Spinnen und Weben : Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe 3499177021


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Table of contents :

Frühe Textilproduktion für den eigenen Bedarf mit Handspindel und Gewichtswebstuhl
Darstellungen früher und einfacher Spinnprozessc
Darstellungen früher und einfacher Webgeräte
Ägyptische Webstühle aus verschiedenen Zeiten
Griechische und römische Webstühle
Weben bei Naturvölkern und in Entwicklungsländern
Lebenssituation im alten Europa
Wolltuchproduktion bei den Germanen
Charakteristik der frühen Spinn- und Webarbeit
Kunden- und Exportproduktion des städtischen Handwerks mit Handspindel, Spinnrad und Trittwebstuhl
«Neue» Arbeitsmittel im Spinn- und Webprozeß
Entwicklung des Spinnens mit dem einfachen Handspinnrad
Charakterisierung der Radspinntältigkeit und des veränderten Produkts
Weben mit dem Trittwebstuhl
Charakterisierung der veränderten Webtätigkeit und des veränderten Produkts
Technische Veränderungen: Warum?
Handwerker - Städte - Händler
Textilhandwerker in den mittelalterlichen Städten
Technische Veränderungen im Textilgewerbe: Warum?
Technische Entwicklung in anderen Bereichen des Textilgewerbes
Einschätzung der technischen Entwicklung
Kontinuierliches Spinnen mit dem Flügelspinnrad
Die ackerbauenden Weber und die Arbeit des «ganzen Hauses» mit Handspindel, Spinnrädern und Handwebstuhl für den weltweiten Markt
Entwicklung von Hausindustrie und Verlag im ländlichen Textilgewerbe Mitteleuropas vom 13. bis zum 18. Jahrhundert
Manufakturen im Textilgewerbe
Textile Massenproduktion für ständig wachsende innere und äußere Märkte mit mechanischer Maschinenarbeit und kapitalistischer Fabrikproduktion
Die Spinning Jenny: eine Maschine für die Hausindustrie
Die Water Frame oder Spinning Throstie (Wassergestell oder spinnende Drossel): eine Maschine für die Fabrikproduktion
Spinning Mule und die weitere Vervollkommnung des mechanischen Feinspinnens
Kraftstühle: Mechanisierung des Webverfahrens
Von den ackerbauenden Webern zu den Fabrikarbeitern in der kapitalistischen Textilindustrie
Entwicklung der textilen Produktion von 1730-1850: Darstellung des Entwicklungsprinzips
Veränderte Arbeitstätigkeit - veränderte Besitzverhältnisse - veränderte Arbeits- und Lebenssituation
Technische Revolution - Industrielle Revolution
Entwicklungsbedingungen für die Technik
Spinnerei und Weberei - heute
Probleme der Fertigungsverfahre
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Spinnen und Weben : Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe
 3499177021

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Almut Bohnsack

Spinnen und Weben Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe

Zu der Buchreihe «Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik»

Naturwissenschaftliche und technische Gegenstände sind nicht ein­ deutig, sondern vieldeutig. Ihre humanen, sozial- und geistesge­ schichtlichen Beziehungen zeigen sich nicht in Funktionsbeschreibun­ gen. Ebenso sagt die rein fachliche Darstellung der Geschichte von Naturwissenschaft und Technik nichts aus über deren gesellschaftli­ che, wirtschaftliche und allgemein geistesgeschichtliche Vorausset­ zungen und über die sich ergebenden Konsequenzen. Demgegenüber versucht die gemeinsam vom Deutschen Museum und dem Rowohlt Taschenbuch Verlag herausgegebene neue Buchreihe Kulturge­ schichte der Naturwissenschaften und der Technik> auch jene Bezüge, welche die Fachgebiete übergreifen, zu beschreiben und durch Bilder zu veranschaulichen. Die Bände richten sich an Lehrer und Ausbilder; doch sind sie so gestaltet, daß jeder interessierte Laie sie verstehen kann. Es zeigt sich, daß der Weg durch die Geschichte nicht eine zusätzliche Erschwerung des Lehr- und Lernstoffes bedeutet, sondern das Verständnis der mo­ dernen Naturwissenschaften und der Technik erleichtert.

Almut Bohnsack

Spinnen und Weben Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe

Deutsches Museum

Rowohlt

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Die Buchreihe zur Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik entstand im Rahmen zweier Projekte am Deutschen Museum. Projektmitarbeiter: Günther Gottmann, Bert Heinrich, Friedrich Klemmt, Gernot Krankenhagen, Jürgen Teichmann, Jochim Varchmin. Verantwortliche Betreuung des vorliegenden Bandes: Bert Hein­ rich. Technikgeschichtlicher Berater: Friedrich Klemm. Bildredak­ tion: Ludvik Vesely

Autorin und Betreuer danken Charlotte Harm und Jürgen Schlumbohm, sowie den Mitarbeitern des Deutschen Museums Horst Tietzel und Alois Reichel

Die dieser Veröffentlichung zugrunde liegenden Entwicklungsarbei­ ten wurden mit Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk und des Bundes­ ministers für Bildung und Wissenschaft gefördert. Die Interpretation der Fakten gibt die Meinung der Autorin, nicht die des Deutschen Museums wieder.

14.-16. Tausend August 1985

Originalausgabe Umschlagentwurf: Werner Rebhuhn (Fotos: Diorama «Weber» von Frese/Grunow. «Ringspinnmaschine»/Deutsches Museum) Abb. S. 8: Kupferstiche von A. Birckhardt nach Zeichnungen von TUmer (Schrobelstuben-oben, SpinnStuben-mitten, Wirckstuben-unten) aus W. L. Reiner: Designatio iconographica Oberleutensdorfensis ... 1728. Aus der Sondersammlung des Deutschen Museums München. Redaktion: Jürgen Volbeding Layout: Edith Lackmann Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juni 1981 Copyright © 1981 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Satz Times (Linotron 404) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1480-ISBN 3 499177021

Inhalt

Vorbemerkung 9 Einleitung 11 Zeittafel 16 Frühe Textilproduktion für den eigenen Bedarf mit Handspindel und Gewichtswebstuhl 31 Spinnen mit der freihängenden Handspindel 33 Darstellungen früher und einfacher Spinnprozesse 36 Weben am Gewichtswebstuhl 40 Darstellungen früher und einfacher Webgeräte 47 Ägyptische Webstühle aus verschiedenen Zeiten 47 Griechische und römische Webstühle 49 Weben bei Naturvölkern und in Entwicklungsländern 50 Lebenssituation im alten Europa 52 Wolltuchproduktion bei den Germanen 53 Charakteristik der frühen Spinn- und Webarbeit 57

Kunden- und Exportproduktion des städtischen Handwerks mit Handspindel, Spinnrad und Trittwebstuhl 65 «Neue» Arbeitsmittel im Spinn- und Webprozeß 65 Entwicklung des Spinnens mit dem einfachen Handspinnrad 68 Charakterisierung der Radspinntätigkeit und des veränderten Produkts 73 Weben mit dem Trittwebstuhl 78 Charakterisierung der veränderten Webtätigkeit und des veränderten Produkts 90 Technische Veränderungen: Warum? 92 Handwerker - Städte - Händler 94 Textilhandwerker in den mittelalterlichen Städten 99 Technische Veränderungen im Textilgewerbe: Warum? 114 Technische Entwicklung in anderen Bereichen des Textilgewerbes 118 Walkmühlen 118 Mangen, Pressen, Rauhmaschinen 120 Seidenzwimmühlen 125

Bandwebstuhl 131 Einschätzung der technischen Entwicklung 132 Kontinuierliches Spinnen mit dem Flügelspinnrad 134 Funktion der Flügelspindel 134 Entwicklung und Durchsetzung des Flügelspinnrads 139 Spinnen mit dem Flügelspinnrad mit Tretantrieb 143 Spinnen mit dem Tretspinnrad mit einfacher Flügelspindel 143 Spinnen mit dem Tretspinnrad mit weiter entwickelter Flügelspindel 144 Charakterisierung des kontinuierlichen Spinnens mit dem Tretspinnrad und des veränderten Produkts 146 Die ackerbauenden Weber und die Arbeit des «ganzen Hauses» mit Handspindel, Spinnrädern und Handwebstuhl für den weltweiten Markt 151 Der Gamträger kommt 151 Leistung von Rad- und Handspinnern im Baumwollgewerbe der Züricher Hausindustrie 153 Hausindustrie und Verlag im ländlichen Textilgewerbe 154 Entwicklung von Hausindustrie und Verlag im ländlichen Textilgewerbe Mitteleuropas vom 13. biszum 18. Jahrhundert 163 Sackgasse Hausindustrie 177 Manufakturen im Textilgewerbe 180

Textile Massenproduktion für ständig wachsende innere und äußere Märkte mit mechanischer Maschinenarbeit und kapitalistischer Fabrikproduktion 184 Weben: schneller und breiter 187 Gamhunger 190 Maschinen, um ohne Finger zu spinnen 194 Erste Versuche 194 Die Spinning Jenny: eine Maschine für die Hausindustrie 196 Die Water Frame oder Spinning Throstle (Wassergestell oder spinnende Drossel): eine Maschine für die Fabrikproduktion 204 Spinning Mule und die weitere Vervollkommnung des mechanischen Feinspinnens 218 Kraftstühle: Mechanisierung des Webverfahrens 227 Von den ackerbauenden Webern zu den Fabrikarbeitern in der kapitalisti­ schen Textilindustrie 236 Veränderte Arbeitstätigkeit - veränderte Besitzverhältnisse veränderte Arbeits- und Lebenssituation 244 Technische Revolution - Industrielle Revolution 248 Entwicklungsbedingungen für die Technik 251

Spinnerei und Weberei - heute 255 Probleme der Fertigungsverfahren 255 Probleme der Textilindustrie der BRD 260 Stadien im Deutschen Museum 268

Quellen, Ergänzungen, Register 277 Literatur 277 Anmerkungen 283 Personen- und Sachregister 287 Bildquellen 296

Vorbemerkung

Technik wird von vielen Menschen als etwas Fremdes erlebt, als etwas, das sich eigenständig, von Menschen unabhängig entwickelt und deshalb eigent­ lich unmenschlich, oft sogar gefährlich für Menschen ist. Umweltverschmutzung, Fließbandarbeit und Kernkraftwerke sind Stich­ worte, die in diesem Zusammenhang sofort einfallen und heftige Diskussio­ nen auslösen. Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die sogenannten tech­ nischen Errungenschaften eigentlich nur scheinbare Errungenschaften seien und daß nur Verzicht auf Technik die drohende Zerstörung des Gleichge­ wichts in der natürlichen und gesellschaftlichen Entwicklung aufhalten könne. Stimmt es, daß Technik von sich aus, notwendigerweise, zerstörerische Momente mit einschließt, oder gibt es auch die Möglichkeit, Vorteile der Technik zu nutzen und Nachteile zu vermeiden? Wenn man darüber nachdenkt, stutzt man: Technik kann sich nicht unab­ hängig von den Menschen entwickeln, denn sie wird von Menschen gemacht, und Menschen entscheiden über ihre Entwicklung. Warum ist sie trotzdem oft unmenschlich? Liegt das vielleicht an ihrer Abhängigkeit von den Natur­ gesetzen? Denn natürlich ist Technik nicht nur von Menschen, sondern auch von den Naturgesetzen bestimmt. Um diese Frage genauer klären zu kön­ nen, müßte man ein Beispiel technischer Entwicklung verfolgen. Dann müß­ te man feststellen können, wo das Problem liegt. Wenn alle darüber mitentscheiden wollen, ob und wenn ja, wie Technik weiterentwickelt werden soll, ist es notwendig, diese Frage zu verfolgen. Um auf einer konkreten Grundlage diskutieren zu können, soll im folgenden ein Beispiel technischer Entwicklung mit dem Ziel aufgearbeitet werden, Tech­ nik und ihre Entwicklungsbedingungen und Auswirkungen, d. h. Technik in ihrer Entwicklung in der Gesellschaft, kennenzulemen. Als Beispiel wird hier die Entwicklung der Textiltechnik im 18. Jahrhun­ dert zu Beginn der Industriellen Revolution in England und die Vorgeschich­ te dieser Entwicklung gewählt: Im textilen Gewerbe wurden damals Maschi­ nen zum Spinnen entwickelt, die die Leistung der alten Spinnräder weit über­ trafen. In Verbindung mit Wasser- oder Dampfkraft konnte die Gamproduktion fast unbegrenzt gesteigert werden. Etwas später wurden dann auch Handwebstühle durch mechanische Webstühle ersetzt. Es entstanden Spinn- und Webfabriken, mit deren Massenproduktion die Textilhandwerker nicht mehr konkurrieren konnten. In einem noch nie da­ 9

gewesenen Tempo wurde innerhalb von 60 Jahren eine Jahrhunderte-, teil­ weise sogar jahrtausendealte Technik mechanisiert und automatisiert. Ein großer Teil der bisher notwendigen Handarbeit fiel dadurch weg. Das führte für viele der Spinner und Weber zu Elend und Armut; denn bei weitem nicht alle fanden Arbeit in den Fabriken, und wenn, auch nur zu sehr schlechten Bedingungen. Die neue Arbeitstätigkeit war z. B. sehr einseitig und ermü­ dend. Die meisten Arbeiten konnten auch von Frauen und Kindern verrich­ tet werden. Die Löhne waren daher sehr niedrig. Nur eine kleine Schicht, die Fabrikbesitzer, wurde reich. Aus dieser Situation entwickelten sich harte politische Auseinanderset­ zungen. Fabriken wurden erstürmt und Maschinen zerschlagen oder Gesetz­ gebungsvorschläge, etwa zur Einschränkung der Kinderarbeit, wurden hef­ tig umkämpft. Dieses Beispiel zeigt, daß technische Veränderungen sehr negative Aus­ wirkungen haben können. Und die Frage ist: Muß das, etwa durch den Stand der technischen Entwicklungen oder durch naturgesetzliche Abhängigkeiten bedingt, so sein? Das Beispiel zeigt auch, daß die technischen Veränderun­ gen in sehr direktem Zusammenhang mit sozialen, wirtschaftlichen und poli­ tischen Veränderungen in der Gesellschaft stehen. Das kann ein Hinweis darauf sein, daß auch andere als technische und naturgesetzliche Bedingun­ gen die Entwicklung der Technik beeinflussen. Auf Grund der umwälzenden technischen Neuerungen und der damit zu­ sammenhängenden, deutlich sichtbaren gesellschaftlichen Veränderungen eignet sich das Beispiel gut, um die oben aufgeworfene Frage zu klären. Außerdem lohnt es sich, sich mit der Textilproduktion zu beschäftigen. Sie war von jeher einer der wichtigsten Produktionszweige, weil sie menschliche Grundbedürfnisse, sich z. B. durch Kleidung vor Witterungseinflüssen schüt­ zen zu können, befriedigt. Textilproduktion nimmt deshalb in den meisten Gesellschaften zu allen Zeiten einen breiten Raum ein. In der Bundesrepu­ blik gehört die Textilindustrie zu den wichtigsten Industriezweigen. Mit etwa 29 Milliarden DM Umsatz ist sie die größte Konsumgüterindustrie der Bun­ desrepublik, und allein 5% aller in der bundesrepublikanischen Industrie Beschäftigten arbeiten in der Textilindustrie.1

Einleitung

Wenn die Entwicklung der Textiltechnik im Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung dargestellt werden soll, muß noch geklärt werden, was hier un­ ter Technik verstanden wird und welche Bereiche der Textiltechnik behan­ delt werden. Technik entsteht immer dann, wenn Menschen anfangen, ihre jeweilige, ursprünglich nur naturgegebene Umgebung zu verändern, um ihre Bedürfnisse besser als zuvor befriedigen zu können. Durch auf Existenzerhaltung und Erleichterung gerichtete, bewußte Tä­ tigkeit, also durch Arbeit, aber auch für die Arbeit und für andere Zwecke entwickeln Menschen neue, «künstliche» Gegenstände, Hilfsmittel, und da­ mit auch neue Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, die ur­ sprünglich nicht vorhanden waren. Diese Mittel und diese Handlungen sind dadurch charakterisiert, daß Mittel und Handlung jeweils aufeinander bezo­ gen sein müssen. Die Handlungsform richtet sich nach dem Gerät, und das Gerät muß auf die menschlichen Handlungsmöglichkeiten hin konstruiert sein. Als Kem der Technik soll deshalb der Funktionszusammenhang von menschlicher Handlung und Gerät verstanden werden. Da Technik im be­ sonderen Maße Teil des Produktionsprozesses ist und in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft betrachtet werden soll, soll es in dieser Arbeit um «Technik und Arbeit im textilen Gewerbe» gehen. Nun gibt es aber sehr viele textile Herstellungsverfahren. Welche sollen ausgewählt werden? Die Verfahren lassen sich vom jeweiligen Zweck her in drei große Grup­ pen einteilen: - Fadenherstellung, - Herstellung textiler Flächen und - Herstellung textiler Gebrauchsgegenstände. Nicht alle darin vorkommenden Techniken können hier dargestellt wer­ den. ' Grundlage für textile Gebrauchsgegenstände sind Fäden und Stoffe (texti­ le Flächen). Spinnen und Weben sind deshalb grundlegende Verfahren in der Textilproduktion; denn innerhalb der Fadenherstellung ist das Zusammen­ drehen kurzer Fasern (spinnen) zu einem endlosen Faden die entscheidende Herstellungsphase, und textile Flächen werden immer noch zum größten Teil im Webverfahren hergestellt. Spinnen und Weben bilden darüber hinaus in allen Gesellschaften einen Entwicklungszusammenhang: Verbesserte Webverfahren entwickeln sich beispielsweise, wenn Fäden

11

leichter als vorher und zur Genüge produziert werden können oder umge­ kehrt: Verbesserungen im Spinnverfahren werden erforderlich, wenn mit neuen Webgeräten schneller produziert werden kann. Nun fehlt nur noch eine Präzisierung: Welche Rohstoffe sollen bei der Aufarbeitung des Spinn- und Webverfahrens berücksichtigt werden: Wolle, Flachs, Baumwolle, Seide oder sogenannte Kunstfasern (chemische Fasern), um nur die wichtigsten zu nennen? Bei einer technikgeschichtlichen Betrachtung ist ein wichtiger Aspekt, daß die geschichtliche Aufarbeitung zur Erschließung der eigenen gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität führt: Es muß also überlegt werden, durch welche geschichtliche Entwicklung unsere gegenwärtige Situation in der Textilpro­ duktion bestimmt wurde. Bezogen auf die textilen Rohstoffe heißt das, daß es sinnvoll ist, die Verarbeitung von Wolle, Flachs und Baumwolle herauszu­ greifen; denn Wolle und Flachs wurden in der Textilherstellung in unseren Breiten schon sehr früh verwendet. Baumwolle ist dann der Rohstoff, der als

1: Adam und Eva bei, nach mittelalterlicher Auffassung, typischen Arbeiten: Adam bearbei­ tet im Schweiße seines Angesichts den Boden, während Eva spinnt. Sie spinnt so, wie diese Ar­ beit noch im Mittelalter und schon seit Jahrhun­ derten, wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden ausgeführt wurde: Mit der linken Hand zieht sie Fasern aus dem auf dem Rocken aufgebundenen Faserbüschel, und mit der rechten Hand dreht sie die Spindel, so daß nach und nach ein endloser Fa­ den entsteht. Mit dieser Technik können von ei­ ner Person in einer Stun­ de etwa 140 Meter Garn hergestellt bzw. etwa 4 g Fasergut versponnen wer­ den (vgl. Tab. 8). 12

2: Auch hier wird gesponnen (vgl. Abb. 1). Aber hier werden die meisten notwendigen Herstellungsschritte mechanisch von einer Maschine ausgeführt. Die Arbeiterin ist keine «Spinnerin» mehr. Sie muB nur noch Vorgarnspulen aufstecken, die vollen Garn­ spulen abnehmen und hin und wieder gerissene Fäden anknoten. Solche Ringmaschi­ nen haben heute bis zu 10000 Spindeln. Sie werden dann von etwa 24 Personen bedient und verarbeiten bis zu 265 kg Fasergut in der Stunde. Auf eine Person kommen in einer Stunde also etwa 11 kg= 11000 g gegenüber 4 g Faserverarbeitung beim Spinnen mit der Handspindel (vgl. Tab. 8).

erster in großen Massen importiert wurde und mit dem die Entwicklung von der handwerklichen zur industriellen Produktion im Textilgewerbe verbun­ den ist. Auf die Verarbeitung von chemischen Fasern, die heute natürlich einen breiten Raum in der Textilproduktion einnimmt, wird nicht eingegangen, weil diese Darstellung auf die Entwicklung von der handwerklichen zur indu­ striellen Produktion eingegrenzt werden soll, und die ist vor allem mit dem Woll-, Flachs- und Baumwollgewerbe verbunden. Damit sind aber auch die wesentlichen Vorgänge der heutigen Textiltechnik erschlossen, denn auch chemische Fasern und Fäden werden im Prinzip mit derselben Technik ver­ sponnen oder verwebt. Mit Hilfe einer solchen grundlegenden Aufarbeitung und einem daran anschließenden kurzen Einblick in die moderne Spinnerei und Weberei müßte es daher möglich sein, heutige Produktionsrealität zu erschließen. 13

3: Dieser mittelalterliche Handweber kann an sei­ nem Trittwebstuhl in der Stunde etwa 40 cm von ei­ nem mittelschweren, 60-90 cm breiten Stoff herstellen. Erbringt in der Minute etwa 20 Schuß, d. h. ungefähr 15 m Schußfaden ein (vgl. Tab. 8).

Gegenstand der Auseinandersetzung ist deshalb: Die Entwicklung von Technik und Arbeit im europäischen Textilgewerbe, aufgezeigt an Beispielen des Verspinnens und Verwebens von Wolle, Flachs und Baumwolle. Diese Entwicklung soll in folgenden vier Phasen an Beispielen ausführlich dargestellt werden: - Die Anfänge der Textilproduktion in kleinen, sich selbst versorgenden wirtschaftlichen Einheiten (Kapitel 1), - die gewerbliche Textilproduktion im Handwerk (Kapitel 2 und 3), - die Verbreitung der gewerblichen Textilproduktion und die Entwick­ lung vorindustrieller Produktionsformen (Kapitel 4 und 5) und - die beginnende industrielle Produktion, in der sich Grundstrukturen un­ serer heutigen Produktionsrealität herausbilden (Kapitel 6).

14

Dabei geht es nicht darum, neue technikhistorische Forschungen zu betrei­ ben. Schon bekannte Tatsachen sollen lediglich so zusammengestellt wer­ den, daß ein zusammenhängendes Bild von der technischen Entwicklung im Textilgewerbe als Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklung entsteht. Die Abbildungen 1 bis 4 geben einen Einblick in diese Entwicklung: Ein ungeheurer Produktivitätssprung ist zu erkennen. Er ist, deutlich sichtbar, mit Veränderungen in der Arbeitstätigkeit verbunden. Viele Fragen werden aufgeworfen: Ist die Arbeit leichter oder schwerer geworden? Was mußte ein Textilarbeiter früher lernen, was muß er heute lernen? Wer wurde früher Textilarbeiter, wer wird es heute? Kann die Produktivität der Maschinen noch gesteigert werden? Wie ist es überhaupt zu der bisherigen Produktivitätssteigerung ge­ kommen? Wem kam und wem kommt diese Entwicklung zugute? Welche positiven und welche negativen Auswirkungen hat sie?

4: Solche in den fünfziger Jahren entwickelten Webmaschinen weben gleichzeitig 3 Gewebebahnen mit einer Geschwindigkeit von maximal 230 Schüssen pro Minute. Sie tragen dabei bis zu 730 Meter Schußfaden in der Minute ein. Der Handweber (Abb. 3) bringt dagegen nur 15 Meter in der Minute ein (vgl. Tab. 9). 15

5 Zeittafel 1. Phase: Frühe Textilproduktion für den eigenen Bedarf in Mitteleuropa

Zeit

Spinnen

Weben

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende technische und sozioökonomische Entwicklungen

Seit der Jungstein­ zeit (in Mittel­ europa etwa seit 4000 v.Chr.)

Handspindel (freihängend benutzt; Spinnwirbel aus Holz, Ton oder Knochen

senkrecht stehender Gewichtswebstuhl (Gewichte aus Stein oder Ton).

seit 600 v. Chr. etwa gibt es die eiserne Schere zum Sdiafescheren.

Wolle und Flachs werden zu Tuchen und Leinen­ stoffen verarbeitet; Textilprodukte werden in der Haus- und Hofgemeinschaft für den eigenen Gebrauch, meistens von Frauen, Kindern und Alten hergestellt; nur wenige spezielle Arbeits­ schritte, z. B. das Walken, wurden von Männern aus­ geführt; manchmal wird in gesonderten Räumen, z. B. in sogenannten Web­ häuschen gewebt.

schon 3500 v. Chr. wurden im Raum zwischen Donau und Main Schafe und Ziegen nachgewiesen; auch Flachs wird in Mitteleuropa schon so früh angebaut;

dörfliche Siedlungen oder Einzelhöfe; allmähliche Ent­ wicklung vom Sippen- zum Privatbesitz und zur Selbst­ versorgeproduktion in Haus­ und Hofgemeinschaften.

2. Phase: Kunden- und Exportproduktion des städtischen Handwerks und der verlagsmäßig organisierten ländlichen Hausindustrie in Mitteleuropa

Zeit

Spinnen

Weben

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

1000 n. Chr. Nach der ersten Jahr­ tausend­ wende

Entwicklung des einfachen Haudspinnrades... (durch Quellen vom 13. Jh. an nachgewiesen); die Handspindel wird als Radspindel waagrecht in einem Gestell gelagert und durch Riemenantrieb von Hand angetrieben;

und des Trittwebstuhles (durch Quellen vom 14. Jh. an nachgewiesen); Fach­ bildung durch Schäfte und Fußtritte; Schußeintrag mit Hilfe des Schiffchens oder Schützens; Faden­ anschlag durch die Lade;

Spinnen bleibtbäusliche Nebentätigkeit von Frauen;

Weben als Handwerk in den Städten; Männer sind Weber;

Spulrad

1200

-

zunehmende Verwendung des Wasserrades, z. B. in Walkmühlen (vom 10. Jh. an);

Verwendung von Mangen, Pressen und Rauh­ maschinen im verlags­ mäßig organisierten Textil­ gewerbe;

In gröBeren Produktionseinheiten, z. B. in Klöstern und Königshöfen, gibt es schon vor der Jahrtausend­ wende eine Arbeitsteilung zwischen landwirtschaftlichen und handwerklichen Tätig­ keiten; Entwicklung der Städte und des städtischen Handwerks;

00

Zeit

Spinnen

Weben

Arbeitsteilung in der Stoffherstellnng; horizontale Arbeitsteilung zwischen Woll-, Leinen- und Seiden­ webern: vertikale Arbeits­ teilung zwischen Weberei und Fertigmachern (z. B. Walkern, Färbern oder Tuchscherem);

1268

Verbot des Handspinn­ rads in Paris

1283 1288

Leinwandordnung in Konstanz Verbot des Handspinn­ rads in Abbeville

ab 1350

Baumwolle aus dem Mittelmeer­ raum wird jetzt auch in Mittel­ europa, zunächst mit anderen Fasern zu Mischgeweben, dann auch zu reinen Baumwollstoffen verarbeitet;

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

im 13. und 14. Jh. Zwirn­ mühlen in Paris, Köln und Oberitalien nachgewiesen: vom 13. Jh. an Entwick­ lung der Seidenzwirnmühle mit Flügelspindel, die Konkurrenz der ländlichen gleichzeitig verdreht und Hausweberei für die städti­ abwickelt; sche Weberei; Entwicklung des Verlagsgewerbes in Oberdeutschland, Flandern und Florenz; alle darin Arbeitenden sind zunächst noch in Zünften organisiert;

Zeit

1367

um 1480

1413

um 1490 1530

1600

Spinnen

Weben

ein Barchentweber nanu Hans Fugger läßt sich in Augsburg nieder;

Erste Abbildung eines Flfigelspinnrads mit Hand­ antrieb im Hausbuch der Familie Waldenburg Wolfegg, d. h. erste Abbil­ dung eines Spinnrads mit dem kontinuierlich gespon­ nen, mit dem zur gleichen Zeit gesponnen und auf­ gewickelt werden kann; Flfigelspinnvorrichtung von Leonardo da Vinci; Verbesserung des Flfigel­ spinnrades durch Tretantrieb (Fußtritt, Pleuel = Stange und Kurbel); Entwicklung des Band­ webstuhls und vielfache Verwendungsverbote;

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

Die Messen der Champagne verlieren ihre Bedeutung; die Haupthandelswege zwischen Nord- und Süd­ europa und zwischen Westnach Osteuropa laufen von da an über Oberdeutschland; Der Antrag des Kaufmann« Walter Kesinger auf Einrichtung einer Seidenzwirnmühle wird vom Rat der Stadt Köln ab­ gelehnt (1413). Die süddeutschen Städte überflügeln die oberita­ lienischen Städte in der Barchent­ produktion; in vielen Gebieten Mitteleuropas entwickelt sich eine verlagsmäßig organisierte ländliche Hausindustrie sowohl im Leinen- als auch im Baum­ wollgewerbe: die ländlichen Textilarbeiter sind selten in Zünften organisiert und deshalb von den Verlegern abhängig;

Zeit

Spinnen

Weben

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

17. Jh.: Die Schweiz ist führend in der Produktion reiner Baumwollstoffe; 1641

Verschiebung der Handels­ schwerpunkte nach NordWest-Europa;

die Stadt Manchester bezieht seit 1641 Baumwolle und stellt Barchente und reine Baumwollstoffe her;

3. Phase. Zentralisierte Massenproduktion für ständig wachsende innere und äußere Märkte

Zeit

Spinnen

Weben

je nach verwendeten Spinnverfahren müssen 4 bis 10 Spinnerinnen arbeiten, um nur einen Weber mit Garn zu versorgen;

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen für Massenprodukte mit sicherem Absatz entwickeln sich Manufak­ turen, d. h. Betriebe, in denen viele Arbeiter zusammengezogen werden, so daß die Arbeit nach neuen Gesichtspunkten aufgeteilt und von den Produktionsleitern besser kontrolliert werden kann;

Die folgende Darstellung bezieht sich fast ausschließlich auf die Entwicklung in England (Ursprungsland der Industriellen Revolution)

1700 1733

1738

1,5 Mill. Pfund Baumwolle werden in England importiert; John Kay, ein Wollweber, er­ findet den Schnellschützen; breitere und etwa doppelt Lewis Paul erwirbt das so viel Stoffe wie vorher erste Patent für eine können in einer Zeiteinheit Spinnmaschine; hergestellt werden;

das englische Wollgewerbe setzt ein Einfuhrverbot für Baumwolle durch; die Nach­ frage nach leichten, beson­ ders nach Baumwollstoffen steigt ständig an; die Einfuhr­ verbote für Baumwolle und Baumwollstoffe werden nicht eingehalten; die meisten

Weben

Zeit

Spinnen

1740/41

Lewis Paul richtet Fabriken mit seinen Maschinen ein; die Produktion wird nach einigen Jahren eingestellt;

1747 1748 1760

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

Paul nimmt ein Patent auf eine Walzenkarde; bis der Schnellschütze wird dahin wurden die Fasern im Baumwollgewerbe mit einfachen Handkarden immer häufiger verwendet; für den Spinnprozeß vor­ bereitet.

2,5 Mill. Pfund Baumwolle werden in England importiert; 8-12 Radspinnerinnen müssen arbeiten, um einen Weber mit Schnellschützen mit Garn ver­ sorgen zu können; die Weber müssen oft mehrere Meilen laufen, um Garn von den Spinnerinnen ein­ zusammeln;

Stoffe werden in der länd­ lichen Hausindustrie her­ gestellt; Weber zerschlagen die neuen Webstühle von John Kay. Kay flieht nach Frankreich. Die Royal Society setzt einen Preis von 50 Pfund Sterling aus für den der eine Spinnvorrichtung erfindet, die mehrere Fäden gleichzeitig spinnt; der «Garnhunger» ist so groß, daß regelrechte Spinner­ dörfer entstehen; noch arbeiten 90 % der Europäer in der Landwirt­ schaft;

Zeit

Spinnen

um 1764

James Hargreaves hat die erste Spinning Jenny gebaut; mit ihr können zu­ nächst 8, später sehr viel mehr Fäden gleichzeitig gesponnen werden; Hargreaves verwendet die Urspindel, mit der nur abge­ setzt, d. h. zweiphasig fein­ gesponnen werden kann (Absetzspindel). Die Jenny ist eine Maschine der Haus­ industrie. Sie wird von Hand angetrieben und pro­ duziert Schußgarn; Richard Arkwright, ein Barbier und Hausierer, nimmt ein Patent auf die Water-Frame; mit dieser Flügelspinnmaschine, die kontinuierlich feinspinnt, können feste Kettgame her­ gestellt werden; sie ist für Wasserantrieb gebaut und von vornherein für die Fabrikproduktion vorgesehen;

1768 1769

Weben

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

James Watt verändert die atmosphärische zur echten Dampfmaschine (1768);

die ersten Jennies werden von aufgebrachten Spinnern zerschlagen; James Hargreaves zieht von Blackburn nach Nottingham; das Parlament verabschiedet ein Gesetz, das jedem die Todesstrafe androht, der Maschinen zerstört;

£

Zeit

Spinnen

1770

James Hargreaves nimmt ein Patent auf die Jenny; Arkwright errichtet seine erste Spinnfabrik in Cromford am Dervent; Verbesserung der WaterFrame durch die beweg­ liebe Schiene zur Führung des Fadens beim Auf­ wickeln;

1771

1772

Weben

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

1774

1775

1778 1779

Das Spinnverfahren ist erheblich produktiver als das Web­ verfahren; viele Weber können durch einen Maschinenspinner mit Garn versorgt werden;

Samuel Crampton hat Elemente der Jenny und der Water-Frame zur Mule vereinigt. Sie wird zunächst von Hand angetrieben;

Arkwright nimmt Patente auf eine durch Zuführtisch und Walzenroile verbes­ serte Walzenkarde, auf ein Streckwerk und auf die Latemenbank, eine Vor­ spinnmaschine; in den Arkwrigbtschen Fabriken ist der Vorspinnprozeß in einzelne Stufen zerlegt und mechanisiert;

das Verbot, reine Baumwoll­ stoffe herzustellen und zu bedrucken, wird aufgehoben; John Kay stirbt verarmt in Frankreich;

James Hargreaves stirbt in Nottingham; der von Blackburn zerstört alle von Göpeln oder Wasserrädern betriebe­ nen Spinnmaschinen.

Zeit

1780 1785 1786

1789 1792

Spinnen

Weben

es ist die erste Universal­ spinnmaschine, mit der Schuß- und Kettgame herstellt werden können; sie verwendet Absatz­ spindeln; 6,8 Mill. Pfund Baumwolle werden in England verarbeitet; Edmond Cartwright, ein Geistlicher, nimmt ein etwa 20000 Jennies werden erstes Patent auf einen mechanischen Webstuhl; in den Häusern der länd­ Fachbildung, Schuß­ lichen Hausindustrie und eintrag und Laden­ in kleinen Spinnereien anschlag werden von einem verwendet; Antrieb aus mechanisch ausgefiihrt;

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

von 1780 an entwickelt sich die Ludditenbewegung, eine Maschinenstürmer­ bewegung; Unabhängigkeit der USA (1783);

Kattundruckmaschine; die Dampfmaschine wird erstmals in der Baumwoll­ spinnerei eingesetzt;

E. Cartwright verwendet eine Dampfmaschine in seiner ersten mechanischen Weberei;

Richard Arkwright wird vom König geadelt (1786);

R. Arkwright stirbt als reicher Mann; er hinterläßt ein Vermögen von 500000 Pfund; werden auf den kontinentalen Messen angeboten;

8

Zeit

Spinnen

Weben

Baumwollentkörnungs­ maschine wird in den USA entwickelt (1793);

1793

1798

in den Spinnereien arbeiten 340000 Maschinen­ arbeiter (150000 Männer, 90000 Frauen und 100000 Kinder);

1800 1802

die Spindelzahl der Mule ist auf 400 erhöht worden;

1803

in den verschiedenen Arkwrightschen Unter­ nehmen arbeiten 30000 Arbeitskräfte;

1795

1805

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende technische und sozioökonomische Entwicklungen

Verbesserung des Handwebstuhles;

Maudslay baut die moderne selbsttätige Drehbank mit verbesser­ tem Support; die Webkette kann außerhalb des Web­ stuhls fertig geschärt und geschlichtet werden;

J. M. Jacquard entwickelt die Jacquard­ maschine, mit der komplizierte Muster vollmechanisch hergestellt werden können (Frankreich);

erster Weberaufstand in Schlesien (vgl. 1844). Cartwrights mechanische Weberei macht pleite; zunehmende Industrialisie­ rung des Machinenbaus; der Einfuhrzoll für Baum­ wolle wird in England aufgehoben; ein Ausfuhrverbot für Spinnereimaschinen wird in England erlassen; in den Textilzentren von Lancashire entstehen sechsbis achtgeschossige Fabriken; in England wird die indische Baumwolle zunehmend von der amerikanischen Baum­ wolle verdrängt; Entwicklung einer Textil­ maschinenindustrie; Verbot des Sklavenhandels durch die britische Regierung;

Zeit

Spinnen

1820

12 500 Kraftstühle und 240000 Handwebstühle werden in der englischen Produktion verwendet; bis 1825 Boom in der Handweberei, weil vielen die Einrichtung einer mechanischen Weberei noch zu risikoreich ist;

1825

1826

1830

1831

Weben

die Spindelzahl der Mule ist auf 1200 erhöht; Richard Roberts ent­ wickelt die Selfacting Mule (Absetzspinner); das Spinnverfahren ist damit automatisiert; in den USA wird für das kontinuierliche Verfahren eine verbesserte Spindel, die Ringspindel, ent­ wickelt;

allmählich setzt sich ein sehr verbesserter mechani­ scher Webstuhl in der Produktion durch;

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

viele mechanische Webstühle werden durch Ludditen zerstört;

die Verbrauchersteuer auf bedruckte Baumwollstoffe wird in England aufgehoben. Der Preis für mechanische Webstühle sinkt;

Zeit

Spinnen

Weben

1832 1833

auch die Wollweberei stellt auf mechanischen Betrieb um; in englischen Textilfabriken arbeiten 85 000 mechanische Web­ stühle; von ursprünglich 800000 Handwebem sind nur noch 200000 übrig­ geblieben;

1835

1842

1844

zunehmende Arbeits­ teilung in der Weberei; englische Spinnereien und Webereien sind mechanisiert und industrialisiert;

Entwicklung der Ring­ spinnmaschine zur Universalspinnmaschine, die weit produktiver arbei­ tet als der selfactor;

Whiteheads verbessert den mechanischen Webstuhl, so daß statt zwei jetzt drei Stühle von einem Weber bedient werden können;

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen erneute strenge Erlasse des englischen Parlaments, in denen Maschinenzerstörung zum Nationalverbrechen erklärt wird;

die ehemaligen ländlichen englischen Textilarbeiter arbeiten zu schlechten Be­ dingungen in den Fabriken oder sind total verarmt; Aufhebung des Export­ verbots für Textilmaschinen;

erneut Weberaufstände in Schlesien; allgemeiner Preissturz wirkt sich negativ auf den Lohn der Maschinen­ weber aus;

Zeit

Spinnen

Weben

Sonstige, mit Spinnen und Weben in Zusammenhang stehende, technische und sozioökonomische Entwicklungen

1850 1851

England verarbeitet mit 18 Mill. Spindeln mehr als die Hälfte der Weltbaumwollemte;

250000 mechanische Webstühle arbeiten in Großbritannien, 175000 davon allein in Lancashire

in Großbritannien gibt es 1900 Textil­ fabriken, davon sind 840 reine Spinne­ reien, die anderen kombinierte Spinnereien mit Webereien; etwa 50000 Handweber versuchen ihr Leben zu fristen;

1889

Northrop (USA) erfindet eine automatische Schuß­ spulenwechselvorrichtung;

1900

auf der Weltausstellung in Paris stellt die Fa. Rüti (Schweiz) vier Automaten­ webstühle mit elektrischem Antrieb vor;

1914-1918

die Kontinentaleuropäer fangen an, den englischen Vorsprung in der Textil­ industrie aufruholen;

der Ente Weltkrieg zerstört die bisher entwickelte europäische Industrie­ struktur;

Ringspinnmaschine und automatische Schützenwebma­ schine werden ständig verbessert und bleiben bis nach dem zweiten Weltkrieg die wichtigsten Arbeitsmittel in der Spinnerei und Weberei. Heutige Spinn- und Web­ produktionen sind im Vergleich zu anderen Produk­ tionsverfahren durch einen hohen Aufwand von Technik und Arbeit gekennzeichnet. Deshalb zielt die technische Forschung auf Vereinheitlichung der durch Verarbei­ tung verschiedener Fasern bedingten unterschiedlichen Spinn- und Webverfahren und auf Entwicklung ganz neuer Verfahren sowohl zur Faden- als auch zur Flächen­ herstellung. Das Open-end-Verfahren in der Spinnerei und Greiferwebmaschinen mit Greiferschützen, Düsen­ webmaschinen und Versuche mit sogenannten Wellen­ fachmaschinen in der Weberei sind Ergebnisse dieser Bemühungen. Die heutigen Arbeitsprozesse in Spinne­ rei und Weberei sind durch Automatenkontroile, weit vorangetriebene Arbeitszerlegung und belastende Ar­ beitsbedingungen (z. B. Faserflug, Lärm und Stress) ge­ kennzeichnet.

Frühe Textilproduktion für den eigenen Bedarf mit Handspindel und Gewichtswebstuhl

Spinnen und Weben sind sehr alte Techniken. Urgeschichtsforscher und Völ­ kerkundler kommen zu dem Schluß, daß sich diese Techniken entwickeln, sobald Menschen seßhaft werden und anfangen, Ackerbau und Haustierhal­ tung zu betreiben. Neben Nahrungspflanzen werden dann meistens auch bald Gespinstpflanzen (z. B. Flachs) angebaut, und es werden Tiere gehal­ ten, deren Wolle man verwerten kann. Schafe und Ziegen sind im Raum zwischen Donau und Main schon für die Jungsteinzeit, etwa ab 3500 v. Ch., nachgewiesen.2 Auch Flachs muß hier sehr früh angebaut worden sein; denn bei Ausgrabungen und jungsteinzeitli­ chen Pfahlbaudörfern wurden leinene Stoffreste gefunden. «Alle bekannten steinzeitlichen Gewebe bestehen aus Flachs (Lein), also aus den Fasern einer Kulturpflanze, und es liegen keinerlei Tatsachen für die Vermutung vor, daß bereits deren wildwachsende Ausgangsform zur Gewinnung von Gespinstfa­ sern benutzt worden ist. Vielmehr sind sehr wahrscheinlich Spinnen und We­ ben erst erfunden worden, nachdem im Laufe der Kulturentwicklung die Wirtschaftsstufe des Anbaus von Kulturpflanzen erreicht war, also zu Beginn der Jungsteinzeit.»3 Immer nach dem Seßhaftwerden scheinen die Menschen zu entdecken, daß man Pflanzenfasern und verschiedene Tierhaare für bestimmte Zwecke verwerten kann. Wenn man sie nämlich zusammendreht, sie drillt oder spinnt, erhält man lange Fäden (Abbildung5), und aus dem auf diese «künst­ liche» Weise gewonnenen Ausgangsmaterial lassen sich besser Schnüre, Bänder oder Stricke herstellen als aus dem bis dahin benutzten natürlichen Material. Die Menschen entdecken ebenfalls, daß man diese künstlichen «Schling­ pflanzen» (Fäden) auch verwenden kann, um wärmende oder schützende Stoffe herzustellen, wenn man die vom Zaunflechten (Abbildung 6) schon bekannte Verbindungstechnik benutzte, die im Verkreuzen von linearem Material besteht. Es kann aber auch umgekehrt gewesen sein: Aus Schling­ pflanzen wurden z. B. im Prinzip des Zaunflechtens Kleidungsstücke herge­ stellt, und dann wurde nach einer Methode gesucht, lange und bessere «Schlingpflanzen» selbst herstellen zu können. Jedenfalls lassen sich pflanzli­ che und tierische Faserproduktion und die dazu gehörenden ersten Arbeits­ mittel wie Handspindel und einfache Webgeräte in vielen Gesellschaften 31

5: Stufen im Spinnpro­ zeß. Fasern vor, während und nach dem Zusam­ mendrehen. Der fertige Faden ist hier allerdings überdreht, um den Vor­ gang der Verkürzung des Faserguts beim Verspin­ nen zu verdeutlichen.

sehr früh nachweisen. Alles deutet darauf hin, daß diese Arbeitsmittel nicht nur in einer Gesellschaft, sondern in vielen Gesellschaften immer wieder neu erfunden und entwickelt wurden. Solche frühen Geräte sind allerdings nicht erhalten. Sie wurden auf Grund verschiedener Informationen rekonstruiert und ausprobiert. Als Quellen kommen dafür in Betracht: - Funde von Geräteresten, - frühe bildliche Darstellungen, - alte, in abgelegenen Gegenden, z. B. Island, auch heute noch benutzte Geräte und - einfache, in noch wenig entwickelten heutigen Gesellschaften verwendete Geräte.

6: Beim Zaunflechten werden lineare Mate­ rialien (Pfähle und Wei­ denstöcke oder Reisig) miteinander verkreuzt. Dasselbe Prinzip wird beim Weben ange­ wendet. 32

Bei diesen Nachforschungen stellte sich heraus, daß in unserem Raum wohl schon in der Jungsteinzeit die frei hängende Handspindel und der senk­ recht stehende Gewichtswebstuhl verwendet wurden.

Spinnen mit der freihängenden Handspindel Als Vorform des Spinnens wird das Drillen angesehen. Dabei werden Fasern z. B. auf dem Oberschenkel zu einem Faserstrang gerollt. Zum eigentlichen Spinnen wird die Handspindel verwendet. Sie besteht aus einem Spindelstab und einem Spinnwirtel. Solche Wirtel und Spindelstäbe wurden bei Ausgra­ bungen gefunden (Abbildungen 7 bis 9). Die Wirtel sind meistens aus Ton, Knochen oder Stein. Solche aus Holz sowie die hölzernen Spindelstäbe sind in den meisten Fällen vermodert. In Mittel- und Nordeuropa wurden sorgfältig vorbereitete Fasern ohne Umweg über ein Vorgarn direkt zu fertigen Fäden versponnen. Der Vorgang

7: Spindel. Römische Handspindel. Spindelstab und Wirtel: Sie wurden in London gefunden.

8; Spindelstab. Ein Spindelstab aus Knochen, aus Tofting in Holstein: Er stammt aus dem 4. oder 5. Jahrhun­ dert n. Chr. 33

9: Spinnwirtel. Jung­ steinzeitliche Spinnwirtel aus gebranntem Ton: Sie wurden in Bodmann in Württemberg und in Rös­ sen im Kreis Merseburg ausgegraben. Sie können aus der Zeit zwischen 3500 bis 17000 Jahren v. Chr. stammen; denn etwa über diesen Zeitabschnitt erstreckte sich in Mittel­ europa die Jungsteinzeit.

des Spinnens spielte sich in seinen Grundzügen dann folgendermaßen ab: Das Spinngut, entweder Flachs, Wolle oder Hanf, wird zu einem Knäuel zusammengeballt, das man in der Hand halten kann, aber besser am Ende eines Holzstabes, dem sogenannten Rocken, befestigt. Um beide Hände frei zu haben, wird der Rocken unter den linken Arm geklemmt. Mit den Fingern zupft man einige Fasern aus dem Spinngut und drillt sie mit den Fingern zu einem kurzen Faden zusammen. Dieser wird am Ende des Spinnstabes befe­ stigt. Der Spinnwirtel wird von unten oder auch von oben auf den Spinnstab so weit aufgeschoben, bis er festsitzt. Am besten bleiben über dem Wirtel zwei Drittel der Spindellänge frei, damit der gesponnene Faden aufgespult werden kann. Der durch den Wirtel beschwerte Spindelstab der Spindel hängt nun frei an dem daran befestigten kurzen Faden von der linken Hand herab und wird mit den Fingerspitzen der rechten Hand in drehende Bewegung versetzt. Er dreht sich eine bestimmte Zeit, weil der Spinnwirtel dabei als Schwungmasse wirkt. Hört die Drehung auf, so wird die Spindel erneut mit der rechten Hand «angedreht». Inzwischen zupft die Spinnerin mit der linken Hand weitere Fasern aus dem Spinngut, und dadurch, daß das Herauszupfen und das InSchwung-Setzen der Spindel ständig wiederholt werden, drehen sich die Spinnfasern zu einem Faden zusammen. Die im Stehen spinnende Frau kann diese Herstellungsschritte so lange wiederholen, bis die sich drehende Spin­ del den Erdboden erreicht hat. Dann muß der Spinnvorgang unterbrochen werden, um den gesponnenen Faden von der Spitze des Spindelstabes abzu­ lösen und ihn auf die Spindel aufzuwickeln. Dann wird der Faden erneut mit einer Schlaufe an der Spindel befestigt, und das Spinnen wird in derselben Weise wie bisher fortgesetzt. Wird die Spindel durch fortgesetztes Aufspulen des gesponnenen Fadens so schwer, daß der Faden reißen könnte, so kann der Spinnwirtel abgenommen und so lange ohne diesen weitergesponnen werden, bis die Spindel voll ist. Wenn man keine andere Spinde) zur Verfü34

a)

b)

c)

10: Germanische Frau beim Spinnen mit der Handspindel. Der Spindel wird Fasergut zugeführt und mit Hilfe der Spindeldrehung verdreht. Beim Andrehen (a) können die Fasern nur mit einer Hand zugefühn werden. Während des freien Laufs der Spin­ del (b) werden beide Hände zum Zuführen benutzt. Wenn der Faden so lang ist, daß die Spindel den Boden berührt und sie sich deshalb nicht mehr frei drehen kann, muß der Spinnprozeß unterbrochen und der Faden aufgewickelt werden (c).

11: Details des Spinnens mit der Handspindel. Der Faden wird für den Spinnprozeß mit einer Schleife an der Spindel­ spitze (weit über dem Schwerpunkt) befestigt. Dadurch ist er so fixiert, daß sich die Spindel, oh­ ne hin und her zu wakkeln, gleichmäßig um die eigene Achse drehen und sich der bei fortgeschrit­ tenem Spinnprozeß schon aufgewickelte Faden nicht abwickeln kann (a und b). Die Spindel wird angedreht (c). 35

12: Rekonstruktion einer steinzeitlichen bewickelten Handspindel.

1

gung hat, muß der Faden von der Spindel abgewickelt werden, damit sie dann von neuem benutzt werden kann (Abbildungen 10 bis 12). Da bei dieser Art des Spinnens der Spinnvorgang für den Aufwickelvor­ gang ständig unterbrochen werden muß, spricht man von einem unterbro­ chenen oder abgesetzten Verfahren. Die Handspindel kann auch anders benützt werden. In Tibet wird sie z. B. heute noch in einer Schale angedreht. Dadurch hat sie keinen freien Lauf. Sie muß häufiger angedreht werden. Der Vorteil dabei ist allerdings, daß der entstehende Faden nicht durch das Spindelgewicht belastet wird. Manche Urgeschichtsforscher und Völkerkundler halten das Spinnen für eine der bedeutendsten Erfindungen der Urzeit, und zwar deshalb, weil da­ mit zum erstenmal die «... ununterbrochen nach einer Richtung gehende> Drehbewegung realisiert wurde, für die die damaligen Menschen kein natür­ liches Vorbild hatten; denn die Natur kennt - abgesehen von der Rotation der Weltkörper - die nach einer Richtung gehende Drehbewegung nicht. Am Menschen oder am Tier sehen wir nur das Gelenk oder den Wirbel. Beide haben aber eine begrenzte Drehbewegung.»4

Darstellungen früher und einfacher Spinnprozesse Abbildungen 13 bis 20 (sh. folgende Seiten) 36

13: Ägyptische Spinner aus der Zeit um 1900 v. Chr. Durch Drillen hergestelltes, so­ genanntes Vorgarn war zu einem Knäuel aufgewickelt und so Ausgangsmaterial für den Spinnprozeß. Offensichtlich wurden verschiedene Spinnmethoden benutzt. Von links nach rechts: Spinnen mit der in der einen Hand am Vorgarnstrang aufgehängten Handspindel; Spinnen durch Rollen der Spindel auf dem Oberschenkel; Spinnen mit einer an einer Astgabel aufgehängten Spindel, wobei beide Hände zum Drehen der Spindel frei sind; hochentwickelte Spinntätigkeit mit zwei Spindeln zur gleichen Zeit.

14: Spinnerin und Weberin auf einer eisenzeitlichen Urne aus Ungarn aus der Zeit zwischen 2000 und 500 v. Chr. (links Detail, rechts Gesamtansicht).

15: Die griechische Spin­ nerin aus dem 5. Jh. v. Chr. benutzt eine Hand­ spindel und einen kurzen Rocken, der wahrschein­ lich mit Vorgarn bewikkelt ist.

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16: Die italienische Spin­ nerin aus dem 11. Jh. n. Chr. spinnt mit derselben Methode wie die griechi­ sche auf Abbildung 15, obwohl 1500 Jahre dazwi­ schen liegen. Hier ist deutlich zu sehen, daß auf den Rocken Vorgarn auf­ gewickelt ist.

17: Diese französische Spinnerin aus dem 13. Jh. benutzt einen langen Rocken, der unter den Arm geklemmt werden kann. Dadurch sind wäh­ rend des Spinnprozesses, immer wenn die Spindel gerade nicht angedreht werden muß, zwei Hände frei, um das Fasergut zu­ zuführen. Es ist deshalb möglich, gut vorberei­ tetes Fasergut direkt zu verspinnen, ohne daß es vorher zu Vorgarn ge­ dreht werden muß. Auf diese Weise fällt eine Stu­ fe im Vorbereitungspro­ zeß des Fasergutes, näm­ lich die Herstellung des Vorgarns, weg. 38

18: Im allgemeinen wer­ den die einfach gesponne­ nen Fäden nicht unmittel­ bar verwendet. Schon im alten Ägypten wurden noch einmal mindestens zwei Fäden mit Hilfe ei­ ner Spindel zusammenge­ dreht. Diesen Vorgang nennt man Zwirnen.

19: Zwirn mit S- oder Z-Drehung. Die Zwirne werden entgegengesetzt zur Fa­ dendrehung verzwirnt, weil bei nicht festgehaltenen Fadenenden der Drall zum Zurückdrehen des einfachen und des verzwirnten Fadens einander entge­ gengesetzt ist und der gezwirnte Faden auf diese Weise stabilisiert werden kann. Wenn die Fäden links herum verspon­ nen sind, werden sie folglich rechts her­ um verzwirnt. Dadurch entsteht ein S-gedrehter Zwirn. Wenn die Fäden rechts herum versponnen sind, werden sie links herum verzwirnt. Dadurch ent­ steht ein Z-gedrehter Zwirn.

39

20: In Entwicklungslän­ dern, hier in Nordkame­ run, oder sonst auch in ländlichen Gebieten schon industrialisierter Länder, z. B. in Grie­ chenland, wird die jahr­ tausendealte Methode des Spinnens mit der Handspindel auch heute noch verwendet.

Weben am Gewichtswebstuhl Weben bedeutet, zwei verschiedene Fadensysteme miteinander zu verkreuzen. Dazu braucht man parallel zueinander gespannte Fäden, in die andere Fäden quer eingebracht werden können. Am einfachsten ist es, auf einen rechteckigen Rahmen Längsfäden aufzuziehen und die Querfäden wie beim Stopfvorgang einzubringen. Das ist allerdings sehr mühsam und auch nicht das, was als entwickeltes Weben, als Vollweberei, bezeichnet wird. Das Charakteristikum des entwickelten Webvorgangs ist die sogenannte mechanische Fachbildung. Unterschiedliche Fadengruppen der Längsfäden, der sogenannten Kettfäden, werden gleichzeitig angehoben oder gesenkt. In den dadurch entstehenden Zwischenraum, das sogenannte Fach, wird ein Querfaden eingeschossen. Der Querfaden wird deshalb als Schußfaden be­ zeichnet. Im Grundvorgang des Webens wird das jeweilige Gegenfach zum Fach dadurch, daß die vorher angehobenen Fäden gesenkt und die vorher gesenkten Fäden angehoben werden. Wieder wird ein Schußfaden einge­ bracht. Schußeintrag in Fach und Gegenfach geschieht in ständigem Wechsel. 40

Zum Anheben der verschiedenen Fadengruppen werden weitere Hilfsmit­ tel gebraucht, wenn man noch eine oder auch zwei Hände frei haben will, um den Schußfaden einbringen zu können. Im Grundvorgang des entwickelten Webverfahrens kommt es also darauf an, Fach und Gegenfach durch Hilfs­ mittel, also mechanisch, in ständigem Wechsel herstellen zu können. Durch die in Abbildung 21 übertrieben dargestellte Fachbildung wird noch ein an­ deres Problem deutlich: Wenn die Kettfäden am Anfang und Ende an einem Rahmen festgehalten werden, werden sie bei der Fachbildung sehr stark be­ ansprucht. Es ist leicht vorstellbar, daß deshalb nur sehr feste Game als Ket­ te benutzt werden können. Das erste große, in Europa entwickelte Webgerät war aller Wahrschein­ lichkeit nach der sogenannte senkrecht stehende Gewichtswebstuhl (Abbil­ dung 22). Er ermöglicht mechanische Fachbildung. Seinen Namen erhielt der Webstuhl von den Gewichten aus Ton oder Stein, die die Kettfäden straff halten. Aus der Rekonstruktion eines solchen

21: Fachbildung und Schußeintrag sind zentra­ le Probleme im Webver­ fahren. Mit Hilfe eines einfachen Rahmens, auf den Längsfäden, im Web­ verfahren sogenannte Kettfäden, aufgespannt werden, kann man we­ sentliche Prinzipien ver­ anschaulichen: Numeriert man die Kettfäden von 1 bis n durch, werden bei­ spielsweise zuerst alle Fä­ den mit gerader Zahl ge­ meinsam angehoben. In den so zwischen den Fa­ denanlagen entstandenen Zwischenraum, in das so­ genannte Fach, werden Querfäden eingebracht und mit möglichst hoher Geschwindigkeit durch­ geworfen oder durch «ge­ schossen», weshalb sie auch Schußfäden genannt werden. Danach wird gewechselt: Alle Fäden mit gerader Zahl werden heruntergelassen, und alle Fäden mit ungerader Zahl werden nun angehoben; und in dieses andere Fach, das Oegenfach, wird wieder ein Querfaden, ein Schußfaden, eingeschossen. Dieses geschieht in ständigem Wechsel. 41

Webstuhles ergab sich folgende Funktionsweise: Die beiden Stützen, die am oberen Ende in eine kräftige Gabel auslaufen, tragen einen Ouerbaum, den sogenannten Tuchbaum. Eine besondere Leiste mit kleinen Einschnitten, die an diesem Tuchbaum angebracht ist, ermöglicht die Befestigung der Ket­ te mit ihrem Gewebeanfang. Die Spannung der Kette wird durch die am Ende der Kettfäden angebundenen Gewichte reguliert. Die Fachbildung am Gewichtswebstuhl ist am besten in der Seitenansicht (Abbildung 23a, b und c) zu erkennen. Die herabhängenden Kettfäden sind in zwei Gruppen mit geraden und ungeraden Zahlen geteilt. Zwischen diesen beiden Gruppen liegt ein Stab (A), derTrennstab. Durch Schrägstellung der beiden seitlichen Stützen des Gewichtswebstuhls gegen zwei Stämme oder eine Wand trennt sich die eine Kettfadengruppe von der anderen. Die eine wird durch den Trennstab gehalten, die andere nicht. Auf diese Weise ent­ steht ein Fach (B). das sogenannte natürliche Fach (Abbildung 23a und b).

22: Senkrecht stehender Gewichtswebstuhl, ein frühes europäisches Webgerät. Sei­ nen Namen hat dieser Webstuhl von den Gewichten aus Stein oder Ton, die die Kett­ fäden beschweren und straff halten. Die Bezeichnung Web«stuhl» ist eigentlich für dieses Gerät nicht zutreffend. Erst spätere Konstruktionen sind ... «Stühle», weil man beim Weben im Webstuhlgestell sitzt. Wie so häufig wird die heute zutreffende Bezeichnung auf ältere, ganz andere Konstruktionen unbedacht angewandt. Eigent­ lich müßte hier vom Gewichtswebstand gesprochen werden. 42

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23: Fachbildung beim Gewichtswebstuhl. a) Wenn der Webstuhl senkrecht steht, hängen die beim Aufziehen der Kette gebil­ deten Fadengruppen jeweils senkrecht, so daß kein Fach (Zwischenraum) dazwi­ schen entstehen kann. b) Wenn der Webstuhl schräg gestellt wird, bildet sich ein sogenanntes natürliches Fach, weil der Trennstab (A) die eine Fadengruppe zurückhält, die andere Faden­ gruppe durch die Gewichte aber in die Senkrechte gezogen wird. c) Mit Hilfe des Litzenstabes (C) werden die ursprünglich senkrecht hängenden Kett­ fäden hochgezogen, so daß ein künstliches Gegenfach (D) gebildet wird.

weil es ohne zusätzliche Hilfsmittel nur durch Schrägstellung des Rahmens entsteht. Das zweite Fach, das Gegenfach, wird nun mit Hilfe eines sogenannten Litzenstabes (C) gebildet. Jeder einzelne Faden der nicht durch den Trenn­ stab nach oben gehaltenen Kettfadengruppe ist mit einer Schlinge, einer Lit­ ze, an einen Stab gebunden. Wird dieser nun in die dafür vorgesehene Astga­ bel gelegt (Abbildung 23c), werden diese Kettfäden durch die Kettfäden der anderen Fachgruppe hindurch nach vorn gezogen (Abbildung 24), so daß das Gegenfach (D) entsteht, das sogenannte künstliche Fach.

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24: Mit Hilfe des Litzenstabes wird beim Gewichtswebstuhl das für das Webver­ fahren notwendige zweite Fach, das Ge­ genfach, gebildet. Die einzelnen Fäden der zweiten Fadengruppe laufen durch sogenannte Litzen (Fadenschlaufen). Diese sind an einem Stab (Litzenstab) festgebunden. Wenn der Litzenstab an­ gehoben wird, werden die Fäden der zweiten Fadengruppe zwischen denen der ersten Fadengruppe so weit durchge­ zogen, bis sich ein größerer Zwischen­ raum zwischen den beiden Fadengrup­ pen, hier das Gegenfach, bildet.

Der Schußfaden kann also in beiden Richtungen durch Fach und Gegen­ fach gut in die Kette eingebracht und muß in keiner Richtung durch ein lang­ wieriges Auf, Ab, Auf, Ab usw. eingestopft werden. Er scheint oft auch ohne Zuhilfenahme zusätzlicher Geräte eingebracht und angeschlagen worden zu sein: «Der auf eine Spule gewickelte Schußfaden wird im geöffneten Fach von Hand zu Hand gereicht und auf diese Weise durch die ganze Stoffbreite hindurchgeführt. Die flach gehaltenen Hände schlagen den Schußfaden an. Man könnte zu der Annahme gelangen, daß mit den Händen eine weniger feste Bindung erzielt wurde als beim Gebrauch des sogenannten Webschwer­ tes. (In vielen einfachen Webstühlen wird zum Fadenanschlag ein schwert­ ähnlich geformtes Holz benutzt, vgl..Abbildung 29a; d. V.). Doch ich habe festgestellt, daß es gerade die Hände sind, die dieser Arbeit eine vorzügliche

25: Germanische Frau beim Weben am Gewichtswebstuhl: Jedes Webverfahren be­ steht aus zwei grundlegenden Phasen: der Einbringung des Schußfadens von rechts nach links (a-c) und der Einbringung des Schußfadens von links nach rechts (d-f). In der ersten Phase (von rechts nach links) muß zuerst der Litzenstab angehoben und in die Haltegabel eingelegt werden (a). Jetzt kann das Garnknäuel von rechts durch das künstliche Fach nach links durchgegeben werden (b). Dann wird der Faden mit den Händen oder mit einem Holzstab an die schon vorher eingebrachten Schußfäden an­ geschlagen (c). In der zweiten Phase passiert dasselbe, nur in umgekehrter Richtung: Der Litzenstab wird wieder angehoben (d). Diesmal gleitet er allerdings auf der Hal­ tegabel entlang auf den Rahmen zurück. Die Kettfäden werden durch die Webge­ wichte glattgezogen, und das natürliche Fach ist gebildet. Nun kann das Garnknäuel von links nach rechts durch das neu gebildete Fach hindurchgereicht werden (e). Der neu eingebrachte Faden wird wiederum an gen Stoffanfang angeschlagen (f). Die bei­ den grundlegenden Phasen «Schußeintrag von links» und «Schußeintrag von rechts» sind also noch einmal in drei Abschnitte unterteilt, in: Fachbildung, Schußeintrag und Fadenanschlag.

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Übersicht geben und die Tätigkeit am senkrechten Gewichtswebstuhl spie­ lend ausführen können.»1 Weitere technische Raffinessen dieses Webstuhls sind der als Welle ausge­ bildete Tuchbaum (vgl. Abbildung 22) und die eigentlich auch natürlich zu nennende elastische Kettspannung: - Wenn der Webende so weit gewebt hat, daß er sich beim Schußeintrag bücken muß, kann das schon gewebte Stück Stoff durch Umdrehung des Tuchbaums aufgewickelt und die u. U. auf den Webgewichten aufgewikkelte Kette ein Stückchen abgewickelt werden. In der Weise kann so lange weiter vorgegangen werden, bis das Stoffstück, dessen Länge durch die Länge der Kette vorgegeben ist, fertiggestellt ist.

d)

e)

f)

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26: Webstuhlgewichte aus ge­ branntem Ton. Sie stammen aus einem germanischen Haus aus dem 2. Jh. n. Chr. (Eisen­ zeit) und sind so aufgezeichnet, wie sie bei Ausgrabungen ge­ funden wurden.

27: Jungsteinzeitliche Webge­ wichte aus gebranntem Ton um 3500-1700 v. Chr. aus Roben­ hausen im Kanton Zürich.

- Die elastische Kettspannung ergibt sich dadurch, daß die Webgewichte bei der Fachbildung angehoben werden können. Die Kettfäden werden nur durch das Gewicht der Steine, aber nicht zusätzlich durch die Fachbildung auf Dehnung beansprucht, denn sie werden ja nicht am Gestell festge­ halten. Auf dem Gewichtswebstuhl können schmale, breite, grobe und auch feine Stoffe gewebt werden (Abbildung 25 a bis f), so daß im alten Europa keine anderen Webstuhlkonstruktionen notwendig waren. Den Gewichtswebstuhl hat es hier auf jeden Fall schon in der Jungsteinzeit gegeben. Das beweisen Funde von Webgewichten (Abbildung 26 und 27). Ob auch andere, flache Webstühle verwendet wurden ist nicht nachzuweisen. Es muß aber nicht aus­ geschlossen werden. 46

Darstellungen früher und einfacher Webgeräte Alle frühen Webgeräte gleichen sich im «eigentlichen» Webprozeß: Fachbil­ dung, Schußeintrag und Fadenanschlag. Dessen Realisierung und die Ge­ samtkonstruktion der Geräte sind allerdings unterschiedlich.

Ägyptische Webstühle aus verschiedenen Zeiten In Ägypten wurden, wie überlieferte Darstellungen zeigen, flache und senk­ rechte Webstühle verwendet (Abbildung 28 bis 31).

28: Flachwebstuhl. Früheste ägypti­ sche Darstellung eines Webrahmens (4400 v. Chr.) auf einer Tonschüssel. Bei der oberen Ritzzeichnung han­ delt es sich wahrscheinlich um ein Gestell, auf dem Faserbüschel oder Fadenbündel aufgehängt sind. Das Webgerät darunter bestand aus zwei Stangen, die mit Pflöcken im Erdbo­ den befestigt und zwischen denen Kettfäden gespannt wurden. Die Querstriche in der Kette müssen Stäbe sein, die zum Ordnen der Kettfäden in die Kette einge«stopft» wurden. Solch ein Gerät konnte überall ohne große Mühe aufgestellt werden und war deshalb für Nomaden sehr brauchbar.

29: Flachwebstühle aus Ägypten aus der Zeit um 1900 v. Chr. Der linke Webstuhl scheint senkrecht zu stehen (a). An der Konstruktion ist allerdings sichtbar, daß er genauso gebaut ist wie der in der Abbildung 28 und wie der nebenstehende (b). Zwei Querstangen sind mit Pflöcken in die Erde gerammt, und dazwischen sind die Kettfä­ den gespannt. Ein senkrecht stehendes Webgerät brauchte einen Rahmen, also auch seitlich senkrecht stehende Ständer (vgl. Abb. 30). Die beiden Frauen (a) benutzen eine breite Stange, das sogenannte Webschwert, um die Schußfäden anzuschlagen. Der Mann (b) hebt wahrscheinlich einen Litzenstab zur Bildung eines Faches. 47

30: Ägyptische Webstüh­ le aus der Zeit um 1500 v. Chr. An dem voll ausge­ bildeten Rahmen sind sie als Senkrechtwebstühle zu erkennen (vgl. Abb. 29). Es wird von unten nach oben gewebt, anders als beim europäischen Gewichtswebstuhl (vgl. Abb. 22).

31: Waagerechter Ge­ wichtwebstuhl. In dieser ägyptischen Konstruktion sind Elemente des waage­ rechten Webstuhls und des senkrechten Web­ stuhls miteinander ver­ bunden: Die Kette ist waagerecht zwischen zwei Bäumen gespannt. Sie wird aber um den Kett­ baum herumgeführt und durch einen Stein in ela­ stischer Spannung ge­ halten.

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Griechische und römische Wehslühle

Hei den griechischen Darstellungen handelt es sich uni Gewichtswebstühle (Abbildung 32 und 33). Der römische Webstuhl (Abbildung 34) ist genauso konstruiert wie die ägyptischen in Abbildung 30. Diese Konstruktion wird auch heute noch beim Gobelinwebstuhl verwendet.

32: Textilarbeit in Griechenland. Vasenbild aus dem b. .111. v. Chr.

.33: Griechischer Gewichtswebstuhl Vasenbild aus dem 4. Jh. v. ('hr

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34: Römischer Senkrecht­ webstuhl aus dem 4. Jh n. Chr.

Weben bei Naturvölkern und in Entwicklungsländern In manchen Ländern werden auch heute noch sehr einfache Webmethoden verwendet (Abbildung 35 und 36). Die Darstellungen ermöglichen es, sich die Arbeitsweise genauer vorzustellen.

35: Dieser Weber aus Nordkamerun webt noch im Jahre 1964 nach uraltem, einfa­ chem Verfahren (vgl. Abb. 28 und 29).

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36: Navajo-Indianerin beim Weben. Der Web­ stuhl gleicht den ägypti­ schen Webstühlen in Abbildung 30.

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Lebenssituation im alten Europa Man könnte sich noch mit sehr vielen Problemen, auch schon der steinzeitli­ chen Spinn- und Webtechnik, beschäftigen. Aber es soll hier nicht um alle technischen Einzelheiten gehen, sondern es soll weitergefragt werden: In welcher Gesamtsituation wurden Kleidungsstücke auf diese Weise produ­ ziert; von wem und in welcher Arbeits- und Lebenssituation? Was bedeutete diese Produktion für die Menschen? Wie gingen sie mit ihr um? Welche An­ lässe führten zu Veränderungen und zur Weiterentwicklung? Die Lebensweise in den frühen bäuerlichen Gesellschaften muß in Europa aus archäologischen Funden rekonstruiert werden. Erst aus römischer Zeit gibt es auch schriftliche Darstellungen über die Lebensweise der Völker nördlich der Alpen. Die meisten Menschen in diesem Raum haben von der Jungsteinzeit an, ähnlich wie zur Zeit der Auflösung des Römischen Reiches und auch noch später, in dörflichen Siedlungen oder auf Einzelhöfen gelebt. Aus ursprünglich gemeinsamem Sippenbesitz und vorrangig gemeinsamer Arbeit in der Urzeit bildete sich allmählich in der Phase der Seßhaftwerdung privater Besitz heraus. Wichtig ist dabei vor allem die Entwicklung des Pri­ vatbesitzes an Grund und Boden. Dieser wurde von den Familien und bei den höher gestellten Gesellschaftsmitgliedem von dem zur Haus- und Hofge­ meinschaft gehörenden Gesinde bearbeitet. Im wesentlichen versorgten sich diese Haus- und Hofgemeinschaften selbst; d. h. die meisten Gebrauchsgüter für den eigenen Bedarf wurden innerhalb dieser relativ kleinen oder erwei­ terten familiären Produktionseinheiten hergestellt. Bei der Fertigung einiger Produkte, z. B. bei der Salzgewinnung, in der Eisenverarbeitung oder in der Töpferei, bildeten sich zwar auch schon früh handwerkliche Spezialisierungen und andere Produktionsformen heraus, aber Textilprodukte wurden in der frühen Zeit eigentlich immer für den eige­ nen Gebrauch, d. h. innerhalb der Haus- und Hofgemeinschaften, herge­ stellt. Nur in dem Maße, wie die wenigen handwerklichen Spezialisten, die sich ihre Textilien ja nicht mehr selbst machen konnten, aus der bäuerlichen Überschußproduktion mitversorgt werden mußten, wurde für den Tausch produziert. In jeder der kleinen Produktionseinheiten mußte also eine Fülle von verschiedenen Arbeiten ausgeführt werden. Allein in der Textilproduk­ tion waren es, je nachdem, ob Wolle oder Leinen verarbeitet wurde: Roh­ stoffgewinnung in je spezifischer Weise, Vorbereitung zum Spinnen, Spin­ nen, Vorbereitung zum Weben, Weben, Nachbehandlung und Verarbeitung der Stoffe. Fast alle dazu gehörenden Tätigkeiten waren Frauenarbeiten, denn auf Grund einer natürlichen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau übernahmen Frauen eigentlich immer die Arbeiten, die sich mit der Kinder­ aufzucht am besten vereinbaren ließen. Sie machten deshalb in den meisten frühen Gesellschaften, bis heute kaum verändert, vorrangig Arbeiten, die im Haus verrichtet werden, und von den Arbeiten außerhalb des Hauses wohl

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vor allem die, bei denen Kinder ohne Schwierigkeiten beaufsichtigt werden können. In den noch früheren Jäger- und Sammlergesellschaften jagten z. B. die Männer, und die Frauen sammelten Früchte. Im frühen Europa ist Textil­ produktion jedenfalls Frauensache. Die Männer übernahmen nur besondere Arbeiten, etwa das Walken, das Stampfen schwerer Wolltuche zur Verdich­ tung des Gewebes. Wahrscheinlich war auch die Herstellung der Geräte eher Männersache. Mit dieser Zuordnung verbindet sich auch die Wertung der Tätigkeiten. «Die Wertschätzung des altgermanischen Handwerkers ... richtet sich nicht zum wenigsten danach, ob das, was er treibt, nur Männerwerk ist, oder ob auch weibliche Kräfte dafür verwendbar sind. Das letztere geschieht bei den meisten der Hausgewerke, die der Nahrung oder Kleidung dienen. Neben dem Mühlenknecht zeigt sich, solange das Mahlen als Handbetrieb geht, die Mühlenmagd, und erst seitdem die Mühle ein mechanisches Getriebe gewor­ den, tritt der gewerkliche Müller auf; dem Bäcker steht die Bäckerin zur Seite, das Weben ist mehr Frauen- als Mannessache,... ebenso das Anferti­ gen der Kleidungsstücke.» Wolle kämmen galt z. B. als «verächtliches Mannsgewerbe». Ein König namens Charibert schämte sich so, als er er­ kannte, daß der Vater seiner Geliebten ein Wollarbeiter war, daß er sie des­ halb verstieß.6

Wolltuchproduktion bei den Germanen Wie kann die Textilproduktion in dieser Lebenssituation konkret ausgese­ hen haben? Eine Vorstellung davon soll an Hand der Wolltuchproduktion bei den Germanen, die ursprünglich den Norden Europas bewohnten, entwickelt werden. Drei Gründe sprechen dafür: - Die Wolltuchproduktion ist nach Ansicht der Urgeschichtsforscher bei den Germanen hoch entwickelt. - Wolle ist neben Flachs eine der Naturfasern, die im frühen Europa verar­ beitet wurden. - Die vorhandenen Quellen geben genügend Aufschluß. Im germanischen Norden Mitteleuropas wurde in der vorrömischen und römischen Zeit wohl vor allem wegen des Klimas vorrangig Wolle verarbei­ tet. Schafhaltung war weit verbreitet. Zwar wurden auch Gespinstpflanzen angebaut, z. B. Lein, aber wahrscheinlich nur, um öl daraus zu gewinnen, denn die Leinstengel-Funde «... zeigen, daß sich die Fasern zum Spinnen wenig eigneten»7. Außerdem sind in den germanischen Ausgrabungsstätten fast nur Wollstoffe und wollene Kleider gefunden worden. Eine wichtige Ar­ beit der germanischen Frauen muß also die Wollverarbeitung gewesen sein. Das waren aber keineswegs die einzigen Frauenarbeiten. Außer der sowieso

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weiblichen Beschäftigung mit den Kindern war es wahrscheinlich auch Auf­ gabe der Frauen, Gartenfrüchte anzubauen, das Getreide zu ernten und wei­ terzuverarbeiten, verwertbare wildwachsende Pflanzen zu sammeln, Nah­ rungsmittel zu konservieren und zuzubereiten, das Stallvieh zu versorgen und sicher noch manches andere. Aus der Aufzählung wird deutlich, daßTextilarbeit nur eine unter anderen wichtigen Frauenarbeiten war und schon deshalb kaum dauernd ausgeführt werden konnte. Bis auf die Wollgewinnung wurde sie im Jahresverlauf wahr­ scheinlich immer dann eingeschoben, wenn keine landwirtschaftlichen Ar­ beiten drängten, meistens wohl als «Saisonarbeit» im Winter. Das kann auch daraus geschlossen werden, daß Textilarbeit noch in viel späteren Zeiten eine typische bäuerliche Winterbeschäftigung war. Wenn man sich klar­ macht, daß außer Woll- auch weiterhin Fellkleidung getragen wurde und wahrscheinlich nicht mal alle Familienmitglieder je zwei von den gebräuchli­ chen Kleidungsstücken besaßen, wird es auch kaum Anlässe gegeben haben, die wichtigsten Textilarbeiten nicht auf den Winter zu verschieben. Zur Herstellung von Wolltuchen mußten verschiedene Arbeitsschritte nach­ einander ausgeführt werden: - Ausraufen und Auszupfen der Wolle Das geschah im Frühjahr oder Frühsommer, wenn sich der langhaarige Winterpelz der Schafe von selbst abzulösen begann. Von der Eisenzeit an war diese Arbeit erleichtert, weil die Schafe nach Erfindung der Schere geschoren werden konnten. - Sortieren Die frühen Schafsorten hatten glänzendes, steifes Oberhaar (Deckhaar) und feines Unterhaar. Um festes Kett- und weicheres Schußgarn herstel­ len zu können, wurden diese beiden Bestandteile voneinander getrennt. - Waschen Die sortierte Wolle war noch vom Fettschweiß der Schafe verdreckt und verklebt. Sie mußte daher gewaschen, gespült, getrocknet und danach ge­ lockert werden. - Lockern Das Lockern geschah durch Zupfen und durch Kratzen mit einfachen Kratzgeräten. - Spinnen Das Fasergut mußte zu Kett- und Schußfäden verdreht werden. - Aufbringen der Kette Der nächste Schritt innerhalb der Stoffherstellung ist das sogenannte Kett­ schären (Fadenschar herstellen) und Aufbäumen der Kette. Es kommt dabei darauf an, die Kettfäden in gleicher Länge und in gleichmäßigem Abstand voneinander auf den Webstuhl aufzubringen. Dabei wurden ver­ schiedene Verfahren verwendet. Entweder konnte die Kette direkt auf

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den Webstuhl aufgebracht werden, oder ein spezielles Gerät, der söge* nannte Schärbock, wurde benutzt. Bei beiden Verfahren wurde, im Ge­ gensatz zu heute, eine feste Anfangskante hergestellt. Diese war notwen­ dig, um die die Kette beschwerenden Webgewichte auszuhaiten. Sie dien­ te gleichzeitig dazu, die Kettfäden zu ordnen. Bei beiden Verfahren wur­ den die geraden und die ungeraden Kettfäden von vornherein voneinan­ der getrennt. - Spulen In der Webvorbereitung fehlt nun nur noch das Abwickeln des gesponne­ nen Garns auf Knäuel oder Spulen für den SchuBeintrag. Möglicherweise wurden aber auch die bewickelten Spindelstäbe durch das Fach hindurch­ gereicht. - Weben Durch Fadenverkreuzung wird eine textile Fläche hergestellt. - Walken Der Stoff wird im kalten oder wannen, manchmal mit Zusätzen versehe­ nen Wasser mit den Füßen gestampft, um das Gewebe zu verdichten. Bis auf Ausraufen, Auszupfen, Waschen und Walken haben die winterli­ chen Textilarbeiten wohl im Wohnraum des germanischen Wohnstallhauses stattgefunden, wahrscheinlich nicht im Nacheinander der als notwendig auf­ einander folgend beschriebenen Arbeitsschritte, sondern eher parallel zuein­ ander. Mitglieder der Hausgemeinschaft, meistens Frauen und bei leichten

37: Webhäuschen. Auf Grund der gefundenen Pfostenlöcher wurden diese Grund­ risse von Webhäuschen in einer früheisenzeitlichen Siedlung bei Neresheim rekon­ struiert; ein Beweis dafür, daß in Europa häufig in gesonderten Räumen gewebt wur­ de. Das war wahrscheinlich immer dann der Fall, wenn Flachs verarbeitet wurde, der In Räumen, die in der Erde lagen oder einen Erdfußboden hatten, besser feucht ge­ halten werden konnten. 55

38: Ritzzeichnung auf einer eisenzeitli­ chen Urne aus Ödenburg-Sopron in Un­ garn. Die Weberin arbeitet an einem Webstuhl, dessen Kette mit den Ge­ wichten weit unter dem Standplatz der Frau hängt. Wahrscheinlich steht sie an einer Webgrube (Erdgrube), in die die Kette hineinhängt, um feucht zu bleiben (vgl. auch Abb. 14).

Arbeiten auch Kinder, können nebeneinander mit Sortieren, Lockern, Zup­ fen, Spinnen und Weben beschäftigt gewesen sein. Gewebt wurde allerdings auch schon sehr früh in besonderen Webstuben oder in Webhäuschen. Das geht aus Ausgrabungen z. B. bei Neresheim her­ vor (Abbildung 37). Diese Arbeitsräume zum Weben wurden teilweise di­ rekt in die Erde hineingebaut, so daß regelrechte Webkeller entstanden. Dies gilt mit Sicherheit für die mittelalterliche oberdeutsche Leinen- und Barchentweberei, aber offenbar auch schon für die römische Zeit. (Barchent ist ein Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle, das vom 14. Jh. an zuerst in Süddeutschland, dann in ganz Mitteleuropa hergestellt wurde.) Die römi­ schen Schriftsteller Tacitus und Plinius berichten darüber, daß Leinenstoffe von den Germanen in Erdhütten gewebt wurden.8 Wahrscheinlich war diese bauliche «Spezialität» von Anfang an mit der Flachsverarbeitung verbunden. Flachs bleibt nur bei relativ hoher Luftfeuchtigkeit einigermaßen geschmei­ dig, und die liegt in unterirdischen Räumen natürlicherweise relativ hoch. Die Abbildung auf der eisenzeitlichen Urne aus Ungarn (Abbildung 38) scheint auf solch eine Erdgrube beim Weben hinzuweisen. Das wäre ein Nachweis dafür, daß schon sehr früh auf diese Weise gearbeitet wurde.

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Charakteristik der frühen Spinn* und Webarbeit Spinnen und Weben waren Tätigkeiten im textilen Herstellungsprozeß, die schon zu Beginn der Textilproduktion viele Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangten. Um die Spinnarbeit mit der frei hängenden Hand­ spindel genauer einschätzen zu können, wurde der Zusammenhang von Ar­ beitsgerät, Arbeitstätigkeit und Produkt mehrfach untersucht. In diesen Un­ tersuchungen wird deutlich, daß die Arbeitstätigkeit sowohl durch die Laüfzeit (Zeit bis zum Stillstand der Spindel nach einmaligem Andrehen) als auch durch die Frequenz der Spindel (durch die Umdrehungszahl pro Zeiteinheit) ¡bestimmt wird. Für die Spinnerin müßte es, wenn man sich den Spinnprozeß ansieht, einerseits wichtig sein, daß eine Spindel möglichst lange läuft, weil [die Spinnerin dann nicht so oft andrehen muß. Andererseits müßte eine hohe Frequenz der Spindel von Vorteil sein, weil die entstehenden Fäden dann schnell mit den gewünschten Drehungen versehen werden können. Um Spin­ deleigenschaften und deren Wirkungen kennenzulemen, wird im folgenden die Funktion von vier verschiedenen Handspindeln beschrieben (Abbildung 39). Zur Ermittlung der möglichen Spinndrehzahl wurden mit allen Spindeln jeweils zwei feine Fäden zusammengedreht. Bei diesem Versuch wurden die Drehzahlen der Spindeln in einem festgelegten Zeitabschnitt von 6 Sekun­ den sowie die absoluten Drehzahlen und Laufzeiten bei einmaligem Andre­ ren ermittelt (Tabelle 1). Auf Grund dieser Ergebnisse konnten dann die mit diesen Spindeln zu erzielenden Spinnleistungen berechnet werden (Tabelle 2)Umdrehungen und Laufzeit bei einmaligem Andrehen

SpindelNr.

Gewicht

Um­ drehungen in 6 Sek.

Frequenz (Umdre­ hungen pro Minute) bei jeweils neuem Andrehen nach 6 Sekunden

1

27 g

180

1800

23 g

210

2100

40 g

160

1600

3

15g

250

2500

1050 im 55 Sek.

4

4g

360

3600

2450 in 12 Sek.

700 in 45 Sek.*

-

1 Der kürzere Lauf der schwereren Wollspindel wird daran liegen, da& Wollfasem - zumal die vielen bei der Herstellung eines dickeren Gams - der Drehung mehr Widerstand entgegensetzten.

Tabelle 1 57

Spindel Nr. 1 ist 27 g schwer, hat einen Spindelstab von 6,5 mm Durchmes­ ser und macht 180 Umdrehungen in 6 Sekunden, d. h.: Wenn die Spindel alle 6 Sekunden angedreht wird, hat sie eine Frequenz von 1800 Umdrehungen pro Minute. Sie ist relativ schwer und eignet sich deshalb vorrangig zum Ver­ spinnen gröberen Fasermaterials, z. B. zum Verspinnen von Wolle oder Flachs. Sie kann mit Spindel Nr. 2, einer Tessiner Wollspindel, verglichen werden. Diese Spindel wiegt ohne Garnbewickelung 23 g und wird im Laufe des Spinnprozesses durch die Bewickelung 40 g schwer. Ohne Garnbewicke­ lung dreht sie sich in 6 Sekunden 21 Omal, mit vollständiger Garnbewickelung in 6 Sekunden 160mal. Sie hat bei immer neuem Andrehen nach 6 Sekunden also eine Frequenz, die von 2100 auf 1600 Umdrehungen pro Minute herab­ sinkt. Wenn man sie unbewickelt einmal andreht, läuft sie 45 Sekunden und dreht sich dabei 700mal.

1 58

2

3

39: Handspindeln. 1. Rekonstruierte jungsteinzeitliche Handspindel. Der bei einer Ausgra­ bung gefundene steinerne Spinnwirtel wurde mit einem neuen Spindelstab versehen. 2. Tessiner Wollspindel, handgeschnitzt, aus Holz. 3. Baumwollspindel aus Nordkamerun, Riedgrasstab mit Tonwirtel. 4. Spinnstäbchen mit Tonwirtel zum Spinnen von feinstem Musselingarn, Peru und Züricher Oberland, 18. Jh.

1

2

40: Verschiedene Naturfasern. 1. Kurze, feine und ziemlich glatte Baumwollfasern; 2. lange und relativ dicke Flachsfasern; 3. mittellange, feine und gekräuselte Wollfasern.

Um diese Eigenschaften einschätzen zu können, werden die leichteren Baumwollspindeln Nr. 3 und 4 zum Vergleich herangezogen. Eine ist 15 g, die andere nur 4 g schwer: Beim Vergleich in Tabelle 1 wird deutlich, daß schwerere Spindeln keine so hohen Frequenzen haben wie die leichteren. Aber auf Grund der größeren Schwungmasse laufen sie länger, ein für die Einschätzung der Arbeitstätig­ keit wichtiges Moment, denn wenn man nicht unbedingt Höchstleistungen erzielen will, brauchen die schwereren Spindeln nicht so häufig angedreht werden. Die schweren Spindeln laufen von sich aus relativ lange. Sie verlie­ ren dabei zwar an Frequenz, aber das ist bei schwereren Woll- und Leinen­ garnen kein großer Nachteil, weil schwere Garne nicht so hoch verdreht wer­ den müssen. Wenn lange und relativ dicke Fasern versponnen werden, bildet sich auch schon bei verhältnismäßig niedriger Verdrehungszahl pro Faden­ länge ein fester Faden. Für die Spindel Nr. 3 und 4 sind noch weitergehende Untersuchungen an­ gestellt worden (vgl. Tab. 2). Dabei ist wichtig zu wissen, daß mit jeder Spin­ del feinere oder gröbere Garne gesponnen werden können, allerdings nur in bestimmten Grenzen: Mit einer leichten 4 g-Spindel können z. B. keine schweren Garne hergestellt werden, denn ihre Schwungmasse würde nicht 59

4

5

6

7

8

Frequenz: Spindel­ umdrehun­ gen pro Minute

Totale Spinnzeit: Spinn- und Aufwickel­ zeit pro m

Mögliche Arbeits­ leistung: in m Gam pro Stunde

durch­ schnittliche Arbeits­ leistung: in m Gam pro Stunde

Faser­ verbrauch: 8 pro Stunde

500

2300

20 sec/m

180 m

143 m

4,2 g

Vsog

640

2300

24 sec/m**

150 m

120 m

2,4 g

68m/g

Vwg

800

3000

23,5 sec/m

153 m

122 m

1,8 g

170 m/g

V170g

1200

3000

32 sec/m

112m

84 m

0,49 g

2

1

3

Spindel Gewählte Garn­ qualität

Garnstärke: Garnstärke: Stärke der mprog Gewicht Drehung: (normales prom GamdreMaß für die hungen Garn­ prom qualität)

Nr. 3 15 g

a gröberes Garn (Nm 34)*

34m/g

Vxg

Nr. 3 15 g

b fast feines Garn (Nm 50)*

50m/g

Nr. 4 4g

c feines Garn (Nm 68)*

Nr. 4 4g

d sehr feines Gam (Nm 170)*

• In Nm wird die Ganntärke gemeaeo. Nm 34 bedeutet: Au» 1 g Faaergut werden 34 m Garn hergnteUt. •• Höhere Spinnzeit im Gegensatz zu 4 c - obwohl es sich hier um das Spinnen einer gröberen Garnsörte handelt ab in 4 c (vgl. S. 43) - Grund: niedrigere Frequenz ab 4 c

Tabelle 2

ausreichen, um die notwendige größere Fasermenge von z. T. «sperrigem» Material zusammenzudrehen. Es könnte leicht passieren, daß die Spindel auf Grund des für sie zu großen Faser-Widerstands sehr bald rückwärts läuft (Abbildung 40). Und mit einer schweren 40 g-Spindel können keine feinen Game gesponnen werden, weil der dünne, gerade entstehende, noch nicht feste Faden auf Grund des hohen Spindelgewichts sehr schnell reißen würde.

Folgendes wird beim Durchgehen von Tabelle 2 deutlich: Spalte 1 und 2: Feine Garne sind sehr leicht. Aus wenig Fasern können etliche Meter Garn gesponnen werden. Spalte 3: Feine Garne haben sehr hohe Verdrehungszahlen pro Meter. Das ist eigentlich auch einsichtig. Wenn nur wenige Fasern pro Längenein­ heit zusammengedreht werden sollen, kann das nur halten, wenn sie sehr stark verdreht werden. Spalte 5: Die totale Spinnzeit pro Längeneinheit (Spinn- und Aufwickel­ zeit zusammen) muß bei feinen Garnen höher liegen als bei gröberen, weil sie ja jeweils mit mehr Drehungen versehen werden müssen. Spalte 6 und 7: Auf Grund der höheren Drehungszahlen können bei der Herstellung von feinen Garnen weniger Meter pro Zeiteinheit hergestellt werden als bei der Herstellung von gröberen Garnen. Spalte 8: Deshalb wird bei feinen Garnen pro Zeiteinheit nur wenig Mate­ rial verarbeitet. Fazit: - Je feiner das Garn, desto mehr Arbeitszeit und je gröber das Garn, desto weniger Arbeitszeit wird gebraucht. - Je feiner das Garn, desto weniger Material und je gröber das Garn, desto mehr Material ist notwendig. - Je feiner das Garn, desto leichter, je gröber das Garn, desto schwerer muß die Spindel sein. Alle diese Bedingungen muß die Spinnerin kennen und auf ihre Spinntätig­ keit umsetzen können: Sie muß die richtige Spindel wählen - nicht zu schwer, nicht zu leicht - mit der zur Garnstärke passenden Frequenz. Sie muß der Spindel, entsprechend der gewünschten Garnsorte, viel oder wenig Material zuführen und das mög­ lichst gleichmäßig, um auch eine gleichmäßige Garnqualität zu erzeugen. Sie muß in der Lage sein, auch wenn der Spinnprozeß unterbrochen wird, immer wieder das richtige Maß für Andrehen und Materialzuführung zu finden. Darüber hinaus muß sie sich auf eine langwierige und immer wieder gleiche Arbeitstätigkeit einstellen können. Dazu noch ein Beispiel: Das Garn für eine bronzezeitliche Frauenbluse (Abbildung 41 und 42) soll gesponnen werden. Bei dem bronzezeitlichen 61

41: Auseinandergefaltete germanische Frauenblu­ se, die in einem bronze­ zeitlichen Grab in Däne­ mark gefunden wurde.

42: Schnitt und Nähtech­ nik der bronzezeitlichen Frauenbluse sind hier sy­ stematisch dargestellt: a) Vorderseite, b) Rückseite, c) Ärmelnaht, d) Rückennaht, e) Halsausschnitt. Oben: Kimonoschnitt der Blusen.

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Blusenschnitt wurden gut 1/2 m2 Stoff gebraucht, also etwa 60 cm eines 110 cm breiten Gewebes. Für den Stoff soll ein Wollgarn verwendet werden, das mit einer ähnlichen Spindel wie Nr. 2 oder 1 gesponnen werden kann. Wenn man nun schätzt, daß mit so einer Spindel vielleicht 120 m Gam pro Stunde gesponnen werden und man eine Kettgamdichte von 8 Fäden pro Zentimeter Kettbreite und 12 Schußeinträgen pro Zentimeter Stofflänge annimmt, wer­ den zum Weben des halben Meters ungefähr 550 m Kettgam und 800 m Schußgam gebraucht. Es sind also über 11 Stunden Arbeit ohne Pause not­ wendig, nur um das notwendige Gam für eine Bluse zu spinnen. Aus all diesen Überlegungen geht hervor, daß Kenntnisse, Fingerspitzen­ gefühl, Fingerfertigkeit, technisches Einfühlungsvermögen, d. h. ein Gefühl für den Zusammenhang von Handlung und Gerät, Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer notwendige Qualifikationen für eine gute Handspinnerin sind. Wenn man das oben angeführte Beispiel der Blusenherstellung noch wei­ ter verfolgt und davon ausgeht, daß ein 110 cm breiter Wollstoff mit 12 Schußeinträgen pro Zentimeter produziert werden soll, und vermutet, daß am Gewichtswebstuhl in einer Minute nur wenige Querfäden eingebracht werden können, wird deutlich, daßdas Weben der 60 cm auch wieder etliche Stunden dauerte. Die Weberin am Gewichtswebstuhl brauchte sicher auch Ausdauer, genau wie die Spinnerin. Auch Geschicklichkeit, Fingerfertigkeit z. B. beim Durch­ reichen des Schußgamknäuels und Einfühlungsvermögen gehörten dazu, be­ sonders beim Fadenanschlag und beim Fadenanzug, wenn keine krumme Kante entstehen sollte. Darüber hinaus mußte die Weberin noch weitgehen­ der als die Spinnerin ein Gefühl für Bewegungskoordination entwickeln, wenn die Arbeit nicht zu anstrengend sein und ihr einigermaßen schnell von der Hand gehen sollte. Insgesamt läßt sich die Spinn- und Webarbeit bei der germanischen Woll­ tuchproduktion mit folgenden Stichpunkten charakterisieren: Die Arbeit war mühselig, denn mit den einfachen Geräten dauerten alle Tätigkeiten sehr lange. Viele Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten muß­ ten erworben werden. Die Arbeit war eintönig, möglicherweise allerdings auch abwechslungsreich, da die verschiedenen Textilarbeiten abwechselnd ausgeführt werden konnten. In Abwechslung mit ganz anderen notwendigen Frauenarbeiten der Hausgemeinschaft spielte die Monotonie der Einzeltä­ tigkeit eine noch geringere Rolle. Die Arbeit war selbst organisierbar, je nach den vorhandenen Bedürfnis­ sen und Fähigkeiten. Es mußte nur dann gewebt werden, wenn Stoff ge­ braucht wurde. Von der Hausgemeinschaft konnte entschieden werden, wann welche Tätigkeiten von wem gemacht werden sollten. Die Arbeit war kooperativ und kommunikativ. Die Mitglieder der Haus­ gemeinschaft arbeiteten sich zu. Das konnte in einer durchaus «gemütlichen»

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Arbeitssituation als abendlich-winterliche, gemeinsame Tätigkeit im Wohn­ raum der Hausgemeinschaft geschehen. Die Arbeit war trotzdem belastend. Auf Grund der vielen notwendigen Arbeiten mit jeweils nur einfachen Hilfsmitteln muß die Arbeitszeit der ger­ manischen Frauen ziemlich hoch gewesen sein. Davon entfiel ein großer Zeitanteil auf die Textilarbeit, so daß diese schon von der Dauer her insge­ samt belastend gewesen sein muß.

Kunden- und Exportproduktion des städtischen Handwerks mit Handspindel, Spinnrad und Trittwebstuhl

Handspindel und Gewichtswebstuhl waren in Europa über drei Jahrtausen­ de, von der Bronzezeit an bis etwa 1000 n. Chr., die wichtigsten Arbeitsmittel im Spinn- und Webprozeß. Wenn man annimmt, daß beide Arbeitsmittel auch schon in der Jungsteinzeit voll ausgebildet waren, kommen noch einige tausend Jahre dazu.

«Neue» Arbeitsmittel im Spinn- und Webprozeß Um die Jahrtausendwende n. Chr. vollzogen sich grundlegende Änderungen im Spinn- und Webprozeß, die sich allgemein durchsetzten. Es entwickelten sich «neue» Arbeitsmittel, die seit dem 13. Jahrhundert auch durch Quellen nachgewiesen sind. Die ältesten europäischen Darstellungen sowohl der «neuen» Spinn- als auch der «neuen» Webtechnik ermöglichen einen ersten Einblick in die Veränderung der Herstellungsprozesse, werfen allerdings auch Fragen auf: Im Spinnrad (Abbildung 43) wird offenbar die alte Handspindel verwen­ det. Jedenfalls sieht sie auf den ersten Blick so aus. Sie ist in einem festen Gestell horizontal gelagert und wird von einem mit der Hand gedrehten Rad über eine Schnur angetrieben. Damit ist eine ununterbrochene Drehbewe­ gung herstellbar. Die Spindel muß nicht wie bisher immer wieder neu ange­ dreht werden, wenn sie langsamer wird. Eine wichtige Frage ist, ob dadurch auch ein ununterbrochener Spinnprozeß ermöglicht werden kann. Das An­ knüpfen des Fadens an die herabhängende Spindel, um den.Faden für die Spinnphase zu befestigen, und danach das Lösen der Schlinge, um den ge­ sponnenen Faden aufwickeln zu können, fallen, das ist unmittelbar ersicht­ lich, bei dieser Konstruktion weg. Die Spinnerin kann den entstehenden Fa­ den in der Spinnphase so zur Spindelachse halten, daß sich das schon entstan­ dene und aufgewickelte Fadenende nicht abwickelt, oder sie kann ihn auch so halten, daß sich der Faden aufwickelt. Es sieht so aus, als ob mit diesem Gerät einige Arbeitsschritte des bisherigen Spinnens mit der Handspindel nicht mehr notwendig wären. Eigentlich müßte Zeit gespart und damit eine Leistungssteigerung beim Spinnvorgang erreicht werden. 65

Bei dem «neuen» Webstuhl (Abbildung 44) handelt es sich um einen Flachwebstuhl. Vom alten Gewichtswebstuhl her bekannte Elemente sind Tuchbaum (auch Warenbaum genannt), Trennstab und Webschwert. Der Warenbaum ist durch eine waagrecht gespannte Kette mit einem weiteren Baum, dem sogenannten Kettbaum verbunden. Beide Bäume sind offen­ sichtlich drehbar. Das sieht man an dem mit einer langen Kette bewickelten Kettbaum. Es können also Stoffe gewebt werden, die länger sind als das Webstuhlgestell. Auch der Trennstab und das Webschwert in der linken Hand des Webers sind gut zu erkennen. Neu sind Fußtritte oder Pedale. Sie sind mit Rollen verbunden und hängen in einem am Webstuhl angebauten Gestell. Diese Pedale führten zu dem Namen Trittwebstuhl. Wozu dient die Trittvorrichtung? Wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt, daß die Pha­ sen des eigentlichen Webvorgangs aus Fachbildung, Schußeintrag und Fa­ denanschlag bestehen, kann eigentlich nur die Fachbildung mit diesen Trit­ ten ausgeführt werden. Der Schußeintrag geschieht offenbar so ähnlich wie beim Gewichtswebstuhl. Der Weber (keine Weberin) hält einen mit Gam bewickelten Gegenstand in der Hand, um den Schußeintrag auszuführen. Der Fadenanschlag wird mit dem Webschwert ausgeführt. Kann mit dem neuen Arbeitsgerät die Webleistung gesteigert werden? Diese Frage lenkt auf die grundsätzliche Überlegung, ob es denn bei tech­ nischen Veränderungen jeweils um Leistungssteigerungen gehen muß. Das ist zwar oft der erste Gedanke, der bei solchen Überlegungen auftaucht, denn wer strengt sich schon an, wer verändert, wenn nichts dabei heraus­ springt. Und wenn man fragt, was «herausspringen» meint, ist für uns eigent­ lich naheliegend, daß es mehr Verdienst, mehr Geld heißen muß. Zu überle­ gen ist jedoch, ob es nicht ganz andere Gründe für technische Veränderun­ gen geben kann und welche Gründe damals, im Mittelalter, zur Veränderung innerhalb der Spinn- und Webverfahren geführt haben. Noch ein anderes Problem muß bedacht werden: Bei den bisherigen Be­ merkungen zu Abbildung 43 und 44 wurde das Wörtchen «neu» jeweils in Anführungsstriche gesetzt. Das geschah deshalb, weil diese Geräte für die Europäer damals zwar neu waren, aber in anderen Gesellschaften jener Zeit so oder in ähnlicher Form schon verwendet wurden. Ähnliche Spinnräder waren in China, Indien und Ägypten lange bekannt. Es entsteht, ähnlich wie bei der Entwicklung von Spinn- und Webverfah­ ren der Urzeit, wieder die Frage: Wurden die neuen Techniken in Europa selbständig entwickelt, und sind sie in diesem Sinne neue, originale Entwick­ lungen, oder wurden sie von anderen Gesellschaften übernommen, und sind sie deshalb nur für die Europäer neu? Die Entwicklung der Gesellschaften der Erde ist im Mittelalter schon weit vorangeschritten. Es bestehen z. B. rege Femhandelsverbindungen zwischen dem fernen und dem mittleren Osten und Europa. Insofern liegt es in dieser Zeit nahe, davon auszugehen, daß nicht nur Produkte und Rohstoffe, son66

43 und 44: Die ältesten europäischen Darstellungen der «neuen» Arbeitsmittel im Spinn- und Webverfahren: Ein Handspinnrad (um 1300) und ein Trittwebstuhl (Be­ ginn 14. Jh.). Die Handspindel ist offenbar in ein Gestell eingebaut und wird mit Hilfe eines Rie­ mentriebs in Drehung versetzt. Die Spinnerin dreht mit der einen Hand das An­ triebsrad, mit der anderen leitet sie der Spindel den Faden zu. Der alte Senkrecht­ webstuhl ist zu einem Rachwebstuhl umgebaut und tatsächlich zum Web«stuhl» ge­ worden. Der Weber sitzt an einem Gestell, in das waagerecht eine Kette eingespannt ist. Er arbeitet mit Händen und Füßen.

dem auch Kenntnisse und Techniken ausgetauscht wurden. Aber genau wie in der Urzeit sind diese Austauschvorgänge auch im Mittelalter nicht nach­ weisbar. Auf Grund der zu dieser Zeit schon viel besseren Verbindungen zwischen den verschiedenen Gesellschaften, z. B. durch den Femhandel, sind sie allerdings sehr wahrscheinlich. Die frühesten Nachrichten gibt es über den Gebrauch des Spinnrads: Es ist zum erstenmal 1268 schriftlich belegt, weil es in diesem Jahr in Paris und später, 1288, in Abbeville verboten wurde.9 Die Gründe dafür kann man nur analog zu ähnlichen späteren Versuchen, neue Techniken nicht zuzulassen, vermuten: Wenn mit dem Handspinnrad schneller und besser gesponnen werden kann, ist denkbar, daß Handspinner um ihre Arbeit fürchteten und mit diesem Verbot vorerst ihr Interesse durchsetzen konnten. Eine andere Möglichkeit wäre, daß die Gamqualität eventuell vorhandenen Qualitätsan­ forderungen nicht entsprach und durch dieses Verbot möglichen Qualitäts­ minderungen vorgebeugt werden sollte. 1298 wird das Spinnrad in der Hand­ werksordnung der Weber von Speyer ausdrücklich zugelassen, allerdings nur für die Herstellung von Schußgam.10 Eine Qualitätsveränderung durch das Spinnen mit dem Rad ist entspre­ chend dieser Nachricht also wahrscheinlich. Vermutlich ist es schwierig, fe­ stes Kettgam in diesem Spinnverfahren herzustellen, so daß nur akzeptables Schußgam gesponnen werden konnte.

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Entwicklung des Spinnens mit dem einfachen Handspinnrad «Die Radspindel stellt eine Verbindung von Spindel und Spulrad her.»11 Das würde bedeuten, daß vor dem Spinnrad schon ein Spulrad existierte und daß sich das Spinnrad aus diesem entwickelt hat. Rad, Rädergetriebe und wahr­ scheinlich auch Schnur- und Riementrieb sind lange vor dem Mittelalter ent­ wickelt worden und in Gebrauch gewesen. Es lag daher nahe, den Riemen­ trieb in dem Moment für die Spulerei zu verwenden, in dem das Spulen not­ wendig wurde. Dies war der Fall, als im Laufe der Verbesserung des Webver­ fahrens für den Schußeintrag besondere Hilfsmittel entwickelt wurden und die bewickelte Spindel nicht direkt als Garnkörper zum Einbringen des Schusses weiterverwendet werden konnte. In ein sogenanntes Schiffchen wurden bewickelte Spulen eingesetzt, und diese speziellen Garnkörper muß­ ten jeweils durch Neu-Aufwickeln hergestellt werden.

45: Sollte eine voll bewickelte Spindel wieder zum Spinnen verwendet werden wurde das Garn meistens auf eine Has­ pel abgewickelt. Die Spindel konnte da­ bei auch in der Hand gehalten werden. Beim Abwickeln auf die Haspel wurde der Garnstrang gemessen.

46: Das auf die Haspel abgewickelte und in bestimmter Länge abgemessene Garn (vgi. Abb. 45) wurde von der Haspel ab­ genommen und zur sogenannten Dogge zusammengedreht. So konnte es gela­ gert oder verkauft werden. Wenn das Garn dann weiter verwendet werden sollte, wurde es zum Abwickeln auf ein Rad gespannt.

68

47: Vom Rad (vgl. auch Abb. 46) konn­ te der Garnstrang mit Hilfe des Spulra­ des auf jede Art von Spulen umgespult werden.

Auch für das Kettschären wurden im Laufe der Zeit Verfahren entwickelt, in denen von mehreren auf einem Gestell aufgesteckten Spulen jeweils Fa­ denbündel für die Kette abgewickelt und als Bündel auf den Kettbaum aufge­ bracht wurden. Auch diese Spulen mußten erst in einem gesonderten Ar­ beitsgang bewickelt werden. Meistens geschah das so, daß das Garn von der Spindel, die man in der Hand hielt, die aber auch eingespannt sein konnte, auf eine Haspel abgewickelt wurde (Abbildung 45). Der davon abgenomme­ ne, zur sogenannten Dogge zusammengedrehte Garnstrang wurde auf ein Rad gespannt (Abbildung 46) und von diesem auf die für das Schiffchen oder für das Kettschären gebrauchten Spulen mit Hilfe eines Spulrades umgespult (Abbildung 47). Dieses Vorgehen ist zeitaufwendig. Wenn das gesponnene Garn in demselben Haus verwebt werden sollte, in dem es gesponnen wurde,

48: Spulrad. Aus einem solchen Spulrad entwikkelte sich wahrscheinlich das einfache Handspinn­ rad. Die im Gestell etwas überstehende Spulenspit­ ze (A) wurde wahrschein­ lich durch eine aufge-, steckte Hülse zur Spindel verlängert. 69

49: Die Handradspindel (1 u. 2) ist aus der Handspindel (Abb. 39) entwickelt worden: Der Spindelstab der Hand­ spindel blieb erhalten. Er wurde nach unten zur Achswelle (A) verlängert, damit die Spindel im Gestell gelagert und vom Handrad aus angetrieben werden konnte. Der Wirtel, die Schwungmasse der Handspindel, die die Laufdauer der Spindel bestimmt, wurde in dieser Funktion überflüssig und deshalb meist verkleinert und zum Spindelfuß (B) reduziert. Der Spindelfuß diente als Halterung gegen seitliche Ver­ schiebung der Spindel im Gestell. Die Achswelle der Spin­ del mußte dann noch mit einem Schnurrädchen (Antriebs­ rädchen) versehen werden (C), damit die Drehbewegung des Handrades (Antriebsrades) auf die Spindel übertragen werden konnte.

1

2

konnte man natürlich von der Spindel auch direkt mit dem Spulrad umspu* len. Allerdings mußten dann Spinnen und Weben aufeinander abgestimmt sein. Wenn schnell gesponnen und mehr Garn hergestellt wurde, als auf die vorhandenen Schiffchen und Schärspulen umgespult werden konnte und eine Zwischenlagerung notwendig wurde oder wenn in Strängen gefärbt wer­ den sollte, bot sich das oben beschriebene Verfahren an. Solange es genü­ gend Arbeitskräfte gab, war das auch kein Problem. Bei dem in diesem Verfahren verwendeten Spulrad wird die Spule an bei­ den Enden in ein Gestell eingespannt und bewickelt, wenn sie durch den Riementrieb angetrieben wird (Abbildung 48). Wahrscheinlich wurde dieses Spulrad so zum Spinnrad weiterentwickelt, daß man das eine Ende der Spu­ lenachse im Gestell etwas überstehen ließ und auf diese überstehende Spitze die Spindelhülse aufsteckte (A) und so die Spulenspitze zur Spindel verlän­ gerte. In diesem Prozeß bildete sich die einfache Radspindel heraus (Abbil­ dung 49). Zunächst wurde das zum Spinnrad umfunktionierte Spulrad von zwei Per­ sonen bedient.12 Eine Spinnerin drehte das Rad, eine andere führte der Spin­ del von einem auf einen Rocken gebundenen Faserbüschel Fasergut schräg zur Spindelspitze zu. Dabei ging sie mit dem Rocken rückwärts, bis der Fa­ den so lang geworden war, daß er aufgewickelt werden mußte. Dann schwenkte sie den Faden zu einem 90°-Winkel ein und ging, während die andere weiterdrehte, auf die Spindelachse zu, um den Faden aufwickeln zu 70

können. Im Laufe der Zeit ist das Spinnrad dann so umgebaut worden, daßes auch von einer Person bedient werden konnte (Abbildung 50). Beim Spinnen mit dem entwickelten einfachen Handspinnrad wird ein Stück Anfangsfaden von Hand hergestellt und an die Spindelspitze ange­ knüpft. Danach wird das Antriebsrad mit der rechten Hand in Drehung ver­ setzt. Der sich jetzt auch drehenden Spindel werden aus dem Faserbüschel in der linken Hand fortlaufend Fasern zugeführt, die dabei verstreckt und vergleichmäßigt werden. Der entstehende Faden muß dabei schräg zur Spindel­ achse gehalten werden, damit er jeweils über die Spindelspitze abspringen und die Drehung so auf den Faden geleitet werden kann, daß ein gesponne­ ner Faden entsteht (Abbildung 51 a). Ist der Faden so lang, wie die Ausladung des linken Armes reicht, muß der Spinnvorgang unterbrochen werden. Das Antriebsrad wird jetzt erstaunli­ cherweise kurz rückwärts gedreht. Das letzte Fadenstück soll dadurch abge­ dreht werden; denn der Aufwickelvorgang darf nicht an der Spindelspitze einsetzen, weil diese für den Spinnvorgang frei sein muß (Abbildung 51 b). Danach wird das Antriebsrad mit der rechten Hand wieder vorwärts ge­ dreht. Mit der linken Hand muß jetzt der Faden im rechten Winkel zur Spin­ delachse der Spindel zugeführt werden, und zwar so, daß die Spindel ko­ nisch, d. h. zur Mitte hin dicker bewickelt wird. Das ist notwendig, damit ein fester Garnkörper entsteht (Abbildung 51 c). Schließlich wird das restliche Fadenende wieder schräg zur Spindelachse ausgeschwenkt, damit der Spinnprozeß wieder beginnen kann (Abbildung 51 d). Das geschieht im ständigen Wechsel.

50: Eines der schönsten erhaltenen Handspinnrä­ der steht in der Textilab­ teilung des Deutschen Museums in München. 71

Tl

Bezogen auf die Frage, ob das Handspinnrad einen ununterbrochenen Spinn­ prozeß erlaubt, kann festgestellt werden, daß die im Prinzip mögliche, fortlau­ fende Drehbewegung nicht zum Spinnen genu tzt werden kann, weil sie jeweils durch Rückwärtsdrehen kurz unterbrochen werden muß, damit die Spindel­ spitze für den Aufwickelprozeß frei wird, und weil dann aufgewickelt werden muß. Es handelt sich weiterhin, genau wie beim Spinnen mitder Handspindel, um ein abgesetztes Spinnverfahren (Spinnen, Aufwickeln, Spinnen, Aufwikkeln usw.). Spinnräder, die kontinuierliches Spinnen ermöglichen, bei denen Spinnen und Aufwickeln zur gleichen Zeit geschehen, werden Ende des 15. Jahrhunderts, also erst zwei Jahrhunderte später, bekannt. Das hier beschrie­ bene Spinnrad wird deshalb zur Unterscheidung von den späteren Spinnrä­ dern auch einfaches Handspinnrad genannt.

Charakterisierung der Radspinntätigkeit und des veränderten Produkts Wie beim Handspinnverfahren müssen auch beim Radspinnen Drehge­ schwindigkeit, Faser- oder sogenannte Stapellänge und Fasermaterial vor Beginn des Spinnprozesses aufeinander abgestimmt werden, z. B.: Für kurze Fasern wie Baumwolle muß genau wie beim Handspinnverfahren eine Spin­ del mit hoher Drehzahl, hier also mit kleinem Abtriebsrädchen, gewählt wer­ den. Auch der Antrieb muß wie beim Handspinnverfahren relativ schnell sein.

51: Arbeitstätigkeit beim Radspinnen. a) Beim Spinnen mit dem Handspinnrad muß der entstehende Faden der Spindelspit­ ze schräg zugeführt werden. Nur dann kann die Drehung der Spindel auf den immer über die Spindelspitze abspringenden Faden geleitet werden. Auf diese Weise wird der Faserstrang versponnen. b) Wenn der Faden so lang ist, daß er aufgewickelt werden muß, wird das Antriebs­ rad kurz rückwärts gedreht. Das geschieht, um die Spindelspitze für die nachfolgende Spinnphase freizuwickeln. c) Beim Aufwickeln wird der Faden etwa im rechten Winkel zur Spindelachse gehal­ ten und parallel dazu immer hin und her geführt. Das Antriebsrad wird wieder rechts herum gedreht. In diesem Arbeftsabschnitt muß darauf geachtet werden, daß die Spule so bewickelt wird, daß sich ein gleichmäßiger und fester Gamkörper bildet. d) Wenn das gesponnene Fadenstück fertig aufgewickelt ist, wird das noch nicht auf­ gewickelte Fadenende wieder schräg zur Spindelachse eingeschwenkt. Der Spinnvor­ gang kann von neuem beginnen.

73

Ganz anders als beim Handspinnen ist dagegen der Tätigkeitsverlauf. Das auffälligste ist der komplizierte Bewegungsablauf und die sich daraus für den Arbeitenden ergebende schwierige Bewegungskoordination: Er muß rechts das Antriebsrad andrehen und sich gleichzeitig links beim Zuführen des Fa­ serbandes zur Spindelspitze, der entstehenden Fadenlänge entsprechend, zurückbeugen. Dann muß er das Antriebsrad rechts kurz rückwärts drehen und zugleich links den gesponnenen Faden einschwenken. Danach muß er das Rad wieder vorwärts drehen und zugleich links den Faden der Spindel zuführen und par­ allel zur Spindelachse hin- und herführen, um den Garnkörper herzustellen. Die besondere Schwierigkeit dieser Tätigkeit liegt darin, daß eine Person an zwei Stellen zugleich sehr unterschiedliche Tätigkeiten ausführen und sich dabei auf verschiedene Arbeitsgeschwindigkeiten des Arbeitsmittels einstel­ len muß. Es müssen jeweils verschiedene und in den einzelnen Phasen des Spinnprozesses wiederum unterschiedliche Bewegungen sowohl der rechten als auch der linken Hand miteinander koordiniert werden. Und diese Bewe­ gungen müssen, da die der linken Hand durch den Riementrieb von der rech­ ten Hand abhängen, genau aufeinander abgestimmt sein. Diese Abstim­ mung wird dadurch noch besonders erschwert, daß die mit der rechten Hand selbst hergestellte Umdrehungsgeschwindigkeit durch die Übersetzung im Riementrieb links in der Spindel ganz anders, nämlich schneller, ankommt und dort eigentlich als «fremd» empfunden werden muß.

C

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52: Verschiedene Arbeitsachsen und -geraden beim Radspinnen. A Achse des Antriebs­ rades B Spindelachse C Gerade schräg zur Spindelachse beim Spinnvorgang D Gerade im 90°-Winkel zur Spindelachse beim Aufwickeln E Gerade parallel zur Spindelachse bei der Herstellung des Garn­ körpers.

53: Die chinesische Spin­ nerin arbeitet nach der­ selben Methode, wie sie in Europa im 13. Jh. ge­ bräuchlich wurde, hier bequemer als bei vielen Handrädern: im Sitzen. Wahrscheinlich wurde das Handradspinnen in Europa aus China oder Indien importiert. Hier wurde Baumwolle schon sehr viel früher mit dem Rad versponnen als bei uns.

Diese Schwierigkeit taucht ansatzweise auch schon beim Spinnen mit der Handspindel auf, und zwar in der Phase, wenn zu gleicher Zeit mit der rech­ ten Hand die Spindel gedreht und ihr mit der linken Hand Fasern zugeführt und gestreckt werden müssen. Aber die Bewegungskoordination ist hier sehr viel einfacher, weil die Spinnerin bei ihrer Arbeit eigentlich nur um den hän­ genden Faden herum und an diesem entlang arbeiten muß. Die Radspinnerin muß sich dagegen auf verschiedene Arbeitsachsen und -geraden beziehen (Abbildung 52). Durch diese Überlegungen wird erkennbar, daß Radspinnarbeit einige Konzentration erfordert und sicher nur dann relativ «entlastet» ausgeführt werden kann, wenn die Spinnerin gleichmäßig arbeitet. Sie kann sich im eige­ nen Interesse eigentlich kaum noch Unregelmäßigkeiten leisten. Man könn­ te das einfache Handspinnrad deshalb als ein Gerät bezeichnen, das zur Ar­ beitsdisziplin erzieht. Die durch Arbeitsdisziplin herstellbare Gleichmäßigkeit in der Tätigkeit entlastet einerseits, weil bei der Einleitung der jeweils notwendigen Arbeits­ schritte dann zunehmend weniger überlegt werden muß, andererseits ergibt sich durch die mit der gleichmäßigen Arbeit entstehende Monotonie wieder eine spezifische Belastung. Die gesamte Anstrengung ist jeweils noch dadurch variiert, ob im Sitzen oder im Stehen gesponnen wird, denn es gibt eine «bequeme» (Abbildung 53) und eine «unbequeme» (Abbildung 54) Lösung bei der Konstruktion der Handspinnräder. Wenn im Stehen gesponnen wird, hat das den Vorteil, daß Spinn- und Aufwickelphase nicht so oft wechseln, weil der jeweils aufzuwickelnde Fa­ den länger gesponnen werden kann. Die Spinnerin kann zusätzlich zu den

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54: Im Stehen kann am Rad ein sehr langes Fadenende gesponnen werden, ehe auf­ gewickelt werden muß. Die Spinnerin muß daher nicht so oft zwischen Spinnen und Aufwickeln wechseln. anderen Bewegungen noch ihren Standort verändern und dadurch einen grö­ ßeren Arbeitsraum ausnutzen. Das ständige Stehen bedeutet allerdings eine zusätzliche Anstrengung. Auf Grund der beim Spinnen mit dem einfachen Handspinnrad notwendig werdenden schwierigen Bewegungskoordination ist gut vorstellbar, daß es relativ lange gedauert hat, bis das von einer Person zu bedienende Hand­ spinnrad entwickelt war. Es ist sicher auch nicht verwunderlich, daß das auf dem einfachen Handspinnrad gesponnene Radgarn meistens ziemlich unre­ gelmäßig gesponnen war und daß es selten der Qualität von Handgarn ent­ sprach. Offenbar war das Handspinnrad aber trotzdem attraktiv (Abbildung 55). Ein Grund wird die für damalige Zeiten recht hohe Produktivität gewe­ sen sein.

55: Radspinnen. Alle wichtigen Arbeitsmittel und Arbeitstätigkeiten, die vom Vor­ bereiten der Fasern bis zum Abwickeln des gesponnenen Garns im Radspinnprozeß notwendig sind, sind hier in einem späten Bild aus dem Jahre 1769 zusammengestellt: Mit Kratzen (Fig. 4) wird das Fasergut für den Spinnprozeß vorbereitet (Fig. 1). Dann wird es mit Spinnrädern (Fig. 6) versponnen (Fig. 2) und danach mit der Has­ pel (Fig. 7 und 8) abgewickelt (Fig. 3). Besonders interessant ist die Konstruktion der Haspel. Sie hat ein Zählwerk, mit dem die Haspelbewicklung gezählt, also gemessen werden kann: Die Haspelwelle (B) muß sich mehrmals drehen, bis sich das Zahnrad (C) einmal gedreht hat. Dieses muß sich wiederum mehrmals drehen, bis sich das große Zahnrad (E) einmal gedreht hat. Dann wird ein Klopfer (F) angeschlagen und damit angezeigt, daß eine bestimmte Garnmenge abgehaspelt worden ist.

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77

Gerät

gewählte Garn­ qualität: m prog (norma­ les Maß für die

Gam*

Garn­

stärke: Gewicht

stärke: Garn­ drehun­ gen

pro m

pro m

totale Spinn­ zeil:

mögliche Arbeits­ leistung:

durch­ schnitt­ liche

Faser­

umdre­ hungen pro Minute

Spinnund Aufwickelzeit pro m

in m Gam pro Stunde

Arbeits­ leistung: in m Gam pro Stunde

g pro Stunde

Fre­

Stärke der Drehung:

quenz: Spindel­

Garn­ drehun­ gen prom

Garn* qualität)

ver­ brauch:

Spin­ del Nr. 3

fast schon feines Gam

50 m/g '/sog

640

2300

24 sec/m

150 m

120 m

2,4 g

ein­ faches Spinn­ rad

fast schon feines Garn

50 m/g '/sog

640

4050*

10,9

330

248

5g

* Bei einem Arbeitstempi) von 90 Haspel* oder Raddrehungen pro Minute und einem Übersetzungsverhältnis

von 1:45 vom Antriebs* zum Abiriebsrad.

Tabelle 3

Die Produktivitätssteigerung im Radspinnverfahren läßt sich durch einen Vergleich mit den Handspinnverfahren belegen (Tab. 3, Beispiel 3b aus Tab. 2). Danach kann die Produktmenge um das Doppelte gesteigert wer­ den. Ob allerdings allein diese Möglichkeit der Produktivitätssteigerung zur Entwicklung des Handspinnrades und zu seiner Verbreitung in der Produk­ tion führte und vor allem auch, wie das passierte, kann erst im Zusammen­ hang mit der neuen Webtechnik genauer erfaßt werden.

Weben mit dem Trittwebstuhl Die Arbeit des mittelalterlichen Webers am Trittwebstuhl (Abbildung 56) hat sich durch die neue Technik der Fachbildung stark geändert. Die Fachbildung geschieht durch zwei sogenannte Schäfte (A), eigentlich zwei «verdoppelte» Litzenstäbe. Diese Schäfte, durch über Rollen oder Ach­ sen laufende Schnüre miteinander verbunden, können durch Tritte (auch Pedale oder Fußschemel, B), die von unten an die Schäfte angebunden sind, bewegt werden. Auf diese Weise lassen sich die Kettfäden hoch- oder herunterziehen (Abbildung 57). Das natürliche Fach im Gewichtswebstuhl (vgl. Abbildung 23 b) ist hier durch ein zweites künstliches Fach ersetzt.

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56: Mittelalterlicher We­ ber am einfachen Tritt­ webstuhl (vgl. Abb. 44). Der Weber sitzt am Web­ stuhl, tritt die Fußschemel (B) und bildet da­ durch mit Hilfe soge­ nannter Schafte (A) das Fach, wirft das Schiffchen (E), bringt dadurch den Schußfaden ein und schlagt dann die frei schwingend aufgehangte Lade (C) an den einge­ brachten Schußfaden an.

Der Fadenanschlag wird mit Hilfe eines neuen Geräteteils bewerkstelligt, mit der sogenannten Lade (C). Sie ist im Webstuhlgestell frei schwingend aufgehängt und kann daher leicht zum Anschlag des Fadens bewegt werden. Die Verwendung des früheren Webschwerts oder auch eines Kammes (Ab­ bildung 58) war viel aufwendiger. ■s

□□

1

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57: Fachbildung beim Trittwebstuhl.

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58: Rest eines Webkam­ mes, der bei den Römern zum Anschlag der Schuß­ fäden benutzt wurde.

Der wichtigste Teil der Lade ist das Rietblatt (56D und 59 A). Es wurde ursprünglich aus Schilfrohrteilen (daher «Riet»blatt) hergestellt. Die Dichte und Feinheit der Rietblattstäbe (heute aus Stahl) richtet sich nach der Dichte der Kette. Gewöhnlich zieht man zwei Fäden durch einen Zwischenraum (das sogenannte Riet). Es ist leicht vorstellbar, daß die Lade deshalb eine Verbesserung war, weil die Schußfäden gleichmäßiger angeschlagen werden konnten. Beim Anschlag wurden sie nun in gleichmäßigen Abständen erfaßt. An der Lade wurde im Laufe der Zeit die untere Querleiste so breit ausge­ bildet, daß sie beim Schußeintrag, wenn die Unterkette darauf gedrückt wur­ de, als Bahn für das vorhin schon genannte Schiffchen dienen konnte. Der Schußeintrag geschieht durch das jetzt schon mehrfach erwähnte Schiffchen, auch Schütze genannt (vgl. Abbildung 56E). Es trägt das Ein­ schußmaterial und wird, wenn das Fach durch Fußtritt gebildet ist, mit einer Hand auf die Ladenbahn geworfen, gleitet schnell durchs Fach hindurch und muß dann vom Weber mit der anderen Hand aufgefangen werden. Erst jetzt kann man mit einiger Berechtigung von einem «Schuß»eintrag sprechen. Das frühere Durchreichen rechtfertigt diese Bezeichnung überhaupt nicht. Voll zutreffend ist dieser Name aber erst sehr viel später, ab 1733 mit der Einfüh-

59: Weblade mit Laden­ blatt (A), in das die Kett­ fäden eingezogen werden müssen, und Ladenbahn (B), auf der das Schiff­ chen entlangschießt.

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60: Handschiffchen «erden der Hand so gut wie möglich angepaßt, damit sie gut ge­ griffen «erden können (vgl. auch Abb. 62).

61: Ein Handschiffchen hätte dann am wenigsten Geschwindigkeitsverlust und einen stabilen und ruhigen Lauf, wenn es nur an zwei Punkten am Blatt und an einem Punkt auf der Ladenbahn anliegen würde.

62: Ins Handschiffchen wird eine Spule eingesetzt, die von der Mitte aus nach beiden Seiten hin konisch bewickelt ist. So kann sich der Faden am störungsfreiesten abwikkeln. 81

rang des Schnellschützen von John Kay. Wir haben es hier wieder mit einer Bezeichnung zu tun, die sich historisch entwickelt hat. Sie wird heute aber meistens ohne nachzudenken benutzt und so auch ohne Oberlegung auf Zei­ ten angewendet, wo die entsprechende Erfindung noch gar nicht gemacht war, ähnlich wie beim Webstuhl, als er noch ein Webstand war (vgl. Abbil­ dung 22). Das Schiffchen ist ein hölzerner Hohlkörper, der einerseits so geformt ist, daß er vom Weber gut gegriffen werden kann (Abbildung 60 a und b); ande­ rerseits ist die Form.dadurch bestimmt, daß es gut geführt werden kann und darüber hinaus noch möglichst wenig Geschwindigkeit durch Reibung ver­ liert. Optimal wäre deshalb eine Dreipunktauf- oder -anlage (Abbildung 61). Die Dreipunktauflage um den Schwerpunkt des Schiffchens sichert diesem einen ruhigen Lauf. Jeder weitere Auflagepunkt oder etwa sogar eine Aufla­ gefläche würde durch den dann möglichen Auflagewechsel zwischen den ver­ schiedenen Punkten zu einer unruhigen Bewegung führen. Außerdem ist so die Reibung am geringsten. In den Hohlraum des Schiffchens wird eine Spule eingesetzt, die so bewikkelt sein muß, daß sich der Faden beim Durchlaufen durchs Fach leicht ab­ wickeln kann (Abbildung 62). Die Lösung ist hier so gewählt, daß die Spule von der Mitte aus nach beiden Seiten hin konisch bewickelt ist. Vorläufer des geworfenen Schiffchens ist der sogenannte Stockschütze (Abbildung 63 a). Er wurde bei den Römern benutzt und hatte schon einen Hohlkörper mit einsetzbarer Spule. Der Griff zeigt, daß er durchs Fach gereicht wurde, wie

63: Vorformen des Handschiffchens für (a) Senkrecht- und (b) Flachwebstuhl.

a)

82

b)

64: Hans Weber, der We­ ber, lebte und arbeitete um 1390 in der Mendel­ sehen Zwölfbrüderstif­ tung in Nürnberg. Sein Bild im Hausbuch der Stiftung - nachträglich um 1425 angefertigt - ist das älteste erhaltene Bild eines deutschen Webers. Er arbeitet an einem Webstuhl mit vier Schäf­ ten. Das ist an den vier Rollen, an denen die Schäfte aufgehängt sind, und an den Tritten zu er­ kennen. Mit solchen Webstühlen können mehr als nur Fach und Gegen­ fach hergestellt und die Schußfäden daher auf verschiedene Weise ein­ gebracht werden (vgl. auch Abb. 66 und 67).

das beim Senkrechtwebstuhl ja auch nicht anders möglich war. Ein anderes frühes Schußeintragsgerät (Abbildung 63b) ist eingekerbt, um den Schußfa­ den aufnehmen zu können und abgerundet, damit er sich beim Durchwerfen nicht in der Kette festhakt. Schäfte und Lade am Trittwebstuhl und deren Aufhängung machen, be­ sonders wenn der Webstuhl transportabel sein soll, ein hohes Gestell not­ wendig. Es gibt allerdings auch eine viel einfachere Aufhängung, nämlich an der Decke. Abbildung 64 zeigt diese Lösung, gleichzeitig aber auch eine Wei­ terentwicklung: An der Decke sind vier Rollen befestigt. Für zwei Schäfte braucht man aber nur zwei Aufhängepunkte auf einer Achse oder auf zwei Rollen (vgl. Abb. 56 und 44). Die vier Rollen können eigentlich nur bedeu­ ten, daß auch vier Schäfte benutzt werden. Die sind auch tatsächlich zu er­ kennen. Außerdem sind vier Pedale vorhanden. In einer noch älteren Darstellung aus dem Jahre 1310 (Abbildung 65 a) ist die Aufhängung nicht mit Rollen, sondern mit Gehängehölzem realisiert.

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65: Solche großen Web­ stühle wurden in vielen Gegenden Europas für die Herstellung breiter Stoffbahnen verwendet. Wenn ein Weber am Webstuhl arbeitet, braucht er neben der Ket­ te noch Platz, um das Schiffchen werfen und auffangen zu können. So kommt bei einer norma­ len Spannweite der Arme von 1,20 m eine übliche Stoffbreite von etwa 70 cm zustande. Sollten bei besonderen Produkten Nähte, die durch Zusam­ menstückeln entstehen, vermieden werden, wur­ de wie hier der breite Webstuhl verwendet. Dieser mußte dann aller­ dings von zwei Personen bedient werden (a). Eine weitere Besonderheit die­ ses Webstuhls ist die Auf­ hängung der Schäfte nicht an Rollen (vgl. Abb. 64). sondern an sogenannten Gehängehölzern (b).

b)

Da vier Gehängehölzer benutzt werden, müssen auch vier Schäfte (Abbil­ dung 65b) und folglich vier Tritte da sein. Mehr als zwei Schäfte werden immer dann benutzt, wenn besondere Bin­ dungsmuster gewebt werden sollen. Der Schußfaden kann dann nicht nur immer auf, ab, auf, ab usw. eingebracht werden, sondern in unterschiedli­ cher Folge und unterschiedlicher Kombination von auf und ab. Zwei Schäfte, die nur Fach und Gegenfach ermöglichen, ergeben immer die bekannte, so­ genannte Leinenbindung. Mit vier Schäften kann man andere, kompliziertere Bindungsmuster her­ stellen, z. B. sogenannte Köper. Dabei wird der Schuß in unterschiedlicher Weise zum jeweils vorhergehenden Schußeintrag versetzt eingetragen. Um so eine Musterung zu bekommen, kann man in folgender Weise vorge-

84

66: Mit mehr als zwei Schäften können die Kettfäden in unterschiedlichen Kom­ binationen angehoben werden. Es kön­ nen auf diese Weise verschiedene Fä­ cher, mehr als nur Fach und Gegenfach (vgl. Abb. 21), hergestellt werden, so daß man den Schuß, z. B. wie hier, im­ mer versetzt zum jeweils davor liegen­ den Faden einbringen kann. Auf diese Weise entstehen sogenannte Bindungs­ muster. Hier handelt es sich um eine so­ genannte Köperbindung.

67: Stoffstück in Köperbindung.

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hen: Man zählt die Kettfäden von 1 bis 4 durch und zieht sie entsprechend der Numerierung jeweils in einen ersten, zweiten, dritten und vierten Schaft ein. Dadurch können die ersten, zweiten, dritten und vierten Kettfäden jeweils für sich oder in unterschiedlicher Kombination angehoben oder gesenkt wer­ den: 1. und 2. Schaft hoch, 3. und 4. gesenkt; dann versetzt 2. und 3. Schaft hoch und 4. und 1. gesenkt; dann wieder versetzt 3. und 4. Schaft hoch und 1. und 2. gesenkt; dann weiter versetzt 4. und 1. Schaft hoch und 2. und 3. gesenkt. Wenn man jetzt so weiter verfährt, würden die Kombinationen wie­ der von vom beginnen. Bei dieser Folge von Schaftkombinationen ergibt sich

68: Bei mehr als zwei Schäften im Webstuhl braucht man auch mehr als zwei Fußschemel. Da diese nicht übereinander­ gebaut werden können, sondern nebeneinander liegen, ergibt sich zu­ nächst die Schwierigkeit, daß die Schäfte nicht in der Mitte angebunden werden können. Das ist aber notwendig, um diese senkrecht auf und ab be­ wegen zu können. Des­ halb werden die Schäfte jeweils in der Mine an so­ genannte Querhölzer an­ gebunden. Diese werden dann mit den Fußsche­ meln in der jeweils ge­ wünschten Kombination verbunden. Hier sind die Schemel für ein Muster angebunden, für das, wenn man die Pe­ dale der Reihe nach von links nach rechts tritt, zu­ erst der erste und der letzte, dann der zweite und der dritte, dann der erste und der zweite und zuletzt der dritte und der vierte Schaft heruntergezogen werden. Da bei Bindungsmustem im­ mer mehrere Schäfte zugleich angehoben werden müssen, hat diese Anbindung den Vorteil, daß die notwendigen Schaftkombinationen an jeweils nur einen Fußschemel angebunden sind und der Weber nicht - wie etwa ein Orgelspieler - mehrere Pedale zugleich treten muß.

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69: Einfacher Trittwebstuhl in der Textilabteilung des Deutschen Museums in München. 87

ein versetzter Schußeintrag, der zu einer Köperbindung führt (Abbildung 66 und 67). Solche Mustermöglichkeiten waren schon vor dem Mittelalter bekannt. Auch beim Gewichtswebstuhl konnten natürlich mehrere Litzenstäbe be­ nutzt und dadurch ebenfalls Bindungsmuster hergestellt werden. So wurden Stoffe mit Köperbindungen in Europa von der Eisenzeit an gefertigt. Den unterschiedlichen Schaftkombinationen beim Heben und Senken der Kettfäden müßten eigentlich, so überlegt man jedenfalls im ersten Moment, unterschiedliche Trittkombinationen entsprechen. Das ist bei den nebenein­ anderliegenden Tritten aber nicht möglich, weil die Schäfte dann nicht alle in der Mitte und damit waagerecht angehoben oder gesenkt werden könnten. Die Schäfte werden deshalb in der Mitte an Querhölzer angebunden, und diese werden dann erst entsprechend den notwendigen Schaftkombinationen an den Fußschemeln befestigt (Abbildung 68). Breite Webstühle mußten von zwei Personen bedient werden (Abb. 65). Der Schiffchenwurf bringt es mit sich, daß ein Weber das Schiffchen nach dem Wurf nur auffangen kann, wenn die Stoff- und damit auch die Fachbrei­ te die Spannbreite seiner Arme nicht übersteigt, denn ganz kurz nach dem Abwurf muß das Schiffchen ja schon wieder aufgefangen werden. Ein Weber

70: Weben am einfachen Trittwebstuhl. Die rechte Hand liegt auf der Lade. In der linken Hand wird das Schiffchen gehalten (a). Zur Fachbildung wird ein Pedal getreten, und während des Tretens beim Übergang vom alten zum neuen Fach wird der in der vorigen Phase eingebrachte und schon einmal angeschlagene Schußfaden ein zweites Mal angeschlagen. Das in der linken Hand gehaltene Schiffchen wird von links nach rechts geworfen (b). Nach dem Abwurf muß die linke Hand sofort auf die Lade wechseln, damit die rechte Hand zum Auffangen des Schiffchens frei wird. Das Schiffchen wird dann mit der rechten Hand aufgefangen. Bei noch geöffnetem Fach wird der Faden zumersten- mal angeschlagen. Dabei wird das Pedal losgelassen. Das andere Pedal für das neue Fach wird getreten (c). Dabei wird der Faden ein zweites Mal angeschlagen (d). Das in der rechten Hand gehaltene Schiffchen wird nun von rechts nach links geworfen (e). Die rechte Hand wechselt nach Abwurf des Schiffchens sofort auf die Lade, so daß die linke Hand frei wird und mit ihr das Schiffchen aufgefangen werden kann (f). Bei noch geöffnetem Fach wird dieser neu eingeschossene Faden zum erstenmal ange­ schlagen. Dabei wird das getretene Pedal losgelassen. Das neue Fach wird dann getreten (g) und der Faden wird ein zweites Mal angeschlagen (h). D. h: in der ersten Phase von links nach rechts folgen Fadenanschlag, Schußeintrag, Fadenanschlag und Fachbildung direkt aufeinander - ebenso in der zweiten Phase, nur jetzt umgekehrt von rechts nach links.

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d)

h)

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würde das Schiffchen also verfehlen, wenn er auf Grund eines breiten Gewe­ bes erst auf dem Sitz entlangrutschen müßte, um auf die andere Seite der Stoffbreite zu gelangen. Das Schiffchen wäre schneller als er. Aus diesem Grund haben die meisten Stoffe, die auf dem Trittwebstuhl gewebt werden, etwa eine Breite von 70 cm. Wenn man tatsächlich einen breiteren Stoff ha­ ben möchte, um bei bestimmten Produkten nicht anstückeln zu müssen, ist der einzige Ausweg, zu zweit zu weben. Beim einfachen Handwebstuhl (Abbildung 69) sind noch zwei Entwick­ lungen wichtig: Zum einen wurden Kett- und Warenbaum im Laufe der Zeit durch weitere Bäume ergänzt (Abb. 56 und 65a). Das hat den Vorteil, daß der dick bewickelte Warenbaum, der sich beim Weben von langen Stoffbah­ nen ergibt, den Weber beim Arbeiten nicht mehr stört. Zum anderen wurden Kett- und Warenbäume mit besonderen Feststellungs-, Brems- und Halte­ mechanismen versehen, um einerseits die Kette spannen zu können und um andererseits ein Nachgeben der Kettfäden bei der Fachbildung zu ermögli­ chen (elastische Kettspannung). Beim Arbeiten sitzt der Weber auf der Webebank im Webstuhl und hat das Schiffchen in der einen Hand zum Wurf bereit und die andere auf der Lade liegen. Sobald er dann mit dem Weben begonnen hat, folgen: Schiffchen werfen, Hand auf der Lade wechseln, Schiffchen auffangen, Lade anschla­ gen, Fach umtreten und Lade anschlagen, in immer gleichbleibendem Ab­ lauf aufeinander folgend (Bildfolge 70).

Charakterisierung der veränderten Webtätigkeit und des veränderten Produkts Der eigentliche Webvorgang, bestehend aus Fachbildung, Schußeintrag und Fadenanschlag, ist derselbe geblieben. Auf Grund der Veränderung des Ar­ beitsmittels verändert sich allerdings die Tätigkeit des Webers und das Pro­ dukt: Der Weber kann insgesamt eine bequemere Arbeitshaltung einneh­ men, wobei nicht gesagt ist, daß das auch insgesamt leichtere Arbeit bedeu­ tet. Er sitzt bei seiner Arbeit, und zwar so, daß er in relativ normaler Sitzhal­ tung den Schuß einbringen und den Arbeitsvorgang beobachten kann. Er muß die Webtätigkeit in regelmäßiger Folge unterbrechen, wenn eine Schuß­ spule abgewebt ist und deshalb ausgewechselt werden muß und wenn das neu gewebte Stück Stoff so lang geworden ist, daß die Bearbeitungsstelle aus seinem Greifbereich herausrückt, wenn also Kette abgewickelt und Stoff auf­ gewickelt werden muß. Unregelmäßige Unterbrechungen ergeben sich, wenn Schuß- oder Kettfäden gerissen sind und angeknotet oder angedreht werden müssen. Bewickelte Schußspulen können in genügender Anzahl und in Reichweite für den Weber auf der Sitzbank abgestellt werden. Bei weiter­ entwickelten Trittwebstühlen kann der Weber die Sperren, die Kett- und 90

Warenbaum am Abwickeln hindern, vom Platz aus lösen und wieder feststel­ len, so daß er seinen Sitz nur dann verlassen muß, wenn er seine Arbeit unterbrechen will. Von den technischen Bedingungen her wäre bei der ei­ gentlichen Webtätigkeit also ein fortlaufender, wenig unterbrochener Hand­ lungsablauf möglich. Die eigentliche Webtätigkeit umfaßt allerdings nur einen Teil der Arbeit des Webers. Darüber hinaus muß er die von ihm selbst oder von anderen geschärte Kette in den Webstuhl einbringen (aufbäumen), in die Schäfte und ins Blatt einziehen und schlichten (mit einem stärkeähnlichen Brei bestrei­ chen, um sie widerstandsfähiger zu machen). Diese Tätigkeiten fallen aus dem möglichen flüssigen Handlungsablauf der eigentlichen Webtätigkeit heraus. Diese besteht zum einen aus Einzelbewegungen Pedal treten, Lade anschlagen, Pedal loslassen und zum anderen aus dem Bewegungszusammenhang werfen - auffangen, werfen - auffangen gekoppelt mit dem Handwechsel auf der Lade. Ansatzpunkt für die Entwick­ lung einer gleichmäßigen, nicht so anstrengenden und ein besseres Produkt erzeugenden Arbeitstätigkeit muß der Bewegungszusammenhang sein. Wenn er gestört ist, lassen sich die Einzelbewegungen nicht gleichmäßig zu­ ordnen. Für den Weber ist daher wichtig, seine Tätigkeit ansetzend am Be­ wegungszusammenhang «werfen - auffangen - Lade anschlagen» zu rhyth­ misieren. Verglichen mit dem Weben am Gewichtswebstuhl ist das beim We­ ben am Trittwebstuhl leichter, weil hier erhebliche Anteile der Webtätigkeit von mechanischen Hilfsmitteln übernommen werden: Die Schäfte am Tritt­ webstuhl werden durch Pedalzug bewegt. Der notwendige Höhenunter­ schied ist eingestellt und im Arbeitsgerät festgelegt. Lediglich die Heftigkeit des Tritts kann bei den Schaftbewegungen noch zu gewissen Unterschieden führen. Die Anschlagbewegung ist durch die Lade ebenfalls festgelegt, ganz anders als beim Hand-, Schwert- oder Kammanschlag. Auch die Stärke des Anschlags liegt in gewisser Weise durch das Gewicht der Lade fest. Eine kräftige oder weniger kräftige Handbewegung bewirkt, genau wie beim Tritt, nur geringe Unterschiede. Fachbildung und Ladenanschlag im Trittwebstuhl sind jedenfalls, vergli­ chen mit dem Gewichtswebstuhl, schon weit mechanisiert. Nur Antriebs­ und Steuerungstätigkeit müssen noch vom Weber ausgeführt werden. Die Konzentration des Arbeitenden richtet sich nicht mehr auf die Formen der Bewegung, weil diese durch die mechanischen Hilfsmittel festgelegt sind. Lediglich der Schußeintrag erfordert Konzentration auf die Form der Bewe­ gung, allerdings auch nicht mehr in dem Maße wie beim Gewichtswebstuhl, denn ein gut geformtes Schiffchen kann vom Weber kaum schlecht geworfen werden. Die wesentliche Leistung des Webers ist es daher, eine möglichst rhythmische Gesamtbewegung zu entwickeln und diese auch möglichst gleichmäßig auszuführen. Eine günstige Voraussetzung dafür ist, daß der 91

Weber vom einigermaßen bequemen Sitz aus alle Glieder zur Bewegung frei hat und im wesentlichen leicht gebeugt über nur einer Arbeitsgeraden, ent­ lang dem Schußfadeneintrag, arbeitet. Verglichen mit dem Handspinnrad ist die Bewegungskoordination und Entwicklung einer flüssigen Gesamtarbeitsbewegung hier wesentlich einfa­ cher, jedenfalls wenn der Webstuhl gut gebaut ist. Damit deutet sich schon an, daß die Konstruktion der Arbeitsmittel mit zunehmender Mechanisie­ rung immer wichtiger wird. Die für damalige Herstellungsprozesse relativ günstigen Bedingungen des Trittwebstuhls wirken sich natürlich auf Qualität und Quantität des Produkts aus. Die mit dem neuen Arbeitsmittel gewebten Stoffe zeichnen sich durch gleichmäßigen Schußeintrag und -anschlag und daher durch gleichmäßige Stoffdichte, also durch gleichmäßige Qualität aus. Dazu kommt wie beim Handspinnrad eine beträchtliche Steigerung der Quantität pro Zeiteinheit. Die durchschnittliche Arbeitsleistung am Trittwebstuhl beträgt 20 Schuß pro Minute.13 Bei einem schon recht feinen Stoff von 20 Schußfäden pro cm kann der Weber, wenn er fortlaufend webt, in der Stunde also 60 cm weben. Das sind bei einer durchschnittlich längeren Arbeitszeit als heute etwa 6 m pro Tag (vgl. S. 63).

Technische Veränderung: Warum? Die Beschreibung der Funktionsweise der neuen Technik läßt die Frage of­ fen, wie es zu diesen Neuerungen und Veränderungen kommt und warum es nicht weitergeht wie bisher. Ist die Steigerung der Arbeitsleistung oder sind andere Gründe die Ursache für die beschriebenen technischen Verände­ rungen? Beim Spinn- und Webverfahren wurden Produktivitätssteigerungen fest­ gestellt. Es konnten z. T. bessere und in beiden Fällen mehr Produkte herge­ stellt werden. Wenn man aber einschätzen will, ob der Wunsch nach Produk­ tivitätssteigerung technische Veränderungen in Gang setzt, muß man, selbst wenn es sich um sinnvolle und brauchbare Produkte handelt, fragen, wem diese Produktivitätssteigerung zugute kommt, wer also ein Interesse daran haben könnte, und Interesse für etwas kann sich eigentlich nur entwickeln, wenn man etwas davon hat. Produktivitätssteigerung durch technische Ver­ änderung ist nicht schon an sich etwas Positives.

An Beispielen wird das deutlicher: Für den, der Produkte herstellt und verkauft, ist Produktivitätssteigerung insofern interessant, als er dann mehr verdienen kann. Für den, der Produkte zwar herstellt, aber nicht verkaufen kann, weil sie ihm nicht gehören und er sie auf Grund eines Arbeitsverhältnisses bearbei-

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tet, ist Produktivitätssteigerung nur dann interessant, wenn er von dem damit erzielten zusätzlichen Verdienst etwas abbekommt, wenn sich sein Lohn er­ höht oder sich, weil in kürzerer Zeit mehr hergestellt werden kann, bei glei­ chem Lohn seine Arbeitszeit verkürzt. Beim Stichwort Arbeitszeitverkürzung rückt ein ganz anderer Grund für technische Veränderungen ins Blickfeld, nämlich Arbeitserleichterung und damit verbunden geringere Arbeitsmühe. Daran müßten Arbeitende eigent­ lich immer Interesse haben. Was nützt dagegen einem Arbeitenden die Pro­ duktivitätssteigerung, wenn er nichts davon abbekommt. Es ist ja keineswegs sicher, daß der Besitzer der Produktionsstätten und der Produkte, der Unter­ nehmer, ihn an dem zusätzlichen Verdienst beteiligt. Arbeitserleichterung durch Technik würde dem Arbeitenden aber immer direkt zugute kommen. Bleibt die Frage, ob der Besitzer der Produktion für technische Veränderun­ gen, die nur Arbeitserleichterung, nicht aber Produktionssteigerung bewir­ ken, etwas ausgeben will, denn solange die Arbeit nicht so beschwerlich ist, daß das Produktionsergebnis leidet, bringt eine solche Veränderung für ihn nichts ein.

Bei diesen Beispielen gehen wir selbstverständlich davon aus, daß Produkte gegen Geld verkauft werden, daß man sich auf jeden Fall Geld als Existenz­ mittel erwerben muß, für das man dann wieder das Lebensnotwendige und Wünschenswerte für sich selbst kaufen kann. Wir gehen weiter wie selbst­ verständlich davon aus, daß man Geld entweder dadurch verdient, daß man etwas selbst herstellt und auch verkauft oder indem man mit eigenen Mit­ teln etwas herstellen läßt und dann verkauft oder indem man gegen Lohn arbeitet. Eine ganz andere Situation ergibt sich aber, wenn direkt für den Gebrauch produziert wird, wie das in den «Selbstversorgereinheiten» der Urgesell­ schaft war. Wie sieht es in dieser Situation mit Produktivitätssteigerung und Arbeitserleichterung als Antrieb für technische Veränderungen aus? Wahrscheinlich kommt man in solch einer Situation, in der man sich eini­ germaßen mit dem Lebensnotwendigen versorgen kann, nicht sehr schnell darauf, etwas im Versorgungsverfahren zu verändern. Erst jahrtausendelan­ ge Erfahrungen der Menschen, gerade auch mit der technischen Entwick­ lung, führten zu der uns fast natürlich erscheinenden Einstellung, vieles «ver­ bessern» zu können und zu wollen. Technische Veränderungen kosten nämüch erst einmal Anstrengung. Außerdem sind sie auch nur möglich, wenn man Zeit hat, sich damit zu beschäftigen, wenn z. B. andere unmittelbar für die eigene Ernährung mitsorgen oder Geld zur Verfügung stellen oder Lohn bezahlen können. Technische Veränderungen können schon durch Wünsche nach Produkti­ vitätssteigerungen oder Arbeitserleichterungen motiviert sein. Beide Wün­ sche sind aber nicht naturgegeben. Sie sind je nach Produktionssituation un­ 93

terschiedlich stark vorhanden und auch nicht für alle an der Produktion Be­ teiligten von gleichem Interesse. Darüber hinaus gibt es noch andere Gründe für technische Veränderun­ gen, z. B. Erhaltung des bisherigen Lebensstandards, wenn beispielsweise ein bisher benutzter Rohstoff ausgeht und ein neuer Rohstoff ein anderes Bearbeitungsverfahren verlangt oder Wünsche nach ganz neuen Produkten, die ebenfalls neue Herstellungs- und Bearbeitungsverfahren notwendig ma­ chen. Auch solche sächlichen Notwendigkeiten können bei technischer Wei­ terentwicklung eine Rolle spielen, allerdings auch meistens nicht naturgege­ ben, sondern häufig auf Grund weiterentwickelter Bedürfnisse. Wenn sich technische Veränderungen in der mittelalterlichen Textilpro­ duktion vollzogen haben, so fragt sich, welche Gründe hier eine Rolle ge­ spielt haben.

Handwerker-Städte - Händler

Im alten Europa wurde in kleinen Selbstversorgungseinheiten produziert. Spezialisten gab es nur für Arbeiten, die besondere Fertigkeiten erforderten (z. B. Schmieden) oder die an Rohstoffe gebunden waren, die nur in beson­ deren Gegenden vorkamen (z. B Töpfern oder Bergbau). Die Aufteilung der Arbeit ging selten über die sogenannte natürliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern oder zwischen Alt und Jung hinaus. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesellschaftsform des Feudalismus entwickelten sich zunehmend auch größere Produktionseinheiten, z. B im Zusammenhang mit Königs- und Ritterhöfen und Klöstern. Hier ergaben sich andere Anlässe und Möglichkeiten für Spezialisierungen als bisher: Wenn in einer Einheit viele Menschen versorgt werden müssen, gibt es genug Arbeit für den einen, der nur Brot backt, oder für den anderen, der nur Wagen baut. So wird es sinnvoll, die Arbeit umzuverteilen, etwa in der Wei­ se, daß einer von 10 Arbeitenden sich auf Geräteherstellung spezialisiert, während die anderen dafür nur noch landwirtschaftliche Tätigkeiten ausfüh­ ren und seinen landwirtschaftlichen Arbeitsanteil mit übernehmen. So kön­ nen sich beide, sowohl die Bauern als auch die Handwerker, spezialisieren. Die Bauern konnten viele handwerkliche Tätigkeiten fallen lassen und sich auf Bodenbearbeitung und Viehhaltung konzentrieren, während der Hand­ werker andere notwendige Produkte herstellte. Eine erfreuliche Erfahrung und eine nützliche Folge bei solcher Speziali­ sierung war, daß dadurch die bisher bekannten Verfahren und Produkte wei­ terentwickelt wurden; denn derjenige, der immer dieselbe Arbeit machte und nicht dauernd zwischen verschiedenen Tätigkeiten wechseln mußte, konnte seine Arbeit zunehmend vervollkommnen. Darüber hinaus stellten

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sich in diesen größeren Produktionseinheiten auch ganz neue Aufgaben, z. B. der Bau von Steinhäusern oder so etwas wie Buchführung. Es geht bei der Herausbildung des Handwerks in den größeren Produktionseinheiten also keineswegs nur um eine Umverteilung der bisher auch schon in den klei­ nen Produktionseinheiten ausgeführten Tätigkeiten. Der Prozeß der Weiter­ entwicklung der Arbeitsteilung ist gleichzeitig ein Prozeß der Differenzie­ rung der Arbeit und in diesem Sinne ein Fortschritt der Produktion, weil bekannte Verfahren weiterentwickelt und andere, neue, hervorgebracht wurden. Der Bauplan des Klosters St. Gallen aus dem Jahre 820 (Abbildung 71) gibt einen Einblick in diese Situation. Im Zusammenhang mit der Textilpro­ duktion ist daran interessant, daß nur für die Walker eine gesonderte Werk­ statt geplant ist (Stampfe). Daraus kann man schließen, daß die anderen Textilarbeiten, wenn sie im Kloster ausgeführt wurden, zu diesem Zeitpunkt häusliche Nebentätigkeiten der Klosterangehörigen waren. In einer zusammenfassenden Darstellung über das vorindustrieile Deutsch­ land werden für die Zeit vor der Jahrtausendwende schon folgende Speziali­ sierungen in den größeren Produktionseinheiten festgestellt: - «Nahrungshandwerke: Müller, Bäcker, Fleischer (daneben auch Gärtner, Hirten und Fischer als Spezialberufe). - Kleidungshandwerke: Spinner, Weber, Schneider, Walker, Gerber, Schuhmacher. - Produktionsmittel- und Rüstungshandwerke: Bearbeiter von Metall und Holz, z. B. Stellmacher oder Wagner, Schmiede, Schwertfeger, Schildma­ cher. - Bauhandwerke: Zimmerleute, seltener Steinbe- und -Verarbeiter (Mau­ rer, Steinmetze), letztere vor allem bei Sakralbauten. - Hersteller von Luxusgegenständen: Meistens Spezialisten aus den schon genannten Handwerken.»14

Die wesentliche Grundlage für die Herausbildung von Ackerbau- und Hand­ werksspezialisten ist darin zu sehen, daß die aus dem direkten Nahrungser­ werb, aus der sogenannten Primären Produktion Ausscheidenden durch das Produktionsergebnis der anderen mit ernährt werden können. Eine der Vor­ aussetzungen für die Entwicklung der stärkeren Arbeitsteilung muß deshalb eine Steigerung des landwirtschaftlichen Produktionsergebnisses sein, denn auch die handwerklich Produzierenden müssen jetzt zusätzlich mit Nahrung versorgt werden, wie bisher schon die überhaupt nicht produzierenden welt­ lichen und kirchlichen Herren und Beamten. Die Bauern mußten also noch ein größeres Mehrprodukt an Nahrung herstellen als bisher. Bis dahin hatten sie schon die weltlichen und kirchlichen Herren und ihre Beamten mitversor­ gen müssen. Das war der Sinn der bäuerlichen Feudalabgaben und des Kir-

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71: In dem Plan für den Bau des Klosters St. Gallen in der Schweiz aus dem Jahre 820 sind für verschiedene Handwerker eigene Werkstätten ausgewiesen. Daraus kann man schließen, daß sich in den großen Produktionseinheiten der Klöster in dieser Zeit schon Spezialisten für handwerkliche Arbeit herausgebildet haben und daß sich eine Arbeitsteilung zwischen handwerklichen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten zu ent­ wickeln begann. 1. Klosterkirche 2. Schreibstube im EG, Bibliothek im OG 3. Sakristei im EG, Kammer für die liturgi­ schen Gewänder im OG 4. Wohnung fQr durchreisende Ordens­ brüder 5. Wohnung des Vorstehers der Äußeren Schule 6. Wohnung des Pförtners 7. Zugangshalle zur Äußeren Schule

8. Empfangshalle fQr alle Besucher des Klosters 9. Zugangshalle zum Pilger- und Armen­ haus und zu den Wirtschaftsgebäuden 10. Wohnung des Verwalters des Pilgerund Armenhauses 11. Sprechraum der Mönche 12. Turm des heiligen Michael 13. Turm des heiligen Gabriel

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14. Zubereitungsraum des heiligen Oles und Brotes 15. Schlafsaal der Mönche im OG. Wärme­ raum im EG 16. Abtritt der Mönche 17. Bade- und Waschraum der Mönche 18. Speisesaal der Mönche im EG, Kleider­ raum im OG 19. Wein- und Bierkeller der Mönche im EG. Vorratskammer im OG 20. KQche der Mönche 21. Bäckerei und Brauerei der Mönche 22. KQche, Bäckerei und Brauerei für die vornehmen Gäste 23. Haus für vornehme Gäste 24. Äußere Schule 25. Abtshaus 26. Küche, Keller und Badhaus des Abtes 27. Aderlaßhaus

chenzehnten. Nun mußten sie noch ein zusätzliches Mehrprodukt schaffen, das sie selbst nicht zum Leben brauchten. Das scheint im breiteren Ausmaß vom 11. Jahrhundert an möglich gewe­ sen zu sein. Nach der Jahrtausendwende ist in Europa eine erhebliche Aus­ dehnung der Ackerfläche durch Rodungen festzustellen. Außerdem setzt sich eine Intensivierung in der Bodenbearbeitung und eine veränderte Nut­ zung durch. Dreifelderwirtschaft, Düngung, Durchsetzung der verbesserten Anspannung der Zugtiere, Verbreitung des schweren Pfluges, Bau von Was­ sermühlen und die Ausbreitung des Getreideanbaus sind wichtige Momente dieser Veränderung. Obwohl die Bevölkerung in Europa in dieser Zeit sehr stark zunahm, scheint das landwirtschaftliche Produkt ausgereicht zu haben, um auch eine Handwerkerschicht in den Dörfern und in den sich zunehmend entwickeln­ den Städten mit zu ernähren. Um 1150 lebten 2% der deutschen Bevölke­ rung in etwa 200 Städten, um 1400 waren es schon 12% der Bevölkerung, die in etwa 3000 Städten lebten. Damit war eine weitere Differenzierung der Arbeitsteilung verbunden. Die Entwicklung von Verkaufs-Spezialisten setzt ein, weil die Städte im Unterschied zu Königshöfen und Klöstern keine Selbstversorgereinheiten mehr waren. In den Städten wurde nicht genügend Nahrung für die Bevölkerung hergestellt, so daß von den umliegenden Dör­ fern landwirtschaftliche Produkte gegen städtische, meist handwerkliche ein­ getauscht werden mußten.

28. Ärztehaus 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44.

Spital- und Novizenkirche Spital Novizenschule Küche und Bad des Spitals Küche und Bad des Novizitats Gärtnerwohnung Hühnerstall Haus der Hühner- und Gänsewärter Gänsestall Komscheune Haupthaus der Werkleute Nebenhaus der Werkleute Mühle Stampfe Darre Küferei, Drechslerei und Getreidehaus für die Brauer 45. Pilger- und Armenhaus 46. Küche, Bäckerei und Brauerei für die Pilger

47. Pferde- und Ochsenstall, Wärterunter­ kunft 48. Haus für des Kaisers Gefolgschaft (Identifizierung nicht ges.) 49. Schafstall und Schafhirtenunterkunft 50. Ziegenstall und Ziegenhirtenunterkunft 51. Kuhstall und Kuhhirtenunterkunft 52. Haus für die Knechte von abliegenden Besitzungen und für Knechte in der Ge­ folgschaft des Kaisers (unsicher, vgl. 34) 53. Schweinestall und Schweinehirtenunter­ kunft 54. Stall für die trächtigen Stuten und Fül­ len, Wärterunterkunft 55. Klostergarten mit Kreuzgang 56. Gemüsegarten der Mönche 57. Friedhof und Obstgarten 58. Kreuzgang 59. Kreuzgang 60. Garten für Heilkräuter

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In frühen Gesellschaften, die in Selbstversorgereinheiten nach dem soge­ nannten naturalwirtschaftlichen Prinzip produzieren, gibt es wenig Gele­ genheit zu tauschen. Es gab zwar schon immer Femhändler, aber die han­ delten nicht mit Produkten des täglichen Bedarfs und deshalb nicht mit dem «gemeinen» Mann, sondern vorrangig mit den herrschenden Schichten, im damaligen Europa vor allem mit den staatlichen und kirchlichen Feudal­ herren. Der gemeine Mann brauchte nicht zu tauschen, und er hatte in der Regel auch nichts übrig, was er tauschen konnte. Die breite Schicht der Bauern mußte das, was «übrig» war, meistens als Abgaben an Kirche und weltliche Grundherren abführen. Spezialisierungen und damit verbundener Tausch mit anderen Produktionseinheiten waren die Ausnahme. Mit der Entwicklung einer Handwerkerschicht in den Dörfern und der Konzentration von Handwerkern in den Städten änderte sich diese Situation. Die Handwerker, vor allem die städtischen, mußten sich Nahrungsmittel ge­ gen ihre Produkte eintauschen. Das paßte damit zusammen, daß die Bauern, nunmehr frei von manchen handwerklichen Tätigkeiten, ein Mehrprodukt erzeugten, das sie gegen gewerbliche Produkte, die sie immer weniger selbst herstellten, eintauschen konnten. Tausch, ursprünglich von gleichwertigen Gebrauchswerten, sowie Kauf und Verkauf gegen Geld wurden notwendiger und üblicher. Durch diese Entwicklung eines «inneren» Austauschprozesses entwickel­ ten sich viele Märkte, was wiederum zur Vermehrung der Städte beitrug. Die Gruppe der Femhändler wurde in diesem Prozeß allmählich durch eine neue Gruppe, durch die «Nahhändler», ergänzt. Es entstand eine breite Händlerschicht, also eine zusätzliche Gruppe, die, wie die Feudalherren und Beamten, überhaupt nicht produzierte. Die damalige Lebenssituation wurde von einem Historiker des vorigen Jahrhunderts wie folgt dargestellt: «Die Masse des Volkes hatte arbeiten, den Boden roden, den Acker düngen und pflügen, eine Menge neuer Pflan­ zen bauen, sie hatte den Geldverkehr und das Marktwesen kennengelemt; sie hatte menschliche Wohnungen bauen, den Backstein brennen, Schiffe zimmern, Kirchen aus Stein bauen, Werkzeuge aller Art anwenden lernen; sie hatte in der Kirche und an den Höfen der Großen die Schätze und die Wunder der südlichen Kultur bewundern und begehren, in den wirtschaftli­ chen Unternehmungen beider sich großen technischen Plänen und einer fe­ sten Organisation der gegliederten Arbeit von Hunderten und Tausenden fügen lernen. Und mochte der einzelne sich immer noch entsetzlich ärmlich kleiden, mochte an den Höfen der Großen und selbst in den Kirchen neben einzelnen Prachtkleidem und Teppichen, die aus dem Süden stammten, im­ mer noch dürftige Armuth im Vergleich mit einer späteren Zeit herrschen, ganz anders war doch auch die Kleidung, der Hausrath, das Lager geworden. Nicht mehr als halbnackte Gestalten und überwiegend in Pelze gekleidet ha­ 98

ben wir uns die Deutschen des 8.-10. Jahrhunderts zu denken, wie ihre Vor­ fahren zu Tacitus Zeit. Der graue oder blaue Mantel, der leinene Rock, die Hosen sind jetzt ziem­ lich allgemein; in den Wohnungen, wenigstens der Reichen, sind Teppiche und Vorhänge; bunte Farben, freilich in rohester Anwendung und Mischung sind beliebt; die Leinewand ist der vorherrschende Kleidungsstoff der Vor­ nehmen; daneben freilich sind Schaf- und Ziegenfelle noch sehr verbreitet, besonders in den unteren Klassen. Auch Wollstoffe kommen vor; aber noch nicht sehr zahlreich. Die Schafzucht war im Innern Deutschlands, wenigstens in älterer Zeit nicht sehr verbreitet. Nach der Erzählung des St. Galier Mön­ ches gehörte früher zu der Tracht der vornehmsten Franken äusser den rothen Leinenhosen (tibialia vel coxalia linea) die camisia clizana, d. h. das Hemd aus Glanzleinwand, an dessen Stelle nun theilweise das gallische kur­ ze, gestreifte Sagum (kurzer Mantel, Umhang- d. V.) trat, während der Kai­ ser Karl selbst bei der alten einfachen Linnentracht blieb. Wenn berichtet wird, noch in den Tagen Kaiser Friedrichs I. sei der hohe Adel in Leinwand gekleidet gewesen, so lassen wir das dahingestellt; der Sinn eines solchen Berichts kann nur der sein, diese Tracht als die vornehmere gegenüber den Schafpelzen der Armen, nicht aber gegenüber den feinen farbigen Tüchern der späteren Zeit zu bezeichnen. Jedenfalls ist, gegen die Wende des Jahrtau­ sends, die alte Einfachheit und Nacktheit der Germanen in ihr Gegentheil umgeschlagen; der Körper ist allerwärts doppelt und dreifach bedeckt, noch unschön, ohne rechte Vermittlung römischer und germanischer Sitte, aber doch in einer Weise, dass für das wirthschaftliche Bedürfniss an Geweben ganz anders gesorgt werden musste als früher.»15 Aus diesem Bericht ergibt sich, daß, abgesehen vom Bevölkerungsanstieg und dem damit wachsenden allgemeinen Bedarf, offenbar auf Grund der Entfaltung der Produktion Bedürfnisse und Bedarf der einzelnen Menschen wuchsen. Für das Bekleidungshandwerk, das ja Primärbedürfnisse der Men­ schen befriedigte, boten sich deshalb gute Entwicklungschancen.

Textilhandwerker in den mittelalterliclien Städten

Handel und Handwerk konzentrierten sich in den Städten und entwickelten sich hier schwerpunktmäßig. Handwerker sind Spezialisten, die aus vorhandenen Rohstoffen brauchba­ re Gegenstände herstellen. Nach der Idealvorstellung stellen sie «ganze» Produkte her, d. h. fertige Gegenstände, die ohne Weiter- oder Nachbear­ beitung ge- oder verbraucht werden können. Und sie spezialisieren sich auf Produktgruppen. Der Wagner stellt Wagen her, der Schuster Schuhe, der Bäcker backt Brot und Brötchen, usw. Doch je nach Größe und ArtderStädte entwickelten sich unterschiedliche, auch sehr weitgehende Arten der Ar-

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72: Flachs muß vor dem Verspinnen viele Vorbereitungsstufen durchlaufen: Raufen / Riffeln / Rösten / Dörren / Brechen (Mitte) / Schwingen (links) / Hecheln (Holzschnitt 1583).

beitsaufteilung. Die Arbeit wurde zusätzlich nach Rohstoffgruppen oder auch nach Bearbeitungsschritten gegliedert. Besonders im Textilbereich ent­ stand eine weitgehende Differenzierung. Es gab sehr bald Woll-, Seiden- und Leinwandweber oder Weber, Tuch­ scherer und Färber. Den Allround-Textilhandwerker, der Kleider oder Bett­ tücher von der Faser bis zum gebrauchsfähigen Gegenstand herstellt, hat es nie gegeben. Das war eine Spezialität der häuslichen Produktion im soge­ nannten Hauswerk.

Art der Arbeitsteilung In den Städten entwickelten sich oft zuerst die sogenannten Fertigmacher, vor allem Walker und Färber, zu selbständigen Handwerkern. Meistens tauchten erst später Wollweber-, Tuchmacher, Wollschläger und Leinewe­ ber auf. Der zusätzliche Aufwand fürs Walken und Färben wie Bottiche, Farben, Laugenzusätze, besondere Verarbeitungskenntnisse usw., der sich für wenige Tuche pro Haushalt nicht lohnte, war sicher ein ausschlaggeben­ der Grund, warum sich in vielen Städten bald zentrale Werkstätten und ge­ sonderte Berufsgruppen für diese Tätigkeiten bildeten. Als Ludwig der Heilige 1270 in Paris gestorben war, gingen im Leichenzug 300 Walker, Meister und Knechte, aber nur 60 Tuchmacher und 20 Färber. Daraus ist zu schließen, daßdie rohen Tuche, also die rohen Wollstoffe (Tuche sind meistens aus Wolle), noch überwiegend auf dem Lande hergestellt und in der Stadt nur «fertiggemacht» wurden. Wenn das schon für die Tuchmacher und für Paris zutraf, einer zentral gelegenen Stadt in einem Land, in dem sich das Wollgewerbe zu dieser Zeit schon besonders entwickelt hatte, konn100

te die Textilproduktion in kleineren Städten, besonders im Leinengewerbe, kaum weiter entwickelt sein. Ein Feld Flachs anzubauen war nämlich kein Problem. Das relativ feuchte mitteleuropäische Klima und die durchschnitt­ lich guten Böden ermöglichten dies fast überall. Und die Verarbeitung dieser Gespinstfaser war inzwischen auch seit langem bekannt (Abbildung 72). Es wurden aber keineswegs überall in Europa Schafe gezüchtet. Wolle mußte, wenn sie verarbeitet wurde (Abbildung 73), ähnlich wie Seide und später Baumwolle importiert werden. Wolle ist deshalb für die damalige Zeit gegenüber dem Flachs als wertvoller einzustufen. Dies war sicher eine Folge der mit der Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen Produktion verbun­ denen Spezialisierung auf bestimmte Produkte in bestimmten Landschaften. Es entwickelten sich nämlich um diese Zeit zunehmend Zonen der Viehhal­ tung und Zonen des Getreideanbaus, so daß sich Schafzucht offenbar in Ge­ genden mit für Getreideanbau nicht so geeignetem Boden anbot. England wird immer als das europäische Land beschrieben, das einerseits weite Flächen hat, die sich nicht gut zum Getreideanbau eignen, andererseits aber durch ein besonders feuchtes Klima ausgezeichnet ist, in dem besonders feine und weiche Wolle erzeugt werden kann. Das Wollgewerbe war in Getreideanbaugebieten also sehr stark auf den Handel angewiesen und entwickelte sich deshalb eher als städtisches Hand­ werk als das Leinengewerbe. Die Leinenweberei tauchte meistens ziemlich spät als gesondertes Handwerk auf. Sie wurde auf Grund der Rohstoffsitua­ tion lange als Hauswerk betrieben.

73: Wolle durchläuft in der Vorbereitung zum Verspinnen folgende Bearbeitungsstu­ fen: Scheren (Abb.)/Waschen/Trocknen/Sortieren / Lockern / Krempeln / Kämmen (Holzschnitt 1583). 101

Allgemein kann man sagen, daß sich Weber vom 12. Jahrhundert an nicht nur in Klöstern, sondern auch in den Städten finden, zunächst sicher noch wenige und meistens noch nicht spezialisierte. Viele verwebten wahrschein­ lich zuerst sowohl Woil- als auch Leinengarne, und zwar als «männliche We­ ber». Offenbar war die Entwicklung zum selbständigen Handwerk der Grund dafür, daß Weben auch für Männer eine akzeptable Tätigkeit wurde. Schriftlich sind städtische Weber wohl zum erstenmal 1099 in Mainz erwähnt. Sie schließen sich dort der Stiftskirche in St. Stefan an, um einen Begräbnis­ platz zu erhalten.16 Wenn bisher unter der Thematik «Spinnen und Weben» überhaupt nicht vom Spinnen als Handwerk die Rede war, so ist das keineswegs ein Versehen oder Zufall. Spinnen war bis auf wenige Ausnahmen noch im 18. Jahrhun­ dert eine häusliche Nebentätigkeit der Frauen. Weil das Textilgewerbe Primärbedürfnisse befriedigt, weil alle Menschen einer Gesellschaft textile Produkte brauchen und weil sich bei zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung einer Gesellschaft der Bedarf an dieser Stelle besonders schnell entwickelt, hat das Textilgewerbe insgesamt eine sehr gute Entwicklungschance. Dies bedeutet aber nicht, daß sich Spinnen und Weben in der handwerklichen Produktion unbedingt als führende Gewerbezweige herausgebildet hätten, denn spinnen und weben konnte jeder, jedenfalls je­ de Frau. Diese seit Urzeiten übliche häusliche Produktion war für die Bevöl­ kerung eine Selbstverständlichkeit und blieb es, besonders für die bäuerliche Bevölkerung, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Die häusliche Produktion war deshalb lange und immer wieder eine Konkurrenz für das Textilgewerbe. Für das Spinnen heißt das sogar, daß sich nur in wenigen Gegenden ein gesonder­ ter Handwerkszweig herausbildete.

Weberarbeit in den mittelalterlichen Städten Ursprünglich arbeiteten die Handwerker in den Städten als Lohn- oder Preis­ werker. Brachten ihnen die Kunden eigene Rohstoffe, die sie für diese nach deren besonderen Wünschen verarbeiteten, dann arbeiteten sie im soge­ nannten Lohnwerk. Für eine ganz bestimmte Arbeit an einer Sache bekamen sie einen ausgehandelten Lohn. Nahmen sie aber Aufträge von Kunden an und kauften die Rohstoffe auf dem Markt dafür ein, um sie dann nach den Wünschen der Kunden zu verarbeiten und die fertigen Produkte gegen einen ausgehandelten Preis an die Kunden abzugeben, dann arbeiteten sie im soge­ nannten Preiswerk. Wie die anderen Handwerker arbeiteten auch die Weber zunächst für eine direkte persönliche und spezielle Nachfrage im Lohn- oder im Preiswerk. Das, was man für sich selbst genauso oder in ähnlicher Form herstellte, wurde jetzt auf Nachfrage für meistens bekannte Kunden produziert. Aber anders als z. B. die Schneiderei eignete sich die Weberei von der Art des Produkts her durchaus auch für Arbeit auf Vorrat, denn so unterschiedlich waren die 102

Stoffwünsche der Kunden nicht, ganz im Gegenteil zu Kleidern oder Schu­ hen, die früher immer angemessen werden mußten. Da die Weber normaler­ weise keine End-, sondern meistens Zwischenprodukte herstellten, konnten sie auch auf Vorrat produzieren und versuchen, Kunden für ihre Produkte auf dem Markt zu finden. Spätestens hier bekommt die Produktion in einem Gewerbe einen ganz anderen Charakter. Es werden nicht mehr Produkte, die für einen spezifischen Zweck gebraucht werden, also Gebrauchsgegen­ stände hergestellt, sondern Produkte, die verkauft werden sollen, also Ver­ kaufsgegenstände, im üblichen Sprachgebrauch Waren. Ziel dieser verän­ derten Produktion ist es, das, was hergestellt wird, gegen Geld zu tauschen, das bedeutet: zu verkaufen, um wiederum für den Eigenbedarf jene Produk­ te einkaufen zu können, die man nicht selbst herstellt. Hier liegt der Beginn dersogeannten Warenproduktion, die die Selbstversorgerproduktion ablöst. Dieser Schritt spielt in der Entwicklung aller Gewerbe eine besondere Rol­ le. Die Weber, die anfangen, sich am Markt zu orientieren, müssen nicht bei jedem Stück, das sie herstellen, umdenken. Sie brauchen nicht jedesmal auf jeweils spezifische Kundenwünsche Rücksicht zu nehmen, z. B. hinsichtlich der Breite, der Dichte oder der Musterung des Stoffes. Sie können mehrere Stücke von einem Produkt herstellen. Das spart Zeit. Das Herstellungsver­ fahren muß nicht nach jedem fertigen Produkt neu überdacht und verändert werden. So kann z. B. die sehr aufwendige Arbeit des Einziehens der Kette in die Schäfte mehrmals eingespart werden. Es werden eben nicht nur 3 Me­ ter eines speziell bestellten Stoffs hergestellt, sondern gleich 20 Meter oder mehr. Dabei übt sich der Weber besonders in dem Verfahren, das er gerade anwendet, so daß er differenzierte Fähigkeiten entwickelt. Dabei kann ihm auffallen, daß er das Arbeitsgerät für die Herstellung dieses Produktes in spezieller Weise verändern könnte. Diese Entwicklung führt dann zur Ver­ einheitlichung der Produkte und der Arbeitsgeräte, also zu Standardisierun­ gen und zu speziellen Fertigkeiten, zu Spezialisierungen. Beides, Standardi­ sierung und Spezialisierung, können Folgen der beginnenden Warenproduk­ tion sein. Dies trifft im Textilgewerbe zu. Die Arbeitssituation der Weber war dadurch gekennzeichnet, daß sie zu Hause in einer Webstube, einer Webkammer oder im Webkeller (s. S.56) allein oder mit ein oder zwei Gehilfen arbeiteten. Wahrscheinlich verwebten sie teilweise von den Frauen des Hauses gesponnene Game. Das Fasergut und die darüber hinaus notwendigen Game kauften sie auf dem Markt. Obwohl die Verantwortung für die Ernährung der Familie in der Regel dem Hausvater zukam und deshalb wohl bei der Entwicklung der Weberei zum Gewerbe auch Männer diese Tätigkeit übernahmen, gab es im Textilge­ werbe verständlicherweise auch Frauen, die selbständig arbeiteten. Das ist daraus zu entnehmen, daß auch Frauen als vollberechtigte Mitglieder der Zünfte geführt wurden. Manchmal waren es wohl Meisterwitwen, die als Vollmitglieder der Zunft aufgenommen wurden, um das Gewerbe der Fami­

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lie weiterführen zu können. Im Textilgewerbe gab es aber auch vollberech­ tigte weibliche Zunftmitglieder, die wahrscheinlich von Anfang an selbstän­ dig arbeiteten. Aus Hamburg und Zürich sind selbständige Leinenweberin­ nen bekannt, aus Mainz im 15. Jahrhundert Schneiderinnen und Seidenstikkerinnen. Oft traten weibliche Handwerkskräfte aber auch als Hausarbeite­ rinnen auf, die in einer Art Gesellenverhältnis zu den Zunftmeistern stan­ den, so wie die Seidenweberinnen in Zürich oder die Spinnerinnen in Frei­ burg, denen selbständige Arbeit untersagt war.17 Es wird immer wieder berichtet, daß Weber auch im Mittelalter selten reich wurden, obwohl Textilien damals schon in großen Mengen gebraucht wurden und obwohl sich die städtischen Weber zu Zünften zusammenschlos­ sen, die immer ein Auge darauf hatten, daß nicht zu viele Meister in einem Gewerbe zugelassen wurden, um die Existenzgrundlage der Familien zu si­ chern. Wahrscheinlich waren zwei Gründe dafür ausschlaggebend. Einmal die Konkurrenz der ländlichen Hausweberei, die sich besonders im Leinenge­ werbe auswirkte, zum anderen die Tatsache, daß Webstühle nicht sehr teuer waren. Der zweite Grund ist deshalb besonders wichtig, weil damals viele ehemalige Leibeigene der Feudalherren oder verarmte und verschuldete hö­ rige Bauern, denen die feudale Abhängigkeit nur noch Nachteile brachte, Zuflucht in den neu entstehenden Städten suchten und fanden. Das war mög­ lich, weil nach damaligem Recht «Stadtluft frei machte» und die ursprüngli­ che Abhängigkeit nach Jahr und Tag in der Stadt aufgehoben war. Wenn diese Menschen in die Stadt kamen, waren sie meist mittellos. Eine einfache Existenzmöglichkeit bot ihnen dann die Weberei, vor allem die Lei­ nenweberei, weil Webstuhl und Flachsfasergut wahrscheinlich noch am ehe­ sten erschwinglich waren. Außerdem hatten alle ländlichen Bewohner diese Arbeit gelernt. Die Konkurrenz der ländlichen Hausweber führte dann dar­ über hinaus dazu, daß die Stadtweber nie sehr viel verdienen konnten, denn die ländlichen Produzenten drückten die Preise. Sie konnten immer billiger verkaufen als die Stadtweber, weil sie nicht allein von der Weberei leben mußten, sondern ihre wesentliche Existenzgrundlage zunächst einmal in der Landwirtschaft hatten. Tuchmacher in Flandern und Florenz Der gewerbliche Produktionsbereich war im Mittelalter durch handwerkli­ che Produktion charakterisiert. Das bedeutete in Übereinstimmung mit dem bisher Gesagten, daß der, der produzierte, seine Produkte sowohl selbst her­ stellte als auch selbst verkaufte, daß er selbständig produzierte, und zwar in dem Sinn, daß ihm die notwendigen Arbeitsmittel wie Webstuhl, Kettschär­ vorrichtung, Spulrad, Haspel, u. U. auch Spinnrad und Arbeitsraum und meistens auch der Rohstoff gehörten und daß er mit niemandem einen Dau­ ervertrag schloß, der ihn abhängig machen würde. Mit seinen Kunden traf er 104

jeweils Einzelabsprachen, schloß mit ihnen Einzelverträge ab oder verkaufte selbständig auf dem Markt. Das änderte sich in der Stoffproduktion immer dann, wenn sich die Textil­ produzenten einer Gegend auf ein bestimmtes Produkt spezialisierten. Und dies geschah, wenn sich Exporthandel entwickelte und dadurch nicht mehr Einzelstücke, sondern Massen produziert wurden. In dieser Situation entwickelten sich manche Textilhandwerker zu Textil­ händlern, zu sogenannten Tuchmachern, die dann nicht mehr selbst in der Produktion arbeiteten, sondern die Produktion leiteten. Meist wurden diese Händler sehr reich. Am Beispiel der flandrischen und florentinischen Woll­ tuchproduktion des Mittelalters sollen solche Entwicklungen, die eigentlich weit über die damaligen Verhältnisse hinausgreifen, beschrieben werden. Schon im 12. Jahrhundert waren Oberdeutschland und Nordwest-Europa in besonderem Maße auf das Textilgewerbe spezialisiert. Im 13. Jahrhundert kam Florenz hinzu. In Konstanz und Umgebung wurden damals vor allem Leinen, in Flandern und Umland in besonderem Maße Wolltuch produziert. Der wichtigste mitteleuropäische Handelsplatz war zu dieser Zeit die Cham­ pagne mit ihren Messeplätzen. Vor allem flandrische, deutsche und italieni­ sche Kaufleute tauschten dort die speziellen Produkte ihrer Länder und ihre Handelsgüter aus. Flandrische Tuche gingen von dort nach Deutschland und Italien. Man kann sich leicht vorstellen, daß die oben beschriebene handwerkliche Tausch- und Verkaufsorganisation nicht ausreichte, um diesen Femhandel zu bewältigen. Die Weber in Flandern z. B. kannten ihre Auslandskunden nicht und konnten von ihnen keine direkten Aufträge bekommen. So waren die Händler notwendigerweise Vermittler zwischen Produzenten und Ab­ nehmern. Sie verkauften auf den Messen in der Champagne das weiter, was ihnen auf den flandrischen Märkten angeboten worden war. Auf diese Weise kamen aber sehr unterschiedliche Stoffqualitäten zusammen, was einem kontinuierlichen Handel nicht gerade förderlich war. Wenn die Kaufleute ihre Kundschaft halten wollten, brauchten sie vor allem Stoffe möglichst glei­ cher Qualität. Um dies zu erreichen, wirkten sie darauf hin, daß ihre Hei­ matstädte «Leggen», «Bänke» oder «Schauen» einrichteten, wo die gewebte Ware ausgelegt und von städtischen Beauftragten beschaut und begutachtet werden mußte. In Konstanz gab es von 1283 an eine Leinwandordnung, worin bestimmt War, daß die Leinengeschäfte nur donnerstags und freitags auf dem Markt abgewickelt werden durften. Zwischenhandel war verboten. Auch die Breite der Stoffe war vorgeschrieben. Stadt- und Landweber belieferten den Markt. Die Kaufleute übernahmen die Ware meistens roh und gaben sie selbst zum Bleichen und Färben. Ungefähr von 1350 an durfte aus Konstanz keine Lein­ wand mehr versandt werden, ohne von den städtischen Schaubeamten mit der städtischen Marke gekennzeichnet und von ebenfalls städtisch beauftrag105

ten Leinwandmessem zugeschnitten worden zu sein. Wahrscheinlich wurde die «Schau» zu Beginn des 14. Jahrhunderts eingerichtet.18 Durch solche Ein­ richtungen entwickelte sich im exportierenden Gewerbe eine zunehmende Standardisierung der Produkte und eine gleichmäßige Qualität. Das paßte mit den Interessen der Weber zusammen, die sich am Markt zu orientieren begannen (s. S. 102). Viel einfacher war es allerdings für die Tuch- und Leinwandhändler, wenn sie die Produkte genau nach ihren Wünschen bei Webern in Auftrag gaben, und noch einfacher, wenn sie Weber durchgängig für sich weben ließen. Und genau diese Produktionsorganisation entwickelte sich in den Niederlanden und in Florenz sehr früh. Dabei änderte sich der Herstellungsprozeß in der Tuchmacherei völlig. Die Tuchproduktion in Flandern (Abbildung 74) wurde von sieben Hand­ werkergruppen ausgeführt: von den Wollschlägem, den Wollkämmern, den Spinnerinnen, den Webern, den Walkern, den Färbern und den Tuchscherem.” Wollschläger und -kämmer arbeiteten in zentralen Werkstätten der Tü­ cher. Da sie während der Arbeit vom Tücher kontrolliert wurden, er also darauf achten konnte, daß sie immer arbeiteten und nicht faulenzten, war es für die Tücher am günstigsten, ihnen nur die Zeit, die sie arbeiteten, zu be­ zahlen. Bei einem Stücklohn hätten die Tücher schnelle Arbeit ja honorieren müssen; d. h., sie wäre ihnen teurer zu stehen gekommen. Deshalb bekamen Wollschläger und -kämmer jeweils einen Zeitlohn. Diese beiden Arbeiter­ gruppen und auch die Spinnerinnen waren nicht in Zünften organisiert. Sie konnten sich den Setzungen der Tücher kaum oder nur einzeln entgegenstel­ len. Von der Verarbeitungsstufe des Spinnens an wurde der Rohstoff zu je­ dem weiteren Verarbeitungsschritt immer erneut an außerhalb der zentralen Werkstätten Arbeitende abgegeben. Jede Arbeiter- oder Handwerkergrup­ pe holte das für sie notwendige Zwischenprodukt aus dem Lager des Tüchern ab und brachte es nach seiner Bearbeitung als weiterbearbeitetes Zwischen­ produkt dahin zurück. Zwischen den verschiedenen Arbeiter- und Handwerkergruppen gab es im Produktionsprozeß keinerlei Querverbindungen, obwohl das von der Sache her eigentlich nahe gelegen hätte, etwa in der Weise, daß die Weber das rohe Tuch direkt an die Walker weitergegeben hätten. Durch diese aufwendigere Organisation hatte der Tücher, wenn außerhalb des Hauses gearbeitet wur­ de, allerdings die größtmögliche Kontrolle über die Entstehung seines «End­ produkts» Tuch. Spinnerinnen, Weber und Tuchscherer, natürlich auch Wollschläger und -kämmer, waren in der Regel an einen Tücher gebunden. Nur die Walker und die Färber durften auch für andere Kunden arbeiten. Sie handelten außerdem meistens feste Stücklohntarife für sich aus. Diese Vor­ teile konnten sie halten oder erhandeln, weil sie in der Regel wirtschaftlich stärker waren als die anderen Arbeiter und Handwerker. 106

Arbeiterinnen im eigenen Haus Handwerker im eigenen Haus oder in der eigenen Werkstatt

Spinnerinnen

Zentralwerkstatt

Lager

Kontor

Haus des Tuchers

WMÜ T ö strengende Tätigkeit. Dies war besonders deshalb wichtig, weil im Handwerk ja nicht mehr nur mal zwischendurch, sondern ganztägig gewebt wurde. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, daß im Handwerk die Männer di* Webtätigkeit übernahmen. Ihre Arbeitszeit stand wahrscheinlich nicht so uneingeschränkt zur Verfügung. Männer waren auch mit öffentlichen Aufgaben beschäftigt, im Handwerk z. B. mit Zunftangelegenheiten, so daß di* Einsparung von Arbeitszeit durch die Verwendung eines neuen Arbeitsmittels in Arbeitsprozessen, die von Männern ausgeführt wurden, eher eia Grund zu seiner Einführung war als bei typischer Frauenarbeit. Ein weiterer Grund könnte gewesen sein, daß die Männer, die traditionel* lerweise wohl die Gerätebauer waren, die Geräte in dem Moment, in dem sie sie selbst benutzten, auf ihre Funktionsfähigkeit hin genauer untersuchtes und verbesserten. Der ausschlaggebende Grund für den eindeutigen Erfolg des Trittwebstuhles war aber sicher die Herausbildung der Weberei zum Handwerk mit eigenen Zünften. Die dadurch mögliche organisierte Ent­ wicklung des Gewerbes mußte neben vielen anderen Dingen auch die Ent­ wicklung der Arbeitsmittel erfassen. Wenn man die bisherigen Vermutungen über die Gründe zur Veränderung innerhalb der Textiltechnik dieser Zeit noch einmal durchgeht, fällt auf, daß keine rein technischen Begründungen angeführt wurden. Die kurzen Fasern der Baumwolle, die bei der Fadenbildung hohe Verdrehungszahlen notwen­ dig machen, ist zwar ein technischer Grund für eine Veränderung im Verfah­ ren, aber dieser technische Grund führt nur dann zu einer Veränderung, wenn diese sich für den, der über Veränderungen entscheiden kann, positiv auswirkt, wenn für ihn damit ein gewünschter Zweck erreicht wird. Ein We­ ber wird sich nur dann ein Handrad anschaffen, wenn er viel Garn zu solchen Produkten verarbeiten will, bei denen die Gamqualität keine so große Rolle spielt, und das auch nur dann, wenn er nicht genügend Frauen hat, die für ihn arbeiten können. Einen Trittwebstuhl wird er allerdings so bald wie möglich verwenden, um wie die anderen Weber gute und viele Stoffe weben zn können. Die Antriebe zur Weiterentwicklung der Technik liegen, das wird daran deutlich, meist nicht in derTechnik selbst, sondern darin, daß Menschen mit Hilfe dieser Technik etwas erreichen wollen. Die Einführung des Trittweb* Stuhls lag im Interesse der Weber-Handwerker. Und da sie ihre direkte Ar­ beitssituation als selbständige Handwerker zunächst alle selbst bestimmen konnten und sich in den Zünften starke Interessenvertretungen geschaffen hatten, war die Entwicklung und Durchsetzung des Trittwebstuhls folge­ richtig. Beim Handspinnrad hätte sich vor allem die Einsparung von Arbeitszeit als Antrieb auswirken können. Da aber mit dem Rad nur eine mindere Gam­ qualität gesponnen werden konnte und die Frauen auf Grund der damaligen

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gesellschaftlichen Verhältnisse wahrscheinlich nicht einmal den Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung hatten, sie aber auch keiner handwerklichen Or­ ganisation angehörten und auch in den Familien nicht die Position hatten, um sich durchzusetzen, spielte die Arbeitszeitverkürzung bei der Veränderung des Spinnverfahrens offenbar keine Rolle.

Technische Entwicklung in anderen Bereichen des Textilgewerbes

Der nächste große Fortschritt in der Spinn- und Webtechnik erfolgte erst im 18. Jahrhundert. In der Zwischenzeit wurde zwar ein neues Spinnrad entwikkelt, aber ein koordinierter Fortschritt von Spinn- und Webverfahren, in der die neue Technik den wirtschaftlichen Prozeß deutlich mit vorantreibt, läßt 500 Jahre auf sich warten. Der Kern des Webprozesses bleibt bis 1733 unver­ ändert. Die Veränderungen in der Spinntechnik waren zwar mit Verände­ rungen in der Produktions- und Arbeitssituation verbunden, aber sie waren vom Produktionsergebnis her zunächst nicht so einschneidend, daß man von einem deutlichen Schritt sprechen könnte. Sie sind eher Bestandteil einer historisch schwer zu verfolgenden, aber hier sichtbar werdenden kontinu­ ierlichen Weiterentwicklung, denn auch der Webstuhl blieb nicht unverän­ dert. So wurden die Transporteinrichtungen für Kett- und Warenbaum zu­ nehmend mechanisiert, oder es entstanden ganz unterschiedliche Trittvor­ richtungen. Herausragende technische Neuerungen gab es aber in anderen Bereichen des textilen Gewerbes. Sie sollen hier wenigstens kurz beschrieben werden, um das Bild der Entwicklung zu differenzieren und abzurunden.

Walkmühlen Nicht nur in der Florentiner Verlagsproduktion, auch in vielen anderen Städ­ ten mit entwickeltem Handwerk baute man vom 11. und 12. Jahrhundert an Walkmühlen (Abbildung 78 und 79). Für das Stampfen der Tuche im Walk­ prozeß nutzte man die Wasserkraft aus. Die Achse des Wasserrades wurde zu einer Achswelle mit Nocken verlängert. Die Nocken hoben schwere Holz­ hämmer, die beim Zurückfallen in den mit Walklauge und Tuch gefüllten Trögen die Tuche stampften. Maschinentechnisch ist wichtig, daß hier die Drehbewegung des Wasserrades in eine Auf- und Ab-Bewegung übersetzt wird. Dieser Vorgang ist Bestandteil einer umfassenderen Entwicklung der Technik: «In der Tat treten erst ganz zu Ende des 10. und im 11. Jahrhundert sichere Beweise für die Verwertung der Wasserkraft zu anderen Zwecken als dem Mahlen von Korn auf. Um 983 scheint am Serchio in der Toscana eine Walkmühle mit Wasser betrieben worden zu sein - die erste uns bekannte 118

78 und 79: Bei den Walk­ mühlen wird die Achse des Wasserrades jeweils zur Welle mit Nocken verlängert. Wenn sich das Wasserrad dreht, heben die Nocken schwere Hämmer an, die das Tuch in den Walktrögen stamp­ fen (Kupferstiche 1607 und 1617/18).

78

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Anwendung des Nockens im Abendlande. Im Jahre 1008 erwähnt eine Schenkungsurkunde für ein Mailänder Kloster außer Kommühlen auch , die in einem Flußtal lagen und wahrscheinlich Walkmühlen gewesen sind. Im Jahre 1010 beweist der Ortsname Schmidmühlen in der Oberpfalz, daß in Deutschland wassergetriebene Stielhämmer benutzt worden sind. Um 1050 ist in Grenoble eine Walkmühle und um 1085 eine Hanfmühle in Be­ trieb gewesen. Um 1080 erhält eine Abtei bei Rouen den Zehnten von einer Walkmühle, und 1086 zahlten zwei Mühlen in England den Mietzins durch Eisenbarren, was die Ausnutzung von Wasserkraft zur Gewinnung von Schmiedeisen beweist.. .x22 In Deutschland wurde die erste Walkmühle für das 12. Jahrhundert urkundlich in Kreuznach nachgewiesen.23 Die Stampfmechanik der Walkmühle konnte jeweils viele Fuß- oder Handwalker ersetzen. Das und die dazu notwendige Wasserkraft führte zu erheblichen Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur ganzer Gegenden. «So ist z. B. in England das mechanische Walken von Webstoffen, an Stelle des früheren Walkens von Hand oder mit den Füßen, der Anlaß zum Abwandem des Schwerpunkts des Webergewerbes vom Südosten in den Nordwe­ sten gewesen, wo Wasserkraft reichlicher zur Verfügung stand.»24 In Gebieten mit traditioneller Tuchproduktion wurde die Fußwalke aller­ dings meistens bis ins 14. Jahrhundert hinein benützt, besonders in Flandern, wo die Anwendung der Wassermühle schwieriger war, weil es kein fallendes Wasser gibt. Der Zeitpunkt der Ablösung lag in Flandern sogar erst im 15. und 16. Jahrhundert. Aber nicht nur zum Walken wurde Wasserkraft eingesetzt. Mühlen für alle möglichen Zwecke verbreiteten sich nun über Europa: «Mühlen zum Gerben und Waschen, zum Sägen, zum Zerquetschen (von Ölfrüchten bis zum Ei­ senerz), zum Antrieb von Blasebälgen für Schmelzöfen, für Schmiedehäm­ mer, für Schleifsteine, Mühlen zum Rühren von Farbstoffen für Anstriche, von Brei für Papier oder von Maische für Bier.»23 Ein interessanter techni­ scher Hinweis am Rande: Daß Walkmühlen stabil gebaut sein mußten, weil offenbar große Kräfte in ihnen wirksam wurden, geht aus der Bemerkung hervor, daß im Jahre 1504 in Konstanz eine Walke zerbrochen sein soll, weil sie angeblich aus Tannen- und nicht aus Buchenholz angefertigt war.26

Mangen, Pressen, Rauhmaschinen Bei den in den Abbildungen 80 bis 85 dargestellten Vorrichtungen ist das Wichtigste, daß «große» Aufgaben mit Hilfe technischer Mechanismen mög­ lich gemacht werden. Die begrenzte menschliche oder tierische Kraft wird vervielfältigt (vgl. besonders Abb. 81 bis 83), so daß z. B. nicht nur eine kleine, sondern auf diese Weise eine große Mange in Bewegung gesetzt wer­ den konnte. 120

80: In manchen Städten mit entwickelter Textilproduktion gab es Manghäuser, in de­ nen man die Produkte durch glätten in der Mange veredeln konnte. Diese große Mange wird durch einen Göpel in Gang gesetzt. Das Bild stammt aus dem Jahre 1607 (Kupferstich 1607).

F3

81: Mange mit Tretantrieb (Kupferstich 1607). 121

82: Das Tretrad in der Mange soll die eingesetzte Kraft vervielfachen. Die eingesetz­ te Kraft ist das Gewicht der beiden im Rad laufenden Menschen. Nur mehrere Men­ schen können das durch die laufenden Menschen bewegte Rad anhalten. Das heißt: Die im großen Rad Laufenden können mit Hilfe des Rades fast so viel heben oder an Mangengewicht ziehen, wie die Menschen, die das Rad anhalten können, an Kraft (Gewicht) aufbringen. 122

L2 - 0,5 L,-2 j 2 Menschen

83: Das im Tretrad wirkende sogenannte Drehmoment kann man berechnen. Die im TYetrad eingesetzte Kraft (das Gewicht der Menschen) wirkt entlang der Schwerkraft­ linie senkrecht zur Erde. Da die Menschen aber in einem Rad laufen und nicht senk­ recht an einem Seil ziehen, wird diese Kraft als Drehkraft wirksam. Je größer das Rad, desto größer wird die Drehkraft. Hier ist sie so groß wie das Produkt aus der Kraft (F t) und dem senkrechten Abstand der Wirklinie zum Drehpunkt (L,), d. h.: M (Drehmo­ ment) = F mal L. Bei der Mange und bei ähnlichen Vorrichtungen interessiert aber nun besonders, welche Kraft am Mangenseil wirksam wird. Diese Kraft ist auch F (hier F]) mal L (senkrechter Abstand ihrer Wirklinie L2 zum Drehpunkt). PrAzise berech­ nen läßt sich die in Bild 82 dargestellte Situation, wenn sich beide Kräfte die Waage halten, dann ist: M, + M2 = 0, d. h.: F] mal Lj + F2mal L2 - 0. Wenn die Werte aus der Zeichnung eingesetzt werden, sieht das so aus: 2 mal 2 +x mal 0,5 = 0 4 + 0,5 x = 0/mal 2 8 + 1 x = 0/-8 x = -8 Das Drehmoment in entgegengesetzter Richtung (das bedeutet das negative Vorzei­ chen) ist 8; die Menschen im Ttetrad können also fast 4mal so viel Mangengewicht ziehen, wie sie beide wiegen. Wenn man die Abbildung 82 daraufhin noch einmal ansieht, sind genaugenommen nur 8 gleich starke (schwere) Menschen notwendig, um das Rad anzuhalten, 9 Menschen werden es aber mit Sicherheit anhalten können. Ein Hinweis zur Berechnung des Drehmoments ist noch wichtig: In den meisten Berech­ nungsfällen ist der Abstand zwischen Angriffspunkt der Kraft und dem Drehpunkt bekannt, aber nicht der senkrechte Abstand der Wirklinie zum Drehpunkt (anders als hier angenommen wurde). In solchen Fällen muß der senkrechte Abstand der Wirk­ knie zum Drehpunkt erst ausgerechnet werden.

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84: Bei manchen Textil­ produkten ist das Aufrau­ hen - hier mit der Rauh­ maschine - ein Bearbei­ tungsschritt innerhalb der sogenannten Fertigstel­ lung nach dem Weben. Die aufgerauhten Faser­ enden werden dann im nächsten Fertigstellungs­ schritt abgeschert (Kup­ ferstich 1607).

85: In der Tuchpresse werden die zusammenge­ falteten Tücher noch ein­ mal geglättet (Kupfer­ stich 1607).

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Seidenzwirnmühlen Die Steigerung der vorhandenen Kräfte durch Mechanismen war ein wichti­ ger technischer Fortschritt des Mittelalters, ein anderer galt der Mechanisie­ rung der Arbeitsbewegung der Gliedmaßen, meistens der Hände. In den im Textilgewerbe entwickelten Mechanismen, wie z. B. Pressen, Rauhmaschi­ nen oder Walkmühlen, wurden nicht nur die Kräfte von Menschen oder Tie­ ren vervielfältigt, sondern auch Arbeitsbewegungen wie Pressen, Aufrauhen oder Stampfen mit Händen oder Füßen durch mechanische Arbeit ersetzt. Meistens wurden zunächst nur relativ unspezifische Arbeitsbewegungen me­ chanisiert, im Textilgewerbe allerdings mit einer Ausnahme: dem Verzwirnen von Fäden, besonders von Seidenfäden. Daß sich diese für die damalige Zeit außergewöhnliche Entwicklung gerade im Seidengewerbe vollzog, läßt sich wahrscheinlich damit erklären, daß die Kaufleute diesen sehr teuren Rohstoff möglichst nur an wenige für sie arbeitende Handwerker zur Weiter­ verarbeitung vergeben wollten, um die Rohstoffmenge besser kontrollieren zu können.

86: Italienische Seidenzwirnmühle aus dem Jahre 1487. Sie geht auf das sogenannte Luccheser Filatorium des 13. Jhs. zurück, das aller Wahrscheinlichkeit nach aus Luc­ ca, einer kleinen Stadt bei Florenz, stammte (vgl. auch Abb. 87 u. 88).

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87 und 88: In dieser gro­ ßen Seidenzwirnmaschine (-mühle) werden Spin­ deln und Haspeln durch ein Wasserrad über eine Girlande, die sich im Ge­ stell dreht, angetrieben. Die Haspeln und neuarti­ ge Spindeln wirken so zu­ sammen, daß die Fäden beim Abziehen von den Spindeln verzwirnt wer-

B

A

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Die Aufgabe der Zwirnmühle ist es, an vielen Bearbeitungsstellen zugleich nicht Fasern, sondern Fäden zu verdrillen, also zu verzwirnen. Solche mehr­ spindeiigen Zwirnapparate sind schon im 13. und 14. Jahrhundert in Europa und in China gebaut worden. In Europa wurden Zwirnmühlen in Paris, Köln und Oberitalien in dieser Zeit nachgewiesen, wobei für die Entwicklung in Italien der Ausgangspunkt offenbar Lucca, eine kleine Stadt in der Nähe von Florenz, war. In diesem sogenannten Luccheser, dem aus Lucca stammen­ den Filatorium (Abbildungen 86 bis 88) wurden 200 bis 240 Spindeln zugleich in Bewegung gesetzt.37 Im Filatorium wurden Spindeln (A) und Haspeln (B) verwendet (Abb. 87). Diese Spindeln waren anders gebaut als die des einfachen Handspinnra­ des. Sie konnten zur gleichen Zeit abwickeln und verdrillen. Auf den Spin­

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den. Es kann zugleich ab­ gewickelt und verzwimt werden. Der Zwirnpro­ zeß muß zum Abwickeln nicht unterbrochen wer­ den. Einmalig für die da­ malige Zeit ist, daß 200 bis 240 Spindeln zugleich von einem Antrieb aus in Gang gesetzt werden (Kupferstich 1607).

Fl LATO IO

DA

AQVA.

I

88

dein waren Spulen mit gefachten Fäden aufgesteckt, d. h., mehrere Fäden (2, 3 oder mehr) wurden parallel zu einem Fadenstrang zusammengeführt und auf die Spulen aufgewickelt. Die Spulen konnten auch mit bereits einmal, also schwach verzwirntem Garn versehen sein. Dieser noch unverdrillte oder wenig verdrillte Fadenstrang wurde im Zwirnprozeß mit zusätzlicher Dre­ hung, dem sogenannten Draht, versehen. Dieses Verfahren ist bei Seide un­ bedingt notwendig. Seide wird zwar schon als Faden und nicht als Faser von der Natur produziert, ist aber sehr dünn. Der Vorteil der Seide, von vornher­ ein als Faden vorhanden zu sein, ist damit fast schon wieder aufgehoben, allerdings nicht ganz, weil es technisch sehr viel einfacher ist, Fäden zu verzwirnen, als Fasern zu verspinnen. Beim Verzwirnen im Filatorium laufen die Spindeln schnell und geben

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89: In dieser großen französischen Zwirnmühle aus der französischen Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert von 1751-1772 werden dieselben Spindeln benutzt wie im Luccheser Filatorium (Abb. 86 bis 88). Die Grundkonstruktion der Maschine ist allerdings so wie die in der handgetriebenen Zwirnmühle in Abb. 91: Haspeln und Spindeln sind jeweils übereinander linear nebeneinandergereiht in einem feststehen­ den Gestell angebracht, anders als im Luccheser Filatorium, in dem Spindeln und Haspeln in einem vieleckigen Gestell montiert sind, das sich um den zentralen An­ trieb dreht. 5 einmal gedreht hat, hat sich Rad Nr. 6 noch nicht einmal abgerollt, weil sein Um­ fang wieder größer ist als der von Rad Nr. 5. Dieses letzte Rad überträgt deshalb eine noch einmal verlangsamte Bewegung auf die Haspeln. D. h.: Die vom großen An­ triebsrad gelieferte Geschwindigkeit wird also zuerst verschneiten, um die Spindeln relativ schnell zu bewegen. Diese Geschwindigkeit, die von Rad Nr. 3 an den Getrie­ beteil für die Haspeln weitergegeben wird, wird dann zweimal herabgesetzt, so daß die Haspeln entsprechend langsam laufen. Man kann das genau ausrechnen, entwe­ der indem man die Drehzahlen (n) der Zahnräder zueinander in Beziehung setzt oder die Umfänge oder die Durchmesser; denn Umfänge (U) der Zahnräder oder Durch­ messer (d) stehen in demselben Verhältnis zueinander wie die Drehzahlen, weil die ja von ihnen abhängen: i (Übersetzungsverhältnis) =

tli , U2 , ¿2 1 = — oder: 1 = -¡-f- oder: 1 = n2 U, d|

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90: Bewegungszusammenhang (Getriebe) in Seidenzwimmühlen am Beispiel der großen französischen Seidenzwimmühle (vgl. Abb. 89). a) Ansicht des Getriebes b) Draufsicht c) Seitenansicht Wenn sich das große Antriebs­ rad A der Zwimmühle einmal gedreht hat, hat sich das Rad mit der Nummer 2 schon meh­ rere Male gedreht, weil sein Umfang kleiner ist. Die vom Antriebsrad gelieferte Ge­ schwindigkeit wird durch diese Konstruktion erhöht. Die Wel­ le von Rad Nr. 2 läuft schneller als die von Nr. 1. Diese Geschwindigkeit des Ra­ des Nr. 2 wird mit Hilfe einer darunter liegenden Riemen­ scheibe und eines Riemens auf die Spindeln übertragen (a, b). Über Rad Nr. 2 sitzen weitere Zahnräder. Diese übertragen die Bewegung auf die Haspeln, und zwar in folgender Weise (c): Rad Nr. 3 sitzt auf dersel­ ben Welle wie Rad Nr. 2 und läuft deshalb in derselben Ge­ b) schwindigkeit wie Rad Nr. 2. Wenn sich Rad Nr. 3 einmal gedreht hat, hat sich Rad Nr. 4 aber noch nicht einmal ge­ dreht, weil Rad Nr. 4 einen größeren Umfang hat als Rad Nr. 3. Rad Nr. 4 hat sich erst einmal an Rad Nr. 3 abgerollt, Wenn sich Rad Nr. 3 schon mehrere Male gedreht hat. Die Bewegung wird an dieser Stelle also verlangsamt. Direkt hinter Rad Nr. 4 sitzt Rad Nr. 5. Bei­ de sind auf derselben Welle montiert. Rad Nr. 5 läuft des­ halb genauso langsam wie Rad Nr. 4. Wenn sich dann Rad Nr. c)

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91: In dieser handgetriebenen Seidenzwirnmühle werden die alten Radspindeln des Handspinnrades verwendet; auch hier kann auf Grund der Anordnung zugleich abge­ wickelt und verdreht werden. Die «neue» Spindel des Luccheser Filatoriums (vgl. Abb. 86 u. 87) ist also nicht Voraussetzung für die Zwirnmühle. Genau wie im Luc­ cheser Filatorium werden in dieser einfacheren Zwirnmühle Spulen mit gefachten Fä­ den (mehrere parallel zueinander liegende Fäden) auf die Spindeln (A) aufgesteckt. Durch die Drehung der Spindeln werden die gefachten Fäden verzwimt. Gleichzeitig läuft die Haspel (B), um das fertig verzwimte Garn von den Spulen abzuziehen und aufzuwickeln. Die Haspeln laufen auch hier, genau wie im Luccheser Filatorium, langsamer als die Spindeln, weil sonst kein Draht auf die gefachten Fäden käme. Die Abbildung stammt zwar aus der berühmten französischen Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert aus den Jahren 1751-1772, auf Grund von Nachforschungen kann allerdings angenommen werden, daß solche Apparate auch schon im 13. und 14. Jahrhundert in Mitteleuropa benutzt wurden.

Drehung auf den Faden. Der auf der Spindel aufgesetzte Drahtflügel sorgt für langsames Abwickeln des verzwirnten Garns zusammen mit den Has­ peln, die sich, von der sogenannten Girlande angetrieben, langsamer drehen müssen als die Spindeln, sonst käme kein Draht auf das Garn (Abbildung 89 und 90). Den Antrieb liefert im Luccheser Filatorium ein Wasserrad. Aber auch Göpel (Abb. 89), manchmal wohl auch Treträder, wurden als Antrieb verwendet. Kleine Seidenzwirnapparate wurden auch mit Handkurbeln be­ wegt (Abbildung 91). 130

Wenn man Stillstandzeiten für das Anknüpfen gerissener Fäden und für Reparaturen mit bedenkt, wurde mit dem Filatorium etwa eine 25- bis 5Ofache Produktivitätssteigerung erreicht.

Bandwebstuhl Eine ähnliche vorausgreifende, allerdings spätere technische Entwicklung wie die Seidenzwirnmühlen ist der Bandwebstuhl (Abbildung 92), von dem erstmals im 16. Jahrhundert berichtet wird.29 Es ist ein Webstuhl, mit dem mehrere, in der Abbildung 92 sind es sechs, Bänder zugleich gewebt werden können, und zwar voll mechanisch. Menschliche Arbeitstätigkeit wurde bei der Arbeit mit diesen Maschinen nur noch bei der Fehlerbeseitigung (Fäden anknüpfen), Materialbeschickung und -abnahme, bei der Reparatur der Ma­ schinen und. wenn keine andere Antriebskraft verwendet wurde, beim An­ trieb gebraucht.

92: Mit diesem Bandweb­ stuhl von 1772 können mehrere Bänder zur glei­ chen Zeit gewebt werden. Das ist möglich, weil Fachbildung. Schußein­ trag und Fadenanschlag voll mechanisiert sind und der Weber in den «ei­ gentlichen» Webprozeß nicht mehr eingreifen muß (Kupferstich 1772).

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Einschätzung dieser technischen Entwicklungen Alle diese Maschinen sind den im gewöhnlichen Spinn- und Webverfahren bis ins 18. Jahrhundert hinein benutzten überlegen. Auf der einen Seite sprengten sie die Begrenzungen von Arbeitsprozessen, die bei der direkten Verwendung menschlicher Kräfte gegeben sind. Sie ermöglichten die Ver­ vielfältigung geringer Kräfte und den Einsatz tierischer Muskelkraft oder Wasserkraft. Größere Aufgaben konnten jetzt entweder überhaupt erst oder viel leichter bewerkstelligt werden. Auf der anderen Seite zeigte sich, daß auch Arbeitsfertigkeiten mechanisch ersetzt und damit organische Beschrän­ kungen der Menschen überwunden werden können. Diese Entwicklung konnte außer den Produktivitätsfortschritten auch ne­ gative Auswirkungen haben, wie z. B. bei den Walkmühlen schon erwähnt, zu Produktionsverlagerungen oder auch, wie bei den heftig umkämpften Seidenzwimmühlen und Bandwebstühlen, zu Veränderungen der Beschäftig­ tenstruktur führen, mit der Folge, daß viele in solchen Arbeitsprozessen Be­ schäftigte ihre Arbeit verloren. Der Antrag des Kaufmanns Walter Kesinger auf Einrichtung einer Seidenzwimmühle in Köln wurde z. B. 1413 vom Rat der Stadt mit der Begründung abgelehnt, daß Zunftleute und Seidenspinner (eigentlich ja Seidenzwirner) ihre Arbeit verlören. Wahrscheinlich wollte Kesinger die große Luccheser Seidenzwimmühle einführen, die sicherlich die in Köln bisher verwendeten Zwimmühlen weit übertroffen hätte.30 Der Bandwebstuhl wurde ebenfalls sehr bekämpft. Immer wieder wird von Verboten berichtet. So sollen die Weber Danzigs den angeblichen Erfin­ der des Stuhls 1586 in die Weichsel gestoßen haben, wo er ertrunken sein soll.31 Wahrscheinlich ist diese Geschichte nicht passiert. Sie ist aber ein Aus­ druck für die mit der Durchsetzung des Bandwebstuhls bis ins 18. Jahrhun­ dert verbundenen Probleme. Über die im Mittelalter in manchen Situationen notwendige Überwindung des Arbeitskräftemangels durch Mechanisierung hinaus32 entdeckten Kauf­ leute und kaufmännisch Interessierte offenbar neue Möglichkeiten, nämlich die, das im Handel erworbene Kapital mit Hilfe verbesserter Techniken zu vervielfältigen. So wirkte der Kaufmann Walter Kesinger durchaus als kauf­ männischer Innovator, der in vielen Städten nördlich der Alpen technische Neuerungen vorschlug und teilweise auch durchsetzte. Die Seidenzwimmüh­ le scheint er in Italien kennengelernt zu haben. Offenbar versuchte er sie dann in seinem Geschäftsbereich einzuführen. Aber solche Aktivitäten waren im Mittelalter insgesamt wohl doch Einzel­ erscheinungen, genauso wie die ohne neue Technik mit Massen von abhängi­ gen «Handwerkern» arbeitenden Verleger. Zwar konnten in einigen Städten die Kaufleute auf Grund besonderer Situationen die mittelalterliche Gewer­ beorganisation unterlaufen und frühkapitalistische Produktionsformen ent­ wickeln, aber an vielen Verbotsbeispielen wird deutlich, daß für die Gewer132

beentwicklung insgesamt doch die handwerkliche Ordnung und die dazu ge­ hörenden Zünfte sowohl fördernd als auch bremsend bestimmend waren. Alle diese neuen Maschinen wurden nur in entwickelten Textilgebieten eingesetzt. Sie wurden nicht so verbessert, wie es technisch möglich gewesen wäre. Die Technik der Zwimmühle wurde z. B. vorerst nicht für das Spinnen verwendet, obwohl das technisch sehr nahe gelegen hätte. Der normale Webstuhl blieb im eigentlichen Webprozeß bis ins 18. Jahrhundert hinein unverändert. Die Hand war in den meisten Arbeitsprozessen auch im Textil­ gewerbe vorerst noch das wichtigste Werkzeug und die menschliche Kraft, jedenfalls im Textilgewerbe, der wichtigste Antrieb. Damit blieben diese Prozesse auch auf die Arbeitsfähigkeit und -fertigkeit der einzelnen Men­ schen angewiesen, und die Differenzierung und die Ausdehnung der Produk­ tion war weiterhin noch direkt an die Menschen gebunden.

Kontinuierliches Spinnen mit dem Flügelspinnrad

Wenn man sich die Technik der Zwimmühle noch einmal in Erinnerung ruft, ist wirklich verwunderlich, warum sie nicht direkt auf den Spinnprozeß übertragen wurde. Die Luccheser Zwirnspindel konnte zur gleichen Zeit abwickeln und verdrehen. Es müßte doch eigentlich nahe gelegen haben, daraus eine neue Spinnspindel zu entwickeln, die zur gleichen Zeit verdre­ hen und aufwickeln konnte. Auch die durch die Zwirnmühle gegebene Möglichkeit, zur gleichen Zeit viele Fäden herstellen zu können, hätte doch eigentlich für den Spinnprozeß attraktiv sein müssen. Oder sollte das nicht so gewesen sein? Zunächst kann nur festgestellt werden, daß erst im 15. Jahrhundert, also Jahrhunderte nach Entwicklung der Zwirnmühle, ein neues Spinnrad mit einer neuen Spindel in Mitteleuropa bekannt wurde. Dieses Spinnrad hatte eine sogenannte Flügelspindel, in der tatsächlich das Prinzip der Zwirnspin­ del umgekehrt verwendet wurde. Mit dieser Spindel konnte man zu gleicher Zeit einen Faden drehen und aufwickeln. Flügelspindel, Antriebsrad und Gestell ergaben zusammen dann das Ar­ beitsmittel, das uns heute meistens als Spinnrad bekannt ist (Abbildung 93). In der entwickelten Form wird dabei das Antriebsrad nicht mehr von Hand, sondern durch ein Pedal in Bewegung gesetzt.

Funktion der Flügelspindel Die Flügelspindel (Abbildung 94) besteht in ihrer einfachen Form aus zwei Teilen: aus einer Achswelle mit Flügel (Abb. 94a) und einer Spule (Abb. 94 b). Die Spule wird auf die Achswelle des Flügels aufgesteckt, und die ferti­ ge Flügelspindel wird im Spinnradgestell gelagert (Abb. 94c). Die Spule kann sich zunächst frei auf der Achswelle des Flügels drehen. Wenn die Treibschnur vom Antriebsrad über das Schnurrädchen der Spule gelegt wird, dreht sie sich allerdings entsprechend der Geschwindigkeit der Treibschnur. Der Flügel wird in dieser Konstruktion nicht direkt angetrieben. Allerdings

93: In dieser bürgerlichen Spinnstube des 18. Jhs. wird ein Flügelspinnrad mit Tretan­ trieb verwendet. Es wurde Ende des 15. Jhs. in Mitteleuropa entwickelt. Mit ihm be­ gann das kontinuierliche Spinnen, das allmählich das abgesetzte Spinnverfahren ver­ drängte und sich im 20. Jh. endgültig durchsetzte. 134

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