bzw. kollektive Intentionalität nun anthropologisch zum universellen distinktiven Merkmal des Kulturwesens Mensch, da sie ihn in die Lage versetzt, zu kooperieren, zu kommunizieren, nachzuahmen, von Artgenossen zu lernen, komplexe soziale Rollenverteilungen zu organisieren und intersubjektive Sinnzusammenhänge zu erzeugen wie zu verstehen. Ein Kulturwesen zu sein, ist in diesem Kontext also gleichbedeutend damit, ein Mensch zu sein, und vice versa. Von diesem bewusst sehr allgemein gehaltenen, anthropologischen Kulturbegriff aus ist der Weg zu (sub)kultureller Diversität innerhalb der Gattung Mensch nicht mehr weit. Während der anthropologische Kulturbegriff den Menschen als Kulturwesen nun biologisch von anderen Tieren zu unterscheiden sucht, diskriminiert der Begriff der Kulturen (Plural) kulturelle Räume oder Kulturkreise, die innerhalb der Gattung Mensch historisch gewachsen sind und sich semiotisch überlagernde Subuniversen darstellen (Antweiler 2010; Kramsch 1998). Kulturwissenschaftlich orientierte Ansätze in Linguistik und Gestenforschung haben es nunmehr also mit mindestens zwei Kulturbegriffen zu tun: einem weiten, anthropologischen, der die Bedingung der Möglichkeit von Kultur zum Gegenstand hat, und einem engen, historischen, der die jeweilige konkrete Ausformung von Kulturen sowie die zugehörigen Interdependenzen (vgl. Abschnitt 5) im Rahmen eines intrakulturellen wie interkulturellen Vergleiches untersucht (Antweiler 2010). Welcher dieser Kulturbegriffe
90. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gestenforschung nun für die konkrete kulturwissenschaftliche Orientierung relevant ist, hängt von dem jeweiligen spezifischen Forschungsvorhaben und der zugehörigen Fragestellung ab: Bezieht sich die Fragestellung auf Grundfragen der menschlichen Physiologie, Ontogenese und Phylogenese und sucht nach distinktiven, die Art konstituierenden, pankulturellen Merkmalen des Menschen in Relation zu anderen Gattungen, ist ein anthropologischer Kulturbegriff (Singular, die Kultur des Menschen) vorausgesetzt. Ist die Fragestellung eine kulturvergleichende oder eine, die in einer bestimmten Kultur die Hintergründe und Ursachen für spezifische Verhaltensmuster annimmt und diese untersucht, ist ein historischer (intrakultureller) und komparativer (interkultureller) Kulturbegriff (Plural, die Kulturen des Menschen) grundlegend. Zweifelsohne sind nicht alle denkbaren Forschungsfragen hinsichtlich dieser Unterscheidung trennscharf. Da jedoch meist Aspekte dieser beiden Kulturbegriffe innerhalb kulturwissenschaftlicher Fragestellungen simultan beleuchtet werden, kann ein Hinweis darauf, welche Orientierung eine konkrete Fragestellung verfolgt, hinsichtlich der Sicherung und Zusammenführung eines bereits vorhandenen kulturwissenschaftlichen Bestandes innerhalb der Gestenforschung einerseits, und begrifflicher Klarheit eines zukünftigen Forschungsprogramms andererseits, nur sinnvoll sein. Aus dem multidisziplinären Bereich der Gestenforschung sind nun einige Herangehensweisen und Beispiele anzuführen, deren implizite kulturwissenschaftliche Orientierung im Folgenden herausgestellt und exemplifiziert werden kann.
3. Kultur und Geste: anthropologische Ansätze Aus linguistisch-anthropologischen Perspektiven ist hinsichtlich des Zusammenhangs von menschlichem Sprachvermögen und manuellen Gesten als natürlichem Kommunikationsmedium zunächst von Bedeutung, dass der Gebrauch von Handzeichen zu kommunikativen Zwecken als allen Menschen gemein und somit biologisch und evolutionshistorisch konditioniert angenommen wird (vgl. Armstrong, Stokoe and Wilcox 1995). Als Beispiele lassen sich die bei Kleinkindern allgemein vor dem Spracherwerb einsetzenden Zeigegesten (Tomasello 2008, 111 ff.) oder die sich ausbildenden Gebärdensprachen bei Gehörlosen nennen (Goldin-Meadow 2003; Jäger 2001, 2006; McNeill 2005). Gestenund Gebärdensprachforscher gehen davon aus, dass Gesten generell als die Vorläufer von gesprochenen und gebärdeten Sprachen angesehen werden können und ihnen trotz der unterschiedlichen Ausdrucksmodalitäten ähnliche organisatorische Prinzipien auf allen Strukturebenen unterliegen (s. Corballis 2013 für einen Überblick). Weiterhin wird angenommen, dass gestische und lautsprachliche Elemente die Sprachevolution gleichermaßen vorangetrieben haben (Kendon 2009). Ein zentrales semiotisches Verfahren des Erlernens und Verstehens gerade von visuell-aktionalen und pragmatischen Dimensionen von Sprache und multimodaler Interaktion ist das Nachahmen von Lauten und artikulatorischen Bewegungen. Beobachtungen aus der Primatenforschung hinzuziehend, betont Corballis, dass es nichtmenschlichen Primaten erheblich leichter fällt, händische Bewegungen und Handlungen zu imitieren als vokal geäußerte Laute (Corballis 2013). Er sieht darin die These bestätigt, dass weniger vorsprachliche Vokalisierungen und Lautsequenzen, sondern gerade Relationen und Sequenzen von Handgesten bzw. händisch ausgeführten intentionalen Akten das Substrat für Konventionalisierungs- und Grammatika-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft lisierungsprozesse auf dem Weg zu einer menschlichen Vokalsprache bildeten (Arbib and Rizzolatti 1996). Diese Überlegungen gehen Hand in Hand mit der Entdeckung des Spiegelneuronensystems bei Primaten und seinen Entsprechungen mit Spracharealen im menschlichen Gehirn (Rizzolatti and Arbib 1998). Eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Gestenforschung steht auf einem soliden Fundament, wenn sie die gerade kurz umrissenen multimodalen Ursprünge der menschlichen Sprache in ihre Theorie- und Hypothesenbildung mit einbezieht. Sie kommt des Weiteren nicht umhin, neben dem eigentlichen, dialogischen Spracherwerb von Kleinkindern auch die kulturelle Sozialisation von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich der den körperlichen Ausdruck formenden und kontextualisierenden Kräfte in den Blick zu nehmen (vgl. Zlatev 2005; s. auch Abschnitt 5). Wulf (2010) zufolge sind mimetische und performative Aspekte von Gesten ein zentrales sinn- und identitätsstiftendes Moment. Durch das Produzieren von Gesten erfährt sich der Gestikulierende selbst, d. h. seine körperliche, emotionale und psychische Disposition; gleichzeitig wird durch das Imitieren von Gesten und anderen Ausdruckformen Sinn von außen ins eigene System aufgenommen und im Sinne von Tomasellos (1999) shared intentionality (s. Abschnitt 2) ein gemeinsames Verhalten und Verständnis gefördert (Wulf 2010: 291; vgl. auch McNeill 2005). Während eines Gesprächsverlaufs tragen gestisch erzeugte Formen und Bedeutungen dynamisch zum kognitiv, semiotisch und kulturell strukturierten common ground von Gesprächspartnern bei (Clark 1996). Ein weiterer Aspekt, der im Dispositiv einer kognitiven und kulturell-linguistischen Anthropologie eine wichtige Rolle spielt, ist die in gestischen Praktiken eingebundene und sich in ihnen widerspiegelnde materielle Kultur (vgl. Streecks [2009: 205] gesture ecologies). Dies bezieht sich sowohl auf objektnachahmende ikonische wie metaphorische, d. h. abstrakte Entitäten und Prozesse konkretisierende Gesten (Mittelberg 2014; Müller 1998). Um seinem Gegenüber mitzuteilen, dass man ein Blatt Papier und einen Stift benötigt, kann man zum Beispiel mit einer flachen nach oben gedrehten Handinnenfläche ein Blatt Papier ikonisch suggerieren und mit dem Zeigefinger der anderen Hand einen Stift und eine Schreibhandlung imitieren. Solch körperliche bildhafte Zeichen stehen für die dargestellten − existierenden oder fiktiven − Gestenstände und Handlungen. Dabei macht das Fehlen eines taktilen Kontakts und/oder einer intentionalen Manipulation eines physischen Gegenstandes oder Werkzeugs aus einer instrumentellen eine kommunikative Handlung, der eine Abstraktionsleistung zugrunde liegt. Obgleich Objekte und routinierte Handgriffe aus der alltäglichen Lebenswelt oder beruflichen Praxis in Gesten metonymisch mitschwingen, scheint ein Loslassen von der materiellen Welt ein sich Einlassen auf die innere Vorstellungs- und Gefühlswelt und deren Vermittlung nach außen zu fördern (Mittelberg and Waugh 2014). Inwiefern kulturell geformte materielle Strukturen und Praktiken Gesten motivieren und in gestische Körpertechniken mit einbezogen werden (Leroi-Gourhan 1964; Mauss 1935), kann eine kulturwissenschaftlich orientierte Gestenforschung weiterhin systematisch untersuchen (vgl. Goodwin 2007; Streeck, Goodwin and LeBaron 2011). Ein Ziel könnte sein, pragmatische, rituelle und interaktive Aspekte von (di)transitiven manuellen Handlungen und gestischer Kommunikation mit sprachlichen Kategorien und grammatischen Konstruktionen zu korrelieren (vgl. Fricke 2012; Haiman 1994; Hopper and Thompson 1980; Kendon 2004; Müller 1998).
90. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gestenforschung
4. Kulturen und Gesten: ethnologische Ansätze Im Sinne eines pluralistischen Kulturbegriffs (s. Abschnitt 2) haben Gestenstudien bereits eine beachtliche Bandbreite an kultur- bzw. sprachspezifischen gestischen Praktiken zutage gebracht (vgl. Kita 2003; McNeill 2000, 2005; Müller and Posner 2004). So gilt Efrons ([1941] 1972) empirische Untersuchung aus den 1930er-Jahren als die erste qualitative und quantitative Studie alltäglicher, spontaner Gestenverwendung und kann als paradigmatisch für die kulturvergleichende Gestenforschung des 20. Jahrhunderts angesehen werden (Müller 2002). Vor dem Hintergrund von zu dieser Zeit gängigen anthropologischen Rassetheorien untersucht Efron das spontane gestische Kommunikationsverhalten süditalienischer und ostjüdischer Einwanderer der ersten und zweiten Generation in New York. Seine Ergebnisse weisen eindeutig in die Richtung, dass gestisches Verhalten kulturell tradierten sozialen Faktoren unterliegt und somit nicht auf einen rassischen Ursprung zurückführbar ist. Anthropologisch betrachtet, sind also keine Unterschiede zwischen den untersuchten ethnischen Gruppen feststellbar, da sie ihr gestisches Verhalten unter dem Einfluss sozialer Assimilation einander angleichen. Vor diesem Hintergrund, der die „kulturelle Bestimmtheit“ (Müller 2002: 17) menschlicher redebegleitender Gestenkommunikation eindeutig belegt, rücken zunehmend inter- wie intrakulturelle Studien in den Fokus der Betrachtung, die den jeweiligen ethnologischen, historischen, sozioökonomischen und traditionellen Einfluss auf Muster und Typen gestischer Semioseprozesse herausstellen. Von diesen Studien sollen hier einige exemplarisch genannt werden. Zu den Untersuchungen von einzelnen europäischen Kulturen und ihrem gestischen Verhalten zählen die Arbeiten von De Jorio (2000) und Kendon (2004) zu neapolitanischen Gesten und von Calbris (1990), die eine Semiotik französischer Gesten erstellt hat. Ethnographische Feldstudien in verschiedenen Erdteilen konnten bereits interessante Einblicke in diverse Zeigepraktiken und Referenz- und Orientierungssysteme geben. Sie führen uns dabei vor Augen, dass das Zeigen an sich zwar, wie bereits erwähnt, als ein universales Kommunikationsverhalten gelten kann, es jedoch eine beachtliche kulturelle Vielfalt an Zeigepraktiken gibt, die nicht nur prototypisch Arme und Hände bzw. Zeigefinger einbeziehen und relativ kreative Strategien bemühen (s. Enfield [2001] für lip-pointing in Laos; Cooperrider and Nuñéz [2013] für nosepointing in Papua Neu Guinea; Haviland [2000] für deiktische Orientierungspraktiken in Tzotzil [Mexico]; Hanks [1990] für referenzielle Praktiken in der Maya-Kultur und Kita [2003] für einen Überblick). Eine Reihe von vergleichenden Studien multimodaler Beschreibungen von Bewegungsereignissen in typologisch unterschiedlichen Sprachen konnten zudem entsprechende gestische Muster, d. h. eine Art Gestentypologie, aufzeigen (Kita 2009; McNeill 2000, 2005). Zudem konnten Nuñéz und Sweetser (2006) zeigen, inwiefern die Gesten von Aymara-Sprechern (in den Anden) eine der in europäischen Kulturen allgemein beobachtbaren entgegengesetzte Konzeptualisierung von Vergangenheit und Zukunft reflektieren. So zeigen Aymara-Sprecher beispielsweise hinter sich, wenn Sie über zukünftige Ereignisse sprechen, und vor sich, wenn sie über Vergangenes berichten.
5. Soziokulturelle Perspektiven auf multimodale Interaktion In Diskursgenres allgemein und speziell im gesprächsgebundenen sprachlichen Handeln spiegeln bzw. verdichten sich soziokulturelle Normen und symbolische Praktiken (Goff-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft man 1981; Gumperz 1982). Lenkt man, wie die Gestenforschung, den Fokus auf den sich sprechend und durch körperliche Posen und Bewegungen artikulierenden Menschen, so rücken Muster des körperlichen Wahrnehmens und Verinnerlichens einerseits und des sich über den Körper Mitteilens und Interagierens mit Gesprächspartnern andererseits in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Der Körper selbst, sowie der Gang, die Haltung, Umgangs- und Kommunikationsweisen einer Person sind kulturell geformt und geben Rückschlüsse auf Erziehung, Bildung, Lebensformen und Wertevorstellungen. Die Interdependenzen von Körper, Geist und sozialen Verhaltenspraktiken sowie die sie generierenden und reproduzierenden Prinzipien beschreibt Bourdieu (1972, 1980) in seinen Konzepten Habitus und Hexis, die eine buchstäbliche Inkorporierung von Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata durch beständige Wiederholung von als klassenspezifisch relevant gewerteten Praktiken beschreiben. Grundprinzip dieser körperlichen Manifestation sozialer Praxis ist die Mimesis, also die Nachahmung von Einstellungen, Gewohnheiten, Gepflogenheiten, die Ausbildung des Geschmacks und Lebensstils (Habitus) sowie von Haltungen, Gestik, Mimik und emblematischer Körpersymbolik (Hexis) − jeweils innerhalb einer sozialen Klasse, eines sozialen Feldes und einer Geschlechtergruppe. Habitus und Hexis treten hier sowohl als Produkte (modus operatum) wie auch als Produzenten (modus operandi) sozialer Modalitäten in Erscheinung; sie sind also zugleich strukturierte Strukturen wie strukturierende Strukturen kollektiver sozialer Dispositionen (Bourdieu 1987). Bourdieu beschreibt diesen Kreislauf der Interdependenzen als eine Art „Handlungsgrammatik“ (Krais und Gebauer 2002: 32). Diese erscheint nun als „ein dynamischer Vorgang des Erzeugens durch die Subjekte selbst, indem die Grammatik durch die Aktivitäten der Handelnden immer aufs Neue hervorgebracht [wird]. Nicht das Regelwerk macht die Grammatik aus, sondern die Aktivitäten der Subjekte, ihre Regel-erzeugende Produktion“ (Krais und Gebauer 2002: 33). Im Sinne einer kulturwissenschaftlich orientierten Gestenforschung rückt nun die körperlich-soziale Praxis als regelerzeugendes, kulturschaffendes Moment in den Blick, das als strukturierte Struktur wiederum auf sich selbst zurückwirkt (Bourdieu 1972, 1980). Der menschliche Körper, verstanden als semiotisches Medium sozialen, kommunikativen Handelns wird somit zum Ankerpunkt gesellschaftlicher Strukturierungsprozesse, die in ihrer selbstbezüglichen, autopoietischen (vgl. Luhmann 1980; vgl. Artikel 15) und bedeutungskonstituierenden Erscheinungsweise einer indexikalischen Verankerung in derjenigen Dimension der Lebenswelt bedürfen, aus der sie zu allererst entspringen: der körperlichen Praxis, dem Tun (s. auch Streeck 2009). Des Weiteren bilden auf dieser Grundlage Forschungsfragen nach den sozialen Kategorien soziales Feld, soziale Klasse, Gender und den dort jeweils konkret bestehenden Interdependenzen im Sinne der Hexis ein ebenso interessantes wie erhellendes Feld innerhalb einer kulturellen Gestenforschung.
6. Verkörperung, kognitive Schemata und mediale Repräsentation: ikonographische Ansätze Auf die Verkörperungstheorie (embodiment theory) aufbauende Studien (vgl. etwa Johnson 1987; Varela, Thompson and Rosch 1991) eruieren die körperlichen Ursprünge und Dimensionen von mentalen Schemata, d. h. die Frage, inwiefern der Körper als Medium
90. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gestenforschung für das Strukturieren und Verinnerlichen von Erfahrungen mit der kulturell geformten, materiellen und sozialen Umwelt fungiert. Gleichzeitig wird angenommen, dass diese einverleibten konzeptuellen Strukturen, zumindest zu einem bestimmten Grad, Form und Gebrauch kommunikativer Gesten, die kein eigenständiges semiotisches System wie die Laut- oder Gebärdensprachen darstellen, motivieren und auch systematisieren. An der Schwelle von innen und außen bzw. in der Fusion von kognitiv-emotionalem und körperlichem Ausdruck sind zum Beispiel konzeptuelle Bildschemata, Metonymien und Metaphern von funktionaler Bedeutung (vgl. Cienki und Müller 2008; Mittelberg 2010; zu Jakobsons poetischer Funktion in Sprache, Gesten und kubistischen Bildern Mittelberg 2011; zum exbodied mind in Gesten Mittelberg 2013a und zu Bild- und Kräfteschemata in Bildern von Paul Klee und ihren multimodalen Beschreibungen Mittelberg 2013b). Hier wäre es eine Aufgabe, die universellen und die kulturspezifischen Komponenten und symbolischen Ausprägungen, die sich durch die körperliche Kommunikation mitteilen, weiter herauszuarbeiten. Eine kunstwissenschaftliche Prägung dieser Arbeiten könnte zudem kulturspezifische wie kulturübergreifende Ikonographien von bestimmten Körperposen, gestischen Formen und Praktiken analysieren, mit dem Ziel, das Sich-aufeinander-Beziehen von natürlichen und kulturellen/technischen Medien und die daraus resultierenden Medialitätseffekte systematisch herauszuarbeiten (vgl. Jäger 2006, 2010). Hier sind zum einen kunstpsychologische und kunsthistorische Perspektiven in der Tradition von Aby Warburg (1993), Didi-Huberman (2002), Erwin Panofsky ([1955] 1978) und Ernst Gombrich (1960) und neuere Arbeiten zur Bildakttheorie (Bredekamp 2010; Bredekamp, Lauschke and Arteaga 2010) von hoher Relevanz. Gleichzeitig gilt es, zentrale bildliche Gestenmotive, von denen, wenigstens zum großen Teil, angenommen werden kann, dass sie menschliches Sozial- und Kommunikationsverhalten hinsichtlich seiner Formen, Semantik und Pragmatik kondensieren, abstrahieren und/oder verfremden, auch in gegenwärtig zu beobachtenden Posen und Gesten von Individuen und Gruppen aufzuspüren und so nicht nur ihre Darstellungstradition, sondern auch ihre zeitgenössische Mimesis empirisch zu untersuchen (Krois 2002, 2011).
7. Schlussbemerkungen Die linguistische Gestenforschung ist zuallererst eine Wissenschaft, die sich theoretisch wie empirisch mit den artikulatorischen Dimensionen des menschlichen Körpers durch die ihm eigenen, natürlichen Medien befasst. Hinsichtlich der Vielfalt möglicher kultureller Bezüge und Verflechtungen, in die der körperlich-medial handelnde Mensch als Akteur in seiner räumlich-materiellen und sozialen Welt eingebunden ist, erscheint es sinnvoll und auch geboten, das den jeweiligen Forschungsfragen zugrunde liegende Kulturverständnis explizit zu machen und Studien wie Projekte in inter- oder intrakulturellen Fragenkreisen zu verorten. Wie oben ausgeführt, ist Bourdieus Konzept der Hexis für eine intrakulturell orientierte Gestenforschung von zentralem Interesse, da es − sich auf körperliche Dispositionen wie Gestik, Mimik und Körperhaltung/Bewegung beziehend − den menschlichen Körper als Anker- und Ausgangspunkt kultureller Produktion wie Rezeption im Sinne mimetischer, mehr oder weniger kreativer Semioseprozesse identifiziert. Hier können
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft jedoch auch Untersuchungen von Gesten und Körperposen im Theater (Brandt 2002) sowie in medial kanalisierter Interaktion wie im Film/Fernsehen/Internet und in den Neuen Medien neben solche des natürlichen Dialoges als paradigmatischer Ausgangssituation für eine Mimesis symbolisch prägnanter (Cassirer 1982: 235) gestischer Bildformen treten (s. z. B. Kappelhoff and Müller 2011). Eine leitende Frage wäre hier, woher das Material für gestische Mimesisprozesse ursprünglich kommt − wie es in Transkriptionsverfahren (Jäger 2010) stets neu codiert, transformiert, kontextualisiert und vermittelt wird, wie seine Rezeption selbst wieder in die Bedingungen neuerlicher medial bedingter Produktion im Sinne autopoietischer Beobachtungskreisläufe eingeht − wie erfahrungsbasierte, sedimentierte strukturierte Struktur sich in dynamische, strukturierende Struktur transformiert und umgekehrt. Somit obliegt einer kulturwissenschaftlichen Gestenforschung nicht nur die Aufgabe, die kulturelle Semantik einer oder mehrerer Kulturgemeinschaft(en) anhand von Körper-, Medien- und Milieustudien zu decodieren, sondern diese selbst qua Beobachterperspektive mit fortzuschreiben (Luhmann 1980). Angesichts der aufwendigen Sammlung, Transkription, Annotation und Analyse von multimodalen Diskursdaten sieht sich eine kulturorientierte empirische Gestenforschung der Herausforderung gegenüber, die bestehenden theoretischen Konzepte und empirischen Methoden dahingehend weiterzuentwickeln, dass die Modalitäten und Verfahren subjektiver wie intersubjektiver, intra- und intermedialer Resonanz und Mimesis, aber auch des Verfremdens und des Auslassens, systematisch und im Licht des jeweiligen materiellen und interaktiven Kontextes erfasst und verstanden werden können. Ein solches Instrumentarium ermöglicht nicht nur, das dem Menschen eigene Kommunikationsvermögen im Horizont einer anthropologischen Linguistik weiter zu ergründen, sondern auch sprach- und kulturspezifische sowie sprach- und kulturübergreifende ethnologische Studien im Sinne einer weit aufgespannten komparativen Semiotik bzw. Kultursemantik voranzutreiben.
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Irene Mittelberg, Aachen (Deutschland) und Daniel Schüller, Aachen (Deutschland)
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft
91. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gebärdensprachforschung 1. Einleitung 2. Sprachtheoretische Paradigmenbildung und Sprachansicht
3. Ausblick 4. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Wenngleich einiges dafür spricht, dass sich Gebärdensprachen evolutiv vor Lautsprachen zu differenzierten Sprachsystemen entwickelten (Armstrong, Stokoe and Wilcox 1995; Jäger 2010b: 334−340), wurden sie historisch zumeist als primitive Ausdruckssysteme gehörloser Minderheiten begriffen. Sieht man von wenigen Ausnahmen im spanischen Pädagogikdiskurs des späten 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts ab, erfährt die − durch die Arbeit Abbé Charles-Michel de l’Epées allerdings an die Grammatik der französischen Lautsprache angepasste − methodische Gebärdensprache erst im französischen Bildungsdiskurs des späten 18. Jahrhunderts eine Aufwertung, mittels derer sie als „Sprache der Natur“ (l’Epée [1776] 1910: 17) zu einem weitverbreiteten Medium schulischer Bildung von Gehörlosen avanciert und das Primat oraler Erziehung unterläuft. Das französische Bildungskonzept de l’Epées steht bis ins späte 19. Jahrhundert in programmatischer Konkurrenz zum oral geprägten Erziehungsideal deutscher Provenienz, mit dem beispielsweise Samuel Heinicke ([1787] 1981) auf eine rein lautsprachliche Unterrichtung und Bildung zielende Erziehung Gehörloser abhebt (Jäger 1996: 305−309). Diese einander diametral entgegengesetzten Bildungsprogramme für Gehörlose münden schließlich in den sogenannten Methodenstreit, der 1880 während des zweiten internationalen Taubstummen-Lehrer-Kongresses in Mailand (Mailänder Kongress) zugunsten der rein oralen deutschen Methode entschieden wird und das europäische Bildungssystem für Gehörlose in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, England, der Schweiz und den Niederlanden bis ins ausgehende 20. bzw. beginnende 21. Jahrhundert nachhaltig prägt. Mit dem Primat der oralen Erziehung verbindet sich zugleich die Konzeptualisierung von Gebärdensprache als Kommunikationshilfe von „primitivem Entwicklungsstand“ (Ahlich 1990: 50), die nicht als Medium der Bildung und Unterrichtung hinreichen soll. Diese Sprachansicht wird erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt und ist bis heute endgültig nur im gebärdensprachlinguistischen Fachdiskurs überwunden.
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2. Sprachtheoretische Paradigmenbildung und Sprachansicht 2.1. Historische Reflexionen zur Medialität und die Abwertung ikonischer Zeichen Die pejorative Sicht auf Gebärdensprachen ist auf das Engste verbunden mit einer primär im deutsch-französischen Philosophiediskurs des 18. Jahrhunderts aufkommenden Debatte um den Sprachursprung und die vermeintlich natürliche Bedeutsamkeit affektiver Gebärden (vgl. etwa Lavater 1775), die noch bei Wilhelm Wundt ihre Fortsetzung findet, wenn er den Gebärdenausdruck als eine „unmittelbar anschauliche“ (Wundt 1911: 164) Relation zwischen äußerer Zeichenform und psychischem Zustand entwirft. Damit etabliert sich eine Tradition, die anschauliche und das heißt ikonische Gebärden als Zeichentypus bestimmt, der eine auf Ähnlichkeit beruhende Verbindung zwischen einer Zeichenform und einem Gemütszustand oder einem bestimmten Objekt als Zeicheninhalt repräsentiert. Bis in die Gegenwart hinein werden ikonische Zeichen zumeist als Zeichentyp mit mimetischer Form-Bedeutungs-Beziehung gehandelt, dessen Bedeutung jenseits systemischer Referenz und diskursiver Sinnstiftung unmittelbar verständlich sein soll. Aus dieser Sicht bleiben ikonische Zeichen dem Bildlich-Konkreten verhaftet und eignen sich nur zum Ausdruck affektiver Gehalte und konkreter Objektdimensionen. Gestützt wird diese Sprachansicht auch durch die Reflexionen Georg W. F. Hegels, der in der Negativität der phonischen Substanz jene besondere Qualität von Sprachzeichen vermutet, die sie von den Beschränkungen der Selbstbedeutsamkeit befreit und für die allgemeine epistemische Funktion von Zeichen prädestiniert. Genau genommen, macht die eindimensionale Qualität des Tones das Sprachzeichen für Hegel zu einem „Dasein in der Zeit“ und das heißt, es ist dem „Verschwinden des Daseins, in dem es ist“ (Hegel [1830] 1970, 10: 271, § 459) preisgegeben, denn die Zeit negiert sich in ihrem Dasein selbst. Im Zuge der strukturalistischen Rekonturierung dieses Postulats (Saussure [1916] 1967) gerät der sich selbst negierende Charakter der phonischen Substanz aus dem Blick, wenn die Linearität nicht länger als eine Qualität der materialen Substanz, sondern als Charakteristikum des (psychischen) Zeichens begriffen wird. Der materiale Formaspekt sprachlicher Zeichen wird so nahezu vollständig aus der wissenschaftlichen Konturierung des Untersuchungsgegenstandes Sprache ausgeschlossen und das sprachliche Zeichen durch die Verkürzung der Analyse auf seine psychische Struktur zur quasi amodalen Figur umgedeutet. Historisch manifest wird dieses Immaterialitätspostulat im Kontext der wirkungsmächtigen Rezeptionsgeschichte des Cours de Linguistique Générale (Saussure 1967), mit dem die Zeichenanalyse eine die ursprünglichen Grundgedanken Saussures durchaus konterkarierende Interpretation (Jäger 1975, 2010a) erfährt, wenn Arbitrarität letztlich als Wirkungslosigkeit der Substanz auf die Form begriffen und zugleich zum Definiens vollwertiger Sprachsysteme erhoben wird (Saussure 1989: 152, 1122− 1123; Saussure 1967: 79 ff). Damit einhergehend, werden die Zeichenqualitäten der Arbitrarität und Motiviertheit (Saussure 1989: 152, 1122−1123, 1142−1143) bzw. Ikonizität in eine dichotomische Entgegensetzung gebracht und zum Differenzkriterium sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen erhoben. Obgleich Saussure das Verhältnis von Arbitrarität und Motiviertheit eigentlich als ein graduelles begreift, das sich in vielen Zeichen kombiniert realisiert (Saussure 1989: 297, 2092), hat dessen antipodische Mo-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft dellierung bis in die Gegenwart hinein beinahe ungebrochen Eingang in die Lehrbücher der Sprachwissenschaft gefunden. Es ist eben diese Entgegensetzung von Arbitrarität und Ikonizität, die immer noch allzu oft den Blick auf eine differenzierte Untersuchung von Gebärdensprachen verstellt. Denn mit der Fokussierung der Arbitrarität von (lautlichen) Sprachzeichen geht oftmals die Konzeptualisierung von ikonischen Gebärden als Zeichen mit semantisch eingeschränkter begrifflich-konkreter, deiktischer oder affektiver Reichweite sowie die Modellierung von Gebärdensprachen als Ausdruckssysteme mit geringer grammatischer Differenziertheit einher. Ganz im Geiste strukturalistischer Theorie erfährt das Arbitraritätspostulat mit Charles F. Hocketts wirkungsmächtiger Arbeit zur merkmalgeleiteten Unterscheidung zwischen humaner und tierischer Kommunikation (Hockett 1960) eine Renaissance, die die Analyse von Gebärdensprachen als vollwertige Sprachsysteme wegen ihres reichen Repertoires ikonischer Zeichen in weiten Teilen der Linguistik erneut verhindert, denn auch Hockett begreift Arbitrarität neben zwölf weiteren Kriterien als Kennzeichen und Bedingung humanspezifischer Kommunikation. Die scheinbare Inkompatibilität gebärdensprachlicher Performanz mit den Grundsätzen strukturalistischer Perspektivierung von Sprache wird im breiteren Fachdiskurs zwar gerne als Indiz für die Begrenztheit der gebärdensprachlichen Systemorganisation, jedoch nur selten als Hinweis auf die Limitation eines wissenschaftlichen Erklärungsmodells gewertet. Hier wird offensichtlich, wie die wissenschaftstheoretische Perspektivierung eines Untersuchungsgegenstandes die Analyse einer gegebenen sprachlichen Realität bestimmt und die Objektsprache begrenzt.
2.2. Die Nivellierung der Ikonizität und der Beginn der modernen Gebärdensprachforschung Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum die moderne Gebärdensprachforschung bis in die letzte Dekade des 20. Jahrhunderts bemüht bleibt, Gebärdensprachen auch auf der Folie systemlinguistischer Einsichten als vollwertige, in ihrer semantischen Ausdruckskraft nicht limitierte und den Lautsprachen sowohl im semantisch-referentiellen als auch im morphosyntaktischen Bereich ebenbürtige Zeichensysteme zu analysieren. Bahnbrechend war hier die Arbeit von William C. Stokoe (1960) zur American Sign Language, die weltweit Impulse zur Installierung von Forschungsprojekten zur Untersuchung zahlreicher nationaler Gebärdensprachen freigesetzt hat und mit den Arbeiten von Siegmund Prillwitz (Prillwitz 1986; Prillwitz and Vollhaber 1990a, 1990b) endlich auch ihren Reflex im deutschen Wissenschaftsraum fand. Zwar liefern inzwischen zahlreiche Studien eindeutige Belege für die sprachlich-strukturelle Komplexität von Gebärdensprachen (Bellugi and Studdert-Kennedy 1980; Fischer and Siple 1990; Siple and Fischer 1991; Hickok, Bellugi and Klima 1996), die sich bei entsprechenden Sozialisationsbedingungen in natürlichen Prozessen tradieren (Iversen 2007). Dennoch hält sich in diversen Affiliationen − vor allem des Pädagogikdiskurses − hartnäckig die Vorstellung, Gebärdensprachen seien als Medium zur Bildung und Unterrichtung ungeeignet, weil Gebärden lediglich zum bildhaften Ausdruck konkreter Sachverhalte gereichten. Abermals wird so über die Ikonizität von Gebärden eine vermeintlich unmittelbare Bedeutsamkeit gestischer Zeichen insinuiert, die jenseits systemischer Referenz und Sinnstiftung verständlich sein soll. Leitend ist dabei immer noch die Vorstellung, visuell-räumliche Zei-
91. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gebärdensprachforschung chen blieben aufgrund ihrer natürlichen Form-Inhalt-Relation in den Grenzen des Konkreten verhaftet. Der hiermit einhergehenden Abwertung von Gebärdensprachen tritt Nancy Frishberg (1975) mit einem beinahe trickreichen Vorschlag entgegen, wenn sie postuliert, Gebärdensprachen profitierten nur zu Beginn ihrer Entwicklung von einer direkten Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichenform und Zeicheninhalt, da sie im Lauf der Zeit zur Deikonisierung von Zeichen tendierten. Implizit formuliert sie so die Annahme, Gebärdensprachen entwickelten sich historisch von restringierten ikonischen Zeichensystemen zu komplexen, arbiträren Einzelsprachen weiter. Zugleich spricht sie ikonischen Zeichensystemen damit den Status eines vollwertigen und semantisch unlimitierten Sprachsystems ab. Einen deutlich weiterführenden Ansatz zum Verhältnis von ikonischen und nichtikonischen Zeichen formuliert Charles S. Peirce ([1893−1913] 1998), der seine Konzeption der Zeichenqualitäten Ikon, Index und Symbol nicht als typologische Trias, sondern als Kontinuum von Zeichendimensionen entwirft, die gerade keine sich wechselseitig ausschließenden, sondern einander ergänzende Zeichenaspekte benennen: „An icon can only be a fragment of a completer sign“ (Peirce 1998: 306). Eine über Ähnlichkeit gestiftete Relation zwischen Zeichen und Objekt repräsentiert damit lediglich selektive Qualitätsaspekte, nicht aber das Referenzobjekt in toto. Über ihre Verortung in den systemischen Kontext eines mehr oder weniger komplexen Zeichensystems sind Ikone immer auch relational bestimmt, sodass sich der über Ähnlichkeit gestiftete Objektbezug auf konzeptueller Ebene erst systemisch ausdifferenziert (Linz und Grote 2003). Allerdings gehört eine solch differenzierte Rekonstruktion peircescher Grundgedanken − ähnlich wie die modalitäts- und medialitätsspezifische Perspektivierung gebärdensprachlicher Äußerungen − immer noch zu den Ausnahmeerscheinungen in der Forschung. Auch international gesehen rückt die theoretische Reflexion der materialen Qualität gebärdensprachlicher Performanz erst mit der letzten Dekade in den Fokus der Forschung (Meier, Cormier and Quinto-Pozos 2002; Perniss, Pfau and Steinbach 2007).
2.3. Die medialitätstheoretische Sicht auf Gebärdensprachen oder die Einsicht in die arbiträre Ikonizität von Gebärden Als erstes deutsches Forscherteam wenden sich Erika Linz und Klaudia Grote (2003) dezidiert medialitätsspezifischen Aspekten der Deutschen Gebärdensprache (DGS) zu, wenn sie peircesche Grundgedanken für die Analyse der prozessualen Funktionslogik von Gebärdensprachzeichen mit unterschiedlich starkem Ikonizitätsgrad fruchtbar machen. Ihre Untersuchungen zeigen, dass ikonische Zeichen der Deutschen Gebärdensprache „nur unter Einbeziehung indexikalischer und symbolischer Spezifizierungen eindeutig interpretiert werden“ (Linz und Grote 2003: 322) können. Mit einer experimentellen Untersuchungsreihe zum Vergleich von rezeptiven Leistungen gehörloser und bilingualer (hörender) DGS-Muttersprachler sowie nicht-gebärdensprachkompetenter Sprecher der Deutschen Lautsprache stellen sie bei den beiden ersten Probandengruppen überraschende Gemeinsamkeiten in der Bewertung ikonischer Stimuli fest: Bilden die dargebotenen Bilder genau dasjenige Moment ab, das durch die entsprechende Gebärdenform ikonisch ausgedrückt wird, beurteilen die gebärdensprachkompetenten Probanden die Assoziation zwischen der bildlichen Darstellung und der gebärdensprachlichen Bezeichnung durch-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft gehend als sehr stark: Beispielsweise wird das Konzept Kuh in der Deutschen Gebärdensprache durch die Gebärde für Horn ausgedrückt. Bei der bildlichen Darstellung eines Kuhhorns erkennen die Probenden die Abbildung schneller als Definiens von Kuh als etwa die bildliche Darbietung von Euter oder schwarz-weißer Fellmaserung. Werden auf dem Stimulusbild also Aspekte eines Konzepts (hier Kuh) dargestellt, die nicht in der Gebärdenform aufscheinen, nimmt die Einschätzung der wahrgenommenen Assoziation zwischen Stimulus und ikonischer Gebärde signifikant ab. Im Vergleich hierzu reagiert die Kontrollgruppe der hörenden Personen ohne Gebärdensprachkompetenz auf die dargebotenen Testitems gleichförmig. Die Autorinnen werten diese unterschiedlichen Testergebnisse als Beleg für die These, dass die ikonischen Formaspekte des gebärdensprachlichen Zeichensystems immer auch die Organisation des konzeptuellen Systems beeinflussen. Zugleich untermauern die Ergebnisse die Annahme, dass Ikonizität keine stabile Zeicheneigenschaft, sondern ein Prozessierungseffekt ist, der ikonischen Zeichen erst im Zuge ihrer systemischen Netzrelationen zukommt. Vor diesem Hintergrund mutmaßen Linz und Grote, dass Ähnlichkeitsrelation nur zwischen einem Zeichen und dem „Object as cognized in the sign” (Peirce 1998: 495) existieren, nicht aber zwischen einem ikonischen Zeichen und einem zeichenunabhängig gegebenen Objekt. In eine ähnliche Richtung weisen auch die Forschungen von Wiebke Iversen und ihren Kolleginnen (Iversen 2008; Adam et al. 2007). Sie konnten in crosslingualen Studien den Nachweise führen, dass Muttersprachler (L1-Sprecher) der Deutschen bzw. Amerikanischen Gebärdensprache den Ikonizitätsgrad von Zeichen der je fremden Gebärdensprache nur dann als hochikonisch beurteilen, wenn die zur Beurteilung dargebotenen Gebärdenitems auf Ausdrucksebene starke Ähnlichkeit zur entsprechenden Gebärde in der eigenen Gebärdensprache (i.e. Muttersprache) aufweisen. Zeichnen sich die entsprechenden Lexeme in den beiden Gebärdensprachen auf Ausdrucksebene hingegen nicht durch Ähnlichkeit zueinander aus, weil das DGS-Zeichen andere Aspekte des Referenten als die korrespondierende ASL-Gebärde darstellt, stuft ein DGS-Muttersprachler die Ikonizität der ASL-Gebärde als eher gering, den der DGS-Gebärde hingegen als hoch ein. Summa summarum scheint die Ikonizität von Gebärden nicht in einer natürlichen Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Ausdruck und Inhalt aufzugehen, sondern unter der Regie von kulturspezifisch etablierten, einzelsprachlichen Praktiken organisiert zu sein.
2.4. Modalitätsspezifische Aspekte von Gebärdensprachen Der Einfluss einzelsprachspezifischer Formaspekte auf die Organisation mentaler Strukturen lässt sich inzwischen auch für ganz unterschiedliche Bereiche der diskursiven Prozessierung von Gebärdensprachen nachweisen. Gebärdensprachen sind Zeichensysteme, die sich im Horizont räumlicher Ressourcen entfalten und hierbei insbesondere von zwei Optionen Gebrauch machen: Einerseits ist die Artikulation von bewegten Handzeichen schon auf basaler Produktionsebene auf räumliche Mittel verwiesen. Andererseits bringen gebärdensprachliche Praktiken den Raum erst als referentiell und grammatisch differenziertes Medium sprachlicher Bezugnahme hervor. Beispielsweise werden topographisch-räumliche Informationen der physikalischen Welt in proportional verkleinerter Form isomorph zu physikalischen Raumverhältnissen im artikulatorischen Produktionsraum eines Sprechers abgebildet (vgl. Emmorey 2002; Fehrmann 2013). Dabei wird ein räumliches Arrangement (etwa ein Baum, der rechts von einem Haus steht) in eben
91. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gebärdensprachforschung dieser räumlichen Relation auf den Artikulationsraum der Deutschen Gebärdensprache übertragen. Dies gelingt, weil eine besondere Zeichenklasse, die sogenannten klassifizierenden Gebärden, hier ikonisch-räumlich, d. h. isomorph, platziert werden kann. Dabei werden solche Klassifikatorkonstruktionen, die eine bestimmte lokale Position deiktisch identifizieren, einem bestimmten Ort wahlweise durch direkte Platzierung oder vermittels indexikalischer Zeigemittel zugeordnet. Klassifikatorgebärden haben eine große extensionale Reichweite, sind aber intensional so gering bestimmt, dass sie im konkreten Äußerungskontext lexikalisch spezifiziert werden müssen. Ihre besondere Kraft liegt in ihrem ikonischen Potenzial zur Darstellung visuell wahrnehmbarer Objektcharakteristika und spezifischer Handhabungsinformationen zur Nutzung von Objekten. Eine Klasse der visuell motivierten Klassifikatorgebärden referiert auf Form- und Größenangaben von Objekten, eine andere repräsentiert die recht offene Menge von Objekten als solche (etwa Tiere, Personen, Fahrzeuge etc.). Darüber hinaus lassen sich auch syntaktische Relationen zur Markierung semantischer Rollen räumlich darstellen. Möglich macht dies ein Verbsystem, das neben einfachen Verben (Plain Verbs, Padden 1988) die besondere Klasse der indizierenden Verben (Inflecting Verbs, Liddell 2003) umschließt, deren Bewegungskomponente im Artikulationsraum des Sprechers deiktisch moduliert wird und so bestimmte grammatische Informationen zum Woher/Wohin (Source/Goal) einer Handlung (Raumverben) oder zur Subjekt/Objekt-Markierung (Agens/Patiens) der Referenten (Kongruenzverben) anzeigen kann (Fehrmann und Jäger 2004). Die Möglichkeit, durch die räumliche Ausrichtung einer Gebärde nahezu unbegrenzt differenzierbare Angaben zur lokalen Positionierung von Objekten zu machen, basiert wesentlich auf der modalitätsspezifischen Koartikulation gestisch-deiktischer und sprachlich-systemischer Zeichendimensionen. Ist das Referenzobjekt anwesend und sichtbar, wird die Verbgebärde auf das Objekt der sprachlichen Bezugnahme ausgerichtet (Real Space, Liddell 2003). Handelt es sich aber um eine Bezugnahme auf Depräsentes, wählt der Sprecher zuerst eine arbiträr-lokale Position im Gebärdenraum aus, um hier vermittels entweder eines Klassifikators oder eines Indexzeichens (Token, Liddell 2003) das lexikalisch noch zu spezifizierende Referenzobjekt als virtuelle Adresse für die weitere rückgerichtete Bezugnahme zu verorten. Kompetente Sprecher der Deutschen Gebärdensprache verinnerlichen solche Raumadressen mental als Stellvertreterposition für das eigentliche Referenzobjekt und orientieren die Anfangsbzw. Endpunkte eines Kongruenzverbs an diesen, als seien die Objekte der Bezugnahme räumlich präsent. In funktionaler Hinsicht sind solche Bezüge mit den anaphorischen Referenzen in Lautsprachen vergleichbar. Oberflächlich identisch vollzieht sich in der Deutschen Gebärdensprache der Einsatz von Raumverben: Sie werden auf Ortsangaben zubewegt, die mittels räumlich positionierter Lexeme, Klassifikatoren oder indexikalisch markierter Loci identifiziert werden (Padden 1988). Anders als bei Kongruenzverben ist die Lexem-, Klassifikator- und Indexplatzierung hier zwingend an topographischräumlichen Verhältnissen orientiert, sodass ihr lokales Arrangement die physikalisch gegebenen Raumverhältnisse des Referenzobjekts ikonisch (diagrammatisch) widerspiegelt. Gleichwohl: Prinzipiell lässt sich jede sprachliche Bezugnahme auf Referenten und Objekte an realen Raumverhältnissen ausrichten, sodass dann sprachliche und gestischdeiktische Informationen in der Deutschen Gebärdensprache in die Artikulation eines einzelnen Zeichens einfließen können. Das Verfahren der räumlichen Verortung gebärdeter Information ist aber nicht auf die lokal spezifizierte Platzierung von Einzelgebärden beschränkt, sondern wird auch bei
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft der spatialen Anordnung von Diskurssequenzen produktiv, wenn Kommentare, Zitatsequenzen, Pro- und Contra-Argumente oder theoretische Positionen etc. in je unterschiedlichen Arealen des Gebärdenraums artikuliert werden (Winston 1995; Fehrmann 2013). Eine räumliche Gliederung von Erzählsequenzen lässt sich am Fall des Textmusters Narration inzwischen für verschiedene Gebärdensprachen nachweisen (Morgan 1999; Poulin and Miller 1995; Fehrmann 2001, 2010). Maßgebend für die räumliche Anordnung der Szenarien sind dabei die spatial differenzierten Arrangements der Handlungsereignisse und Charakterrollen. Um anzuzeigen, welche Rolle ein Erzähler im Kontext einer Erzählung gerade innehat, unterbricht der Erzähler bei der Übernahme einer neuen Rolle (Referential Shift) den Blickkontakt zum Zuhörer und nimmt eine veränderte Kopf- und Körperhaltung ein, mit der er sich auch räumlich vom konkreten Redekontext und Gesprächspartner wegorientiert.
3. Ausblick Wie die Ausführungen zur Gebärdensprachforschung zeigen, rückt die medialitätsgestützte Analyse gebärdensprachlicher Äußerungen einerseits Praktiken der sprachsystematischen Nutzung ikonischer und räumlicher Verfahren in den Fokus der Untersuchung, schärft aber andererseits auch den Blick für die multimodale Struktur gebärdeter Kommunikation. Die Deutschen Gebärdensprache greift zu ihrer artikulatorischen Entfaltung eben nicht nur auf Raum als neutral gegebene Ressource zurück; sie konstituiert vielmehr den vielfach strukturierten Raum allererst durch den Einsatz funktional differenzierter Verfahren der sprachlichen und gestischen Bezugnahme. In diesem Sinne ist Raum keine Voraussetzung, sondern das Resultat medialer Interaktion (Fehrmann und Linz 2009). Zudem wird deutlich, dass (nicht nur) die Deutsche Gebärdensprache vielfältige Praktiken zur verfahrensgeleiteten Koartikulation gestisch und sprachlich dargestellter Informationen nutzt, die sich nicht mit der − auch die moderne Gestenforschung nach wie vor dominierenden − Gegenüberstellung von Gestik und Sprache in Einklang bringen lassen. Denn hier überlagern sich gestische und sprachliche Darstellungsmittel auf ganz verschiedenen Ebenen in ein und derselben Modalität. Eben diese Beobachtung spiegelt sich in den seit der Jahrtausendwende wachsenden Publikationen zur modalitätsspezifischen Bedingtheit von Gebärdensprachen (Meier, Cormier and Quinto-Pozos 2002; Perniss, Pfau and Steinbach 2007; Fehrmann 2013, 2015). Demgegenüber bleibt die Erforschung simultan artikulierter gestischer und sprachlicher Darstellungsmittel in Lautsprachen zumeist auf das Studium manuell-gestischer und verbal-sprachlicher Mittel beschränkt. Nimmt man jedoch die vokal-akustische Medialität der (Deutschen) Lautsprache in den Blick, geraten mit der gestischen Ikonisierung der Stimme und dem Einsatz von Prosodic Cues zunehmend phonologische, morphologische und syntaktische Ikonisierungspraktiken lautsprachlicher Äußerungen ins Visier (Akita 2011, 2013; für einen Überblick vgl. Elleström, Fischer and Ljungberg 2013; Hancil and Hirst 2013). Dennoch richten weite Teile der linguistischen Forschung die Abgrenzung sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichensysteme nach wie vor an der antipodischen Gegenüberstellung von arbiträren und ikonischen Zeichen aus. Leitend ist dabei immer noch die Vorstellung, visuell-gestische Zeichen blieben aufgrund ihrer ikonischen Form-Bedeutung-Relation allein der Darstellung konkreter Sachverhalte verhaftetet.
91. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Gebärdensprachforschung Vor diesem Hintergrund stellt eine kulturwissenschaftliche Linguistik den logischen Ort für eine integrative Sicht auf den Gegenstandsbereich Sprache bereit, wenn sie die vielfältigen Zusammenhänge multimedialer (i. e. verbaler, paraverbaler, gestischer, bildlicher etc.) Kommunikationsbereiche zu fassen versucht, die sich aus Perspektive der teilnehmenden Agenten als komplexes Geflecht soziokulturell geprägter Habitus und Bedeutungen darstellt. In diesem Sinne profiliert erst eine kulturwissenschaftliche Konturierung der Linguistik die holistische Dimension des Untersuchungsgegenstandes Sprache und treibt zugleich notwendig auch die Erforschung von sprachkulturellen Praktiken und Diskursmustern produktiv voran. So gesehen geht es also nicht so sehr um den Anspruch, Sprachen und Kulturen als Ganze zu untersuchen, sondern darum, sie im Kontext ihrer diskursiven und prozessualen Entfaltung zu analysieren. Indem Sprache als prozessuales Geschehen begriffen wird, das sich in den verschiedenen Kommunikationsbereichen einer Kultur allererst beim Sprechen organisiert, erfährt auch die (inter)kulturelle Erforschung einzelsprachspezifischer Kommunikationspraktiken neue Brisanz. Für den Bereich der linguistischen Gebärdensprachanalyse eröffnet sich folglich genau dann ein Zugewinn, wenn sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse in den Horizont kulturund medienwissenschaftlicher Fragestellungen gestellt und neu diskutiert werden.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Poulin, Christine and Christopher Miller 1995 On Narrative Discourse and Point of View in Quebec Sign Language. In: Karen Emmorey and Judy Reilly (eds.), Language, Gesture, and Space, 117−131. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates. Prillwitz, Siegmund (Hg.) 1986 Die Gebärde in Erziehung und Bildung Gehörloser. Tagungsbericht zum Internationalen Kongreß am 9. und 10. November 1985 im Kongreßzentrum Hamburg. Hamburg: Signum. Prillwitz, Siegmund and Tomas Vollhaber (eds.) 1990a Current Trends in European Sign Language Research. Prodeedings of the 3 rd European Congress on Sign Language Research. Hamburg July, 1989. Hamburg: Signum. Prillwitz, Siegmund and Tomas Vollhaber (eds.) 1990b Sign Language Research and Application. Proceedings of the International Congress on Sign Language Research and Application, Hamburg ’90. Hamburg: Signum. Saussure, Ferdinand de [1916] 1967 Cours de linguistique générale. Publié par Charles Bally et Albert Sechehaye, avec la collaboration de Albert Riedlinger. Paris: Payot. Saussure, Ferdinand de 1989 Cours de linguistique générale. Édition critique par Rudolf Engler. Tome 1. Reproduction de l’édition originale. 2. Aufl. Wiesbaden: Harrassowitz. Siple, Patricia and Susan D. Fischer (eds.) 1991 Theoretical Issues in Sign Language Research. Vol. 2: Psychology. Chicago: University of Chicago Press. Stokoe, William C. 1960 Sign Language Structure: An Outline of the Visual Communication Systems of the American Deaf. (Studies in linguistics: Occasional papers 8.) Buffalo, NY: University of Buffalo Press. Winston, Elizabeth A. 1995 Spatial Mapping in Comparative Discourse Frames. In: Karen Emmorey and Judy S. Reilly (eds.), Language, Gesture, and Space, 87−114. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Wundt, Wilhelm 1911 Grundzüge der physiologischen Psychologie. Bd. 3. 6., umgearb. Aufl. Leipzig: Engelmann.
Gisela Fehrmann, Bonn (Deutschland)
92. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Medienlinguistik
92. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Medienlinguistik 1. Medien, Kultur, Sprachwissenschaft 2. Materialität, Medialität, Modalität 3. Multimodale Kommunikation und Kultur
4. Ausblick 5. Literatur (in Auswahl)
1. Medien, Kultur, Sprachwissenschaft Medienlinguistik ist ein ebenso griffiger wie seltsamer Terminus und erst seit etwa einem Jahrzehnt geläufig. Man bezeichnet damit eine linguistische (oder seltener medienwissenschaftliche) Teildisziplin, die spezifische Sprachgebrauchsweisen in Medien untersucht. Meist denkt man dabei nur an Massenmedien (vor allem Presse, Rundfunk, Fernsehen) sowie neue, d. h. internetgestützte Medien und Kommunikationsformen (z. B. Smartphones, WWW, Chat, E-Mail). Systematisch gleichberechtigt sollte es dann allerdings auch etwa eine Bleistiftlinguistik, Buch- und Mundlinguistik geben. Andererseits ist Kommunikation, auch sprachliche, ohne mediale Vermittlung nicht möglich; auch dieser Text beispielsweise wird durch ein gedrucktes und/oder elektronisches Medium vermittelt. Folglich müsste jegliche Sprachwissenschaft Medienlinguistik sein. Wirklich bewusst wird diese Tatsache erst neuerdings, und zwar, weil schnell und ständig weiterentwickelte Informationstechnologien das gesamte Kommunikationssystem unserer Kultur so tief durchdringen, dass fast alle nennenswerten Änderungen in Sprachgebrauch und Sprachsystem heute von technischen Medien getragen werden und dort auch zuerst auffallen. Was ist ein Medium? Wortgeschichtlich ist es die Mitte; in kommunikationsbezogenen Zusammenhängen ist es das Mittel, das der Vermittlung von Mitteilungen dient. Oft werden Medien verstanden als technische Hilfsmittel der Kommunikation. Sie funktionieren nicht neutral, sondern hängen von gesellschaftlichen Prozessen ab und beeinflussen sie. Saxer (1998: 54) definiert deshalb umfassender: „Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.“ (Zur Vieldeutigkeit des Medienbegriffs vgl. Habscheid 2000, zu seiner Geschichte Hoffmann 2002.) Logisch gesehen gibt es allerdings keinen Grund dafür, nicht technisch hergestellte Instrumente, insbesondere die menschlichen Sprechwerkzeuge, aus dem Medienbegriff auszuschließen. Wie immer man sich bezüglich der Abgrenzung entscheidet: Medien als Kommunikationswerkzeuge, als technische Geräte und/oder als soziale Institutionen sind kulturell geprägt und wirken kulturprägend. Rein orale Kulturen funktionieren anders als schriftkundige Kulturen (vgl. Leroi-Gourhan [1964/1965] 1980; Ong [1982] 1987); Buchdruck (z. B. Giesecke 1991), Massenmedien und neue Medien verändern kulturelle Gepflogenheiten bis in den Alltag hinein ganz grundlegend (z. B. Holly, Püschel und Bergmann 2001; Schütz et al. 2005; Dürscheid, Wagner und Brommer 2010); und wie Medien genutzt werden, hängt umgekehrt auch von kulturellen Traditionen ab (z. B. werden Mobiltelefone im nördlichen Jemen nur von Männern getragen, und zwar am golden verzierten Dolchgürtel gleich neben dem Krummdolch). In der Folge wirken sowohl technische
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Bedingungen des Geräts als auch kulturelle Gewohnheiten im Umgang mit Medien auf den jeweiligen Sprachgebrauch ein. Unentschieden ist bis heute, inwieweit Sprachen (Whorf) und/oder Medien (Havelock) die Wahrnehmung unserer Welt modellieren (vgl. Assmann und Assmann 1990: 2−3). Solche ebenso offenkundigen wie kulturwissenschaftlich relevanten Zusammenhänge und Fragen werden von rein formorientierten Sprachwissenschaftlern ausgeblendet. Strukturorientierte „Chomsky-Theorien“ (im Gegensatz zu funktionsorientierten „MeadTheorien“; Jäger 1993) berufen sich dabei gern auf Saussure ([1916] 2001; bessere Ausgabe Wunderli 2013). Indes laden gerade Saussures Nachlasstexte dazu ein, die Wirkung des „sozio Phänomens, das unmittelbar den Wirbel der Zeichen“ nach sich zieht (Saussure 1997: 355), näher zu beleuchten. Denn wenn sprachliche Zeichen weder auf Ontologie noch auf Logik, Stringenz oder Systematik, sondern allein durch Gewohnheit „auf die Unvernunft selbst gegründet“ (Saussure 1997: 146) und folglich prinzipiell unstabil und veränderlich (vgl. Saussure 1997: 155) sind, sodass sich das Zeichensystem bei seiner „Zirkulation“ fortwährend „in seinem Material verändern“ wird (Saussure 1997: 132, 149), so ist die Frage nach möglichen Dimensionen dieser fortwährenden Veränderung aufgeworfen.
2. Materialität, Medialität, Modalität Dimensionen der Veränderung des Zeichensystems sind die folgenden drei, nämlich: Materialität (Gumbrecht und Pfeiffer 1998), Medialität (Krämer 2008) und Modalität (Deppermann und Linke 2010) (vgl. Artikel 10 und Artikel 37). Zeichen sind an Material gebunden (z. B. Schallwellen, Druckerschwärze, Pixel) und werden über Medien transportiert (z. B. Rundfunk, Buch, Computerbildschirm), und zwar in bestimmten Modi (z. B. mündlich, schriftlich, bildlich, audiovisuell; vgl. Artikel 43−46). Biologische bzw. technische Eigenschaften der Medien machen jeweils bestimmte Materialien und Modi für sie besonders geeignet (beispielsweise Schall für Hörfunk, Multimodalität und Hypermedialität für Computer); und neue Medien verschieben hergebrachte Grenzen zwischen verschiedenen Modi (für Mündlichkeit und Schriftlichkeit z. B. Dürscheid 2003). Dabei sind alle drei − Materialität, Medialität und Modalität − gerade in ihrem Zusammenspiel kulturell überformt und prägen umgekehrt auch Kultur. Beispielsweise hat aufgrund medialer Veränderungen in unserer Kultur der Film „den Roman als die dominierende Erzählform abgelöst“ (Brussig 2008); und eine Handschrift im christlichen Mittelalter bietet ganz andere kommunikative Möglichkeiten und Grenzen als etwa ein Grammophon in den heißen und kalten Kriegen des 20. Jahrhunderts oder ein Smartphone in der globalisierten Gegenwart (vgl. z. B. Kittler 1985, 1986; Krämer 2004; Schmitz und Wenzel 2003; Wenzel 2007). Wer Sprache in Medien untersucht und Fakten nicht nur beschreiben, sondern auch erklären möchte, kommt deshalb nicht umhin, das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen (Material, Medium und Modus) in ihrer jeweiligen kulturellen Situation und Funktion mit in den Blick zu nehmen. In den gängigen Einführungen in die Medienlinguistik (Crystal 2011; Burger/Luginbühl 2014; Perrin 2011; Schmitz 2004, 2015) sowie in zahllosen jüngeren Untersuchungen zu Zeichen-, insbesondere Sprachgebrauch in Medien (z. B. Androutsopoulos, Runkehl und Schlobinski 2006; Bucher, Glonig und Lehnen
92. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Medienlinguistik 2010; Enteen 2010; Holly und Paul 2007; Kon’kov 2011; Lüger und Lenk 2008; Marx und Weidacher 2014; Schlobinski 2006; Schneider und Stöckl 2011; Siever und Schlobinski 2012; Tannen and Trester 2013; Volodina 2013 − jeweils mit weiterführenden Literaturhinweisen) geschieht dies mehr oder minder stark (vgl. auch die Forschungsberichte in Besch et al. 2000; Holly 2013; Polenz 1999; Schmitz 2005, 2011). In dem Maß, wie medienlinguistische Forschungen an Profil, Qualität und Einfluss gewinnen, strahlen ihre kulturwissenschaftliche Orientierungen auch stärker in die gesamten Sprachwissenschaften aus.
3. Multimodale Kommunikation und Kultur Ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie eng kulturelle, mediale und sprachlichkommunikative Prozesse und Verfahren miteinander verwoben sind, ist Multimodalität als das herausragende Merkmal technisierter Kommunikation zu Beginn des dritten Jahrtausends (Kress 2010; Elleström 2010; Ventola, Charles and Kaltenbacher 2004). Sozioökonomische Bedingungen und technische Entwicklungen lassen die Welt enger zusammenwachsen; Kommunikation wird immer globaler (Coupland 2010; Fairclough 2006; Machin and van Leeuwen 2007). Natürliche Sprachen jedoch sind an regional begrenzte Gemeinschaften gebunden, während die derzeitige Weltsprache Englisch von Nichtmuttersprachlern nur mit eingeschränkten Kompetenzen beherrscht wird. Andere Zeichentypen (Bild, Ton, Musik) hingegen sind je für sich zwar nicht so leistungsfähig wie Sprachen, dafür aber kaum an Regeln gebunden, die nur regional gelten. Dank neuer Kommunikationstechniken entstehen in dieser Situation vielfältig gemischte Kommunikationsformen, die die ursprünglich ohnehin multimodale Eigenart menschlicher Kommunikation auch unabhängig von Raum und Zeit mit technischen Mitteln verfügbar und transportierbar machen. Dabei geraten ungleich gewichtete ökonomische Machtinteressen, der Wunsch nach weltweiter Verständigung und der Anspruch auf kulturelle Vielfalt und regionale Identität in manchmal konfliktreiche Spannungen. So entstehen ständig neue, überregional und teilweise global wiedererkennbare Formate, deren Gestaltungskonventionen teils allgemeinen wahrnehmungspsychologischen Gesetzen (z. B. der Prägnanz, Nähe, Ähnlichkeit), teils kulturspezifischen Gepflogenheiten oder Moden folgen (z. B. der Leserichtung von Schrift auch bei Bildern bzw. immer schnelleren Schnitten und Wechseln). Multimodale Kommunikation nutzt synergetische Effekte. Wo Sprache allein (bei längeren Texten) zu langsam funktioniert oder eben nur regional verständlich ist und wo mit anderen Zeichentypen allein (z. B. mit Gesten) Bedeutungen nicht hinreichend differenziert ausgedrückt werden können, bieten sich Koalitionen und Metamorphosen unterschiedlicher Modi an, insbesondere von Text (geschrieben und/oder gesprochen), Bild und/oder Ton. Zwar wurden hybride Kommunikationsformen schon immer genutzt, z. B. in natürlichen Face-to-Face-Gesprächen. Doch erst elektronische Medien im Verein mit wachsender und zunehmend globaler Distanzkommunikation machten multimodale Kommunikation in all ihren Spielarten zum heute fraglos dominanten Instrument öffentlicher und oft auch privater Verständigung. Zunächst in öffentlichen Räumen (Shohamy and Gorter 2009; Shohamy, Ben-Rafael and Barni 2010), immer mehr aber auch auf großen und kleinen Bildschirmen, Drucksachen und anderen medialen Geräten und Er-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft zeugnissen, bilden Auf- und Inschriften, geschriebene und gesprochene Texte, Symbole, Diagramme, Piktogramme, Logos, Wegweiser und andere Orientierungssysteme, Graffiti, stehende und bewegte Bilder, Filme, akustische Warnsignale, Klingeltöne, Hintergrundmusik und vielerlei Zeichensorten mehr äußerst dichte und äußerst bewegliche semiotische Landschaften, durch die jeder Passant, Nutzer bzw. Leser seinen Weg sucht. Teils nimmt er sie, seinen alltäglichen Verrichtungen entsprechend, in (logisch) chaotischer Reihenfolge wahr, teils folgt er geplantem Design (einschließlich Layout und Typographie) bei der Zusammenstellung dieser Zeichen etwa auf einer Zeitungsseite oder im World Wide Web. Design wird dabei immer mehr vom schmückenden Ornament zum selbstständigen Bedeutungsträger, indem es verschiedene Modi komponiert und dabei auch eigene Funktionen erfüllt. Gerade die multimodal angelegte Struktur erleichtert der Nutzerin oder dem Nutzer die notwendig selektive Orientierung in der sonst undurchsichtigen Überfülle der Zeichen. Natürlich gelingt das umso besser, je mehr einschlägige Erfahrung sie oder er mitbringt. Gerade auch multimodale Kommunikation − wie alle Kultur − nutzt Konventionen; sonst könnte sie nicht funktionieren. Doch sie sind ganz ungleich flexibler, transparenter und weniger streng als grammatische Regeln. So können Menschen multimodale Konventionen und Gepflogenheiten im empraktischen Umgang aus der jeweiligen Situation heraus immer wieder neu und ad hoc bilden und lernen, ohne dafür (wie Kinder beim Spracherwerb) in besonderer Weise ausgestattet zu sein. In dem Maß übrigens, wie sprachliche Texte Bestandteile multimodaler Botschaften werden, ändert sich auch ihre Struktur: Sie werden kürzer, kleinteiliger, fragmentarischer und − je nach Kontext − heteronom. Das entlastet Grammatik und begünstigt analytischen Sprachbau.
4. Ausblick Medienlinguistische Forschungen erweitern die hergebrachten Perspektiven konventioneller Sprachwissenschaft. Einerseits öffnen sie den Blick für das Zusammenspiel sprachlicher und anderer Zeichen (bisher vorwiegend schriftlicher Texte und stehender Bilder; z. B. Kress and van Leeuwen [1996] 2006; Diekmannshenke, Klemm und Stöckl 2011; Stöckl 2004). Zugleich zeigen sie andererseits, wie eng sprachliche Kommunikation überhaupt in soziale, technische und kulturelle Konstellationen eingebunden ist und diese mitprägt. Von der Sprachwissenschaft kann man deshalb erwarten, dass sie − mit Saussures Worten − „das Leben der Zeichen im Kontext des sozialen Lebens untersucht“ (Wunderli 2013: 85) und in kulturwissenschaftlicher Offenheit dabei die Verflechtung sprachlicher mit anderen Zeichen berücksichtigt. Medienlinguistische Fragen schärfen dafür den Blick. Umgekehrt wird Sprachwissenschaft dann auch Medienwissenschaft bereichern (vgl. etwa Gates 2013).
5. Literatur (in Auswahl) Androutsopoulos, Jannis, Jens Runkehl und Peter Schlobinski (Hg.) 2006 Neuere Entwicklungen in der linguistischen Internetforschung. (Germanistische Linguistik 186−187.) Hildesheim: Olms.
92. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Medienlinguistik Assmann, Aleida und Jan Assmann 1990 Schrift − Kognition − Evolution. Eric A. Havelock und die Technologie kultureller Kommunikation. Einleitung. In: Eric A. Havelock, Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, 1−35. Weinheim: VCH. Besch, Werner, Anne Betten, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger (Hg.) 2000 Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Teilbd., 2137−2175. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.2.) 2. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter. Brussig, Thomas 2008 Bücher sind das andere. In: Neue Rundschau 119(4) (Film und Erzählen), 186−193. Bucher, Hans-Jürgen, Thomas Glonig und Katrin Lehnen (Hg.) 2010 Neue Medien − neue Formate. Frankfurt a. M.: Campus. Burger, Harald und Martin Luginbühl 2014 Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. 4., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin/Boston: de Gruyter. Coupland, Nikolas (ed.) 2010 The Handbook of Language and Globalization. Malden, MA: Wiley-Blackwell. Crystal, David 2011 Internet Linguistics: A Student Guide. London/New York: Routledge. Deppermann, Arnulf und Angelika Linke (Hg.) 2010 Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. (Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2009.) Berlin/New York: de Gruyter. Diekmannshenke, Hajo, Michael Klemm und Hartmut Stöckl (Hg.) 2011 Bildlinguistik. Theorien − Methoden − Fallbeispiele. Berlin: Erich Schmidt. Dürscheid, Christa 2003 Medienkommunikation im Kontinuum von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Theoretische und empirische Probleme. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 38, 37−56. Dürscheid, Christa, Franc Wagner und Sarah Brommer 2010 Wie Jugendliche schreiben. Schreibkompetenz und neue Medien. Berlin: de Gruyter. Elleström, Lars (ed.) 2010 Media Borders, Multimodality and Intermediality. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Enteen, Jillana B. 2010 Virtual English: Queer Internets and Digital Creolization: Internet Use, Language, and Global Subjects. London/New York: Routledge. Fairclough, Norman 2006 Language and Globalization. London: Routledge. Gates, Kelly (ed.) 2013 Media Studies Futures. (The International Encyclopedia of Media Studies 6.) Malden, MA: Wiley-Blackwell. Giesecke, Michael 1991 Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gumbrecht, Hans Ulrich und K. Ludwig Pfeiffer (Hg.) 1988 Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habscheid, Stephan 2000 ,Medium‘ in der Pragmatik. Eine kritische Bestandsaufnahme. In: Deutsche Sprache 28, 126−143. Hoffmann, Stefan 2002 Geschichte des Medienbegriffs. (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 2002.) Hamburg: Meiner.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Holly, Werner 2013 Von der Linguistik zur Medienlinguistik. Eine Skizze. In: Hermann Cölfen und Patrick Voßkamp (Hg.), Unterwegs mit Sprache. Beiträge zur gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Relevanz der Linguistik, 209−226. Duisburg: Universitätsverlag RheinRuhr. Holly, Werner und Ingwer Paul (Hg.) 2007 Medialität und Sprache. (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54.1.) Bielefeld: Aisthesis. Holly, Werner, Ulrich Püschel und Jörg Bergmann (Hg.) 2001 Der sprechende Zuschauer. Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen. Opladen: Westdeutscher Verlag. Jäger, Ludwig 1993 „Language, Whatever That May Be.“ Die Geschichte der Sprachwissenschaft als Erosionsgeschichte ihres Gegenstandes. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 12, 77−106. Kittler, Friedrich A. 1985 Aufschreibesysteme 1800, 1900. München: Fink. Kittler, Friedrich A. 1986 Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. Kon’kov, Vladimir Ivanovic 2011 Russkaja rec’ v sredstvach massovoj informacii: recevye sistemy i recevye struktury. Sankt Peterburg: Izdat. SPbGU. Krämer, Sybille (Hg.) 2004 Performativität und Medialität. München: Fink. Krämer, Sybille 2008 Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kress, Gunther 2010 Multimodality: A Social Semiotic Approach to Contemporary Communication. London/ New York: Routledge. Kress, Gunther and Theo van Leeuwen [1996] 2006 Reading Images: The Grammar of Visual Design. 2 nd ed. London/New York: Routledge. Leroi-Gourhan, André [1964/1965] 1980 Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lüger, Heinz-Helmut und Hartmut E. H. Lenk (Hg.) 2008 Kontrastive Medienlinguistik. Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Machin, David and Theo van Leeuwen 2007 Global Media Discourse: A Critical Introduction. London/New York: Routledge. Marx, Konstanze und Georg Weidacher 2014 Internetlinguistik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. Ong, Walter J. [1982] 1987 Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen: Westdeutscher Verlag. Perrin, Daniel 2011 Medienlinguistik. 2. Aufl. Konstanz: UVK. Polenz, Peter von 1999 Sprache in Massenmedien. In: ders.: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III: 19. und 20. Jahrhundert, 504−522. Berlin/New York: de Gruyter.
92. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Medienlinguistik Saussure, Ferdinand de 1997 Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente, hg. v. Johannes Fehr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Saussure, Ferdinand de [1916] 2001 Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 3. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter. Saxer, Ulrich 1998 Mediengesellschaft: Verständnisse und Mißverständnisse. In: Ulrich Sarcinelli (Hg.), Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft, 52−73. Opladen: Westdeutscher Verlag. Schlobinski, Peter (Hg.) 2006 Von *hdl* bis *cul8r*. Sprache und Kommunikation in den Neuen Medien. (Thema Deutsch 7.) Mannheim u. a.: Duden. Schmitz, Ulrich 2004 Sprache in modernen Medien. Einführung in Tatsachen und Theorien, Themen und Thesen. Berlin: Erich Schmidt. Schmitz, Ulrich 2005 Sprache und Massenkommunikation. In: Ulrich Ammon, Norbert Dittmar, Klaus J. Mattheier and Peter Trudgill (eds.), Sociolinguistics. An International Handbook of the Science of Language and Society. Vol. 2, 1615−1628. 2 nd ed. (Handbooks of Linguistics and Communication 3.2.) Berlin/New York: de Gruyter. Schmitz, Ulrich 2011 Linguistica ancilla mediorum? Sprachwissenschaft und Medien 1960−2010: Von kühler Distanz zu teilnehmender Beobachtung & von Textmaterial zu multimodaler Verblendung. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 78, 113−127. Schmitz, Ulrich 2015 Einführung in die Medienlinguistik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Schmitz, Ulrich und Horst Wenzel (Hg.) 2003 Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000. Berlin: Erich Schmidt. Schneider, Jan Georg und Hartmut Stöckl (Hg.) 2011 Medientheorien und Multimodalität. Köln: Halem. Schütz, Astrid, Stephan Habscheid, Werner Holly, Josef Krems und G. Günter Voß (Hg.) 2005 Neue Medien im Alltag: Befunde aus den Bereichen Arbeit, Lernen und Freizeit. Lengerich u. a.: Pabst. Siever, Torsten und Peter Schlobinski (Hg.) 2012 Entwicklungen im Web 2.0. Ergebnisse des III. Workshops zur linguistischen Internetforschung. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Shohamy, Elana and Durk Gorter (eds.) 2009 Linguistic Landscape. Expanding the Scenery. New York: Routledge. Shohamy, Elana, Eliezer Ben-Rafael and Monica Barni (eds.) 2010 Linguistic Landscape in the City. Bristol a. o.: Multilingual Matters. Stöckl, Hartmut 2004 Die Sprache im Bild − das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text: Konzepte. Theorien. Analysemethoden. Berlin/New York: de Gruyter. Tannen, Deborah and Anna Marie Trester (eds.) 2013 Discourse 2.0: Language and New Media. Washington, DC: Georgetown University Press. Ventola, Eija, Cassily Charles and Martin Kaltenbacher (eds.) 2004 Perspectives on Multimodality. Amsterdam: Benjamins.
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IV. Linguistics as the study of culture Volodina, Maja N. (Hg.) 2013 Mediensprache und Medienkommunikation im interdisziplinären und interkulturellen Vergleich. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. Wenzel, Horst 2007 Mediengeschichte vor und nach Gutenberg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Wunderli, Peter 2013 Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Zweisprachige Ausgabe französisch-deutsch mit Einleitung, Anmerkungen und Kommentar. Tübingen: Narr.
Ulrich Schmitz, Duisburg-Essen (Deutschland)
93. Cultural orientation in communication studies in the USA 1. Introduction 2. Cultural orientation in communication studies
3. Conclusion 4. Selected references
1. Introduction To form a particular type of society, Ira Harkavy of the University of Pennsylvania holds that we must create an educational system that contributes to the society desired. According to Harkavy, to determine what kind of educational system we should construct depends on what kind of a society we want. So, if we desire a democratic society, we should promote democratic programs in schools (http://www.upenn.edu/pennnews/ current/2012–11–15/interviews/qa-ira-harkavy). A cultural orientation toward communication studies may well contribute to a humane and caring educational setting for people to learn to deal efficiently and kindly with differences (Noddings 1995; Fiordo 2014; Fiordo 2015). Blum sees at least four cultural values that might benefit a cultural communication education and curriculum: antiracism or opposition to racism, multiculturalism, a sense of an interracial community in a community, and treating persons as individuals (Blum 2000: 25). To prevent stereotyping, treating people as individuals as well as members of a group becomes crucial in communicating interpersonally with people from other cultures. A significant way to impart these cultural values, especially in the USA, may be through cultural communication studies. Clarifying the term culture might contextualize the status of a cultural orientation toward communication studies in the USA. Wood explains that the word culture is difficult to define since it is an “abstract concept that has no single concrete referent and no single meaning.” Thus, culture is “part of everything we think, do, feel, and believe.” Specifically, culture refers to a “system of ideas, values, beliefs, structures, and practices
93. Cultural orientation in communication studies in the USA that is communicated from one generation to the next and sustains a particular way of life” (Wood 2002: 95). As a multicultural society, the USA strives to have its divergent populations live in reasonable and predictable harmony. A cultural orientation constitutes an educational design that the USA needs to function in an optimal democratic manner. In the USA, communication studies reveal an orientation toward the study of culture. The good as the enemy of the better (Morris 1970; Fiordo 1977) is a theme that applies to matters in general as well as intercultural communication theory and research. Intercultural communication successes and failures may surface daily when culturally different people interact. Thus a meliorist approach through total quality management (Miller 2012) or kaisen (that is, continuous improvement) (Masaaki 1986) may serve as a heuristic for improving intercultural communication. Ordinarily, improvements are not needed everywhere equally at once for cultural or intercultural communication to accomplish its tasks through functional relationships. The gentle version of meliorism intended here does not assert that “things are necessarily getting better” but that it is “possible for things to get better” − especially, when “human action can make a difference” (Earle 1992: 280). Utilizing knowledge about intercultural communication reduces communication breakdowns and increases communication breakthroughs as we transact business across cultural and national boundaries. Advances in communication may issue from such sources as communication technologies, language and custom acquisition, and the histories of divergent cultures.
2. Cultural orientation in communication studies Several content areas are used to determine the status of intercultural communication education, or a cultural orientation toward communication studies, in American higher education. Emphasizing signs of strength in cultural or intercultural communication education, I cover the following topics: narratives; intercultural dialogue and intercultural communication competence; language convergence and meaning divergence (LC/MD) theory; third culture, interlanguage construction, and computer mediated communication (CMC); cultural communication curricula at several universities in the USA; and an emerging intercultural communication MA and PhD program at the University of North Dakota. Serving as signs of limitations in intercultural communication education, I cover the following topics: unscientific leanings toward political correctness in intercultural research and reporting; unexploited distinctions between broadcasting and narrowcasting in diverse cultural contexts; and, avoidance of issues that make a difference − e. g., origins, class, religion, race, beliefs, customs, worldview, metaphysical perspectives, ethnicity, group affiliation, language, dialect, bias, and prejudice.
2.1. Narratives Martin and Nakayama (2013) may be setting the pace in the USA for intercultural communication studies. While they cover material that has appeared in early texts in the field of intercultural communication, Martin and Nakayama (2013) advance novel perspectives as well: in particular a perspective on historical narratives (or history as histo-
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IV. Linguistics as the study of culture ries or stories) that raises the value of discursive accounts in intercultural communication considerably. Narratives map intercultural communication through the comparison and contrast of written and spoken texts of dominant and marginal groups in a society. Before visiting another country, a sojourner might read the grand narrative of an official source on that country, the grand narrative being a unified history and view of a human grouping. The grand narrative is the story of the culture or country as experienced through the people who make up the hegemonic mainstream of the society. The grand narrative entails the all-encompassing story of a nation in particular or humanity in general (Fiordo 2015). While they may be “lost or not recoverable” and “suppressed or marginalized”, hidden or nonmainstream histories may “offer different views on the grand narrative.” Mainstream history may lack the time, space, and inclination to include hidden histories; this may in part be due to the tendency of hidden histories to question or undermine the “celebratory nature of the mainstream national history” (Martin and Nakayama 2013: 141). Hidden narratives can threaten and even eclipse the grand narrative (Fiordo 2015). Michel Foucault’s (Lotringer 1989; Gordon 1980; cf. article 12) perspective might be that the hegemony of the grand narrative has its counter-hegemony in the alternative hidden narrative. Hidden narratives include: ethnic, racial, gender, sexual orientation, colonial, socioeconomic class, and religious histories and accounts − powerful perspectives other than the mainstream rendition of events (Martin and Nakayama 2013). A striking example of the grand narrative versus a hidden narrative can be observed in the hegemonic mainstream versus sexual orientation history of Abraham Lincoln, the 16th President of the USA. The grand historical narrative of President Lincoln portrays him as a solemn, conscientious, heroic, admirable, and humble President, husband, and family man. The State of Illinois even claims President Lincoln on its car license plates through the motto “Land of Lincoln.” His biographers brag about his self-deprecating humor. In his debates with Stephen A. Douglas, Douglas called Lincoln “two-faced.” Lincoln replied: “I leave it to my audience. If I had another face, do you think I’d wear this one?” (Kunhardt, Kunhardt and Kunhardt 2009: xi). Yet, controversy currently surrounds President Lincoln’s sexual orientation. The grand narrative portrays President Lincoln as a heterosexual while the hidden sexual orientation narrative intimates homosexuality. The general opposition to Lincoln’s alleged homosexuality remains strong while some continue to challenge his heterosexuality (Martin and Nakayama 2013). In terms of intercultural communication, the ethos of diverse cultural heroes (and villains) can change depending on the public dialectic between grand and hidden narratives. Before glorifying the intercultural heroes and damning the intercultural villains, a devil’s advocate could determine heroes and an angel’s advocate villains (Fiordo 2011). The heroes and villains by grand narrative standards can then be examined through the hidden narratives to determine whether they are truly heroes worthy of glorification or truly villains worthy of condemnation. What can be said should be said about each (Korzybski 2000). Especially with cultural icons with notoriety as heroes (e. g., Mother Teresa) or as villains (e. g., Osama Bin Laden), the hidden narratives may complement the grand narratives, allowing fuller information to be usable. Intercultural perceptions of legendary figures can subsequently be adjusted to deliver facts and deliver high fidelity with reality (Fiordo 2015).
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2.2. Intercultural dialogue and competence In a special Issue of the Journal of International and Intercultural Communication dedicated to intercultural dialogue, Ganesh and Holmes (2011) affirm that the term intercultural dialogue has gained currency in scholarly and policy making contexts. With the European Union’s declaring 2008 the European Year of Intercultural Dialogue, the National Communication Association, the International Communication Association, and other academic venues have turned towards this theme. Based on the working definition of the term by the European Institute for Comparative Research, intercultural dialogue entails being “beyond mere tolerance of the Other”, having “deep shared meanings”, and fostering “new forms of creative and expressive communication” (Ganesh and Holmes 2011: 81). While the outcomes of the intercultural dialogue involve consensus and collaboration, the concept should entail openness toward a deeper and broader comprehension of divergent cultures. Conceptual space remains for understanding the potential to handle conflict beneficially through dialogue. Other intercultural dialogue researchers advance similar notions (Carbaugh et al. 2011; Witterborn 2011; Mitra 2011). Intercultural dialogue can thus operate as a theoretical construct for education in cultural or intercultural communication. “Intercultural competence,” asserts Deardorff (2009), is a “lifelong process” with “no pinnacle at which someone becomes ‘interculturally competent’.” In light of the lifelong learning inherent in building intercultural competence, intercultural learners must “regularly engage in reflective practice in regard to their own development in this area” (Deardorff 2009: xiii). Consistent with Neuliep (2006), Martin and Nakayama see intercultural competence as the “ability to behave effectively and appropriately in interacting across cultures” (Martin and Nakayama 2009: 48). To be competent across cultures, intercultural communicators have to attain appropriate levels of motivation, knowledge, attitudes, and skills suitable to the diverse contexts in which the messages are transacted. Competence underscores the critical need for efficacy in intercultural dialogue.
2.3. Language convergence and meaning divergence theory Language convergence and meaning divergence (LC/MD) theory refers to an intercultural meaning centered communication theory (Dougherty, Kramer, Klatze and Rogers 2009) − recently, extended as a meaning centered intercultural communication theory (Dougherty, Mobley and Smith 2010). Working from the semiotic position that meaning is central to cultural or intercultural communication, language convergence and meaning divergence theory essentially probes into how breaches in communication may occur when language obscures the underlying issues of meaning divergence. When cultures clash, language convergence and meaning divergence theory attempts to explain the dissonance and uncertainty that results and how equilibrium might be restored. The theory scrutinizes intercultural interactions for the potential causes of dissonance and uncertainty that “appear as interactions progress even when, linguistically, the interaction appears harmonious” (Dougherty, Mobley and Smith 2010: 165).
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IV. Linguistics as the study of culture A significant assumption of language convergence and meaning divergence theory is that intercultural communicators may “use the same language and word choices thereby assuming mutual meaning has been created.” Due to “linguistic convergence, divergent meanings may be camouflaged.” Subsequently, linguistic bypassing may occur. While linguistic convergence may “initially create false certainty and low anxiety”, what may follow eventually is “increased uncertainty, anxiety, and mistrust when the mismatched meanings begin to become apparent.” Language convergence and meaning divergence theory provides intercultural communicators an increased comprehension of the “undercurrents that occur when similar word choices lead to dissimilar meaning application.” In sum, language convergence and meaning divergence theory looks at three primary factors: “language convergence, meaning divergence, and the illusion of shared meaning.” The blend of language convergence and meaning divergence has the power to generate an illusion of meaning being shared: that is, “the tendency for shared language to create the impression of agreement when it does not exist” (Dougherty, Mobley and Smith 2010: 170). An example drawn from intercultural communication in bicultural and bilingual settings may serve to demonstrate the utility of this theory. The example will be drawn from a bilingual setting with English and Spanish providing the grounds for linguistic convergence and meaning divergence. The illusion of shared meaning will be displayed through the bypassing caused by sharing words but not meanings. Since Spanish is emerging in parts of the USA as a second (unofficial) language, one can readily recognize false cognates between Spanish and English. The false cognates easily demonstrate linguistic convergence with meaning divergence. Cognates are words in one language that are similar to words in another because they are “descended from the same word or form” (Di Donato, Clyde and Vansant 1994: 16). False cognates are words from two languages that are linguistically similar and so have convergence. Their meanings though differ despite their linguistic convergence when they are false cognates. Because the Spanish word restaurante resembles structurally the English word restaurant and has a similar, if not identical, meaning, restaurante constitutes a cognate. However, an English speaker of Spanish as a second language might err with a word like “embarazada” which means “pregnant.” Instead of saying, “Estoy avergonsada” or “I am embarrassed,” the Anglophone speaking Spanish might fall prey to a false cognate in Spanish and say, “Estoy embarazada” (Anderson and Meredith 1988: 277). The words converge as the meanings diverge. The native Spanish speaker may eventually be able to discern by context that the Anglophone is using a false cognate. Yet, for a time, the illusion of shared meaning may distort intercultural communication.
2.4. Third culture, interlanguage construction, and CMC Third culture (Casmir 1978; McEwan and Sobre-Denton 2011) interlanguage construction, and computer-mediated communication (Martin and Nakayama 2013) are viewed together. Third cultures form “when individuals from two or more cultures create a new, hybrid culture, containing components of each individual culture while developing unique cultural characteristics” (McEwan and Sobre-Denton 2011: 253). When American and Japanese students work together in Japan, both might adopt a peace sign exchange as part of a common ground for their third culture. Interlanguage refers to a third “kind
93. Cultural orientation in communication studies in the USA of communication that occurs when speakers of one language are speaking in another language.” The semantics, syntax, pragmatics, and phonetics of the native language “overlap into the second language and create a third way of communicating” (Martin and Nakayama 2011: 250). A Mandarin (Jin and McNab 2008) speaker might ask in an English interlanguage, and be understood, “You go where?” Using the Pinyin system for Mandarin, the Mandarin speaker says, “Ni qu nar?” This means literally, “You go where?” and translates into conventional English as “Where are you going?” Computer mediated communication can enhance and advance intercultural communication. Computer mediated communication, especially via social media (Martin and Nakayama 2013; McEwan and Sobre-Denton 2011; Dumova and Fiordo 2010), provides platforms to construct hybrid or third cultures. With its expansion worldwide, computer mediated communication involves an interconnectedness unprecedented in human history. Intercultural communication scholars have respectably pursued research to determine how computer mediated communication assists people from diverse cultures become more effective communicators. Since differences constitute a significant feature of intercultural dialogue (Witteborn 2011), the ways in which intercultural dialogue matures into common grounds of understanding and influence through computer mediated communication aids intercultural communicators and scholars improve relations and comprehension between cultures in today’s globalized links (Deardorff 2009).
2.5. Selections of American cultural communication curricula While courses in intercultural communication can be found throughout university communication and related curricula in the USA, several might be worthy of mention. A partial list follows: the Department of Communication at the University of Utah, The Department of Communication at the University of North Carolina − Chapel Hill, the School of Journalism at Indiana University − Bloomington, the Department of Media, Film & Journalism Studies at the University of Denver, the Department of Journalism and Media Studies at Rutgers University − New Brunswick, the Department of Communication Arts at the University of Wisconsin − Madison, the Department of Communication Studies at the University of Texas − Austin, the Department of Media, Culture & Communication at New York University, and the Department of Communication at the University of Illinois at Chicago. One program at the graduate level in cultural communication indicates where the future of cultural communication may point in higher education in the USA. In the fall of 2016, a program in international and intercultural communication becomes operational for MA and PhD candidates at the University of North Dakota. Some of the courses offered include: Conflict in Intercultural Communication, International and Global Communication, Global Communication and Terrorism, Indigenous Communication, Narration in International and Intercultural Communication, and International and Intercultural Communication Assessment. The definitions of multicultural and intercultural vary among institutions. The majority of courses and programs tend toward a benign expectation of diverse cultures coexisting. Students formally educated in cultural differences and the communication among those with the differences will presumably be trained to have cognitive, moral, and communication advantages. The cultural communication courses and programs are pre-
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IV. Linguistics as the study of culture dicted, optimistically speaking, to yield positive and sustainable results in conducting daily business and interactions in multicultural contexts. The cautions from a study like Putnam’s (2007) ten-year investigation of how multiculturalism can negatively influence trust are usually not emphasized: namely, the more diverse a community is, the greater is the loss of trust.
3. Conclusion To establish and maintain a common ground, diverse communities in the USA require efficacious and regular communication among their members (and outsiders) through multiple media of communication. Communication studies in the USA reveal the presence of cultural curricula and programs. Mentioned in this study were these shortcomings: the operation of political and moral correctness in the science of intercultural research and in its reporting, the unexploited distinctions between broadcasting and narrowcasting in heterogeneous media contexts, and the avoidance of issues that make a difference. Elaborated in this study were these strengths: narratives; intercultural dialogue and intercultural communication competence; language convergence and meaning divergence theory; third culture, interlanguage construction, and computer mediated communication; and, examples of cultural communication curricula in universities in the USA. If the brilliance of the cultural communication curricula does not blind educators and students to possible drawbacks, the future may indeed be bright in the USA for its cultural orientation toward communication studies.
4. Selected references Anderson, C. Dixon and R. Alan Meredith 1988 Hablame! Chicago: HBJ Publishers. Blum, Lawrence A. 2000 Antiracism, Multiculturalism, and Interracial Community. Three Educational Values for a Multicultural Society. In: Gary E. Kessler (ed.), Voices of Wisdom. A Multicultural Philosophy Reader, 25−32. Belmont, CA: Wadsworth/Thompson Learning. Carbaugh, Donal, Elena V. Nuciforo, Makato Saito and Dong-shin Shin 2011 “Dialogue” in Cross-Cultural Perspective. Japanese, Korean, and Russian Discourses. In: Journal of International and Intercultural Communication 4, 87−108. Casmir, Fred L. 1978 Intercultural and International Communication. Washington, DC: University Press of America. Deardorff, Darla K. (ed.) 2009 The Sage Handbook of Intercultural Competence. Los Angeles: Sage. Di Donato, Robert, Monica D. Clyde and Jaqueline Vansant 1994 Deutsch: Na klar! An Introductory German Course. 2nd ed. New York: McGraw-Hill. Dougherty, Debbie S., Michael W. Kramer, Stephanie R. Klatze and Teddy K. K. Rogers 2009 Language Convergence and Meaning Divergence. A Meaning Centered Communication Theory. In: Communication Monographs 76, 20−46. Dougherty, Debbie S., Sacheen K. Mobley and Siobhan E. Smith 2010 Language Convergence and Meaning Divergence. A Theory of Intercultural Communication. In: Journal of International and Intercultural Communication 3, 164−186.
93. Cultural orientation in communication studies in the USA Dumova, Tatyana and Richard Fiordo 2010 Handbook of Research on Social Interaction Technologies and Collaboration Software. Concepts and Trends. Vol. 1. Hershey, PA: Information Science Reference. Earle, William James 1992 Introduction to Philosophy. New York: McGraw-Hill. Fiordo, Richard 1977 Charles Morris and the Criticism of Discourse. Bloomington, IN: Indiana University. Fiordo, Richard 2011 Arguing in a Loud Whisper. A Civil Approach to Dispute Resolution. Saarbrücken: VDM Publishing. Fiordo, Richard 2014 Organizational Communication. An Exploratory Voyage. Ronkonkoma, NY: Linus Learning. Fiordo, Richard 2015 Narration as Communication. From Face-to-Face to Rich Media Storytelling. Ronkonkoma, NY: Linus Learning. Ganesh, Shiv and Prue Holmes 2011 Positioning Intercultural Dialogue − Theories, Pragmatics, and an Agenda. In: Journal of International and Intercultural Communication 4, 81−86. Gordon, Colin (ed.) 1980 Power/Knowledge. Selected Interviews and other Writings 1972−1977 by Michel Foucault. Trans. by Colin Grodon, Leo Marshall, John Mepham and Kate Soper. New York: Pantheon. Huisman, Kimberly A., Mazie Hough, Kristin M. Langellier and Carol Nordstrom Toner (eds.) 2011 Somalis in Maine. Crossing Cultural Currents. Berkeley, CA: North Atlantic Books. Jin, Wei and Rosi McNab 2008 Collins Easy Learning Mandarin. London: HarperCollins. Korsybski, Alfred 2000 Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics. 5th ed. Brooklyn, NY: Institute of General Semantics. Kunhardt III, Philip B., Peter W. Kunhardt and Peter W. Kunhardt Jr. 2009 Lincoln, Life Size. New York: Alfred A. Knopf. Lotringer, Sylvère (ed.) 1989 Foucault Live. Collected Interviews, 1961−1984. Trans. by Lysa Hochroth and John Johnston. Brooklyn, NY: Semiotext(e). Martin, Judith N. and Thomas K. Nakayama 2013 Intercultural Communication in Contexts. 6th ed. New York: McGraw-Hill. Masaaki, Imai 1986 Kaizen. The Key to Japan’s Competitive Success. New York: McGraw-Hill. McEwan, Bree and Miriam Sobre-Denton 2011 Virtual Cosmopolitanism. Constructing Third Cultures and Transmitting Social and Cultural Capital through Social Media. In: Journal of International and Intercultural Communication 4, 252−259. Miller, Katherine 2012 Organizational Communication. Approaches and Processes. Boston: Wadsworth. Mitra, Rahul 2011 Outlining a Dialogic Framework of Difference. How Do Sri Lankan Tamil Refugees to India Constitute and Negotiate Differences? In: Journal of International and Intercultural Communication 4, 181−200. Morris, Charles 1970 Paths of Life. Preface to a World Religion. Chicago: University of Chicago.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Neuliep, James W. 2006 Intercultural Communication. A Contextual Approach. 3rd ed. London: Sage. Noddings, Nel 1995 Caring. In: Virginia Held (ed.), Justice and Care. Essential Readings in Feminist Ethics, 7−30. Boulder, CO: Westview. Putnam, Robert D. 2007 E Pluribus Unum. Diversity and Community in the Twenty-First Century − the 2006 Johan Skytte Prize. In: Scandinavian Political Studies 30(2), 31−42. Witteborn, Saskia 2011 Discursive Grouping in a Virtual Forum. Dialogue, Difference, and the “Intercultural”. In: Journal of International and Intercultural Communication 4, 109−126. Woods, Julia T. 2002 Communication in our Lives. Belmont, CA: Wadsworth/Thompson Learning.
Richard Fiordo, Grand Forks (North Dakota, USA)
94. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachdidaktik/Transferlinguistik 1. Einführung 2. Gegenstand der Transferlinguistik: Formen des (sprachlichen) Wissens und Könnens. Das Theorie-Praxis-Problem 3. Der Transfer sprachlichen Wissens und Könnens
4. Die Transferlinguistik im Spannungsfeld unterschiedlicher Verwertungsinteressen 5. Einige Desiderate einer kulturwissenschaftlich fundierten Sprachdidaktik/Transferlinguistik 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einführung Kulturelle Teilhabe ist sprachlich vermittelt, d. h., sprachliches Wissen und Können ist konstitutiv für die Ausbildung von sozialer und kultureller Identität, für die Mitgliedschaft in einer Kultur und für die Teilnahme an sprachlich vermittelten Kommunikationsprozessen. Dies vorausgesetzt, muss man konzedieren, dass die Sprachdidaktik/Transferlinguistik nach ihrem Gegenstand, ihrem Anwendungsbezug und ihrer gesellschaftlichen Funktion schon immer eine genuin kulturwissenschaftliche Disziplin war, denn das Kerngeschäft der Sprachdidaktik besteht, kurz gefasst, in der Beschäftigung mit Fragen der Theorie und Empirie des Transfers von sprachlichem Wissen und Können. Trotzdem lohnt sich eine grundsätzliche und systematische Standortbestimmung für die Transferlinguistik, da sich die Sprachdidaktik als Kulturwissenschaft in allen genannten Aspekten punktuell und vorhersagbar in einem produktiven Spannungsverhältnis zu traditionell reduktionistischen Tendenzen in der Sprachwissenschaft und in den benachbarten Bezugsdisziplinen bewegt. Dieses Spannungsverhältnis soll im Folgenden auf drei Ebenen skizziert werden: auf der Ebene des Gegenstandes (2), auf der Ebene der praktischen Umsetzung im Unterricht
94. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachdidaktik/Transferlinguistik (3) und schließlich auf der Ebene der Verwertungsinteressen, mit denen es die Sprachdidaktik/Transferlinguistik in spezifischer Weise zu tun hat (4). Es folgen einige Desiderate einer kulturwissenschaftlich fundierten Sprachdidaktik/Transferlinguistik (5).
2. Gegenstand der Transferlinguistik: Formen des (sprachlichen) Wissens und Könnens. Das Theorie-Praxis-Problem Mit welchem Gegenstand hat es die Sprachdidaktik/Transferlinguistik zu tun? Kann man „Sprache“ annähernd so unterrichten wie den Stoff anderer, gerade auch naturwissenschaftlicher Fächer? Kann und soll man das Kommunikationsmedium, in dem sich die Teilnehmer wie Fische im Wasser zu bewegen scheinen, das also Teil ihrer sozialen Natur ist, zum Objekt der Analyse und der kritischen Reflexion machen und mit welchem Ziel soll man das tun? Eisenberg und Menzel (1995) argumentieren in Abgrenzung zum „funktionalen“, „integrativen“ oder „kommunikativen“ Grammatikunterricht in ihren Vorschlägen zu einer „Grammatikwerkstatt“ nach dem Vorbild des experimentellen naturwissenschaftlichen Unterrichts: „Damit ist vom Grammatikunterricht nichts anderes gefordert als vom Biologie- oder Physikunterricht, die ja auch Versuche und Beobachtungen durchführen, die experimentell vorgehen und mit Hypothesen und Verifizierungen arbeiten − und die Kinder dadurch Einsicht nehmen lassen in das Ermitteln eines Zusammenhangs oder das Aufstellen eines Gesetzes“ (Eisenberg und Menzel 1995: 17), oder zeigt sich im extremen Gegensatz dazu die Qualität des (Fremd-)Sprachunterrichts gerade darin, wie wenig Sprache reflektiert werden muss, eine Position, die u. a. von Pfleiderer vertreten wurde: „Die Sprachentwicklung ist, so scheint es, nicht eigentlich ein Lernen, sie wird nicht vollzogen, sie vollzieht ‚sich‘ mit der elementaren Durchsetzungskraft, mit der Folgerichtigkeit und Präzision eines Naturvorgangs“ (Pfleiderer 1954: 24). Eine der größten Herausforderungen für die Transferlinguistik besteht folglich darin, das sprachliche Wissen und Können der Teilnehmer in geeigneter Form zu modellieren und ein kritisches Verständnis für die sprachwissenschaftlich wie handlungspraktisch entscheidende Dynamik zwischen unterschiedlichen Repräsentationsformen des „knowing how“ (Handlungswissen, implizites Wissen, praktisches Wissen, sprachliches Wissen usw.) im Zusammenspiel mit dem „knowing that“ (explizierbares Wissen, reflektiertes Wissen usw.) zu entwickeln. Um gravierende Kategorienfehler vor allem in Lehr-LernProzessen in der Schule, aber auch der Lehrerausbildung zu vermeiden, muss bereits auf der Ebene des Gegenstandes sorgfältig zwischen wissenschaftlich rekonstruierbaren und reflektierbaren Wissensanteilen einerseits und handlungspraktischem bzw. handlungsleitendem Wissen der Teilnehmer andererseits unterschieden werden. Immer wieder stellt sich in fachdidaktischen Seminaren die Frage, ob die durch handlungsentlastete Reflexion gewonnene Einsicht in sprachliches Wissen Vorteile für die aktive mündliche und schriftliche Kompetenz der vor allem muttersprachlichen Lernenden hat. Es gehört bei den verantwortlichen Akteuren zu den widerständigsten subjektiven Annahmen über den sprachlichen Wissenstransfer, dass es hier eine klare Eins-zu-eins-Lösung gibt. Aber die Kenntnis grammatischer Regeln wirkt sich nicht unmittelbar auf die aktive Schreib- und Sprechkompetenz aus, ebenso leistet die Lektüre und das Verständnis eines Kommunikationsmodells noch keinen Beitrag zur kommunikativen Kompetenz des Rezipienten und die praktische Übung eines mündlichen Vortrags vermittelt umgekehrt noch kein Wissen
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft über rhetorische Prinzipien. Obwohl sich manche empirisch fundierte Einsicht über den Gegenstand in der Theorie durchgesetzt hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese bewussten Einsichten der Wissenschaftler wie der Teilnehmer zugleich im Transferprozess handlungsleitend sind. Die Bearbeitung des „Theorie-Praxis-Problems“ bleibt eine ständige und systematische Herausforderung der Sprachdidaktik/Transferlinguistik. Dabei tut sie gut daran, sich auch über anthropologische, linguistische und sprachphilosophische Modelle sprachlichen Wissens und Könnens und nicht zuletzt über kognitionswissenschaftliche Ansätze und neuere Arbeiten zur Gehirnforschung zu informieren. Während die Disparität von Wissen und Können in der Sprachdidaktik in der Vergangenheit immer wieder zu radikalen Auflösungen des Dilemmas z. B. in Form einer extremen Linguistisierung des Sprachbetrachtungsunterrichts oder einer vollständigen Ablehnung des philologisch geprägten Grammatikunterrichts geführt hat, kann eine kulturwissenschaftlich orientierte Transferlinguistik differenzierter und ganzheitlicher reagieren.
3. Der Transfer sprachlichen Wissens und Könnens Eine kulturwissenschaftlich orientierte Transferlinguistik steht also vor der Aufgabe qualitativ verschiedene Formen des Wissens und Könnens in der Forschung abzubilden, in der Ausbildung von Lehrern und Schülern zu berücksichtigen und konkrete Vorschläge für die aktuelle Umsetzung des Theorie-Praxis-Problems im Unterricht zu machen. Im aktuellen Lehr-Lern-Kontext erscheint das Theorie-Praxis-Problem damit als Herausforderung zur Integration gegenstandsbezogener, medialer und methodischer Aspekte eines prinzipiell sprachlich konstituierten Vermittlungsgeschehens. Dabei tritt die Sprachwissenschaft exemplarisch als zentrale Bezugswissenschaft der Transferlinguistik in einer Doppelrolle auf: zum einen informiert sie über den aktuellen Stand der Erforschung des Gegenstandes (Sprache und Kommunikation in ihren jeweiligen Modellierungen), zudem liefert sie Forschungsergebnisse aus den benachbarten Bezugswissenschaften, soweit sie zum Verständnis des Spracherwerbs in seinen unterschiedlichen Formen notwendig sind (frühkindlicher Spracherwerb, Zweitspracherwerb, Schriftspracherwerb usw.); aber auch die Kernsituation des institutionell organisierten Lehr-Lern-Geschehens gehört zum Gegenstandsbereich der Transferlinguistik. Hier haben sich sprachwissenschaftliche und interaktionslinguistische Verfahren zum Verständnis des Unterrichtsgeschehens neben unterrichtsethnographischen, schulpädagogischen und lernpsychologischen Ansätzen etabliert. Die konstitutiven Aspekte der Transfersituation (Sprache als Gegenstand, Medium und Methode) geraten in der Ausbildung und in der Praxis unterschiedlich intensiv und unterschiedlich konturiert in den Blick der jeweiligen Akteure. Bezogen auf die Professionalisierung zukünftiger SprachdidaktikerInnen lassen sich den konstitutiven Aspekten idealtypisch drei Reflexionsebenen zuordnen, auf denen Reflexionsobjekte und soziale Praktiken miteinander verknüpft sind. So reflektieren Transferlinguisten im Grammatikunterricht auf Sprache als Gegenstand ihres Curriculums (z. B. Satzglieder), sie reflektieren im Prozess des Unterrichtens auf die Sprache als Medium des Diskurses (z. B. Metakommunikation) und sie reflektieren auf Sprache als bereichsspezifische Methode (z. B. Formen der Lehrerfrage).
94. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachdidaktik/Transferlinguistik Als Gegenstand des Sprachbetrachtungsunterrichts erscheint sprachliches Wissen mehr oder weniger kanonisiert und konventionalisiert. Ob und wie der Transfer vom sprachlichen Wissen zum sprachlichen Können auf dieser Ebene gelingen kann oder soll, ist eine komplizierte Frage, die von Praktikern erwartungsgemäß anders beantwortet wird als von Transferlinguisten. Auf der medialen Ebene der Vermittlungssituation greift die naturwüchsige, situationsspezifisch überformte Kommunikationskompetenz der Teilnehmer, da die entsprechenden Kompetenzen weniger durch Wissen als durch Können abgedeckt werden müssen. Auf der methodischen Ebene schließlich müssen gegenstandsbezogene und mediale Wissensbestände dem institutionell definierten Zweck der Vermittlungssituation entsprechend prozessiert werden. Hier, im methodischen Bereich, wird die zentrale Aufgabe des professionellen Sprachvermittlers, -lehrers gesehen. Das entsprechende Wissen und Können ist deshalb Gegenstand von aufwendigen Professionalisierungsstrategien wie z. B. der Lehrerausbildung, in der idealerweise theoretische und praktische Fragestellungen miteinander verzahnt und integriert sind. Aktuell wird das Theorie-Praxis-Problem in den meisten Bundesländern durch qualitativ und quantitativ neue Studienelemente („Praxissemester“) in der Verantwortung der Hochschulen bearbeitet. Das reflektierte Wissen und das Können der Praktiker sind in der Regel nicht deckungsgleich, da sie das Produkt qualitativ unterschiedlicher Reflexionsauslöser und Reflexionserfahrungen sind (vgl. Paul 1999). Petrat (1996) zeigt am Beispiel der Lehrerfrage die relative Stabilität des einschlägigen prozeduralen Wissens. Seine Untersuchung legt nahe, dass es in diesem Bereich der Gesprächs- bzw. Handlungskompetenz eine Kontinuität auch ohne bewusste Fortschreibung eines operationalisierten Wissens gegeben hat. Die Traditionslinien des professionellen Wissens folgen somit weder einer blinden Mechanik noch unterliegen sie zwischen den Generationen einer permanenten kritischen Reflexion. Petrat zieht den Vergleich zur Sprachgeschichte und spricht im Hinblick auf die Professionalisierung der Lehrer mit Keller (1990) von einem Phänomen der dritten Art. Die Transferlinguistik kann einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung professioneller Kompetenz und zur Entwicklung von geeigneten Vermittlungsformen liefern. Es ist vermutlich kein Zufall, dass sich ein wichtiger Zweig der Professionalisierungsforschung (vgl. Schoen 1983) in der Modellierung professioneller Kompetenzen am ursprünglich sprachphilosophischen Konzept des implicit knowledge orientiert, denn ein entscheidender Teil des Wissens, das einen Profi auszeichnet, ist eben nicht bewusst abrufbar: Ein Novize weiß mehr, als er kann, ein Profi kann mehr, als er weiß. Das delikate Verhältnis von (Fach-)Wissen und (professionellem) Können führt in der Transferlinguistik wie in der allgemeinen Didaktik zu einer spezifischen Anfälligkeit für subjektive Theorien nicht nur auf der Ebene des Vermittlungsgegenstandes (Schulgrammatik vs. wissenschaftliche Grammatik), sondern auch auf der Ebene der Methodik. Die Geschichte der Methodisierung der konkreten Vermittlungssituation im Sinne des vertrauten „fragend entwickelnden Unterrichtsgesprächs“ beginnt in unserem Kulturkreis mit den sokratischen Dialogen (vgl. Kilian 2002). In den letzten Jahrhunderten, verstärkt seit der Aufklärung, lassen sich in den Bezugswissenschaften der Transferlinguistik regelrechte Konjunkturen gesprächsförmiger Unterrichtsideale verzeichnen: Hierzu gehören die Zeit der Aufklärung selbst, die Reformpädagogik (Otto, Gaudig, Nelson) und die Aufbruchzeit in den 1970er-Jahren, die man als „kommunikative Didaktik“ bezeichnen könnte. Gesprächsförmige Ideale von Unterricht sind jedoch nicht identisch mit der Um-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft setzung des idealen Gesprächs im Unterricht (vgl. Ehlich 1981). Die praktische Routine des Unterrichtsgesprächs in seiner vertrauten Form hat spätestens mit Nelson und anderen Vertretern der „Neosokratik“ zu einer Verselbstständigung und Ablösung vom sokratischen, aber auch vom „idealen“ oder „eigentlichen“ Gespräch geführt. Letztere haben weitgehend legitimatorische Bedeutung (vgl. Dieckmann 1978).
4. Die Transferlinguistik im Spannungsfeld unterschiedlicher Verwertungsinteressen Traditionell war die Sprachdidaktik/Transferlinguistik durch den Dreiklang von Rhetorik, Grammatik und Poetik geprägt (vgl. Glinz 2003). Aktuell erhält sie ihre Identität vornehmlich durch die Zuständigkeit für die Lehrerausbildung im Spannungsfeld von tradierten Wissensbeständen der primären Bezugsdisziplinen (einzelsprachliche und allgemeine Sprachwissenschaft, insbesondere Grammatik und Spracherwerbsforschung) und den benachbarten Fachwissenschaften (Entwicklungspsychologie, Lerntheorie, Kommunikationstheorie). Die Autonomie der wissenschaftlichen Diskursarena, in der die Transferlinguistik bestenfalls eine moderierende Rolle einnimmt, wird aber zusätzlich durch bildungspolitische Interessen relativiert (Politik, Kultusministerkonferenz, Fachverbände, Medien, Elternvertretung usw.). In der Vergangenheit gab es einige markante Beispiele für die Politisierung einschlägiger Forschungsgebiete in der Sprachwissenschaft und in der Sprachdidaktik/Transferlinguistik. Am Beispiel des inflationär und strategisch gebrauchten Kommunikationsbegriffs seit den 1960er-Jahren ließe sich zeigen, wie „Kommunikation“ als Kampfbegriff in der Entwicklung eines schülerorientierten Curriculums eingesetzt wurde. Wissenschaftsgeschichtlich lässt sich bei der Konzeptualisierung der Transfersituation eine Verschiebung vom Gegenstand zum Medium der Vermittlungspraxis beobachten: Während die Sprachdidaktik/Transferlinguistik vor allem in den 1970erJahren sehr plakativ auf „kommunikative Kompetenz“ als bildungspolitisch aufgeladenen Begriff verweisen konnte, im Vertrauen darauf, dass eine Verankerung „kommunikativer“ Gegenstände zu einer substanziellen Veränderung der kommunikativen Praxis innerhalb der Klassenzimmer und darüber hinaus führen sollte, leistet die Kommunikationslinguistik/Interaktionslinguistik inzwischen durch konsequent holistische, dem sequenziellen Ablauf und der emergenten Dynamik singulärer Ereignisse folgende Interaktionsanalysen einen wichtigen Beitrag zur Rekonstruktion konstitutionslogischer Aufgaben in der Aktualgenese von Verständigungsprozessen und damit zur Annäherung an eine empirisch fundierte Beschreibung von notwendigen Teilkompetenzen (vgl. Fiehler und Schmitt 2004), auch in Bezug auf die eigentliche Transfersituation (vgl. Schmitt 2011). Damit ist es den konstitutionslogisch arbeitenden Kommunikationsanalytikern möglich, die „Jobs“ eines Lehrers bzw. die eines oder mehrerer Schüler(s) im Einzelfall systematisch zu rekonstruieren, aber es fehlen noch Arbeiten, die die Spezifika der Transfersituation aus Sicht der Praktiker − namentlich das Zusammenwirken von Gegenstand, Medium und Methode − adäquat abbilden bzw. modellieren können. Ähnlich gelagert war die Diskussion um verschiedene sozialisationsbedingte sprachliche „Codes“ als Ausdruck von Schichtzugehörigkeit, bei der soziolinguistische Forschungen unter dem Eindruck einer heftigen politischen Debatte um die gerechte Ver-
94. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachdidaktik/Transferlinguistik teilung von Bildungschancen in didaktischen Programmen zur kompensatorischen Spracherziehung mündeten. Der erstmals von der Soziolinguistik explizit hergestellte Zusammenhang von Sprache, Kommunikation und Kultur stützte die Einschätzung, dass schulisches Lernen einen bestimmten Typ von sprachlich-kommunikativer Kompetenz bevorzugt („elaborierter Code“) und dass sich vor diesem Hintergrund klare Prognosen über den möglichen Bildungserfolg von Kindern machen lassen. Bildungschancen wurden also weniger als Frage der Begabung, der Intelligenz usw. angesehen, sondern als ein Ergebnis oder ein Konstrukt von Kommunikationsstrategien, die man lernen kann. Das aktuell prominenteste Beispiel für eine bildungspolitisch motivierte Forderung an die Transferlinguistik − der durch eine UN-Konvention begründete Anspruch auf inkludierenden Unterricht − betrifft die Transferlinguistik auf gegenstandsbezogener, medialer und methodischer Ebene gleichermaßen. Auf ihre adäquate Umsetzung sind bisher weder die Fachdisziplinen, die Transferlinguistik noch die Lehrerausbildung vorbereitet. Dennoch wird eine kulturwissenschaftlich fundierte Transferlinguistik in Zukunft daran gemessen werden, ob sie in diesem Bereich einen substanziellen Beitrag leisten kann: zu einer Didaktisierung und Methodisierung des Stoffes, die eine leistungsdifferenzierende und inkludierende Bildung ermöglicht, zu einer empirisch fundierten Kategorisierung von Lehr-Lern-Situationen, auf die sich eine objektive Bewertung des Schülerverhaltens stützen könnte und zu einer sachgerechten Methodik des Lehrerverhaltens.
5. Einige Desiderate einer kulturwissenschaftlich fundierten Sprachdidaktik/Transferlinguistik Neben den aktuell zu beobachtenden Tendenzen lassen sich einige Desiderate im Aufgabengebiet der Transferlinguistik/Sprachdidaktik benennen, die durch eine kulturwissenschaftliche Orientierung sachgerechter und systematischer als bisher bearbeitet werden können. Sprachkompetenz wird im Sinne der Kulturwissenschaft neu bestimmt. „Sprache“ als ein Gegenstand neben anderen steht in produktiver Spannung zu einem umfassenden Verständnis von Sprache und Kultur, das gesellschaftliche Teilhabe, Bildungsorientierung sowie die Spezifik sprachgebundener Verfahren in Verstehens- und Verständigungsprozessen einschließt. Dem konstruktivistischen Verständnis der Ethnomethodologie entsprechend, beruht Mitgliedschaft (membership) in einer (Kultur-)Gemeinschaft neben der Beherrschung stillschweigend vorausgesetzter Routinen auf der wechselseitigen Unterstellung von interaktionslogischen Annahmen und kulturspezifischem Wissen. Die moderne Sprachwissenschaft hat zwar in ihren funktionalen, pragmalinguistischen und textlinguistischen Ausprägungen eine Erweiterung ihres klassischen Gegenstandsbereichs vorgenommen. Ein ganzheitliches Konzept von kultureller Teilhabe im Sinne von Garfinkel ([1967] 1984), aber auch von Geertz ([1973] 1983; vgl. Artikel 14), wie es für die Schule und andere Vermittlungskontexte unverzichtbar ist, ist aber weiterhin nicht erkennbar. Eine kulturwissenschaftlich fundierte Sprachvermittlung kann dagegen die konzeptionellen Voraussetzungen für eine programmatische Reflexion der sprachlichen Verfasstheit von Kultur liefern. Dies vor allem im Hinblick auf den Transfer desjenigen Wissens
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft und Könnens, das − wie im Fall der inkludierenden Bildung − für eine erfolgreiche Mitgliedschaft konstitutiv ist. Die hierfür gebotene Erweiterung des Aufgabengebietes setzt für das Verständnis der Transfersituation eine adäquate Modellierung des charakteristischen Zusammenspiels von Gegenstand, Medium und Methode in seiner Komplexität und Dialektik voraus. Maßgeblich für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Transferlinguistik bleibt das Festhalten an der sprachlichen Verfasstheit von Kultur. Um ihre Aufgaben in der Lehrerausbildung wahrzunehmen, sollte die Transferlinguistik einige Grundsätze beachten. 1. Eine sich kulturwissenschaftlich definierende Sprachdidaktik/Transferlinguistik sollte
kontinuierlich mit Professionswissenschaftlern und Ausbildern an der Bearbeitung des allgegenwärtigen Theorie-Praxis-Problems bei der professionellen „Übertragung“ bzw. „Vermittlung“ sprachlichen Wissens arbeiten. Besondere Bedeutung kommt dabei offensichtlich der praktischen und handlungsentlasteten Reflexion von Sprache zu. Hier hat die Transferlinguistik als Kulturwissenschaft die Aufgabe einer drohenden Inflationierung des Konzeptes durch eine klare Systematisierung entgegenzuwirken. Ein notwendiger Schritt besteht in der analytischen Trennung von Gegenstand, Medium und Methode als konstitutiven Ebenen der Transfersituation, die jeweils unterschiedliche Formen der Sprachreflexivität evozieren bzw. notwendig werden lassen. 2. Eine sich kulturwissenschaftlich definierende Sprachdidaktik/Transferlinguistik schafft in Forschung und Lehre Grundlagen für die Ausbildung eines Bewusstseins von der historischen Bedingtheit des Faches bei Fachwissenschaftlern, Fachdidaktikern und Lehrern. Ein konstruktivistischer Blick auf das Unterrichtsgeschehen führt dabei neben einer Aufhebung der scheinbar zeitlosen Gültigkeit sprachdidaktischer Theoriebildung zu einer Relativierung und Neubestimmung von zentralen Konzepten wie „Sprache“, „Vermittlung von Wissen“ oder „sprachliches Wissen bzw. Können“. 3. In der Praxis des Unterrichts können sich „abgesunkenes“, von Lehrergeneration zu Lehrergeneration stillschweigend tradiertes Wissen (Gegenstand) und Können (Methode) erstaunlich oft und zäh gegenüber neuen wissenschaftlichen Einsichten behaupten. Eine sich kulturwissenschaftlich definierende Transferlinguistik sollte einen Beitrag zur Erforschung und Systematisierung subjektiver Theorien über Sprache und Kommunikation leisten können.
6. Literatur (in Auswahl) Dieckmann, Walther 1978 Diskussion und Demokratie. Zum Diskussionsbegriff in der schulischen Gesprächserziehung. In: Dietrich Hartmann, Hansjürgen Linke und Otto Ludwig (Hg.), Sprache in Gegenwart und Geschichte. Festschrift für Heinrich Matthias Heinrichs zum 65. Geburtstag, 236−245. Köln/Wien: Böhlau. Ehlich, Konrad 1981 Schulischer Diskurs als Dialog? In: Peter Schröder und Hugo Steger (Hg.), Dialogforschung, 334−369. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann. Eisenberg, Peter und Wolfgang Menzel 1995 Grammatik-Werkstatt. In: Praxis Deutsch 129, 14−23.
94. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Sprachdidaktik/Transferlinguistik Essen, Erika 1972 Methodik des Deutschunterrichts. 9., verbess. Aufl. Heidelberg: Quelle und Meyer. Fiehler, Reinhard und Reinhold Schmitt 2004 Die Vermittlung kommunikativer Fähigkeiten als Kommunikation. Kommunikationstrainings als Gegenstand der Gesprächsanalyse. In: Michael Becker-Mrotzek und Gisela Brünner (Hg.), Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz, 113−135. Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung. Garfinkel, Harold [1967] 1984 Studies in the Routine Grounds of Everyday Activities. In: id., Studies in Ethnomethodoloy, 35−75. Cambridge: Polity Press. Geertz, Clifford [1973] 1983 Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 7−43. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Glinz, Hans 2003 Geschichte der Sprachdidaktik. In: Ursula Bredel, Hartmut Günther, Peter Klotz, Jakob Ossner und Gesa Siebert-Ott (Hg.), Didaktik der deutschen Sprache. Bd. 1, 17−29. Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh. Helmers, Hermann [1966] 1970 Didaktik der deutschen Sprache. 5. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Keller, Rudi 1990 Sprachwandel: von der unsichtbaren Hand in der Sprache. Tübingen: Francke. Kilian, Jörg 2002 Lehrgespräch und Sprachgeschichte. Untersuchungen zur historischen Dialogforschung. (Reihe Germanistische Linguistik 233.) Tübingen: Niemeyer. Kochan, Detlef C. und Wulf Wallrabenstein (Hg.) 1974 Ansichten eines kommunikationsbezogenen Deutschunterrichts. Kronberg: Scriptor. Mead, George Herbert [1934] 1968 Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nelson, Leonard 1970 Die sokratische Methode. In: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1: Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode, 269−316. Hamburg: Meiner. Nündel, Ernst 1976 Zur Grundlegung einer Didaktik des sprachlichen Handelns. Kronberg: Scriptor. Paul, Ingwer 1999 Praktische Sprachreflexion. Tübingen: Niemeyer. Petrat, Gerhardt 1996 Didaktisches Fragen. Ein Beitrag zur Qualifikationsgeschichte von Lehrern. Rheinfelden/Berlin: Schäuble. Pfleiderer, Wolfgang 1954 Grammatik und Sprachunterricht. In: Der Deutschunterricht 6, 21−38. Polanyi, Michael 1985 Implizites Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ryle, Gilbert [1946] 1971 Knowing How and Knowing That. In: id., Collected Essays. Vol. II, 212−225. London: Hutchinson. Schmitt, Reinhold (Hg.) 2011 Unterricht ist Interaktion! Analysen zur de facto Didaktik. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Schoen, Donald A. 1983 The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. New York: Basic Books. Schoen, Donald A. 1987 Educating the Reflective Practitioner. San Francisco/London: Jossey-Bass.
Ingwer Paul, Bielefeld (Deutschland)
95. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Computer- und Korpuslinguistik 1. Einleitung 2. Theoretische Grundlage: pragmatische Wende und Korpuslinguistik 3. Datenbasiertes versus datengeleitetes Paradigma
4. Typen von Analysekategorien 5. Visualisierung 6. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Das im Zuge der Digitalisierung gewachsene Interesse an empirischen, quantitativen Analysen von authentischen Sprachdaten hat auch jene Bereiche der Linguistik erfasst, die sozial- und kulturwissenschaftlich orientiert sind. Ihr Methodenrepertoire speist sich aus zwei Forschungstraditionen, die mehr und mehr zusammenwachsen: dem Information Retrieval und Text Mining einerseits und der Computer- und Korpuslinguistik andererseits. Digitalisierung bedeutet zählbar machen und so ist beiden Forschungsrichtungen gemeinsam, dass sie sprachliche Merkmale als Zahlen darstellen und mithilfe mathematischer Methoden untersuchen. Sprachliche Daten variieren im Gegensatz zu vielen anderen Datentypen in sehr vielen Dimensionen, sind daher auch eher niederfrequent verteilt und können auf unterschiedlichen Ebenen (Syntax, Lexik, Semantik etc.) analysiert werden. Texte sind Merkmalsvektoren, die die Distribution von Texteigenschaften repräsentieren. Eine Sammlung mehrerer Texte (Korpus) bildet eine Matrix. Ansätze aus dem Bereich des Text Mining zielen häufig darauf, Modelle zu finden, die das Auffinden bestimmter Informationen in großen Textmengen ermöglichen. Sie lassen sich oft als Klassifikationsprobleme beschreiben, die mithilfe maschinellen Lernens gelöst werden. Dabei werden bereits klassifizierte Dokumente auf ihre linguistischen Eigenschaften hin analysiert (z. B. Distribution von Lemmata, Wortkombinationen, Buchstaben-n-Grammen etc.) und wird ein Klassifikator aus Merkmalsausprägungen bestimmt, der die vorher definierten Klassen möglichst gut trennt. Dieser Klassifikator kann dann dazu genutzt werden, künftige Klassifikationsaufgaben zu lösen, etwa um Korpora nach Textsorten zu sortierten oder Textstellen mit besonders hohem Informationsgehalt zu identifizieren. Hier wird deutlich, dass Text Mining eine starke Orientierung zur angewandten Forschung hat. Entsprechend ist die Frage, welche linguistischen Merk-
95. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Computer- und Korpuslinguistik male für die Klassifikation von besonderer Bedeutung sind und ob diese soziokulturelle Korrelate haben, von geringem Interesse. Im Folgenden beschränken wir unsere Darstellung daher auf die sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Computer- und Korpuslinguistik. Hierfür werden wir zunächst die theoretischen Grundlagen (Kapitel 2), dann unterschiedliche Forschungsparadigmen (Kapitel 3) vorstellen; im Anschluss werden wir einen groben Überblick über grundlegende Typen von Analysekategorien geben (Kapitel 4), ehe wir im letzten Kapitel die Bedeutung von Visualisierungen für die Analyse skizzieren (Kapitel 5).
2. Theoretische Grundlage: pragmatische Wende und Korpuslinguistik Folgt man Feilke (2003: 217 ff.), so lässt sich die pragmatische Wende in zwei Phasen einteilen. Die erste Phase erweiterte zwar den Bereich linguistischer Gegenstände und Kategorien, wurde jedoch vom systemlinguistisch interessierten Zweig der Disziplin umgedeutet: An die Pragmatik als Kind der Wende wurde der Anspruch herangetragen, parallel zum universalgrammatischen ein universalpragmatisches Erkenntnisinteresse zu verfolgen, das sich auf die Suche nach der Universalität von Sprechakten und deren tiefenstrukturelle Gemeinsamkeiten machte (vgl. Nerlich 1995: 311). Die zweite Phase der pragmatischen Wende, die in den letzten 30 Jahren die Linguistik verändert hat, setzte ihre Positionen in einigen Bereichen neu (Feilke 2003: 217 ff.). Besonders relevant sind dabei zwei neue Sichtweisen: 1. Die Formelhaftigkeit der sprachlichen Oberfläche rückt zuungunsten sprachlicher Universalien der Tiefenstruktur ins Zentrum der Theoriebildung. 2. Statt den Kontext einer sprachlichen Äußerung als gegeben zu betrachten, geht man davon aus, dass der Sprachgebrauch den Kontext (mit)herstellt, d. h. sprachliche Äußerungen kontextualisiert. Aus diesen beiden Neuakzentuierungen folgt, dass idiomatische Prägungen das Resultat von konventionalisierten Interpretationen sind. Signifikant häufig auftretende sprachliche Muster können deshalb als das Ergebnis rekurrenter Sprachhandlungen der Sprecherinnen und Sprecher gedeutet werden, in die typische Verwendungskontexte, Handlungsziele und Interpretationsrahmen eingeschrieben sind. Die Korpuslinguistik bietet für eine so bestimmte Pragmatik sowohl einen theoretischen Rahmen als auch Methoden, um nicht nur Belege zur Illustration eines Phänomens („corpus-illustrated linguistics“; Tummers, Heylen and Geeraerts 2005), sondern sprachliche Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten. Dabei profitiert die Korpuslinguistik von Methoden der quantitativen Linguistik und der Computerlinguistik, etwa um sprachliche Daten maschinell mit linguistischen Informationen auszuzeichnen oder statistische Auswertungen über auffällige Strukturen zu ermöglichen. 1. So bietet sich vor dem Hintergrund des britischen Kontextualismus das Konzept der
„Kollokation“ (Firth 1957), verstanden als überzufällige Kookkurrenz von Wörtern, an, um pragmatische Konzepte zu operationalisieren. Und Kollokationen zeigen aus einer semantischen Perspektive, dass Bedeutungen nicht an Einzelwörtern festmachbar sind, sondern erst durch den Kontext entstehen und damit komplexere Zeichen sind, denen ein Gebrauchswert eingeschrieben ist. 2. Weiter trifft sich das Interesse der Textlinguistik an Oberflächeneigenschaften mit Ansätzen der Computerlinguistik, Textklassifizierungen anhand von Merkmalen der
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Textoberfläche maschinell durchführen zu können. Zudem führte die Überzeugung, dass Textsortenwissen kulturspezifisch geprägt ist, zu kontrastiven Untersuchungen, die Korpora als Basis für die empirische Überprüfung der Hypothesen verwenden. 3. Konstruktionsgrammatische Überlegungen, die von Kriterien wie Nichtkompositionalität und deswegen Konventionalität von Konstruktionen ausgehen, werden zwar erst in jüngerer Zeit durch korpuslinguistische Methoden auf eine breite empirische Basis gestellt (Stefanowitsch and Gries 2003; Gries and Stefanowitsch 2010), teilen aber die Grundannahme einer gebrauchsorientierten Sprachtheorie und sind damit anschließbar an korpuslinguistische Methoden. 4. In der Phraseologie ist eine Ausweitung des Phraseologismenbegriffs zu beobachten, wo das Interesse nicht nur stark idiomatischen Wendungen, sondern auch schwach oder überhaupt nicht idiomatischen Wortverbindungen gilt (Burger 1998: 36 ff.) und computerlinguistische Methoden, oder aber zumindest korpusgestützte Analysen, immer bedeutender werden, um potenzielle Phraseologismen in großen Korpora aufzufinden oder aber deren Verbreitung und Verwendung zu überprüfen (Steyer 2003; Stubbs 2003; Ptashnyk, Hallsteinsdóttir und Bubenhofer 2010; Bubenhofer 2008). 5. Für die von Foucault (vgl. Artikel 12) inspirierte Diskurslinguistik sind korpuslinguistische Methoden attraktiv, um Serien von Aussagen auch quantitativ zu untersuchen. So lassen sich in Korpora, die bestimmte Diskurse repräsentieren, musterhaft auftretende Elemente wie Argumentationsfiguren, Topoi oder allgemeiner Sprachgebrauchsmuster entdecken und deren Verwendung diskurslinguistisch deuten (Wengeler 2003; Scharloth 2005; Jung 1996; Bubenhofer 2009; Spitzmüller 2005; Teubert 2006). Diese knapp gehaltene Aufzählung macht deutlich, dass eine ganze Reihe von Forschungsfragen im Nachgang zur pragmatischen Wende die kultur- und gesellschaftsanalytisch interessierte Linguistik offen machte für Methoden der empirischen Textanalyse und damit die Genese der Korpuspragmatik forcierte. Gerade die Korpuslinguistik ist dabei nicht einfach eine Hilfswissenschaft, sondern ebenso ein Kind der pragmatischen Wende und begünstigt durch technische Fortschritte (steigende Rechenleistung und Speicherkapazität von Computern, Verfügbarkeit von elektronischen Korpora, computerlinguistische Methoden der Textanalyse) immer stärker eine eigene Disziplin mit eigener Erkenntnislogik.
3. Datenbasiertes versus datengeleitetes Paradigma Korpuslinguistik ist heute nicht mehr nur eine Methode, sondern generierte einen Denkstil, der viele Bereiche der Sprachwissenschaft nachhaltig verändert. Am ehesten der Vorstellung von Korpuslinguistik als einer Methode entspricht das Paradigma der datenbasierten korpuslinguistischen Analyse („corpus-based“), die nicht erst seit der Verfügbarkeit von digitalen Korpora erfolgreich angewandt wird. Korpora dienen demnach der Überprüfung von Forschungshypothesen. Die Hypothesen, die unabhängig von der Analyse des Korpus entwickelt wurden, formulieren Annahmen über interpretative Konstrukte, die mittels bereits bewährter interpretativer linguistischer Analysekategorien an einem Korpus überprüft werden sollen. Diesem deduktiven Vorgehen steht die Möglichkeit eines induktiven Vorgehens zur Seite, das die Grundlage des Paradigmas der datengeleiteten Analyse („corpus-driven“)
95. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Computer- und Korpuslinguistik bildet. Dieses Paradigma wird von Tognini-Bonelli (2001: 84 ff.) vor dem Hintergrund der Arbeiten von Sinclair (1991) expliziert und im deutschen Sprachraum in Arbeiten von Perkuhn et al. (2005), Belica und Steyer (2006), Steyer (2004), Bubenhofer (2009) u. a. verbreitet. Digitale Korpora sind hier nicht nur „Belegsammlungen oder Zettelkästen in elektronischer Form“, sondern ermöglichen eine eigene „korpuslinguistische Perspektive“ (Perkuhn und Belica 2006: 2). Statt eine Hypothese mit vorher festgelegten Analysekategorien zu überprüfen, werden in einem Korpus sämtliche Muster berechnet, die sich bei der Anwendung vorher festgelegter Algorithmen ergeben. Diese Muster werden im Anschluss kategorisiert. Damit geraten häufig Evidenzen in den Fokus, die entweder quer zu den vorher existierenden Erwartungen stehen und die Grundlage für neue Hypothesen sind, oder im besten Fall sogar solche Evidenzen, die die Bildung neuer interpretativer linguistischer Analysekategorien nahelegen. Es ist dieses Potenzial datengeleiteter Analysen, das es erlaubt, der Korpuslinguistik über eine empirische Methode hinaus den Status eines Denkstils zuzuschreiben. Denn das Ernstnehmen empirischer Widerständigkeiten, die sich mit traditionellen linguistischen Kategorien nicht beschreiben lassen, birgt die Möglichkeit eines neuen Zugangs zu Sprache und den Kategorien ihrer Beschreibung. Zwar verzichtet das datengeleitete Paradigma auf das Formulieren von Hypothesen und auf eine Festlegung auf bestimmte Analysekategorien, es ist jedoch offensichtlich, dass auch beim datengeleiteten Verfahren vorgängiges Wissen in den Forschungsprozess einfließt (vgl. Scharloth und Bubenhofer 2011), und zwar: 1. durch die Wahl der Korpora, 2. hinsichtlich der Gestaltung der Algorithmen zur Musterberechnung, 3. bei der Festlegung dessen, was als linguistische Untersuchungseinheit (token) gelten
soll, und 4. bei der Festlegung dessen, welche Einheitentypen eigentlich als potenzieller Bestand-
teil eines Musters aufgefasst werden sollen. Schließlich ist 5. auch das Kategorisieren der Daten im Anschluss an die Musterberechnung ein inter-
pretativer Prozess, der zwar durch statistische Verfahren teilweise objektiviert werden kann; dennoch ist die Menge der Daten meist so umfangreich, dass eine weitere Reduzierung und Gewichtung im Sinne des Forschungsinteresses vorgenommen werden muss (vgl. McEnery, Richard and Yukio 2006: 8−11). Häufig ergänzen sich beide Ansätze jedoch auch: Der erste Zugriff auf die Daten erfolgt datengeleitet, um sprachliche Auffälligkeiten zu ermitteln, die dann für die Operationalisierung zentraler Konzepte benutzt werden. Die eigentliche Analyse erfolgt dann datenbasiert mithilfe des datengeleitet ermittelten Messinstruments.
4. Typen von Analysekategorien Grundsätzlich haben alle computerlinguistisch erfassbaren Einheiten das Potenzial, als sozial oder kulturell signifikant gedeutet zu werden. In der bisherigen Forschung haben sich aber einige Kategorientypen als besonders fruchtbar erwiesen, deren Berechnung teilweise auch in korpuslinguistische Standardsoftware als Feature integriert ist. Die
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Analyse zielt dann auf das Auffinden statistisch signifikanter Unterschiede in der Distribution der Einheiten zwischen (Teil-)Korpora. Diese signifikanten Muster werden dann als sozial oder kulturell signifikant gedeutet.
4.1. Lemmata und Wortklassen Der Fokus auf Einzellexeme ist der korpuslinguistisch naheliegendste Zugang zum Sprachgebrauch. Dabei müssen die Ebenen Wortform und Lemma unterschieden werden, wobei letztere erst nach der Lemmatisierung des Korpus verfügbar ist, die entweder manuell oder maschinell (z. B. über die Lemmatisierungskomponente eines Wortartentaggers) erstellt werden kann. Weiter können morphologische Aspekte mit einbezogen werden, indem z. B. der Fokus auf Komposita oder bestimmten Derivationen liegt. Die Historische Semantik und die Begriffsgeschichte (Busse 1987; Hermanns 1995) zeigen das Deutungspotenzial von solchen Analysen auf, indem die diskursive, historische oder kulturelle Prägung von Wortfeldern und Begriffen korpuslinguistisch ergründet werden. Neben hypothesenprüfenden Verfahren, bei denen a priori definierte Lexeme untersucht werden, gibt es eine Vielzahl von Methoden, um hypothesengenerierend vorzugehen und für bestimmte Korpora oder Teilkorpora im Vergleich zu Referenzkorpora typische Lexeme zu berechnen. Statt Lemmata können auch formal oder semantisch bestimmte Wortklassen (z. B. Gradpartikel, Indefinitpronomen, Negationswörter) als Indikatoren für kulturelle oder soziale Phänomene gedeutet werden. Besonders im Opinion Mining und in der Sentiment Analysis wird häufig mit Wortlisten als Indikatoren für die Tonalität bzw. die semantische Prägung von Texten gearbeitet (Pang and Lee 2008).
4.2. Kollokationen Zu jenen Typen von Analysekategorien, die nicht nur die Distribution von Lemmata oder Wortklassen, sondern die Verwendungskontexte von Wörtern in den Blick nehmen, zählen Kollokationen. Bei ihnen handelt es sich um „recurrent and predictable word combinations, which are a directly observable property of natural language“ (Evert 2008: 1214). Für kultur- und sozialwissenschaftlich interessierte Linguistik sind Unterschiede im Kollokationsprofil einzelner Lemmata in verschiedenen (Sub-)Korpora von besonderem Interesse, verweisen sie doch auf unterschiedliche idiomatische Prägungen. Daneben können Kollokationsgraphen berechnet werden, die mehrere oder alle Lemmata in einem Korpus und deren typische Verbindungen zu anderen Lemmata abbilden (Scharloth, Eugster und Bubenhofer 2013).
4.3. N-Gramme N-Gramme sind Einheiten einer durch n bestimmten Anzahl aufeinanderfolgender Wörter (Manning and Schütze 2002: 192 ff.). Für n = 2 wird von Bigrammen, n = 3 von Trigrammen etc. gesprochen. Normalerweise werden n-Gramme als kontinuierliche
95. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Computer- und Korpuslinguistik Wortfolgen verstanden. Weiter gefasst fallen aber auch diskontinuierliche Wortgruppen (Bubenhofer 2009: 118) oder Wortgruppen mit freier Wortreihenfolge („Concgram“ [Cheng, Greaves and Warren 2006]) unter den Terminus. N-Gramme können nur Wortformen oder aber Kombinationen von Wortformen, Wortarten und Lemmata („Collostructions“ [Stefanowitsch and Gries 2003]; „komplexe n-Gramme“ [Scharloth und Bubenhofer 2011]) umfassen. Verwandt mit den n-Grammen sind die „syntagmatischen Muster“ (Belica 2001; Keibel and Belica 2007), die, ausgehend von der Berechnung von Kollokatoren, zu diesen wiederum Kollokatoren berechnen und so in der Folge die typische Reihenfolge der Kollokatoren und die typischen Filler der Lücken syntagmatisch beschreiben können. Für die Berechnung von n-Grammen können kombinatorische Zählverfahren von statistischen Verfahren unterschieden werden: Erstere zählen für eine bestimmte Länge von n alle möglichen unterschiedlichen n-Gramme in einem Korpus. Letztere verwenden analog zur Berechnung von Kollokationen statistische Assoziationsmaße, um die Bindungsstärke zwischen den Gliedern des n-Gramms zu berechnen. Das Konzept der n-Gramme kommt den Bemühungen einiger Theorien, bei Analysen den Blick über das Einzelwort hinaus zu weiten, entgegen: In der Phraseologie werden n-Gramme (ebenso wie Kollokationen) genutzt, um Phrasen oder Idiome zu entdecken.
4.4. Syntaktische Kategorien Auch syntaktische Kategorien können dann für maschinelle kultur- oder gesellschaftsanalytische Untersuchungen fruchtbar gemacht werden, wenn sie eine semantische Ladung haben. So kann beispielsweise die Distribution von bestimmten Nebensatztypen als ein Indikator für den Gebrauch argumentativer Muster dienen, die Füllung semantischer Rollen als Indikator für Agency gedeutet werden oder in historischer Perspektive der Wandel im Valenzgefüge eines Verbs als Verweis auf einen Mentalitätswandel (vgl. Linke 2003a; Scharloth 2010).
4.5. Semantische Taxonomien In sozial- oder kulturwissenschaftlichen Korpusanalysen kommen zudem unterschiedliche Verfahren zum Einsatz, die die Komplexität der Texte auf eine überschaubare Menge semantischer Merkmale reduzieren sollen. Für diesen Zweck werden geordnete Wortschätze (z. B. Dornseiff), semantische Taxonomien (z. B. WordNet) oder spezialisierte Ontologien (Stuckenschmidt 2009) zur automatischen Annotation eingesetzt. Sie werden dann beispielsweise im Opinion Mining (Esuli and Sebastiani n. d.) oder zur Bestimmung von Frames in mentalitätsgeschichtlich orientierten Studien (Scharloth, Eugster and Bubenhofer 2013) eingesetzt.
5. Visualisierung Datengeleitete Analysen großer Korpora resultieren in einer großen Menge von Ergebnisdaten. Wenn andere Formen der Repräsentation von Wissen wie Listen, Tabellen oder
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Texte zu umfangreich oder zu komplex sind, um in ihrer Gesamtheit erfasst und gedeutet werden zu können (Chen, Härdle and Unwin 2008: 5), unterstützen Visualisierungen den Forschungsprozess. Visualisierungen sind dann nicht nur Illustrationen („presentation graphics“), sondern eigenständige Mittel der Erkenntnisgewinnung („exploratory graphics“ [Schumann und Müller 1999: 5]). Die Entwicklung von Methoden zur Visualisierung ist daher ein integraler Bestandteil datenintensiver Forschungsprozesse in der kultur- und gesellschaftsanalytisch interessierten Korpuslinguistik. Beispielgebend sind die technischen Disziplinen, wo vor allem in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und life-sciences bei der Analyse komplex vernetzter Daten mit Visualisierungen gearbeitet wird, die in der Medizin den Namen „bildgebende Verfahren“ tragen. Solche Verfahren folgen dem Paradigma der „Visual Analytics“ (Keim et al. 2010; Chen, Härdle and Unwin 2008): Visualisierungen transformieren, gewichten und filtern komplexe Daten und bringen sie dadurch in eine Form, die sie als Informationen erfassbar und interpretierbar machen. Visualisierungen sind damit keine Abbildungen der Wirklichkeit, sondern aufgrund von Relevanzkriterien geordnete und damit interpretative Reduktionen von Daten, die auf der Basis gestalterischer Vorgaben visuell, d. h. bildlich repräsentiert werden. Als Visualisierungen mit explorativem Wert, die in der kultur- und gesellschaftsanalytisch interessierten Linguistik zum Einsatz kommen, sind vor allem Graphen, etwa zur Visualisierung komplexer Kollokationsnetze oder narrativer Muster, und Karten, beispielsweise zur Visualisierung der räumlichen Distribution sozial signifikanter sprachlicher Phänomene, zu nennen.
6. Literatur (in Auswahl) Belica, Cyril 2001 Kookkurrenzdatenbank CCDB. Eine korpuslinguistische Denk- und Experimentierplattform für die Erforschung und theoretische Begründung von systemisch-strukturellen Eigenschaften von Kohäsionsrelationen zwischen den Konstituenten des Sprachgebrauchs. Online: http://corpora.ids-mannheim.de/ccdb/ (letzter Zugriff: 2. 3. 2016). Belica, Cyril und Kathrin Steyer 2006 Korpusanalytische Zugänge zu sprachlichem Usus. In: Acta Universitatis Carolinae. Germanistica Pragensia XX, 7−24. Bubenhofer, Noah 2008 „Es liegt in der Natur der Sache …“. Korpuslinguistische Untersuchungen zu Kollokationen in Argumentationsfiguren. In: Carmen Mellado Blanco (Hg.), Studien zur Phraseologie aus textueller Sicht, 53−72. (Philologia − Sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse.) Hamburg: Kovac. Bubenhofer, Noah 2009 Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/New York: de Gruyter. Burger, Harald 1998 Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt. Busse, Dietrich 1987 Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart: Klett-Cotta. Chen, Chun-houh, Wolfgang Härdle and Antony Unwin (eds.) 2008 Handbook of Data Visualization. Berlin/Heidelberg: Springer.
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Noah Bubenhofer, Zürich (Schweiz) und Joachim Scharloth, Dresden (Deutschland)
96. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Neurolinguistik (Social Neurosciences) 1. Einleitung 2. Spiegelneurone oder die Soziomotorizität der Wahrnehmung
3. Sprachtheoretische Reflexionen 4. Ausblick 5. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Nimmt man jüngere Ergebnisse der Social Neurosciences in den Blick, stützen zahlreiche Befunde insbesondere zur visuomotorischen Informationsverarbeitung die Annahme von der top-down-geleiteten Wahrnehmung und der sozial konturierten Qualität neuronaler Interaktionsmechanismen. Auf diese Erkenntnisse wird im vorliegenden Beitrag Bezug genommen, wenn neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse zur operativen Logik
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft von Motoneuronen − insbesondere zu Spiegelneuronen − mit kulturwissenschaftlich geprägten Konzeptentwicklungen aus der sprachwissenschaftlichen Forschung enggeführt werden. Obwohl die Abbildung der operativen Verarbeitungslogik von Einzelneuronen auf die der komplexen Netzwerkinteraktionen während der mentalen Wissensprozedierung nicht unproblematisch ist (Hickok 2014), liefern die Forschungsergebnisse aus der Motoneuronenforschung wertvolle Inspirationen für die Modellbildung in den Sprachwissenschaften, wenn neuronale Kommunikationsprozeduren in metaphorischem Sinne auf die weit komplexere Ebene der sozial regierten Verstehensprozesse und damit auf interaktiv regulierte Semantisierungsverfahren übertragen werden. Zentral ist hier der Befund, dass das Verstehen des Anderen dem Verstehen der eigenen Handlung logisch vorausgeht − eine Vorstellung, die George Herbert Mead (1934) schon während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts für seine Konzeption einer Zweiebenensemantik entwickelt hat und die heutzutage dennoch fast revolutionär klingt: Die Innerlichkeit semantischen Wissens ist grundlegend geprägt von einer dem kommunikativen Ursprung geschuldeten Äußerlichkeit der Zeichenhandlung; der Andere wird zur Instanz, die auch der eigenen Äußerung erst ihre Bedeutung beimisst. Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass sich Wissen in soziokulturell geprägten Kommunikationsprozessen organisiert und mentale Repräsentationen die medialen Spuren ihrer diskursiven Herkunft an sich tragen.
2. Spiegelneurone oder die Soziomotorizität der Wahrnehmung Seit fast zwei Jahrzehnten mehren sich in den Neurowissenschaften die Befunde, die die traditionelle Annahme von den vermeintlich unabhängig operierenden Input- und Outputsystemen des Gehirns nachhaltig erschüttern. Vieles deutet darauf hin, dass Wahrnehmung und Handlung, Sensorik und Motorik keine einander entgegengesetzten Systeme sind und dass Erkennen nicht auf einem passiven, sondern auf einem aktiven Wahrnehmungsprozess aufbaut (Noë 2004). Zahlreiche Forschungsarbeiten zum visuellen und motorischen System plausibilisieren die Modellierung einer kontextspezifischen und erfahrungsgeleiteten Wahrnehmungsverarbeitung, die an visuomotorischen Interaktionseffekten orientiert ist und die strikte Unterscheidung von passiver Rezeption und aktiver Produktion unterläuft (Rizzolatti et al. 1988; Creem and Proffitt 2001; Karl and Whishaw 2013): „the border between pure perception and pure action becomes very thin indeed“ (Jacob and Jeannerod 2003: 255). Mit der Entdeckung der sogenannten Spiegelneurone durch die Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma wurde dieser Befund in eine die Fachgrenzen deutlich überschreitende Diskussion der soziostrukturellen Implikationen neuronaler Informationsverarbeitung gebracht (Pellegrino et al. 1992; Fadiga et al. 1995; Rizzolatti et al. 1996). Spiegelneurone unterlaufen nämlich nicht nur die Grenze zwischen Rezeption und Produktion, sondern auch die zwischen Eigen- und Fremdhandlung, denn sie sind sowohl bei der Ausführung von zielgerichteten Handlungen als auch bei der Beobachtung solcher Handlungen aktiv, die Andere ausführen. Sie feuern also nicht nur, wenn ein Makake nach einem Gegenstand greifen will, sondern auch, wenn er sieht, wie der Experimentator oder ein anderer Affe danach greift (Rizzolatti et al. 1988). Indem ein Beobachter die objektgeleiteten und in diesem Sinne zielgerichteten Bewegungen
96. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Neurolinguistik (Social Neurosciences) 935 eines Anderen mitverfolgt, feuern die Spiegelneuronen so, als führte er die Handlung selbst aus − die beobachteten Handlungen werden im prämotorischen Kortex des Affen (F5-Areal) quasi gespiegelt. Es handelt sich bei Spiegelneuronen also um Strukturen, in denen nicht nur die Differenz zwischen Handlungsvollzug und Handlungsbeobachtung, sondern gewissermaßen auch zwischen dem Selbst und dem Anderen getilgt ist. In die Beobachtung einer zielgerichteten (visuomotorischen) Fremdhandlung ist beim Rezipienten so immer auch eine virtuelle Form des motorischen Mitvollzugs eingeschrieben. Verschiedene Bildgebungsstudien und eine Untersuchungsreihe zur Ableitungsmessung von 1177 Neuronen am offenen Gehirn von 21 Patienten (Mukamel et al. 2010) liefern Evidenz dafür, dass motorische Neurone auch im menschlichen Gehirn die Handlungen eines Gegenübers spiegeln. Da beim Menschen in der Regel keine Einzelneuronenableitungen vorgenommen werden können und Bildgebungsstudien mit ihrem Blick auf deutlich größere Strukturen eine grobkörnigere Messgenauigkeit aufweisen, lassen sich Spiegelneurone hier nicht selektiv, sondern nur als Spiegelsystem identifizieren, in dem geteilten Netzwerken eine Spiegelfunktion zugeschrieben wird (Leiberg und Singer 2013). Ist die beobachtete Handlung nicht ziel- bzw. objektbezogener Natur, bleibt eine Reaktion der Spiegelneurone bei Makaken aus. Allerdings mehren sich Hinweise darauf, dass das menschliche Spiegelneuronensystem auch auf pantomimische Handlungen anspricht (Chong et al. 2008). Anders als in früheren Publikationen attestiert (vgl. etwa Raible 2009), reagieren Spiegelneurone ebenfalls auf Greifhandlungen, die mithilfe eines technischen Werkzeugs ausgeführt werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die Tiere vor Beginn der eigentlichen Untersuchung eine Trainingsphase durchlaufen, in der sie der intensiven Beobachtung von Werkzeuggebrauch ausgesetzt sind (Ferrari, Rozzi and Fogassi 2005; Rochat et al. 2010). Und selbst Geräusche, die bei manuellen Handlungen wie dem Knacken einer Nuss entstehen, provozieren in Absenz von visuellen Reizen bei Makaken die aktive Entladung der Spiegelneurone − gerade so, wie es die aktive Beobachtung der Handlung bewirkt (Kohler et al. 2002; Keysers et al. 2003). Audiovisuelle Spiegelneurone feuern also bei der Ausführung wie bei der Wahrnehmung visueller und akustischer Handlungen, allerdings nicht, wenn der Stimulus sinnlos, d. h. nicht spezifisch für eine ziel- oder objektgeleitete Handlung, ist. Spiegelneurone im F5-Areal von Affen feuern auch, wenn die Greifhandlung medial variiert und als Video dargeboten wird (Caggiano et al. 2011), und sogar, wenn das Zielobjekt kurz vor Vollendung der Handlung aus dem Sichtfeld des Affen verschwindet und er die letzte Sequenz des Handlungskomplexes antizipativ um ein aktuell nicht sichtbares, im Vorhinein jedoch wahrgenommenes Objekt ergänzen muss (Umiltà et al. 2001). Die Depräsenz visueller Informationen kann aber auch durch taktile Informationen kompensiert werden: fMRT-Studien deuten darauf hin, dass bei (untrainierten) Probanden bestimmte motorische neuronale Schaltkreise zwar während taktiler Tastexperimente bei Berührung einer echten biologischen Hand reagieren, jedoch keine Entladung zeigen, wenn die Hand des Akteurs in einem Gummihandschuh steckt und ein Objekt ertastet (McKyton 2011). Hinweise hierauf ergeben sich unter der Echthandbedingung aus einer stärkeren Durchblutung von insbesondere drei anatomischen Strukturen: dem anteriormedialen Präfrontalkortex sowie den zum vermeintlich menschlichen Spiegelsystem gehörenden Bereichen des posterior-superioren Temporalkortex und des ventralen prämotorischen Kortex. Möglicherweise ist damit ein Verarbeitungsprozess identifiziert, der u. a.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft mit Blick auf Feedbackprozesse eine wichtige Rolle beim Selfmonitoring der Hand als Medium komplexer Technizität und Kommunikation spielt. Obgleich der die Fremdhandlungen spiegelnde Verarbeitungszyklus des Motoneuronensystems zu einer Steigerung des Muskeltonus beim Beobachter führt, kommt es normalerweise nicht zum Vollzug einer motorischen Handlung, da die entsprechend voraufgebaute Muskelaktivität vorab inhibiert wird (Fadiga et al. 1995). Zuweilen lockert sich diese Hemmung jedoch und dann spiegeln Menschen und manche Affen wie Schimpansen (und sehr junge Makaken) das Verhalten ihres Gegenübers oftmals spontan. Gut belegt sind diese Störungen bei mimischen Aktionen wie dem (selbst unter ausgewachsenen Makaken) beinah ansteckend wirkenden Gähnen, das beim Wahrnehmenden häufig spontane Imitationsleistungen freisetzt. Im Hinblick auf die mögliche Relevanz der Spiegelneuronenforschung für kulturwissenschaftliche Modellbildungen ist auch der Umstand bedeutsam, dass ein Großteil der aktuellen Forschung davon ausgeht, dass das F5-Areal des Affen funktional homolog mit dem für die Sprachverarbeitung sehr bedeutsamen Areal 44 (dem sogenannten BrocaAreal) beim Menschen ist. Wie bereits Hickok (2009) hervorhebt, liefern Morin und Grezes Evidenz für die Annahme, dass nicht die Area 44, sondern das ventrale Brodmann-Areal 6 als die dem F5-Areal des Affen funktional entsprechende neuronale Struktur beim Menschen begriffen werden sollte (Morin and Grezes 2008). Hierfür spricht, dass Areal 44 während der Handlungswahrnehmung nicht differenziert auf objekt- vs. nicht objektgeleitete Handlungen reagiert, Areal 6 augenscheinlich aber schon. Die Frage, ob diese besondere Aktivierung von Areal 6 Resultat einer genuinen Handlungssensitivität oder Ergebnis einer allgemeineren Sequenzialisierung von Handlungssegmenten ist (Schubotz and Cramon 2004), kann bis heute nicht sicher beantwortet werden. Gleichwohl wird Areal 44 − neben Strukturen im posterior-superioren Kortex − nach wie vor als die relevante Teilstruktur des humanen Spiegelsystems begriffen. Bei Affen sind Spiegelneurone aber nicht nur im F5-Areal, sondern in mehreren Strukturen nachgewiesen worden, u. a. auch im rostralen inferioren Parietallappen (IPL), der zum F5-Areal projiziert und Input aus dem Sulcus Temporalis Superior (STS) erhält − eine Struktur, die gemeinhin als relevanter Schaltkreis für die supramodale bzw. begriffliche Integration von Informationen gilt. Spiegelneurone leisten über die bislang skizzierten Eigenschaften hinaus noch mehr: Sie sind in kategorialem Sinne handlungssensitiv. Führt ein Agent unterschiedliche Bewegungsfolgen mit identischem Handlungsziel − etwa das Ergreifen einer Tasse − aus und nutzt für die konkrete Durchführung unterschiedliche Formen der Greifhand − beispielsweise erst einen Pinzettengriff, dann eine offene Fausthand −, feuern dieselben Zellen. Ähnliches gilt für identische Handlungen, die von verschiedenen Akteuren in unterschiedlichen Kontexten ausgeführt werden: Auch hier reagieren Spiegelneurone auf unterschiedliche Auslösereize gleichbleibend mit bestimmten Feuerungsraten (Yamazaki et al. 2010). Anscheinend werden Handlungen nach Maßgabe visuomotorischer Ähnlichkeit auf vorsprachlicher Ebene kategorisiert. Offen ist allerdings, inwieweit diese Leistung das Resultat einer über lokale Schaltkreise hinweg reichenden Interaktion neuronaler Netzwerke ist. Dass eine solchermaßen primäre Kategorisierung nicht automatisch als semantische Ressource zu begreifen ist, zeigen die Arbeiten zur sekundären Kategorisierung, d. h. zur kategorialen Überformung durch sprachkulturelle Faktoren (Grabowski, Damasio and Damasio 1998; Fehrmann 2004a, 2004b).
96. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Neurolinguistik (Social Neurosciences) 937 Und auch Neurone im lateralen intraparietalen Bereich (LIP) des posterioren Parietallappens, die an oculomotorischen Kontrollprozessen beteiligt sind, feuern sowohl, wenn ein Affe in eine bestimmte Richtung sieht, als auch, wenn er beobachtet, wie ein anderer Affe seinen Blick in eben diese Richtung lenkt (Shepherd et al. 2009). Die von Shepherd und seiner Arbeitsgruppe aufgestellte These, dass diese Spiegelneurone eine relevante Rolle bei der Generierung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsrahmens einnehmen, gewinnt nicht zuletzt durch die jüngere sprach- und entwicklungspsychologische Forschung zur Deixis an Plausibilität (Tomasello 2003; Fehrmann und Linz 2008). In den Kontext der Debatte um die sozial konturierte Wahrnehmung gehören zweifellos auch Studien, die die mit dem Spiegelsystem scheinbar gegebene neuronale Basis für den wohl stärksten Mechanismus sozialer Motivation − Empathie − identifiziert zu haben behaupten und seit ihrer Publikation für anhaltendes Aufsehen sorgen. Die visuelle Wahrnehmung mimisch angezeigter Emotionen (z. B. Ekel oder Schmerz) aktiviert beim Beobachter eben jene neuralen Substrate, die auch feuern, wenn er diese Emotionen selbst verspürt − er empfindet quasi empathisch mit (Fan et al. 2011). Auch Emotionen werden also allem Anschein nach über eine Art Spiegelsystem prozessiert, das im anatomischen Gebiet der Insel vermutet wird. Anders als Neurone in der Amygdala lösen Neurone in der Insel aber nicht nur beim authentischen Empfinden einer Emotion − hier provoziert durch die Darbietung ekelerregender Fotos −, sondern auch beim Betrachten von Gesichtern, die ekelbesetzte Mimiken zeigen, Ekelreaktionen beim Beobachter aus. Der Umstand, dass sich der affektive Gesichtsausdruck eines Interaktanten in den neuromotorischen Netzwerken des Beobachters zu spiegeln scheint, wird in der internationalen Forschungsliteratur als Hinweis auf die neuromotorischen Wurzeln des Mitempfindens und als basale Motivation sozialer Lern- und Kooperationsmechanismen gelesen. In Anlehnung an die fundamentalen Arbeiten Tomasellos zur shared attention (Tomasello et al. 2005) ließe sich hier statt von Empathie auch von einer shared emotion sprechen. In diesem Zusammenhang gewinnt noch ein weiterer Befund aus der Spiegelneuronenforschung an Plausibilität: Ganz so, wie dies bereits durch behaviorale Studien mit Makaken nachgewiesen ist, scheint mit der Aktivierung von Spiegelneuronen neuronale Evidenz für die Beobachtung erbracht, dass Affen im experimentellen Setting auf identische Aufgaben mit variierenden Belohnungen (vorab präferierte vs. verschmähte Nahrung) reagieren: Spiegelneurone im F5-Areal feuern umso stärker, je beliebter die durch den Experimentator vorgezeigte (bzw. in Aussicht gestellte) Belohnung beim Versuchstier ist (Caggiano et al. 2012). Dieser Effekt tritt über variierende experimentelle Darbietungsbedingungen stabil auf und wird als Beleg dafür gewertet, dass das Tier Objekte subjektiv mit unterschiedlichen Wertigkeiten assoziiert. Im Rahmen der von Damasio vorgelegten Theorie der somatischen Marker könnten diese in der Forschung als Bewertungsszenarien interpretierten Verhaltensmuster einfacher und stringenter als affektivsomatische Markierung einer Auslösesituation begriffen werden (Damasio 1994). Die Beobachtung, dass Spiegelneurone bei Makaken während der Wahrnehmung von oralen Fremdhandlungen ohne Objekt- oder Zielbezug − etwa Lippenschmollen oder Schmatzen − feuern (Ferrari et al. 2003), verwundert nur auf den ersten Blick. Bei genauerer Betrachtung haben solche Mundbewegungen sehr wohl ein Ziel: Ihnen kommt die Funktion zu, innere Haltungen, Einstellungen und Empfindungen zu kommunizieren. Sie signalisieren also vor allem affektive Zustände und wirken so aktiv auf den Prozess der sozialen Verhaltensregulierung ein.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Aber das motorische Neuronensystem dient auch noch einem ganz anderen Zweck: Im Geflecht interagierender Neuronenaktivität lässt sich mit der als kanonische Neurone bezeichneten Untergruppe der sogenannten Greifneurone im prämotorischen Kortex eine weitere Struktur ausmachen, die die visuelle Wahrnehmungsverarbeitung an die Aktivierung motorischer Neurone koppelt. Anders als Spiegelneurone reagieren sie aber nicht auf die Handlungen Anderer. Vielmehr feuern sie gleichermaßen bei der aktiven Ausführung von Greifbewegungen wie auch beim Anblick von Objekten, die zu ihrer Ergreifung eine bestimmte Handform verlangen. Eine Flasche beispielsweise fordert eine Greifbewegung mit offener Fausthand, eine Nuss den Pinzettengriff usw. Gleichwohl wird die spezifische Behandlung von greifbaren Objekten der äußeren Welt erlernt, trainiert und so routinisiert, dass ihre Wahrnehmung schließlich ganz automatisch zur Freisetzung neuronaler Aktivität in den motorischen Arealen führt, die auch bei ihrer tatsächlichen Ergreifung messbar ist. Die erfahrungsgeleitete Wahrnehmung greifbarer Objekte schreibt sich im Sinne der Motorizität ihrer manuellen Behandlung also direkt in die zentralen Verarbeitungsprozesse ein und in diesem Sinne klassifizieren kanonische Neurone die greifbaren Dinge der äußeren Welt auf einer vorsprachlichen Ebene entsprechend der für die manuelle Manipulation je benötigten Handform (greifbar mit geöffneter Fausthand) schon auf sehr früher Verarbeitungsebene erfahrungsgeleitet (Gallese 2000; hierzu Fehrmann 2010; Jäger 2010). Da diese kategoriale Wahrnehmung bei ausgewachsenen, erfahrenen Tieren ganz unmittelbar greift, manifestiert sich über die Be-Handlung von Objekten sekundär eine Form der Objekt-Agency, die sich auch als unterschiedliche Herausforderung an die Hand lesen lässt. Im interaktiven Geflecht größerer neuronaler Schaltkreise mag sich diese nach Handhabungssignaturen kategorisierte Objektwelt in einen Bewegungsimperativ verwandeln, der beispielsweise greife mich mit geöffneter Fausthand lautet (Arbib and Rizzolatti 1998). Die zur Objektergreifung je notwendigen Greifmuster schreiben sich als hand-prehension (Rizzolatti et al. 1996) so schon auf einem sehr frühen Verarbeitungsniveau in eine empraktische Handlungslogik ein. Wenngleich die Funktionsweise kanonischer (Einzel-)Neurone nicht mit der komplexen und über viele Ebenen prozessierten Interaktion neuronaler Netzwerke − etwa zur Sprachprozessierung − verglichen werden kann, ist die weitergehende Interpretation u. a. Michael Arbibs und Giacomo Rizzolattis aus sprachtheoretischer Sicht wegweisend, da die diskutierten Befunde zweifelsfrei belegen, dass interaktionsbasierte Lernprozesse neuronal kodierte Spuren in den frühen Kreisläufen der visuomotorischen Wahrnehmungsverarbeitung hinterlassen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Spiegelneurone auf einem sehr frühen Verarbeitungsniveau wie ein motorischer Resonanzboden wirken, wenn sie sowohl während visuo- und oculomotorischer als auch während taktiler und akustischer Wahrnehmungsprozesse feuern und insbesondere auf manuelle und faciale Signale (i. e. Blickbewegungen, Gesichtsausdruck und Mundgesten) eines Interaktanten reagieren. Insbesondere die bereits erwähnten Studien zur antizipativen Vervollständigung einer nicht bis zu ihrem Ende hin sichtbaren Greifhandlung (Umiltà et al. 2001) legen die Annahme nahe, dass Spiegelneurone auch von rückgerichteten, top-down-regierten Projektionen anderer Neuronenverbände aktiviert werden können und Teil eines komplexen Interaktionsnetzwerks sind. Ihre prominenteste Funktion dürfte in der Engführung der wahrgenommenen Fremdhandlung mit motorischem Aktivitätspotenzial liegen, die auf vordeklarativer Ebene eine zutiefst soziale bzw. emotionale Form motorischen Handlungsverstehens in die neuronale Architektur des Gehirns einschreibt. Diese Einsicht
96. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Neurolinguistik (Social Neurosciences) 939 wird von Forschungsbefunden zur Funktionsweise kanonischer Neurone begleitet, die deutlich machen, dass wir die Welt unserer visuomotorischen Interaktion auf einem vordeklarativen Niveau nach Maßgabe erfahrungsgeleiteter Prozessierungsroutinen kategorisieren.
3. Sprachtheoretische Reflexionen Die wirklich interessante Schlussfolgerung aus den diskutierten Studien liegt nun einerseits darin, dass die Ergebnisse der Motoneuronenforschung auf einen handlungsbasierten Kommunikationsursprung hindeuten, den Tomasello aus entwicklungspsychologischer Perspektive mit seiner Idee der „verb construction islands“ als ein an der empraktischen Logik von Verbrelationen orientiertes Ursprungsszenario von Grammatikstrukturen konzeptualisiert (Tomasello 2003: 421). Andererseits liefern die Ergebnisse aus der Spiegelneuronenforschung Evidenz für die Annahme, dass sich Fremderfahrung und Eigenhandlung mit der motorischen Spiegelung der wahrgenommenen Fremdhandlung in den neuronalen Hirnstrukturen des Beobachters schon in den Kreisläufen der neuronalen Verarbeitungsprozeduren zu einer genuin interaktiven und in diesem Sinne sozial konturierten Struktur verschwistern. Anders formuliert ist in die subjektive Wissensgenese immer schon ein sozialer Kooperationseffekt eingebunden; ein Befund, der die auf den ersten Blick vielleicht befremdliche Annahme vom Primat des Fremdverstehens untermauert. In dieser generellen und die Ebene der neuronalen Interaktion weit übersteigenden Lesart hat sich Sprache evolutiv aus gestischen Zeichen für manuelle und faciale Handlungen entwickelt (Corballis 1999). Denn in Zeiten vorsprachlicher Kommunikation − so eine derzeit weitverbreitete These − war es von entscheidendem Vorteil, die nonverbalen Signale des Anderen zu verstehen. Für diese Annahme wird im internationalen Diskurs gern die kommunikative Relevanz manueller Gesten angeführt, die sich bis heute in der Präsenz koartikulierter Gesten erhalten hat und im Fall von Gebärdensprachen ein unverzichtbares Artikulationsmedium darstellt (vgl. Artikel 90 und 91). Von den Sprachwissenschaften wenig bemerkt, unterlaufen die Ergebnisse aus den Neurowissenschaften so die Annahme, die Sinnhaftigkeit von Ereignissen könne subjektautonom gewonnen und als der Interaktion vorausliegende Größe begriffen werden, die kommunikativ nur mitgeteilt wird. Nach wie vor aber gehen die meisten Sprachtheoretiker davon aus, dass die alltägliche kommunikative Herausforderung darin besteht, den Anderen richtig zu verstehen − das Verstehen der eigenen Zeichenhandlung wird dabei nicht problematisiert. Das hier implizierte Semantikmodell vertraut vielmehr darauf, dass uns die Bedeutungen sprachlicher Zeichen als individuelle Kognate ganz unmittelbar zur Verfügung stehen und wir im kommunikativen Transfer lediglich mit medialen Übermittlungsproblemen zu kämpfen haben (hierzu kritisch Jäger 2001, 2014). Aus dieser Perspektive generiert unser Bewusstsein Begriffe und Bedeutungen autark, sodass wir Inhalte zur interpersonalen Kommunikation nur noch mit gestischen oder sprachlichen Ausdrucksformen verknüpfen müssen. So gesehen, liegt die wahre Herausforderung darin, die Absichten Anderer nachvollziehen und ihre Zeichen richtig semantisieren zu können. Der vorliegende Beitrag teilt die mit diesen Theorien verbundene Annahme vom Primat einer amedialen kognitiven Semantik nicht, sondern geht im Anschluss an George
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Herbert Mead (1934) davon aus, dass die Fremddeutung der Selbstdeutung vorausliegt und sich die Sinnhaftigkeit intentionaler Zeichen von einem sozialen Außen in die Innerlichkeit der mentalen Sphäre bewegt. Wie Mead setzt auch Michael Tomasello (2003) in seiner Modellierung auf eine Semantikkonzeption, die ihren Ursprung in der Interaktion hat und die Interpretation selbst gesetzter Signale durch den Anderen zur Folie erhebt, auf der es einem Zeichengeber allererst möglich wird, die eigene Zeichenhandlung zu deuten (Fehrmann 2010; Jäger 2001). Im weiteren Horizont einer solchermaßen interaktionalen Semantik differenziert Mead mit der Unterscheidung von Geste und signifikantem Symbol (Mead 1934) zwei kategorial unterschiedene Ebenen einer rezeptionsgeleiteten Zweistufensemantik aus: Die erste Bedeutung eines solchermaßen sozial fundierten Zeichenbegriffs kann nicht in der mentalen Sphäre eines zeichenfrei denkenden und eine begriffliche Vorstellung mittels eines Zeichens lediglich äußernden Subjektes beheimatet werden, sondern manifestiert sich in der nachfolgenden Reaktion der wahrnehmenden Agenten (Geste). Die Semantik solcher Zeichen kann in einem metaleptischen Verfahren einen zweiten Sättigungsprozess durchlaufen, wenn die (potenzielle) Reaktion des wahrnehmenden Agenten als logische Folge und genuin erste Bedeutung der gestischen Handlung eines Akteurs endlich auch vom zeichensetzenden Akteur erkannt, übernommen und dem Zeichen darauf fortan antizipativ zugeschrieben wird (signifikantes Symbol). Im Kontext dieser Modellierung ist auch ein eigentlich trivialer, im Horizont der Spiegelneuronenforschung jedoch beinah befremdlicher Befund verortbar: Droht uns ein Gegenüber mit geballter Faust oder greift er uns gar an, reagieren wir nicht mit einer identischen, sondern mit einer adäquaten Reaktion wie Flucht, Abwehr oder Gegenangriff etc. Vergleichbares dürfte sich vollziehen, wenn wir uns einem Interaktanten mit wutverzerrtem Gesicht gegenübersehen. Auf einer ersten semantischen Ebene bedeutet die geballte Faust eines Gegenübers für einen Wahrnehmenden also Flucht, Abwehr oder Gegenangriff etc. und kann nicht an sein eigenes Verhalten zurückgebunden werden. Kann er die Faust aber als eine Reaktion an sein eigenes Verhalten koppeln, versteht er seine eigene Ursprungshandlung als eine, die diese Reaktion provoziert. In gewissem Sinne begreift er also sein eigenes Verhalten als Auslösereiz, der ein ganzes Spektrum an möglichen Antwortreaktionen nach sich ziehen kann und in diesem Sinne auch dieses Set an Reaktionen bedeutet. Lenkt man den Blick auf die frühkindliche Erfahrungswelt, plausibilisiert sich diese Kommunikationserfahrung rasch: Kindliches Handeln wird korrigiert, gelobt, zuweilen bestraft, d. h. in den Kontext sprachlicher Deutungshorizonte gestellt. Dabei helfen sprachliche Kommentare dem Kind, sich selbst als Anlass sozialer Aktion zu begreifen und die von Sprache begleiteten Reaktionen seiner Mitwelt auf sein eigenes Handeln zurückzubeziehen. Kann es einmal das reaktive Verhalten eines Interaktanten an seine eigenen Handlungen koppeln und erkennen, dass unterschiedliches Verhalten verschiedene Folgehandlungen beim Gegenüber hervorruft, wird es erfolgreiche von weniger erfolgreichen Kommunikationsstrategien unterscheiden lernen und zunehmend auf ein bestimmtes Sprechhandlungsziel passende Praktiken entwickeln. Im Horizont sprachlicher Interaktion ist der Erwerb semantischer Strukturen also ebenfalls von Anbeginn an ein Erleben gebunden, das den Deutungshorizont des Anderen miteinbezieht.
96. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Neurolinguistik (Social Neurosciences) 941
4. Ausblick Die Engführung visuomotorischer Forschung und sprachtheoretischer Modellbildung legt eine ebenso schlichte wie alltäglich belegte Einsicht frei: Ganz offensichtlich spiegeln wir fremdes zielgerichtetes Verhalten nicht immer, sondern verknüpfen einen visuellen Reiz oftmals mit einem alternativen motorischen Programm. Aus dieser Perspektive muss es parallel zum Spiegelsystem ein Antispiegelungssystem geben, das die unmittelbare Spiegelung eines bestimmten Verhaltens kontextspezifisch hemmt und einen Reiz mit einer passenden motorischen Reaktion verknüpft. Die Motoneuronenforschung ignoriert diesen Befund bislang ganz und bleibt eine plausible Erklärung dieser Beobachtung in ihrer Modellbildung schuldig. Zudem ist nach wie vor offen, wie das Gehirn die Ziele bzw. Intentionen eines beobachteten Interaktanten liest und ab welchem Handlungspunkt diese für das breit interagierende neuronale Netzwerk kodierbar werden. Ohne Zweifel aber profitiert die sprachwissenschaftliche Modellbildung auf vielen Ebenen von den inspirierenden Forschungsbefunden der Social Neurosciences. Dennoch sollte deutlich geworden sein, dass eine direkte Übertragung der Ergebnisse auf höhere kognitive Funktionen von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist: While MNs [mirror neurons] are deemed to play a number of high-level cognitive functions, here we propose that they serve a unitary form of sensorimotor recognition of others’ behavior. We caution that this basic function should not be confounded with the higher order functions that stem from the wider cortical systems in which MNs are embedded. (Bonini and Ferrari 2011: 166)
5. Literatur (in Auswahl) Arbib, Michael and Giacomo Rizzolatti 1998 Language Within Our Grasp. In: Trends in Neurosciences 21, 188−194. Bonini, Luca and Pier F. Ferrari 2011 Evolution of Mirror Systems: A Simple Mechanism for Complex Cognitive Functions. In: Annals of the New York Academy of Sciences 1225, 166−175. Caggiano, Vittorio, Leonardo Fogassi, Giacomo Rizzolatti, Antonio Casile, Martin A. Giese and Peter Thier 2012 Mirror Neurons Encode the Subjective Value of an Observed Action. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 109, 11848−11853. Caggiano, Vittorio, Leonardo Fogassi, Giacomo Rizzolatti, Joern K. Pomper, Peter Thier, Martin A. Giese and Antonino Casile 2011 View-based Encoding of Actions in Mirror Neurons of Area F5 in Macaque Premotor Cortex. In: Current Biology 21, 144−148. Chong, Trevor T.-J., Ross Cunnington, Mark A. Williams, Nancy Kanwisher and Jason B. Mattingley 2008 FMRI Adaptation Reveals Mirror Neurons in Human Inferior Parietal Cortex. In: Current Biology 18, 1576−1580. Corballis, Michael C. 1999 The Gestural Origins of Language. In: American Scientist 87, 138−145. Creem, Susan H. and Dennis R. Proffitt 2001 Defining the Cortical Visual Systems: „What“, „Where“, and „How“. In: Acta Psychologia 107, 43−68.
942
IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Damasio, Antonio 1994 Descartes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain. New York: Putnam. Fadiga, Luciano, Leonardo Fogassi, Giovanni Pavesi and Giacomo Rizzolatti 1995 Motor Facilitation During Action Observation: A Magnetic Stimulation Study. In: Journal of Neurophysiology 73, 2608−2611. Fan, Yan, Niall W. Duncan, Moritz de Greck and Georg Northoff 2011 Is There a Core Neural Network in Empathy? An fMRI based Quantitative Meta-analysis. In: Neuroscience and Biobehavioral Reviews 35, 903−911. Fehrmann, Gisela 2004a Verzeichnung des Wissens. Überlegungen zu einer neurosemiologischen Theorie der sprachgeleiteten Konzeptgenese. München: Fink. Fehrmann, Gisela 2004b Die diskursive Logik kategorieller Wissensstrukturen. In: Ludwig Jäger und Erika Linz (Hg.), Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, 69−98. München: Fink. Fehrmann, Gisela 2010 Hand und Mund. Zwischen sprachlicher Referenz und gestischer Bezugnahme. In: Sprache und Literatur 41, 18−36. Fehrmann, Gisela und Erika Linz 2008 Der hypnotische Blick. Zur kommunikativen Funktion deiktischer Zeichen. In: Horst Wenzel und Ludwig Jäger (Hg.), Deixis und Evidenz, 261−288. Freiburg i. Br.: Rombach. Ferrari, Pier F., Vittorio Gallese, Giacomo Rizzolatti and Leonardo Fogassi 2003 Mirror Neurons Responding to the Observation of Ingestive and Communicative Mouth Actions in the Monkey Ventral Premotor Cortex. In: European Journal of Neuroscience 17, 1703−1714. Ferrari, Pier F., Stefano Rozzi and Leonardo Fogassi 2005 Mirror Neurons Responding to Observation of Actions Made With Tools in Monkey Ventral Premotor Cortex. In: Journal of Cognitive Neuroscience 17, 212−326. Gallese, Vittorio 2000 The Acting Subject. Toward the Neural Basis of Social Cognition. In: Thomas Metzinger (ed.), Neural Correlates of Consciousness. Emprical and Conceptual Questions, 324− 333. Cambrigde, MA/London: MIT Press. Grabowski, Thomas, Hanna Damasio and Antonio R. Damasio 1998 Premotor and Prefrontal Correlates of Category-related Lexical Retrieval. In: NeuroImage 7, 232−243. Hickok, Gregory 2009 Eight Problems for the Mirror Neuron Theory of Action Understanding in Monkeys and Humans In: Journal of Cognitive Neuroscience 21(7), 1229−1243. Hickok, Gregory 2014 The Myth of Mirror Neurons. The Real Neuroscience of Communication and Cognition. New York/London: Norton. Jacob, Pierre and Marc Jeannerod 2003 Ways of Seeing. The Scope and Limits of Visual Cognition. Oxford: Oxford University Press. Jäger, Ludwig 2001 Sprache als Medium. Über die Sprache als audio-visuelles Dispositiv des Medialen. In: Horst Wenzel, Wilfried Seipel und Gotthart Wunberg (Hg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg − Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, 19−42. Wien: SKIRA. Jäger, Ludwig 2010 Sprachwissenschaft. In: Philipp Sarasin und Marianne Sommer (Hg.), Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch, 327−340. Stuttgart: Metzler.
96. Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Neurolinguistik (Social Neurosciences) 943 Jäger, Ludwig 2014 Medialität. In: Ekkehard Felder und Andreas Gardt (Hg.), Handbuch Sprache und Wissen, 106−122. Berlin: de Gruyter. Karl, Jenni M. and Ian Q. Whishaw 2013 Different Evolutionary Origins for the Reach and the Grasp: An Explanation for Dual Visuomotor Channels in Primate Parietofrontal Cortex. In: Frontiers in Neurology 4, 208. Keysers, Christian, Evelyne Kohler, Maria A. Umiltà, Luca Nanetti, Leonardo Fogassi and Vittorio Gallese 2003 Audiovisual Mirror Neurons and Action Recognition. In: Experimental Brain Research 153, 628−636. Kohler, Evelyne, Christian Keysers, M. Alessandra Umiltà, Leonardo Fogassi, Vittorio Gallese and Giacomo Rizzolatti 2002 Hearing Sounds, Understanding Actions: Action Representation in Mirror Neurons. In: Science 297, 846−848. Leiberg, Susanne und Tania Singer 2013 Empathie. In: Erich Schröger und Stefan Kölsch (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie: Affektive und Kognitive Neurowissenschaft. Vol. 5: Kognition, 119−154. Göttingen: Hogrefe. McKyton, Ayelet 2011 Tactile Interactions Activate Mirror System Regions in the Human Brain. In: Neuroreport 22, 897−901. Mead, George H. 1934 Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Ed. and with an Introduction by C. W. Morris. (Works of George Herbert Mead: Vol. 1.) Chicago: University of Chicago Press. Morin, Oliver and Julie Grezes 2008 What is „Mirror“ in the Premotor Cortex? A Review. In: Clinical Neurophysiology 38, 189−195. Mukamel, Roy, Arne D. Ekstrom, Jonas Kaplan, Marco Iacoboni and Itzhak Fried 2010 Single-neuron Responses in Humans During Execution and Observation of Actions. In: Current Biology 20, 750−756. Noë, Alva 2004 Action in Perception. Cambridge, MA: MIT Press. Pellegrino, Gioseppe di, Luciano Fadiga, Leonardo Fogassi, Vittorio Gallese and Giacomo Rizzolatti 1992 Understanding Motor Events: A Neurophysiological Study. In: Experimental Brain Research 91, 176−180. Raible, Wolfgang 2009 Zur Realität von Tiefenstrukturen. In: Angelika Linke und Helmuth Feilke (Hg.), Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt, 77−98. Tübingen: Niemeyer. Rizzolatti, Giacomo, Rosolino Camarda, Leonardo Fogassi, Maurizio Gentilucci, Giuseppe Luppino and Massimo Matelli 1988 Functional Organization of Inferior Area 6 in the Macaque Monkey. II. Area F5 and the Control of Distal Movements. In: Experimental Brain Research 71, 491−507. Rizzolatti, Giacomo, Luciano Fadiga, Vittorio Gallese and Leonardo Fogassi 1996 Premotor Cortex and the Recognition of Motor Actions. In: Cognitive Brain Research 3, 131−141. Rochat, Magali J., Fausto Caruana, Ahmad Jezzini, Ludovic Escola, Irakli Intskirveli, Franck Grammont, Vittorio Gallese, Giacomo Rizzolatti and Maria A. Umiltà 2010 Responses of Mirror Neurons in Area F5 to Hand and Tool Grasping Observation. In: Experimental Brain Research 204, 605−616.
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Schubotz Ricarda I. and Detlev Yves von Cramon 2004 Sequences of Abstract Nonbiological Stimuli Share Ventral Premotor Cortex with Action Obsevation an Imagery. In: Journal of Neuroscience 24, 5467−5474. Shepherd, Stephen V., Jeffrey T. Klein, Robert O. Deaner and Michael L. Platt 2009 Mirroring of Attention by Neurons in Macaque Parietal Cortex. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 106, 9489−9494. Tomasello, Michael 2003 Constructing a Language. A Usage-based Theory of Language Acquisition. Cambridge, MA: Harvard University Press. Tomasello, Michael, Malinda Carpenter, Josep Call, Tanya Behne and Henrike Moll 2005 Understanding and Sharing Intentions: The Origins of Cultural Cognition. In: Behavioral and Brain Sciences 28, 675−691. Umiltà, Maria A., Evelyne Kohler, Vittorio Gallese, Leonardo Fogassi, Luciano Fadiga, Christian Keysers and Giacomo Rizzolatti 2001 I Know What You Are Doing. A Neurophysiological Study. In: Neuron 31, 155−165. Yamazaki, Yumiko, Hiroko Yokochi, Michio Tanaka, Kazuo Okanoya and Atsushi Iriki 2010 Potential Role of Monkey Inferior Parietal Neurons Coding Action Semantic Equivalences as Precursors of Parts of Speech. In: Social Neuroscience 5, 105−117.
Gisela Fehrmann, Bonn (Deutschland)
97. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Linguistik 1. Die Kultur des Kulturbegriffs 2. Elemente und Erträge kulturwissenschaftlicher Orientierungen
3. Ausblick: ein kulturalistisch-linguistisches Begriffsnetz? 4. Literatur (in Auswahl)
1. Die Kultur des Kulturbegriffs Kultur heißt in der Regel Vielfalt. Nach der Abwendung des Kulturdiskurses von der „bildungsbürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts, die ‚Kultur‘ auf die Sphäre der symbolischen, besonders der sogenannten ‚hohen‘ Kultur, der Künste, der Bildung und des guten Geschmacks einschränkte“ (Böhme, Matussek und Müller 2000: 165), setzte sich in jüngerer Zeit im Horizont eines „pluralen Verständnis[ses] von Kultur“ (Linke 2009) eine Begriffssemantik durch, die den Ausdruck im Sinne einer „Vielfalt von Vergesellschaftungsformen“ (Daniel 2002: 445) konzeptualisiert. Kultur wird in der neueren Debatte des Begriffs nun eher verstanden „als ein polyphoner, stets umstrittener und komplexer Prozeß der Konstruktion von soziokulturellen Bedeutungen und Identitäten“ (Hörning und Winter 1999: 10; siehe auch Artikel 30). Auch wenn man Baecker nicht darin folgen möchte, „daß die Kultur als solche nicht existiert, sondern allenfalls verschiedenartige Vorstellungen“ von ihr, kann man mit ihm doch darin übereinstimmen, dass jeder, der „sich vorschnell festlegt“, „gegen eine Kultur des Kulturbegriffs [verstößt], die eher auf Suchhaltungen und Empfindlichkeiten für Nuancen Wert legt als auf
97. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Linguistik zugreifende theoretische Gesten“ (Baecker 2012: 7). Es spricht also einiges dafür, dass sich die Idee einer kulturwissenschaftlichen Orientierung der Linguistik nicht auf die Grundlage eines „Totalitätsbegriffes“ von Kultur (Hermanns 1999; Linke 2009: 1132 f.) stützen kann, der in ein geschlossenes und an den Rändern trennscharf exkludierendes Paradigma mündet. Dass für die Idee einer kulturalistisch orientierten Sprachwissenschaft ein Kulturbegriff angemessen ist, der Kultur eher als Suchbegriff denn als begrifflich normatives Konstrukt versteht und der bewusst darauf verzichtet, die Kulturwissenschaftlichkeit linguistischer Gegenstände im begrifflichen Horizont eines bestimmte Begriffes von Kultur bzw. Kulturwissenschaft zu entfalten, zeigt eindrücklich die (in diesem Band) dokumentierte Vielfalt der Ansätze und involvierten disziplinären Teilgebiete. Auch der hier vorgelegte, knapp resümierende Beitrag unternimmt nicht den Versuch, nachholend zu skizzieren, was der Band insgesamt nicht zum Ausdruck zu bringen beabsichtigt: ein homogenes Modell des Zusammenhanges von Sprache, Kultur und Kommunikation als Grundlage einer kulturwissenschaftlichen Linguistik (vgl. hierzu auch Artikel 69). Im Rahmen dieses Artikels soll deshalb kein abschließender, zusammenfassender Überblick gegeben werden, bestenfalls ein Schwerpunkte aufgreifender Versuch der Umrissbildung und exemplarischen Verknüpfung einzelner Aspekte, sodass so etwas wie ein gemeinsamer Kernbereich oder doch zumindest ein Netz von begrifflichen und konzeptuellen Verbindungslinien aufscheint. Denn natürlich ist gerade in Anbetracht der in diesem Band entfalteten Aspektvielfalt des Problemfeldes die Identifizierung von Gemeinsamkeiten auch dann wünschenswert, wenn keine homogene disziplinäre Idee einer kulturalistischen Sprachwissenschaft entwickelt wird. Mit der genannten Absicht der Umrissbildung und Verknüpfung sollen hier also entsprechende Elemente als Erträge kulturwissenschaftlicher Orientierungen für die Linguistik zusammengetragen werden, wobei einige gelegentlich als heterogen wahrgenommene Aspekte unter der Perspektive der Schaffung von gleichsam prismatisch gebündelten Gemeinsamkeiten zusammengesehen werden. Im Hinblick auf dieses Ziel der Identifizierung von Gemeinsamkeiten und begrifflichen Netzwerken kann zunächst noch einmal auf die Einleitung sowie die vier zentralen „Einführungen“ (Artikel 2, 19, 35 und 69) zurückverwiesen werden, die – vor dem Hintergrund der Anregungen und Befunde, die die Einzelartikel vermitteln – die Konturen einer kulturalistisch sensibilisierten Linguistik im Umriss aufscheinen lassen.
2. Elemente und Erträge kulturwissenschaftlicher Orientierungen Blickt man auf die in diesem Band erschlossenen Entwicklungslinien einer kulturalistisch verstandenen Linguistik, so zeichnet sich ein semantisches Feld, ein konzeptionelles Netzwerk, ab, in dem sich Begriffe wie Zeichen und Handlung, Medialität und Performanz, Dialogizität und Sozialität, Intentionalität und Emergenz, Praktik und Automatismen und anderes mehr gleichsam als Fokusbegriffe eines hochkomplexen inhaltlichthematischen Zusammenhangs versammeln lassen, der zwar von keiner konsistenten Theorie vollständig erfasst wird bzw. ohne Weiteres in eine solche überführt werden könnte, der aber doch die Umrisse sichtbar werden lässt, innerhalb derer eine zukünftige Rahmentheorie kulturwissenschaftlicher Linguistik – so eine solche denn wünschenswert wäre – sich ansiedeln könnte. Auch vor dem Hintergrund der Erträge dieses Handbuches
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft stellen – wie Günthner und Linke 2006 im Hinblick auf die Beiträge des ZGL-Themenheftes „Linguistik und Kulturanalyse“ bemerkten – die Ansätze „noch kein übergreifendintegratives ‚Programm‘ einer kulturanalytischen Linguistik“ dar. Freilich könnte es sein, dass die hier beteiligten Disziplinen auf diesem Weg in ihrer „sprachtheoretische[n] Selbstverständigung“ (vgl. Günthner und Linke 2006: 19) den einen oder anderen Schritt weitergekommen sind. Wie auch immer eine solche Theorie aussähe, müsste sie freilich zunächst dem zentralen Umstand Rechnung tragen, dass Sprache als ein „aspektheterogener“ Gegenstand (Feilke, Artikel 2) verstanden werden muss, sodass das ihn theoretisch erschließende Begriffsnetz durch zugleich höchst fragile und dynamische Relationen bestimmt ist, die zu Spannungsverhältnissen führen, wie sie Angelika Linke etwa für die Konzepte Kommunikation und Kultur diagnostiziert (siehe Artikel 35). Im Folgenden sollen in aller Kürze einige dieser begrifflichen Spannungen aufgegriffen und im Hinblick auf den möglichen prismatischen Umriss einer kulturwissenschaftlichen Linguistik diskutiert werden.
2.1. Medialität und Zeichen Gleich der erste zentrale Gedanke einer kulturalistischen Linguistik, der Sprache als notwendiges Medium menschlicher Kommunikation (Artikel 26) und Kognition, als das „einzige Erkenntnismedium sine qua non“, fasst (Seel 1998: 354; hierzu auch Blank 2004: 259 ff.; Levinson 1997; Ehlich 1998; Jäger 2002), enthält eine Trias zum Teil wechselseitiger, nicht immer symmetrischer Beziehungen: ohne Medialität keine Kommunikation, aber ohne (kooperative) Kommunikation (Tomasello 2011: 147) auch kein Medium Sprache; weiterhin: keine Kognition ohne Sprache, aber auch keine Sprache ohne Kognition (Luhmann 2007: 38); wohl aber: Kommunikation auch ohne Sprache (Luhmann 1987: 208; vgl. Artikel 15). Anders als im universalistischen Konzept der „innate ideas“ chomskyscher Prägung – hier liegt eine scharfe Scheidungslinie – entwickelt sich Sprache – natürlich auf der Basis einer genomischen Ausstattung der Gattung (vgl. Jäger 2001: 22 ff.) – kulturspezifisch im kommunikativen Austausch, wobei die jeweilige Materialität des Medialen (siehe Artikel 10) keine geringe Rolle spielt. Deshalb ist ein zweiter zentraler Begriff, der des Zeichens (siehe Artikel 20), als Verknüpfung von Ausdruck (bei Saussure: côté vocal du signe, ‚lautliche Seite des Zeichens‘) und Bedeutung (bei Saussure: côté idéologique, ‚begriffliche Seite‘; Saussure 1997: 372, 358), invers zu konstruieren, und zwar zeitlich verbunden: Keiner der beiden gleichursprünglichen Teile ist ontologisch unabhängig vom andern und zeitlich oder logisch vorgängig (dazu und zum Folgenden Jäger 2010: 134 ff., 157 ff.). Insbesondere ist er nicht – nach dem klassischen Modell der semiotischen Tradition – dyadisch, sondern, wie Peirce und Saussure zeigen, triadisch zu konstruieren. Eine Dyade ergibt sich zwar durch die Unterscheidung des Zeichens als einer „psychischen Realität“, in der Sphäre des Sprachbewusstseins, und einer „lautlichen Figur“ in der Sphäre des Diskurses; insgesamt erscheinen aber in Saussures semiologischen Notizen drei Konstituenten: die im Sème/Parasème vereinte stimmliche und ideologische Seite des Zeichens – im Cours de linguistique générale: image acoustique und concept (Saussure [1968] 1989: 150) – sowie als drittes Element die materielle Erscheinungsform des Sème/Parasème im Diskurs, das Aposème (vgl. Saussure 1997: 354 ff., [1974] 1990: 36 ff.; vgl. hierzu auch Jäger 2008). Als performative Gebrauchsform des Zeichens kommt ihm im Diskurs eine be-
97. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Linguistik deutungskonstitutive Rolle zu. Aposème werden im produktiven und rezeptiven Gebrauch erst durch den Bezug auf die parasemischen Netzwerke im jeweiligen Sprachbewusstsein der Sprecher semantisiert, können aber im und durch den Gebrauch immer Veränderungen in diesen Netzwerken zur Folge haben. So verbietet sich auch eine bis heute tradierte repräsentationistische Auffassung, die in der klassischen Formel das Zeichen „für etwas anderes“, und zwar Vorgängiges, stehen lässt („aliquid stat pro aliquo“), das als Objekt oder Begriff die Bedeutung liefert: „Wenn es möglich wäre, daß eine Sprache [›langue‹] einzig darin bestünde, die Gegenstände zu benennen, hätten die unterschiedlichen Terme dieser Sprache [›langue‹] keine Beziehung zueinander, würden […] ebenso getrennt bleiben wie die Gegenstände selbst“ (Saussure 1997: 394, 1989: 300, N 23.5); stattdessen entsteht die Bedeutung wesentlich durch die Differenz im System, sie kommt gleichsam „von der Seite“ (Saussure 1990: 18). Dabei darf man sich das System nicht als etwas Starres vorstellen; es ist im Gegenteil ständig in Bewegung, weil es sich um eine fragile Konstruktion handelt, die jeweils durch die kommunikativen Handlungen der sich verständigenden Sprecher-Hörer als Resultante, als nicht intendiertes Ergebnis intentionaler Akte „wie von unsichtbarer Hand“ ständig emergiert und sich wandelt (Keller 1994: 92). Wie entsteht dieses System von Zeichen, das durch Ausdifferenzierung erst die Bedeutungen generiert, die ja nicht oder kaum von den Ausdrücken „motiviert“ oder gar von den Sprachteilhabern „vereinbart“ sind? Vor allem durch den Bezug von Zeichen auf Zeichen, also durch „Inferenz“, weniger durch „Referenz“ von Zeichen auf Gegenstände, ein vergleichsweise seltenes Verfahren, das auch kaum ohne Inferenz auskommt. Für Zeichen ist – so Brandom – charakteristisch, „daß die Art und Weise, wie Repräsentationen über sich hinausweisen auf etwas, was repräsentiert wird, in Begriffen inferentieller Relationen zwischen ihnen zu verstehen ist“ (Brandom 2000: 158). Inferenzialität kann auch als Transkriptivität (Jäger 2012; Artikel 37) verstanden werden, als der unweigerlich in jeder Kommunikation stattfindende Bezug auf andere Zeichen, die zitiert, übersetzt, kommentiert, variiert und anders apostrophiert werden, was nebenbei zum Aufbau eines großen Schatzes führt, der sich durch die Bezugnahmen ständig anreichert und aktualisiert. Zur Medialität und Zeichenhaftigkeit von Sprache gehört auch, dass sie in verschiedenen Modalitäten erscheint, nicht nur als Lautsprache vokal-audititiv (siehe Artikel 45), sondern gattungsgeschichtlich vermutlich sogar primär als Gebärdensprache (Artikel 91), also gestisch-visuell (dazu Jäger 2001; Artikel 90), und schließlich als Schriftsprache visuell-grafisch (Stetter 1997; Artikel 8). Insofern ist Sprache grundsätzlich multimodal, aber sie ist auch kognitiv und kommunikativ jeweils mit anderen Symbolsystemen verbunden, sodass im Gebrauch multimodale Bedeutungskomplexe entstehen, die sich wechselseitig intermedial überschreiben (Holly 2015; Artikel 37 und 46).
2.2. Dialogizität und Sozialität Seit Humboldt und Mead kann man Sprache nicht eigentlich als solipsistisches Konstrukt ansehen, sondern muss ihre fundamentale Verankerung im Dialog (vgl. zum „Dualis“ Humboldt 1968b: 4–30), in Interaktion, in ständiger Kokonstruktion von Formen und Bedeutungen, eingebettet in die Wechselseitigkeit der Perspektiven in Rechnung stellen – ein weiteres höchst produktives Spannungsverhältnis. Sprache entwickelt sich – so Hum-
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft boldt – „nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat“ (Humboldt [1830– 1835] 1968a: 55). Ganz analog ist für Mead „im Prozeß der Kommunikation […] das Individuum ‚ein anderer‘, bevor es es selbst ist“. Erst indem „es sich selbst in der Rolle eines anderen anspricht, erfährt es sich als Selbst“ (Mead 1969: 220). Sprechen und Verstehen sind dabei nur tentative Annäherungen an einen immer von Störungen (Kümmel und Schüttpelz 2003; Jäger 2004) und Missverstehen begleiteten Prozess relativen Kommunikationserfolgs oder -misserfolgs. Bereits Schleiermacher verhandelt dieses Problem unter dem Stichwort der „Unübertragbarkeit“ (Schleiermacher 1977: 369), und Humboldt pointiert es in der Maxime: „Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen“ (Humboldt 1968a: 57; Artikel 5 und 9). Luhmann bezeichnet die Irrtumsund Täuschungsanfälligkeit des sprachlichen Austauschs als ein „Universalproblem“ der Kommunikation (Luhmann 1997: 229; zu Luhmann Artikel 15). Der Kommunikationserfolg gelingt mehr oder weniger, weil er sich einerseits auf (relativ) verfestigte Regeln und Muster stützen kann, die oben genannten systemhaften Strukturen, andererseits, weil diese so elastisch sind, dass Abweichungen und Modifikationen als produktive Varianten, Erweiterungen und Neuerungen funktionieren und das ganze flexible Gebäude nicht zum Einsturz bringen, sondern höchstens zu Misslingen oder eben – wie etwa die Ethnomethodologie gezeigt hat – zu hörer- und sprecherseitigen, expliziten oder impliziten Korrekturen führen (Schegloff, Jefferson and Sacks 1977; Selting 1987; Fox, Hayashi and Jasperson 1996). Kommunikation ist in dieser Sicht ein permanentes Spiel von Versuch und Irrtum, das nur im interaktiven Rahmen möglich ist. Wie auch Wittgenstein zeigt, sind Sprachen nicht denkbar als etwas Privates – man kann ihren Regeln „nicht ‚privatim‘ folgen“ (Wittgenstein 1984: 345) –, sondern sie sind notwendig auf Sozialität, auf „Übereinstimmung“ angewiesen, auf „Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)“, zu deren Herstellung sie zugleich wesentlich beitragen (vgl. etwa Wittgenstein 1984: 352, 344). Man kann sehen, dass die unhintergehbare Medialität und Zeichenhaftigkeit der Sprache, die ohne Materielles nicht auskommt (Artikel 10), Dialogizität und Sozialität nicht nur ermöglicht, sondern auch braucht, da der Einzelne nicht in der Lage wäre, die erforderlichen Zeichen allesamt ad hoc hervorzubringen, geschweige denn sie sich und anderen verständlich zu machen. Als Mitglied einer Sprachgemeinschaft greift er auch zum Ausdruck seiner privaten Gedanken und Intentionen notwendig auf die semiologischen Ausdrucksmittel einer Sprache zurück, die nicht nur die seine ist (Derrida 1997). Nur so kann die „allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist 2001) gelingen; er ist als Sprecher zugleich sein erster Hörer, der oft erst versteht, was er meint, nachdem er hört, was er sagt. In derlei zugespitzten Situationen wird nur die Pointe dessen sichtbar, was insgesamt betrachtet trivial erscheint: Die Möglichkeit, sich als Einzelner mit je individuellen Anliegen verständlich zu machen, setzt die Sozialität von Sprache voraus; unter dieser Perspektive fällt dann – so Humboldt – „[d]as zu scharfe Gepräge der Individualität des Einzelnen […] von selbst weg“ (Humboldt 1968a: 597); es ist vielleicht manchmal sogar so, dass die sprachlichen Vorgaben die individuellen Ausdrucksbedürfnisse überhaupt erst schaffen oder zumindest selektieren. Mit Dialogizität und Sozialität von Sprache wird anschaulich, wie Individualität und Identität zutiefst sozial verankert sind: Jeder richtet „sein Sprechen nach dem Verstehen des andern, und unabhängig vom Meynen und Verstehen ist die Sprache allemal nur das gemeinschaftli-
97. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Linguistik che Resultat beider Sprechenden“ (Humboldt 1968a: 597). Im Einzelverhältnis wie grundsätzlich kommunizieren wir auf den anderen und die anderen hin („recipient design“) und bleiben immer in die Sprachspiele und Lebensformen unserer Sprache und Kultur eingebettet, ohne dass wir der Möglichkeiten, in begrenztem Umfang aus ihnen auszubrechen, beraubt wären. Der Übertritt in eine fremde Sprache und Lebensform ist dann, um noch einmal Humboldt zu zitieren, „die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht“ (Humboldt 1968a: 60).
2.3. Handlungen, Intentionalität und Automatik, Typen, Muster, Rahmen Auch wenn die Individualität des Sprechens immer als sozial konstituiert zu denken ist, muss doch an der pragmatischen Kernkategorie der Handlung festgehalten werden, die eng mit den Kategorien der Intentionalität und der Verantwortung von Individuen verknüpft ist. Man kann Searle sicher insoweit folgen, dass sich Handlungstheorie und Sprachtheorie überschneiden (Searle 1971: 31): Ohne individuelle Handlungs- und Kommunikationsbedürfnisse erscheint Sprache sinnlos; interaktiver Austausch wäre durch Instinkt oder Routine bestimmt, die Notwendigkeit kommunikativer Interpretationen und Abgleiche entfiele. Aber nicht nur der Begriff der Individualität, sondern auch der des Handelns ist sozial bestimmt. Handeln muss – wie schon Max Weber ([1921– 1922] 1972: 11–16) gezeigt hat – immer als soziales Handeln verstanden werden. Die soziale Bindung von Handlungen wird am deutlichsten in ihrer Typik und Musterhaftigkeit, durch die sie erst verständlich werden. Gewisse Handlungsbegriffe binden Handlungen an Absichten, Wille und Bewusstheit, also an mentale Kategorien, die Handlungen als ganz und gar solipsistisch erscheinen lassen; demgegenüber muss man Handlungen konsequent als soziale Kategorien, als „Interpretationskonstrukte“, fassen (Lenk 1993; siehe auch Holly, Kühn und Püschel 1984), die auch ohne Intendieren (im Sinne von bewusster Absicht) als Handlungen gedeutet werden können, wenn es soziale Zuschreibungen so vorsehen. „Handeln ist nicht transparent, es steht nicht unter der vollen Kontrolle des Bewußtseins“ (Latour 2010: 77). Der Begriff der Handlung muss also beide Momente umschließen: das der individuellen Intentionalität und Verantwortlichkeit auf der einen und das der sozialen Konstituiertheit auf der anderen Seite. Wenn man Handlung so versteht, wird deutlich, dass Routinen und Automatismen (Bublitz et al. 2010), die gerade im alltäglichen sprachlichen Handeln eine große Rolle spielen, nur graduell die Wirksamkeit von grundsätzlicher Verantwortung einschränken, auf der das Funktionieren eines jeden Systems sozialer Ordnung ruht. Dass Handlungen als Belege für die Sozialität von Sprache zu werten sind, erweist sich also schon anhand des Kriteriums der Möglichkeit sozialer, auch divergierender Zuschreibung, die letztlich nur aufgrund von Typik und Musterhaftigkeit möglich ist. Dies gilt für alle pragmatischen Kategorien: für einzelne Sprachhandlungen, für komplexe Interaktionen, für Rahmen (Goffman [1974] 2000; Wirth 2013), für kommunikative Gattungen (Luckmann 1986) und natürlich für Textsorten, Textmuster, Texttypen (Heinemann 2000), Gesprächssorten (Sager 2001) und Ähnliches. Alle diese Begriffe verweisen auf sprachlich und symbolisch vermittelte Organisationsformen kulturellen Wissens und alltäglicher Erfahrung, die an der quasitranszendentalen Konstruktion von Ich und Welt teilnehmen, die also eine zentrale Rolle bei dem spielen, was Goodman „Weisen der Welterzeugung“ (Goodman 1990) genannt hat. Ihre Funktion besteht nicht unwesentlich
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft in einer Leistung, die Goffman dem zugeschrieben hat, was er „primären Rahmen“ nennt: Indem sich Individuen bei der Deutung von Ereignissen durch solche „Interpretationsschemata“ bestimmen lassen, transformieren sie „einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem“ (Goffman 2000: 31). Es ist diese weltkonstitutive Leistung, die Goffman bewogen hat, solche „Rahmen“ im Hinblick auf ihre Rolle für Individuen als einen Hauptbestandteil der Kultur (Goffman 2000: 37) anzusehen.
2.4. Praktiken, Körper, Performanz Während der Handlungsbegriff (mancher Ausprägungen der linguistischen Pragmatik) (siehe Artikel 82) – vielleicht wegen seiner unangemessenen Bindung an Intendieren und Beabsichtigen – zunehmend in den Hintergrund rückt, ist mit dem Begriff der Praxis und der Praktiken ein in dieser Hinsicht weniger verdächtiger Ersatz, zumindest eine theoretisch fruchtbare Ergänzung, gefunden worden. Hier erscheint nicht mehr die Anknüpfung an die in mehrfacher Hinsicht unzureichende Sprechakttheorie anzuklingen, eher der Gedanke der Einbettung von Sprache in die konkrete Lebenswelt (siehe Artikel 35). In der Tat lässt sich ja etwa Searles Begriff der Sprechhandlung nicht in den Horizont kulturspezifischer Lebenswelten integrieren, weil die von ihm paradigmatisch untersuchte „institutionelle Tatsache“ des Versprechens (Searle 1971: 81) als universalanthropologische Tatsache aufgefasst wird, die in Einzelsprachen auf der Basis „der gleichen zurundeliegenden Regeln“ nur konventionell verschieden realisiert wird (Searle 1971: 63 ff., 80 ff.). Dagegen erlaubt, wie Linke darlegt, das Konzept Praxis/Praktik im Hinblick auf verschiedene Aspekte eine Verknüpfung von Kommunikation und Kultur: Das „Hauptdefiniens“ des Konzeptes ist der „Charakter von Bewegung und Dynamik“, darüber hinaus enthält es einen „impliziten Körperbezug“ (vgl. hierzu auch etwa Alloa und Fischer 2013) sowie „eine Bindung an Objekte“, eine „weitgehende Bedeutungslosigkeit in semantischer Hinsicht bei funktionaler sowie semiotisch-indexikalischer Signifikanz“, verbunden mit den schon erwähnten Aspekten automatisierten sozial typisierten Handelns (Linke, Artikel 35). Mehr als bei dem sehr stark zweckrational und funktional konzeptualisierten Handlungsbegriff kommen damit auch stärker nicht-sprachliche kommunikative Phänomene in den Blick, Gewohnheiten, die nicht unbedingt individuellen Intentionen entsprechen, dazu die Medialität von Objekten in der Kommunikation (vgl. etwa Latour 2010: 111 ff., 121 ff.). Hier scheint eine konsequente Weiterführung der Tendenz vorzuliegen, nicht so sehr top down die Logik von Handlungsstrukturen zu rekonstruieren, wie dies in der Anfangszeit der Pragmatik quasi als Erweiterung grammatischer Regeln auf den Handlungsbereich nahelag, sondern bottom up ethnologisch (siehe Artikel 31) den Bereich der Konversationsanalyse (siehe Artikel 84) und der Alltagssoziologie (siehe Artikel 30 und 60) auf die Verknüpfung von Sprache mit anderen Symbolsystemen hin zu erweitern (vgl. etwa Melville 2001; Schlögl, Giesen und Osterhammel 2004), gewissermaßen parallel zur Einbeziehung von Multimodalität in die linguistische Analyse. Dem entspricht eine weitere Tendenz hin zur Performativität (siehe Artikel 36; vgl. auch Buss et al. 2009), die auch von der Systemfixiertheit und den Reduktionismen der Linguistik wegführen soll, hin zum tatsächlichen Sprachleben, das kulturell reichhaltig ist; sie scheint zugleich eine soziologisch inspirierte Sprachforschung anzustoßen (z. B.
97. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Linguistik Gesprächsanalyse, discourse analysis), die weniger traditionellen Fragen nachgeht, aber dafür mehr von Empirie getrieben ist.
2.5. Diskurse und Wissen Für eine kulturalistische Linguistik ist die Hinwendung zum Sprachleben, zur Parole, zum Diskurs schon deshalb von zentraler Bedeutung, weil wir hier den Ort der Semiose, der ständigen Hervorbringung kultureller Zeichensysteme, vor uns haben, wie dies schon Saussure konzipiert hat (siehe auch Abschnitt 2.1): „Für de Saussure ist nämlich das diskursive Moment der Sprache, die Parole, nicht nur der Ort individueller Exekution eines je geltenden, parasemischen Zeichensystems, sondern zugleich und vermittelt hiermit auch der Ort der (interaktiven) Hervorbringung dieses Systems“ (Jäger 2010: 188). Mit der Inangriffnahme der anspruchsvollen Aufgabe, mehr als nur einzelne Texte (siehe Artikel 85) und Sprechakte (Searle 1971: 30) zu betrachten, nämlich ganze Diskurse, ist damit auch mehr im Blick als nur eine neue linguistische Ebene in der Reihe Laut – Wort – Satz – Text, obwohl eine transtextuelle Kennzeichnung des Gegenstandsbereiches dies nahezulegen scheint (z. B. Warnke und Spitzmüller 2008; Spitzmüller und Warnke 2011). Die Herausbildung einer Diskurslinguistik und parallele Entwicklungen in anderen Disziplinen verweisen aber – trotz strukturalistischer Anfänge – eindeutig auf die historischen (z. B. Koselleck) und soziologischen Ursprünge (z. B. Foucault; siehe hierzu Artikel 12) bzw. die pragmatischen Ausprägungen angelsächsischer discourse analysis (siehe Artikel 83). Mit der Einbeziehung sozialer, kultureller und immer auch historischer Kontexte in die theoretische Konzeptualisierung der diskursiven Prozessierung von Sprache kann nicht nur der Anspruch einer linguistisch adäquaten Beschreibung der Semiose erfüllt werden, es eröffnet sich auch die Perspektive einer interdisziplinär ergiebigen Orientierung sprachwissenschaftlicher Forschung im Rahmen der Kulturund Sozialwissenschaften, aus dem die Linguistik lange, nicht zuletzt aufgrund ihres reduktionistischen strukturalistisch-universalistischen Programms, ausgeklammert war. Gerade die neueren Entwicklungen einer interdisziplinären Diskursforschung belegen hier neue Einbindungsoptionen (siehe z. B. Keller, Schneider und Viehöfer 2015). In dieser erweiterten Perspektive verweisen die Diskurse nicht nur auf die Verfahren der „kulturellen Semiosis“ (Böhme und Scherpe 1996: 16) und damit auf die Zirkulationsbedingungen und parasemischen Strukturen von Zeichensystemen, sondern auf ganze Ordnungen des Wissens, die gewissermaßen den Kompetenzhintergrund für das performative sprachliche und nicht-sprachliche Handeln liefern (siehe Feilke, Artikel 2). Entsprechend sieht Busse (Artikel 69) als „zwei Kernbereiche“ bzw. „Ebenen kulturellen Geschehens“ einmal das „gesellschaftliche Wissen in seiner Gesamtheit“ an, das er mit dem von Foucault entlehnten Begriff der Episteme bezeichnet, und zum Zweiten die Performanz als musterhaft angelegte Handlungsebene, die sich auf die Wissensordnungen stützt und sie gleichzeitig hervorbringt. Man hat auch die Diskurse selbst als „Wissensgeflechte“ gesehen (Scharloth, Eugster und Bubenhofer 2013: 365); für die Strukturen dieser Wissensgeflechte werden (in der Tradition von Fillmore und anderen) semantische Frames analysiert, die begrifflich eher einer nicht originär kulturalistischen kognitiven Semantik entstammen (auch wenn es schon lange Überschneidungsbereiche gibt), aber durchaus kulturwissenschaftlich „angeeignet“ werden; dies gilt auch für eine „Konstruktionsgrammatik“ (Ziem und Lasch 2013), die zeigt, dass sich die starke
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IV. Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft Orientierung am Gebrauch nicht einmal mehr auf den Bereich von Pragmatik und Semantik beschränkt, sondern auch das letzte Residuum des Strukturalismus, die Grammatik, erreicht hat (siehe Artikel 74). Dazu hat auch dank der Möglichkeiten der Korpuslinguistik, große Datenmengen zu verarbeiten, eine weitergehende Orientierung an Empirie und damit am tatsächlichen Gebrauch beigetragen, wo man sich früher meist auf Introspektion verlassen hat. Während auch die pragmatische Text- und Gesprächslinguistik (siehe Artikel 84, 85) ebenso wie die lexikalische Semantik (siehe Artikel 75, 77) zwar durchaus empirisch, aber doch weitgehend noch exemplarisch vorgegangen ist, scheinen jetzt umfassendere Blicke auf die kulturelle Semiose in Reichweite. Freilich wird auch die Orientierung des Forschungsprozesses an Sprachdaten auf eine hermeneutische Grundlegung nicht verzichten können und insgesamt auch das Programm einer linguistischen Hermeneutik (vgl. Hermanns und Holly 2007; siehe auch Artikel 5) intensiver in den Blick nehmen müssen.
3. Ausblick: ein kulturalistisch-linguistisches Begriffsnetz? Was dieser knappe Überblick über einige zentrale Begriffe einer Linguistik, die sich kulturwissenschaftlich versteht, aufscheinen lässt, sind zwar keine Umrisse einer konsistenten Theorie, aber doch Elemente einer zwar noch heterogenen, aber doch insgesamt kompatiblen Sicht auf Sprache, Kommunikation und Kultur, die sich als lose verknüpfte Netzstruktur von Begriffen in Spannungsverhältnissen darbietet. Vielleicht gilt auch für eine kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, was Baecker für den Kulturbegriff festgestellt hat, dass „eher auf Suchhaltungen und Empfindlichkeiten für Nuancen Wert“ gelegt werden sollte „als auf zugreifende theoretische Gesten“ (Baecker 2012: 7). In jedem Fall lässt sich vor dem Hintergrund der Beiträge des Handbuchs als Ertrag festhalten, dass zum einen lange Traditionslinien von Humboldt über Mead und Wittgenstein bis zu aktuellen Theoriebildungsprozessen sichtbar werden und dass zugleich zum andern Reduktionismen, die über Jahrzehnte den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaften immer mehr einzuschränken schienen (zumindest vor dem Horizont einer lange als Mainstream etablierten Linguistik), einer neuen Öffnung zwischen lange Zeit exklusiven Tendenzen immer mehr Platz machen. Dies gilt innerhalb der Sprachwissenschaft selbst, aber auch zwischen verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, in deren Zusammenspiel auch die Sprachwissenschaft als disziplinärer Mitspieler im interdisziplinären Diskurs wieder stärker einbezogen wird. Zur Intensivierung dieses Prozesses will das vorliegende Handbuch beitragen.
4. Literatur (in Auswahl) Alloa, Emmanuel und Miriam Fischer (Hg.) 2013 Leib und Sprache. Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Baecker, Dirk 2012 Wozu Kultur? Berlin: Kadmos.
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Werner Holly, Chemnitz (Deutschland) und Ludwig Jäger, Aachen/Köln (Deutschland)
Index Der vorliegende Index bietet einen ersten Zugriff auf Begriffe und ausgewählte Personennamen (Autorinnen und Autoren der Handbuchartikel, einige ‚Klassiker‘). Nicht berücksichtigt werden hier sehr grundlegende Termini/Oberbegriffe wie Sprache/language, Kommunikation/communication, Kultur/culture, aber auch Kulturwissenschaft, Begriff, Bedeutung, Kontext, Konzept, Semantik etc. ohne weitere Differenzierung. Mehrsprachige Dubletten (wie Code/code) und durch Wortbildung oder Ähnlichkeit zusammenhängende Begriffe wie Pragmatik/pragmatisch, Genre/Gattung werden zusammen aufgeführt; in einigen Fällen wird durch Verweise auf parallele oder zusammengehörige Termini aufmerksam gemacht (z. B. Philologie bNationalphilologie). Mehrgliedrige Ausdrücke sind, wenn sie nicht als feste Fügung behandelt werden (z. B. Generative Grammatik) – entweder durch Nachstellung mit Komma (z. B. Sprechen, inneres) oder Spiegelstrich unter dem Oberbegriff (z. B. semantischer Wandel unter Wandel) erschließbar. Komplementäre oder eng verbundene Begriffe werden an einigen Stellen gemeinsam aufgeführt (z. B. emisch/etisch). Bei den Seitenangaben gibt es folgende Konventionen: Eine folgende Seite wird mit f. abgekürzt (z. B. 14 f.), mehrere aufeinander folgende Seiten werden z. B. notiert als 14–17. Neben dem Stichwortregister bietet das Inhaltsverzeichnis ebenfalls einen schnellen Zugriff auf die einzelnen Sachgebiete.
A Adamzik, K. 776, 778, 818–826 Aisthetik/aisthetisch 248 f., 279, 436–438 bÄsthetik Akteur/Akteurin 101, 139, 186, 216, 227, 285, 306–311, 355, 357 f., 360, 362 f., 439, 441, 453, 463–467, 478, 481–485, 492, 525–528, 565 f., 579, 582, 612, 619, 625, 796, 824 f., 856, 883, 917 f., 935 f., 940 Akteur-Netzwerk(-Theorie) 152, 356, 467, 583 Aktivismus 148, 787 Allgemeine Psychologie 322–327, 844 bPsychologie Alltag 5, 250, 482, 564–569, 627, 776, 901 Alltagskommunikation 490–492, 541 Alltagskultur 303, 717, 774–776, 836 Alltagswelt 479, 564–569, 581, 627 Alltagswissen 185 f. alphabetic writing 423 Alphabetschrift 20, 24, 85–92, 458, 831 Analog-digital-Wandler 458, 460 Analyse, data-driven/datengeleitete/induktive 855 f., 926–927, 929 bDiskursanalyse, Korpusanalyse
Anamnese/Anamnesis 152, 557, 571 Aneignung 12, 19 f., 165, 172, 230 f., 303, 310, 357, 502, 567 f., 572, 688, 692, 797, 846 bErwerb Anthropologie/anthropologisch 9, 15, 17, 37– 45, 47, 51, 66 f., 125, 130, 147–149, 152, 157, 180, 185, 218, 228, 235, 246, 260– 263, 276 f., 279, 307, 316, 326, 353, 374, 380, 416, 428 f., 436, 442, 449, 452, 454, 514, 517, 543, 603, 664, 693, 701, 717, 742, 758–760, 763–765, 777, 779, 794– 796, 810 f., 829, 843, 864, 868 f., 878–881, 884, 918, 950 bKulturanthropologie, Medienanthropologie, Symbolische Anthropologie, Theateranthropologie anthropology 134–137, 511, 587 – of science 344 Antievidenz 581 Aposème/aposème 106, 622, 682 f., 686, 946 f. bParasème, Sème arbitrariness/arbitrary 136, 800, 806 f. Arbitrarität/arbiträr 68, 76, 80, 159–161, 168, 198, 272, 278, 430, 452, 629, 682 f., 891– 896 architecture 506–512
958
Index Architektur 123 f., 159, 303, 498, 765, 772 Archiv/Archivieren 22, 122, 143, 529, 571, 574, 732 f., 740 archive 341–343, 407–410 archives and evidence 407 Arendt, H. 298–300, 535 Argumentation 91 f., 216, 218, 221, 286, 311, 438, 472, 484, 528, 533, 537 f., 568, 612, 626, 654, 723, 724, 776, 853 f., 867, 870, 926, 929 Argumentationsmuster, topisches 612 Aristoteles/Aristotle 40 f., 75, 79, 81, 86, 192, 194, 197 f., 211–219, 221, 225 f., 234, 247, 249, 253, 274, 276, 295–300, 422– 424, 436–439, 864, 869 Artefaktstil 770 f. Arzt-Patient-Interaktion/Arzt-PatientenGespräch 556–560, 627 Äsopische Sprache 414 Assmann, A. 151 f., 412, 415, 439, 571 f., 574, 647, 774 f., 779, 829, 832, 877, 902 Assmann, J. 22 f., 196, 412, 439, 464, 572– 574, 647, 752, 829, 832, 902 Assoziation 11, 330 f., 354, 609 f., 691, 844, 877, 893 f., 929 Assoziationskomplex 331 Ästhetik/ästhetisch 21 f., 44, 196, 217, 240, 248, 250, 263 f., 275, 279, 302, 309, 373 f., 415, 438–442, 452, 458, 465, 476, 490– 493, 544, 759, 764, 774 f., 778, 863, 870 bAisthetik Audioguide 496–504 Audiovisualität/audiovisuell 153, 277, 381, 435, 448–454, 902, 935 Aufmerksamkeit, gemeinsame/geteilte/ koordinierte (joint attention) 20, 251, 253, 796 f., 846 f., 937 Aufschreibesystem 276 Ausdrucksmuster 21, 541, 773 Außenverkehr 437 Austin, J. L. 128, 353, 370 f., 465, 603, 719, 730, 810
B Bakhtin, M. M. 359–361, 363, 425, 802 Balke, F. 164–174 Bär, J. A. 384–392, 723 Barthes, R. 147, 160, 181, 191, 197, 199, 201 f., 218, 220, 247, 278 f., 304, 451, 471 f., 474–476, 511 f., 647, 801 f., 864
Bedeutung – deontische 608–614 – deskriptive 608 f., 611–613 – emotionale 336, 607–609, 612, 614 Bedeutungskonkurrenz 609, 611–613 Bedeutungsordnung 10, 183, 185 Begriffe besetzen 607, 609, 613, 723 Begriffsgeschichte 22, 69, 101, 231, 274, 352, 540, 653 f., 691, 723, 730–735, 928 Begriffslinguistik 718, 723 Begrüßungsformel 812 f. belief 135 f., 148, 316, 573, 723, 732 f., 735, 801–803, 805 f. 908 f. Belsen 261 Benutzeroberfläche 278, 821 Beobachtung/Beobachten 24, 39, 138, 143, 159, 162, 219, 268–270, 272 f., 275, 305– 307, 514, 551, 667, 669, 702, 777, 843, 846, 934–937 – teilnehmende 149 f., 315 f., 663, 823, 846 Berger, P. L. 185, 352, 519 f., 564–566, 607, 803, 810, 812 Berressem, H. 156–163 Beschreibung/Beschreiben 119, 182, 186, 315 f., 319, 499–503, 777, 820–823, 847 – dichte 305, 579 – strukturelle 40–43, 48 Beschreibungssprache 10, 13 Beweistrias 218 Bewertung/Bewerten 77, 271, 391, 498–500, 503, 543, 582 f., 608, 629, 691, 702, 717, 814, 921 Bezeichnungskonkurrenz 609–611 Bezugnahme/Bezugnehmen 87, 106, 174, 183, 185, 251, 268–270, 377–381, 449, 453, 476, 482, 498–500, 503, 534, 681, 683 f., 877, 894–896, 947 Biere, B. U. 57–62, 95, 583, 865 Bild 89, 152, 198, 203, 244–254, 276 f., 377–381, 427–434, 449–454, 459, 497– 499, 820 f., 883, 903 f. bText-BildRelation, Text und Bild – mentales/geistiges 180, 182, 433 – sprachliches/Sprachbild 197, 430 bMetapher Bildkompetenz 432 Bildkritik/-wissenschaft 244–254 Bildlichkeit 246, 427–434, 435, 448, 451 Bildlinguistik 821 Bildung/Bildungssystem/-wesen 5, 49, 51, 130, 165, 478–485, 490, 540, 546, 554,
Index 578, 717, 766 f., 804 f., 831 f., 834 f., 882, 890, 920–922, 944 Biolinguistik 39, 44, 70 f. Biologismus/biologistisch 11, 162, 690, 693, 721, 723, 740 Biowissenschaften 604 f. Boehm, G. 244–254 Böker, H. 330–337 Bourdieu, P. 18, 126–132, 165, 186, 269, 287, 304, 309 f., 490, 511, 543, 580 f., 778 f., 797, 877, 882 f. Brockmeier, J. 19 f., 25, 422–425 Bubenhofer, N. 26, 352, 854–856, 924–930, 951 Buchdruck 140, 143 f., 166, 387, 439, 901 Bühler, K. 11 f., 76, 191 f., 247, 322, 359, 384, 395–397, 436, 646, 692, 844 Burger, H. 102, 451, 748–755, 902, 926 Burkart, G. 138–144 Busse, D. 353, 484, 534, 583, 627, 645–657, 663, 673, 675, 694, 724, 731 f., 743, 852, 854 f., 865, 928, 951
C Carnap, R. 192 f., 720 Cassirer, E. 12 f., 105, 151–153, 180 f., 191 f., 203, 245, 248, 304 f., 351, 355, 472 f., 717, 863 f., 868, 884 Charakter (von Sprachen) 37, 41, 43–45 Cherubim, D. 655, 674, 688–695, 741, 864 choice 294, 343, 636 f. – rational 294 Chomsky, N. 13, 68, 77–82, 119 f., 126, 128, 201, 264, 323, 352, 588, 646, 708 f., 711– 713, 843, 902, 946 Christensen, R. 532–538, 627 classification 136, 409 Code/code 100, 104, 134, 137, 147, 150, 157, 160, 162, 174, 182, 199, 201, 203, 229, 231, 247, 261, 302, 304, 311, 362, 398–400, 412 f., 415, 449, 551, 620, 635, 637, 801, 803, 806, 921 – binärer 412, 459–461 – geheimer bGeheim-/Verschlüsselungscode – genetischer/biologischer 708 f., 713 – sprachlicher 183, 216 f., 220 f., 920 Code-Switching 173 f., 792, 822 Codierbarkeit/Kodierbarkeit 277, 278, 371, 941
959 Codierung/Kodierung/Kodifizierung 141 f., 147, 159–161, 165, 187, 220, 225, 231, 261, 301, 304, 336, 412, 459–461, 551, 722, 784, 792 f., 856, 877, 884, 938 bKodierungswechsel colonialism 135, 409, 422, 637 common ground 792, 847, 880, 912–914 communication bKommunikation – effective 414, 593, 595 f., 911, 913 – intercultural bintercultural/crosscultural communication communication studies 588, 590, 595, 908– 914 Computer/computer 26, 59, 70 f., 144, 152, 231, 259–265, 274, 276–279, 380, 395, 408, 450, 458–461, 536, 783, 821, 855, 902, 909, 912–914, 924–930 Computerlinguistik 924–930 constructionism 801–807 constructivism 409, 604, 803 Corpus bKorpus Coulmas, F. 543 f., 546, 635–639, 694, 830 f. creolization 346, 405 bKreol cultural – agency 424 f. – anthropology 803–806 – identity 595 – representation 590 f. Cultural Studies/cultural studies 145–154, 283, 303, 401, 591, 718, 802, 864 Cultural Turn/cultural turn 14, 145, 283, 285, 302, 656, 675, 738, 741, 864 f.
D Dada 409, 441, 510 Damasio, A. 337, 936 f. Darwinismus/darwinistische Evolutionstheorie 12, 57, 65 f., 484, 666 f. bEvolution Definition, deskriptive/normative 77 f. DeFrancis-These 89–91 Dekonstruktion/dekonstruktiv/dekonstruktivistisch 61, 153, 195, 199, 230 f., 237, 239, 275–277, 289, 601–603, 647, 721 Delegitimierung 578 Deleuze, G. 157–162, 174, 248, 512 Denkkollektiv 580 Denkstil 302, 772, 778, 845–848, 926 f. Derrida, J. 62, 105, 116 f., 157, 161, 173, 195 f., 198 f., 201 f., 230, 237–240, 244, 248, 278 f., 284, 370–372, 397–399, 403,
960
Index 408, 422 f., 436, 536, 601 f., 618, 622, 646 f., 948 deskriptive Linguistik/Deskriptivismus 37, 39, 42 f., 78, 853 destruction 408, 410 Deutung/Deuten 215, 330, 356, 398, 439, 481, 499–504, 856, 940, 950 Deutungsmuster 184, 286, 302, 304, 607 Deutungsrahmen 372, 484, 607, 610 f. bFraming, Rahmen diachronic 343, 753, 804, 806 f. Diachronie/diachronisch 14, 38, 42, 53, 78, 120, 384–392, 608, 655, 662–674, 702– 705, 730 f., 733 f., 739, 748, 752 f., 825, 852, 854 bSynchronie und Diachronie Dialektologie 672, 701–705 – soziale 704 f. Dialog/dialogisch 17, 120 f., 213, 320, 332, 334, 336, 397, 402, 415, 463, 552, 568, 645, 788, 814, 823, 833, 844–848, 880, 884, 919 – innerer 685 – interkultureller bintercultural dialogue Dialogizität 17, 237, 306, 353 f., 358–363, 402 f., 646, 945, 947–949 diffèrance/Differance 161, 201, 278, 403 Differenz – biologische/soziale/sexuelle 148, 601, 603–605 – ikonische 249–254 – kulturelle 787, 812–814 – und Identität 59, 61–62, 278 – von Zeichen/Bedeutungen 193, 202, 278, 682, 947 bWert (valeur) Differenzierung, funktionale 497, 543, 550 Digel, H. 550–554 digital turn 512 Digitalisieren/Digitalität/digital 85, 89–91, 100, 246, 260, 276–280, 408, 412, 422, 458–461, 924, 926 f. Diglossie 53, 173 f. Dilthey, W. 24, 152, 227, 229, 234 discourse 147 f., 342–346, 423–425, 511, 800–807 discourse analysis 120, 588–594, 800, 802, 806, 855, 951 discursive interculture 594 Diskurs 118–125, 213, 271 f., 472, 528–530, 581, 603, 718, 722, 734 f., 742 f., 792, 830, 946, 951 f.
Diskursanalyse 118, 123, 152 f., 275, 352, 529, 542, 556 f., 560, 600 f., 615, 654–657, 730, 732, 735, 741–743, 854–856 Diskurslexikographie 743 Diskurslinguistik 583, 654, 718, 722 f., 744, 818, 823, 926, 951 Dispositiv 122–125, 170, 231, 237, 275 f., 279, 472 doing culture 307, 355, 812–815 Domke, C. 376–381, 450, 583 Durkheim, E. 9, 179 f., 318, 464, 466 f., 515, 519
E Eigensinn/Eigensinnigkeit 105, 245, 251, 277 f., 379, 438, 441 eikos bWahrscheinlichkeit Empathie 937 endangered languages 638 Episteme/episteme 118 f., 235 f., 263, 274, 295 f., 300, 422–424, 440, 648, 650–652, 951 Epistemologie 191, 655 epistemology 294, 300, 345 f. – historical 344–346 Epping-Jäger, C. 435–442, 449, 854 erasure 407–410 Ergon/Energeia 44, 58–59, 80 Erinnerung 5, 11, 180, 324, 333, 464, 571– 575, 832 Erinnerungsbild 331 Erinnerungskultur 571–575 bGedächtnis, kulturelles Erinnerungsort 574 f. Erläuterung/Erläutern 23, 377 f., 380, 449, 499–503, 534, 814 Ernst, W. 458–461 Erwerb – mündlicher und schriftlicher Kompetenzen 480, 834–836 bSchriftspracherwerb, Spracherwerb – von Wissen 479 f., 567 ethnography 134 f., 137, 587, 593 Ethnologie/ethnologisch 4, 43, 128, 303, 306 f., 315–320, 353, 464, 473, 694, 863 f., 868, 881, 884, 950 Ethnomethodologie 23, 304, 307, 309, 353, 647, 656, 663, 672, 791 f., 810, 822, 868, 921, 948 etic/emic 590, 596
Index
961
etisch/emisch 75, 78 f. Etymologie/etymologisch 49, 145, 225, 458, 461, 526, 540, 572, 671, 693, 730, 734, 739–741, 758–760 Eurozentrismus/eurozentrisch 153, 283, 287, 319, 671, 787, 825 Evolution – biologische/natürliche 180, 691 bDarwinismus – der Sprache 24, 66, 69 f., 90, 142, 709, 829 – kulturelle/soziokulturelle 12, 15 f., 20, 24, 142, 622, 691 experiment/experimental 298, 345 f., 803, Experiment/experimentell 11, 57, 130, 275, 323–327, 440 f., 480, 484, 650, 711, 717, 796, 843–849, 893, 917, 934 f., 937 Experten-Laien-Kommunikation/FachmannLaie-Kommunikation 124, 557, 560, 583, 743, 761 f.
Fix, U. 22, 352, 411–416, 490 f., 568, 770– 779, 818–821, 823, 825 Flüchtigkeit/flüchtig 138, 141, 252, 440, 602 Foreign Other, the 591, 594, 596 Form, symbolische 12 f., 151, 187, 203, 275, 305 f. Formensystem 830–835 Foucault, M. 105, 117–125, 229, 284, 286, 304, 310, 319, 342, 407, 418, 461, 511, 528–530, 601, 603, 647, 651, 654–656, 801–803, 855, 910, 926, 951 Framing 607, 610, 655 Frege, G. 720 Fremddeutung 940 Fremdes/Fremdheit 62, 168, 170–172, 307, 319 f., 397, 518, 579, 581, 629, 717, 764, 785–788, 823 Freud, S. 116, 151, 230, 237, 330–334, 337, 407 f., 416, 602 f., 716 f., 724 Fußballsprache 550
F
G
face-to-face encounters 424 Face-to-face-Kommunikation/-Interaktion/ -Gespräch/-Situation 102 f., 106, 140, 213, 353, 449 f., 452, 454, 567 f., 810, 903 Fach-Begriff 760–764 Fachkommunikation 541, 757 f., 762, 765– 766, 785 Fachkultur/Fachkulturforschung 480, 483, 717, 758, 765–768 Fachsprache(n) 389, 429, 483, 583, 541, 625, 627, 722, 753, 757–768, 818, 821 Fachtextsorten-in-Vernetzung 758 Fairclough, N. 654, 802, 903 Fehlschluss, intellektualistischer 128–131 Fehrmann, G. 76, 100 f., 104–106, 247, 377, 877, 890–897, 933–941 Feilke, H. 9–26, 101, 271–273, 322 f., 354, 478 f., 485, 654, 751, 775, 821, 845, 925, 946, 951 Felder, E. 478–485, 534 f., 626, 655, 722 f. Feldforschung 43, 306, 315–317 Feminismus 146–149, 265, 283, 288, 601– 605, 628, 786 Figuration 217 f., 465 Figurativität/figurativ 195, 217, 253, 748, 751 f., 754 f. Fiordo, R. 908–914
Gadamer, H.-G. 53, 61, 220, 225, 228–230, 320, 389, 788, 804 f. Gätje, O. 101, 411–418 Gattung bGenre/Gattung – kommunikative 22, 354, 466, 546, 567, 810, 949 – literarische 492 Gebärdensprache(n) 15, 76, 244, 246 f., 250, 435, 449, 451, 712 f., 876 f., 879, 883, 890–897, 939, 947 Gebärdensprachkompetenz 894 Gedächtnis, kulturelles 23, 153, 358, 464, 572, 646 f., 650, 689, 820, 829, 832 Geertz, C. 134–137, 188, 305 f., 313, 320 f., 353, 355, 365, 369, 375, 364, 469, 573, 576, 579, 585, 647, 716 f., 724, 726, 741, 745, 773, 780, 801, 803–805, 808, 819, 822, 921, 923 Geheim-/Verschlüsselungscode 412–415 bCode Geheimnis 171 f., 412, 417 f., 419, 421 Geheimsprache 413–415, 746 Gehirn 69, 260, 264f, 338, 340, 459 Gender 83, 121, 288, 293, 547, 549, 560, 563, 600, 602–605, 789, 810, 812, 882 bGeschlecht Gender Studies 600, 604, 606, 810
962
Index Generation 23, 169, 572, 574, 689, 694, 696, 728, 919 generativ 13–16, 21, 68, 119 f., 681, 843, 845 bPragmatik, generative, Regel, generative Generative Grammatik 13–15, 23, 323, 686, 708–711, 720, 843 Generativistik/generativistisch 13 f. 629, 686, 822, 824 Genetik/genetisch 10, 15 f., 18, 58, 66–68, 70 f., 180, 394, 604, 664, 667, 709, 713, 753, 829, 848 f. Genre/Gattung 242, 354, 569, 825, 837 bGattung Geolinguistik 174 Geologie 663, 666, 670 gerund 114–116 Geschichte/Erzählung/Narration 27, 77, 213, 233, 269 f., 272, 337, 464, 471, 473–476, 569, 573, 896, 913, 915 bnarration, Narrativ, narrative Geschlecht 38, 211, 268, 289, 293, 323, 387, 558, 600–605, 627, 632 bGender Gesetzmäßigkeit 669 f., 789 Gesprächsforschung 454, 562 f., 656, 660, 685 f., 809–812, 815, 840 Gesprächslinguistik 26, 100, 818, 820, 848, 952, Gessinger, J. 662–675 Gessmann, M. 224–231 Geste/gestisch 12, 18, 104, 106, 108, 110, 152, 160, 183, 218, 239, 245, 247, 250, 279, 335, 381, 431, 435, 445, 449, 451, 455, 796, 829, 876 f., 879–881, 883–885, 887–889, 892, 895–897, 899, 903, 939 f., 945, 947, 952 Gestenforschung 876–885, 887, 889, 896 Gesundheit 5, 482, 556, 558, 627, 860 Glottik 65 f., 670 Glottographie 90 Gloy, K. 413, 617–622 Goffman, E. 306, 309, 353, 356, 359, 361, 369, 371 f. 415, 452, 464, 466, 566 f., 603, 810, 949 f. Goodman, N. 85, 89, 92, 192, 197 f., 205, 245, 248, 256, 460, 462, 877, 886, 949, 953 Grabowski, J. 322–327 Grammatik 13–15, 23 f., 27, 30 f., 34, 38, 41 f., 45 f., 50–52, 57 f., 63 f., 67–69, 73, 78 f., 80 f., 82, 99, 108, 118 f., 138, 222, 230, 336, 365, 382, 393, 451, 454 f., 486, 488, 541, 624 f., 626, 631, 658, 665, 670–
673, 678, 686, 693, 697, 700, 707–711, 713–715, 719 f., 724, 793, 795, 843, 845, 866, 870, 885, 887, 890, 904, 919 f., 922 f., 952 bKonstruktionsgrammatik, Universalgrammatik – generative bGenerative Grammatik – historische 672 f. grand narrative 910 Grenze, innere 164, 167, 169 f. Grice, H. P. 16, 411 f., 417, 593, 625, 719, 792, 794–796, 810 Grimm, J. 1, 42, 52, 57, 388, 391, 665 f., 670, 692, 741, 749 Grimm, J. und W. 391, 741 Gruppe 283, 304, 324, 354, 384, 414, 523, 580, 622, 663, 717, 752, 776, 778, 813 f., 848 Gruppensprachforschung 739 f. Gumperz, J. 14, 82, 356, 484, 593, 710, 791 f., 810 f., 837, 882 Günthner, S. 22, 352 f., 583, 588, 594, 654, 656, 685, 741, 809–815, 946 Gutenberg, N. 862–870
H Habermas, J. 53, 55 f., 93, 99, 143, 213, 221 f., 231, 264, 286, 291, 521 f., 528, 530 f., 573, 576, 620–623, 627, 631 Habitus 18, 119, 121, 127–130, 186, 188, 269, 309, 312, 580, 797, 814, 882, 887, 897 bHexis Habscheid, S. 102, 376, 479, 497, 540–546, 776, 821–823, 825, 901 Hagner, M. 259–265, 275 Hall, S. 146 f., 149, 154 f., 283, 288, 291, 303, 313, 405 f., 469, 569, 587, 591, 598, 774, 780, 802, 808 Halliday, M. 100, 414, 451, 802 hand prehension 938 Handeln, rhetorisches 211, 213, 219, 221 Handlung 121, 126, 139, 183 f., 213 f., 219, 237, 239, 267, 270, 308, 310 f., 354, 374, 411, 416, 419, 431, 463–467, 478, 486, 567, 624, 631, 765, 772, 880, 895, 934– 936, 938, 945, 949 – gesellschaftliche/soziale 126, 308, 463 – gestische 940 – kommunikative 465, 567, 880 – kultische/religiöse 464 – motorische 936
Index – sprachliche 431, 772 bSprachhandlung Handlungsmuster 308, 324, 625, 663, 836 Handlungssystem, gesellschaftliches 490 Handlungstheorie 672, 783 f., 869, 949 Handlungstypen 484, 557, 776 bSprachhandlungstypen Hanzì 85, 87, 89–91 Hartmann, E. 126–132 Haß, U. 235 f., 352, 628, 674, 691, 723, 730– 735, 740 f., 743, 854 f. Hausendorf, H. 377, 452, 496–504, 545, 819 f., 822 f., 836, 838 Heekeren, S. 1–5 Hegel, G. W. F. 125, 152, 159, 162, 167, 195 f., 228 f., 244, 275 f., 409, 436, 438, 440, 442, 473, 476, 510, 667–669, 843, 891 Herder, J. G. 37 f., 40, 145, 152 f., 275, 473, 572, 645 f., 664, 670, 693, 718, 720 hermeneutics/hermeneutic 137, 422, 424 f., 804–806 Hermeneutik/hermeneutisch 1, 24, 41, 44 f., 50f, 53, 57–62, 94–97, 151, 171, 202, 216, 220, 224–231, 234 f., 244, 247 f., 305, 320, 323, 504, 529, 535, 617, 645, 732, 770, 783, 787 f., 819 f., 824–826, 843–849, 855 f., 865, 867 f., 952 bLinguistische Hermeneutik hetero- and self-images 596 Hess-Lüttich, E. W. B. 191–203, 771 Hexis 882 f. bHabitus Hiroshima 261 Historische Semantik 352, 653 f., 694, 730– 735, 928 Historizität 10, 120, 307, 384–391, 662, 673, 809 history of science 341–346 bWissenschaftsgeschichte – object of 342 f. Hjelmslev, L. 19, 67, 75, 77, 80, 82, 120, 161, 181, 192 f., 199 Hobbes, T. 296–300 Hochkultur 139, 146, 151, 303, 517, 672, 774–777, 819 Hochsprache 164–167, 701 f., 870 Holly, W. 1–5, 102f, 376 f., 379–381, 416, 435, 448–454, 485, 500, 621, 824, 835, 854, 901, 903, 944–952 Holocaust/holocaust 408, 575 homo pictor 244, 254, 428 homo-Bestimmungen 764–765
963 Homogenität/Heterogenität 166, 168 f., 307, 371, 622, 701, 788, 833 f. Homöostase 260 Horizontverschmelzung 320, 389 Hörning, K. H. 301–312, 358 f., 812, 944 hors d’archive 408 Hülst, D. 179–187 Humboldt, W. von 1, 9, 11, 17 f., 25, 37–45, 57–62, 79–82, 90, 104 f., 142, 145, 153, 180 f., 201 f. 244, 247, 351, 358 f., 396, 440 f., 491, 622, 645 f., 648 f., 665, 667, 669, 671, 681–683, 685 f., 693, 718–720, 722, 783 f., 947–949, 952 Husserl, E. 192, 196, 245 f., 248 Hybridisierung/Hybridisieren 172, 278, 307, 401–406, 449 Hybridität 301, 306 f., 401–406, 787 Hypertext/Hypertextualität 380, 388, 536
I Ich
142, 334–336, 360 f., 440, 463, 628, 764, 949 bSelbst Ideengeschichte 118, 438, 730 f. Ideographie 87 Ideologie 236, 264, 526, 863, 868 Idiom/idiom 165–167, 305, 748–754, 929 – widespread 754 Ikon/Ikonizität/ikonisch 17, 19, 198, 246, 249, 438, 880, 891–895 bIndex, Symbol incredulity 136 bbelief Index/Indexikalität 17, 114, 181, 192, 197 f., 200, 246, 249, 335, 355–357, 439, 465, 663, 877, 882, 893, 895, 950 Individualisierung 41, 283, 439, 514, 516, 523, 527 Individualität 41, 59, 202, 249, 518, 608 Information 139 f., 158 f., 184, 199, 218, 259, 261, 264, 396, 416, 460 f., 256 f., 533, 743, 796, 846, 895, 924 Information Retrieval 924 Institution 123, 370, 414 f., 516, 518, 521, 557, 617 – totale 415 Intentionalität 335, 355, 357 f., 363, 796 f., 878, 945, 949 Interaktion 172, 186, 219, 288, 306 f., 334– 336, 356, 359, 373, 376, 398 f., 526 f., 545, 556, 558 f., 566, 650 f., 682 f., 686, 711, 791, 793 f., 795 f., 822, 836, 877, 884, 936, 938–940, 947
964
Index – – – –
und Kognition 686 multimodale 876, 879, 981 Arzt-Patient- bArzt-Patient-Interaktion Face-to-face- bFace-to-face-Kommunikation – geschlechtsspezifische 308 – kommunikative 648 f., 651 – Leser-Text- 94 – mediale 896 – menschliche 353, 795, 811, 838 – neuronale 339, 938, 941 – präverbale 335 – soziale/gesellschaftliche 201, 463, 568, 646, 648 f., 651 f., 663, 675, 794 f. – sprachliche 285, 940 – symbolische 218, 330, 333 f., 646, 672 – visuomotorische 939 Interaktionslinguistik/Interaktionale Linguistik 23, 685 f., 918, 920 Interaktionsmaschine 791, 794 f. Interaktionsmuster 336, 797 intercultural/crosscultural communication 587–596, 866, 909–914 intercultural competence 595 f., 911 f. intercultural dialogue 909–914 Interferenz 172, 174 Interkulturalität/interkulturell 326, 403, 405, 493, 544, 573, 718, 742, 766 f., 773, 785, 792, 866 f. bKommunikation, interkulturelle interlanguage 591 f., 596, 909, 912–914 Intermedialität/intermedial 1, 106, 275 f., 376–381, 428, 435, 448–450, 453, 484, 847 interpersonell/interpersonal 213, 452, 543, 545, 568, 594, 867, 908, 939 Interpretant/interpretant 113–115, 117, 182– 184, 186 f., 194, 199–202, 622 Intertextualität/intertextuell 479, 534, 572, 574, 823 f., 877 Intramedialität/intramedial 247, 377, 378 f., 449, 681 Inzestverbot 318 f. Ironie 97 f., 389, 413 Iterabilität 105, 369–371, 620, 622
J Jacob, J. 490–493 Jäger, L. 1–5, 10, 13–15, 18–20, 23, 25, 54, 67, 76 f., 80, 100–102, 104–106, 116, 185, 191–193, 195 f., 202, 247 f., 278, 352, 376–
380, 435–437, 439–441, 449, 451–453, 458, 467, 475, 655, 673, 681–683, 688, 690 f., 721, 810, 853 f., 877, 879, 883 f., 890 f., 895, 902, 938–940, 942, 944–952 Jakobson, R. 86, 179, 181, 183, 192–195, 198 f., 263, 384, 877, 883 Johnson, M. 286, 430, 647, 655, 721, 877, 882 joint attention bAufmerksamkeit Justiz 124, 309, 482, 532–538
K kaisen 909 Kalverkämper, H. 192, 483, 757–768, 865 Kamerainszenierung 453 Kämper, H. 203, 483, 737–744, 865 Kämpf, H. 315–320 Kant, I. 38–40, 44 f., 50, 65, 145, 153, 194, 221, 227–229, 237, 247, 249, 252–254, 299, 304, 437, 510 Kapital, kulturelles/symbolisches 20, 309, 543, 794 Kassiber 415 Katastrophentheorie 69 Kategorie, soziale 289, 812, 949 Keppler, A. 564–569 Kettenbildung (Konkatenation) 66, 68 Kittler, F. 152, 236, 276 f., 395, 436, 902 Klassifikation 51, 66, 121, 128, 180, 186, 193, 307, 317, 484, 529, 619, 667, 670, 924 f. Klassifikator/klassifikatorisch 601, 743, 824, 895, 924 Klassifikatorgebärde 895 Klassifikatorkonstruktion 895 Klein, J. 607–615, 723, 825, 851–854 Knaut, A. 525–530 Knobloch, C. 13, 16, 203, 541, 692, 842–849 knowing how/knowing that 917 bWissen Kodalität/Multikodalität 448–450 Kode/Kodierung/Kodifizierung bCode/ Codierung Kodierungswechsel/Dekodierung/ Umkodierung 464, 784 Kognition – und Sprache/sprachliche Kognition 69, 75, 326, 648, 651, 845, 865, 946 bSprache und Denken – und Kommunikation 272, 361 – und Interaktion 686
Index Kognitionslinguistik/kognitionslinguistisch 730, 741 f. Kognitionspsychologie/kognitionspsychologisch 324, 480 Kognitive Semantik/kognitionssemantisch 541, 730 f., 939, 951 Kognitionstheorie 95, 396, 650 Kognitionswissenschaft/ kognitionswissenschaftlich 69, 71, 101, 246, 248, 265, 322–327, 647, 655, 681, 709, 711, 720, 793, 918 Kommodifizierung 545 Kommunikation bAlltagskommunikation, Experten-Laien-Kommunikation, Fachkommunikation, Kunstkommunikation, Pflegekommunikation, Trainer-Athleten-Kommunikation, Unternehmenskommunikation, Wettkampfkommunikation – alltägliche 218, 306, 411, 564, 568, 734 – asymmetrische 557 – beiläufige 568 – im Sport 550–553 – interkulturelle 541, 587–596, 656, 784, 792, 866 f., 909–914 – multimodale 435, 479, 734, 896, 901, 903 f. – politische 526 f., 853, 856 – somatische bKörperlichkeit – technisch vermittelte 103, 567 – über Sport 550, 553 f. – Kommunikationsform 100, 102 f., 219, 371, 380 f., 435, 450, 454, 550, 552, 712, 821 f., 833, 901, 903 Kommunikationskompetenz/kommunikative Kompetenz 92, 273, 430, 544, 749, 917, 919–921 Kommunikationskultur 483, 527, 530, 749, 867 Kommunikationslinguistik 778, 920 Kommunikationssituation 92, 372, 418, 550– 553, 625 f., 752, 778, 810 Kommunikationsstil 554, 656 Kommunikationstheorie/kommunikationstheoretisch 95, 201 f., 263, 267–273, 353, 361, 490, 553, 680, 783, 793, 796, 810, 920 Kompetenz bBildkompetenz, Gebärdensprachkompetenz, Textkompetenz, Übersetzungskompetenz – hermeneutische/interpretative 788, 795 – (inter)kulturelle 311, 542 – kommunikative bKommunikationskompetenz
965 – rednerische/rhetorische 215, 220 f. – sprachliche bSprachkompetenz – (sprach)kritische 310 f. 625 f. – zur Mediennutzung 427 Kompetenz-Performanz-Dichotomie 825 Kompositions-(Bindungs-)Problem 69, 848 Kongruenzverb 895 Konkatenation bKettenbildung Können, sprachliches 75, 846, 916–919, 922 bknowing how/knowing that, Wissen, sprachliches Konnotation 199, 220, 274, 279, 394, 399, 465, 525, 609, 612–614, 870 – und Code 394, 399 – und Denotation 199 Konstruktion 21, 76 f., 89, 186, 247 f., 289, 320, 380, 485, 582, 601, 604, 686, 688, 787, 818, 844, 849, 926, 949 – kommunikative 567 – visuelle 287 – von Kultur 809, 812 bdoing culture – von Raum, sprachliche 284, 285–287, 416 – von Wirklichkeit 75, 77, 285–288, 318, 517, 565, 774, 810 – grammatische/syntaktische 22, 274, 845, 880 – interaktive 809, 812 – soziale/soziokulturelle 179, 181 f., 774, 810, 603, 607, 794 f., 944 Konstruktionsgrammatik/konstruktionsgrammatisch 13, 22, 655 f., 686, 751, 926, 952 Konstruktivismus 162, 283, 287 f., 396, 602, 720, 812 Konstruktivität (des Verstehens) 61–62 bVerstehen Kontaktlinguistik 164, 171 f., 174, 662 Kontextbildung 431–433 Kontextualisierung/Kontextuierung/kontextualisiert/kontextuell 13 f. 21, 23 f., 26, 195, 201, 356, 467, 483–485, 498, 540, 558, 611, 645, 662–665, 674, 685, 719, 723, 742, 751, 792, 810, 814, 830, 834, 836, 877, 880, 884, 925 Kontextualisierungshinweise 822, 837 Kontrolle 259, 261 Kontroverse 9, 13, 226, 583, 626 f., 716, 720 Konzeptualisierungsforschung 656 Konzeptualisierungstheorie 21 Konzeptualismus 23, 925 Kookkurenz/Kookkurrenzanalyse 26, 68, 535, 925
966
Index Körper 106, 121, 131, 152, 161 f., 174, 181, 185 f., 216, 236, 239, 245, 250, 252, 271– 273, 277, 308, 354, 356, 436, 439, 452, 498, 601, 603 f., 820 f., 834, 877 f., 882, 950 f. bMedium, Körper als Körperausdruck 866, 880, 883 Körperbezug 355, 950 Körperlichkeit/körperlich/somatische Kommunikation 287, 373 f., 452, 503, 764, 821, 834, 836, 878, 880, 882 f. bVerkörperung Körperphilosophie/körperphilosophisch 246, 248 Körperpraktiken 308, 356 f., 358 Körpersprache/körpersprachlich 216, 452 Körpersymbolik 882 Korpus/Corpus 77, 119, 306, 636, 800, 802, 855 f., 924–930, 952 Korpusanalyse 535, 854–856, 663, 926, 929 Korpuslinguistik/korpuslinguistisch 21, 26, 53, 77, 122, 652, 732, 751, 854 Krapp, P. 1–5, 145–154 Kreol 172, 307, 710, 713 bcreolization Kristeva, J. 160, 201, 601, 802 Kryptologie 412 Kultur, politische 527 f. Kulturalismus/kulturalistisch 2 f. 11, 13, 351, 405, 645–647, 652, 681, 684, 777 f., 846 f., 944–946, 951 f. Kulturalität 351, 361, 648, 650 f., 680, 719– 721, 758–760, 765 f., 771, 791, 794, 796, 809, 812, 863, 866–868 – der Sprache/Sprache und Kultur 2–4, 9 f., 14, 17, 21, 26, 117, 132, 138 f., 141, 164, 171, 177, 191, 203, 322, 327, 351, 544, 649, 653, 710, 713, 749, 783, 794 f., 811, 921, 949 Kulturanthropologie 647, 664, 704, 708, 710, 713, 793, 795, 811, 819, 864 Kulturbegriff/Begriff der Kultur 2, 19, 112, 138 f., 142–145, 151 f., 156 f., 159, 161 f., 164, 181, 283 f., 301 f., 305, 316 f., 353, 362, 401, 571 f., 576, 579, 583, 617, 622, 691, 717, 741, 748, 774, 757, 762–764, 773–775, 848, 862, 867, 870, 876–879, 881, 944 f., 952 Kulturentstehungslehren 693 Kulturgeographie bNeue Kulturgeographie Kulturmodell 374 Kulturmorphologie/kulturmorphologische Ansätze 694 Kulturprogramm 269 f.
Kulturrelativismus/kulturelle Relativität 139, 317, 404, 622, 710, 712 f., 792 f., 868 Kultursoziologie 126–132, 301–311, 619, 760, 778, 868 Kulturtechnik 18, 20, 54, 152, 275 f., 458, 461, 710, 713 Kulturtheorie 119, 125, 142, 151, 312, 316, 355 f., 361, 401, 405, 733 Kunst 5, 50, 54, 140, 142 f., 145, 148 f., 181, 183, 187, 234 f., 239 f., 245 f., 253, 275, 280, 303, 305, 379, 391, 438, 481, 490 f., 496–504, 536, 565, 764 f., 775, 944 – ars 60 f., 65, 97, 212, 214, 218, 224–227, 835, 869 – bildende 54, 147, 471 – des Handelns 310 – performance 234, 236, 369, 371–375, 425, 465 f. Kunstbetrachter 501–504 Kunstbetrieb 204, 309, 497, 502 Kunstgeschichte 146, 149, 151, 245, 499, 883 Kunstgespräch 503 Kunstkenner 500–503 Kunstkommunikation 496–498, 500, 502–504, 820 Kunstkritiker/Kunstrichter 500 Kunstsystem 492 f. Kunstwissenschaft/kunstwissenschaftlich 4, 47, 234 f., 244–254, 279, 372, 500, 819, 883 Kybernetik 157 f., 259–265, 459
L Laienlinguistik 749 Lakoff, G. 286, 430, 647, 655, 729 langue 58, 79 f., 128, 193, 195, 199, 201, 475, 645, 664, 681–683, 686, 758, 825, 848, 852, 947 bparole language – of science 300 – regime 635 f., 638 f. – status 636 – of the history of science 341–346 Latour, B. 101, 152, 159, 186, 308, 343, 356, 581–583, 949 f. Lautlichkeit 435–442, 448 LC/MD 909, 911 Leibniz, G. W. 37, 65 f., 89, 158–160, 192, 391, 460, 509, 512, 708 Lerch, K. D. 532–538, 627
Index Lesen 16, 87, 91, 152, 323, 373, 379, 390, 403, 414, 449 f. 454, 493 leibliche Zeichen/seelische Zustände 439 Lessing, G. E. 245, 252 f., 391 Lexikographie 533 f., 540, 718 f., 723, 730 f., 740, 743 f., 749 Lexikologie 653, 718, 724, 737–744 Liebert, W.-A. 479, 482, 546, 578–587, 655 Liedtke, F. 723, 791–799, 854 Linguistik bBegriffslinguistik, Bildlinguistik, Biolinguistik, Computerlinguistik, deskriptive Linguistik, Diskurslinguistik, Fachtext(sorten)linguistik, Geolinguistik, Gesprächslinguistik, Interlinguistik, Interaktionslinguistik, Kognitionslinguistik, Kommunikationslinguistik, Kontaktlinguistik, Korpuslinguistik, Laienlinguistik, Medienlinguistik, Neurolinguistik, Politolinguistik, Psycholinguistik, Rechtslinguistik, Soziolinguistik, Systemlinguistik, Textlinguistik, Transferlinguistik, Variationslinguistik/Varietätenlinguistik, Wirtschaftslinguistik Linguistische Hermeneutik 824, 856, 952 bHermeneutik Link, J. 117–126, 619 Linke, A. 18, 23, 101, 351–368, 435, 478 f. 485, 583, 654–656, 674, 691, 723, 741, 771–774, 776, 809–811, 821, 865, 902, 929, 944–946, 950 Linz, E. 14, 100–111, 247, 377, 435 f., 439– 441, 655, 683, 893 f., 896, 937 literacy 421–425, 521, 636, 835 – and narrative 421, 425 – episteme 412–424 literal/literalisiert 20, 85 f., 89, 91, 480, 497, 503, 512, 674, 751, 831 f. literalis sensus 227 Literalität bMündlichkeit und Schriftlichkeit Literatur 5, 39, 41, 44 f., 68, 143, 146, 148, 211, 219, 226, 262, 303, 342, 389, 423, 481, 490–493, 510, 512, 543, 590, 764 f., 775 f. Literaturbegriff 490 Literaturwissenschaft 53 f., 56, 96, 146, 152, 234, 437, 490 f., 493, 701, 720, 755 Lobenstein-Reichmann, A. 533, 716–729 Locke, J. 65, 509, 512 Logik 57, 66–68, 91, 130, 203, 221, 228, 259–261, 277 f., 317, 403, 460, 541, 647, 764, 902 – des Sinns 156, 160–162
967 – diskursive 536 – ikonische 249, 251 Logographie/logographisches Schriftsystem 89 f., 831 Luckmann, T. 22, 185, 187, 352, 354, 466, 517–519, 564–567, 607, 803, 810, 812, 832, 836, 949 Luhmann, N. 96, 138–144, 158, 160, 248, 385, 307, 372, 377, 379 f., 396 f., 466, 491, 497, 618, 691, 805, 882, 884, 946, 948
M Macht, symbolische 126, 129, 131 Machtstruktur/Machtspiel 786 magic 135–137 Mannheim, K. 187, 803 Männlichkeit 601 f., 604 Mantik 197, 225 f. Marburger Schule 703 Martel, J. 294–301 Marxismus 146, 148, 610 Massenmedien 140, 143, 146, 275, 526, 528, 550, 554, 835, 901 material turn 288, 826 Materialismus 44, 147, 259 Materialität 10, 18 f., 100–106, 161, 192– 196, 203, 247–249, 251, 254, 278, 355 f., 372, 377, 439, 485, 503, 668, 682, 712, 734 f., 820 f., 826, 891, 902 f., 946 – und Bedeutung 268, 272 f. Mead, G. H. 11 f., 18, 78, 185, 201, 365, 359 f., 481, 646, 844–846, 902, 934, 940, 947 f., 952 Mead, M. 260, 317, 481 meaning-making 421, 424 f. media of science 342 f. Medialität 1, 10, 14, 18–19, 100–106, 191, 203, 244, 246 f., 249, 274–279, 356, 376– 378, 436, 448 f., 454, 648–652, 654 f., 663, 675, 680–683, 685, 708, 711, 734, 788, 793, 818, 820, 877, 891, 896, 901 f., 945–948, 950 bIntramedialität, Intermedialität, Multimedialität Medien/Medium 4, 8, 19, 54, 90–92, 100– 104, 106, 138–141, 143 f., 146, 148, 151– 153, 159–161, 164, 166–16, 171 f., 179, 181, 187, 196, 203, 211, 224, 231, 244 f., 247 f., 251, 267, 274–280, 305, 318, 337, 351, 353, 356–358, 369, 372, 378, 380 f., 387, 394–397, 405, 407, 415, 427–431,
968
Index 433, 435, 437, 439–442, 449, 451, 458, 464, 478, 483, 493, 526 f., 535 f., 550, 554, 625 f., 629, 645, 649–651, 685, 712, 731, 733, 767, 774, 776, 804, 825, 831, 833, 838, 877–879, 882, 901, 920, 922, 936, 939, 946 bMassenmedien – elektronische 167, 454, 901, 903 – natürliche 877, 883 – neue 148, 277, 380, 386–388, 625, 731, 766, 821, 884, 901 f. – technische 102, 104, 279, 353, 396, 449, 483, 901 Medienanthropologie 277 Medienapriori 428, 433 Medienästhetik/medienästhetisch 275 Medienbegriff 102, 104, 536, 901 Mediengeschichte 152, 276, 673 Medienkultur/medienkulturwissenschaftlich 146, 274, 458 Medienlinguistik 102, 542, 823, 901–904 Medienwissenschaft/Medientheorien 1, 3, 49, 148, 234, 274–280, 394 f., 535 f., 810, 897, 901, 904 Medium – Körper als 355, 834, 882 – Sprache als 90, 102, 105, 164, 236 f., 356, 648, 651, 681, 685, 894, 918, 946 Mehrsprachigkeit 172–174, 544, 559, 662, 671, 673, 675, 718 Memoria 574 Mentalität 22, 105, 119, 691, 718, 735, 854 Mentalitätsgeschichte 22, 151, 647, 654, 672, 723, 732, 929 Mentalitätswandel 929 Menz, F. 542, 556–564 Metapher/metaphorisch 197 f., 217, 252, 278, 286, 303, 352, 398 f., 413, 417, 429–431, 434, 608, 672, 721, 730, 750 f., 753, 854, 856, 880, 883 bBild, sprachliches – konzeptuelle/Konzeptmetapher 647, 655 Metapherngeschichte 731 Metapherntheorie 286, 394 f., 398, 721, 755 metaphor 294, 300, 721 Meyer, C. 463–471, 863 f. Migration 70, 169, 397, 401, 559, 587, 625, 638, 671, 673, 787, 812 Migrationsdiskurs 120, 122 minority language 636, 638 Mithridates 38 Mitteilbarkeit 238, 278 f. Mittelberg, I. 876–889 Mnemosyne 572
Mnemotechnik 572 f. Modalität 54, 101, 263, 435, 448, 711 f., 821, 824, 828–839, 879, 884, 893–896, 901 f., 947 Modalitäten menschlicher Sprachpraxis 828– 837 modernism/postmodernism 510–512, 647 Moog-Grünewald, M. 471–477 Morris, C. W. 76, 179, 181, 191 f., 198, 517 Motoneurone 934, 989, 941 multilingualism 636, 638 Multimedialität/multimedial 106, 275, 824, 897 Multimodalität 106, 203, 449–451, 454, 481, 902 f., 950 Müller, H.-P. 126–133 Müller-Schöll, N. 233–243 Mündlichkeit 100 f., 496, 624, 673, 712, 831 f., 833 bSprache, gesprochene – konzeptuelle/konzeptionelle 100, 387, 712 f., 833 f., 836 – und Schriftlichkeit/Oralität und Literalität 24, 100 f., 102, 279, 649, 654, 663, 673– 675, 810, 824, 829–839, 902 Musik und Sprache 711 Müssen – der notwendigen Bedingung 618–619 – normatives 619 Muster 69, 76, 88 f., 173, 231, 272, 305, 357, 362, 371 f., 451, 453 f., 479, 496 f., 502 f., 627, 649–652, 656, 691, 767, 772, 774 f., 792, 797, 832, 925–930, 948 f. Musterhaftigkeit/musterhaft 21, 355, 357 f., 502, 619, 836, 926, 949, 951 Mythos/Mythologie 79, 85–88, 305, 464, 466, 471–476, 519, 664, 671 – als Metasprache 475 – Dialektik des 472 – Evidenz des 473–476 – und Logos 472 f.
N Nachrichtenfilm 453 Nachrichtentechnik 278, 394 f., 461 Narration bGeschichte narration, historical 345 f. Narrativ/narrativ 211 f., 235, 464, 476 bSelbst, narratives narrative 345, 407, 409, 421–425, 512, 802, 909 f., 914, 930
Index – as cultural practice 423, 909 f. – grand bgrand narrative – worldmaking 425 narrative turn 421 f., 424 national language 635–638 nationalism 637 f. Nationalismus/nationalistisch 165, 172, 284, 307, 628 Nationalphilologie 665, 671 Nationform 168 Naturalisierung/Naturalisierungsprogramm 44, 67–68, 71, 666–671 Naturgeschichte 44, 66, 121, 666–670 Naturwissenschaft(en) 1, 4, 9 f., 24, 42, 44, 50, 57, 60, 62, 64–71, 150 f., 203, 220, 262 f., 275, 323, 402, 478, 481, 578–581, 583, 602, 605, 645, 646, 671, 703, 720 f., 777, 843, 917, 930 Neue Kulturgeographie 283–289 Neurolinguistik 77, 933–941 Neuron/neuronal 260, 459, 848, 833–941 bSpiegelneurone Neuronales Netzwerk 69 Neurone, kanonische 938 New Cultural Geography 283–285, 287, 289 bNeue Kulturgeographie n-Gramme 924, 928 f. Nichtverstehen 57, 60 f., 94, 96–98, 247, 948 bVerstehen Niehr, T. 654, 694, 724, 851–862 nonverbal 14, 102, 254, 354, 450, 481, 550, 560, 566, 587, 592, 771, 821, 837 f., 939 bparaverbal Norm/normal 96, 124, 142, 165, 171 f., 174, 184, 214, 220, 225–227, 318, 346, 359, 370 f., 399, 402, 525–528, 557, 559, 565, 592 f., 596, 613, 617–622, 625 f., 629, 636, 638, 704, 748, 752, 772, 785, 793, 837, 881 Normalform 88, 90, 618 Normativität/normativ 54, 77–79, 82, 131, 226 f., 261, 275, 303 f. 358, 386, 463, 491 f., 525, 528 f., 533, 535, 538, 545 f., 608, 617–622, 628, 664, 673 f., 777, 784, 830, 867 f., 945 – der Sprache/Sprachnormativität 5, 21, 67, 82, 165, 1, 399, 402, 557, 617–621, 622, 625, 629, 636, 638, 664, 673 f., 704, 752, 772, 830, 837, 867, 881 – sollensbasierte 617, 619 f. – sprachimmanente 620 f. – wollensbasierte 617, 619
969 normisch 25 Notationstheorie
88–89
O Oberfläche 13 f., 16, 19, 21, 23, 101, 196, 219, 415, 483, 711, 818, 821 f., 824, 925 f. Objektvorstellungskomplex 331 Oesterreicher, W. 47–51, 100, 689, 712, 831, 833 f. Ökonomie der Praxisformen 128 Ontogenese/ontogenetisch 12, 16, 18 f., 158, 334, 359, 361, 394, 449, 684, 794, 796 f., 831, 835 f., 879 bPhylogenese, Soziogenese Oralität bMündlichkeit Organisation 26, 138, 157, 171, 179, 203, 268, 270, 336, 369, 405, 451, 453, 479, 483, 526, 542, 545 f., 553, 565, 617, 668, 711, 767, 794, 892, 894, 949 bSelbstorganisation Orientalismus 319 Orientierungssystem 622, 691, 774, 881, 904 Ornatus/ornatus 217, 219, 870
P Parasème/parasème/Parasem 682 f., 686, 946 f., 951 bAposème, Sème parasitär 370 f. paraverbal 14, 378, 822, 826, 897 bnonverbal Parlament der Dinge 582 parole 58, 80, 474, 476, 645, 681–683, 686, 734, 758, 825 f., 852, 951 blangue Parömiologie 748–751 Paul, H. 11, 19 f., 24, 57, 385, 646, 692, 694, 703, 719, 730, 809, 844 Paul, I. 917–924 Peirce, C. S. 66 f., 105, 112–115, 120, 179, 181–183, 185, 191 f., 194–199, 201–203, 246, 248 f., 271, 465, 622, 719, 877, 893 f., 946 performance 81, 234, 236, 369–375, 425, 465 f., 512, 603, 821 Performanz 13 f., 21, 23, 81, 86, 103, 105 f., 119 f., 239, 272 f., 306, 371, 373, 380, 427, 465, 467, 479, 535, 537, 600, 646, 651, 663, 681, 683–686, 825, 832, 892 f., 945, 950 f.
970
Index – des Denkens 681, 684, 686 performative turn 306, 374, 436, 821 Performativität 18, 102, 106, 128, 161, 234, 253, 369, 370–374, 436 f., 465, 600, 603 f., 950 Person 12, 88, 113, 115, 139 f., 168, 174, 182, 185, 197, 199, 201, 213, 224, 262, 300, 309, 325, 335 f., 344, 408, 413, 424, 431 f., 436, 441, 466, 478, 480, 566, 574, 580, 592, 603, 691 f., 796, 805, 807, 849, 882, 895, 908 Pflegekommunikation 556 Philologie/Philologien/philologisch 1, 9–11, 24 f., 45, 47–55, 60, 66 f., 94–96, 118, 203, 220, 229, 234, 374, 540 f., 645, 665, 672, 675, 689, 693, 719, 733, 760, 783, 785, 788, 819, 918 bNationalphilologie Phraseologie 653, 656, 748–755, 926, 929 – kontrastive 753 f. phronesis 295–300 Phylogenese/phylogenetisch 432, 449, 668, 797, 831, 879 bOntogenese, Soziogenese phylogenesis 360 Plato/Platon 14, 49, 65, 91, 192 f., 211–213, 219, 224–226, 234, 237, 239, 295, 297, 422 f., 472 f., 506, 512, 568, 571 f. Pluralismus 203, 514, 516, 519–521 political – science 294–301, 531 f. – theory 296 Politik 5, 36, 99, 130, 140 f., 183, 186 f., 212, 236, 289 f., 404 f., 445, 456 f., 464, 474, 479, 482, 504, 522, 525–532, 539, 553 f., 565, 582, 608, 614–616, 627, 629–632, 727, 729, 734, 736, 743, 854, 857–861, 920 Politikvermittlung 526 f., 530–532, 907 Politische Semantik 607–615 Politisierung 151, 164–168, 930 Politolinguistik 743, 851–855, 861 Popper, K. R. 9 f., 15, 24 Positionierung, soziale 497, 500, 502 f. Postmoderne/postmodern 149, 243, 267, 291 f., 367, 404 f., 409, 447, 494, 511 f., 542, 586, 591, 623, 647, 732, 786 f. Poststrukturalismus 153, 157, 202, 237, 304, 403, 572, 600, 647, 721 Pragmatik/pragmatisch 10–12, 14–19, 21, 23, 26 f., 31, 38 f., 44, 46 f., 53 f., 95, 100, 102, 107 f., 110, 113, 120 f., 123, 128, 183–186, 190–192, 195, 199, 203, 205, 208, 210, 235, 258, 271, 276, 278, 286, 294, 301,
307, 310, 312, 334 f., 351–353, 357, 370, 374, 381, 383 f., 390 f., 411 f., 418, 420, 434, 451, 460, 478, 482, 485f, 491, 497 f., 538 f., 542, 548 f., 565, 588 f., 591–593, 597 f., 600, 621, 625, 630, 645, 654–657, 663, 671–674, 679, 685, 694, 696f, 719 f., 723 f., 727 f., 736, 755 f., 758–760, 764 f., 768, 770, 772, 774, 776 f., 781 f., 784, 791, 793 f., 797–799, 801, 817, 820, 826, 840, 845, 847–853, 858, 860, 865, 879 f., 883, 888, 905, 913, 915, 924–926, 932, 949– 952, 954 – interkulturelle 791–793 – generative 374 Pragmatische Wende 10, 29, 411, 674, 784, 820, 826, 853, 925 f., 931 Präjudiz 534, 537 f. Praktik/Praxis 1, 4, 18–20, 22, 29, 31, 33, 35, 41, 58, 61 f., 65, 98, 103, 106, 109, 111, 123, 126, 128, 131–133, 148, 150, 152, 165, 167, 181, 183, 185 f., 188, 196, 199, 220, 234–236, 242, 249 f., 254, 267, 269, 271–273, 282, 284–290, 293, 301– 314, 331, 339, 341, 353–359, 362–367, 369, 371, 374, 380–383, 390, 402–404, 417, 419–421, 445 f., 456, 458 f., 461, 463– 465, 469, 478–483, 485–487, 489, 492, 498, 514, 525, 529, 535, 540, 542–544, 546, 552–554, 559, 562, 564 f., 567 f., 576, 579, 581, 584, 600, 602 f. 613, 618 f., 622, 628 f., 631, 652, 656, 658 f., 660, 663–665, 667, 672, 674 f., 681, 687, 689–692, 696, 716 f., 722–727, 729–737, 744, 751 f., 754, 763, 769, 775, 779 f., 783, 786, 790, 792– 794, 796 f., 811 f., 815–817, 825, 828–832, 834–837, 841, 844–846, 848 f., 858, 863 f., 871, 874, 876 f., 880–884, 886, 889, 894, 896–898, 916–920, 922, 931, 940, 945, 950, 953 f. – soziale 20, 269, 186, 304, 307 f., 310, 314, 359, 492, 568, 786, 882, 918 Präskript 378 Präsupposition 411, 847, 853 Praxeologie 132 f., 309 Praxis bPraktik Praxistheorie 186, 308–310, 312, 355, 358 Primus, B. 14, 708–716 propositional 374, 431–433 Prozesssysteme 269 prudence 297, 301 Pseudowissenschaft 583, 586
Index Psychoanalyse 4, 123, 151, 160, 164, 175 f., 184, 281, 330–337, 394, 403, 463, 601 Psycholinguistik 67, 95, 322 f., 327, 329, 336, 662, 842–850 Psychologie/psychologisch 9, 11 f., 21, 25, 47, 60, 68, 77, 80, 95, 124, 148, 151, 172, 219, 221, 229, 251, 260, 322–327, 330– 337, 359 f., 450, 471, 480, 540, 626, 645 f., 664, 671, 720 f., 843 f., 846, 863, 867 f., 883, 903, 918, 920, 937, 939 psychology/psychological 116, 298, 424, 510 f., 587, 591, 595, 803
Q Quali-/Sin-/Legizeichen 194 Quantisierung 460 Quasthoff, U. M. 829–842
R Rahmen 184, 275, 279, 324, 334, 352, 369– 372, 374, 387, 398, 479, 484, 536 f., 557, 583, 607, 610–612, 732, 743, 763 f., 925, 937, 949 f. bDeutungsrahmen, Framing Raum 37–39, 42 f., 66, 82, 104, 125, 145, 152, 165, 174, 180 f., 183, 196, 203, 218 f., 229, 236–238, 245, 250, 252 f., 271, 274 f., 277 f., 283–289, 308, 324, 326 f., 355 f., 372, 384, 395, 397, 403–405, 428 f., 435, 441, 452–454, 460, 471, 474, 497 f., 510, 537, 543 f., 550 f., 572 f., 603, 605, 611, 622, 626 f., 662 f., 671, 689, 703 f., 712, 717, 750, 754, 760–762, 787, 793, 829– 833, 838, 877 f., 883, 892, 894–896, 903, 930 Raumkonstruktion 372 Raumrelation 324, 326 f. Raumverb 895 Realität, Vermitteltheit/Konstruktion von 58, 141, 150, 180–186, 194, 200, 212, 244, 246–248, 253, 317, 333, 384, 414, 529, 722, 819, 843, 849 bWirklichkeit Rechtslinguistik 532, 534 Redelehre 879 bRhetorik Reduktionismus 10, 48, 131 Referenz 128, 147, 161, 192, 202, 212, 250 f., 254, 271–273, 278, 289, 352, 475, 480, 482, 501, 518, 558, 608, 611–613, 684 f., 711, 752, 847, 881, 891, 893, 895, 947
971 Reflexivität 47, 141, 270 f., 310, 360, 663, 922 Regel 19, 21, 41, 59, 61, 76, 78, 88, 119–121, 129, 138, 165, 179 f., 182, 185, 187, 193 f., 196, 201 f., 214, 220, 226, 247, 249, 259, 261, 268, 272, 304, 308, 318 f., 325, 411, 417, 453, 465 f., 484, 490, 492 f., 525, 528 f., 533–536, 538, 551 f., 568, 580, 617 f., 620 f., 626, 650–652, 666 f., 686, 702 f., 709, 711, 716, 720–723, 730, 749, 751, 777, 783, 826, 846, 856, 878, 882, 903 f., 917, 925, 948, 950 – generative 120 Reise 38 f., 315 f., 395, 397, 492 relativism versus universalism 589, 803 Relatismus 150, 581 bKulturrelativismus, Sprachrelativismus Relativität – des Denkens 844 – kulturelle bKulturrelativismus – sprachliche/sprachliches/linguistisches Relativitätsprinzip bSprachrelativismus, Sapir-Whorf-Hypothese – von Sinn 143 Religion 5, 134–136, 140, 142, 171, 181, 186 f., 269, 283, 423, 464, 467, 481, 490, 514–522, 535, 543, 666, 691, 717, 869, 909 Religiosität 514, 516 f., 519–521 representamen 113 f., 192, 197 Rheinberger, H.-J. 275, 341–347, 578 Rhetorik 37, 50, 94, 150, 211–221, 225, 227, 437, 544, 572, 602 f., 777, 788, 835, 862– 869, 920 Ritual/rituell 124 f., 131, 187, 306, 369, 371, 374, 380, 463–467, 514, 518, 552, 566, 573, 580, 602, 672, 691, 774, 801, 821, 878, 880 Routine 16, 20 f., 184, 186, 270, 307–310, 355, 357, 433, 453, 480, 482f, 497, 502 f., 558, 566, 568, 589, 656, 748, 750–752, 755, 775, 793, 810 f., 920 f., 939, 949 Routineformel 748, 750–752, 755, 811 Rückkopplung 259, 261
S Sachs-Hombach, K. 427–434, 452 Sachverhaltsbewertung 484 Sachverhaltskonstitution 482, 484 Sachverhaltsverknüpfung 484
972
Index Sachvorstellung 331–333 Säkularisierung/säkularisiert 225, 514, 518– 520, 693 Sampling 378, 458, 460 Sapir, E. 17, 43, 67 f., 81 f., 317., 326, 710, 811 Sapir-Whorf-Hypothese 82, 326, 710 bSprachrelativismus Sarcinelli, U. 525–532 Saussure, F. de 9–11, 18, 42, 62, 67 f., 76 f., 79–81, 104, 112–117, 119 f., 126–128, 130, 145, 157, 159–161, 179, 181, 191–196, 198 f., 201, 203, 278, 332, 398, 622, 629, 646, 681–683, 686, 719, 852 f., 891, 902, 904, 946 f., 951 Scharloth, J. 26, 613, 674, 855 f., 924–933, 951 Schema 21–23, 87, 89, 128, 130, 184 f., 193, 202, 228, 230 f., 249, 254, 268 f., 277, 302, 304–307, 309–311, 324 f., 412, 481, 650 f., 663, 681, 683, 686, 691, 743, 826, 876– 878, 882 f., 950 Schirra, J. R. J. 427–434 Schirren, T. 211–224 Schlagwortnetz 610, 612, 614 Schleiermacher, F. D. E. 57, 60–62, 97 f., 202, 225, 228 f., 247, 275, 516, 519, 645, 720, 783, 804, 865, 948 Schmidt, S. J. 267–274, 478, 490 Schmitz, U. 102 f., 901–908 Schneider, J. G. 18, 102–104, 377, 381, 481, 680–687, 903 Schriftlichkeit 26, 100 f., 279, 378, 387, 413, 435, 448, 647, 654, 663, 672 f., 810, 824, 828f, 831–835, 837 f., 846 bMündlichkeit und Schriftlichkeit Schrift, Funktionsprinzip von 87 Schriftspracherwerb 20, 835 bErwerb Schriftsystem 87, 90 f., 712 f., 831 bAlphabetschrift, Logographie, Silbenschrift Schüller, D. 877–889 Schumacher, E. 93–99, 395 Schütz, A. 184 f., 304, 359, 565, 646, 791, 803, 846 science 9, 37 f., 50, 116, 135, 150, 153, 192, 294–300, 337, 341–346, 353, 422–424, 461, 508, 510, 578 f., 582 f., 602, 605, 636, 720, 803, 806, 864, 914, 930, 933, 941 Science Studies 150, 153, 579, 582 f. Science Wars 578 scientific object 343 f.
Searle, J. R. 13, 286, 370, 482–484, 603, 607, 620–622, 649, 719, 804, 878, 949–951 Sebeok, T. A. 192, 198, 323 Selbst 201, 334–336, 361, 436, 466, 516, 793, 796, 935, 948 bIch – narratives/verbales 335 Selbstdeutung 940 Selbstorganisation 15, 67, 157, 259, 261, 270 bOrganisation self-reflection, critical 595 f. Semantik bHistorische Semantik, Kognitive Semantik, Politische Semantik semantische Kämpfe 5, 534, 607–615, 626 Sème/sème 682, 946 bParasème, Aposème, Zeichen Semiose/Semiosis 2–4, 18, 112–116, 179– 187, 191 f., 195 f., 200, 211 f., 214, 216, 218, 220, 278, 683, 776, 877, 881, 883, 951 f. – sprachliche 211, 214, 216, 218, 220 Semiotik 1, 4, 54, 75 f., 82, 156 f. 159, 161, 179, 183, 191–203, 235, 246, 249, 301, 304 f., 362, 720, 863, 876, 881, 884 Sender-Empfänger-Modell 139 f., 395, 397, 399 Siegel, J. 134–138 Sielke, S. 600–607 Signalverarbeitung 459 signifier 112, 114–117, 294 signifying (signifiant) 76, 80, 112, 114–117, 193–195, 217, 683 Silbenschrift 87, 831 silence – formulaic 418 – genre-based 417 – manipulative 416 – thematic 417 f. Sinn – objektiver 12, 565, 579, 622 – subjektiver 565 f. Sinngenese 103 f., 249, 252, 377, 329 f. Skript, kulturelles 791, 793 Skriptizismus 13 f., 85 f. Social Neurosciences 933–941 Soeffner, H.-G. 514–524, 566, 778 Sozialität 127, 131, 183, 186, 269, 304, 482, 517, 650 f., 682, 717, 719, 868, 945, 947– 949 Soziodizee 128 Soziogenese/soziogenetisch 12, 16, 18 f., 180 bOntogenese, Phylogenese
Index Soziolinguistik 26, 69, 126, 265, 354, 557, 645, 655, 662, 672 f., 718, 739, 778, 793, 810, 921 Spannung 50, 151, 168, 170, 254, 275 f., 331, 351, 362–364, 485, 518, 542, 713, 717, 722, 793, 903, 916, 920 f., 946 f., 952 Spiegelneurone/Spiegel(neuronen)system 880, 933–941 Spieker, S. 407–410 Spiekermann, H. 701–707 Sport 5, 17, 151, 308, 482, 550–554 Sportberichterstattung 550, 553 f. Sprachanalyse, statistische 68–70, 79, 732, 783, 854–856, 925, 927–929 Sprachatlas 703 f. Sprachbewusstsein 384, 389, 402, 731, 946 f. Sprachdidaktik 916–922 Sprache – gesprochene 76 f., 138, 141, 166, 416, 449, 665, 831 f., 877, 904 – des Sports 550–554 – des Geistes 681 – und Bild bText und Bild – und Denken 20, 22, 25, 40, 59, 70, 81, 90, 141 f., 180, 186, 200, 213, 272, 317, 322, 325–327, 336 f., 360f., 437f., 440, 546, 619, 648, 667 f., 681–686, 722, 732 f., 772, 786 f., 793, 796, 832, 854 bKognition und Sprache – und Gehirn 69, 247, 250, 355, 829, 842 f., 849, 880, 918, 934 f., 938, 941 – und Kultur bKulturalität der Sprache – und Wissen 10, 47 f., 120–122, 145, 162, 180, 184, 268 f., 270–273, 311, 324, 361, 399, 411, 417, 472, 479–483, 499, 526, 529 f., 535, 543 f., 566, 578–584, 648, 651 f., 654 f., 664, 675, 722 f., 739–741, 743, 748, 752 f., 759, 771, 776, 788, 792, 794 f., 810, 829, 832, 836–839, 842, 846, 916.919, 921 f., 927, 929, 934, 951 Sprache-Bild-Bezug/-Interaktion 380 f., 655 bText-Bild-Relation, Text und Bild Spracheinstellung 704 f., 834 f. Sprachen – flektierende/agglutinierende/isolierende 41 – gefährdete 753 – historische 75–77, 384, 388 f., 670, 738 – im Raum 37–39, 42 – lebende 68, 77 f., 161, 688 f., 693 – stumme/tote 120, 166, 171, 659 Spracherwerb/Spracherwerbsforschung 12– 14, 16, 19, 77, 322, 334, 543. 684, 709,
973 796, 829, 843 f., 846, 848, 879 f., 904, 918, 920, 940 bErwerb Sprachgebrauch 16f, 19, 21, 26, 41, 78, 91, 131, 145, 154, 172, 272, 351, 371, 384, 390, 399, 414, 479, 491, 533, 535, 542, 618–621, 625–629, 645, 648, 650, 652, 654–656, 688, 704 f., 732, 734, 773 f., 777, 779, 795, 811, 821, 825 f. 854–856, 876, 901 f., 925 f., 928 – multimodaler 106, 203, 413, 424, 435, 449–451, 454, 479, 481, 734, 876 f. 879– 881, 883 f., 901–904, 947, 950 bMultimodalität Sprachgeographie 701–705 Sprachgeschichte 11, 22, 38, 44, 53, 57, 384 f., 387, 653 f., 662 f., 666–674, 688– 690, 692, 694, 718, 738–740, 774, 919 bSprachstufen Sprachhandlungstyp 483–485 bSprechhandlung Sprachideologie 546 Sprachkompetenz 13, 15 f., 19 f., 23, 80 f., 120, 128, 165, 172, 201, 273, 323, 432 f., 480, 542–544, 625 f., 686, 705, 711, 825, 829, 831 f., 834 f., 837, 846, 849, 903, 917, 919, 921 Sprachkritik 625–629, 852 f. Sprachkultur 22, 45, 757, 765 f., 897, 936 Sprachnorm 5,21, 619–622, 674 bNormativität von Sprache Sprachpolitik/Sprachenpolitik 167, 675 bpolitics and policies of language Sprachproduktion 65, 324 f., 652 Sprachpsychologie 21, 323, 720, 844 Sprachrelativismus 58, 81 f., 317 f., 326, 710, 713, 844 f. bSapir-Whorf-Hypothese Sprachsoziologie 126 f. Sprachstil 130, 217, 772 Sprachstufen/Perioden der Sprachgeschichte 76, 384 f., 667, 669 f., 689 bSprachgeschichte Sprachsymbol 181, 846 f. Sprachtheorie(n) 12–14, 21, 24, 26, 48, 70, 126 f., 141, 157, 238, 330, 332, 336f, 376, 437, 533 f., 645, 648, 650, 671, 680–683, 686, 688, 690, 693, 720, 926, 949 – sensualistische 693 – psychoanalytische 330, 332, 336f Sprachvergessenheit 423 Sprachwandel 21, 24, 44, 52 f., 187, 390, 546, 608, 629, 674, 688–694, 702–704
974
Index Sprachwissenschaft, Entwicklung der 2, 4, 9– 11, 25 f., 57, 95, 120, 172, 191, 203, 228, 231, 286, 326, 335, 337, 351, 353, 540, 657, 672, 688–690, 692 f., 708–710, 712 f., 738, 740 f., 758, 770, 777, 783, 785 f., 789, 793, 811, 819 f., 844, 945, 951 Sprachzeichen/Zeichen, sprachliches 12, 18 f., 19, 76, 79, 104, 159, 179–181, 184, 186, 193, 198, 203, 272, 278, 333 f., 337, 377, 483, 573, 684–686, 693, 784, 891– 893, 902 – Medialität/Materialität von 104–106, 377, 439, 682 f. Sprechen, inneres 685 f. Sprecher-Hörer – egozentrischer 324, 684, 892 – idealer 79 f., 843, Sprecherziehung 866 f. Sprechhandlung/Sprachhandlung 20 f., 214, 271, 478 f., 483–485, 534, 621, 793, 856, 940, 945, 949 f. bSprachhandlungstyp Sprichwort 748–750, 752, 754 Spur 104 f., 161, 173, 278, 438–440, 683, 721, 934, 938 Steganographie 412 f. Stetter, C. 13, 85–93, 102, 104, 947 Steuerung 259–261, 264 Stil 11, 18, 100, 130, 148, 150, 211, 212, 216 f., 220 f., 227, 284, 302, 309, 311 f., 384, 388–390, 412, 491 f., 496, 527 f., 540 f., 544 f., 554, 580, 582, 625, 628, 656, 662, 692, 704, 718, 770–779, 785, 788, 814, 823, 833, 842, 845, 863, 865, 869 f., 882, 926 f. bArtefaktstil, Denkstil, Kommunikationsstil, Sprachstil Stilisierung 130, 212, 496, 544 f., 771, 779, 814 Stilistik 625, 718, 770–779, 788, 863, 865 Stimme 86, 105 f., 160, 239, 252, 435–442, 452, 497, 499, 401, 814, 896 Stolze, R. 783–790 storage 407, 409 f. Struktur 12 f., 40, 42, 48, 66, 69, 77, 127, 131, 168, 193, 195, 203, 249–253, 308, 319, 336, 359, 361, 390, 415, 431, 452, 454, 466, 536, 614, 648, 651, 711, 741– 743, 751 f., 785, 795, 820, 844, 846, 882, 884, 891, 896, 904, 936, 938 f. Strukturalismus/strukturalistisch 12, 16, 23, 58, 62, 67 f., 77, 82, 100, 119 f., 126 f.,
130, 153, 157, 193, 195, 197–199, 202, 229 f., 235, 237, 263, 265, 278, 283, 286– 288, 304 f., 309 f., 315, 318 f., 362, 395, 403, 473, 541, 572, 600–602, 604, 615, 647, 672, 681, 686, 690, 720 f., 740, 765, 771, 777, 810, 852 f., 864, 891 f., 951 f. Substandardsprache 710, 713 Symbol/Symbolizität 4, 18, 76, 180 f., 186, 246, 249, 437, 846, 893, 940 bIkon, Index Symbolbildung 180 Symbolische Anthropologie 305 Symbolsystem 4, 130, 139, 179 f., 183, 187, 275, 336, 377–381, 464, 718, 773 f., 947, 950 bZeichensystem Symboltheorie 85, 88, 203, 304, 460 Symptomwert, sprachlicher 384, 387 Synchronie und Diachronie 748, 752, 852 Syntax/syntaktisch 15 f., 25, 41, 43, 66–69, 76 f., 87, 92, 100, 120, 172, 174, 192, 220, 386–388, 465, 467, 485, 503, 541, 656 f., 670, 685, 708 f., 712, 720, 751, 824, 830, 832, 837 f., 845, 892, 895 f., 913, 924, 929 System bAufschreibesystem, Formensystem, Handlungssystem, Orientierungssystem, Prozesssystem, Symbolsystem, Zeichensystem – psychisches 138 f., 141 f., 144 – soziales 138 f., 141, 143, 259 Systemlinguistik 26, 119–121, 171 Systemtheorie 95, 121, 138 f., 142–144, 158, 268, 275, 279, 285 f., 308, 396, 689 Szientismus/szientistisch 10–13, 25 645, 771, 777
T Talkshow 453 Taxonomie, semantische 929 Techne/téchne 211, 214, 263, 276 f., 279, 525, 759, 863 f., 869 technology 277, 341, 422, 510, 512, 604 Temporalität 196, 246, 253 f. Terminologie 139, 237, 379, 500, 546, 732, 742, 758, 818 f., 832, 867 Teubert, W. 583, 626, 654, 694, 724, 800– 809, 854, 926 Text 10, 20, 24, 86–92, 94 f., 97 f., 100, 106, 149–151, 159, 203, 218, 226 f., 238, 276 f., 287, 305 f., 324, 362, 369, 374, 388 f., 398 f., 411 f., 428, 430, 449–451, 471, 478 f., 481, 483, 490, 493, 497, 533 f.,
Index 536 f., 553, 601, 647, 718–720, 724, 734, 767, 774–777, 784 f., 788, 818–826, 854, 865, 901, 903, 924, 952 – virtueller 825 – und Bild/Sprache und Bild 203, 244 276, 378, 431 f., 553, 767 bText-Bild-Relation, Spache-Bild-Bezug Text/Data Mining 856, 924 Text-Bild-Relation/-Beziehung/-Bezug 106, 203, 380 f., 428, 450 f., 553, 655, 734, 821 bSprache-Bild-Bezug Textkompetenz 835 Textlinguistik 26, 100, 377, 656, 718, 758, 778, 784, 818–826, 845, 853, 925, 952 Textverstehen/Textverständlichkeit 94 f. Theatralität 234, 369, 372 f. Theater 187, 196, 234–240, 306, 369 f., 372– 374, 435, 465, 821, 884 Theateranthropologie 235, 465 Theaterwissenschaft 234–240, 279, 369, 372, 603 Theorie – generative 13 f. – subjektive 919, 922 Theorie-Praxis-Problem 916–919, 922 Theory of Mind 794 f. Thije, J. D. ten 587–600 third culture 909, 912, 914 Tholen, G. C. 106, 274–282, 396 Tomasello, M. 13–15, 18–20, 78, 250, 323, 622, 686, 793, 796 f., 846, 778–880, 937, 939 f., 946 tone/token/type 105, 194–196, 200, 202, 927 Trabant, J. 9, 37–46, 80, 127, 192 f., 199, 437, 718 Trainer-Athleten-Kommunikation 551 Transferlinguistik 916–922 Transkription/Transkriptivität/transkriptiv 23, 87, 106, 159 f., 247 f., 376–381, 444, 448– 450, 453 f., 458, 543, 681, 824 f., 884, 947, 954 Transkriptivitätstheorie 378, 380, 449 Transkulturalität 404 Translation 135, 137, 341, 343 f., 587, 589, 724, 758, 783–789 bÜbersetzung Translationstheorie 783 f., 786 transnational 172, 307, 526, 544, 571, 575, 801 Trier, J. 80, 348, 653, 719, 740, 760 f., 763 Typologie 41, 43, 70, 417, 542, 662, 748
975
U Übersetzung 68, 77, 159, 182–184, 238, 326, 377 f., 388–391, 405, 449, 458, 460, 546, 627, 722, 783–789 bTranslation Übersetzungshermeneutik 788 Übersetzungskompetenz 788 Übertragung/Übertragen 96, 103, 139, 157, 159, 216, 225, 254, 261, 275, 306, 330, 332 f., 394–400, 437, 439–441, 450, 459, 553, 567, 783, 786, 922 bTranslation Ungeheuer, G. 193, 201 f. Universalgrammatik/Universale Grammatik 14, 21, 78–81, 708 f., 711, 713 Universalien 79, 713, 754, 925 Unternehmenskommunikation 542 Unverständlichkeit 93 f., 96–98 bVerständlichkeit USA cultural orientation 908 f., 914
V valeur bWert Variation 16, 22, 77–79, 142, 144, 180, 184, 186, 252, 472–474, 479, 546, 656, 662, 671, 673 f., 689, 709, 730, 734, 743, 765, 848 Variationslinguistik/Varietätenlinguistik 53, 413 f., 656, 673 f. Varietät 53, 165, 172 f., 413 f., 541, 656, 673–675, 701 f., 704, 718, 722, 787, 826, 833, 852 Verfall 303, 473, 662 f., 668–670 Verhaltensmuster 162, 185, 216, 263, 527, 557, 879, 937 Verkörperung/verkörpert 161 f., 194, 372 f., 460, 876 f., 882 bKörper, Körperlichkeit Verrätseln 411, 415 f. Verschlüsseln 411–415; Verschweigen 411, 416–418, 575 Verständigung 2, 21, 93.96, 142, 183, 185, 201, 247, 279, 326, 357, 396, 428, 429, 474, 521, 526, 541, 544, 559, 566–568, 625, 674, 767, 783, 787, 828–834, 836– 838, 903, 920 f., 946 Verständigungssystem 829–837 Verständlichkeit 21, 76, 93–98, 129, 224 f., 370, 390 f., 412 f., 451, 540, 551, 625, 787, 823, 891 f., 903, 948 f. bUnverständlichkeit Verstehbarkeitsgrenze 390
976
Index Verstehen 12, 17 f., 20, 23–25, 59–62, 87, 93–98, 139, 141 f., 169, 171, 184, 195, 224–231, 247, 272, 279, 324 f., 327, 335, 352, 360, 379, 390, 396 f., 399, 439, 452, 484, 500, 502, 533, 625, 627, 651, 683, 720, 723, 767, 783, 787 f., 795 f., 819–823, 830, 838, 843, 846, 848, 867, 878 f., 921, 934, 938 f., 948 bHermeneutik, Verständigung – und Auslegen 60 f., 225 f. Verwendungsfunktion 838 Vidler, A. 506–513 Vygotskij, L. S./ Vygotsky, L. S./Wygotski, L. S. 11 f., 20, 322, 423, 425, 681, 683– 686, 750 f., 844–846
W Wahrnehmungsdialektologie 704 Wahrscheinlichkeit/Wahrscheinlichkeitsargument (eikos) 24, 68 f., 138, 213, 218 Wandel 21, 24, 44, 662, 669672, 674 f., 688– 694, 702–704, 721, 723, 730–735, 752, 852, 854, 947 – semantischer 11, 187, 672, 721, 723, 730–735, 739, 787, 854 – sprachlicher bSprachwandel Wastl-Walter, D. 282–294 Watzlawick, P. 140, 353 Weaver, W. 353, 395 Weber, M. 21, 134, 151 f., 183, 302, 308, 517, 519, 565, 580, 617, 717, 741, 803, 949 Weber, S. 1–5, 112–117, 168, 237, 239, 279 Weinberg, M. 571–577 Weltansicht 39 f., 58, 79–81, 180, 682, 719, 722, 784, 786, 949 Weltwissen 182, 184, 480, 566, 651, 705, 856 Werlen, I. 75–85, 193, 710 Wert (valeur) 62, 80, 199, 682, 686 Wettkampfkommunikation 552 Whorf, B. L. 81 f., 318, 326, 710, 811, 844, 847, 902 Wiederholung 122, 144, 202, 218, 220, 237, 310, 330, 362, 398, 403, 449, 479, 776, 882 Wildgen, W. 64–74, 203, 819 Wimmer, R. 482, 625–634, 674 Winkler, H. 395–401 Winter, R. 303, 402–406, 774, 944
Wintzer, J. 282–294 Wirklichkeit, soziale 183, 565, 567, 569, 580, 812, 882 bRealität Wirklichkeitsmodell 268–270 Wirth, U. 132, 353, 369–376, 949 Wirtschaft 5, 138, 140 f., 231, 284, 479, 481 f., 504, 540–545, 553 f. 607, 611–614, 627, 818, 867 Wirtschaftskommunikation 541, 867 Wirtschaftslinguistik 540–544 Wissen 10, 17, 19, 47 f., 75, 120–122, 124 f., 148, 152, 162, 180, 184, 251, 268–273, 308, 311, 324, 358, 361, 399, 411, 417, 467, 472 f., 479–483, 499, 526, 529 f., 535, 543 f., 566, 578–583, 603, 648, 651 f., 654 f., 663 f., 675, 693, 722 f., 739–741, 743, 748 f., 752 f., 759, 771, 776, 787 f., 792, 794 f., 810, 829, 832, 836–839, 842, 846, 916–919, 921 f., 927, 929, 934, 951 bknowing how/knowing that – kulturelles 748 f., 752 f., 810, 836 – sprachliches 916 f., 919, 922 bKönnen, sprachliches Wissenschaft 4, 9, 23, 25, 37, 44 f., 48–50, 52, 119, 127, 140, 149 f., 152, 159, 170, 181, 183, 186, 191, 201, 220, 224, 227– 230, 240, 254, 259, 261, 264, 278, 283, 286, 289, 302, 305, 331, 478–485, 542, 553 f., 565, 578 f., 581–584, 601, 657, 693, 717, 719, 733, 735, 749, 765, 776, 778, 783, 852, 878, 883 Wissenschaftsgeschichte 1–4, 9–26, 47 f., 53, 57, 148, 191, 274, 279, 323, 351 f., 605, 646, 818 f., 843, 920 Wissenschaftskritik 148 f., 672 Wissensdomäne 481, 541 Wissenskulturen 578–584 – nichthegemoniale 584 Wittgenstein, L. 12 f., 22, 90, 128, 145, 183, 187, 192, 247 f., 271, 304, 309 f., 423–425, 565, 620, 646, 651, 681, 684, 690, 719, 948, 952 Wort, äußeres/inneres 438 bSprechen, inneres Wörter und Sachen 17, 653, 671, 694, 720, 739 f., 760 Wörterbuch 40–42, 57, 88–90, 165, 391, 480, 533 f., 540, 608, 611, 627 f., 664 f., 673, 719, 731, 740 f., 743, 749 f., 754, 762, 852, 862 f., 868 Wortlautgrenze 533 Wortvorstellung 331–333
Index Wortvorstellungskomplex 331 writing – and narrative 422, 424 f. – alphabetic balphabetic writing – reform 637 Wundt, W. 9, 11, 323, 671, 844, 891 Württemberger Schule 703 Wurzelmetapher 580 Wygotski, L. bVygotskij
Z Zeichen 4, 10, 12, 17–19, 75 f., 79 f., 85–87, 89–91, 102–106, 141, 151, 160–163, 166, 168 f., 179–187, 191–193, 195–202, 212, 220, 225, 244 f. 247, 267 f., 270–272, 276, 278, 286, 304 f., 307, 333 f., 337, 371 f., 394 f., 397–399, 403–405, 429, 432 f., 437– 439, 449 f., 465, 475, 478 f., 482 f., 516 f.,
977 520, 551, 568, 572 f., 649 f., 667, 672, 682 f., 701, 711, 718, 730, 734, 740 f., 760, 763, 770, 776 f. 784, 795, 821, 830, 832, 842, 877, 880, 891–894, 902, 904, 925, 939 f., 945–948 – Funktion von 183 f., 192–197, 220 271, 891 – ikonisches/indexikalisches/symbolisches bIkon, Index, Symbol – sprachliches bSprachzeichen – wahrnehmungsnahes 429 f., 432–434, 452 Zeichensystem 4, 75, 141, 147, 156, 183, 203, 271, 273, 449, 681, 683, 777, 902 Zeichentheorie 102, 105, 179, 191, 198, 863 Zeigen 247, 500, 881 zeitkritisch 459 Zensur 414 Zitat 371 Zugehörigkeit, kulturelle 323, 325, 792, 812