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German Pages 337 [340] Year 2017
Friederike Krippner Spielräume der Alten Welt
Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 40
Friederike Krippner
Spielräume der Alten Welt Die Pluralität des Altertums in Dramentheorie, Theaterpraxis und Dramatik (1790–1870)
Gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ zur Verfügung gestellt hat.
ISBN 978-3-11-047234-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047335-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047242-4 ISSN 1864-5208 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer – SEQUENZ Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’. Zur Begriffs- und Diskursgeschichte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert 12 . Antike, (klassisches) Altertum und die ‘Alterthümer’. Zur historischen 13 Semantik der Begriffe um 1800 . Pluralisierungseffekte des Altertumsdiskurses bis zur Mitte des 23 19. Jahrhunderts . Fazit 37
Teil I:
Gattungsdiskurs und Theaterpraxis
Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs 43 Geschichtsphilosophische Lektüren. Tragödie und Antike in Friedrich . 45 Hegels Ästhetik .. Geschichte und Tragödie als strukturelles Analogon 47 Orient, Antike und Romantik. Zum Problem der modernen Subjektivi.. 52 tät für die Tragödie .. Walhall oder der Olymp? Die Diskussion um den angemessenen Tragö57 dienstoff bei Hegel und Rötscher . Irritation und Stabilisierung des Gattungsdiskurses. Kālidāsas Sa67 kuntala und die Diskussion um das altindische Drama .. Kālidāsa und Shakespeare. Die Bedeutung der Sakuntala für Johann Gottfried Herders gattungstheoretische Überlegungen 69 .. Indien und das romantische Drama in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 85 90 . Fazit Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer 92 . Zur Bedeutung der klassischen Antike für die Genese der historischen 94 Kostümpraxis . Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“. Die Zusammenarbeit von Friedrich Schinkel und Karl von Brühl am Berliner Hoftheater 111 115 .. Bühnenarchitektur als Rezeption des antiken Theaters .. Die Altertümer im Bühnenbild und Kostüm der Berliner Bühne 120 .. Die Musealität des Theaters und die Theatralität des Museums 138 . Fazit und Ausblick: Richard Wagners ‘Theatergermanen’ 145
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Teil II:
Inhalt
Dramatik
Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer im Diskursraum der dramatischen Literatur 153 . Alexander und Darius als paradigmatische Helden. Die Gattungsdiskussion der 1820er Jahre 158 . „Die Pracht dieses Aufzugs ist […] unentbehrlich.“ Zum Wandel der Bühnenästhetik in den dramatischen Texten 166 . „wie sich Griechenland mit Persien / Vereint“. Alexander als Figura177 tion der Synthese 185 . Fazit 187 Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik . „Stoff ist Aufgabe. Form ist Lösung.“ Hebbels tragödientheoretische 193 Texte .. Zum Verhältnis zwischen Hebbels tragödientheoretischen Reflexionen und seiner Dramenpraxis 196 .. ‘Atmosphäre’. Geschichte zwischen Stoff und Form 200 ... Geschichtskonzepte 201 209 Stoff und Form ... . Herodes und Mariamne (1849/50) 213 .. Hebbel, Rötscher und die These von der ‘Kulturstufen-Tragödie’ 219 228 .. Artaxerxes. Persien und die Verdinglichung des Menschen .. Von Makkabäern, Orientalen, Christen und Römern, oder: Der doppel236 te Schluss 237 ... Der erste Schluss: Der Tod der „letzten Maccabäerin“ ... Der zweite Schluss: Die drei Könige und Titus 244 Tektonik der Altertümer. Zum Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ in . 256 Hebbels Tragödien .. Konkurrenz der Altertümer – Gyges und sein Ring (1856) 258 277 .. Altertümer und Geschlecht – Judith (1840/41) .. Zur Wissensökonomie und Semiotik der Altertümer – Die drei Könige, Kandaules und Brunhild 289 . Epilog: Hebbels Poetologie der Altertümer und ihr Scheitern im Moloch-Projekt 294 Zum Schluss
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305 Literaturverzeichnis 305 Primärliteratur Sekundärliteratur 313 328 Internetquelle Abbildungsnachweise Personenverzeichnis
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Einleitung Als der Hallenser Bibliothekar Johann Samuel Ersch im Jahr 1814 den Versuch unternimmt, die gesamte deutschsprachige Literatur der schönen Künste seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit mit der Hingabe des passionierten Bibliographen zu sammeln und in eine systematische Ordnung zu bringen, da weist er dem Korpus der literarischen Texte, um die es in der vorliegenden Studie gehen wird, einen eigenen Ort zu. Er rubriziert sie unter den „Dramat[ischen] Poesieen“ am Ende eines Stemmas, das sie mit größtmöglicher Präzision bis in die letzten Verzweigungen differenziert: (B) Dramat. Poesieen selbst. (AA) Ohne Rücksicht auf einz. Gattungen BB) Einzelne Gattungen BBB. Mit Hins. auf d. Stoff. (AAA) Mit Voraussetzung d. wirkl. Welt. a. Trauerspp., nebst her. Schauspielen u. Opern. a) Ohne Rücksicht auf die Grundlage: vermischte Sammll. b) Mit Rücksicht auf d. Grundl. (a) Mit (wirkl. od. angebl.) hist. Grundlage. aa. Vermischte bibl. u. and. histor. Gegenst. bb. Besondere. (aa) Bibl. Gegenst. (bb) And. histor. Gegenstände. aaa. Mehrere in Verbin. bbb. Einzelne Gegenstände. (aaa) Aelt. Geschichte. α. Aegypter u. and orient. Völker. β. Macedonier. γ. Griechen, (myth. her. u. spät. Zeitalter) nebst ein. gleichz. Völkern δ. Römer. ¹
Erschs Konstruktion einer eigenen Gruppe von historischen Dramen mit Gegenständen aus der Älteren Geschichte und der internen Unterscheidung nach einzelnen „Völkern“ ist nicht nur ein Dokument des bibliographischen Eifers und Systematisierungszwangs,² sondern zugleich auch ein Indiz für einen Prozess der semantischen
Das Stemma der Überschriften nach Johann Samuel Ersch: Handbuch der deutschen Literatur seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit, systematisch bearbeitet und mit den nöthigen Registern versehen, Bd. 2, Amsterdam, Leipzig 1814, Sp. 262– 276, Hevorh. F.K.; die Liste der entsprechenden Dramen ebd., Sp. 271– 276. Zu Ersch vgl. Joachim Bahlcke: Enzyklopädie und Aufklärung im literarischen Deutschland. Zu Leben und Wirken des schlesischen Bibliothekars Johann Samuel Ersch (1766 – 1828), in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 5 (1997), S. 81– 99 und Siegfried Seifert: Ein Bibliograph und Enzyklopädist an der Wende zum bürgerlichen Zeitalter. Johann Samuel Ersch (1766 – 1828), in: Studien zum Buch- und Bibliothekswesen 7 (1989), S. 40 – 53. DOI 10.1515/9783110473353-001
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Einleitung
Ausdifferenzierung verschiedener Altertumskulturen. Denn die Ordnung dokumentiert offenbar in ihrer Gruppierung eine zeitgenössische Wahrnehmungsmöglichkeit der dramatischen Gegenwartsliteratur um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Dass hier ein Prozess der Ausdifferenzierung in Gang gesetzt war, der noch lange nicht sein Ende erreicht hatte, zeigt ein Blick auf die dritte Auflage von Erschs Bibliographie, die knapp dreißig Jahre später erschien. Das Feld der Völker der Alten Welt, deren Geschichten das Stoffreservoir dieses Ausschnitts aus der zeitgenössischen Dramatik bilden, hat sich hier erweitert. Unter dem Gliederungspunkt α finden sich nicht mehr nur diejenigen Dramen, die von „Aegypter[n] u[nd] and[eren] orient[alischen] Völker[n]“ handeln, sondern die summarische Überschrift ist noch einmal präzisiert worden. Die Kategorie umfasst nun Dramen mit Stoffen aus der Geschichte der „Aegypter, Assyrer, Perser u. and. orient. Völker“. Und noch eine weitere signifikante Veränderung ist zu beobachten: Die Römerdramen sind eine Position weiter nach hinten gerückt (ε), um unter dem Buchstaben δ einer Reihe von neuen Dramen Platz zu machen, die ihren Stoff aus der Geschichte der „Karthager“ nehmen.³
Fragestellung und Forschungsüberblick Der folgenden Studie liegt die Hypothese zu Grunde, dass Erschs Ordnung der Altertumsdramen kein Produkt der Willkür oder des Zufalls ist, sondern ein Indiz für einen umfassenden Prozess der Ausdifferenzierung und Pluralisierung des ursprünglich weitaus geschlossener gedachten Konzepts ‘Altertum’ an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Mit dieser Perspektive auf die Pluralität des Altertums im Drama und auf der Theaterbühne und insbesondere auf die spezifischen Konstellationen der einzelnen Altertumskulturen zueinander, die im zeitgenössischen Diskurs profiliert und gegeneinander ausgespielt werden konnten, lenkt die Studie die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt des Altertumsdiskurses, der bisher – auch außerhalb des Feldes der dramatischen Literatur – noch kaum erforscht ist. Die vorliegenden literaturwissenschaftlichen Studien bleiben in der Regel entweder auf Entwürfe der griechisch-römischen Antike als zentralen Referenzpunkt fokussiert,⁴ und zwar auch dann, wenn sie dezidiert antiklassizistische Antikerezeption in den Blick nehmen, wie Vgl. Johann Samuel Ersch: Handbuch der deutschen Literatur seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit, systematisch bearbeitet und mit den nöthigen Registern versehen. Neue mit verschiedenen Mitarbeitern besorgte Ausgabe, Bd. 2, Leipzig 1840, Sp. 486 und 492; die gesamte Sektion der Dramen mit Stoffen aus der Älteren Geschichte ebd., Sp. 486 – 495. Vgl. exemplarisch Lorella Bosco: „Das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen“. Deutsche Antikebilder (1755 – 1875), Würzburg 2004; Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2000; Veit Rosenberger (Hg.): „Die Ideale der Alten“. Antikerezeption um 1800, Stuttgart 2008 (FriedensteinForschungen, Bd. 3) und Peter Szondi: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit, in: Poetik und Geschichtsphilosophie I, hg.v. Senta Meth und Hans-Hagen Hildebrandt, Frankfurt/Main 1972, S. 9 – 265.
Fragestellung und Forschungsüberblick
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in einem jüngeren Sammelband von Achim Aurnhammer und Volker Riedel⁵ oder der Monographie von Thomas Fitzon zu deutschen Italienreisenden im 18. und 19. Jahrhundert.⁶ Oder die Studien stellen die Rezeption einzelner anderer Altertumskulturen wie etwa der Ägypter,⁷ Babylonier,⁸ Perser⁹ oder Germanen¹⁰ isoliert ins Zentrum ihrer Analyse. Einen neuen (und für das Interesse der vorliegenden Arbeit ausgesprochen hilfreichen) Ansatz verfolgt demgegenüber die wissenschaftsgeschichtliche Studie zum Germanenmythos im langen 19. Jahrhundert von Ingo Wiwjorra.¹¹ Auch Wiwjorra legt zwar den Fokus auf eine einzelne Altertumskultur. Aber er zeigt, dass sich das deutsche Germanenbild gerade anhand der Konvergenzen und Konkurrenzen zwischen Germanien, der Antike und dem alten Orient ausgebildet hat, so dass die Genese des deutschen Germanenmythos ohne Berücksichtigung dieser komplexen Bezüge nicht verstanden und geschrieben werden kann. Auch in der Altertumswissenschaft sind in den letzten drei Jahrzehnten vermehrt orientalische Einflüsse auf die Antike in den Blick genommen worden, mit dem Ergebnis, dass das exklusive Konzept einer ‘klassischen Antike’ als Resultat von Kanonisierungsprozessen erkennbar wurde, die wesentlich aus dem 18. und 19. Jahrhundert datieren.¹² Die Pluralisierungsmomente des Altertumsdiskurses sind in diesen Diskussionszusammenhängen jedoch kaum thematisiert worden. Einen wichtigen Impuls in diese Richtung hat allerdings die Studie von Andrea Polaschegg zum Ori-
Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof (Hg.): Mehr Dionysos als Apoll. Antiklassizistische AntikeRezeption um 1900, Frankfurt/Main 2002. Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750 – 1870, Berlin, New York 2004 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 29 [263]). Vgl. stellvertretend Dirk Syndram: Ägypten-Faszinationen. Untersuchungen zum Ägyptenbild im europäischen Klassizismus bis 1800, Frankfurt/Main 1990. Vgl. stellvertretend Volkert Haas: Die literarische Rezeption Babylons von der Antike bis zur Gegenwart, in: Babylon. Focus mesopotamischer Geschichte, Wiege früher Gelehrsamkeit, Mythos in der Moderne, hg.v. Johannes Renger, Saarbrücken 1999, S. 523 – 552. Vgl. stellvertretend Anuschka Albertz: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2006 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 17). Vgl. stellvertretend Klaus von See: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994. Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006. Den Anfang dieser Forschungsperspektive markiert die kontrovers diskutierte Studie von Martin Bernal: Black Athena. Afro-Asiatic Roots of Classical Civilization. The Fabrication of Ancient Greece, 1785 – 1985, New Brunswick/N.J. 1987. Vgl. stellvertretend außerdem die jüngeren Beiträge von Walter Burkert: Die Griechen und der Orient. Von Homer zu den Magiern, München 2003 und Martin L. West: The East Face of Helicon.West Asiatic Elements in Greek Poetry and Mythology, Oxford 2003 und ders.: Indo-European Poetry and Mythology, Oxford 2007.
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Einleitung
entalismus im 19. Jahrhundert gegeben, in der auf die enge Verbindung von Konzeptionen des ‘Orients’ und des ‘Altertums’ hingewiesen wird.¹³ Darüber hinaus dokumentieren zwei weitere aktuelle Publikationen ein neues Interesse der Forschung an solchen Pluralisierungsmomenten: Zu nennen ist zunächst ein Band über Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, der zwar historisch auf das Feld der Frühen Neuzeit bezogen bleibt, hier in systematischer Hinsicht aber dennoch aufschlussreich ist, weil er der Prämisse verpflichtet ist, dass schon für den Späthumanismus „die Frage ‘Welche Antike?’ unausweichlich“ wurde, „um sich in der unüberschaubar gewordenen Fülle und Vielfalt verfügbarer Aspekte des Altertums überhaupt noch zu orientieren“.¹⁴ Während in den Beiträgen dieses Bandes dann aber weniger nach unterschiedlichen Altertumskulturen gefragt wird, sondern vielmehr danach, welcher Aspekt der klassischen Antike in politischer, philosophischer, philologischer oder ästhetischer Hinsicht in einzelnen Rezeptionsakten jeweils herausgestellt oder auf welche Quelle Bezug genommen wurde, unterscheiden die Herausgeber eines zweiten Bandes unter dem Titel Multiple Antiquities – Multiple Modernities (2011) dezidiert zwischen einzelnen Altertumskulturen im 19. Jahrhundert, die als „classical antiquity“, „oriental past“ und „‘substitute’ antiquities“ (als Bezeichnung für Altertumskulturen, die im Kontext nationaler Identitätspolitik profiliert wurden, wie ein germanisches, keltisches oder skythisches Altertum) terminologisch gefasst werden.¹⁵ Der Schwerpunkt in den einzelnen Aufsätzen liegt allerdings auf den spezifischen Aneignungen der jeweiligen Altertumskulturen im Kontext der Nationenbildung des 19. Jahrhunderts, so dass die Konvergenzen und Konkurrenzen der verschiedenen entworfenen Altertumskulturen untereinander abermals nicht in den Blick geraten können. Von den genannten Forschungsbeiträgen unterscheidet sich die vorliegende Arbeit konzeptionell vor allem dadurch, dass sie dezidiert auf den Prozess der Pluralisierung des Altertums und auf die ästhetischen Potentiale der einzelnen Altertumskulturen fokussiert. Mit dieser Konzeption gehört sie in den Kontext des von Andrea Polaschegg geleiteten Teilprojekts Konkurrenz der Altertümer. Deutschlands Antikentektonik in der Epoche der Historisierung im Berliner Sonderforschungsbereich
Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 35). Ulrich Heinen: Einleitung, in: Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, 2 Bde., hg.v. dems.,Wiesbaden 2011 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 47), Bd. 1, S. 11– 27, hier S. 12. Einen ähnlichen Ansatz in Bezug auf die Literatur der deutschen Aufklärung verfolgte das Teilprojekt von Steffen Martus Pluralisierung von Antike in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts im Rahmen des Berliner Sonderforschungsbereichs Transformationen der Antike. Gábor Klaniczay, Michael Werner und Ottó Gecser: Introduction, in: Multiple Antiquities – Multiple Modernities. Ancient Histories in Nineteenth Century European Culture, hg.v. dens., Frankfurt/Main, New York 2011, S. 9 – 25, hier S. 9 f. Auf das Wechselverhältnis von Moderne und Antikekonstruktion fokussiert auch Dietrich Harth: Über die Geburt der Antike aus dem Geist der Moderne, in: International Journal of the Classical Tradition 1/1 (1994), S. 89 – 106.
Fragestellung und Forschungsüberblick
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Transformationen der Antike. ¹⁶ Das Interesse des Forschungsprojekts richtete sich auf die bereits genannten Prozesse der Ausdifferenzierung des Konzepts ‘Altertum’ im deutschsprachigen Raum und die jeweiligen Spannungen und Dynamiken in den Konstellationen verschiedener Altertumskulturen im 18. und 19. Jahrhunderts. Die vorliegende Arbeit erprobt den Ansatz im Hinblick auf die Dramenbühne des ausgehenden 18. und der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts. Der Gegenstand der Analyse wird weit gefasst: Nicht nur Dramentexte zählen dazu, sondern auch die zeitgenössische Dramentheorie und Ausstattungspraxis. Dieser Entscheidung liegt die Überzeugung zugrunde, dass sich die spezifischen Transformationen des Altertums in den Dramentexten erst vor dem Hintergrund von Theorie und Ausstattungspraxis beschreiben lassen. Obwohl alle drei Felder je eigenen diskursiven Logiken und Praxen folgen, berühren und beeinflussen sie sich doch immer wieder. Die Untersuchung richtet sich mit diesen drei Forschungsfeldern – Dramentheorie, Ausstattungspraxis und Dramatik – also auf sehr unterschiedliche Quellenbestände. Auch hier muss weitestgehend Forschungsneuland betreten werden: Das gilt insbesondere für die Gattungstheorie des Dramas im späten 18. und im 19. Jahrhundert, bei der die zeitgenössischen Diskussionen über andere Altertumskulturen neben der klassischen Antike bisher von der Forschung nicht berücksichtigt wurden. Ähnliches ist für die Forschung zur zeitgenössischen Aufführungspraxis zu konstatieren. Gerade weil in den relevanten Beiträgen (vornehmlich aus der Theaterwissenschaft) die Aufführungspraxis von antiken Dramen auf der Bühne des 19. Jahrhunderts so gut erforscht ist, ist auf die Bedeutung anderer Altertumskulturen für die Genese der zeitgenössischen Ausstattungspraxis bisher kaum der Fokus gesetzt worden.¹⁷ Auch die drama-
In der dritten Förderphase des SFB hat sich das Projekt unter dem leicht veränderten Titel Konkurrenz der Altertümer. Deutschlands Antikentektonik zwischen Historismus und Moderne historisch an das Ende des 19. Jahrhunderts bewegt. Vgl. aus dem Projekt exemplarisch folgende Publikationen: Friederike Krippner, Andrea Polaschegg und Julia Stenzel (Hg.): Die andere Antike. Altertumsfigurationen auf der Bühne des 19. Jahrhunderts, erscheint München 2017; Andrea Polaschegg: Athen am Nil oder Jerusalem am Ganges? Der Streit um den kulturellen Ursprung um 1800, in: Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst,Wissenschaft und Anthropologie um 1800, hg.v. Alexandra Böhm und Monika Sproll, Würzburg 2008 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. 31), S. 41– 65; Michael Weichenhan: Wissen über Grenzen: Die Entdeckung der indischen Philosophie und die Pluralisierung der Antike, in: Grenzen der Antike. Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen, hg.v. Anna Heinze, Sebastian Möckel und Werner Röcke, Berlin 2014, S. 169 – 208. Vgl. Susanne Boetius: Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts. Bühnenfassungen mit Schauspielmusik, Tübingen 2005 (Theatron, Bd. 44); Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2. überarb. und erw. Aufl., München 2009; ders.: Die Entdeckung der griechischen Tragödie für die deutsche Bühne, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg.v. Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1983 (Hegel-Studien Beiheft 22), S. 285 – 308 und Barbara Kes: Die Rezeption der Komödien des Plautus und Terenz im 19. Jahrhundert. Theorie, Bearbeitung, Bühne, Amsterdam 1988. Die Rezeption der Aufführung ‘aristophanidischer’ Komödiendichter des Vor- und Nachmärz untersucht Julia Stenzel: Der Zuschauer im Bild der Antike. Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, in: Forum Modernes Theater 2/2009, S. 3 – 17 und dies.: Von schäumenden und kontrollie-
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Einleitung
tischen Texte sind in der Regel nicht mit Blick auf die Konvergenzen und Konkurrenzen verschiedener Altertumskulturen gelesen worden. So hat die Forschung zum Geschichtsdrama des 19. Jahrhunderts die anvisierten Texte bisher nicht als ein gemeinsames Korpus der Altertumsdramatik diskutiert.¹⁸ Allerdings sind einige zentrale Ausschnitte der Altertumsdramatik sehr gut untersucht: Wichtige Studien liegen etwa für die Gruppe der Römerdramen des 19. Jahrhunderts vor¹⁹ oder für die Hermannsdramen (hier auch mit Blick auf die Konkurrenz von Römern und Germanen).²⁰
Zwei Beispiele: Theodor Fontane und Johann Wilhelm Kuithan Bevor der Gang der Untersuchung erläutert wird, sei neben dem einführend zitierten Handbuch von Ersch eine kurze Darstellung von zwei weiteren Beispielen aus dem großen Quellenpool der dramatischen Altertumstransformationen erlaubt, mit dem Ziel, das breit angelegte Forschungsfeld dieser Studie noch etwas klarer zu konturieren und auch einen vorläufigen Blick auf Theaterpraxis und Gattungstheorie zu ermöglichen: Zuerst geht es um zwei Berliner Theaternotizen von Theodor Fontane zu Stücken mit nordischen und griechischen Stoffen, anschließend um eine Studie des Dortmunder Gymnasialdirektors Johann Wilhelm Kuithan zu den Ursprüngen des germanischen Theaters.
renden Kommentaren. Die Berliner Antigone-Inszenierung von 1842 und ihre Reformulierungen in der politisierten Literatur des Vor- und Nachmärz, in: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg.v. Anja Becker und Jan Mohr, Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Bd. 8), S. 365 – 386. Überlegungen zum Typus des ‘vaterländischen’ und ‘historischen’ Dramas (allerdings nicht mit Blick auf eine dezidierte Altertumsdramatik) formuliert Claudia Stockinger: Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas, Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 158), insbesondere S. 101– 227; zum literaturgeschichtlichen Kontext insgesamt vgl. auch Wolfgang Struck: Konfigurationen der Vergangenheit. Deutsche Geschichtsdramen im Zeitalter der Restauration, Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 143). Vgl. insbesondere die aktuelle Studie von Timm Reimers: Gelehrsamkeit, Politik und Spektakel. Transformationen der deutschen Römertragödie 1800 – 1900, Berlin, Boston 2016 (Transformationen der Antike 37). Vgl. außerdem Annette Bühler-Dietrich: Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert (Forum Modernes Theater, Schriftenreihe, Bd. 39), S. 179 – 228; Horst Thomé: Römertragödien des 19. Jahrhunderts. Ein vorläufiger Bericht, in: Konflikt. Grenze. Dialog. Kulturkontrastive und interdisziplinäre Textzugänge, hg.v. Jürgen Lehmann u. a., Frankfurt/Main 1997, S. 157– 172 und Timm Reimers: Gracchen und Scipionen: Heldentypen der Römischen Republik im deutschen Drama des 19. Jahrhunderts, in: Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post‐)Heroischen, hg.v. Jesko Reiling und Carsten Rohde, Bielefeld 2011, S. 127– 149. Vgl. dazu stellvertretend die einschlägige Studie von Gesa von Essen: Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998 (Veröffentlichung aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 „Internationalität nationaler Literaturen“. Serie B: Europäische Literaturen und Internationale Prozesse, Bd. 2).
Zwei Beispiele: Theodor Fontane und Johann Wilhelm Kuithan
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Zunächst Fontane: Als Theaterkritiker zeichnet er in der Vossischen Zeitung vom 16. Mai 1883 ein bemerkenswertes Bild von der Spielzeit 1882/1883 am Berliner Königlichen Schauspielhaus. Die Premiere von Friedrich Bodenstedts Alexander in Korinth, der letzten Inszenierung der laufenden Spielzeit, lässt ihn zurückdenken an deren Beginn im Oktober des vorangegangenen Jahres: Das vieraktige Schauspiel Bodenstedts, das am Pfingstsonnabend in Szene ging, hat den Charakter eines Fest- und Gelegenheitsstückes und erinnert in dieser Beziehung an Felix Dahns „Skaldenkunst“, womit die nunmehr mit „Alexander in Korinth“ abschließende Saison vor etwa sieben Monaten begann. Wenn ich die „Skaldenkunst“ als ein Gelegenheitsstück für eine „Versammlung nordischer Altertümler“ bezeichnete, so empfiehlt sich „Alexander in Korinth“ für eine Schliemann-Feier.²¹
Diese kleine Notiz ist nicht nur geeignet, die Weite des Spektrums der Altertumskulturen zu illustrieren, die in einer Saison gleichberechtigt nebeneinander als Auftakt und Schluss in prominenten Positionen auf dem Spielplan des Berliner Theaters standen; sie ist auch ein Indiz für die Wissenshorizonte und die (vermeintlichen) Rezeptionskontexte, die am Berliner Theater im Jahr 1883 für die genannte Art von Dramatik Geltung besaßen. Ausführlicher hatte Fontane die Atmosphäre eines solchen Theaterabends bereits in seiner Rezension der Aufführung von Dahns Skalden-Kunst ²² in der Vossischen Zeitung vom 10. Oktober 1882 entworfen: Das Felix Dahnsche Stück, das uns der Sonnabend Abend brachte, wirkte nach Art eines Gelegenheitsstückes und würde vor einem bestimmten Publikum und in besonderer Veranlassung gespielt, eines gefälligen Eindrucks und der aufrichtigen Zustimmung aller Geladenen nicht verfehlt haben. Mir schwebt dabei beispielsweise ein archäologischer Kongreß vor oder eine Versammlung in Kopenhagen tagender nordischer Altertumsforscher, die, nach Erledigung des Geschäftlichen und Wissenschaftlichen, etwa von dem berühmten Professor Worsaae zu einer großen Soirée gebeten werden, mit Adler-, Elefanten- und sogar Seraphinen-Orden. Zu den Darbietungen des Abends gehört natürlich auch ein nordisches „Stück“ aus der Stein- oder Bronzezeit, das, von einem gefälligen Nach-Oehlenschläger gedichtet, den Zweck verfolgt, die mit zum Kongreß gekommenen Damen zweier Generationen, Mütter und Töchter, etwas nordischaltertümlich zu berühren, aber doch nicht schlimm, etwa so nur, daß in der vorzuführenden „minniglichen Königstochter“ immer noch die mitversammelte Professorentochter und in dem unvermeidlichen „Skalden“ immer noch Geibel oder Scheffel oder Wilhelm Jensen erkannt werden kann. Auch den anwesenden Großwürdenträgern auf dem Gebiete der Altertumskunde pflegt mit solcher auffrischenden Behandlung der Saga mehr gedient zu sein, als man erwarten sollte; müde von der Endlosigkeit ihrer Vormittagssitzungen, erdrückt von der Schwere der Wissenschaft (je schwerer, je dunkler), erfüllt sie gegen Abend hin nur noch der eine Wunsch, sich „von allem Wissensqualm entladen“ in irgend einem Tau gesund baden zu können, in irgend
Theodor Fontane: Bodenstedt: Alexander in Korinth, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg.v.Walter Keitel, 3. Abt., 2. Bd.: Theaterkritiken, hg.v. Siegmar Gerndt, München 1969, S. 592– 598, hier S. 593. Felix Dahn: Skalden-Kunst. Schauspiel in drei Aufzügen, Leipzig 1882. Das Drama spielt im mythischen Ort Thule 400 n.Chr., die Handlung rankt sich um den König von Thule, seine beiden Kinder Ringbert und Bathild sowie den Skalden Swan.
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Einleitung
einem, und wenn es selbst der Tau der Dichtung sein müßte. […] Ja, bei Professor Worsaae hätte das Stück gefallen, im Schauspielhaus gefiel es nicht.²³
Fontanes süffisante Charakteristik der professoralen Poesie seines Dichterkollegen Felix Dahn bringt in erster Linie zwar die Ablehnung einer in seinen Augen ästhetisch illegitimen Form von Dramatik und ihrer Rezeption zum Ausdruck. Sie verweist zugleich aber auch auf die zeitgenössische Bühnenrealität der Altertumsdramatik mit ihrer Orientierung an den neuen Wissensbeständen über die Alte Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Übernahme und zugleich der kreative Umgang mit solchem neuen Wissen wurde inbesondere für die theatrale Ausstattungspraxis bestimmend, wie sich im dritten Kapitel dieser Arbeit zeigen wird. Das zweite Beispiel führt in den Bereich der Gattungstheorie, der sowohl mit den dramatischen Texten als auch mit der Aufführungspraxis in engem Korrespondenzverhältnis steht. Beim Blick auf Texte, die sich mit der Gattung Drama beschäftigen, wird deutlich, dass eine Analyse der Pluralität der Altertümer mit einer fundamentalen Spannung zwischen der klassischen Antike und den anderen Altertümern rechnen muss.Verantwortlich dafür ist eine kulturelle Ursprungserzählung, die die Anfänge der dramatisch-theatralen Kunstform fest im Theater der griechischen Antike verortet. Genauer noch: Es sind die attische Tragödie und Komödie der griechischen polisKultur im fünften vorchristlichen Jahrhundert, die als konstante Referenzpunkte privilegiert werden, während die Diskussion andere antike Theaterformen in der Rezeption übergeht.²⁴ Johann Wilhelm Kuithans Studie Die Germanen und Griechen, Eine Sprache, Ein Volk, Eine auferweckte Geschichte (zwei Hefte, 1822/1825) führt anschaulich die intellektuellen Probleme vor, die für den Diskurs der Altertümer aus dieser starken Fokussierung auf das griechische Theater entstehen. Der Dortmunder Gymnasialdirektor versuchte sich nämlich darin, die Annahme, dass die Germanen bzw. Deutschen „und die Hellenen Ein Volk“²⁵ seien, vor allem durch umfangreiche etymologische Vergleiche zu beweisen.²⁶ Durch seine Sprachstudien, so argumentiert er überzeugt, erwache die „Germanische Urwelt“ wieder zum Leben. Man gewinne auf
Theodor Fontane: Dahn: Skaldenkunst. Babo: Der Puls, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg.v. Walter Keitel, 3. Abt., 2. Bd.: Theaterkritiken, hg.v. Siegmar Gerndt, München 1969, S. 560 – 565, hier S. 560 f., Hervorh. i.O. Vgl. zu dieser Ursprungskonstruktion und zur Rezeptionsgeschichte die grundlegende Studie von Theo Girshausen: Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike, Berlin 1999. Johann Wilhelm Kuithan: Vorwort, in: Ders.: Die Germanen und Griechen, Eine Sprache, Ein Volk, Eine auferweckte Geschichte, Erstes Heft, Hamm 1822, S. III-VI, hier S. III. Erscheinen solche etymologischen Studien aus heutiger Sicht kapriziös, so war Kuithan mit dem Versuch, die Verwandtschaft des Deutschen und Griechischen zu beweisen, zeitgenössisch keineswegs allein. 1804 veröffentlichte der spätere Professor für orientalische Sprachen Johann Arnold Kanne eine Schrift Ueber die Verwandtschaft der griechischen und teutschen Sprache (Leipzig 1804) und etwa zeitgleich mit Kuithans Heften erschien die Studie des Jenaer Gymnasialdirektors Franz Christoph Frenzel mit dem Titel Ueber die Verwandtschaft zwischen der griechischen und deutschen Sprache (Eisenach 1825). Vgl. zu den Zielen der vergleichenden Sprachwissenschaft auch Kapitel 1.2.
Zwei Beispiele: Theodor Fontane und Johann Wilhelm Kuithan
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diesem Weg einen tiefen Einblick in „ihre häuslichen Einrichtungen, ihre Verfassung, ihre Religion, ihre Künste und Wissenschaften, Musik, Gesänge, Tänze“.²⁷ Das anvisierte Ziel ist der Entwurf einer germanischen Hochkultur, die sich für Kuithan nicht zuletzt in einer Theaterbühne und Schauspielen „seit dem grauesten Germanischen Alterthume“²⁸ konkretisierte. Den Beweis für ihre Existenz führt er durch komplexe Vergleichsargumente wie das folgende: Σκιαρ heißt gleichfalls eine Laube und in der spartanischen Mundart σκιαρ wieder das Theater und Odeum in Lacedämon. Ist das nicht offenbar das W[est]ph[älische] Schüör, ganz unverändert und die Hochd[eutsche] Scheuer? Noch jetzt also ist im D[eutschen] Scheuer und Scheune dasselbe, und im G[riechischen] σκηνη und σκιας [sic!] ebenfalls. Und begründet dieß Zusammentreffen nicht umso mehr die Vermuthung, denn für mehr gebe ich dieß nicht aus, daß auch zwischen diesen Deutschen uralten Wörtern und dem Theater mag eine Verbindung gewesen seyn, und auch die alten Griechen sich werden eher und lieber dieser Scheuern, als des Thespischen Wagens bedient haben?²⁹
Zwar weiß Kuithan selbst, dass es kühne „Vermuthung[en]“³⁰ sind, die er vorträgt (am kühnsten vielleicht der Gedanke, die Figurenbezeichnung Hans Wurst könne sich vom griechischen παρασιτος ableiten),³¹ aber er fühlt sich dazu berechtigt, weil „die Etymologien […] überall sehr ungewisse Dinge“ sind und weil ein einziger zutreffender Verdacht schließlich für den Nachweis der Verwandtschaft genügen würde: „[S]o knüpft sich unser jetziges Schauspiel, die Fastnachts- und ältere Possen des Mittelalters und die Deutsche unbekannte Vorwelt an das älteste Griechische Theater an […].“³² Am Ende ist er sich tatsächlich sicher: [W]er könnte nach allem diesen, da sich selbst auch noch die bisher so eigenthümlich geschienenen Chöre und Tänze auf dem G[riechischen] Theater und zwar mit der noch G[riechischen] Aussprache, in unserm Schertanze erhalten haben, verkennen, daß die Germanen eine Bühne und Schauspieler, und zwar nach der Art der Griechen gehabt haben?³³
Kuithans Studie zeigt in ihren etymologischen Spekulationen nicht nur, wie stark der Wunsch nach einer (verborgen dokumentierten) eigenen kulturellen Vergangenheit des Theaters in einer dunklen germanischen Vorzeit war. Sie veranschaulicht auch, dass sich die Behauptung eines hohen Alters einer Kultur stets am Maßstab des antiken Griechenland messen lassen musste. Im Idealfall aber, so Kuithans Kalkül, war der Ursprung sogar identisch. Und schließlich ist dieser Versuch, das deutsche Altertum
Kuithan: Vorwort, S. IV. Johann Wilhelm Kuithan: Die Germanen und Griechen, Eine Sprache, Ein Volk, Eine auferweckte Geschichte, Zweites Heft, Hamm 1825, S. 72. Ebd., S. 71 f. Ebd., S. 72. Ebd., S. 75 f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 80 f.
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Einleitung
durch den Nachweis eines eigenen Theaters der Germanen aufzuwerten und zu profilieren, ein erstes Indiz dafür, dass trotz der bis heute dominanten kulturellen Ursprungserzählung im deutschsprachigen Raum, die das europäische Drama und Theater stets auf die griechische Antike zurückführt, auch andere Altertümer im theoretischen Diskurs zur Sprache kommen konnten – eine Spur, die im 2. Kapitel der vorliegenden Arbeit weiter verfolgt wird.
Gang der Untersuchung Die knapp umrissenen drei großen Felder – Gattungstheorie, Ausstattungspraxis und Dramentexte – strukturieren den Gang der Untersuchung. Der zeitliche Rahmen ist dabei durch die Prozesse der Ausdifferenzierung des Altertums vorgegeben: Sie beginnen im ausgehenden 18. Jahrhundert und haben sich erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts so fest etabliert, dass sie ihr (auch) ästhetisches Potential im vollen Umfang entfalten. Das erste Kapitel konturiert zunächst diejenigen diskurshistorischen Zusammenhänge, die bereits unter dem Schlagwort ‘Pluralisierung der Altertümer’ gefasst wurden und die den Rahmen geben für die folgenden Analysen zur Dramenbühne. In einem ersten Schritt werden hierfür anhand einer Auswahl zeitgenössisch einschlägiger Lexika die semantischen Verschiebungen des Begriffs ‘Altertum’ um 1800 rekonstruiert, um dann in einem zweiten Schritt auf Grundlage der relevanten Forschungsliteratur die wichtigsten zeitgenössischen diskursiven Zusammenhänge zu umreißen, die für eine solche Pluralisierung des Altertums verantwortlich waren. Im Anschluss an diese knapp gehaltene Einführung wird in den beiden großen Teilen der Studie erprobt, inwiefern Effekte einer solchen Umstrukturierung des Konzepts ‘Altertum’ auf der Dramenbühne sichtbar werden. Zugleich wird – umgekehrt – danach gefragt, ob die Dramenbühne selbst Anteil hat an den Dynamiken der Pluralisierung des Altertums und den begleitenden Aushandlungsprozessen. Im ersten Teil der Arbeit stehen Gattungstheorie und Ausstattungspraxis im Fokus: Das zweite Kapitel konstatiert zunächst die Dominanz einer antik-klassizistischen Gattungsbestimmung des Dramas in Hegels Schriften und im Hegelianismus. Anschließend steht ein bemerkenswertes Moment der Irritation von solchen gattungstheoretischen Ursprungserzählungen im Mittelpunkt des Interesses, die ausgelöst wurde durch die europäische ‘Entdeckung’ des altindischen Dramas Sakuntala. Denn mit dem alten Indien betrat ein neues Altertum die Bühne der Gattungstheorie, das insbesondere Herder für seine Zwecke zu nutzen wusste. Nach diesen Ausführungen über den gattungstheoretischen Diskurs lenkt das dritte Kapitel den Blick auf die zeitgenössische Theaterpraxis. Im Zentrum der Analyse steht die Berliner Intendanz des Grafen Karl von Brühl, weil dessen kongeniale Zusammenarbeit mit Friedrich Schinkel nicht nur der wichtigste Ausgangspunkt für eine die deutschsprachige Bühne im Verlauf des 19. Jahrhunderts mindestens dominierende historische Bildersprache ist, sondern weil sich hier überdies zeigt, dass diese Ausstattungsreform maßgeblich in
Gang der Untersuchung
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der Auseinandersetzung mit der Antike und mit den anderen Altertumskulturen entwickelte wurde. Im zweiten Teil der Studie rückt die Altertumsdramatik des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der Analyse, mit dem ausdrücklichen Ziel, die Berührungspunkte und die gegenseitigen Beeinflussungen von Dramentheorie, Ausstattungspraxis und Dramentexten immer wieder aufzuzeigen. Angesichts der großen Menge infrage kommender Texte musste hier eine Auswahl getroffen werden, die exemplarisch zu verstehen ist. Für das vierte Kapitel wurde ein Korpus von deutschsprachigen Alexanderdramen um 1820 und 1870 gewählt, das die Gelegenheit bietet, präzise Schnittpunkte zwischen Gattungsdiskurs, Ausstattungspraxis und Altertumsdramatik in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus ist Alexander als Dramenheld im Kontext der vorliegenen Arbeit auch deshalb ausgesprochen aufschlussreich, weil er in Deutschland zugleich als (griechische) Überbietungs- und als Integrationsfigur für verschiedene Altertumskulturen gedacht wurde. Das fünfte Kapitel ist schließlich eine ausführliche Studie zu Hebbels Altertumsdramen. Hebbel eignet sich als Autor für die Fragestellung dieser Arbeit deshalb ausgezeichnet, weil er Mitte des 19. Jahrhunderts in insgesamt sechs Dramen das gesamte zeitgenössische Spektrum der Altertumskulturen ausschreibt und dabei eine eigene Poetologie der Altertümer entwickelt. Sein Werk bildet daher nicht nur den Schlusspunkt dieser Arbeit, sondern es kann auch als Fluchtpunkt des ästhetischen Potentials verstanden werden, das die Ausdifferenzierung des Altertums im 19. Jahrhundert generierte.
Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’. Zur Begriffs- und Diskursgeschichte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert Wenn bisher von einer Pluralisierung des Altertums gesprochen wurde, dann unterliegt diesem Schlagwort die These, dass das Konzept ‘Altertum’ im deutschsprachigen Raum um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert durch verschiedene Faktoren grundlegend transformiert wurde. Diese Annahme gilt es im ersten Kapitel der Arbeit zu überprüfen, um den diskurshistorischen Rahmen abstecken zu können, in dem sich die folgenden Analysen zum Stellenwert der verschiedenen Altertumskulturen in der deutschsprachigen Dramentheorie, der theatralen Ausstattungspraxis und der dramatischen Texte im 19. Jahrhundert bewegen. Die Argumentation verfährt dabei in zwei Schritten: Im ersten Abschnitt (1.1) wird ein Korpus von Lexika untersucht, um den zeitgenössischen Gebrauch und die Semantik des Begriffs ‘Altertum’ zu konturieren. Denn während die historische Semantik des heute geläufigen Begriffs ‘Antike’ vom 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gut erschlossen ist, ist der begriffsgeschichtliche Prozess der Pluralisierung des ‘Altertums’ bisher noch nicht Gegenstand der Forschung gewesen. Daher lohnt hier ein Blick auf die Verwendung der Begriffe „(klassisches) Alterthum“ und „Alterthümer“ in den einschlägigen zeitgenössischen Konversationslexika, an der sich einige wichtige Veränderungen ablesen lassen. Da es sich hierbei um bisher weitgehend unbearbeitetes Material handelt, wird ausführlich aus den betreffenden Lexika zitiert. So wird ein Wandel sichtbar, der eine neue Epistemologie des Altertums indiziert: Zum einen zeichnet sich eine Pluralisierung des Konzepts ‘Altertum’ ab, und zum anderen – und eng damit zusammenhängend – gerät das normativ verstandene klassische Altertum in eine Spannung zu anderen Altertumskulturen. Im zweiten Abschnitt des Kapitels (1.2) wird dann der Versuch unternommen, die entscheidenden diskursiven Verschiebungen zu skizzieren, die zu dieser neuen Ordnung des ‘Altertums’ beigetragen haben. Angesichts der vielen Faktoren, die Prozesse der Institutionalisierung von neuen Philologien ebenso umfassen wie bestimmte nationale Diskurse und die zeitgenössisch neuen wissenschaftlichen Vorstöße in der Sprach- und Mythenforschung, stützt sich die Arbeit in diesem Zusammenhang größtenteils auf vorliegende Forschungsbeiträge. Die relevanten Entwicklungen sind dort schon verschiedentlich herausgearbeitet worden, allerdings geschah dies in aller Regel nicht mit Blick auf die Umstrukturierungen des Konzepts ‘Altertum’. Ziel dieses zweiten Teil des Kapitels ist es also aufbauend auf den Forschungen in den relevanten Feldern, diejenigen Faktoren sichtbar zu machen, die Anteil hatten an der Etablierung einer Pluralität des ‘Altertums’ und an einer hegemonialen Struktur von der Antike und den Altertumskulturen. DOI 10.1515/9783110473353-002
1.1 Antike, (klassisches) Altertum und die ‘Alterthümer’
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1.1 Antike, (klassisches) Altertum und die ‘Alterthümer’. Zur historischen Semantik der Begriffe um 1800 Der Begriff ‘Antike’ in der heutigen Verwendung als historischer, politischer und ästhetischer Epochenbegriff ist relativ jung, wie Walter Müri in zwei detaillierten begriffsgeschichtlichen Arbeiten gezeigt hat.¹ Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt ‘die Antike’ als Substantiv in diesem Sinn in Gebrauch und etabliert sich endgültig in den 1920er Jahren. Die heutige Epochen-Semantik des Begriffs ist Resultat einer drastischen Bedeutungserweiterung. Denn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stand die bzw. anfangs auch das Antike für die als vorbildlich empfundenen schönen Kunstwerke des griechisch-römischen (häufig auch nur: griechischen) Altertums,vornehmlich für Werke der Skulptur.² Referierte man dagegen auf die Epoche, dann sprach man von ‘den Alten’ oder aber vom ‘Altertum’. Um 1800, so zeigt Müri, wird der Terminus ‘Altertum’ zugleich spezifiziert und erweitert. Den Auftakt für den Prozess dieses Wandels markieren Friedrich Schlegels Historische und kritische Versuche über das klassische Altertum aus dem Jahr 1797.³ Es ist allein der Titel der Studie, der wegen der signifikanten Hinzufügung des Attributs ‘klassisch’ hier von Interesse ist. Denn dieses neue Attribut setzt sich im Laufe der Zeit als sprachliche Markierung einer bestimmten Epoche zunehmend durch. Nachdem es im 18. Jahrhundert ursprünglich dazu gedient hatte, entweder mustergültige antike Autoren oder auch vorbildliche Autoren jüngeren Datums zu benennen,⁴ schrieb die Wendung ‘klassisches Alterthum’ das Signum des Klassischen
Vgl.Walter Müri: Die Antike. Untersuchung über den Ursprung und die Entwicklung der Bezeichnung einer geschichtlichen Epoche, in: Antike und Abendland 7 (1958), S. 7– 45 sowie Walter Rüegg: ‘Antike’ als Epochenbegriff, in: Museum Helveticum 16 (1959), S. 309 – 318; vgl. zum Forschungsstand auch Peter Kuhlmann: Antike, in: Der Neue Pauly, hg.v. Hubert Cancik u. a., Bd. 13, Stuttgart 1999, S. 135– 138. Die Bedeutung verdankt sich maßgeblich der Verwendung des Begriffs ‘l’antique’ in den Schriften von Roger de Piles und des Comte de Caylus, in denen ‘l’antique’ entweder die vorbildlichen antiken Skulpturen als Kollektiv oder den hervorragenden, aber nachahmbaren Stil dieser Kunstwerke bezeichnet. Durch Übersetzungen der Schriften und durch den Gebrauch des Wortes bei dem Kunstsammler Christan Ludwig von Hagedorn und dem klassischen Philologen Christian Gottlob Heyne setzte sich die Verwendung von die oder das Antike im Deutschen als Bezeichnung der vorbildlichen schönen Kunstwerke ab den 1760er Jahren durch, zuvor und parallel dazu konnte hierfür auch der Begriff ‘Antiquität’ verwendet werden. Ab den 1770er Jahren meint das Antike hingegen fast nur noch eine Stilbezeichnung. Vgl. Müri: Die Antike, S. 10 – 21. Friedrich Schlegel: Die Griechen und die Römer. Historische und kritische Versuche über das klassische Altertum, in: Ders.: Kritische Ausgabe, Bd. 1, hg.v. Ernst Behler, München u. a. 1979, S. 203 – 367. In dieser Bedeutung verwendet Goethe etwa den Begriff, wenn er 1795 fragt, „[w]ann und wo“ ein „classischer Nationalautor“ entstehen könne (Johann Wolfgang von Goethe: Literarischer Sansculottismus, WA I, 40, S. 198); vgl. Müri: Die Antike, S. 33 f. und René Wellek: Das Wort und der Begriff „Klassizismus“ in der Literaturgeschichte, in: Ders.: Grenzziehungen. Beiträge zur Literaturkritik, Stuttgart u. a. 1972, S. 44– 63.
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
nunmehr gleich einer ganzen Epoche zu. Damit wurde die normative Verbindlichkeit des Altertums deutlich herausgehoben. Die Qualifikation des Altertums als ‘klassisches’ indiziert aber auch eine drastische Verengung des Blickfeldes. Das wird deutlich, wenn man sich an die Begriffsverwendung des herausragendsten Altertumsforscher des 18. Jahrhunderts Johann Joachim Winckelmann erinnert.Winckelmann gebraucht den Begriff noch inklusiv als Sammelbegriff für vier Völker: Ägypter, Etrusker, Griechen und Römer. Wenngleich er diese vier Völker durchaus hegemonial denkt, mit den Griechen als ästhetischer Gipfel des Altertums, so sind sie doch ein Altertum. Demgegenüber referiert der neue Ausdruck ‘klassisches Altertum’ exklusiv auf die griechisch-römische Vergangenheit. Die Bezeichnung lässt sich darum nicht nur als wichtiges Indiz für eine neue Pluralisierung des Altertums verstehen, sondern darüber hinaus trägt sie auch eine Konkurrenz der verschiedenen Altertumskulturen zueinander ein. Denn offensichtlich machte die Tendenz, dass man um 1800 explizit den Vergangenheiten anderer, höchst differenter Völker den Status eines Altertums zuschrieb, ein sprachliches Distinktionsmerkmal nötig, um Griechenland und Rom von ihnen zu unterscheiden. Konsultiert man nun die wichtigsten Konversationslexika des 18. und 19. Jahrhunderts, dann ist zunächst auffällig, dass die einschlägigen Kompendien – etwa der bekannte Zedler aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – kein Lemma ‘Alterthum’ oder einen ähnlichen Eintrag haben. Offensichtlich war der Begriff zu dem Zeitpunkt wenig erklärungsbedürftig. In Johann Georg Walchs Philosophische[m] Lexikon, dessen vier Auflagen zwischen 1726 und 1775 erschienen, findet sich erst in der 4. Auflage zumindest das Stichwort ‘Alterthümer’. Einzig in einer Spezialenzyklopädie von Christian Friedrich Blanckenburg erscheint im späten 18. Jahrhundert immerhin das Lemma ‘Die Alten’, unter dem ganz unproblematisch vornehmlich Kompendien zu den alten Griechen und Römern, aber auch Ägyptern gelistet sind. Im 19. Jahrhundert explodiert dann die Anzahl neu erscheinender Universal- und Speziallexika und in fast allen größeren Werken gibt es nun einen Eintrag zum ‘Alterthum’ und/oder den ‘Alterthümern’. Die entsprechenden Artikel zeugen davon, dass die oben angesprochene Differenzierung zwischen einem klassischen Altertum der Griechen und Römer auf der einen und einem ‘nichtklassischen’, höchst diversen Altertum auf der anderen Seite im Laufe des 19. Jahrhunderts fest etabliert wurde. An eine Einheit von Rom, Griechenland und Ägypten ist nun nicht mehr zu denken, sondern es wird ein Panorama verschiedener Altertumskulturen entfaltet. Exemplarisch veranschaulicht dies der Eintrag „Alterthum“ in der ersten Auflage des Encyclopädische[n] Wörterbuch[s] der Wissenschaften, Künste und Gewerbe (des späteren Pierer) aus dem Jahr 1824. Die Lektüre des Artikels macht zudem deutlich, dass das ‘Altertum’ als zeitlich relativer Begriff gebraucht wurde, der sowohl konkrete Zeitperioden beschreiben konnte als auch ganz allgemein das Verhältnis einer früheren Epoche zu einer späteren. Der Terminus „Alterthum“, so heißt es dort erstens, bezeichne „[i]m weitern Sinne“ eine „schon lange vergangene[], aus mehrern oder wenigern, kürzern oder längern, Epochen bestehende[] Zeit, nebst allem, was während derselben gewesen, entstanden, gethan, gedacht worden; im Gegensatz zur gegen-
1.1 Antike, (klassisches) Altertum und die ‘Alterthümer’
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wärtigen und derselben entweder unmittelbar, oder mittelbar vorangegangenen Zeit […].“ In diesem weiten Sinn habe „jede über ein gewöhnliches Menschenleben emporreichende Periode, jedes Jahrhundert, bei jedem selbst wilden Volke, sein Alterthum.“ Davon wird zweitens ein Begriff vom Altertum „[i]m engern Sinne“ unterschieden, worunter die „bei jedem einzelnen mehr oder weniger ausgebildeten Volke oder großen Volksstamme, positiv bestimmten Vorzeit“ gefasst werde. In diesem Verständnis habe „jedes neuere Volk sein eigenes Alterthum“, also „Teutsche, Engländer, Franzosen, Italiener, Russen usw.“ Schließlich wird noch eine dritte Verwendung des Begriffs „im engsten Sinne“ vorgestellt:⁵ Inbegriff einer, nach der allgemeinsten Annahme positiv bestimmten Vorzeit, nebst dem allen, was daraus sich theils selbst, oder wovon nur die Kunde sich bis auf unsere Zeiten erhalten. In diesem Sinne haben und erkennen besonders die höher ausgebildeten Menschen ein Alterthum bei allen Völkern der Erde, das, so fern es auch ihnen liegen mag, ein Gegenstand ihrer Beschäftigung und genauern Nachforschung bildet. Dieses Alterthum ist aber zwiefach: 1) das klassische 2) das nichtklassische. Zu dem klassischen Alterthum gehört: a) das Alterthum der Griechen b) das Alterthum der Römer und auch anderer Italioten; beide von den Zeiten der Völkerwanderung an, bis zu den Zeiten Homers und überhaupt bis zur Vorwelt der griechischen und römischen Sage empor. Dieses Alterthum nennt man deßhalb das klassische, weil durch die vollständigere Entwicklung aller höheren Geisteskräfte in allen Zweigen der Wissenschaft und Kunst, und durch die bisher vollendetsten Hervorbringung [sic!] aller Art im Menschenverein der damaligen Zeit die Griechen zuerst, und nach ihnen die Römer, obgleich diese in einem weit geringern Grade, die vorzüglichsten und sichersten Lehrer aller gebildeten Völker bis auf die Gegenwart herab geworden sind. Zu dem nichtklassischen Alterthum gehört: A) das Alterthum solcher Völker, die dem griechischen und römischen Alterthum teils als vorausgehend, und zum Theil darauf einwirkend, theils wenigstens als mit ihm gleichzeitig betrachtet werden; folglich a) das Alterthum der Phönikier und Hebräer; b) der Ägypter und Äthiopier; c) der Babylonier; d) der Perser; e) der Indier; f) der kleinasiatischen und der östlicher und nördlicher liegenden ehemaligen Nationen. Ferner: B) das Alterthum solcher Völker, deren Blüthe oder Vorhandensein, unsern bis jetzt offen liegenden Nachrichten zufolge, größtentheils entweder nach Griechenlands Blüthe, oder nach der römischen Weltherrschaft Verfall, anzunehmen ist, als: a) das Alterthum der Germanen; b) der Celten; c) Basken; d) Iren; e) Scoten; f) Brittanier und der übrigen älteren, früher nicht genannten europäischen Völkerschaften; ferner g) das Alterthum der Araber, Saracenen und Türken; h) der Chinesen, nebst den übrigen Völkerschaften Asiens; endlich: i) das Alterthum aller übrigen Völker der uns bekannten Erd- und Inselreiche der Welt.⁶
Dem klassischen Altertum wird damit eindeutig ein privilegierter Status zugesprochen. Er gründet auf den hervorstechenden kulturellen Leistungen der Griechen, Römer und „Italioten“, die in dieser Hinsicht als vorbildlich für „alle[] gebildeten Völker bis auf die Gegenwart“⁷ gesehen werden. Dass es sich um ein deutsches Lexikon des 19. Jahrhunderts handelt, ist dabei unschwer an der Bevorzugung des griechischen Altertums Art. „Alterthum“, in: Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, bearbeitet von mehreren Gelehrten, Bd. 1, hg.v. D. A. Binzer, fortgesetzt von H. A. Pierer, Altenburg 1824, S. 380 f., hier S. 380. Ebd., Hervorh. i.O. Ebd.
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
vor dem römischen zu erkennen: Während die griechische Vorbildlichkeit unzweifelhaft ist, wird diejenige der Römer als „weit geringer[]“⁸ eingeschätzt. Auffällig ist darüber hinaus die Bestimmung aller anderen Altertumskulturen vom axiologischen Zentrum des klassischen Altertums her, indem sie zeitlich entweder vor oder nach der Epoche der Griechen und Römer eingeordnet werden. Im „engsten Sinne“⁹ steht die Markierung einer Epoche als Altertum damit in Abhängigkeit vom klassischen Altertum. Welchen Völkern in diesem engsten Sinn explizit ein Altertum zugesprochen wurde, variiert in den einzelnen Lexika. Die Liste in Pierer’s Univeral-Lexikon ist ein besonders ausführliches Beispiel; häufig werden nur einige wenige Altertumskulturen genannt – neben den obligatorischen Griechen und Römern fast immer Inder, Ägypter, Germanen und Hebräer, öfter auch Etrusker, Perser oder Gallier. Diese Variation ist kein Zufall: Mit der Differenzierung von klassischem und nichtklassischem Altertum ging eine grundsätzliche Öffnung des Blickfeldes einher, zugleich aber auch eine Unsicherheit, was man im Einzelnen als Altertum zu bezeichnen habe. Die Autoren der Lexikonartikel reagieren auf diese Verunsicherung mit einem unbedingten Glauben daran, dass der Fortschritt der Wissenschaft die bestehenden Unklarheiten beseitigen werde. Man sah die Bestimmung dessen, was ein Altertum sei, als eine der wichtigsten Aufgaben der zeitgenössischen Altertumsforschung an. So wurde etwa im Neue[n] Conversations-Lexikon für alle Stände darauf hingewiesen, dass es Aufgabe der Altertumskunde und ‐wissenschaft sei, „ein Gemälde aller Nationen, aller Zeiten u. Welttheile“ zu liefern „bis auf den Zeitpunkt, wo der neue Zustand der Dinge“ eintrete. In dem Artikel, der 1857 erschien, wird diesem Aufruf allerdings der bedauernde Zusatz hinzugefügt, dass man derzeit „[e]in solches allgemeines Völkerund Staatengemälde“ noch nicht besitze, „sondern bloß ägyptische, indische, hebräische, griechische, römische, deutsche ec. Alterthümer und Materialien zum Aufbau das [sic!] Ganzen“.¹⁰ Diesem Verständnis von einer vorläufigen Unabgeschlossenheit des Altertumswissens entspricht der Befund, dass häufig keine deutliche temporale Epochengrenze des Altertums und der einzelnen Altertumskulturen gezogen wurde, hing sie doch davon ab, wie man den Zeitpunkt dieses „neue[n] Zustand[s] der Dinge“¹¹ je bestimmte.Weil der „Ausdruck Alterthum, alte Zeit, im Gegensatz einer neuen […] an und für sich unbestimmt“¹² sei und weil es sich überhaupt um einen
Ebd. Ebd. Art. „Alterthumskunde u. Alterthumswissenschaft“, in: Neues Conversations-Lexikon für alle Stände, in Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern und unter der Redaktion der Herren Dr. L. Köhler und Dr. Krause, hg.v. H. J. Meyer, Bd. 1, Hildburghausen, New York 1857, S. 598 – 600, hier S. 598. Ebd. Art. „Alterthum, Alterthümer (Antiquitäten), Alterthumskunde, Alterthumswissenschaft“, in: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon), Bd. 1, Leipzig 71827, S. 238, Hervorh. i.O.
1.1 Antike, (klassisches) Altertum und die ‘Alterthümer’
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„relative[n] Begriff“¹³ handle, wurde in diesem Zusammenhang regelmäßig auf die Altertumskunde und die (systematischere) Altertumswissenschaft verwiesen.¹⁴ Diese explizite Aufgabenzuweisung an Altertumskunde und -wissenschaft ist signifikant. Sie zeigt, wie eng der Begriff ‘Altertum’ an Prozesse der Erforschung gekoppelt war, und sie markiert zugleich den zeitgenössischen Glauben an den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft respektive der florierenden Altertumsforschung. Mit diesem Befund korrespondiert die Tatsache, dass die Rede von einem Altertum im engeren und engsten Sinn bei aller Relativität letztlich die Existenz materieller und geistiger Monumente und Überreste voraussetzte. In Pierer’s Universal-Lexikon heißt es entsprechend: „Überall, wo ein Volk Sagen, Denkmäler, Geschichte aus der Vorzeit
P. Fr. Kanngiesser: Art. „Alterthum“, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, hg.v. Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Bd. 3, Leipzig 1819, S. 254– 256, hier S. 254. Obgleich nicht durchgängig konsequent eingehalten, besteht doch zeitgenössisch eine deutliche Differenz zwischen Altertumskunde und Altertumswissenschaft. Die Altertumskunde war empirisch auf die Erforschung des Einzelnen gerichtet (einzelner Völker, Epochen und Überlieferungen), und wurde als Teil der systematischeren Altertumswissenschaft verstanden, deren Ziel es war, diese Einzelteile zusammenzufügen, miteinander zu vergleichen und so ein umfassendes Bild des Altertums zu gewinnen. Im bereits zitierten Eintrag „Alterthumskunde u. Alterthumswissenschaft“ im Neue[n] Conversations-Lexikon für alle Stände ist das Verhältnis beider Forschungszweige wie folgt gefasst: „Sobald die Gegenstände der A[lterthumskunde] im Ganzen wie im Einzelnen mit wissenschaftlichem Geiste erfaßt, nach bestimmten Principien geordnet und zu einem organischen Ganzen, als Ausdruck des antiken Lebens u. Strebens verbunden werden, so entsteht die Alterthumswissenschaft, welche ihrem materiellen Inhalte nach mit der A[lterthumskunde] zusammenfällt, aber formell ihr, wie systematisches Wissen der Empirie, entgegensteht und zur Konstruktion ihres Systems gewisser formaler Wissenschaften, namentlich aus dem Gebiete der Philosophie (angewandte Logik, Aesthetik ec.) sich bedient, deren die A[lterthumskunde] nicht notwendig bedarf. In der Alterthumswissenschaft gestaltet sich das Studium der alten Literatur zur Philologie, die Wissenschaft der alten Kunst zur Archäologie, die Beschäftigung mit Geschichte erhebt sich zur gelehrten Geschichtsforschung, und selbst die Geographie nimmt so viel als möglich die Form eines Systems an.“ (Art. „Alterthumskunde u. Alterthumswissenschaft“, in: Neues Conversations-Lexikon für alle Stände [1857], S. 598, Hervorh. i.O.). Vgl. auch den entsprechenden Artikel in Pierer’s Universal-Lexikon aus dem Jahr 1824: „Alterthumswissenschaft. Die auf alle Vorarbeiten der das Einzelne in jedem Volk und jedem Zeitalter der Vorwelt genau erforschenden Alterthumskunde erbaute, vergleichende und zusammenstellende Kenntniß des Gesammtzustandes der Vorwelt in deren Wissen, Können oder Hervorbringen, Glauben und Seyn als denkende Wesen. Die Ergründung dieses Gesammtzustandes, um die dem denkenden Forscher von jeher so sehr drängende Fragen zu lösen: wo war der Menschen vorgeschichtlicher Ursitz auf dieser Erde? wo und wie bildeten sich die frühesten Staatenvereine? in welcher Verwandtschaft standen und stehen zum Theil noch jetzt die verschiedenen Völker? mit welchem Wissen, mit welchem Glauben an das Höchste standen einst die Menschen in ihren ursprünglichen Sitzen und zogen sie von denselben aus? – diese bleibt nur der Alterthumswissenschaft erhabner Gegenstand und Zweck. Ihr Element ist und bleibt demnach […] die Vergleichung; ihr daraus hervorgehendes Werk die Zusammenstellung, und ihr Lohn dafür das Ergebniß allgemeiner Übersichten, wozu die nur das Einzelne emporhebende Alterthumskunde nie zu gelangen vermag.“ (Art. „Alterthumswissenschaft“, in: Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften [1824], S. 382, Hervorh. i.O.).
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
darbietet, da ist auch Alterthum, der sorgfältigsten Erforschung bedürftig und werth.“¹⁵ Der zeitgenössische Terminus der ‘Alterthümer’ im Plural bringt diese Bindung an die Überlieferung auf einen Begriff. Vom 18. zum 19. Jahrhundert ist auch hier eine signifikante Begriffserweiterung zu konstatieren. Sie ist gekoppelt an die Ausweitung des Gegenstandsbereiches der neuen Altertumswissenschaften. Während im 18. Jahrhundert, beispielsweise in Zedlers Universallexicon von 1739 mit „Alterthümer[n]“ noch allein „solche Sachen“ angesprochen sind, „welche wegen Länge der Zeit viele Umstände entdecken, die damahls, da sie durch Kunst verfertiget worden, sind in Gebrauch gewesen“,¹⁶ ist der Gegenstand in Pierer’s Universal-Lexikon von 1840 unter dem Lemma „Alterthümer (Antiquitäten)“ signifikant erweitert: 1) Ueberbleibsel aller Gegenstände, die mit vorzeitigen Menschen in Verbindung gekommen sind u. aus dem Alterthum stammen. 2) Alle Erzeugnisse des Geistes, als: Schriften aller Art, Mythologie, Nachrichten üb. häusliche, bürgerliche u. gottesdienstliche Einrichtungen […] aller zum Alterthum gehörenden Völker, welche zerstückelt u. vollständig auf unserer Zeiten gekommen sind. 3) Jeder materielle Ueberrest od. Nachlaß von der Hand des Menschen, mit mehr od. weniger Kunst behandelt. Demnach gehören dazu: a) alle aus dem Alterthum stammende theils erhaltene, theils in Trümmern liegende Bauwerke aller Art […]; b) alle, in jeder Art von Material verfertigte runde Bildwerke u. Reliefs; c) Zeichnungen u. Gemälde; d) Inschriften; e) Münzen; […].¹⁷
‘Alterthümer’ wurde im 19. Jahrhundert also in einem umfassenden Sinn verwendet für die gesamte Überlieferung dessen, was aus einem je zu bestimmenden Altertum stammte – neben Monumenten auch Schriftstücke und andere Relikte der unterschiedlichsten medialen Provenienz sowie nicht-materielle Zeugnisse wie Gebräuche, Rechtsklauseln etc. Die Rede von einem Altertum wurde überhaupt erst durch die Überlieferung möglich: „Im engern Sinne“, heißt es 1857 im Neue[n] ConversationsLexikon für alle Stände, nennt man das A[lterthum] auch die Urgeschichte jedes einzelnen Volks, dessen Alterthümer oder Antiquitäten dann die aus dieser ältesten Zeit herstammenden Nationaldenkmäler sind, und zwar werden darunter nicht nur die übrig gebliebenen Bau- und Kunstwerke verstanden, sondern der neuere Sprachgebrauch bezieht den Ausdruck auch auf die Kunde der ältesten Sitten, Einrichtungen und Denkmäler eines Volks überhaupt, u. man spricht in diesem Sinne von orientalischen, christlichen, deutschen, französischen, skandinavischen Alterthümern oder Antiquitäten mit demselben Rechte, wie von griechischen und römischen, obwohl die Alterthümer der Griechen
Art. „Alterthum“, in: Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe (1824), S. 380. Art. „Alterthümer“, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 1, Halle und Leipzig 1732, S. 1566. Art. „Alterthümer (Antiquitäten)“, in: Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe bearbeitet von mehr als 220 Gelehrten, hg.v. H. A. Pierer, 2. völlig umgearb. Aufl., Bd. 1, Altenburg 1840, S. 426.
1.1 Antike, (klassisches) Altertum und die ‘Alterthümer’
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und Römer, die man vorzugweise unter der Benennung die Alten begreift, auch Antiquitäten schlechthin genannt werden.¹⁸
Auch in diesem Zitat ist in der Präzisierung der „Antiquitäten schlechthin“ für Zeugnisse, die aus dem alten Griechenland oder Rom stammen, die hegemoniale Spannung zwischen römisch-griechischer Antike und den anderen Altertumskulturen deutlich zu hören. Aber für alle Altertumskulturen gilt gleichermaßen, dass sie und die ‘Alterthümer’ als ihre Zeugen in einem eindeutigen Abhängigkeitsverhältnis voneinander stehen. Ohne nennenswerte Existenz von ‘Alterthümern’, so legt der Artikel nahe, lässt sich kaum von einem Altertum sprechen. Der Begriff der ‘Alterthümer’ diente aber nicht nur als Bezeichnung für die erhaltenen Monumente und Überreste des Altertums, sondern er hatte vor allem im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch eine weitere Bedeutung. Er stand (auch) für die Erforschung und Beschreibung dieser Relikte, so etwa in einem Artikel von 1818 aus der Allgemeine[n] Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, in dem es heißt, dass im „gewöhnlichsten Sinne […] Alterthümer eigentlich Beschreibung der Alterthümer“ bedeute, weil es sich bei ihnen um „mehrere einzelne Trümmer oder Ueberreste merkwürdiger Denkmäler und Gegenstände aus einer der gegenwärtigen ungleichen Vorzeit“ handle, die nicht „an sich verständlich“ seien, „sondern erst durch mühsame Forschungen deutlich gemacht werden“ müssten.¹⁹ Der Autor des Artikels benennt die „jüdischen, griechischen und römischen Alterthümer“ als gut erforscht, um zugleich auf den dringenden Handlungsbedarf zu verweisen, den es noch für die anderen „Völker […] in den vier Erdtheilen“ gebe, die bisher nur in Teilen, dort wo „gelehrte Forscher und liberale Unterstützer sich gefunden haben, und besonderes schriftliche Denkmäler aus dem Alterthume entdeckt worden sind“ erforscht seien.²⁰ Dieser Appell an die Altertumskunde, auch für andere Altertumskulturen nachzuholen, was für das griechische, römische und „wegen des Zusammenhanges der hebräischen Litteratur
Art. „Alterthum“, in: Neues Conversations-Lexikon für alle Stände, in Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern und unter der Redaktion der Herren, Dr. L. Köhler und Dr. Krause, hg.v. H. J. Meyer, Bd. 1, Hildburghausen, New York 1857, S. 596, Hervorh. i.O. P. F. Kanngiesser: Art. „Alterthümer, Antiquitates“, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, hg.v. Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Bd. 3, Leipzig 1819, S. 256 f., hier S. 256, Hervorh. i.O. Vgl. auch den entsprechenden Eintrag im Conversations-Lexikon von 1816, in dem der Begriff allein auf die Forschung bezogen ist: „Alterthümer, Antiquitäten, nennt man die von der Geschichte abgesonderte Wissenschaft, welche den politischen, gottesdienstlichen, literarischen und häuslichen Zustand der alten Völker, oder auch der neuen, in so fern sie ihre Verfassung verändert, und also einen neuern Zustand der Dinge erhalten haben, darstellt. Die Alterthümer sind demnach für die alten Staaten das, was für die neuen […] die Statistik ist; beide sind unentbehrliche Hülfswissenschaften der Geschichte.“ (Art. „Alterthümer, Antiquitäten“, in: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, neue vollständigere Aufl., Bd. 1, Stuttgart 1816, S. 160 – 162, hier S. 160, Hervorh. i.O.). Kanngiesser: Art. „Alterthümer, Antiquitates“, S. 257.
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
mit den Urkunden des Christenthums“²¹ auch für das hebräische Altertum schon geleistet sei, findet sich regelmäßig in den zeitgenössischen Lexika.²² Die Aufforderungen verhallten nicht ungehört: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden ‘Alterthümer’ verschiedener Provenienz in der Tat rege erschlossen. Schon aus dem 18. Jahrhundert datieren entsprechende Publikationen, zumeist im Hinblick auf die ägyptischen, griechischen, römischen und hebräischen ‘Alterthümer’, denn letztere waren wegen der Bibelwissenschaften schon früh in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, wie ja auch bereits das angeführte Zitat nahelegt. Als Teile eines umfassenden Begriffs von Altertum konnten sie auch gemeinsam vorgestellt werden, etwa in Johann Moldenhauers Einleitung in die Alterthümer der Egyptier, Juden, Griechen u. Römer (Königsberg und Leipzig 1754). Die integrale Perspektive ist ein weiteres Dokument für eine tendenziell synthetische Altertumskonzeption, die am Ausgang des 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend differenziert wurde. Im 19. Jahrhundert erscheinen zahlreiche Studien wie Peter Feddersen Stuhrs Abhand-
Art. „Alterthümer, Antiquitäten“, in: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände (1816), S. 161, Hervorh. i.O. Vgl. aus dem oben zitierten Artikel im Conversations-Lexicon (dem späteren Brockhaus) von 1816: „Der vortheilhafte Gebrauch, den man von diesen Werken [zu den griechischen und römischen ‘Alterthümern’, F.K.] für ein genaueres, richtiges Verständniß der griechischen und römischen Litteratur und Geschichte gemacht hatte, leuchtete jetzt auch den Orientalisten so deutlich ein, daß sie den übrigen Humanisten nicht länger hierin nachstehen wollten. Ihre Aufmerksamkeit war, wegen des Zusammenhanges der hebräischen Litteratur mit den Urkunden des Christenthums, vornehmlich auf die hebräischen Alterthümer gerichtet, über welche Iken, Faber, Warnekros, Bellermann, Jahn u. A. so nützliche als interessante Handbücher geliefert haben. Schade, daß wir nicht eben solche über die andern orientalischen Völker besitzen! Die Asiatic Researches haben wenigstens vielfältig dazu vorgearbeitet, und Goguet gibt eine zur Vergleichung nützliche Übersicht. Nach dem, was Jones, Antil du Perron u. A. über Indien, Zoega, Denon u. A. über Aegypten geliefert haben, dürften wir uns vielleicht eine Darstellung der Alterthümer dieser wichtigsten orientalischen Völker bald versprechen. Die Alterthümer der neueuropäischen Nationen fanden aus leicht begreiflichen Ursachen der Bearbeiter mehrere. […] Daß die Deutschen nicht zurückgeblieben sind, beweis’t hinlänglich Hummels Bibliothek der deutschen Alterthümer […].“ (Ebd., Hervorh. i.O.) Vgl. außedem in der Allgemeine[n] Realencyclopädie für das katholische Deutschland: „Da übrigens ebenso auch die Aegypter, Juden, Perser, Indier u. alle andere, uns bekannt gewordene, Völker des Alterthums ihre eigene Geschichte haben, so ist klar, daß auch von diesen, wenigstens theilweise, Alterthumsgeschichten entweder schon vorhanden, oder noch zu erwarten sind. […] [I]n Bezug auf die Alterthümer der Juden, Indier, Perser u. orientalischen Völker überhaupt sind in der neuesten Zeit schätzbare Forschungen angestellt worden. Faber, Bellermann, Jahn, Warnekros, Iken u. A. haben brauchbare Handbücher der hebräischen Literatur geschrieben. Ueber indische Alterthümer sind treffliche Arbeiten von Jones, Colebrooke, Anquetil du Perron, A.W.v. Schlegel; über persische von Rhode, Hammer u. Görres; über ägyptische von Zoga, Denon u. A. vorhanden. Ebenso haben wir über französische, englische, nordische, deutsche u. s. f. A. viel Treffliches. […] In ähnlicher Weise, wie die Deutschen, suchen auch die übrigen Völker Europa’s die Geschichte ihres Volkes aus den noch vorhandenen Ueberresten bis ins Detail zu verfolgen, um daraus vollendetere historische Gemälde, als bisher, zu construiren.“ (Art. „Alterthum, Alterthümer“, in: Allgemeine Realencyclopädie oder Conversationslexicon für das katholische Deutschland, bearbeitet von einem Vereine katholischer Gelehrten, hg.v. Wilhelm Binder, Bd. 1, Regensburg 1846, S. 387– 389, hier S. 388 f., Hervorh. i.O.).
1.1 Antike, (klassisches) Altertum und die ‘Alterthümer’
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lungen über nordische Alterthümer (Berlin 1817), Wilhelm Dorows Morgenländische Altertümer (Wiesbaden 1820/21),²³ Friedrich Kruses Deutsche Alterthümer; oder, Archiv für alte und mittlere Geschichte, Geographie und Alterthümer insonderheit der germanischen Völkerstämme (Halle 1824) oder (Vater und Sohn) Ludwig Lindenschmits vierbändiges Handbuch Die Altertümer unserer heidnischen Vorzeit (Mainz 1858 – 1890). Den engen Konnex des Altertumsbegriffs mit der zeitgenössischen Forschung verdeutlichen schließlich auch die Entwürfe eines deutschen Altertums, dessen Bestimmung wegen der lückenhaften Überlieferung, die kaum aussagekräftige kulturelle Artefakte bot, ein besonderes Problem darstellte: „[W]as heißt denn deutsches Alterthum? Welches ist seine ungefähre Grenze?“, fragt Wigand’s Conversations-Lexikon, um dann eine Antwort zu geben, deren zeitliche Diffusität Ausdruck des Wunsches ist, es möge so etwas wie ein deutsches Altertum gegeben haben: Die Grenzen, welche die Universalgeschichte zieht, und nach denen Alterthum der ganze Zeitraum genannt wird, welcher mit dem Mythenalter der um das Mittelmeer herum wohnenden Völker beginnt und mit dem Untergange des weströmischen Reichs (oder besser mit der Gründung der römischen Monarchie durch Augustus und mit dem Eintritt des Christenthums) endet, können keine Bestimmung des germanischen Alterthums sein, denn erst um diese Zeit traten die Germanen aus dem Nebel heraus auf den geschichtlich bekannten Boden. Einige haben die Einführung des Christenthums, Andere die Stiftung der fränkischen Monarchie, Einige die Einführung der Reformation, Andere den westphälischen Frieden als Grenzen des deutschen Alterthums angenommen.²⁴
Wilhelm Dorow: Morgenländische Altertümer, 1. Heft: Die assyrische Keilschrift erläutert durch zwei noch nicht bekannt gewordene Jaspis-Cylinder aus Niniveh und Babylon; begleitet mit dem Nachstiche des vom Abte Lichtenstein herausgegeben Cylinders und dem genauen Abdrucke einer alten Tibetanischen Handschrift in schönen Utschen-Charakteren, Wiesbaden 1820; 2. Heft: Die indische Mythologie erläutert durch drei noch nicht bekannt gewordene Original-Gemählde aus Indien, eingeleitet mit dem Abdrucke eines noch unbekannten bronzenen Götzenbildes und Priesters mit sonderbaren Charakteren, nebst einer Abbildung der merkwürdigen Figur unter den altpersischen Trümmern in Murghab und der dazu gehörenden Aufschrift in keilförmigen Schriftzügen, Wiesbaden 1821. Art. „Alterthumswissenschaft“, in: Wigand’s Conversations-Lexikon. Für alle Stände. Von einer Gesellschaft deutscher Gelehrten bearbeitet, Bd. 1, Leipzig 1846, S. 324– 341, hier S. 331. Vgl. auch den Eintrag „Alterthümer, deutsche“ im Brockhaus’schen Conversations-Lexicon aus dem Jahr 1822: „Wie […] überhaupt der Begriff des Alten und Neuen, auf welchem der Begriff der Alterthümer beruht, schwankend ist, indem das Alte unmerklich in das Neue eingreift, und das längst Vergangene in die Gegenwart seine Wirkungen erstreckt, so ist auch eine bestimmte Zeitgrenze in Beziehung dessen, was man deutsche Alterthümer nennt, schwierig und willkürlich. Einige nehmen das 8te, Andere das 12te, ja sogar einige das 15te Jahrhundert als Zeitgrenze an, und da in der That durch die religiöse Reformation und die Entdeckung von Amerika die wichtigste Veränderung in dem Leben der Deutschen nach allen Beziehungen angegangen ist, so läßt es sich allerdings rechtfertigen, daß man nicht nur die rein germanische Zeit und das eigentliche Mittelalter, sondern auch die Zeit bis zur Wiederherstellung der Wissenschaften, durch welche die gegenwärtige Cultur der Deutschen vorzüglich begründet worden ist, in diesen Alterthümern begreife.“ (Art. „Alterthümer, deutsche“, in: Conversations-Lexicon. Neue
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
Die Argumentation, weshalb die Epochengrenze des deutschen Altertums relativ spät zu ziehen sei, später jedenfalls, als für die Altertumskulturen des Mittelmeerraumes, ist signifikant. Sie macht die Regeln des Altertumsdiskurses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich: Damit überhaupt von einem deutschen Altertum gesprochen werden kann, braucht es eine angemessene Überlieferungslage. Da die Überlieferung der deutschen Vergangenheit aber nicht so weit zurückreicht wie im Fall anderer Altertumskulturen, musste die Datierung entsprechend angepasst werden. Es waren solche Überlegungen, die dazu führten, dass die Annahme der Kontinuität eines römerzeitlichen und dann mittelalterlichen Germanentums bis weit ins 19. Jahrhundert hinein weitgehender Konsens war,²⁵ eine Annahme, die, wie sich zeigen wird, auch für die deutsche Dramenbühne von weitreichender Bedeutung war.²⁶ *** Das ‘Altertum’, so hat sich gezeigt, ist im zeitgenössischen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts ein relationaler Begriff, der eine vergangene Epoche in ihrem Verhältnis zu einer folgenden, von ihr unterschiedenen bezeichnet. Zugleich gründet die Rede von einem ‘Altertum’ auf der Überlieferungslage, denn sie ist eng gekoppelt an die Möglichkeit und Aufgabe seiner historischen Erforschung. Es braucht ‘Alterthümer’, also überlieferte Monumente und Überreste des Altertums, damit eine historische Zeitspanne tatsächlich den Status eines Altertums erhalten kann. Der Befund, dass sich der zeitgenössische Kanon des Altertums um 1800 signifikant erweitert, ist daher in enger Verbindung mit zeitgenössischen Wissenschaftsdiskursen zu sehen. Gehörten zuvor zum Altertum zumeist Römer, Griechen, Etrusker, Ägypter und Hebräer und wurden diese in der Regel inklusiv als Teile eines Altertums verstanden, so hat die Analyse der Lexikonartikel gezeigt, dass dieser Verbund aufgegeben wurde. Im gleichen Zug wurde die Erforschung anderer alter Völker intensiviert und zum Teil neu entdeckt. In den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerieten nun auch das alte Indien, Persien, Germanien und andere orientalische und nordische Völker, die alle voneinander unterschieden als je eigenes Altertum vorgestellt, deklariert und untersucht wurden. Prinzipiell konnte um 1800 und im Laufe des 19. Jahrhunderts – in Abhängigkeit von der Überlieferung – jedes Volk ein eigenes Altertum haben. Als Distinktionsmerkmal der Griechen und Römer, das diese vor den anderen alten Völkern auszeichnete, etablierte sich daher um 1800 der Begriff des ‘klassischen Altertums’. Er bezeichnet einen privilegierten Bund zweier alter Kulturen, der in dieser Weise für keine andere Altertumskonstellation entworfen worden ist. Die Spezifizierung des klassischen Altertums ist damit lesbar als eine Wende von einem synthetischen zu einem pluralen Altertumsbegriff. Es ist nicht nur die Markierung einer Differenz zwischen klassischem und nicht-klassischem Altertum, die Folge. In zwei Bänden, Erste Abtheilung des Ersten Bandes oder des Hauptwerks Elften Bandes erste Hälfte, Leipzig 1822, S. 80 – 83, hier S. 81). Vgl. hierzu Wiwjorra: Der Germanenmythos, S. 59 – 63. Vgl. etwa Kapitel 3.3.
1.2 Pluralisierungseffekte des Altertumsdiskurses bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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diese Pluralisierung anzeigt. Sondern darüber hinaus wurde an dem exemplarischen Artikel aus Pierer’s Universal-Lexikon deutlich, dass sich ‘das Altertum’ um 1800 als selbstverständlicher Begriff mehr und mehr auflöste und zu einem grundsätzlich relativen Terminus wurde, der ohne ein präzisierendes Attribut nicht auskam – es gab nicht mehr das Altertum, wohl aber ein klassisches oder nichtklassisches; ein französisches, italienisches oder deutsches; ein indisches, hebräisches, ägyptisches, persisches oder ‘vaterländisches’ Altertum. Die Rekonstruktion der historischen Semantik der Begrifflichkeiten bietet zugleich die Gelegenheit, den Begriffsgebrauch für die folgende Untersuchung zu thematisieren. Sie folgt nicht dem skizzierten zeitgenössischen Sprachgebrauch, sondern verwendet den Begriff Altertümer in heuristischer Perspektive, um mehrere, differente Altertumskulturen zu bezeichnen und damit die neue Pluralität des Altertums zu indizieren – im Unterschied zur historischen Semantik, nach der ‘Alterthümer’ auf das Phänomen oder die Erforschung der überlieferten Quellenbestände referieren. Wird in diesem historischen Sinn von den überlieferten Quellenbeständen gesprochen, dann wird der Begriff ‘Alterthümer’ in alter Schreibung verwendet und durch einfache Anführungszeichen markiert. Daneben wird auch von der Antike gesprochen, um das klassische Altertum zu bezeichnen (bzw. von der griechischen oder römischen Antike, wenn nur eine der beiden angesprochen ist). So soll die wichtige Unterscheidung zwischen der Antike und den Altertümern für die Untersuchung eindeutig markiert werden.
1.2 Pluralisierungseffekte des Altertumsdiskurses bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Die Auswertung der Lexikonartikel hat einen Wandel im Sprachgebrauch sichtbar gemacht, der eine Pluralisierung des Konzepts ‘Altertum’ indiziert. Der Begriff ‘Pluralisierung’ benennt diese Umstrukturierung pointiert. Wenn es im Folgenden um die diversen Faktoren geht, die an den Prozessen der Pluralisierung Anteil hatten, dann ist vorher noch ein Umstand zu erwähnen, der bisher eher en passant erwähnt wurde. Neben Griechenland und Rom gab es auch schon im 18. Jahrhundert mehrere andere alte Völker, die vorrangig erforscht wurden als Teil des noch inklusiv gedachten Altertums: Ägypten und die alten Hebräer. Die deutsche Ägyptomanie erreichte bereits im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt²⁷ und das alte Israel war aufgrund der Bibelwissenschaften schon im 18. Jahrhundert zum privilegierten Gegenstand der Forschung geworden.²⁸ Um 1800 erweiterte sich das Feld der alten Kulturen, die als Al Vgl. hierzu die einschlägige Studie von Dirk Syndram: Ägypten-Faszinationen. Untersuchungen zum Ägyptenbild im europäischen Klassizismus bis 1800, Frankfurt/Main 1990. Vgl. stellvertretend Sabine Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004 (PALLAS ATHENE. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 11) und Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 157– 177.
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
tertum benannt und erforscht wurden, dann aber, wie gesehen, signifikant. Der Blick richtete sich nun insbesondere auf das alte Indien, Persien und auf verschiedene nordische Völker, allen voran die Germanen. Die Gründe für diese Prozesse der Pluralisierung sind beinahe so divers wie die alten Kulturen selbst, so dass sich die folgende Darstellung auf die wichtigsten Faktoren beschränkt und sich in weiten Teilen auf die (ebenfalls sehr diversen) Forschungsarbeiten in den verschiedenen Feldern stützt: Kanonisierung und Historisierung der klassischen Antike Wenn man nach den Gründen für Prozesse der Pluralisierung des Altertums fragt, dann ist zunächst auf die Kanonisierung einer ‘klassischen Antike’ zu verweisen, die nur auf den ersten Blick einen stabilisierenden Effekt hatte. Dieses Paradoxon hat sich auch schon bei der Analyse der Lexika gezeigt, bei der deutlich wurde, dass die Einführung des Attributs ‘klassisch’ für die Epoche der heutigen Antike einerseits eine Nobilitierung derselben indiziert, zugleich aber auch ein Hinweis darauf ist, dass eine Distinktion zu den ‘anderen’ Altertumskulturen offensichtlich nötig geworden war. Dass ausgerechnet die Prozesse der Etablierung der Antike als einer normativen kulturellen Referenzgröße seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Ausdifferenzierung des Konzepts ‘Altertum’ beigetragen haben, gehört zu den Eigentümlichkeiten des Antikediskurses im deutschsprachigen Raum. Dabei ist insbesondere an die entschiedene Absetzung von der römischen Tradition und die Privilegierung der griechischen Antike im Gegenzug zu denken, die in zahlreichen Studien zur deutschen Graecomanie herausgearbeitet worden ist.²⁹ Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei Winckelmann³⁰ und entwickelt sich zu einer regelrechten „Tyranny of Greece over Germany“.³¹ Die impliziten oder expliziten internen Differenzierungen zwischen einer
Vgl. stellvertretend Gilbert Heß, Elena Agazzi und Elisabeth Décultot (Hg.): Graecomania. Der europäische Philhellenismus, Berlin 2009 (Klassizistisch-romantische Kunst(t)räume, Bd. 1); Suzanne L. Marchand: Down from Olympus: Archaeology and Philhellenism in Germany 1750 – 1970, Princeton 1996; Friedgar Löbker: Antike Topoi in der deutschen Philhellenenliteratur. Untersuchungen zur Antikerezeption in der Zeit der griechischen Unabhängigkeitskriege (1821– 1829), München 2000 und zuletzt Glenn W. Most: Philhellenism, Cosmopolitanism, Nationalism, in: Multiple Antiquities – Multiple Modernities. Ancient Histories in Nineteenth Century European Cultures, hg.v. Gábor Klaniczay, Michael Werner und Ottó Gecser, Frankfurt, New York 2011, S. 29 – 47. Exemplarisch sei nur auf Winckelmanns bekanntes Dictum verwiesen: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesaget, daß derjenige ihn bewundert lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen.“ (Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auflage, Dresden, Leipzig 1756, S. 3). Auch Winckelmanns spätere Schriften, insbesondere die Geschichte der Kunst des Alterthums (1764), sind dem Projekt verpflichtet, das griechische Paradigma weiter zu etablieren. Vgl. den Titel der ihrerseits klassisch gewordenen Studie von Eliza Marian Butler: The Tyranny of Greece over Germany. A Study of the Influence exercised by Greek Art and Poetry over the Great German Writers of the Eighteenth, Nineteenth and Twentieth Centuries, Cambridge 1935 [Nachdruck Cambridge 2011].
1.2 Pluralisierungseffekte des Altertumsdiskurses bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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römischen und einer griechischen Antike, die in hierarchische Relationen gebracht werden, destabilisieren von Anfang an die postulierte Einheit eines synthetisch verstandenen Altertums und eröffnen implizit die Möglichkeit, differierende Altertümer zu denken.³² Wichtiger noch für die Effekte der Pluralisierung ist allerdings im hier interessierenden Zusammenhang die Spannung zwischen Vorstellungen von der Antike als einer normativen Größe und ihrer gleichzeitigen Historisierung. Sie ist, wie verschiedentlich herausgearbeitet wurde, ebenfalls schon bei Winckelmann angelegt, der in der Geschichte der Kunst des Alterthums eine organisch gedachte Periodisierung der Kunst entwirft, ausgehend von einem alten Stil des Aufstiegs (Archaik), über den hohen Stil (die griechische Blütezeit, das heißt seit Winckelmann: die Zeit der griechischen Polis-Kultur) und den schönen Stil, der schon den Verfall einleitet, bis hin schließlich zum Stil der Nachahmer.³³ Diese historische Periodisierung korrespondiert mit einer Ausschlussbewegung. Denn gegenüber dem ‘klassischen’ Zeitalter interessieren die ägyptische und etruskische Kultur, die dem Altertum grundsätzlich zugerechnet werden, nur mehr als Prüfsteine zur Beurteilung der griechischen Kultur, und Rom wird zum künstlerisch minderwertigen Appendix.³⁴ Griechenland dagegen verdankt seine Blüte einer spezifischen und einmaligen geographischen, klimatologischen und politischen Konstellation:
Diese interne Differenzierung geht von Beginn an einher mit einer Politisierung des ästhetischen Antikediskurses. Exemplarisch ist Gotthold Ephraim Lessings Polemik gegen Gottsched im berühmten 17. Literaturbrief aus dem Jahr 1759, die sich vor allem gegen den Rückgriff auf die französischen Diskurse über die Antike mit ihren höfischen Kontexten richtete und dagegen den direkten Zugriff auf die antiken Quellen und ihre philologische Auswertung stellte. Vgl. zu Lessings Antikenrezeption stellvertretend die einschlägigen Arbeiten von Lorella Bosco: Deutsche Antikebilder (1755 – 1875), S. 36 – 45; Walter Jens: Lessing und die Antike, in: Ders.: Zur Antike, München 21978, S. 100 – 118; Volker Riedel: Lessing und die römische Literatur, Weimar 1976 und ders.: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart, S. 135 – 140. Zu Winckelmanns Entwurf der Antike vgl. zuletzt Katherine Harloe: Winckelmann and the Invention of Antiquity. History and Aesthetics in the Age of Altertumswissenschaft, Oxford 2013; zum literatur- und wissensgeschichtlichen Kontext vgl. Gilbert Heß: Winckelmann und die Folgen. Transformationen des Wissens über Griechenland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, hg.v. Ulrich Johannes Schneider, Berlin 2008, S. 647– 654 und Norbert Miller: Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron, in: Propyläen-Geschichte der Literatur: Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt, Bd. 4: Aufklärung und Romantik, 1700 – 1830, hg.v. Erika Wischer, Berlin 1983, S. 315 – 366. Vgl.: „Die Kunst der Griechen ist die vornehmste Absicht dieser Geschichte, und es erfordert dieselbe, als der würdigste Vorwurf zur Betrachtung und Nachahmung, da sie sich in unzählich schönen Denkmaalen erhalten hat, eine umständliche Untersuchung, die nicht in Anzeigen unvollkommener Eigenschaften, und in Erklärungen des eingebildeten, sondern in Unterricht des Wesentlichen bestände, und in welcher nicht blos Kenntnisse zum Wissen, sondern auch Lehren zum Ausüben vorgetragen würden. Die Abhandlung von der Kunst der Aegypter, der Hetrurier, und anderer Völker, kann unsere Begriffe erweitern, und zur Richtigkeit im Urtheil führen; die von den Griechen aber soll suchen, dieselben auf Eins und auf das Wahre zu bestimmen, zur Regel im Urtheilen und im Wirken.“ (Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, Bd. 1, Dresden 1764, S. 127 f.).
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
Die Ursache und der Grund von dem Vorzuge, welchen die Kunst unter den Griechen erlanget hat, ist theils dem Einflusse des Himmels, theils der Verfassung und Regierung, und der dadurch gebildeten Denkungsart, wie nicht weniger der Achtung der Künstler, und dem Gebrauche und der Anwendung der Kunst unter den Griechen, zuzuschreiben.³⁵
Obwohl die Entstehung der griechischen Ästhetik damit als Konsequenz einer bestimmten historischen Konstellation gedeutet wird, kann Winckelmann sie dennoch zum normativen Vorbild deklarieren, das für die (deutsche) Gegenwart leitend sein soll, auch wenn für sie gänzlich andere kulturelle, politische, gesellschaftliche und geographisch-klimatische Bedingungen gelten. Dieses Paradox ist in Winckelmanns Schriften allgegenwärtig, aber es wird nicht reflektiert. Für Winckelmann, so formuliert Norbert Miller, gibt es noch „keinen inneren Widerspruch zwischen Klassizität und Geschichte“.³⁶ Die entscheidende Pointe in Winckelmanns Praxis der Historisierung ist, dass er zwar eine Abfolge verschiedener Kulturen des einen Altertums formuliert, aber historisch nicht innerhalb der griechischen Blütezeit differenziert. Die Vorstellung von der Polis-Kultur als einer umfassenden Einheit, die in sich völlig organisch ist und in ihrer Totalität überzeitliche Geltung erlangt, führt dazu, dass der Normativitätsanspruch und die gleichzeitige Historisierung der Antike nicht miteinander in Konflikt geraten. Dieser Einheitsgedanke, so haben etwa Manfred Landfester und Walter Rüegg herausgearbeitet, war entscheidend für den politischen Neuhumanismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem ebenfalls die Vorstellung zugrunde lag, in der griechischen Antike als Wiege der abendländischen Kultur sei in nuce die vorbildliche Einheit von Natur, Kunst, Bildung, Politik und Gesellschaft verwirklicht gewesen, weshalb sie Modellcharakter für die Bildung des Bürgers habe.³⁷ Auch hier lässt sich die Gleichzeitigkeit von historischen und idealisierenden Entwürfen einer normativ verbindlichen Antike beobachten.³⁸ ‘Historisch und ideal’, das war die Maxime, die den Umgang mit der Antike bis weit ins 19. Jahrhundert prägte. In dieser doppelten Bestimmung schrieb man der Antike als einer kulturellen Referenzgröße nicht nur normative Geltung zu, sondern eröffnete zugleich Spielräume für ihre Relativierung.³⁹
Ebd., S. 128. Miller: Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron, S. 323. Vgl. Manfred Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland, Darmstadt 1988 und Walter Rüegg: Die Antike als Leitbild der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, in: Ders.: Bedrohte Lebensordnung. Studien zur humanistischen Soziologie, Zürich, München 1978, S. 93 – 105. Diese Maxime zeigt sich etwa in Wilhelm von Humboldts Entwurf Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben, der mit dem Satz einsetzt: „Die Griechen sind uns nicht bloss ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal.“ (in: Ders.: Gesammelte Schriften, 1. Abt.: Werke, Bd. 7/2: Paralipomena, Berlin 1907 [Neudruck Berlin 1968], S. 609 – 618, hier S. 609). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrachtete der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf diesen Prozess als abgeschlossen, wenn er im vollen Selbstbewusstsein seines Faches formulierte: „Die Antike als Einheit und Ideal ist dahin; die Wissenschaft selbst hat diesen Glauben zerstört. […] An die
1.2 Pluralisierungseffekte des Altertumsdiskurses bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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Neue wissenschaftliche Disziplinen und Praktiken Neben diesen geistesgeschichtlichen Bestimmungen entstanden Effekte der Pluralisierung auch durch die Institutionalisierung von neuen wissenschaftlichen Disziplinen und Praktiken, die paradigmatisch am Gegenstandsbereich der Antike entwickelt wurden, schließlich aber auch auf die Erforschung anderer Kulturen übertragen werden konnten und damit zu deren Nobilitierung zu Altertümern beitrugen. Auch hier lässt sich das schon bekannte Paradox konstatieren, dass die Privilegierung der Antike gleichzeitig Anteil hatte an der Öffnung des Altertumsdiskurses mit der möglichen Konsequenz, dass die ‘anderen’ Altertümer zur Konkurrenz wurden. Denn die Etablierung der klassischen Philologie und Altertumswissenschaft als einer eigenen Disziplin zeitigte pluralisierende Effekte, weil andere Forscher die dort entwickelten Methoden übernahmen und auf neue Gegenstände anwandten und zugleich mit der klassischen Altertumswissenschaft als Vorbild die Institutionalisierung anderer altertumskundlicher Fächer vorantrieben. Es war bekanntlich Friedrich August Wolf, der die (griechische und lateinische) Philologie als eigenständiges Studienfach etablierte, das zur Schullaufbahn berechtigte.⁴⁰ Axel Horstmann und Manfred Riedel haben ausführlich dargestellt, wie die Philologie damit vom Status der Hilfswissenschaft, die man bis dahin ausschließlich unter dem Dach der Theologie studiert hatte, zu einer eigenständigen Disziplin aufrückte.⁴¹ Wolf trug darüber hinaus entscheidend dazu bei, dass sich die Klassische Philologie zu einer historischen Altertumswissenschaft entwickelte, deren Bemühungen dezidiert auf ein geschichtliches Verständnis ihrer Gegenstände gerichtet waren. Die Grundlage dafür war eine Praxis der radikalen Quellenkritik, die bereits
Stelle der ästhetischen ist die geschichtliche Betrachtung getreten.“ (Der griechische Unterricht auf dem Gymnasium [1901], in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 6, Berlin 1972, S. 77– 89, hier S. 79). Nach der französischen Besetzung Halles ging Wolf 1807 nach Berlin, wo er später an der Berliner Reformuniversität unterrichtete. Wolfs Programm war eng gekoppelt an andere Projekte der zeitgenössischen Schulreform wie das humanistische Gymnasium in Preußen, das nach 1806 umfassend neu institutionalisiert wurde. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die bis dahin gängige Praxis, Griechisch und Lateinisch in den Schulen von Theologen unterrichten zu lassen (bevor diese meist besser dotierte Pfarrstellen antraten), abgelöst durch die Etablierung professioneller Philologen als Lehrer.Vgl. hierzu Christoph Führ: Gelehrter Schulmann – Oberlehrer – Studienrat. Zum sozialen Aufstieg der Philologen, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, hg.v. Werner Conze und Jürgen Kocka, Stuttgart 1985, S. 417– 457 und Carola Groppe: Diskursivierungen der Antikerezeption im Bildungssystem des deutschen Kaiserreichs, in: „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, hg.v. Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof, Frankfurt/Main 2002 (Das Abendland. Forschungen zur Geschichte europäischen Geisteslebens, N.F. 30), S. 21– 44; vgl. zu den Berliner Kontexten Annette M. Baertschi und Colin Guthrie King (Hg.): Die modernen Väter der Antike: Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, Berlin 2009. Vgl. Axel Horstmann: Die „Klassische Philologie“ zwischen Humanismus und Historismus. Friedrich August Wolf und die Begründung der modernen Altertumswissenschaft, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 1, H. 1/2 (1978), S. 51– 70 und Manfred Riedel: Die Erfindung des Philologen. Friedrich August Wolf und Friedrich Nietzsche, in: Antike und Abendland 42 (1996), S. 119 – 136.
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
seine Prolegomena ad Homerum aus dem Jahr 1795 prägte, in denen er die Einheit der homerischen Schriften bezweifelte. In seinen Vorlesungen wie auch in seiner programmatischen Darstellung der Althertums-Wissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Werth ⁴² (1807) entwickelte er schließlich das Konzept einer umfassenden Altertumswissenschaft, die verschiedene historische Disziplinen integrierte. Mindestens ebenso wichtig für die dauerhafte Etablierung der griechischen und römischen Philologie an deutschen Universitäten war Wolfs Schüler August Boeckh, der die radikale historische Haltung seines Lehrers übernahm. Er erweiterte darüber hinaus den Gegenstandsbereich dieser neuen Altertumswissenschaft in seinen Vorlesungen, die 1877 posthum als Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften publiziert wurden. Das Interesse der philologischen Forschung richtete sich nun nicht mehr allein auf die überlieferten Textzeugen (‘Wortphilologie’), sondern es erfasste den gesamten Quellenbestand aus der griechischen und römischen Antike einschließlich materieller Zeugnisse (‘Sachphilologie’).⁴³ Für Wolf und Boeckh bildete allein die griechische und römische Antike den Gegenstand der Altertumswissenschaft. Aber die von ihnen vorangetriebene universitäre Institutionalisierung des Fachs hatte Auswirkungen auf die Einrichtung von Lehrstühlen anderer Philologien und Altertumswissenschaften. Die Loslösung der Wissenschaft von der Antike aus der Theologie erwies sich so (mitunter gegen den Willen der klassischen Philologen) als bedeutsamer Prozess für die Aufwertung anderer Altertümer. Die Vertreter der anderen Philologien erkannten, dass die methodische Orientierung an der Leitwissenschaft der klassischen Philologie für die Etablierung der neuen Disziplinen unbedingt notwendig war, um einen vergleichbaren Status zu behaupten. So formuliert etwa August Wilhelm Schlegel im ersten Heft der 1820 von ihm begründeten Indische[n] Bibliothek programmatisch: „Soll das Studium der Indischen Litteratur gedeihen, so müssen durchaus die Grundsätze der classischen Philologie, und zwar mit der wissenschaftlichen Schärfe, darauf angewandt werden.“⁴⁴
Friedrich August Wolf: Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, Berlin 1807, Reprint Weinheim 1986. Boeckhs Programm der Ausweitung des Gegenstandsbereichs wurde nicht ohne Widerspruch hingenommen. Zum Streit zwischen ‘Wortphilologie’ und ‘Sachphilologie’ vgl. Cornelia Lehmann: Die Auseinandersetzung zwischen Wort- und Sachphilologie in der deutschen klassischen Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964; Wilfried Nippel: Philologenstreit und Schulpolitik. Zur Kontroverse zwischen Gottfried Hermann und August Böckh, in: Geschichtsdiskurs, 5 Bde., hg.v. Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin, Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt/Main 1997, S. 244– 253 und Ernst Vogt: Der Methodenstreit zwischen Hermann und Böckh und seine Bedeutung für die Geschichte der Philologie, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, hg.v. Hellmut Flashar u. a., Göttingen 1979, S. 103 – 121. August Wilhelm von Schlegel: Über den gegenwärtigen Zustand der Indischen Philologie, in: Indische Bibliothek. Eine Zeitschrift von August Wilhelm von Schlegel, Bd. 1, H. 1 (1820), S. 1– 27, hier S. 22; der Aufsatz war zuvor schon erschienen in: Jahrbuch der preußischen Rheinuniversität 1 (1819), S. 224– 250.
1.2 Pluralisierungseffekte des Altertumsdiskurses bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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Ähnlich begründet auch Friedrich Heinrich von der Hagen 1810 seinen Vorschlag zur Einrichtung einer selbständigen „Deutsche Alterthums-Wissenschaft“⁴⁵ mit einer Analogie zur klassischen Altertumswissenschaft: Ich bemühe mich auf alle Weise dies Studium, so lange ganz unbillig vernachlässigt, in den Rang der übrigen Wissenschaften zu erheben und es wenigstens der Griech. und Röm. Alterthumswissenschaft an die Seite zu stellen: kurz es ernsthaft philologisch zu betreiben und zu begründen.⁴⁶
Von der Hagens zahlreichen Editionsprojekte wurden zeitgenössisch zwar heftig kritisiert, weil seine modernisierenden Eingriffe den philologischen Standards der Zeit keineswegs entsprachen. Aber ungeachtet dieser kleinen Pointe zeigt sich hier erneut, wie sehr die Nähe zur klassischen Philologie und Altertumswissenschaft bei den Versuchen zur Etablierung und Institutionalisierung neuer Forschungszweige rhetorisch und forschungspraktisch gesucht wurde.⁴⁷ Der Weg zur Etablierung der anderen Philologien und Altertumswissenschaften führte Anfang des 19. Jahrhunderts über die frisch gewonnene Autonomie der klassischen Philologie.
So von der Hagens Bezeichnung in einem Brief an das Ministerium des Innern (Sektion für öffentlichen Unterricht) vom 11. August 1810. Der gesamte Brief ist abgedruckt bei Eckhard Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780 – 1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik, Berlin, New York 1988 (Studia Linguistica Germanica, Bd. 23), S. 28 – 30. Friedrich Heinrich von der Hagen an Johann Georg Müller, 17. 3.1810, zitiert nach Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780 – 1856, S. 340. Vgl. auch das umfangreiche Vorlesungsprogramm, das von der Hagen im August 1810 in einem Brief an die Sektion des öffentlichen Unterrichts entwarf: „1. Geschichte der Deutschen Sprache, nach den verschiedenen Zeitaltern und Mundarten, im weitesten Umfange, auch in Beziehung auf die verwandten Sprachen und mit Vergleichung der noch lebenden. 2. Geschichte der Deutschen Literatur: a) der poetischen, b) der prosaischen. 3. Ausgeführte Geschichte der Deutschen Poesie und Prosa, auf der vorigen Grundlage. 4. Über Sitten, Gebräuche, Religion, öffentliches und häusliches Leben ff, oder was man gewöhnlich im engern Sinn unter dem Nahmen der Deutschen Alterthümer begreift. (5. Die politische Geschichte, Diplomatik ff. muß, so weit sie in Beziehung steht, hier überall mitgenommen werden.) 6. Über einzele [sic!] alte Schriftsteller und Werke, ganz nach Art der Klassiker; zuförderst zwar über die anerkannt vortrefflichsten, als: die Nibelungen, das Heldenbuch, den Titurel, den Tristan und Reineke Voß.“ (Friedrich Heinrich von der Hagen an das Ministerium des Innern [Sektion für den öffentlichen Unterricht], 11.8.1810, in: Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780 – 1856, S. 28 – 30, hier S. 29). Nicht nur deutsche Literatur und Sprache, sondern auch die ‘Alterthümer’, also die alten Sitten und Gebräuche und materiellen Überlieferungen der ‘deutschen’ Vergangenheit waren unbedingt Bestandteil der von ihm entworfenen ‘Deutschen Alterthums-Wissenschaft’. Das Programm ähnelt damit jener umfassend betriebenen klassischen Altertumswissenschaft, wie sie um 1800 neu etabliert wurde. Zum Zusammenhang vgl. auch Karl Stackmann: Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hg.v. Hellmut Flashar, Karlfried Gründer und Axel Horstmann, Göttingen 1979, S. 240 – 259 und Nikolaus Wegmann und Detlev Kopp: ‘Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie’. Zur Karriere einer Wissenschaft um 1800, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987), S. 123 – 151 (Sonderheft: Wissenschaftsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, hg.v. Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp).
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Diskurse des Nationalen Allerdings spielte die klassische Altertumswissenschaft nicht nur im Modus des Anschlusses eine Rolle für die Etablierung neuer Altertumswissenschaften. Im Kontext der neu entstehenden nationalen Diskurse konstituierte sich eine ‘Deutsche Alterthums-Wissenschaft’, die ihren Gegenstand in der expliziten Konkurrenz zur klassischen Altertumswissenschaft profilierte, wie unter anderem Uwe Meves gezeigt hat.⁴⁸ Eine solche Hinwendung zu einem deutschen Altertum verstärkte sich gegenüber frühen Vorläufern im 18. Jahrhundert vor allem unter dem Eindruck der französischen Besatzung und der Befreiungskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So schreibt von der Hagen 1806 in einem Brief an den Göttinger Altphilologen Heyne, es gebe angesichts der „äußern Schmach, nur im Altertume, in der Vorzeit, in ihrer Poesie u. Geschichte, kurz nur in der innern Welt Ruhm, Heil u. Leben für uns [die Deutschen, F.K.]“.⁴⁹ Im Jahr 1807 formuliert August Wilhelm Schlegel, er kenne jetzt „als Schriftsteller nur ein einziges Ziel: den Deutschen das Bild ihres alten Ruhmes, ihrer alten Würde und Freyheit im Spiegel der Vorzeit vorzuhalten und jedem Funken von Nationalgefühl, der irgendwo schlummern mag, anzufachen.“⁵⁰ Auch Jacob Grimm propagiert die herausgehobene Bedeutung der Vorzeit der eigenen Nation in der Zuschrift an Savigny, die seine Deutsche Grammatik (1819) einleitet:
Vgl. Uwe Meves: Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie: Die Periode der Lehrstuhlerrichtung (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hg.v. Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart, Weimar 1994, S. 115 – 203; vgl. auch den Sammelband von Jörg Jochen Müller (Hg.): Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 2. Germanistik und deutsche Nation 1806 – 1848. Zur Konstitution bürgerlichen Bewußtseins, Stuttgart 1974. Schon im 18. Jahrhundert hatte es vereinzelt Stimmen gegen die Dominanz der normativen Verbindlichkeit der klassischen Antike gegeben. So etwa von Johann Gottfried Herder, der von einer engen Verwandtschaft der Vorfahren der Skandinavier und der Deutschen ausging und daher 1765 in einer Rezension von Paul Henri Mallets Einführung in die Geschichte Dänemarks (1765) dafür plädierte, dass die „Ehrwürdige[n] Monumente der Skandinavier“ mehr Beachtung finden sollten, weil man daran in Deutschland „ungleich mehr Antheil nehmen“ könne und müsse als „an den für uns fremden und entfernten Alterthümern der Griechen und Römer“. (Aus den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen auf das Jahr 1765, in: Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke, hg.v. Bernhard Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, S. 73 – 77, hier S. 73 f.) Eine ähnlich Ersetzung der Antike durch das ‘eigene’ Altertum schwebte auch Friedrich Gottlieb Klopstock vor, wenn er im Anschluss an den populären Kult des Ossianismus 1767 gegenüber dem Dichter Michael Denis formulierte: „Ich hatte in einigen meiner ältern Oden griechische Mythologie, ich habe sie herausgeworfen und sowohl in diese als in einige neuere die Mythologie unser Vorfahren gebracht.“ (Friedrich Gottlieb Klopstock an Michael Denis, 8.9.1767, in: Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Briefe, Bd.V: Briefe 1767– 1772, hg.v. Klaus Hurlebusch, Bd. 1: Text, Berlin 1989, S. 24). Friedrich Heinrich von der Hagen an Christian Gottlob Heyne, 20.1.1806, in: Briefe Fr. H. von der Hagen’s an Chr. G. Heyne (1805 – 1812) und an G. Fr. Benecke (1810 – 1820), hg.v. Karl Dziatzko, Leipzig 1893, S. 12. August Wilhelm Schlegel an Luise von Voß, 20.6.1807, in: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner, Bd. 1, Zürich u. a. 1930, S. 200.
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Ich bin des festen Glaubens, selbst wenn der Werth unserer vaterländischen Güter, Denkmäler und Sitten weit geringer angenommen werden müßte, als wir ihn gerecht und bescheiden vorausetzen [sic!] dürfen, daß dennoch die Erkenntniß des Einheimischen unser die würdigste, die heilsamste und aller ausländischen Wissenschaft vorzuziehen wäre. Auf das Vaterland sind wir von Natur gewiesen und nichts anderes vermögen wir mit unsern angeborenen Gaben in solchem Maaße und so sicher begreifen zu lernen.⁵¹
Nicht zuletzt auf der Theaterbühne wurde diese Begeisterung für das deutsche Altertum vielfältig zur Darstellung gebracht, etwa in den zeitgenössischen Hermannsdramen oder in den dramatischen Bearbeitungen des Nibelungenliedes, das ähnlich wie die nordische Edda in der zeitgenössischen Rezeption in einen quasi „geschichtslosen Zustand“⁵² versetzt wurde, um die Herkunft zumindest locker in einem gesamtgermanischen Altertum ansiedeln zu können.⁵³ Der Enthusiasmus für das eigene Altertum zeigt sich darüber hinaus in der Popularität der zahlreichen deutschen Altertumsvereine, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurden und deren Ziel die Sicherung und Pflege deutscher ‘Alterthümer’ war; Wigand’s Conversations-Lexikon listet 1846 über 40 solcher Altertumsvereine.⁵⁴ Obgleich in diesen Diskussionszusammenhängen von Beginn an strittig war, was man unter deutschen ‘Alterthümern’ verstand (Objekte, die zwar auf deutschem Boden gefunden wurden, aber auch der römischen Kultur oder anderen Kulturen des Altertums zugeordnet werden konnten; oder aber nur diejenigen, die wirklich als den Germanen oder anderen nordischen Völkern zugehörig klassifiziert wurden),⁵⁵ hatten die Vereinigungen
Jacob Grimm: Deutsche Grammatik, Erster Theil, Göttingen 1819, [ S. 2]. Klaus von See: „Blond und blauäugig“. Der Germane als literarische und ideologische Fiktion, in: Ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte. Mit einem Vorwort von Julia Zernack, Heidelberg 2003, S. 15 – 62, hier S. 27. Vgl. zu den zeitgenössischen Hermannsdramen die grundlegende Studie von Gesa von Essen: Hermannsschlachten; außerdem stellvertretend Klaus von See: „Hermann der Cherusker“ in der deutschen Germanenideologie, in: Ders.: Texte und Thesen. Streitfragen der deutschen und skandinavischen Geschichte. Mit einem Vorwort von Julia Zernack, Heidelberg 2003, S. 63 – 100 und Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, Bielefeld 2009 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 32); zu den Nibelungendramen vgl. Michael Titzmann: Die Konzeption der ‘Germanen’ in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, hg.v. Jürgen Link und Wulf Wülfing, Stuttgart 1991, S. 120 – 145. Vgl. Art. „Alterthumswissenschaft“, in: Wigand’s Conversations-Lexikon (1846), S. 334– 341. Die Altertumsvereine waren meist regional gebunden und widmeten sich der Bergung und Pflege zumeist deutscher, häufig auch regionaler (also westfälischer, bayrischer, preußischer etc.) „Alterthümer“, respektive der materiellen und geistigen Kultur des deutschen Altertums. Ein möglicher Umgang mit diesem Problem war daher, zwischen „Alterthümer[n] Deutschlands“ auf der einen und tatsächlichen „deutschen Alterthümern“ auf der anderen Seite zu differenzieren (Art. „Alterthümer“, „Alterthümer (deutsche)“, in: Neues Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, hg.v. einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten, Bd. 1, Köln, Bonn 1824, S. 185).
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
mit ihren Forschungen und Publikationen wichtigen Anteil an der Profilierung eines deutschen Altertums. Mythenforschung Besonders deutlich sichtbar wird die Diversität des Feldes in der neuen Aufmerksamkeit für den Mythos, die zu einer deutlichen Aufwertung und Profilierung des indischen und persischen, aber auch des deutschen Altertums führte. Eine Reihe von wichtigen Studien bildete den Auftakt für diese Mythenforschung, dazu zählen Johann Arnold Kannes Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeinen Mythologie (1808),⁵⁶ Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker (1810 – 1812), Johann Joseph von Görres Mythengeschichte der asiatischen Welt (1810)⁵⁷ oder der Briefwechsel von Creuzer und Gottfried Hermann über Homer und Hesiod (1818), in dem die Kontroverse um die „Principien aller Mythologie“⁵⁸ eine zentrale Rolle spielt. Diesen im Einzelnen divergierenden Studien ist gemeinsam, dass sie nach dem Ursprung aller Mythen fragen, indem sie nach dem „einzigen Urtypus“ und der „ursprünglichen Einheit“⁵⁹ der Mythen suchen (Creuzer) oder die „erste Urmythe“⁶⁰ entdecken wollen (Görres). Im Unterschied zur historischen Altertumswissenschaft, die nach dem Faktengehalt der historischen Überlieferung fragte, führte die Suche nach dem Urmythos ins Vorgeschichtliche. Die Basis solcher Forschung konnten nur die ältesten Quellen sein, so dass sich der Blick nach Osten richtete: auf die ägyptische Kultur, die
Vgl. Johann Arnold Kanne: Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie. Mit einer Vorrede von Jean Paul Friedrich Richter, Bayreuth 1808; später folgten noch ders.: Pantheum der Aeltesten Naturphilosophie, die Religion aller Völker, Tübingen 1811 und ders: System der indischen Mythe oder Chronus und die Geschichte des Gottmenschen in der Periode des Vorruckens der Nachtgleichen. Nebst einer Uebersicht des mythischen Systems, als Beilage an den Verfasser von Adolph Wagner, Leipzig 1813. Der Hinweis auf den heute weitgehend vergessenen Kanne bei Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 192; vgl. außerdem Stefan Willer: „übersetzt: ohne Ende“. Zur Rhetorik der Etymologie bei Johann Arnold Kanne, in: Stephan Jaeger und Stefan Willer (Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, Würzburg 2000, S. 113 – 129. Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, 4 Bde., Leipzig, Darmstadt 1810 – 1812 (2. völlig umgearb. Aufl. 1819 – 1821, 3. Aufl. 1837– 1843 als erste Abteilung der Deutschen Schriften) und Johann Joseph von Görres: Mythengeschichte der asiatischen Welt, 2 Bde., Heidelberg 1810. Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie. Mit besonderer Hinsicht auf des Ersteren Dissertatio de Mythologia Graecorum antiquissima und auf des Letzteren Symbolik und Mythologie der Griechen, Heidelberg 1818, S. 88. Zur Kontroverse zwischen Hermann und Creuzer vgl. Josine H. Blok: Quest for a scientific Mythology: F. Creuzer and K. O. Müller on History and Myth, in: History and Theory 33 (1994), S. 26 – 52; Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin 2007 (spectrum literaturwissenschaft, Bd. 11), S. 415 – 419 und Éva Kocziszky: Samothrake. Ein Streit um Creuzers Symbolik und das Wesen der Mythologie, in: Antike und Abendland 43 (1997), S. 174– 189. Gottfried Hermann und Friedrich Creuzer: Briefe über Homer und Hesiodus vorzüglich über die Theogonie, Heidelberg 1818, S. 96. Joseph Görres: Gesammelte Schriften, hg.v. Wilhelm Schellberg u. a., Bd. 5, Köln u. a. 1928, S. 40.
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schon im 18. Jahrhundert prominent im deutschsprachigen Raum gewesen war, aber auch auf Persien mit Ferdusis Schah Nameh und Indien mit der Bhagavad-Gita. ⁶¹ Das kulturelle Abhängigkeitsverhältnis des Abendlandes vom Orient, das in diesem mythographischen Zugriff exponiert wurde, führte zu einer klaren Aufwertung von Persien und Indien als Altertumskulturen. Sie wurden nicht nur als Forschungsgegenstände prominent, sondern rückten außerdem in die diskursive Position des Ursprungs abendländischer Kultur ein. Die Konsequenz war nicht zuletzt eine weitgehende Relativierung all solcher etablierten Ursprungserzählungen, die bisher exklusiv von der (griechischen) Antike gehandelt hatten. Die Mythenforscher interessierten sich aber nicht nur für den alten Orient, sondern auch für die deutsche Vorzeit. Das gilt etwa für Jacob Grimm in seinen Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte (1813) und seiner Deutsche[n] Mythologie (1835),wie Beate Keller in einer grundlegenden Studie zu Grimms Mythenforschung gezeigt hat.⁶² Grimm ging ebenfalls davon aus, dass die europäischen Mythen auf einen Urmythos zurückzuführen seien, dessen Wurzeln er wiederum in Asien vermutete. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner Deutschen Mythologie entwarf er eine deutliche Parallele zwischen der Sprach- und Mythengeschichte, schließlich sei „jedem volk […] glaube an götter nothwendig wie die sprache.“⁶³ Wie Grimm meinte, dass sich durch etymologische Anstrengungen eine Ursprungssprache rekonstruieren lasse, so war er auch der Ansicht, dass sich durch Vergleiche aus den verschiedenen Sagen und Märchen die Ursprungsmythen extrapolieren ließen. Vergleichende Sprachwissenschaft Grimms Parallelisierung verweist schließlich auf die Verbindung zwischen Mythenforschung und vergleichender Sprachwissenschaft, die den Prozess der Aufwertung anderer Altertümer ebenfalls beförderte. Diese Zusammenhänge haben Stefan Willer und zuletzt Andrea Polaschegg aufgezeigt:⁶⁴ In beiden Forschungsfeldern wurde mit dem gleichen Material gearbeitet, und für beide war die vergleichende Methode maßgeblich. So wie es die Idee der Mythenforschung war, einen Urmythos zu finden, so zielte auch die vergleichende Sprachwissenschaft Anfang des 19. Jahrhunderts darauf, eine Ursprache bzw. die Ursprache der jeweiligen Sprachfamilie zu bestimmen.
Dass Ferdusis Schah Nameh dem Mittelalter entstammt, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, weil man in dem Epos die ältesten Mythen festgehalten sah. Vgl. hierzu Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 193 f. Vgl. Beate Kellner: Grimms Mythen. Studien zum Mythosbegriff und seiner Anwendung in Jacob Grimms Deutscher Mythologie, Frankfurt/Main u. a. 1994 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, Bd. 41). Vgl. Jacob Grimm: Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte, in: Deutsches Museum. Januarheft, Camesinasche Buchhandlung,Wien 1813, S. 53 – 75 und ders.: Deutsche Mythologie, Göttingen 1835. Jacob Grimm: Vorrede, in: Ders.: Deutsche Mythologie. Zweite Ausgabe, Bd. 1, Göttingen 1844, S.V– XLVIII, hier S. VI. Vgl. Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik, Berlin 2003, S. 118 – 133 und Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 193.
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
Auch hier führte der Weg gen Osten: 1786 behauptete der in Indien stationierte Kolonialbeamte William Jones in seiner Studie The Sanskrit Language eine Ähnlichkeit zwischen dem Sanskrit, dem Griechischen und dem Lateinischen.⁶⁵ Es war nicht nur diese aufsehenerregende These, die Jones zu einer Schlüsselfigur im Diskurs der Altertümer im deutschsprachigen Raum werden ließ, sondern auch seine Übersetzung von Kālidāsas Drama Abhijñānaśākuntala ins Englische, das in der Übertragung ins Deutsche durch Georg Forster als Dokument des indischen Altertums weite Beachtung in der deutschen Öffentlichkeit fand.⁶⁶ Jones sprachwissenschaftlichen Thesen zeitigten schnell Wirkung im deutschsprachigen Raum. Franz Bopp bestätigte nicht nur die von Jones konstatierten Übereinstimmungen zwischen dem Sanskrit und den beiden antiken Sprachen, sondern er sah auch eine erkennbare Verwandtschaft des Persischen mit dem Germanischen.⁶⁷ Als Gründungsdokument der deutschen Indologie und der vergleichenden Sprachwissenschaft gilt indes Friedrich Schlegels Studie Ueber die Sprache und Weisheit der Indier (1808).⁶⁸ Schlegel unterscheidet im vierten Kapitel zwischen zwei „Hauptgattungen aller Sprache“,⁶⁹ zwischen den nicht-flektierenden Sprachen, deren Ursprung er im Chinesischen verortet, und dem Sanskrit als Urform der flektierenden Sprachen.⁷⁰ Damit wird das Sanskrit zu einer Ursprache nobilitiert, von der sich das Persische, das Griechische und Lateinische und vor allem auch das Germanische historisch ableiten lassen.⁷¹ Während Grimm von den deutschen Mythen ausgehend
„The Sanscrit language, whatever be its antiquity, is of a wonderful structure; more perfect than the Greek, more copious than the Latin, and more exquisitely refined than either, yet bearing to both of them a stronger affinity, both in the roots of verbs and the forms of grammar, than could possibly have been produced by accident; so strong indeed, that no philologer could examine them all three, without believing them to have sprung from some common source, which, perhaps, no longer exists: there is a similar reason, though not quite so forcible, for supposing that both the Gothick and the Celtick, though blended with a very different idiom, had the same origin with the Sanscrit, and the old Persian might be added to this family, if this were the place for discussing any question concerning the antiquities of Persia.“ (The Third Anniversary Discourse, on the Hindus, delivered 2d of February, 1786, in: The Works of Sir William Jones, Bd. 1, London 1799, S. 19 – 34, hier S. 26). Vgl. hierzu auch Kapitel 2.2. 1821 wurde Bopp zunächst außerordentlicher, 1825 dann ordentlicher Professor in Berlin. Neben ihm trugen Sprachforscher wie Julius Klapproth (1783 – 1835), August Friedrich Pott (1802– 1887), August Schleicher (1821– 1868) und Max Müller (1823 – 1900) zur Konjunktur der vergleichenden Sprachforschung im 19. Jahrhundert bei. Friedrich Schlegel: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Nebst metrischen Uebersetzungen indischer Gedichte, Heidelberg 1808, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg.v. Ernst Behler, Bd. 8, München u. a. 1975, S. 105 – 433. Ebd., S. 153. Vgl. Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 188 – 191; vgl. auch Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962 und Chen Tzoref-Ashkenazi: Der romantische Mythos vom Ursprung der Deutschen. Friedrich Schlegels Suche nach der indogermanischen Verbindung Göttingen 2009 (Schriftenreihe des Minerva Instituts für deutsche Geschichte Universität Tel Aviv, Bd. 29). Zeichen dieser mythographisch und sprachwissenschaftlich begründete Verwandtschaft des alten Orients mit dem deutschen Altertum sind auch die Entstehung von universitären Dozenturen und
1.2 Pluralisierungseffekte des Altertumsdiskurses bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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schließlich den Ursprung im Orient lokalisierte, ging Schlegel umgekehrt von Indien aus und endete bei den germanischen Sprachen – in beiden Fällen aber wurde die genealogische Linie zwischen dem Orient und dem deutschsprachigen Raum klar konturiert. Seine Forschungen zur indischen Literatur und Sprache verstand Schlegel im Untertitel seiner Studie ausdrücklich als Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Das Studium des indischen Altertums skizziert er in der Vorrede als Äquivalent zum Studium der Antike im Humanismus: Möchte das indische Studium nur einige solche Anbauer und Begünstiger finden,wie deren Italien und Deutschland im funfzehnten und sechszehnten Jahrhundert für das griechische Studium so manche sich plötzlich erheben und in kurzer Zeit so Großes leisten sah; indem durch die wiedererweckte Kenntniß des Alterthums schnell die Gestalt aller Wissenschaften, ja man kann wohl sagen der Welt, verändert und verjüngt ward. Nicht weniger groß und allgemein, wir wagen es zu behaupten, würde auch jetzt die Wirkung des indischen Studiums sein, wenn es mit eben der Kraft ergriffen, und in den Kreis der europäischen Kenntnisse eingeführt würde.⁷²
Ein solches Plädoyer für das alte Indien als einen neuen paradigmatischen Forschungsgegenstand findet sich ähnlich – wenngleich stärker national gefärbt – in Othmar Franks wissenschaftspolitischer Forderung nach der Ablösung der Antike als paradigmatischen Forschungsgegenstand durch den alten Orient in seiner 1808 erschienenen sprachwissenschaftlich und mythographisch argumentierenden Studie Das Licht vom Orient. Er vertritt darin die These, Persien sei das „älteste[] Alterthum[]“ und dabei „Grundlage des teutschen Alterthums“. Hiervon ausgehend fordert er die „Errichtung einer philosophisch-persischen Academie in Teutschland, eine[] Societät der ältesten Weisheit des Orients und der teutschen Nation“.⁷³ Mit der Behauptung der außerordentlichen Bedeutung Persiens für das deutsche Altertum (und zugleich für die deutsche Nation) korrespondiert ein argumentatives Ausschlussverfahren alles Römischen und Griechischen, das als fremd zurückgewiesen wird. Die Perser werden dagegen als die wahren „Brüder“ im Geiste angesprochen:
Lehrstühlen mit Titeln wie „Sanskrit, Sprachvergleichung und altdeutsche Philologie“ (Albert Hoefer, 1838 – 1840 in Berlin), „orientalische und altdeutsche Literatur“ (Franz Dietrich, 1848 – 1859 in Marburg) oder „orientalische Sprachen, germanische und vergleichende Grammatik“ (Karl Wilhelm Justi, 1861– 1865 in Marburg). Eine Liste der Privatdozenturen und Lehrstühle im Umfeld der deutschen Philologie von 1800 bis zum späten 19. Jahrhundert findet sich bei Uwe Meves: Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie, hier S. 197– 203. Schlegel: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier, S. 107. Zitiert aus dem Titel des ersten Kapitels der Studie, der vollständig lautet: „Vorläufige Ideen zur Uebersicht der Vorkenntnisse des ältesten Alterthums, als der Grundlage des teutschen Alterthums, und zur Errichtung einer philosophisch-persischen Academie in Teutschland, einer Societät der ältesten Weisheit des Orients und der teutschen Nation“, in: Othmar Frank: Das Licht vom Orient, I. Theil, Nürnberg 1808, S. 31– 118.
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
Nicht bloss, wie alle Nationen, mehr oder weniger mittelbar, stammt überdiess der Teutsche aus dem Orient, sondern alle Spuren seiner alten Geschichte und seine noch lebende Sprache beweisen, dass die Teutschen, nicht der Griechen und Römer, sondern der Perser unmittelbare Brüder seyen. Die Schriften der Griechen und Römer haben erst später der teutschen Cultur eine bestimmte, obschon ihr fremde (und viel zu hoch angeschlagene) Richtung gegeben. Sie konnten das Vorhandene nicht so verlöschen, dass es aufwärts nicht mehr verfolgt, und mit frommen teutschen Sinne aufgefasst zu werden verdiente. Sollte nur der Stempel achtungswerth seyn, der uns von Fremden aufgedruckt ist, nicht der eigne, ursprüngliche, urkräftige Gehalt?⁷⁴
Die Verwandtschaftslinien waren damit deutlich etabliert. Die Behauptung einer orientalisch-germanischen Genealogie bildete die hermeneutische Brücke zu Indien und Persien, derer es auch bedurfte, wie Polaschegg argumentiert, weil weder die Erforschung noch die ästhetische Geltung dieser Altertumskulturen im deutschsprachigen Raum eine Tradition besaßen und sie darüber hinaus in Deutschland auch keine besondere politische Bedeutung hatten, anders als es in den großen europäischen Kolonialmächten der Fall war.⁷⁵ Allerdings erhoben manche Zeitgenossen Bedenken gegen diese neue Begeisterung für das alte Persien und Indien sowie gegen die Bemühungen, die Beschäftigung mit ihnen institutionell als eigene Altertumswissenschaften und Philologien zu etablieren. Auch wenn viele der Beförderer der neuen wissenschaftlichen Unternehmungen selbst in der Altphilologie verwurzelt waren, so regte sich doch von dort Widerstand gegen die behauptete Abhängigkeit des Abendlandes (und das hieß auch: der Antike) vom Orient.⁷⁶ Denn es waren nicht nur Konkurrenzen zwischen verschiedenen ästhetischen Modellen, wissenschaftlichen Methoden und unterschiedlichen nationalen Anliegen, die mit der Pluralisierung des Altertums einhergingen, sondern auch ganz praktische Sorgen um die Privilegierung und Legitimierung des eigenen Forschungsgegenstandes. Ebd., S. 15 f. Vgl. Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 194– 196. Gut dokumentiert sind insbesondere die Polemiken, die Johann Heinrich Voß in drei Abhandlungen gegen Creuzers Mythenforschungen verfasste. Voß und Creuzer waren Exponenten zweier verschiedener Schulen: Auf der einen Seite stand die klassische Philologie und Altertumswissenschaft mit der neu entwickelten, strengen historisch-kritischen Methode, und auf der anderen Seite die spekulative, vergleichende Mythographie. Voß’ ätzende Polemik gegen Creuzers Methode ging einher mit einer Verteidigung des eigenen Forschungsgegenstandes gegen die neue Gefahr aus dem Osten. Denn wie andere Altphilologen der Zeit stieß Voß sich insbesondere an Creuzers Herleitungen griechischer Kulte und Mythen aus dem orientalischen Raum. Vgl. hierzu Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 194 f. Eine Auswahl an Schriften zum Streit um Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker bietet Ernst Howald (Hg.): Der Kampf um Creuzers Symbolik. Eine Auswahl von Dokumenten, Tübingen 1926 (Nachdruck Hildesheim u. a. 1984). Etwas tendenziös auf Seite der historisch-kritischen Wissenschaft kann die Debatte um Creuzers Thesen zum Mythos nachgelesen werden bei Conrad Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auf Veranlassung und mit Unterstützung Seiner Majestät des Königs von Bayern Maximilian II herausgegeben durch die Historische Comission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, 1. Hälfte, München, Leipzig 1883 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, Bd. 19), S. 569 – 584.
1.3 Fazit
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1.3 Fazit Ziel dieses knappen Aufrisses der Antiken- und Altertumsdiskurse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es, die grundlegenden Dynamiken zu rekonstruieren, die einen Horizont für den dramentheoretischen, bühnenästhetischen und dramatischen Altertumsdiskurs abgeben, um den es in dieser Studie gehen wird. Der begriffsgeschichtliche Überblick hat den epistemologischen Wandel von einem ursprünglich synthetischen zu einem pluralisierten Altertumsbegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeigt. Schon um 1800 wird ein Teil des Altertums ‘klassisch’. Damit verläuft ein auch begrifflich fassbarer Riss durch das Konzept ‘Altertum’.Während das ‘klassische Altertum’ nunmehr allein Griechenland und Rom umschließt, kann das ‘nichtklassische Altertum’ in sich immer weiter diversifiziert werden. Zur Reihe der anderen Altertümer, die in letzterem inbegriffen sind, zählen etwa das alte Ägypten und Israel, die schon im 18. Jahrhundert als Kulturen des Altertums im Mittelpunkt des wissenschaftlichen und ästhetischen Interesses standen und ihre Prominenz über die Jahrhundertwende hinweg ungebrochen behaupten. Daneben gewinnen aber auch Altertumskulturen wie Indien, Persien und das deutsche (oder vaterländische) Altertum zunehmend an Profil. Grundsätzlich bleibt das ‘Altertum’ im 19. Jahrhundert ein explizit spatial und temporal relativer Begriff. Daher konnten auch mittelalterliche Überlieferungen wie das Nibelungenlied oder die Edda als Teil des deutschen Altertums verstanden werden, auch dann noch, als man um ihre ungefähre Datierung wusste. Denn es ist die Benennung, Erforschung und – wie sich in der folgenden Untersuchung wiederholt zeigen wird – auch ästhetische Konturierung verschiedener historischer Kulturen als Altertümer, die ihren Status als Altertum begründen. Die ‘nichtklassischen’ Altertümer stehen in enger Korrespondenz mit Entwürfen eines klassischen Altertums. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sich das Feld der Altertümer zunächst im Zuge von diskursiven Prozessen pluralisiert, mit denen das klassische Altertum als umfassende normative ästhetische, politische und kulturelle Referenz nachhaltig etabliert wird. Schon früh werden in das synthetische Altertumskonzept, das aus dem 18. Jahrhundert datiert, hierarchische Relationen eingetragen. Exemplarisch zeigt sich dies an Winckelmanns Altertumsverständnis: Ohne dass die Zugehörigkeit der Ägypter, Etrusker oder Römer zu einem umfassend verstandenen Konzept des ‘Altertums’ in Frage stünde, setzt er die kulturelle Leistung der Griechen im Vergleich zu diesen Völkern dennoch in eine Überbietungsrelation. In solchen Argumentationsfiguren wird früh die Konkurrenz verschiedener Altertumskulturen denkbar. Daneben ermöglichte auch die ebenfalls schon früh etablierte Diskrepanz zwischen einem idealisierenden und (gleichzeitig) historischen Zugriff auf das antike Griechenland pluralisierende Effekte. Denn die Historisierung der Antike relativierte auf lange Sicht ihren normativen Status. Konkret erwies sich in diesem Zusammenhang insbesondere die neue klassische Altertumswissenschaft als Leitwissenschaft für die Pluralisierung des Altertums. Ihre Institutionalisierung als eigenständige Disziplin ist einerseits eng gekoppelt an den privilegierten und normativen Status, den Griechenland (und Rom) im Laufe des 18. Jahrhunderts in
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Kapitel 1: Die Pluralisierung des ‘Altertums’
ästhetischen und politischen Diskursen erlangt hatten; andererseits war es gerade diese Etablierung der klassischen Philologie an der Universität, in deren Folge auch andere philologische Lehrstühle eingerichtet wurden. Indem man in Forschungsrhetorik und -praxis die neuen historischen und philologischen Methoden, die in der klassischen Altertumswissenschaft entwickelt worden waren, auf den Quellenbestand anderer alter Kulturen anwendete, ließen sich diese als Altertümer konstituieren. Ausgerechnet die Prozesse der Verengung des ursprünglich sehr viel weiter gefassten synthetischen Altertumsbegriffs um 1800 auf ein ‘klassisches’, allein Griechenland und Rom vereinendes Altertum, erwiesen sich so in vielfacher Hinsicht als Voraussetzung für die Diversifikation des Konzepts ‘Altertum’. Darüber hinaus aber gab es mit der neu einsetzenden vergleichenden Sprachforschung und der Mythengeschichte noch weitere Forschungszweige, die zur Profilierung einzelner Altertumskulturen beitrugen. In diesen Zusammenhängen wurden vor allem Indien und Persien, aber auch die deutsche Vergangenheit zu legitimen Forschungsobjekten und Altertümern nobilitiert. In diesem Aufwertungsprozess war die Behauptung einer orientalisch-germanischen Verwandtschaft zentral. Die spezifischen Diskurse des Nationalen zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren ein wichtiger Faktor: Neben dem Neuhumanismus, der die griechische Antike als ein nationales Kulturideal verstand, und neben den sprachwissenschaftlichen und mythengeschichtlichen Forschungen, mit denen die Formel ex oriente lux mit national-identifikatorischen Resonanzen ausgestattet wurde, indem die Deutschen sich nach den Regeln dieses Diskurses als legitime kulturelle, philosophische und sprachliche Erben Indiens und Persiens verstehen konnten, gab es ein drittes Lager, das die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln forderte. Der Wille zur Konstituierung eines deutschen Altertums in wissenschaftlichen und ästhetischen Kontexten kann kaum getrennt werden von der politischen Situation und den Wünschen zur Nationenbildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die eine Profilierung der eigenen Vergangenheit im Gegensatz zur antiken Tradition wünschte. Die hier skizzierten Prozesse der Pluralisierung des Altertums bilden den diskursiven Rahmen, innerhalb dessen sich die zeitgenössische Gattungstheorie und Theaterpraxis sowie die dramatischen Texte bewegen. Sie haben ihrerseits Anteil an den Dynamiken der Pluralisierung und den begleitenden Aushandlungsprozessen. Auch hier findet sich die spezifische Spannung zwischen dem klassischen Altertum auf der einen Seite und den ‘anderen’ Altertümern auf der anderen Seite. Ähnlich wie die Etablierung des alten Indien und des alten Persien als Forschungsgegenstände zur Herausforderung der herausragenden Stellung der klassischen Altertumswissenschaft werden konnten, wurde in der zeitgenössischen Gattungstheorie das indische Drama in eine Konkurrenzrelation zur klassisch-antiken Dramentradition gebracht (Kapitel 2). Und so wie sich die Entstehung der klassischen Altertumswissenschaft als entscheidend für die Etablierung verschiedener Philologien erwies, indem die neu erarbeiteten wissenschaftlichen Methoden und Formate auf andere Forschungsgegenstände übertragen wurden, war auch der bühnenästhetische Umgang mit der klassischen Antike wegweisend für die Pluralisierung der Altertümer auf der Bühne
1.3 Fazit
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(Kapitel 3). Bei der Analyse der Altertumsdramatik wird sich nicht zuletzt auch die skizzierte Offenheit des Altertumsdiskurses zeigen. Wenn das Altertum als eine grundsätzlich relative Größe diskutiert wurde, indem einzelne Völker durch Akte der Erforschung und der Benennung als eigene Altertümer deklariert wurden, dann gilt das auch für korrespondierende ästhetische Verfahren in den Dramentexten – etwa genealogische Verweise oder spezifische Bildprogramme –, durch die bestimmte Völkergruppen der Alten Welt als eigenständige Altertümer inszeniert werden (Kapitel 4 und 5).
Teil I: Gattungsdiskurs und Theaterpraxis
Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs Im ersten Teil der Arbeit stehen zwei Diskurse, die grundsätzlich verschiedenen Regeln folgten und an denen sich sehr unterschiedliche Protagonisten beteiligten: Das vorliegende zweite Kapitel fragt nach den spezifischen Orten, die den Altertümern und der Antike in der Ästhetik und Dramentheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugewiesen wurden; im folgenden dritten Kapitel hingegen geht es um die Ausstattungspraxis im 19. Jahrhundert. Theorie und Praxis gemeinsam ist indes, dass sie für die tatsächliche Dramenproduktion einen hohen Grad von Verbindlichkeit entwickelten, wie sich insbesondere im zweiten Teil der Studie bei den Dramenanalysen zeigen wird. Zeitgenössisch empfand man ein extremes Missverhältnis zwischen Dramentheorie und Dramatik. Im 19. Jahrhundert war die Klage über die Mittelmäßigkeit des gegenwärtigen deutschen Dramas in der Dramenkritik allgegenwärtig. Während die Gattung des Dramas selbst in den theoretischen Bestimmungen als „vollkommenste Erfüllung des Begriffes der Kunst“¹ gefeiert wurde, lautete eine verbreitete Einschätzung, in einer Formulierung von Robert Prutz: „[W]ir sind Alle in der Theorie [des Dramas, F.K.] unendlich viel weiter, als wir mit der Praxis nachkommen können“.² Die Diagnose einer Kluft zwischen dem, was die Gattungstheorie des Dramas zu leisten im Stande sei, und der zeitgenössischen literarischen Praxis, ist aus dem 19. Jahrhundert bis in die literaturwissenschaftliche Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts fortgeschrieben worden, etwa in Helmut Schanzes Artikel unter dem Titel Die Anschauung vom hohen Rang des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine tatsächliche ‘Schwäche’ oder in dem jüngeren Aufsatz von Silvia Serena Tschopp über den Zusammenhang zwischen Dramenform und Geschichtsauffassung als theoretisches und praktisches Problem im 19. Jahrhundert. ³ Den Studien gemeinsam ist, dass sie davon ausgehen, die Dramentheorie des 19. Jahrhunderts sei extrem anspruchsvoll gewesen und von den tatsächlich geschriebenen Dramen nicht nur nicht eingelöst worden, sondern sogar weit unterboten. Dabei wird auffallend oft die Verantwortung für dieses
Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Dritter Theil, Zweiter Abschnitt: Die Künste, Fünftes Heft: Die Dichtkunst, Stuttgart 1857, S. 1376. Robert Prutz: Ueber das deutsche Theater, in: Ders.: Moritz von Sachsen. Trauerspiel in fünf Akten, Zürich, Winterthur 1847, S. 3 – 26, hier S. 24. Vgl. Helmut Schanze: Die Anschauung vom hohen Rang des Dramas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine tatsächliche ‘Schwäche’, in: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, Bd. 1, hg.v. Helmut Koopmann und Adolf J. Schmoll, Frankfurt/Main 1971 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 12/1), S. 85 – 96 und Silvia Serena Tschopp: Inszenierte Geschichte. Der Zusammenhang zwischen Dramenform und Geschichtsauffassung als theoretisches und praktisches Problem im 19. Jahrhundert, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg.v. ders. und Daniel Fulda, Berlin, New York 2002, S. 367– 389, hier S. 368 f. DOI 10.1515/9783110473353-003
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
(angebliche) Missverhältnis von Dramentheorie und Dramenproduktion der ästhetischen Theorie und Philosophie gegeben. So konstatiert etwa Klaus Hammer in seiner Anthologie von dramaturgischen Schriften des 19. Jahrhunderts, dass „[d]er Zwiespalt zwischen ästhetischer und historischer Wertschätzung der Form und dem Versagen, sie künstlerisch-substantiell auszufüllen, […] im 19. Jahrhundert zum qualitativen Defizit des Dramas geführt“ habe.⁴ In letzter Konsequenz waren es demnach die Dramentheoretiker, die mit ihrem zu hohen Anspruch zur ästhetischen Minderwertigkeit der von ihnen gefeierten Gattung beitrugen. Angesprochen ist damit die Dominanz eines philosophieästhetischen Gattungsdiskurses, der neben der romantischen Gattungstheorie prägend für das 19. Jahrhundert wurde.⁵ Angesichts dieser Dominanz und ihrer impliziten und expliziten Auswirkungen auf die Dramatiker des 19. Jahrhunderts stellt sich im Kontext der vorliegenden Studie die Frage, welche Bedeutung der Antike und den anderen Altertümern in diesen dramentheoretischen Diskursen zukam. Die Frage lässt sich doppelt perspektivieren: Im ersten Teil des Kapitels (2.1) geht es zunächst um Hegels Dramentheorie, die im 19. Jahrhundert eine weitreichende Wirkung entfaltete, nicht zuletzt durch ihre Popularisierung im Hegelianismus. Hier zeigt sich, wie im theoretischen Gattungsdiskurs die griechische Antike ins Zentrum einer (im Sinne eines produktiven Rückgriffs auf die Antike) klassizistisch zu nennenden Dramaturgie gerückt wird, während die römische Antike und insbesondere auch die anderen Altertümer ausgeschlossen werden. Es ist entscheidend, dass klassizistisch hier nicht als Werturteil im Sinne einer vermeintlich rückwärts gerichteten Dramaturgie verstanden wird. Gemeint ist vielmehr, dass es sich um eine Dramaturgie handelt, die auf die Antike zurückgreift, sie verändert, aber ihre Prämissen eben auf entscheidende Weise in der Auseinandersetzung mit dem antiken Theater und dem antiken Drama gewinnt. Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1818 – 1828/29), die als seine einflussreichste gattungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Drama im Fokus stehen werden,⁶
Klaus Hammer:Vorwort, in: Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts, hg.v. dems., Bd. 1, Berlin 1987, S. 9 – 24, hier S. 11. Vgl. für einen Überblick über romantische Dramaturgien die Beiträge in Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger (Hg.): Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation, Berlin 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 103). An grundlegenden älteren Studien sind zu nennen Margret Dietrich: Europäische Dramaturgie im 19. Jahrhundert, Graz 1961 und Peter Schmidt: Romantisches Drama. Zur Theorie eines Paradoxons, in: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, Bd. I, hg. und eingel. v. Reinhold Grimm, Frankfurt/Main 1971, S. 245 – 269. Die Tragödie oder das Tragische spielen in fast allen Einzelwerken Hegels eine Rolle. Michael Schulte hat in einer detaillierten Studie gezeigt, dass Hegel in seiner Tragödieninterpretation in der Phänomenologie des Geistes (1807) in vielerlei Hinsicht differenzierter verfährt als in der Ästhetik. Allerdings verweist Schulte auch darauf, dass selbst Hegels Schüler die Dramentheorie der Phänomenologie des Geistes so gut wie gar nicht rezipiert haben (vgl. Die „Tragödie im Sittlichen“. Zur Dramentheorie Hegels, München 1992, S. 14). Da es in der vorliegenden Studie aber primär um den Einfluss Hegels in den zeitgenössischen Gattungsdiskursen geht, wird im Folgenden die Ästhetik zentral gesetzt.
2.1 Geschichtsphilosophische Lektüren
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können dabei zugleich als paradigmatisch für eine philosophische Neukonfiguration des gattungstheoretischen Dramendiskurses gelten. Im zweiten Teil des Kapitels (2.2) wird diesen dominanten idealistischen Diskursen die Rezeption derjenigen dramatischen Gattungstradition gegenübergestellt, die aufgrund ihrer Anciennität für kurze Zeit als konkurrierende Alternative zu solchen klassizistischen Traditionen diskutiert wurde: Gegenstand ist die Rezeption des altindischen Dramas, paradigmatisch vertreten durch Kālidāsas Drama Abhijñānaśākuntala, dessen Entstehung man im 19. Jahrhundert auf das erste vorchristliche Jahrhundert datierte und dessen Übersetzungen als Dokumente einer eigenständigen Dramentradition eines anderen Altertums seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert europaweit Aufsehen erregten. Die Bedeutung, die diesem Fund in den zeitgenössischen Gattungsdiskussionen zukommt, wurde von der Forschung bisher noch nicht gesehen. Im Mittelpunkt stehen Herders Abhandlungen über Kālidāsas Drama als prononcierteste Versuche, das Wissen um die Dramentradition einer anderen Altertumskultur in den zeitgenössischen Gattungsdiskurs zu integrieren. Aber es wird sich über Herder hinaus auch zeigen, wie breit das indische Drama während einer kurzen Zeitspanne des 19. Jahrhunderts insbesondere für romantische Gattungsdiskurse vereinnahmt wurde.
2.1 Geschichtsphilosophische Lektüren. Tragödie und Antike in Friedrich Hegels Ästhetik Hegels gattungstheoretische Überlegungen zum Drama sind in der Ästhetik um die Tragödie zentriert. Dennoch sind sie Ausgangspunkt für die Entwicklung einer allgemeinen Theorie der ‘dramatischen Poesie’. Als deren ideale Ausprägungen stehen sich die (antike) Tragödie und Komödie gegenüber. Daneben gibt es noch eine dritte, von Hegel weniger geschätzte „Hauptart der dramatischen Poesie“,⁷ die sich durch die Vermischung des tragischen und des komischen Prinzips auszeichnet, und deren gelungenste Vertreter moderne „Schauspiel[e]“⁸ wie Goethes Iphigenie oder Torquato Tasso darstellen. Der Horizont dieser umfassenden Theorie des Dramas ist zu berücksichtigen, wenn die folgenden Analysen sich besonders auf Hegels Ausführungen zur Tragödie und zum modernen Schauspiel konzentrieren und die Komödie dagegen fast völlig außer Acht lassen. Der Grund für die Fokussierung liegt zum einen in der Tatsache, dass die zeitgenössische Altertumsdramatik mit ihren mythologischen oder historischen Stoffen fast ausschließlich als Tragödie oder Trauerspiel auf die Bühne kommt.⁹ Zum anderen ist vor dem Hintergrund der Frage nach dem möglichen Ort der Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, hg.v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1986, S. 531. Ebd., S. 533. Einige wenige Possen oder Persiflagen bestätigen als Ausnahmen die Regel. Dagegen hat die antike Komödie insbesondere bei den ‘Aristophaniden’ im deutschen Vormärz durchaus eine breitere Re-
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
Altertümer im Gattungsdiskurs über das Drama besonders aufschlussreich, wie Hegel die antike Tragödie zum privilegierten Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur dramatischen Gattung macht und andere Gattungstraditionen ausschließt. In einem ersten Schritt (2.1.1) werden Hegels geschichtsphilosophische Argumente für die Privilegierung der Gattung Drama rekonstruiert, wobei auf die breite Forschungslage zurückgegriffen werden kann.¹⁰ Ausgehend von der herausgehobenen Rolle, die dabei in der Argumentation der attischen Tragödie zugesprochen wird, wird daran anschließend danach gefragt (2.1.2), auf welche Weise Hegel im epochalen Dreischritt von ‘Orient’, ‘Antike’ und ‘Romantik’ die Möglichkeitsbedingungen der Gattung Drama bestimmt. Am Ende (2.1.3) steht der Hinweis auf Hegels Ausführungen zum Problem des ‘Stoffs’, mit dem die anderen Altertümer neben der griechischen Antike in den theoretischen Diskussionen ins Spiel kommen. In diesem Zusammenhang wird ein Seitenblick auf die Schriften des hegelianischen Ästhetikers Theodor Rötscher außerdem beispielhaft zeigen, wie sich in der Transformation hegelscher Positionen der Stellenwert der Antike und der Altertümer in der zeitgenössischen Gattungstheorie verschiebt.
zeption erfahren. Das bezieht sich allerdings weniger auf die Stoffwahl, sondern vielmehr auf einen besonderen Modus politischer Lustspiele, der sich in der Beschäftigung mit Aristophanes’ Komödien ausbildete. Zu den Aristophaniden vgl. Horst Denkler: Aufbruch der Aristophaniden. Die aristophanische Komödie als Modell für das politische Lustspiel im deutschen Vormärz, in: Der Dichter und seine Zeit – Politik im Spiegel der Literatur. Drittes Amherster Kolloquium zur modernen deutschen Literatur 1969, hg.v. Wolfgang Paulsen, Heidelberg 1970 (Literatur und Geschichte, Bd. 1), S. 134– 157. Zu Hegels Theorie des Dramas und seiner Interpretation des Tragischen und der Tragödie vgl. Klaus Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel, in: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804– 1806), hg.v. Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Bonn 1988 (Neuzeit und Gegenwart. Philosophische Studien, Bd. 5), S. 55 – 82; ders.: Griechische Tragödie und klassische Kunst in Hegels Ästhetik, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, hg.v. Annemarie Gethmann-Siefert, Lu de Vos und Bernadette Collenberg-Plotnivok, München 2005 (Neuzeit & Gegenwart. Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft), S. 145 – 158; Roland Galle: Hegels Dramentheorie und ihre Wirkung, in: Handbuch des deutschen Dramas, hg.v. Walter Hinck, Düsseldorf 1980, S. 259 – 272; Stephen Houlgate: Hegel’s Theory of Tragedy, in: Hegel and the Arts, hg.v. dems., Evanston/Illinois 2007, S. 146 – 178; Christian Iber: Tragödie, Komödie und Farce. Zur geschichtsphilosophischen Ortsbestimmung der Tragödie bei Hegel und Marx, in: Die Philosophie des Tragischen. Schopenhauer – Schelling – Nietzsche, hg.v. Lore Hühn und Philipp Schwab, Berlin, Boston 2011, S. 281– 295; Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/ Main 1996; Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden 1983, S. 373 – 388; Helmut Pillau: Die fortgedachte Dissonanz. Hegels Tragödientheorie und Schillers Tragödie. Deutsche Antworten auf die Französische Revolution, München 1981 (Literaturgeschichte und Literaturkritik, Bd. 1), insbesondere S. 9 – 45; Otto Pöggeler: Hegel und die griechische Tragödie, in: Hegel-Studien Beiheft 1 (1964), S. 285 – 305 und Schulte: Die „Tragödie im Sittlichen“.
2.1 Geschichtsphilosophische Lektüren
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2.1.1 Geschichte und Tragödie als strukturelles Analogon In Hegels Vorlesungen über die Ästhetik steht die ‘dramatische Poesie’ chronologisch an letzter Stelle – im dritten Kapitel des dritten Teils wird sie an dritter Stelle nach der epischen und der lyrischen Poesie abgehandelt.¹¹ Schon die Position markiert in der Logik des dialektischen Strukturprinzips eine Auszeichnung der Gattung. Hegel führt gleich zu Beginn seiner Überlegungen zum Drama aus, dieses sei nicht nur anzusehen als „höchste Stufe der Poesie“, sondern vielmehr darüber hinaus auch als jene „der Kunst überhaupt“.¹² So stehe die „redende[] Kunst“ in der Hierarchie der Künste an der Spitze, weil sie „allein das der Exposition des Geistes würdige Element“ sei. „[U]nter den besonderen Gattungen der redenden Kunst“ sei „wiederum die dramatische Poesie“ besonders auszuzeichnen, da sie „die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik“ vereine.¹³ Diese Auffassung, das Drama als Mischform von Epik und Lyrik zu verstehen, hatte schon vor Hegel Eingang in gattungstheoretische Diskurse gefunden. Eine ähnliche Formulierung findet sich beispielsweise 1797 in einem
Die Einteilung in Kapitel ist auf die Redaktion durch Heinrich Gustav Hotho zurückzuführen, die grundsätzliche Chronologie der Ausführungen stammt allerdings von Hegel selbst, vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Gestalt und Wirkung von Hegels Ästhetik. Zur Edition von Hothos Mitschrift der Ästhetik-Vorlesung von 1823, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hg.v. Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 2), S. XV–CCXXIV, hier S. XCf. Hegel:Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 474. Dass es sich beim Drama um die höchste Kunstform handelt, scheint auf den ersten Blick nicht zu dem zentralen Stellenwert zu passen, den die Skulptur in Hegels Ästhetik einnimmt. Helmut Pillau hat gezeigt, dass sich dieser scheinbare Widerspruch auflösen lässt: Zwar ist die Skulptur in der Ästhetik die „klassische Kunstform“ par excellence (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 14: Vorlesungen über die Ästhetik II, hg.v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1986, S. 13). Die vollkommene Einheit von Geistigem und Sinnlichem, von innen und außen macht die Skulptur zum „klassische[n] Ideal in seinem einfachen Beisichsein“ (S. 87). So wie Hegel die Kunst auf der ersten Stufe des ‘absoluten Geistes’ ansiedelt, die aber der „vollen Entfaltung des Geistes noch im Wege“ steht, so ist die Skulptur auf der ersten Stufe des ‘Kunstschönen’ zu verorten, weil sie zwar eine Überwindung des Kampfes der symbolischen Kunst darstellt, Innen und Außen in ein Gleichgewicht zu bringen, aber doch noch keine „differenzierte Ausgestaltung von Kunst“ ist (Pillau: Die fortgedachte Dissonanz, S. 10). Diese kann nach Hegel erst erreicht werden durch die reflexive Kraft der ‘Handlung’, die im Modus der Kollision idealtypisch in der Tragödie verwirklicht wird (vgl. ebd., S. 10 f.). Obwohl die Skulptur also nicht die höchste Kunstform der Antike ist, so lässt sich Pillaus Argumentation hinzufügen, ist sie aber doch ihre paradigmatische Kunst. Denn während das Bewusstsein und die Behauptung der Subjektivität mit ihrem Potential der Reflexion Signum der Moderne ist, zeichnet sich die Antike aus durch die Möglichkeit einer Einheit von innen und außen, die in der Skulptur nach Hegel idealtypisch verwirklicht ist. Es nimmt angesichts dieser herausragenden Bedeutung der Skulptur für die Antike nicht Wunder, dass Hegel die Helden der attischen Tragödie, die eins seien mit dem sittlichen Prinzip, das sie vertreten, explizit mit den griechischen Skulpturen vergleicht (vgl. Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 522). Ebd., S. 474.
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
Brief Wilhelm von Humboldts an Christian Gottfried Körner,¹⁴ und auch Schelling hatte 1802/03 in seiner Philosophie der Kunst (veröffentlicht 1859) das Drama als „Synthese der beiden entgegengesetzten Formen“ von Epik und Lyrik definiert.¹⁵ Hegel griff diese zeitgenössisch offensichtlich virulente Denkfigur auf und goss sie in eine triadischdialektische Form, die Schellings Argumentation ähnelt: Die Antithese von ‘objektiv’ (Epos) und ‘subjektiv’ (Lyrik) wird in der Ästhetik übertroffen von der Synthese ‘subjektiv-objektiv’ im Drama.¹⁶ Diese exzeptionelle Bedeutung des Dramas verdankt sich zugleich auch einem bestimmten Potential, das Hegel implizit der Gattung zuschreibt und auf das in der Forschung bereits verschiedentlich hingewiesen wurde.¹⁷ Er entwirft die ‘dramatische Poesie’ als strukturelles Analogon zur Weltgeschichte. Das bedeutet nichts Geringeres, als dass das Drama nach Hegel grundsätzlich imstande ist, die Weltgeschichte in nuce darzustellen. Die Reichweite dieser Funktionszuschreibung an die Gattung erschließt
Vgl. Wilhelm von Humboldt an Christian Gottfried Körner, 7. 3.1797, in: Wilhelm von Humboldts Briefe an Christian Gottfried Körner, hg.v. Albert Leitzmann, Berlin 1940 (Historische Studien, Heft 367), S. 35 – 40, hier S. 35 f. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, in: Ders.: Sämmtliche Werke, I. Abt., Bd. 5, Stuttgart, Augsburg 1859, S. 353 – 736, hier S. 689. Vgl. hierzu auch Hammer: Vorwort, S. 14 f. Dabei ist der Gedanke, die literarischen Gattungen überhaupt in epische, lyrische und dramatische Poesie zu unterteilen, zu Hegels Zeiten noch denkbar jung. Er verdankt sich dem neuen kantianisch geprägten Ansatz, Gattungsbestimmungen nicht induktiv-beschreibend aus der Empirie der Literatur abzuleiten, sondern deduktiv zu verfahren. Dem liegt die Auffassung zugrunde, es gebe apriorisch begründbare Prinzipien der literarischen Gattungen, die der tatsächlich realisierten Literatur vorgelagert seien. Stefan Trappen hat gezeigt, dass sich die Gattungstrias in der Gestalt, wie sie auch heute noch den literaturtheoretischen Diskurs strukturiert, im deutschsprachigen Raum maßgeblich zwischen 1790 und 1800 in der Kommunikation von Schiller, Goethe, Wilhelm von Humboldt, Christian Gottfried Körner und den Brüdern Schlegel ausgebildet hat. Er hat darüber hinaus überzeugend argumentiert, dass die Verbreitung und Durchsetzung des triadischen Modells, das dort in der Auseinandersetzung mit der Antike entwickelt wurde und das anfangs durchaus mit anderen, dualen Modellen konkurrierte, wesentlich mit der Adaption dieser Ideen durch den deutschen Idealismus zusammenhing und mit dem „Signum dieser Philosophie, mit und in Triaden zu argumentieren.“ (Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre, Heidelberg 2001 [Beihefte zum Euphorion, Heft 40], S. 256). Erstmals hat Irene Behrens die Entstehung der Gattungstrias in Deutschland systematisch ausgearbeitet (vgl. Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattung, Halle 1940 [Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 92], insbesondere S. 180 – 195). Für das (zu dieser Zeit noch anders hergeleitete) Konzept der Gattungstrias in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Charles Batteux vgl. Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968 (Studien zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Bd. 2), S. 57– 82. Vgl. Roland Galle: Tragödie und Aufklärung. Zum Funktionswandel des Tragischen zwischen Racine und Büchner, Stuttgart 1976 (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft. Materialien und Untersuchungen zur Literatursoziologie, Bd. 24), S. 9 – 18; ders.: Hegels Dramentheorie und ihre Wirkung; Tschopp: Inszenierte Geschichte, insbesondere S. 373 f. und Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/Main 1991 [engl. 1973], S. 127– 131.
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sich in vollem Umfang erst vor dem Hintergrund von Hegels Konzeption der Weltgeschichte. Er denkt sie bekanntlich als einen teleologischen Prozess, der die von Beginn an in der Welt keimhaft angelegte Vernunft zur Entfaltung bringt. Der Begriff der Vernunft korreliert dabei mit dem Begriff der Freiheit; der zu sich selbst kommende Weltgeist wird beschrieben als Fortschritt des „Bewußtsein[s] des Geistes von seiner Freiheit“.¹⁸ Weltgeschichte ist damit ein finaler Prozess der Produktion von Vernunft, ein immer fortschreitendes, zielgerichtetes sich Durchsetzen der Freiheit.¹⁹ Das Bewegungsgesetz dieses universal und final gedachten Fortschritts von Geschichte fasst Hegel systematisch als dialektisches Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem. Im Begriff des Besonderen verortet er dabei die Wirklichkeit bildenden, partikularen Machtansprüche und Leidenschaften ‘welthistorischer Individuen’, durch die Geschichte sich empirisch allererst realisiert. Das Individuum setzt nach Hegel den sich teleologisch und vernünftig entwickelnden Geschichtsprozess durch seine partikularen Leidenschaften in Gang. Zugleich wird es ausgerechnet wegen der Partikularität seiner Interessen vernichtet. Diese Zerstörung des Subjekts denkt Hegel allerdings nur als eine relative, weil das Individuum, das „aufgeopfert und preisgegeben“²⁰ werde, durch seine Vernichtung im Allgemeinen aufgehe. Wie die Weltgeschichte in ihrem dialektischen Verlauf zielgerichtet die im Keim schon angelegte Vernunft entfaltet, so ist es die besondere Leistung der Gattung des Dramas, in einer dialektischen Handlungsstruktur von Allgemeinem und Besonderem das an und für sich Vernünftige zur Vorstellung zu bringen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass Hegel in den gattungstheoretischen Passagen der Ästhetik eindeutig Dreiakter favorisiert. Sie stellen für ihn die „natürliche Gliederung“²¹ eines Dramas dar, obgleich er sie als Regelfall nur in der spanischen Dramatik eruieren kann. Hier zeigt sich exemplarisch, dass Hegel apriorisch argumentiert, denn er leitet seine Aussagen über das Drama nicht induktiv aus der existierenden Literatur ab, sondern denkt sie von einer vorgelagerten idealen Struktur des Dramas her und entwickelt von dort seine poetologischen Argumentationsmuster. In der Ästhetik heißt es hierzu in Referenz auf die Bestimmung des Aristoteles, die Tragödie sei ein Ganzes, das Anfang, Mitte und Ende habe:²²
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg.v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/Main 1986, S. 31. Vgl. etwa die Formulierung aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: „Der Orient wußte und weiß nur, daß Einer frei ist, die griechische und römische Welt, daß Einige frei seien, die germanische Welt weiß, daß Alle frei sind.“ (Ebd., S. 134, Hervorh. i.O.). Wenn Hegel das Durchsetzen der Freiheit als Ziel der Geschichte formuliert, dann gilt es sich allerdings zu vergegenwärtigen, dass er den historischen und politischen Ort der Freiheit sehr konkret benennt: Das telos der Geschichte ist bei Hegel der vernünftige Staat. Ebd., S. 49, Hervorh. i.O. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 489. Vgl.: „Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt ja auch etwas Ganzes ohne nennenswerte
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[I]nsofern aber die dramatische Handlung wesentlich auf einer bestimmten Kollision beruht, wird der gemäße Ausgangspunkt in der Situation liegen, aus welcher sich jener Konflikt, obschon er noch nicht hervorgebrochen ist, dennoch im weiteren Verlaufe entwickeln muß. Das Ende dagegen wird dann erreicht sein, wenn sich die Auflösung des Zwiespalts und der Verwicklung in jeder Rücksicht zustande gebracht hat. In die Mitte dieses Ausgangs und Endes fällt der Kampf der Zwecke und Zwist der kollidierenden Charaktere. Diese verschiedenen Glieder nun sind im Dramatischen als Momente der Handlung selber Handlungen, für welche deshalb die Bezeichnung von Akten durchaus angemessen ist. […] Der Zahl nach hat jedes Drama am sachgemäßesten drei solcher Akte, von denen der erste das Hervortreten der Kollision exponiert, welche sodann im zweiten sich lebendig als Aneinanderstoßen der Interessen, als Differenz, Kampf und Verwicklung auftut, bis sie dann endlich im dritten auf die Spitze des Widerspruchs getrieben sich notwendig löst.²³
In dreiaktigen Dramen, so das Argument, lässt sich ideal entwickeln und auflösen, was für Hegel das Zentrum eines jeden Dramas ist: die Kollision. Sie soll im ersten Akt exponiert, im zweiten Akt vorangetrieben und im dritten Akt „notwendig“ gelöst werden. Das Adjektiv ‘notwendig’ markiert einen zentralen Punkt, der den engen Konnex zwischen Hegels Bestimmung des Verlaufs der Weltgeschichte und derjenigen des Dramas anzeigt. Mit der Notwendigkeit ist zum einen der immer gleiche Verlauf von Geschichte und Drama angesprochen, der stete Kampf widerstreitender Partikularinteressen und deren Transzendierung im Allgemeinen. Zum anderen ist damit auch die Behauptung einer besonderen Geschlossenheit der Form des Dramas aufgerufen, das ‘notwendig’ durch die Abfolge von Konflikt und Lösung strukturiert ist. Idealtypisch vorgeführt wird das Problem der dramatischen Kollision nach dieser apriorischen Argumentation am Beispiel konkreter Literatur und hier kommt die Antike prominent ins Spiel. Hegel bezieht sich in diesem Zusammenhang ausnahmslos auf die attischen und insbesondere die sophokleischen Tragödien. Ihre Form ist nach Hegel nicht nur wesentlich bestimmt durch die Kollision, sondern auch durch das eng damit zusammenhängende ‘Pathos’ der dramatischen Helden und schließlich durch die ‘Versöhnung’, die den Zielpunkt der idealen Tragödie darstellt. Mit dem Begriff des Pathos beschreibt Hegel, dass der dramatische Held in den antiken Tragödien identisch sei mit dem sittlichen Prinzip, das er vertrete. Weil dieses mit ihm identitär verwobene Prinzip aber stets nur ein partikulares, aus dem Allgemeinen heraus gelöstes Axiom der Sittlichkeit darstelle, müsse er notwendig in Konflikt mit anderen Prinzipien treten. Der tragische Held sei daher immer „ebenso schuldig als unschuldig“,²⁴ denn er habe keine Wahl: „Das eben ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus sind, was sie wollen und vollbringen.“²⁵ Die Partikularisation, die sich im dramati-
Größe. Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. und hg.v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 1450b, 7. Kapitel, S. 25). Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 489, Hervorh. i.O. Ebd., S. 545. Ebd., S. 546, Hervorh. i.O.
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schen Helden manifestiert, ist damit Auslöser der dramatischen Kollision und begründet zugleich deren Tragik: Durch das Prinzip der Besonderung nun, dem alles unterworfen ist, was sich in die reale Objektivität hinaustreibt, sind die sittlichen Mächte wie die handelnden Charaktere unterschieden in Rücksicht auf ihren Inhalt und ihre individuelle Erscheinung. Werden nun diese besonderen Gewalten, wie es die dramatische Poesie fordert, zur erscheinenden Tätigkeit aufgerufen und verwirklichen sie sich als bestimmter Zweck eines menschlichen Pathos, das zur Handlung übergeht, so ist ihr Einklang aufgehoben, und sie treten in wechselseitiger Abgeschlossenheit gegeneinander auf. Das individuelle Handeln will dann unter bestimmten Umständen einen Zweck oder Charakter durchführen, der unter diesen Voraussetzungen, weil er in seiner für sich fertigen Bestimmtheit sich einseitig isoliert, notwendig das entgegengesetzte Pathos gegen sich aufreizt und dadurch unausweichliche Konflikte herbeileitet. Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld geraten.²⁶
Für Hegel ist die Gleichberechtigung der beiden widerstreitenden Prinzipien in der Tragödie zentral. Idealtypisch verwirklicht sieht er sie in der sophokleischen Antigone, weil Kreon und Antigone in seiner Lesart den „Hauptgegensatz“²⁷ zweier sittlicher Prinzipien vertreten, nämlich denjenigen zwischen Staat (Kreon) und Familie (Antigone). Beide werden wegen dieser Vereinseitigung, durch die sie ‘notwendig’ miteinander in Kollision treten, am Schluss der Tragödie „gebrochen“:²⁸ Antigone stirbt, Kreon verliert Sohn und Gattin. Aber so wie die Vernichtung der ‘weltgeschichtlichen Individuen’ im Prozess der Weltgeschichte nur eine relative ist, weil die Individuen schließlich im Allgemeinen aufgehen, und das Allgemeine siegt, so ist auch dieses Ende als „tragische Aussöhnung“ zu beschreiben, weil man hier „das Hervorgehen der bestimmten sittlichen Substantialitäten aus ihrem Gegensatze zu ihrer wahrhaften Harmonie“²⁹ erleben könne.³⁰ Die ideale Tragödie laufe, so Hegel, auf dieses Aufheben der Gegensätze hinaus, auf ihre wechselseitige Negation, aus der dann das höhere sittliche Prinzip, das Allgemeine, als Sieger hervorgehe:
Ebd., S. 522, Hervorh. i.O. Ebd., S. 544. Ebd., S. 549. Ebd. Die Versöhnung manifestiert sich in der antiken Tragödie allerdings nicht immer in der Vernichtung des Individuums. Neben der „objektiven Versöhnung“, in der die Individuen zugrunde gehen, kennt Hegel auch eine Versöhnung „subjektiver Art“, in der die Individuen entweder ihre partikularen Interessen aufgeben, weil ihr „starre[r] Wille“ durch einen Gott gebrochen werde (Beispiel hierfür ist der Philoktet) oder das Individuum direkt transzendiert werde, ein Vorgang, den Hegel idealtypisch im Ödipus auf Kolonos verwirklicht sieht. (Ebd., S. 550 f.).
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Über der bloßen Furcht und tragischen Sympathie steht deshalb das Gefühl der Versöhnung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit gewährt, welche in ihrem absoluten Walten durch die relative Berechtigung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift, weil sie nicht dulden kann, daß der Konflikt und Widerspruch der ihrem Begriffe nach einigen sittlichen Mächte in der wahrhaften Wirklichkeit sich siegreich durchsetze und Bestand erhalte. Indem nun, diesem Prinzipe zufolge, das Tragische vornehmlich auf der Anschauung solch eines Konflikts und dessen Lösung beruht, so ist zugleich die dramatische Poesie, ihrer ganzen Darstellungsweise nach, allein befähigt, das Tragische in seinem totalen Umfange und Verlaufe zum Prinzip des Kunstwerks zu machen und vollständig auszugestalten.³¹
Damit wird Hegels Annahme einer Analogie von Tragödie und Weltgeschichte offensichtlich: So wie sich die Weltgeschichte teleologisch entwickelt, wie sich in ihr durch die partikularen Interessen und Leidenschaften der weltgeschichtlichen Individuen hindurch letztlich die Vernunft durchsetzt, wie in ihr die Subjekte hierfür allerdings in der Regel den Preis der Vernichtung zahlen müssen, die aber nur eine relative ist, weil die Individuen im Allgemeinen transzendiert werden – so läuft die griechische Tragödie teleologisch auf die tragische Versöhnung hinaus, in der die durch die tragischen Helden vertretenen Prinzipien in ihrer Partikularität in Kollision geraten, wodurch die Helden zwar untergehen, das Allgemeine sich aber durchsetzt, weshalb der Schluss der alten Tragödie letztlich immer eine Versöhnung darstellt.
2.1.2 Orient, Antike und Romantik. Zum Problem der modernen Subjektivität für die Tragödie Die Tragödie und die Weltgeschichte sind also bei Hegel in Struktur und Verlauf eng aufeinander bezogen.³² Neben dieser geschichtsphilosophischen Verquickung ist das Verhältnis von ‘Tragödie’ und ‘Geschichte’ aber auch noch auf einer gänzlich anderen Ebene der Argumentation aufschlussreich. Denn die attische Tragödie selbst ist bei Hegel keineswegs geschichtslos gedacht, sondern ihre Existenz ist in der Geschichte verankert. Dieser Ansatz ist zeitgenössisch nicht neu. Die Auffassung, dass Gattungen historisch variabel seien, hatte schon Herder in seinem berühmten Shakespear-Aufsatz aus dem Jahr 1773 vertreten, wo er die überzeitliche Geltung der aristotelischen Bestimmung von Tragödie und Komödie in der Poetik in Frage stellte, weil er sie als
Ebd., S. 526, Hervorh. i.O. Wurde hier vor allem darauf fokussiert, inwiefern die Tragödie in der Ästhetik analog zur Weltgeschichte entwickelt wird, so ist in anderen Werken Hegels zu beobachten, wie vice versa der Prozess der Weltgeschichte in Analogie zur Tragödie und zum Tragischen entworfen wird, etwa in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte oder im noch früheren Naturrechtsaufsatz (1802/03). Vgl. hierzu stellvertretend Schulte: Die „Tragödie im Sittlichen“ und Otto Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/Brsg., München 1973, insbesondere S. 79 – 109.
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theoretische Diskussion des zeit- und ortgebundenen attischen Dramas verstand.³³ Wie für Herder, so ist auch für Hegel die attische Tragödie ein Produkt der spezifischen Verhältnisse der griechischen Polis-Kultur. Aber anders als bei Herder, dessen Aufsatz ein Plädoyer für die Vorzüglichkeit der shakespeareschen Dramen ist, ist für Hegel das moderne Drama letztlich ein Verfallsprodukt. Dabei bezweifelt er nicht den ästhetischen Wert der modernen Dramen, insbesondere derjenigen Shakespeares, aber er stellt in Abrede, dass die dramatische Gattung in der Neuzeit ähnliches zu leisten imstande sei wie einst in der Antike. Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem von Hegels Zugriff auf die Gattung Tragödie und auf die ‘dramatische Poesie’: Hegel argumentiert sowohl systematisch als auch historisch. Die Tragödie wird in der Ästhetik systematisch gefasst, sie wird bestimmt durch Annahmen, die von Hegels Entwurf der Weltgeschichte abgeleitet sind. In der attischen Tragödie und Komödie und deren Theoretisierung in der Poetik des Aristoteles findet er ein paradigmatisches Anschauungsmaterial seiner Thesen.³⁴ An ihrem Beispiel entwirft Hegel ein klassizistisches Gattungsideal, das sich durch formale Geschlossenheit, durch die Struktur von Kollision und Versöhnung und durch das Pathos der tragischen Helden ausweist. Dieses Modell gewinnt in der Nähe zu Hegels geschichtsphilosophischem Entwurf des tragischen Verlaufs von Geschichte normative Geltung. Zugleich geht Hegel aber auch historisch vor, indem er die attische Tragödie und Komödie als zutiefst verankert versteht in der spezifischen kulturellen und politischen Situation der griechischen Polis-Gesellschaft. Diese Überkreuzung zweier Argumentationslogiken führt dazu, dass das moderne Drama nur als Depravation eingeordnet werden kann, weil es gemessen wird an einem Ideal, das in der Moderne unmöglich geworden ist. Hegels Argumentationsverfahren wird noch einmal deutlich, wenn man sich seinen Entwurf einer Geschichte der dramatischen Gattung vergegenwärtigt. Grundsätzlich unterscheidet er in der Ästhetik zwischen drei großen geschichtlichen Epochen: dem ‘Orient’, der ‘Antike’ und der bis in die Gegenwart reichenden ‘Romantik’. Ihnen werden jeweils die symbolische, klassische und romantische Kunstform zugeordnet. Der Orient, so argumentiert Hegel, habe zwar epische und lyrische Gattungen entwickelt, aber kein eigenständiges Drama: [Wir] können […] hier, wo es nicht um eine vollständige Kunstgeschichte zu tun ist, von vornherein diejenigen Anfänge der dramatischen Kunst beiseite stellen, welche wir im Orient antreffen. Wie
Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 2.2.1. Ähnlich argumentiert auch August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen Ueber dramatische Kunst und Literatur (1809/1811), in denen er Shakespeare und Calderón als paradigmatische Vertreter des ‘romantischen Dramas’ begreift, welches er als grundsätzlich neuen Typus Drama unterscheidet vom ‘klassischen Drama’ der Antike, das seine Fortsetzung in der französischen Klassik gefunden habe (vgl. Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Kritische Ausgabe, Bd. 2, hg. v. Giovanni V. Amoretti, Bonn u. a. 1923, S. 272– 274). Ähnlich auch Pillau (Die fortgedachte Dissonanz, S. 12): „In der Sicht Hegels gewinnt also die geschichtliche Erscheinung der antiken Tragödie einen übergeschichtlichen, normativen Rang. Sie liefert den anschaulichen Bezugspunkt für die Formulierung einer absoluten Dramenidee.“
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weit es nämlich die orientalische Poesie auch im Epos und in einigen Arten der Lyrik gebracht hat, so verbietet dennoch die ganze morgenländische Weltanschauung von Hause aus eine gemäße Ausbildung der dramatischen Kunst. Denn zum wahrhaft tragischen Handeln ist es notwendig, daß bereits das Prinzip der individuellen Freiheit und Selbständigkeit oder wenigstens die Selbstbestimmung, für die eigene Tat und deren Folgen frei aus sich selbst einstehen zu wollen, erwacht sei; und in noch höherem Grade muß für das Hervortreten der Komödie das freie Recht der Subjektivität und deren selbstgewisser Herrschaft sich hervorgetan haben. […] Wir finden deshalb dramatische Anfänge nur bei den Chinesen und Indern, doch auch hier, den wenigen Proben nach, die bis jetzt bekannt geworden sind, nicht als Durchführung eines freien, individuellen Handelns, sondern mehr nur als Verlebendigung von Ereignissen und Empfindungen zu bestimmten Situationen, die in gegenwärtigem Verlauf vorübergeführt werden.³⁵
Auch hier zeigt sich, dass Hegel apriorisch argumentiert: Weil er den Orient grundsätzlich als früheste Epochenstufe versteht, in der sich das Prinzip der freien individuellen Subjektivität noch nicht ausgebildet habe, und weil Individualisierung in Hegels Verständnis die notwendige Voraussetzung der Kollision und damit der Drehund Angelpunkt eines jeden Dramas sei, ist es argumentationslogisch unmöglich, dass sich ein orientalisches Drama ausgebildet haben könnte. An dieser theoretisch legitimierten Position dürfen und können auch die faktischen Entdeckungen altindischer oder chinesischer Dramen nichts ändern. Daher werden diese orientalischen Dramen klassifiziert als zu vernachlässigende Vorstufen, die nur eine Aneinanderfügung eigentlich lyrischer Sequenzen oder epischer Episoden darstellen. An anderer Stelle verifiziert Hegel diesen hier apriorisch hergeleiteten Mangel der Kollision an Kālidāsas Sakuntala. So handle es sich bei Sakuntala um „indische[] Lyrik“, was offensichtlich damit zusammenhängt, dass „die Kollision […], um welche sich in der Sakuntala die Handlung dreht, der zornige Fluch nämlich des Brahmanen, dem Sakuntala, weil sie ihn nicht sieht, ihre Ehrfurcht zu bezeigen unterläßt, […] uns nur absurd vorkommen“ müsse. Daher könne man bei „allen sonstigen Vorzügen dieses wunderbar lieblichen Gedichts dennoch für den wesentlichen Mittelpunkt der Handlung kein Interesse“ aufbringen.³⁶ Damit ist das berühmteste und zeitgenössisch ungemein populäre altindische Drama Sakuntala aus dem Gattungsdiskurs der ‘dramatischen Poesie’ ausgeschlossen. Den „eigentlichen Beginn der dramatischen Poesie“³⁷ sieht Hegel in Griechenland, wo sich die Individualisierung zwar noch nicht bis zum vollen Selbstbewusstsein, aber doch so weit ausgebildet habe, dass Tragödie und Komödie entstehen konnten, deren Konflikte notwendig um Individuen zentriert seien. Die plastischen Helden der Antike seien „weder das, was wir im modernen Sinne des Worts Charaktere nennen, noch aber bloße Abstraktionen“, vielmehr stünden sie „in der lebendigen Mitte zwischen beidem als feste Figuren, die nur das sind, was sie sind, ohne Kollision in sich selbst“.³⁸
Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 534 f., Hervorh. i.O. Ebd., S. 498. Ebd., S. 535. Ebd., S. 540.
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Diese Möglichkeit der Repräsentation allgemein sittlicher Prinzipien im Individuum, wie sie im Pathos des antiken Helden möglich war, geht nun nach Hegel in der romantischen Zeit verloren, weil ihre Grundzüge Individualisierung und Partikularisation sind. Die Konsequenz ist eine Dissoziation von Subjekt und äußerer Welt. Im romantischen Drama verlagert sich daher die Struktur von Kollision und Versöhnung in die dramatischen Charaktere: Während in der antiken Tragödie die identitäre Verknüpfung mit einem sittlichen Prinzip Movens für das Handeln der Helden ist, sind die modernen Charaktere von partikularen Zwecken und ihren individuellen Leidenschaften beherrscht.³⁹ Zeichnet sich die antike Tragödie aus durch eine Kollision, die durch den Widerstreit zweier sittlicher, aber partikularer Prinzipien entsteht, dann verlagert sich diese Kollision in der „modernen Tragödie“⁴⁰ in die Figuren selbst. Das beobachtet Hegel etwa in Shakespeares Hamlet (1603), wo er die Kollision im „subjektiven Charakter Hamlets“ verortet, „dessen edle Seele“ nicht dazu geschaffen sei, den eigenen Vater blutig zu rächen, weshalb er „voll Ekel an der Welt und am Leben, zwischen Entschluß, Proben und Anstalten zur Ausführung umhergetrieben“ werde und schließlich „durch das eigene Zaudern und die äußere Verwicklung der Umstände zugrunde“ gehe.⁴¹ Am Beispiel des Hamlet buchstabiert Hegel auch die dritte und letzte entscheidende Differenz zwischen antiker und moderner Tragödie aus: die unterschiedliche Qualität der dramatischen Versöhnung. Die antike Tragödie zeige zwar den Untergang der dramatischen Helden, aber ihr Sturz bringe „die ewige Gerechtigkeit“ zur Anschauung, „welche als absolute Macht des Schicksals den Einklang der sittlichen Substanz gegen die sich verselbständigenden und dadurch kollidierenden besonderen Mächte“⁴² rette. Das ist für Hegel, so wird schnell deutlich, die echte Versöhnung, die in der modernen Tragödie nur „abstrakter“ oder von „kälterer, kriminalistischer Natur“ ausfallen könne.⁴³ Oder aber, und das stellt sichtlich die größte Herausforderung für die Kategorie der Versöhnung dar, der Untergang der Individuen erscheine gar zufällig. Zufall hat aber nach Hegel in der geschlossenen Form der Tragödie nichts zu suchen, wie er überhaupt das besondere Potential der Kunst in der Idealisierung des Realen und damit in der Ausstreichung von Kontingenz sieht. Im Fall einer kontingent erscheinenden Vernichtung der Charaktere in der Tragödie, so Hegel, könne man sich daher überhaupt nur „versöhnt fühlen“, wenn die „äußeren Zustände“ mit dem in Einklang stünden, was „die eigentliche innere Natur jener schönen Charaktere“ ausmache – Hamlets „zufällig durch den Kampf mit Laertes und die Verwechslung der Degen“ herbeigeführter Tod wirke nur deshalb versöhnend, weil in „Hamlets Gemüt […] von Anfang an der Tod“ verwurzelt gewesen sei.⁴⁴ Aber eine solche Versöhnung in der romantischen Tragödie ist nicht von so umfassender, ja
Vgl. ebd., S. 556 – 559. Ebd., S. 558. Ebd., S. 559. Ebd., S. 565. Ebd. Ebd., S. 566.
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nicht von so versöhnender Natur wie in der Antike: „Dies Weh aber, das uns befällt, ist eine nur schmerzliche Versöhnung, eine unglückselige Seligkeit im Unglück.“⁴⁵ Während Hegel aber bei Shakespeare immerhin noch ein Innen und Außen erkennt, sieht er in späteren modernen Dramen den Konflikt zunehmend in die inneren Dissonanzen der Charaktere verlagert. Zur Disposition steht damit die privilegierte Position des Dramas. Hier wird deutlich, dass Hegels Antike wesentlich vom Standpunkt der Moderne als ein Gegenmodell entwickelt ist. Die attische Tragödie, so hat Roland Galle herausgearbeitet, ist von Hegel als ästhetischer Ort entworfen, der in der Kunst der Moderne nicht mehr existiert: als Ort, in dem es möglich war, weltgeschichtlich zentrale Auseinandersetzungen zu führen.⁴⁶ Mit dem Verlust dieses Potentials durch die modernen Prozesse der Subjektivierung wird auch die Analogie von Geschichtsprozess und Dramenstruktur brüchig, aus der sich bei Hegel die außerordentliche Bedeutung des Dramas ableitet. Das moderne Drama kann die Wirklichkeit nur noch partikular thematisieren, nicht aber den Geschichtsverlauf selbst repräsentieren. Die moderne „frei in sich selbst sich geistig bewegende absolute[] Subjektivität, die, in sich befriedigt, sich nicht mehr mit dem Objektiven und Besonderen einigt“,⁴⁷ ist daher zwar als Fortschritt des Weltgeistes zu begreifen, aber sie schwächt die Geltungskraft der dramatischen Poesie. In der Konsequenz schließt die Ästhetik mit der Proklamation der Komödie als Endstufe der Kunst: Mit den Ausbildungsarten der Komödie sind wir jetzt an das wirkliche Ende unserer wissenschaftlichen Erörterung angelangt. Wir begannen mit der symbolischen Kunst, in welcher die Subjektivität sich als Inhalt und Form zu finden und objektiv zu werden ringt; wir schritten zur klassischen Plastik fort, die das für sich klar gewordene Substantielle in lebendiger Individualität vor sich hinstellt, und endeten in der romantischen Kunst des Gemüts und der Innigkeit mit der frei in sich selbst sich geistig bewegenden absoluten Subjektivität, die, in sich befriedigt, sich nicht mehr mit dem Objektiven und Besonderen einigt und sich das Negative dieser Auflösung in dem Humor der Komik zum Bewußtsein bringt. Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt.⁴⁸
Die Komödie ist hier die letzte und höchste künstlerische Ausdrucksform, in der im Modus der Komik die Unmöglichkeit des Ausgleichs von Allgemeinem und Besonderem im Zeitalter der ‘selbstbezüglichen Subjektivität’ aufscheint.⁴⁹ Sie zeigt damit aber zugleich an, dass in der Moderne endgültig das Potential verloren gegangen ist, weltgeschichtlich repräsentative Auseinandersetzungen in der Gattung Drama zu
Ebd., S. 567, Hervorh. i.O. Vgl. Galle: Hegels Dramentheorie und ihre Wirkung, S. 266 f. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 572. Ebd. Zur Bedeutung der Komödie für Hegels Verständnis der romantischen Kunst vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Drama oder Komödie? Hegels Konzeption des Komischen und des Humors als Paradigma der romantischen Kunstform, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, hg.v. ders., Lu de Vos und Bernadette Collenberg-Plotnivok, München 2005 (Neuzeit & Gegenwart. Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft), S. 175 – 187.
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führen, wie es idealtypisch noch in der attischen Tragödie der Fall war. Dieser Verlust, den die höchste Kunstgattung erfahren hat, besiegelt das ‘Ende der Kunst’. Implizit begründet Hegel mit dieser Absage an das einstmalig umfassende Repräsentationspotential der höchsten Kunstgattung eine Aufwertung des eigenen Gegenstandes: Denn die Philosophie vermag nunmehr zu leisten und zu integrieren, was dem Drama in der Moderne nicht mehr möglich ist.⁵⁰
2.1.3 Walhall oder der Olymp? Die Diskussion um den angemessenen Tragödienstoff bei Hegel und Rötscher Die Historisierung der attischen Tragödie, die auch schon bei Hegel Ambivalenzen unterliegt, weil er der Tragödie trotz der historischen Situierung in seiner geschichtsphilosophischen Interpretation normative Geltung zuspricht, ist in der Wirkungsgeschichte der hegelschen Dramentheorie im 19. Jahrhundert vielfach nicht mit vollzogen worden.⁵¹ Ästhetiker wie Theodor Rötscher, Arnold Ruge, Friedrich Theodor
Hier kann nur kurz an die Bedeutung von Hegels berühmter These vom ‘Ende der Kunst’ erinnert werden, die im oben angeführten Zitat vertreten wird, wenn es heißt, die Komödie führe zur „Auflösung der Kunst überhaupt“ (Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 572). Dieter Henrich hat darauf hingewiesen, dass Hegel seine Rede vom ‘Ende der Kunst’ bis 1828 noch proklamatorisch als „faktische[s] Ende der Kunst“ verstanden habe, um sie später zu modifizieren hin zu einer „verhaltene[n] Rechtfertigung relativierter künstlerischer Möglichkeiten der Zukunft“ (Zur Aktualität von Hegels Ästhetik. Überlegungen am Schluß des Kolloquiums über Hegels Kunstphilosophie, in: Hegel-Studien, Beiheft 11 [1974], S. 295 – 301, hier S. 296). In dieser abgeschwächten Form ist mit der Formel vom ‘Ende der Kunst’ keine vollkommene Absage an die Kunstproduktion der Gegenwart verbunden. Aber Hegel vertritt damit die Auffassung, dass moderne Kunst aufgrund der ‘selbstbezüglichen Subjektivität’ als Kennzeichen der Moderne unvermeidlich reflexive Kunst sein müsse. Kunst verliert demnach in der Moderne ihre frühere umfassende repräsentative Funktion und wird vollständig ästhetisch. Argumentationslogisch begründet er damit eine Aufwertung der Philosophie. Denn die Kunst der Moderne wird so in sich partiell und endgültig geschieden von der Philosophie, deren Integrationspotentiale diejenigen der Kunst übertreffen.Vgl. hierzu auch Martin Donougho: Art and History: Hegel on the End, the Beginning and the Future of Art, in: Hegel and the Arts, hg.v. Stephen Houlgate, Evanston/Illinois 2007, S. 179 – 215; Vesa Oittinen: Antike Tragödie und dialektische Moderne in Hegels Ästhetik, in: Hegel-Jahrbuch 1999, S. 126 – 135 und Gerhard Plumpe: Das Reale und die Kunst. Ästhetische Theorie im 19. Jahrhundert, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848 – 1890, hg.v. Edward McInnes und Gerhard Plumpe, München, Wien 1996, S. 242– 307, hier S. 254– 262. Das gilt im Übrigen vereinzelt auch bis in die jüngere Forschung. So rekapituliert Silvia Serena Tschopp in einem Aufsatz zum Zusammenhang zwischen Dramenform und Geschichtsauffassung im 19. Jahrhundert zunächst Hegels an Aristoteles’ Poetik und der attischen Tragödie entwickeltes „klassizistisches Dramenmodell“ (Inszenierte Geschichte, S. 370) und dessen Analogie zu seiner Geschichtsphilosophie. Dabei spart sie aber seine Gedanken zum romantischen Drama und zur Historisierung der attischen Tragödie aus, um dann zu formulieren: „Hegels Modell einer teleologisch verlaufenden,von ‘welthistorischen Individuen’ vorangetriebenen Universalgeschichte impliziert einen
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Vischer, Theodor Mundt, Robert Prutz und Hermann Hettner⁵² schließen zwar an Hegels Analogisierung von Weltgeschichte und Dramenform an und übernehmen das spezifische Vokabular von Kollision und Versöhnung, blenden aber Hegels Historisierung der attischen Tragödie regelmäßig aus.⁵³ Zwei Beispiele für diese Dehistorisierung des Tragödienbegriffs mögen ausreichen: Hermann Hettner folgt in seiner einflussreichen ästhetischen Abhandlung Das moderne Drama (1852) zunächst explizit Hegels Shakespeare-Analyse, derzufolge in Shakespeares Tragödien die „Charaktere nicht sittlich berechtigt seien, sondern nur von der formellen Nothwendigkeit ihrer Individualität getragen“⁵⁴ würden. Er sieht dann allerdings in Goethes Faust und Tasso die „höchste Tragik“, nämlich die „Tragödie der Idee“⁵⁵ umgesetzt, weil in beiden Texten der Konflikt nicht in den individuellen Charakteren stattfinde, sondern in der Dialektik der „große[n] Weltprobleme“⁵⁶. Wo Hegel in der Moderne den Fortschritt des Weltgeists im Prinzip der Subjektivität und Partikularisierung identifiziert, mit der die Darstellung weltge-
Konfigurationsmodus von Historie, der, ungeachtet der Bedeutung, die Hegels geschichtsphilosophischen und ästhetischen Postulaten im Kontext historischer Diskurse zukommt, wesentliche Momente neuerer Wahrnehmungsmuster von Geschichte, wie sie sich seit der Spätaufklärung herausgebildet hatten, nicht zu integrieren vermag. Welchen Sinn macht ein Drama, das ‘welthistorische Individuen’ auf die Bühne bringt, wenn die Geschichtsmächtigkeit des Subjekts – nicht zuletzt von Hegel selbst – einer zunehmend skeptischeren Befragung ausgesetzt wird?“ (S. 374). Mag die Diagnose, das geschichtsphilosophische Geschichtsmodell gerate in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Konflikt mit der zeitgenössischen Erfahrungswelt, grundsätzlich zutreffen, so läuft doch die Kritik an Hegels Dramenmodell ins Leere, denn Hegel selbst hätte – wie bereits ausführlich dargelegt – vehement bestritten, dass es im zeitgenössischen Drama möglich sei, geschichtsmächtige Helden auf die Bühne zu bringen. Vgl. hierzu die wichtigsten Schriften von Theodor Rötscher: Aristophanes und sein Zeitalter. Eine philologisch-philosophische Abhandlung zur Alterthumsforschung, Berlin 1827; ders.: Die Kunst der dramatischen Darstellung. In ihrem organischen Zusammenhange wissenschaftlich entwickelt, 3 Bde., Berlin 1841– 1846; Arnold Ruge: Neue Vorschule der Aesthetik. Das Komische mit einem komischen Anhange, Halle 1837; Friedrich Theodor Vischer: Ueber das Erhabene und Komische, ein Beitrag zur Philosophie des Schönen, Stuttgart 1837; ders.: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Dritter Theil, Zweiter Abschnitt: Die Künste, Fünftes Heft: Die Dichtkunst, Stuttgart 1857; Theodor Mundt: Dramaturgie, oder: Theorie und Geschichte der dramatischen Kunst, 2 Bde., Berlin 1848; Robert Prutz: Das Drama der Gegenwart, in: Deutsches Museum 1 (1851), S. 697– 705; Hermann Hettner: Das moderne Drama. Aesthetische Untersuchungen, Braunschweig 1852. Die Verbindungslinien und Differenzen hegelscher und nachhegelscher Dramentheorien sind bisher kaum erforscht. Verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang nur auf den Aufsatz von Georg Lukács: Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer [1934], in: Ders.: Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, Berlin 21956, S. 217– 285, in dem es um das Problem nachhegelscher Ästhetiken geht; auf den Beitrag von Galle: Hegels Dramentheorie und ihre Wirkung, der sich auf die Rezeption von Hegels Tragödientheorie bei Marx, Engels und Lassalle beschränkt; und schließlich auf die etwas breiter angelegte Studie von Otto-Reinhard Dithmar: Deutsche Dramaturgie zwischen Hegel und Hettner und die Wende von 1840, Heidelberg 1966. Hettner: Das moderne Drama, S. 101. Ebd., S. 107. Ebd., S. 103.
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schichtlicher Auseinandersetzung im romantischen Drama unmöglich wird, da erkennt Hettner im Fortschritt des Weltgeistes eine Chance für das moderne Drama: [A]n Tiefe der Idee ist die Goethe’sche Dichtung der Shakespeare’schen unendlich überlegen. […] Wenn man im Vergleich zu Shakespeare von einem tieferen Gehalt der Goethe’schen Poesie spricht, so heißt dies nur, der Dichter des neunzehnten Jahrhunderts fußt auf einer tieferen Weltanschauung als der Dichter des siebzehnten. Das aber wäre ein Zweifel an dem Fortschritte der Geschichte, wollte man zögern, diese einfache Thatsache mit freudigem Herzen anzuerkennen.⁵⁷
Dass Hettner neben Goethes Faust und Tasso ein ebenso vollendetes Muster „principielle[r] Tragik“⁵⁸ in der sophokleischen Antigone ausmacht, die zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt im Fortschrittsprozess der Weltgeschichte geschrieben wurde, offenbart die Eigenwilligkeiten der Regeln des geschichtsphilosophischen Dramendiskurses, in dem die griechische Antike stets als zentrales Paradigma gesetzt wurde. Als zweites Beispiel für die typische Ausblendung von Hegels Historisierungsimpulsen bei der Rezeption seiner Theoreme kann auf Robert Prutz’ Kritik an Hebbel hingewiesen werden, in der er 1864 formuliert, Aufgabe des zeitgenössischen „dramatischen Dichter[s]“ sei es, „den Weltlauf widerzuspiegeln“. Daraus leitet er die Forderungen ab, dass erstens jeder Dichter „fest durchdrungen sei von dem Glauben an die fortschreitende Macht und darum auch an den endlichen Sieg des Guten und Schönen“ und dass er zweitens „das Talent besitze, uns diesen Sieg auch bereits ahnen zu lassen, wo das gewöhnliche Auge nichts sieht als Tod und Untergang.“⁵⁹ Prutz glaubt also (im Übrigen wie Hebbel selbst) an das Potential des Dramas in der Gegenwart, Geschichte in nuce darzustellen, sieht aber Hebbel an diesem Anspruch scheitern. Die beiden Beispiele zeigen: So sehr die dramentheoretischen Schriften in Hegels Fahrwasser in verschiedenen Aspekten auch divergieren, so ist ihnen doch ein zentraler Punkt gemeinsam, nämlich dass ihre Verfasser sich einig sind im grundsätzlichen Glauben an das ungebrochene Potential der dramatischen Gattung, auch im modernen Zeitalter noch weltgeschichtliche Auseinandersetzungen zu formulieren. Die Hegel-Rezeption in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweist sich so als produktive Fehllektüre, die große Wirkung zeitigte, indem Hegels geschichtsphilosophische Gattungsbestimmung ungeachtet der fundamentalen Problematisierung des Dramas in der Moderne in ein Anforderungsprofil für moderne Dramatik übersetzt wurde. Diese entscheidende Differenz zwischen Hegels Argumentation und ihrer hegelianischen Transformation lässt sich exemplarisch an einer Gegenüberstellung der Aussagen von Hegel und Theodor Rötscher über die Dignität historischer Stoffe dis-
Ebd., S. 106 f. Ebd., S. 107. Robert Prutz: Friedrich Hebbel, in: Deutsches Museum 14 (1864), S. 67– 73, hier S. 69.
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kutieren. Zugleich wird in diesem sachlichen Fokus der Ort sichtbar, wo in je unterschiedlichen Graden in Hegels Dramenästhetik die anderen Altertümer neben der latent privilegierten griechischen Antike einen eigenen Stellenwert erhalten. Die Diskussion bei Hegel und Rötscher über historische Stoffe berührt die alte Frage, wie das Verhältnis von ‘Poesie’ und ‘Geschichte’ zu bestimmen sei, die im Anschluss an Aristoteles über weite Teile des 18. Jahrhunderts zumeist mit einer Vorrangstellung der Poesie vor der Geschichte beantwortet worden war. Sie wurde um 1800 neu virulent, und die Debatten rissen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch nicht ab.⁶⁰ Die Auseinandersetzungen kreisten vor allem um zwei Punkte: Zum einen wurde das Problem verhandelt, ob historischen Stoffen eine besondere – ästhetische, moralische, gesellschaftliche oder nationale – Dignität zukomme. Zum anderen stellte sich im Zusammenhang mit überlieferten Stoffen die Frage, ob der Dichter in seiner Darstellung an die historischen Fakten gebunden sei, oder aber an eine (verschieden bestimmte) ‘innere Wahrheit’ der Geschichte. Beiden Fragen geht auch Hegel in der Ästhetik nach, allerdings nicht im Kontext seiner Diskussion der ‘dramatischen Poesie’, sondern im Rahmen der allgemeinen
Das gilt etwa im Kontext der Diskussion über die Gattung des historischen Dramas. 1852 brachte Hermann Hettner in den ersten Sätzen seiner Abhandlung Das moderne Drama diese neue Popularität der Historie in der Dramatik auf den Punkt: „Historische Dramen! Das ist die Losung, die man überall hört, seitdem sich bei uns wieder die Keime einer neuen dramatischen Poesie zu regen beginnen.“ (Das moderne Drama, S. 3). Die Gattung des ‘historischen Dramas’ wird im 19. Jahrhundert sehr verschieden akzentuiert, und sie wird häufig verbunden mit dem Bedürfnis nach einer nationalen Dramatik. Dabei kann unterschieden werden zwischen einem historiographischen und einem geschichtsphilosophischen Anspruch. Beide Ansprüche können, müssen aber nicht zusammenlaufen und werden teilweise als einander widerstreitende Prinzipien verstanden, wie sich im Folgenden exemplarisch an der Abhandlung Das Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffes (1846) von Theodor Rötscher zeigen wird. Zum Verhältnis von Geschichte und Drama im 18. und 19. Jahrhundert sowie zur Gattung des Geschichtsdramas (und der Problematik einer solchen Gattungsbestimmung) vgl. die einschlägigen Arbeiten von Wolfgang Düsing: Einleitung. Zur Gattung Geschichtsdrama, in: Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun, hg.v. dems., Tübingen, Basel 1998 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Bd. 19), S. 1– 10; Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart, Tübingen 1990, S. 58 – 83; Walter Hinck: Einleitung: Zur Poetik des Geschichtsdramas, in: Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen, hg.v. dems., Frankfurt/ Main 1981, S. 7– 21; Werner Keller: Drama und Geschichte, in: Beiträge zur Poetik des Dramas, hg.v. dems., Darmstadt 1976, S. 298 – 339; Elfriede Neubuhr: Einleitung, in: Geschichtsdrama, hg.v. ders., Darmstadt 1980 (Wege der Forschung, Bd. 485), S. 1– 37; Gertrud Maria Rösch: Geschichte und Gesellschaft im Drama, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, begr. v. Rolf Grimminger, Bd. 5: Zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848, hg.v. Gert Sautermeister und Ulrich Schmid, München, Wien 1998, S. 378 – 420; Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Geschichte eines literarischen Mythos, Stuttgart 21969; Claudia Stockinger: Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués, insbesondere S. 101– 120 und S. 160 – 169 und Rosmarie Zeller: Dantons Tod und die Poetik des Geschichtsdramas, in: Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Referate, hg.v. Burghard Dedner und Günter Oesterle, Frankfurt/Main 1990 (Büchner-Studien, Bd. 6), S. 146 – 174, insbesondere S. 148 – 160.
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Ausführungen zum ‘Kunstschönen’. Das Problem historischer Stoffe stellt sich ihm primär in einer rezeptionstheoretischen Perspektive. Weil es ein Publikum gebe, das fordern dürfe, „das Kunstwerk zu verstehen und darin heimisch zu werden“,⁶¹ so der Argumentationszusammenhang, könne die grundsätzlich zu befürwortende Vorliebe von Künstlern für „Stoffe aus vergangenen Zeiten, deren Bildung, Sitten, Gebräuche, Verfassung, Kultus verschieden“ sei „von der gesamten Bildung ihrer eigenen Gegenwart“, zum Nachteil des Kunstwerks gereichen, wenn dadurch dem Publikum das Verständnis erschwert werde.⁶² Der Vorteil einer solchen Stoffwahl liegt für Hegel allerdings allen hermeneutischen Bedenken zum Trotz auf der Hand, werde doch durch „dies Hinausrücken aus der Unmittelbarkeit und Gegenwart durch die Erinnerung von selber schon jene Verallgemeinerung des Stoffs zuwege“ gebracht, „deren die Kunst nicht entbehren“ könne.⁶³ Die Valenz historischer oder mythologischer Stoffe liegt also in der Distanzqualität zur eigenen, nur partikularisiert wahrnehmbaren Gegenwart und in dem damit korrespondierenden Potential, das Allgemeine zur Anschauung zu bringen. Wie groß die historische Distanz und die kulturelle Differenz eines Stoffs zur eigenen Gegenwart und ‘Nation’ idealiter sein soll, ist damit allerdings noch ebenso wenig geklärt wie die Frage beantwortet ist, inwiefern der Dichter durch den Rückgriff auf einen historischen Stoff an die Faktizität der Geschichte gebunden sei. Hegels Argumentation verfährt hier über weite Teile ex negativo, indem er Beispiele aus der Literatur anführt, die er als entweder zu ‘subjektiv’ allein in der eigenen Gegenwart verankert oder als zu ‘objektiv’ historiographisch verfahrend einordnet. Dagegen setzt er das ästhetische Ideal einer „wahrhafte[n] Objektivität in der Darstellung und Aneignung fremder, der Zeit und Nationalität nach entlegener Stoffe“,⁶⁴ die darin bestehe, den „substantiellen Gehalt einer Situation“⁶⁵ auszudrücken, in welcher sich der Weltgeist in der Individualität dieser Situation offenbare. Zweierlei ist auffällig an Hegels Argumentation: Zum einen wird ein ‘Stoff’ für Hegel implizit durch Handlungsstrukturen konkretisiert, denn obwohl seine Beobachtung einer Präferenz für historische und mythologische Stoffe ausdrücklich „Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker“⁶⁶ umfasst, sind die gewählten Exempla ausschließlich der Dichtung entnommen und zwar vor allem der Dramatik und zum Teil auch der Oper. Zum anderen wird an diesen Beispielen auch deutlich, dass Hegel bei „Stoffe[n] aus vergangenen Zeiten“⁶⁷ implizit vor allem an historische oder mythologische Stoffe der griechischen Antike oder anderer Altertumskulturen denkt. Abgesehen von einigen Dramen vornehmlich Goethes und Schillers, die historische Stoffe
Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 343. Ebd., S. 342. Ebd. Ebd., S. 344. Ebd., S. 361. Ebd., S. 342. Ebd.
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jüngeren Datums aufgreifen, entwirft Hegel ein potentiell geeignetes Stoffreservoir für die Kunst, das biblische Stoffe ebenso umfasst wie diejenigen der griechischen Antike oder der indischen, ägyptischen, skandinavischen und ‘vaterländischen’ Mythologie und alten Geschichte. Diese grundsätzliche Öffnung und Präferenz für Stoffe aller Altertumskulturen findet ihre Grenze allerdings in einem rezeptionsästhetischen Argument. Weil die Valenz von Stoffen nach Hegel abhängig ist vom potentiellen Publikum derjenigen ‘Nation’, in der ein Kunstwerk entsteht, muss es diesem Publikum problemlos möglich sein, eine hermeneutische Brücke zwischen der eigenen Gegenwart und der im Kunstwerk aufgerufenen Vergangenheit zu bilden. Damit ist die Brauchbarkeit mythologischer und historischer Altertumsstoffe, so Hegels erstes Argument, abhängig von der Bildung des angesprochenen Publikums: [Uns] kann […] das Historische einer früheren Mythologie, das Fremdartige historischer Staatszustände und Sitten dadurch bekannt und angeeignet sein, daß wir durch die allgemeine Bildung der Zeit auch mannigfache Kenntnis von der Vergangenheit haben. So macht z. B. die Bekanntschaft mit der Kunst und Mythologie, mit der Literatur, dem Kultus, den Gebräuchen des Altertums den Ausgangspunkt unserer heutigen Bildung aus: jeder Knabe schon kennt aus der Schule her die griechischen Götter, Heroen und historischen Figuren. Wir können deshalb die Gestalten und Interessen der griechischen Welt, insoweit sie in der Vorstellung zu den unsrigen geworden sind, auch auf dem Boden der Vorstellung mitgenießen, und es ist nicht zu sagen, weshalb wir es nicht mit der indischen oder ägyptischen und skandinavischen Mythologie ebensoweit sollten bringen können.⁶⁸
Die besondere Valenz griechischer Stoffe zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist demnach in erster Linie der zeitgenössischen humanistischen Bildung geschuldet und nicht einer besonderen Dignität der griechischen Antike. Im Gegenteil, die Mythologien anderer Altertumskulturen sind der Antike als potentieller Stoffpool grundsätzlich gleichgestellt, finden die Grenzen ihrer Brauchbarkeit allerdings im Bildungsstand einer ‘Nation’. Hegels zweites Argument für die eingeschränkte Verwendbarkeit bestimmter Stoffe hängt eng mit dieser Denkfigur zusammen. Denn die spezifischen Valenzen von Stoffen sind darüber hinaus gekoppelt an die genealogische Anschlussfähigkeit an die jeweilige Nation: Das Geschichtliche ist nur dann das Unsrige, wenn es der Nation angehört, der wir angehören, oder wenn wir die Gegenwart überhaupt als eine Folge derjenigen Begebenheiten ansehen können, in deren Kette die dargestellten Charaktere oder Taten ein wesentliches Glied ausmachen. Denn auch der bloße Zusammenhang des gleichen Bodens und Volks reicht nicht letztlich aus, sondern die Vergangenheit selbst des eigenen Volks muß in näherer Beziehung zu unserem Zustand, Leben und Dasein stehen. In dem Nibelungenlied z. B. sind wir zwar geographisch auf einheimischen Boden, aber die Burgunder und König Etzel sind so sehr von allen Verhältnissen unserer gegenwärtigen Bildung und deren vaterländischen Interessen abgeschnitten, daß wir selbst ohne Gelehrsamkeit in den Gedichten Homers uns weit heimatlicher empfinden können. So
Ebd., S. 351 f.
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ist Klopstock zwar durch den Trieb nach Vaterländischem veranlaßt worden, an die Stelle der griechischen Mythologie die skandinavischen Götter zu setzen, aber Wodan, Walhalla und Freia sind bloße Namen geblieben, die weniger noch als Jupiter und der Olymp unserer Vorstellung angehören oder zu unserem Gemüte sprechen.⁶⁹
Die Frage ‘Walhall oder Olymp?’ ist darum für Hegel eindeutig zu beantworten: Die genealogischen Bande der eigenen Gegenwart sind in seinem Bewusstsein weitaus enger an die griechischen Antike geknüpft als an das deutsche Altertum und Mittelalter und die nordische Mythologie. Nicht unbedingt historische Kontinuität bestimmt demnach die Eignung von Stoffen, sondern vielmehr der Grad einer vorausgesetzten geistigen Genealogie. Ein guter Stoff zeichnet sich also auch dadurch aus, dass es dem Publikum im Akt seiner Rezeption gelingen kann, kulturelle, politische oder sittliche Verbindungslinien zur eigenen Gegenwart herzustellen. Die Diskussion um den angemessenen Stoff erweist sich damit als einzige systematische Funktionsstelle in Hegels Ästhetik, in der andere Altertumskulturen als die Antike ins Spiel kommen. Aber auch hier wird latent die Dominanz der griechischen Antike bekräftigt. Ein anderes Bild bieten in dieser Hinsicht die Abhandlungen von Heinrich Theodor Rötscher. Auch Rötscher widmete sich der Frage nach der Bedeutung der Geschichte für die Dramatik und nach der Verbindlichkeit des historischen Stoffs für den Dramatiker, am ausführlichsten in seiner Schrift über Das Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffes (1846). Er hatte in Berlin bei Hegel und Boeckh, dann in Leipzig bei Johann Gottfried Hermann studiert und später in Berlin promoviert und habilitiert, wo er sich schnell einen Namen als einer der bekanntesten Theaterkritiker, Schauspieltheoretiker und Dramaturgen seiner Zeit machte. Obgleich Rötscher in Das Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffes mit hegelschen Theoremen operiert, kommt er in der Abhandlung zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen als sein Lehrer, mit wichtigen Konsequenzen für den Stellenwert der Altertümer im dramentheoretischen Diskurs. Anders als im entsprechenden Abschnitt von Hegels Ästhetik behandelt Rötscher das Verhältnis der Geschichte zur Dramatik und nicht zur Kunst im Ganzen. Während Hegel das Problem in der Ästhetik rezeptionsästhetisch angeht, rückt Rötscher die im Anschluss an Hegel formulierte strukturelle Analogie der Gattung Drama zum Verlauf der Weltgeschichte ins Zentrum seiner Argumentation. Für Rötscher ist es die „höchste Aufgabe der dramatischen Poesie, den Geist der Geschichte abzuspiegeln“.⁷⁰ Ihm erscheinen die „geschichtliche und die dramatische Bewegung […] als zwei Seiten ein und desselben Geistes, welcher sich in der Geschichte im Element des Realen, in der dramatischen Poesie im Element des Idealen“ darstelle.⁷¹ Anders als bei Hegel sind die
Ebd., S. 352 f. Heinrich Theodor Rötscher: Das Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffes, in: Ders.: Kunst der dramatischen Darstellung, Bd. 3, Berlin 1846, S. 3 – 54, hier S. 49 f. Ebd., S. 51, Hervorh. i.O.
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
Formulierungen aber nicht auf die Antike gemünzt, sondern sie betreffen die zeitgenössische Gegenwart. Für Rötscher hat das Drama sein exzeptionelles Potential, den Verlauf der Weltgeschichte in nuce darstellen zu können, in der Moderne keineswegs eingebüßt. Eine besondere Bedeutung kommt in Rötschers Argumentation dabei dem ‘historischen Charakter’ zu. Nach seinem Verständnis zeichnet sich ein ‘historischer Charakter’ im engsten Sinn durch das Eingreifen in „die geschichtliche Bewegung“ aus, verbunden mit der Verkörperung „einer bestimmten Geistesrichtung, bestimmter geschichtlicher Interessen.“⁷² Darin ähnelt Rötschers ‘historischer Charakter’ Hegels ‘tragischem Helden’ der attischen Tragödie, der durch das Pathos bestimmt ist, also durch die Identifikation mit einem sittlichen, aber partikularen Prinzip. Und in der Tat laufen in Rötschers Figur des ‘historischen Charakters’ Weltgeschichte und die Gattung des Dramas zusammen, indem der ‘historische Charakter’ der ideale Held eines Dramas ist. Es ist die unterschiedliche Qualität des Pathos, die nach Rötscher manche Charaktere im Vergleich zu anderen zu ‘historischeren’ macht: In wem sich also ein Organ des allgemeinen geschichtlichen Geistes darstellt, in dem erkennen wir ein organisch in den Gang der Entwicklung eingreifendes Individuum an, wogegen wir einem von höhern Zwecken fernen, nur gemeinen Interessen dienenden, oder nur von andern zur Ausführung gewisser Absichten verwendeten Individuum nur ein mechanisches Eingreifen in die geschichtliche Bewegung zuschreiben […]. Nach dieser Unterscheidung […] ist z. B. Brutus organischer, als der Mörder Wallensteins, weil in dem Ersteren das Bewußtsein einer Idee lebendig war, also ein wirkliches Pathos ihn beherrschte; letzterer nur als ein Werkzeug der Rache, ohne höhere Zwecke erscheint.⁷³
In Kombination mit der Bestimmung der Aufgabe des Dramatikers, den „Prozeß der Geschichte nachzudichten“⁷⁴ ergeben sich aus Rötschers qualitativer Differenzierung verschiedener ‘historischer Charaktere’ Antworten auf die Fragen, welche Potentiale historische Stoffe haben und inwiefern die Freiheit des Dichters im Umgang mit dem gewählten Stoff letztlich doch Grenzen in den historischen Fakten findet. Denn zum ersten ist die besondere Valenz historischer Stoffe motiviert durch das Pathos ‘historischer Charaktere’ und ihr Eingreifen in die Weltgeschichte, weil sich hier der Verlauf von Weltgeschichte schon im Stoff selbst manifestiert. Zum zweiten leitet Rötscher von der Bedeutung des ‘historischen Charakters’ die Auffassung ab, dass der Dramatiker, obgleich Rötscher eigentlich unermüdlich das „absolute Recht der Abweichung der Poesie von der Geschichte, sowohl im Ganzen der Handlung, als in der Zeichnung der einzelnen Charaktere“⁷⁵ predigt, sehr wohl gebunden sein könne an die Faktizität der Geschichte:
Ebd., S. 22. Ebd., S. 22 f., Hervorh. i.O. Ebd., S. 50. Ebd., S. 25.
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Nun liegt es in der Natur der Sache, daß, je inhaltvoller, weitgreifender und kampfreicher eine Periode der Geschichte ist, je mehr sich in ihr eine Katastrophe der menschheitlichen Entwicklung darstellt, sie auch um desto weniger einer Umgestaltung durch die Poesie bedürftig ist […]. Wo der Weltgeist, d. h. die in der Bewegung der Geschichte sich kämpfend offenbarende und durch die Auflösung der Gegensätze sich unablässig bethätigende Vernunft ihre Arbeit vollbracht und sich gleichsam in einen Brennpunkt gesammelt hat, da kann die Poesie ihrer Seits Nichts erfinden, was durch Reichthum und Großartigkeit die Geschichte hinter sich zurückließe […]. […] Wie will man Pericles, Alexander, Hannibal und Cäsar, wie die Hohenstaufen und die großen sie bekämpfenden Päbste, wie Luther und Gustav Adolf, wie Cromwell, Mirabeau und Napoleon, in denen das Bewußtsein ihres Princips, die Leidenschaft ihres Wollens, die Größe ihrer Zwecke von der Geschichte mit so fest ausgeprägten Zügen herausgearbeitet worden sind, durch eine Umgestaltung, durch eigenmächtige Zuthat größer formen, als sie der Geist der Geschichte geformt hat! […] Also nicht die Pietät gegen die historische Wahrheit macht den Dichter treu und ergeben gegen die historische Ueberlieferung, sondern die Erkenntniß, den Weltgeist nicht durch Umgestalten überholen, nicht nothwendiger in seinem Gange, nicht stärker und prägnanter in seinen Gestalten sein zu können, als der Weltgeist. Darum ist der Dichter, je mehr die Geschichte zur Special- und Particulargeschichte wird, um so freier in seinem Stoffe, weil der Geist der Geschichte hier nicht in so großartigen Zügen sichtbar, nicht in so durchdringenden Tönen vernehmbar ist, als in den eigentlichen weltgeschichtlichen Entwicklungsphasen, weil also der geschichtliche Stoff hier nicht so durchgeistigt, die Charaktere nicht zu so plastischen Gestalten gediehen sind, als da, wo dieselben Träger weltgeschichtlicher Ideen, Kämpfer großer weltbewegender Gegensätze sind. Hier kann also wohl der Dichter die Geschichte in mancher Beziehung überholen und darum allein, nimmermehr aber, weil er dem historischen Stoffe eine geringere Pietät schuldig ist, erscheint der Dichter in diesem Gebiete freier und selbstständiger, als bei Stoffen von weltgeschichtlicher Bedeutung.⁷⁶
Die Analogie von Weltgeschichte und dramatischer Poesie, die sich in Hegels Ästhetik durch eine ähnliche Struktur des Untergangs des Besonderen und seiner Transzendierung im Allgemeinen ergibt, wird bei Rötscher direkt auf das Problem der Dramenstoffe übertragen. Nun ist es der Weltgeist selbst, der Charaktere und Stoffe schon vorbildet, und die höchste Aufgabe des Dramatikers besteht allein in der Adaption eines solchen Stoffs und in seiner Vereinfachung, um „die geschichtliche Breite in die Gedrungenheit charaktervoller Entwicklung“⁷⁷ zu verwandeln. Je historischer ein Charakter ist, so lautet Rötschers Credo, desto enger ist die Dichtung gekoppelt an die getreue Wiedergabe des Stoffs, weil sich in ihm der Verlauf der Weltgeschichte schon manifestiert. Man kann in Rötschers Briefwechsel mit Hebbel nachvollziehen, dass Rötscher die ideale Repräsentation eines echten ‘historischen Charakters’ etwa auch in Hebbels Figur des judäischen Herodes verwirklicht sah.⁷⁸ Potentiell können also alle Altertumskulturen historische Charaktere im Sinne Rötschers ausgebildet haben und damit ideal geeignete historische Stoffe bereit stellen, auch wenn der altphilologisch ausgebildete Ästhetiker in seiner Schrift über Das Recht der Poesie kein einziges solches
Ebd., S. 36 – 38, Hervorh. i.O. Ebd., S. 37. Vgl. hierzu Kapitel 5.2.1.
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
Beispiel anführt. Der Text zeigt aber vor allem, dass Rötscher weder die Antike noch andere Altertumskulturen beim Blick auf das Reservoir der geeigneten Stoffe bevorzugt. Anders als für Hegel ist für Rötscher die kulturelle und historische Ferne eines Stoffs nicht ausschlaggebend für seine tragischen Valenzen. Die Antike wird damit bei Rötscher auf der Ebene des Stoffs zu einem Ort unter anderen und behauptet keine ästhetische Vorrangstellung gegenüber mittelalterlichen oder noch jüngeren Vergangenheiten. *** Es hat sich gezeigt, dass die Problematik des Stoffs diejenige argumentationslogische Stelle in Hegels Ästhetik ist, an der die Altertümer in seinen kunsttheoretischen Überlegungen neben der Antike tatsächlich ins Spiel kommen. Mythologische und historische Stoffe eignen sich dieser Argumentation zufolge, wie gesehen, in besonderer Weise als Gegenstand des Dramas, weil sie im Akt der Rezeption eine Verallgemeinerung des Kunstwerks bewirken, derer es nach Hegel immer bedarf. Daher ist es grundsätzlich von geringer Bedeutung, ob der historische Stoff griechischen, indischen, ägyptischen oder aber skandinavischen Ursprungs ist. Trotz dieser prinzipiellen Öffnung des Gattungsdiskurses für andere Altertümer zeigt sich aber auch hier wieder eine Privilegierung der griechischen Antike. Das ist eine Folge von Hegels systematischer Argumentation, die nur jene Stoffe als besonders geeignet klassifiziert, die Anknüpfungspunkte zur Gegenwart ermöglichen. Weil sie aufgrund des verbreiteten Wissens über die griechische Antike besonders anschlussfähig erscheinen, werden insbesondere Stoffe privilegiert, die der griechischen Mythologie oder Historie entstammen. Rötscher interessiert an dem Verhältnis von Geschichte und dramatischer Poesie dagegen allein die Valenz ‘historischer Charaktere’ für die Dramatik. Vorbildliche historische Charaktere aber sind Luther, Cromwell oder Napoleon auf die gleiche Weise, wie es auch Alexander, Cäsar, Brutus oder Herodes sind. Obwohl die Referenzen auf andere Altertumskulturen neben der Antike im idealistisch-geschichtsphilosophischen Gattungs- und Theoriediskurs also nur schwach ausgeprägt waren, hatten die Logiken der Argumentationen großen Einfluss auf die Rezeption und Transformation der verschiedenen Altertümer in der zeitgenössischen Dramatik. Das liegt daran, dass sich die entstehende Altertumsdramatik als bevorzugtes Objekt für die Vereinnahmung durch die idealistisch-geschichtsphilosophische Kritik erwies. Zugleich hatten die hegelsche Dramentheorie und Geschichtsphilosophie Einfluss auf die Dramatiker. Der Seitenblick auf Rötscher hat bereits gezeigt, warum Dramen mit Stoffen aus dem Altertum für idealistische Lesarten attraktiv waren. Insbesondere Tragödien oder Trauerspiele, in denen Konflikte von konkurrierenden Altertumskulturen inszeniert wurden, boten Ansatzpunkte für Interpretationen, die auf ‘Weltgeschichte’ und Konstellationen von ‘historischen Charakteren’ fokussierten: Der Kampf der Makkabäer, die Auflehnung der Germanen gegen die Römer unter Hermann, die Schlacht bei den Thermopylen, Alexanders Eroberung Persiens und Indiens, die verzweifelten Versuche des judäischen Herodes, seinen Platz in der Geschichte zu verteidigen – die Dramatisierung solcher großen
2.2 Irritation und Stabilisierung des Gattungsdiskurses
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historischen Ereignisse und epochalen Umbrüche mit ihren charismatischen Heldenfigurationen forderte geschichtsphilosophische Lesarten heraus. Diese Einflussnahme, die hier nur angedeutet werden kann, wird in Teil II dieser Arbeit exemplarisch an den Alexanderdramen des 19. Jahrhunderts und an Friedrich Hebbels Altertumsdramatik diskutiert.
2.2 Irritation und Stabilisierung des Gattungsdiskurses. Kālidāsas Sakuntala und die Diskussion um das altindische Drama Die vorangegangenen Abschnitte haben gezeigt, wie fest die griechische Antike im Zentrum von Hegels Gattungsdiskurs über das Drama installiert war. Für andere dramatische Traditionen war daneben kaum Platz. Diese Schließung des Diskurses hat sich exemplarisch an Hegels Erwähnung von Kālidāsas Sakuntala gezeigt, die er zwar als Kunstwerk schätzt, aber zugleich unspezifisch als „Gedicht“ oder, noch deutlicher, als „indische[…] Lyrik“ klassifiziert und darum in seinen Überlegungen nicht berücksichtigen muss.⁷⁹ Auch das chinesische Drama wird von Hegel aus der Gattungsdiskussion der ‘dramatischen Poesie’ verbannt. Dass Hegel diesen Dramen allenfalls eine Rolle in der Vorgeschichte zur eigentlichen, griechischen dramatischen Poesie zugesteht, obwohl Sakuntala in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumeist auf das 1. Jh. v.Chr. datiert wurde und damit 400 Jahre nach dem vorbildlichen attischen Drama entstanden wäre, folgt dabei den Regeln eines geschichtsphilosophischen Diskurses, in dem der alte Orient unbeirrbar als ältere Vorstufe zur griechischrömischen Antike eingeordnet wurde. Der Ausschluss der bekannten orientalischen Dramatik aus dem zeitgenössischen gattungstheoretischen Diskurs ist charakteristisch für die Dominanz Griechenlands in der idealistischen Philosophie und Ästhetik. Aber während das chinesische Drama in zeitgenössischen Abhandlungen zum Drama kaum Resonanz erfuhr, wurde das indische Drama durchaus wahrgenommen und diskutiert. Der Fund der Sakuntala erregte enorme Aufmerksamkeit im intellektuellen und literarischen deutschsprachigen Raum. Er gehört in den Kontext der deutschen Indienbegeisterung, die um 1800 einsetzte. Eine Reihe von Studien haben das Feld bereits kartiert und dabei regelmäßig die Publikation der deutschen Übersetzung der Sakuntala als entscheidendes Moment hervorgehoben, in dem die altindische Kultur im öffentlichen Diskurs eine bis dahin ungekannte Resonanz erfuhr.⁸⁰ Noch gar nicht in den Fokus der Forschung geraten ist
Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 498. Vgl. aus der jüngeren Forschung die Monographien von Robert Cowan: The Indo-German Identification. Reconciling South Asian Origins and European Destinies, 1765 – 1885, Rochester/N.Y. 2010; Nicholas Germana:The Orient of Europe.The Mythical Image of India and Competing Images of German National Identity, Newcastle 2009; Douglas McGetchin: Indology, Indomania, and Orientalism. Ancient India’s rebirth in Modern Germany, Madison/N.J. 2009; Douglas McGetchin u. a. (Hg.): Sanskrit and
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
allerdings ein Bereich, der für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung zentral ist: Sakuntala und mit ihr das altindische Drama wurde um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mehrfach an prominenter Stelle in gattungstheoretische Argumentationen eingebunden. Darum wird es im Folgenden gehen, wenn die Frage weiter verfolgt wird, welche Orte den Altertümern neben der Antike in der Ästhetik und Dramentheorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugewiesen wurden. Namentlich Johann Gottfried Herder, so wird sich zeigen (2.2.1), sah in der Sakuntala eine Chance, die Historisierung von Gattungen, die er 1773 in seinem Shakespear-Aufsatz gegen den antikisierenden Gattungsdiskurs propagiert hatte, zu verifizieren und zu ergänzen. Die Nähe von Herders Abhandlung Über ein morgenländisches Drama (1792) zum Shakespear-Aufsatz ist von der Forschung bisher fast nicht gesehen worden, wie überhaupt die Abhandlung aus dem Jahr 1792 in ihrer Bedeutung für die Gattungsdiskussion des Dramas kaum wahrgenommen wurde. Eine Ausnahme bildet allein ein Beitrag von Wulf Koepke, der die Bedeutung von Herders Besprechung der Sakuntala für Herders Gattungsargument zwar pointiert konstatiert, aber nicht weiter ausführt, da es ihm um gänzlich andere Zusammenhänge geht.⁸¹ Dass trotz des anhaltend großen Forschungsinteresses an der Sakuntala-Rezeption in den ästhetischen Diskursen des 19. Jahrhunderts ihre Bedeutung in gattungstheoretischen Zusammenhängen weitgehend ignoriert wurde, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Idee einer direkten Kontinuität des attischen Dramas zum modernen europäischen Drama bis heute in der Forschung fortgeschrieben wird, womit das Drama des alten Indien aus dem Blick gerät. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber wurde das altindische Drama,⁸² so wird sich im zweiten Teil des Unterkapitels zeigen (2.2.2),weit über Herders Abhandlung hinaus als Exempel vereinnahmt für antiklassizistische Gattungsdiskurse.
‘Orientalism’. Indology and Comparative Linguistics in Germany, 1750 – 1958, New Delhi 2004; Pascale Rabault-Feuerhahn: L’archive des origines. Sanskrit, philologie, anthropologie dans l’Allemagne du XIXe siècle, Paris 2008; Indra Sengupta: From Salon to discipline. State, university and Indology in Germany, 1821– 1914, Heidelberg 2005 (Beiträge zur Südasienforschung, Bd. 198) und Chen TzorefAshkenazi: Der romantische Mythos vom Ursprung der Deutschen. Friedrich Schlegels Suche nach der indogermanischen Verbindung, Göttingen 2009 (Schriftenreihe des Minerva Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Bd. 29). Vgl.Wulf Koepke: Herders Zerstreute Blätter und die Struktur der Sammlung, in: Herder Yearbook 1 (1992), S. 98 – 117, hier S. 110. Wenig differenziert ist das Problem dargestellt in der frühen Abhandlung von Arthur Koschmieder: Herders theoretische Stellung zum Drama, Stuttgart 1913 (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte, N.F. Bd. 35), S. 139 – 143. Demgegenüber hat Herders Auseinandersetzung mit Indien und, allgemeiner noch, dem Orient in der Forschung breitere Beachtung gefunden, vgl. Paul Theodor Hoffmann: Der indische und der deutsche Geist von Herder bis zur Romantik. Eine literaturhistorische Darstellung, Tübingen 1915 und Christine Maillard: Beobachter, Weggenosse, Pionier: Herder und die Anfänge der europäischen Indologie, in: Cultura Tedesca 24 (2003), S. 49 – 62. Gesammelt finden sich die Funde altindischer Dramen mitsamt den wichtigsten Ausgaben und Übersetzungen ins Deutsche, Englische und Französische vom späten 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bei Moriz Winternitz: Geschichte der indischen Litteratur, Bd. 3, Leipzig 1920, S. 160 – 265.
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2.2.1 Kālidāsa und Shakespeare. Die Bedeutung der Sakuntala für Johann Gottfried Herders gattungstheoretische Überlegungen Die deutsche ‘Entdeckung’ von Kālidāsas Sakuntala geht auf den umtriebigen Weltreisenden, Naturforscher, Geographen und Reiseschriftsteller Georg Forster zurück. 1790 fiel ihm in London bei der Durchsicht englischer Neuerscheinungen die Übersetzung eines indischen Dramas auf: Sacontalá, or, the Fatal Ring; an Indian drama. By Cálidas. ⁸³ William Jones, zu der Zeit in Bengalen als Oberrichter stationiert und Gründer der für die europäische Indologie wegweisenden Asiatic Society of Bengal (1784),⁸⁴ hatte es ein Jahr zuvor mit Hilfe eines Lehrers zunächst ins Lateinische übersetzt, weil Latein ihm mit dem Sanskrit und Prakrit verwandt und daher für eine getreue Übersetzung ideal zu sein schien. In einem zweiten Schritt übertrug er den Text dann vom Lateinischen ins Englische. Forster war unmittelbar elektrisiert von dem Drama um den König Dushyanta und die junge Sakuntala, die Pflegetochter des Einsiedlers Kanva, die sich ineinander verlieben, heimlich heiraten, dann aber auf lange Zeit getrennt werden, weil Sakuntala wegen einer Unachtsamkeit gegenüber einem frommen Büßer mit dem Fluch belegt wird, dass ihr Geliebter sie vergessen werde, sobald sie seinen Ring als Erkennungszeichen verliert. Dushyanta kann sie tatsächlich nicht wiedererkennen, aber das Paar findet nach einigen Wirrungen in
William Jones: Sacontalá, or, the Fatal Ring; an Indian drama. By Cálidas. Translated from the original Sanscrit and Prácrit, Calkutta 1789 (weitere Ausgaben London 1790, London 1792 und Edinburgh 1796). Zu Forsters Sakuntala-Übersetzung und ihrer Wirkungsgeschichte vgl. grundlegend Gerhard Steiner: Sakontala. Erläuterungen. Einführung, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg.v. der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 7: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala, bearb. v. dems., Berlin 1963, S. 478 – 502, hier S. 487– 502 und ders.: Kalidasas Sakontala oder die deutsche Entdeckung Indiens, in: Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit, hg.v. Detlef Rasmussen, Tübingen 1988, S. 59 – 69. Vgl. auch die in den Analysen heute nicht mehr immer treffend erscheinende, aber an Hinweisen auf die einschlägigen zeitgenössischen Schriften und Ereignisse reiche Studie von Arthur F. J. Remy: The Influence of India and Persia on the Poetry of Germany, New York 1901, insbesondere S. 9 – 30 sowie das Kapitel zur Sakuntala bei McGetchin (Indology, Indomania and Orientalism, S. 55 – 75), in dem allerdings nur die wichtigsten Fakten genannt werden. Mit Blick auf Übersetzungspraxen analysiert die Bedeutung der Sakuntala in Europa Dorothy Matilda Figueira: Translating the Orient. The Reception of Śākuntala in Nineteenth-Century Europe, New York 1991; darin auch ein knappes Kapitel zu Dramatic Adaptions, das sich allerdings nur auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bezieht (S. 183 – 191). Die Bedeutung der Sakuntala für einen indisch-deutschen Kulturtransfer betonen Jörg Esleben: „Indisch lesen“: Conceptions of Intercultural Communication in Georg Forster’s and Johann Gottfried Herder’s Reception of Kalidasa’s Sakuntala, in: Monatshefte 95 (2003), S. 217– 229 und David Simo: Georg Forsters Übersetzung des Sanskrit-Dramas Sakontala. Voraussetzungen und Bedeutung einer Kulturvermittlung, in: Weltengarten. Deutsch-afrikanisches Jahrbuch für interkulturelles Denken (2003), S. 46 – 61. Zu Jones Bedeutung für die europäische Orientalistik vgl. zuletzt die umfangreiche Monographie von Michael J. Franklin: Orientalist Jones. Sir William Jones, Poet, Lawyer, and Linguist 1746 – 1794, New York 2011; darin auch ein informatives Kapitel zur Rezeption der Sakuntala im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts (S. 251– 286).
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einem Finale im Himmel doch noch zueinander,vereint mit ihrem gemeinsamen Sohn, den Sakuntala in der Zwischenzeit geboren hat.⁸⁵ Vor allem faszinierte Forster das Alter des Textes. Das geht aus einem Brief an den Berliner Verleger Johann Karl Philipp Spener hervor, dem Forster nach seiner Rückkehr nach Deutschland begeistert mitteilte, er habe aus England ein indisches Schauspiel mitgebracht, „von Calidas einem berühmten Indischen Dichter vor 1900 Jahren geschrieben!“⁸⁶ Diese (aus heutiger Sicht viel zu frühe) Datierung des Dramas auf das 1. Jahrhundert v. Chr. hatte Forster von Jones übernommen, und sie wurde bis weit ins 19. Jahrhundert beibehalten.⁸⁷ Forsters Enthusiasmus zeigt sich darin, dass er trotz Zeitmangels noch in London einige Szenen von Sacontalá, or, the Fatal Ring ins Deutsche übersetzte, um sie, vermittelt durch Ludwig Ferdinand Huber, an Schiller zu senden, mit der Bitte um Abdruck in der Thalia. Schiller kam Forsters Wunsch nach, allerdings publizierte er den Text anonym, ohne Nennung des indischen Autors und der beiden Übersetzer Jones und Forster.⁸⁸ Schon dieser Vorabdruck sicherte dem Drama einige Aufmerksamkeit, etwa durch eine Rezension des Thalia-Heftes von August Wilhelm Schlegel in den Göttingische[n] Anzeigen von gelehrten Sachen. ⁸⁹ Und auch im Weiteren setzte Forster alles daran, seinen Fund bekannt zu machen. Nachdem er den gesamten Text mitsamt Jones’ Vorrede ins Deutsche übertragen und mit einem eigenen Vorwort und einem umfangreichen Kommentar versehen hatte, in dem er unter anderem Bezüge zur griechischen Mythologie und Geschichte sowie vereinzelt zur nordischen Mythologie herstellte, schickte er im Mai 1791 frisch gedruckte Exemplare an Goethe, Herder und an seinen Schwiegervater Christian Gottlob Heyne, dem die Übersetzung auch gewidmet war. Alle drei erwiesen sich jeder auf seine Weise als einflussreiche Multiplikatoren: Heyne rezensierte die englische und Forsters deutsche Ausgabe der Sakuntala äußerst wohlwollend als wertvolles Dokument des alten Indien in den von ihm herausgegeben Göttingische[n] Anzeigen von gelehrten Sachen. ⁹⁰ Auch Goethe reagierte begeistert auf Forsters Sendung und fasste seine Bewunderung für den indischen Text in jenes Epigramm in elegischen Distichen, das fortan – in einer vermutlich durch Herder leicht veränderten Fassung – in keiner Übersetzung und Behandlung der Sakuntala fehlen durfte: Willt du die Blüte des frühen, die Früchte des späteren Jahres, Willt du was reizt und entzückt, willt du was sättigt und nährt,
Die Handlung des Dramas geht zurück auf eine Episode aus dem Mahābhārata-Epos. Georg Forster an Johann Karl Philipp Spener, 23.7.1790, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg.v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 16: Briefe 1790 bis 1791, bearb. v. Brigitte Leuschner und Siegfried Scheibe, Berlin 1980, S. 164, Hervorh. i.O. Heute geht man davon aus, dass Kālidāsa um 500 n.Chr. gelebt hat. Scenen aus dem Sacontala, oder dem unglücklichen Ring, einem indischen, 2000 Jahr alten Drama, in: Thalia, zehntes Heft (1790), S. 72– 88. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 70. Stück, 30.4.1791, S. 710 – 712. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 100. Stück, 23.6.1791, S. 1002– 1008.
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Willt du den Himmel, die Erde mit Einem Namen begreifen; Nenn’ ich Sakontala dich, und so ist alles gesagt.⁹¹
Herder war derjenige aus dem Kreis der Personen, die Forster direkt angeschrieben hatte, der sich am intensivsten mit dem Drama beschäftigte. Er veröffentlichte im vierten Heft der Zerstreuten Blätter von 1792, das orientalischer Literatur gewidmet war,⁹² eine ausführliche Besprechung des Dramas, die er Über ein morgenländisches Drama betitelte. 1803 brachte er nach Forsters frühem Tod die zweite Auflage der Übersetzung der Sakuntala heraus und versah sie mit einer eigenen Vorrede.⁹³ Beiden Texten waren Goethes Verse vorangestellt. In Herders Abhandlung wird Sakuntala im ersten Satz programmatisch als eine Sensation angekündigt: Sind Sie auch des Glaubens, daß kein morgenländisches Volk ein eigentliches Drama gehabt habe, eine Behauptung, der man viele Ursache unterzulegen wußte; so werden Sie wohl diesem Glauben absagen müssen, wenn ich Ihnen ein morgenländisches Schauspiel, unter allen Schauspielen der Welt eines der ersten seiner Art, anzeige.⁹⁴
So lautet die vielzitierte Fassung des Textes, die Herder seinem Aufsatz Über ein morgenländisches Drama vorangestellt hat (Johann Gottfried Herder: Über ein morgenländisches Drama. Einige Briefe, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792– 1800, hg.v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/Main 1998, S. 49 – 70, hier S. 49). In einer früheren Fassung, die Goethe selbst einem Brief an Heinrich Jacobi beigelegt hat, heißt es: „Will ich die Blumen des frühen, die Früchte des späteren Jahres, / Will ich was reizt und entzückt, will ich was sättigt und nährt, / Will ich den Himmel die Erde mit Einem Namen begreifen; / Nenn ich Sakontala dich und so ist alles gesagt.“ (Johann Wolfgang Goethe an Heinrich Jacobi, 1.6.1791, WA IV, 9, S. 271). Im Laufe der kommenden Jahrzehnte beschäftigte Goethe sich immer wieder mit der Sakuntala. Ihren berühmtesten literarischen Niederschlag fand das Drama im Vorspiel auf dem Theater (1798) des Faust, das ein Vorbild hat in dem Eingangsgebet und dem Vorspiel zwischen Schauspieldirektor und Schauspielerin in der Sakuntala. Noch 1830 formulierte Goethe gegenüber dem Franzosen Antoine-Léonard de Chézy, der den ersten Lehrstuhl für Sanskrit in Europa innehatte und die erste europäische Ausgabe der Sakuntala im Sanskrittext (mit französischer Übersetzung) herausbrachte, seine anhaltende Bewunderung für den Text (vgl. Johann Wolfgang Goethe an Antoine-Léonard de Chézy, 9.10.1830,WA IV, 47, S. 284– 286). Aus dem Brief geht auch hervor, dass Goethe eine Aufführung des Dramas in Betracht gezogen, aber wohl schnell wieder verworfen hatte. Vgl. zu Goethes Auseinandersetzung mit Indien auch im Hinblick auf die Sakuntala stellvertretend die jüngeren Studien von Gerhard Lauer: Goethes indische Kuriositäten, in: Figurationen des Grotesken in Goethes Werken, hg.v. Edith Anna Kunz, Dominik Müller und Markus Winkler, Bielefeld 2012, S. 159 – 179; Fosia Musharraf: Das Indienbild bei Goethe, Hanau 2007 und RenéMarc Pille: À la fracture du classicisme et du romantisme: l’Inde, sujet de discorde entre Goethe et Friedrich Schlegel, in: La Fascination de l’Inde en Allemagne 1800 – 1933, Rennes 2004, S. 25 – 45. Vgl. zum Aufbau des vierten Hefts der Zerstreuten Blätter Koepke: Herders Zerstreute Blätter und die Struktur der Sammlung, S. 105 – 113. Sakontala oder der entscheidende Ring. Ein indisches Schauspiel von Kalidas. Aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche übersetzt mit Erläuterungen von Georg Forster. Zweite rechtmässige, von J. G. v. Herder, besorgte Ausgabe, Frankfurt/Main 1803. Johann Gottfried Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 49.
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Anders als Hegel, den die faktische Existenz orientalischer Dramen keineswegs von seiner geschichtsphilosophisch motivierten Perspektivierung einer Gattungsgeschichte des Dramas abzubringen vermochte und der deshalb den Ursprung der Gattung unerschütterlich in der Antike datierte, der er ein tieferes Bewusstsein der Individualität zuschrieb als im alten Orient,war Herder offensichtlich nach der Lektüre der Sakuntala bereit, dem einmal gefassten ‘Glauben abzusagen’. Ein gutes Jahrzehnt zuvor war er sich in seiner kommentierten Übersetzung des Hoheliedes noch sicher gewesen, dass „der Orient kein eigentliches Drama“ gekannt habe. Er hatte diese Auffassung dort mit dem zurückhaltenden Charakter der „Morgenländer“ begründet: „Das Handeln und Gestikulieren auf dem Schauplatz ist einem Morgenländer verächtlich; auch im gemeinen Reden spricht er mit dem Munde, nicht mit den Händen, er steht wie eine verhüllte, schweigende Gestalt da […].“⁹⁵ An dieser Meinung hatte auch seine Kenntnis der „Tsinesischen besten Schauspiele“,⁹⁶ die Jean Baptiste Du Halde in seiner vierbändigen Description de la Chine im Jahr 1735 veröffentlicht hatte,⁹⁷ wenig ändern können. Erst Forsters Übersetzung der Sakuntala brachte Herder dazu, seine frühere Position zu revidieren. Die Gründe für seinen Sinneswandel nennt Herder in der Abhandlung Über ein morgenländisches Drama in drei Briefen. Während er im ersten Brief den Inhalt des Dramas ausführt und im zweiten – in ausdrücklicher Referenz auf die Ossian-Debatte, an der er sich selbst auch beteiligt hatte – die Echtheit des Textes diskutiert und bestätigt, widmet er sich im dritten Brief der Verifizierung der vorangestellten Behauptung: Bei Sakuntala, so will er zeigen, handelt es sich um den bislang unbekannten Fall eines orientalischen Dramas. Die Frage, wie der unerwartete Fund des indischen Textes in die epistemische Ordnung der literarischen Gattungen zu integrieren sei, wurde vom ersten Augenblick seiner Publikation an im deutschsprachigen Raum diskutiert. Schon Forster hatte sie in der Vorrede zu seiner Übersetzung gestreift: Es wäre hier der Ort von dem Eigenthümlichen der indischen Dichtung zu sprechen, und den Leser durch leichte Umrisse der allgemeinen Geistesbildung jenes merkwürdigen Volks, so weit sie durch die neueren Bemühungen der Engländer bekannt ist, auf den rechten Gesichtspunkt zu führen, aus welchem die nachstehende, aus der alten heiligen Sprache der Indier übersezte dramatische Schrift beurtheilt zu werden verdient. […] Vielleicht wäre es sogar nöthig, vor einer zu raschen Vergleichung der Kunstprodukte eines so entfernten, so von europäischen Sitten abgeschiedenen Volks mit den unsrigen, und vor der Anwendung unserer Regeln auf etwas, das ohne einen Begrif von diesen Regeln entstand, recht ernstlich zu warnen. Die Billigkeit forderte wohl,
Johann Gottfried Herder: Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus dem Morgenlande, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen, Frankfurt/Main 1990, S. 431– 522, hier S. 499 f. Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 49. Vgl. Jean-Baptiste Du Halde: Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l’empire de la Chine et de la Tartarie chinoise, 4 Bde., Paris 1735 [deutsche Übersetzung: Ausführliche Beschreibung des chinesischen Reiches und der großen Tartarey, 4 Bde., Rostock 1747– 1749].
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daß man es deutlich auseinandersezte, wie die Verschiedenheit der indischen Mythologie, Geschichte und Sitten, von der griechischen zum Beispiel, den Kunstwerken jenes Landes eine uns ungewohnte Gestalt und Maschinerie verleihen müsse, wie aber das Interessante eines solchen Werks gar nicht darin bestehe, ob es fünf oder sieben Aufzüge habe, sondern daß die zartesten Empfindungen, deren das menschliche Herz fähig ist, sich so gut am Ganges und bei dunkelbraunen Menschen, wie am Rhein, am Tyber, am Ilissus bei unserem weissen Geschlechte äussern konnten.⁹⁸
Forster deutet hier an, dass Sakuntala nicht mit den zeitgenössischen poetologischen Regeln, die auf der Rezeption der griechischen Antike fußen, zu fassen sei. Allerdings bleibt er eine Ausführung dieser Überlegungen schuldig. Denn die adäquate Beschreibung der Gattung des Textes und seine ästhetischen Eigenheiten beschäftigen ihn letztlich nur am Rande. Sakuntala interessiert ihn weniger als literarischer Text, denn vielmehr als Studienobjekt zur Gewinnung eines anthropologischen Modells. Die Erforschung der Literatur des alten Indien soll dem Zweck dienen, einen „richtigeren Begrif der Menschheit“⁹⁹ zu konturieren, ein Projekt, das Forster Zeit seines Lebens verfolgte.¹⁰⁰ Und Forster erhofft sich darüber hinaus die Aktualisierung eines ‘Naturgefühls’, das im zivilisatorisch fortgeschrittenen Europa verloren zu gehen drohe. Herder teilt mit Forster die Betonung der lokalen und historischen Gebundenheit von Sakuntala. Es bedürfe, so Herder, der richtigen Einfühlung, um Sakuntala angemessen rezipieren zu können, „nicht Europäisch d. i. um etwa nur den Ausgang zu
Georg Forster: Vorrede des Übersezers, in: Sakontala oder der entscheidende Ring ein indisches Schauspiel von Kalidas. Aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche übersezt mit Erläuterungen von Georg Forster, Mainz, Leipzig 1791, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg.v. der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 7: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala, bearb. v. Gerhard Steiner, Berlin 1963, S. 285 – 287, hier S. 287. Vgl.: „Jedes Land hat seine Eigenheiten, welche auf die Geisteskräfte und auf die Organisation der Einwohner zurückwirken. Aus diesen sehr verschiedenen Individualitäten, wenn wir sie vergleichen und das Allgemeine vom Lokalen absondern, entwickeln wir uns den richtigeren Begrif der Menschheit. Durch wissenschaftliche Verfeinerung in Kenntnissen und Sitten zu einer künstlich abgemessenen, raisonnirten Lebensweise gestimmt, könnten wir aber leicht des einfachen Naturgefühls entwohnen, wenn wir es nicht in den Geisteswerken solcher Nationen wieder fänden, die bis zu unserer komplicirten Ausbildung nicht hinangestiegen sind. Aus diesem Gesichtspunkte darf uns die Litteratur der Indier nicht gleichgültig seyn.“ Ebd., S. 286 f. Während hier implizit das aufgeklärte Europa insgesamt dem ‘naturhaften’ Indien gegenübergestellt wird, argumentiert Forster im ersten Teil der Vorrede keineswegs in europäischer Perspektive. Im Gegenteil, dort betont er, dass die Deutschen im Unterschied zu den Franzosen, Engländern oder Italienern in der Lage seien, den Werken anderer Nationen tatsächlich zu „huldigen“ und sich in die „Sitten und Gewohnheiten“ anderer Völker „zu versezen“ (S. 286). Der Nachteil der Deutschen, keine Kolonien zu besitzen und damit insbesondere Frankreich und England unterlegen zu sein, wird in der Vorrede durch eine angebliche besondere „Empfänglichkeit“ (ebd.) der Deutschen kompensiert. Das ist eine Argumentationsfigur, die auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert bemüht wurde, wenn es galt, die enormen intellektuellen und auch ökonomischen Ressourcen zu legitimieren, die im deutschsprachigen Raum für die philologische Forschung aufgewendet wurden. Vgl. hierzu Simo: Georg Forsters Übersetzung des Sanskrit-Dramas Sakontala, S. 53 – 55.
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wissen, mit flüchtiger Neugierde“ solle der Text gelesen werden, „sondern Indisch, mit feinaufmerkender Überlegung, Ruhe und Sorgfalt“.¹⁰¹ Und wie Forster meint auch Herder, dass Sakuntala als Dokument des alten Indien gelesen werden müsse.¹⁰² Aber die Zielrichtung seiner Besprechung ist letztlich eine gänzlich andere als diejenige von Forsters kurzer Vorrede. Herder interessiert vor allem die (aus europäischer Sicht) eigenwillige Ästhetik des Textes. Und so führt er im dritten Brief aus, wovon Forster ausdrücklich abgeraten hatte: Er vergleicht Sakuntala mit dem Drama der griechischen Antike und dessen Theoretisierung durch Aristoteles. Dabei misst er allerdings nicht nur Sakuntala an den aristotelischen Bestimmungen des Dramas, sondern prüft auch umgekehrt den möglichen universalen Geltungsanspruch dieser aristotelischen Poetologie an Kālidāsas Drama.¹⁰³ Ähnliches hatte Herder auch schon im Shakespear-Aufsatz aus dem Jahr 1773 unternommen.¹⁰⁴ Dort hatte er argumentiert, dass das ‘nordische Theater’, dessen paradigmatischer Vertreter Shakespeare sei, sich unabhängig von jeglichem griechischen Einfluss entwickelt habe: In Griechenland entstand das Drama, wie es in [sic!] Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland wars, was es in Norden nicht sein kann. In Norden ists also nicht und darf nicht sein,was es in Griechenland gewesen. Also Sophokles Drama und Shakespears Drama sind zwei Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein haben.¹⁰⁵
Herder etabliert Shakespeare in dem Aufsatz als legitimen „Bruder“¹⁰⁶ des Sophokles, als mindestens ebenbürtigen Dramatiker. Zu diesem Zweck betont er keineswegs die Verwandtschaft des englischen Dramas mit demjenigen der Antike, sondern im Ge Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 52. Vgl.: „Überdem ist die Zeit, in welche dies Stück gehört, auch für Indien nicht die heutige Zeit; die Sitten, die darin herrschen, sind nicht die heutigen Sitten“. (Ebd., S. 53). Das konstatiert auch Wulf Koepke, allerdings ohne weiter auf dieses Verfahren einzugehen (vgl. Herders Zerstreute Blätter und die Struktur der Sammlung, S. 110). Der Aufsatz liegt in drei Fassungen vor: Die erste Fassung, geschrieben im Juni 1771, ist als Sendschreiben an Wilhelm Heinrich von Gerstenberg verfasst und verweist damit auf den unmittelbaren Anlass von Herders Aufsatz. Gerstenberg hatte im 14.–18. seiner Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (Schleswig, Leipzig 1766) eine Abhandlung über Shakespeare publiziert. Herder stieß sich insbesondere an Gerstenbergs eigenwilliger Klassifizierung der shakespeareschen Dramen. Die zweite, deutlich ausführlichere und nicht mehr in Briefform gehaltene Fassung entstand vom Herbst 1771 bis Anfang 1772. Die dritte und letzte Fassung datiert vom Anfang des Jahres 1773. Im Folgenden wird in der Regel auf diese letzte Fassung zurückgegriffen. Die geschichtsphilosophische Dimension des Aufsatzes diskutiert Wolfgang Proß: Herders Shakespeare-Interpretation. Von der Dramaturgie zur Geschichtsphilosophie, in: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik, hg.v. Roger Bauer, Bern u. a. 1988 (Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A. Kongressberichte, Bd. 22), S. 162– 181, hier S. 162. Zum Shakespear-Aufsatz vgl. außerdem Wolfgang Stellmacher: Herders Shakespeare-Bild, Berlin 1978. Johann Gottfried Herder: Shakespear, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767– 1781, hg.v. Gunter E. Grimm, Frankfurt/Main 1993, S. 498 – 521, hier S. 499 f. Ebd., S. 515.
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genteil deren jeweilige Eigenständigkeit. Herders Aufsatz richtet sich damit gegen eine zeitgenössische Literaturkritik, die Shakespeare noch im Lob kritisierte, weil seine Dramen nicht mit der klassizistischen Dramaturgie und ihrer Forderung nach den drei Einheiten von Handlung, Zeit und Ort (letztere bekanntlich pseudoaristotelisch) vermittelbar waren. Herder schreibt zudem gegen die Dramatik der französischen Klassik an. Das Drama der Franzosen ist ihm nur eine leblose „Puppe“,¹⁰⁷ weil es im Willen, die Regeln des antiken Dramas zu befolgen, die eigene historische Wirklichkeit verfehle. Dieser Auffassung liegt ein Denkimpuls zugrunde, der das antike – bei Herder heißt das: das griechische¹⁰⁸ – Drama und Theater radikal historisiert. Das hat enorme Konsequenzen für die Beurteilung nachantiker Dramatik. Was im alten Griechenland mustergültig war, so der Tenor des gesamten Aufsatzes, kann für das englische Drama des 17. Jahrhunderts nicht den gleichen Geltungsanspruch besitzen, weil das spätere Drama sich unter vollkommen anderen historischen Bedingungen ausgebildet habe, als die attische Tragödie und Komödie. Dieser Angriff auf den normativen Geltungsanspruch des attischen Dramas macht auch vor Aristoteles nicht halt: „Aristoteles Kanon der Zeit, auf Shakespear angewandt“, so heißt es beispielsweise im zweiten Entwurf des Aufsatzes, „wird eben der Unsinn“.¹⁰⁹ Herder betont, dass Aussagen der
Ebd., S. 504. Im Folgenden wird Herder noch deutlicher: „Das Ganze ihrer Kunst ist ohne Natur, ist abenteuerlich, ist ekel!“ (S. 506). Den Einfluss des römischen Dramas auf die französische Dramatik spart Herder aus und nennt die Franzosen die „neuen Atheniensern Europens“ (ebd., S. 503). Johann Gottfried Herder: Shakespear. 2. Entwurf, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767– 1781, hg.v. Gunter E. Grimm, Frankfurt/Main 1993, S. 530 – 549, hier S. 546. Dort auch die folgenden Ausführungen Herders: „[…] Zeit und Ort stehen überhaupt zu sehr in Verbindung. Was in Einer Szene vorgehen soll, – nun das muß auch in Einer Szene vorgehen können, und so ists bei Shakespear allemal; aber nun welches Band der Zeit darf die Szenen verbinden, die ja nicht, als Eins erscheinen, die sich Ort und Art nach so sehr verändern, und wo eben die Veränderung zeigt, daß sie nicht als Eins der Zeit nach erscheinen wollen. Bei den Griechen waren alle Szenen eigentlich nur Eine Szene: das Theater blieb nie leer: der Chor füllte selbst den Raum zwischen dem was wir Aufzüge nennen aus: also nur Ein Gemälde Einer fortgehenden Handlung ohne den geringsten Unterbruch, und die Einheit der Zeit war also ohne Zauberei und Eigensinn so natürlich als – sie bei Shakespear unnatürlich sein müßte. Welche elende Illusion wäre es da, eine Weltbegebenheit, die in allen Orten und Landen vorgeht, nach der Taschenuhr messen zu wollen – welche elende Illusion für Einen Shakespear?“ (Ebd., S. 546, Hervorh. i.O.). Ähnlich auch im gleichen Entwurf zur Einheit des Ortes: „Daß man die Griechen doch ja nicht zur Unzeit anführe! Ihre Tragödie mußte so notwendig und natürlich Einen Ort haben, als Shakespear nicht Einen Ort haben muß: denn, wie gezeigt, ihr ganzes Wesen ist verschieden. Man weiß, wie die Griechische Tragödie aus Einem Auftritt allmählich entstanden; die Zahl der Personen nach und nach zugenommen, und da sie auch in ihrem künstlichsten Zustande nur eigentlich Eine Helden- Vaterlands- oder Geschlechtshandlung zum Werk hatte: was natürlicher, als daß diese Eine Handlung auch an Einem Orte, die Eine öffentliche Handlung an einem öffentlichen und meistens feierlichen Orte geschahe? Die Szene ward dahin verlegt, wo sie geschahe, und wo sie nicht an Einem Ort geschehen konnte, wurde sie, wie wohl es wegen der Einen Handlung seltner geschehen dorfte, verändert. Was gilt darin für Shakespear, der nichts mit dieser Einen feierlichen Handlung gemein hat: dessen Ideal Begebenheit der Welt und die ganze lebendige Schöpfung
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aristotelischen Poetik auf das attische Drama und Theater gemünzt seien, und so wie dieses an seine historischen Entstehungsbedingungen gebunden sei, müsse auch die Poetik als Dokument einer historischen Situation gelesen werden. Wo Lessing die angeblich falsche Auslegung des Aristoteles durch die Franzosen kritisierte, aber an dem grundsätzlich normativen und universalen Geltungsanspruch nicht rüttelte,¹¹⁰ da stellt Herder diesen Geltungsanspruch von Aristoteles’ Ausführungen zum Drama erstmals grundsätzlich in Frage. Mit dieser radikalen Historisierung der antiken Dramatik und der Poetik will er Shakespeares Dramen von einem klassizistischen Erwartungshorizont befreien, um stattdessen eine neue Poetik zu entwerfen, die dem ‘nordischen Theater’ gerecht wird. Als ihren ersten „Rhapsodisten“¹¹¹ sieht Herder sich selbst.¹¹² Von fundamentaler Bedeutung für Herders Argumentationslogik ist die These, dass das ‘nordische Theater’ gänzlich unabhängig vom antiken Theater entstanden sei. Damit krankt die Beweisführung jedoch an einem wunden Punkt. Denn Herder muss diese Unabhängigkeit „setzen“.¹¹³ Er kann eine solche Autonomie zwar von der Beschaffenheit des ‘nordischen Theaters’ her plausibilisieren, aber er kann sie nicht eindeutig belegen, weil historisch-faktisch eine Einflussnahme – über welche Wege auch immer – denkbar wäre. Dieses entscheidende Argumentationsproblem des Shakespear-Aufsatzes begründet die besondere Valenz der Sakuntala für Herder. Denn mit dem indischen Drama meint er, knapp zwanzig Jahre nach dem Shakespear-Aufsatz eine Lösung gefunden zu haben:
ist? – Er muß so natürlich verändern, als jene nicht veränderten, und Sophokles und Aristoteles, sobald sie von seinem Drama nur Begriff haben, könnten ihn nicht anders als loben.“ (S. 544 f.). Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 74. und 80. Stück [1768], in: Ders.: Werke, hg.v. Herbert G. Göpfert, Bd. 4: Dramaturgische Schriften, bearb. v. Karl Eibl, München 1973, S. 574– 601. Herder: Shakespear, S. 509. Herder inszeniert seine Autorschaft selbstbewusst parallel zu Aristoteles. Was jener für die Theoretisierung des attischen Dramas leistete, will Herder nun mit seinen Ausführungen für das ‘nordische Drama’ erfüllen: „[O] Aristoteles,wenn du erschienest,wie würdest du den neuen Sophokles homerisieren! würdest so eine eigne Theorie über ihn dichten, die jetzt seine Landsleute, Home und Hurd, Pope und Johnson noch nicht gedichtet haben! […] Man lasse mich als Ausleger und Rhapsodisten fortfahren: denn ich bin Shakespear näher als dem Griechen.“ (Ebd., S. 508 f.). Vgl. auch Gunter E. Grimm: Kommentar, in: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767– 1781, hg.v. Gunter E. Grimm, Frankfurt/Main 1993, S. 794– 1439, hier S. 1167 f. Das Zitat lautet: „Lasset uns also ein Volk setzen, das aus Umständen, die wir nicht untersuchen mögen, Lust hätte, sich statt nachzuäffen und mit der Wallnußschale davon zu laufen, selbst lieber sein Drama zu erfinden […].“ (Herder: Shakespear, S. 506, Hervorh. i.O.). Allerdings versucht Herder im Shakespear-Aufsatz zumindest plausibel zu machen, dass eine direkte Einflussnahme des griechischen auf das englische Drama unwahrscheinlich sei, indem er im Folgenden die vermeintliche geographische und historische Sonderstellung der Briten mit einem abgewandelten Vergil-Zitat betont („toto divisis ab orbe Brittanis“, ebd., S. 507).
2.2 Irritation und Stabilisierung des Gattungsdiskurses
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Worüber,wie Sie glaubten, ich lachen würde, das hatte ich bei der Sakontala selbst getan; ich hatte sie nämlich aus Scherz und im Ernst mit Aristoteles Poetik verglichen und zu bemerken gesucht, ob Kalidas, der hundert Jahr vor Christo gelebt haben soll, den Aristoteles recht beherzigt, oder Aristoteles auf Kalidas gehörige Rücksicht genommen habe. Im Ernst, m. Fr., halte ich eine solche Prüfung nützlich: obgleich das Drama aller jetzigen Völker in Europa, so gut als völlig ohne den Aristoteles entstanden ist, mithin wir an ihnen unabhängige Punkte der Vergleichung gnug haben: so war es mir, weil doch Eins dieser Theater vom andern geborgt hat und alle mehr oder minder in Bekanntschaft mit einander gewesen, sehr angenehm, ein in seiner Art vollkommenes Stück eines ganz fremden Theaters zu erblicken, um dasselbe dem Regelmaß des Aristoteles zu nähern.¹¹⁴
Im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts begann man, über die Möglichkeiten eines Kulturtransfers nachzudenken und kontrovers zu diskutieren, ob es einen Einfluss des attischen Dramas auf das indische Drama gegeben habe, oder ob man umgekehrt davon ausgehen müsse, dass im attischen Drama Spuren des indischen Dramas nachweisbar seien.¹¹⁵ Solche Hypothesen sind für Herder im Jahr 1792 noch undenkbar. Daher bietet Sakuntala ihm vor allem die unverhoffte Chance, die knapp zwei Jahrzehnte zuvor formulierte These der Historizität der aristotelischen Regeln zu untermauern. Hätte es theoretisch einen Einfluss des antiken Theaters auf das englische Theater geben können, so ist ein solcher zwischen dem altindischen und altgriechischen Drama für Herder aus historischen und geographischen Gründen schlicht unvorstellbar. Sakuntala ist damit die gelungene Ergänzung zur shakespeareschen Dramatik, um die These der Historizität der Gattung Drama zu belegen. Mehr noch, der indische Text besitzt noch größere Beweiskraft als Shakespeares Dramen, weil er den Vorteil hat, tendenziell gleichzeitig zu den Texten der griechischen Antike entstanden zu sein, aber an weit entferntem Ort. Mit Hilfe der Sakuntala, so hofft Herder darum, lasse sich nunmehr endgültig die Frage aufklären „was in Aristoteles Dichtkunst blos Lokal-Geschmack oder allgemeines, ewiges Gesetz sei“.¹¹⁶ Die argumentative Versuchsanordnung ist in beiden Abhandlungen die gleiche: So wie Herder im Shakespear-Aufsatz die Unabhängigkeit des nordischen vom antiken Drama „aus Griechenland selbst beweisen“ will, „und eben dadurch die Natur des nordischen Drama [sic!], und des größten Dramatisten in [sic!] Norden, Shakespears sehr zu entziffern“ hofft,¹¹⁷ so soll in seiner Abhandlung Über ein morgenländisches Drama nunmehr Kālidāsa mit Aristoteles verglichen werden, um nicht nur den Geltungsanspruch der aristotelischen Bestimmungen des Dramas zu prüfen, sondern auch die Frage zu klären, „zu welcher Gattung“¹¹⁸ Sakuntala nach diesen poetologischen Bestimmungen gehöre.¹¹⁹
Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 57, Hervorh. i.O. Vgl. mit weiteren Hinweisen Winternitz: Geschichte der indischen Litteratur, S. 174 f. Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 57. Herder: Shakespear, S. 500, Hervorh. i.O. Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 64. Dieser Vergleich in beide Richtungen führt sowohl in der Abhandlung Über ein morgenländisches Drama als auch im Shakespear-Aufsatz zu einer tendenziell tautologischen Argumentation. Dies gilt
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Was an der aristotelischen Poetik als überzeitlich gültig anzusehen sei, davon hatte Herder bereits im Shakespear-Aufsatz eine klare Vorstellung entwickelt. Obwohl er dort den englischen Dichter und dessen Dramen vom Joch der klassizistischen Regelpoetik befreien wollte, fand er durchaus deutliche Übereinstimmungen mit dem attischen Drama: Shakespear fand vor und um sich nichts weniger als Simplizität von Vaterlandssitten, Taten, Neigungen und Geschichtstraditionen, die das griechische Drama bildete, und da also nach dem Ersten metaphysischen Weisheitssatze aus Nichts Nichts wird, so wäre Philosophen überlassen, nicht bloß kein Griechisches, sondern wenns außerdem Nichts gibt, auch gar kein Drama in der Welt mehr geworden, und hätte werden können. Da aber Genie bekanntermaßen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer: so wars ein Sterblicher mit Götterkraft begabt, eben aus dem entgegen gesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervor zu rufen, Furcht und Mitleid! und beide in einem Grade,wie jener Erste Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervorzubringen vermocht! […] Wenn bei diesem [Sophokles, F.K.] das Eine einer Handlung herrscht: so arbeitet Jener [Shakespeare, F.K.] auf das Ganze eines Eräugnisses, einer Begebenheit. Wenn bei Jenem Ein Ton der Charaktere herrschet, so bei diesem alle Charaktere, Stände und Lebensarten, so viel nur fähig und nötig sind, den Hauptklang seines Konzerts zu bilden. Wenn in Jenem Eine singende feine Sprache, wie in einem höhern Äther tönet, so spricht dieser die Sprache aller Alter, Menschen und Menschenarten, ist Dolmetscher der Natur in all’ ihren Zungen – und auf so verschiedenen Wegen
insbesondere für Herders Besprechung der Sakuntala. Denn einerseits soll Sakuntala der exemplarische Testfall für den universalen Geltungsanspruch der aristotelischen Regeln sein. Zugleich aber liefern die Übereinstimmungen mit manchen dieser Regeln den Beweis dafür, dass es sich bei dem Text tatsächlich um ein Drama handle. Auch der Shakespear-Aufsatz ist nicht ganz frei von solchen Tautologien. Im Vergleich mit Aristoteles soll hier bewiesen werden, dass dieser ebenso sehr Kind seiner Zeit gewesen sei wie Shakespeare. Jede Abweichung der shakespeareschen Dramen von den aristotelischen Vorgaben wird damit zum Beleg der historischen Gebundenheit der aristotelischen Schriften und der attischen Dramen an ihre Entstehungsbedingungen. Eine solche Argumentation geht a priori von Shakespeares dramatischer Vorbildlichkeit aus. Gegen eben diese Behauptungen der Kritiker Shakespeares aber tritt Herder mit dem Aufsatz an und macht damit zur Voraussetzung, was er im Vergleich mit der Antike zu belegen hofft. Andernfalls wären die konstatierten Abweichungen vom attischen Drama und den aristotelischen Regeln bloße Verfehlungen, bzw. Ausdruck dessen, dass es Shakespeare nicht in allen Punkten gelungen wäre, den hohen Maßstäben des vorbildlichen antiken Theaters zu genügen. Besonders deutlich wird das im zweiten Entwurf des Aufsatzes. Herder schreibt dort, nachdem er einige Abweichungen der „Shakespearschen von der Griechischen Tragödie“ benannt hat: „Ich weiß wohl, daß man, seitdem die Griechen und Aristoteles uns den Kopf zugestutzt, alle diese Eigenheiten für bloße Abweichungen erklärt; für verzeihliche Fehler, die aber doch immer Fehler blieben. Ich finde keinen unverzeihlichern Fehler der Kritik, als diese Behauptung, und bin nach sorgfältiger Prüfung gewiß, daß wenn man diese sogenannten Fehler wegnähme, nicht bloß einzelne Schönheiten Shakespears sondern das ganze Shakespearsche Drama weggenommen wird: daß nicht bloß kein einzelnes Stück Shakespears mehr bleibet, was es ist; sondern es ist kein Shakespearsches Stück mehr möglich.“ (Shakespear. Zweiter Entwurf, S. 540 f., Hervorh. i.O.). Herder nimmt also vorweg, was ihm in Bezug auf die Abweichungen der shakespeareschen Dramen von den sogenannten aristotelischen Regeln entgegnet werden könnte, und hält dagegen, dass Shakespeare gerade durch seine häufig kritisierten Verstöße gegen Aristoteles einzigartig werde. Diese Argumentation aber setzt voraus, dass Shakespeares Dramen in seiner Zeit mustergültig gewesen seien.
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beide Vertraute Einer Gottheit? – Und wenn jener Griechen vorstellt und lehrt und rührt und bildet, so lehrt, rührt und bildet Shakespear nordische Menschen! ¹²⁰
Die Erzeugung von Mitleid und Furcht – in Lessings kanonisch gewordener Übersetzung von éleos und phóbos ¹²¹ – macht hier Shakespeare zum „Bruder“¹²² des Sophokles: Obgleich die gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Umstände, unter denen die Dramen beider entstanden, ebenso differieren wie die poetischen Darstellungsmodi, erzielen die Dramen des Engländers Herder zufolge die gleiche Wirkung wie die des Atheners. Mit dieser Argumentation gelingt es ihm, nicht nur die historische und dem individuellen Genie ihrer Verfasser geschuldete Einmaligkeit der attischen und shakespeareschen Dramen zu betonen, sondern zugleich auch ein verbindendes Glied der Gattung Drama zu benennen. Die Kategorien ‘Mitleid’ und ‘Furcht’ sind für Herder gattungstheoretisch zentral, denn sie ermöglichen es ihm, trotz der Historisierung des Gattungsbegriffs noch von einer Gattung Drama und von einem Modus des Dramatischen sprechen zu können, so dass transhistorische Vergleiche von Dramentexten überhaupt möglich sind. Es ist demnach folgerichtig, dass sich für Herder auch knapp zwanzig Jahre nach dem Shakespear-Aufsatz an der Frage, ob Sakuntala Mitleid und Furcht errege, entscheidet, inwiefern es angemessen sei, den indischen Text als Drama zu bezeichnen. Die Beantwortung dieser Frage muss dabei komplexer ausfallen als im ShakespearAufsatz: [W]enn dies Drama [Sakuntala, F.K.] durch Mitleiden und Furcht wirken soll; kann es eine zartere, und zugleich lebhaftere Teilnehmung geben, als die wir gegen Sakontala in allen ihren Begegnissen fühlen? Aber auch gegen Duschmanta? Hier, m. Fr., verwirret sich der Faden der Theorie, den wir nicht zerreißen, sondern gemach entwickeln wollen: denn eben dadurch wird vielleicht der Unterschied Orients und Griechenlandes sichtbar.¹²³
Der Status von Duschmanta als eines dramatischen und tragischen Helden erscheint deshalb prekär, weil der König seine schwangere Gattin Sakontala unerkannt abweist. Nur wenn man glaube, so Herder, dass Duschmanta Vergessen unwillentlich geschehe und allein auf den verlorenen Ring als Erkennungszeichen und den Fluch des abgewiesenen Büßers zurückzuführen sei, habe der indische König „eben so viel Anrecht an unser Mitleid als Sakontala selbst“.¹²⁴ Es ist damit die Bewertung der Kategorie des
Herder: Shakespear, S. 508, Hervorh. i.O. Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 74. und 75. Stück. Herder hält sich allerdings nicht immer präzise an diese Übersetzung. In Über ein morgenländisches Drama verwendet er einmal die Formel ‘Mitleid und Schrecken’ (vgl. S. 63) und nutzt damit diejenige Übersetzung, gegen die sich Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie in Abgrenzung von französischen Dramaturgien so radikal gewendet hatte. Herder: Shakespear, S. 515. Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 59, Hervorh. F.K. Ebd.
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„Wunderbaren“,¹²⁵ von der abhängig ist, ob Duschmantas Schicksal Mitleid erregen oder abstoßend wirken muss. Damit aber gerät das indische Drama in Konflikt mit den aristotelischen Bestimmungen: Er [Aristoteles, F.K.] will, daß auf der Bühne alles natürlich geschehen, und sich in Einem fortgehenden Faden aus der menschlichen Seele selbst entwickeln sollte. Die Maschinen des Wunderbaren erlaubt er nur außerhalb der Handlung; ein Teil von dieser müßten sie nie werden: denn in ihr müsse jede Begebenheit aus der andern natürlich folgen. So dachte Aristoteles; der Indische Dichter konnte nicht so denken, oder sein Held ward abscheulich […]. […] Der Grieche foderte eine in jedem Teil natürliche Entwickelung der Begebenheiten; der Indier legte es von Anfange bis zu Ende auf einen heiligen, göttlichen, wunderbaren Zusammenhang derselben an, weshalb man, wenn man sein Werk nicht Drama in griechischem Verstande nennen will, man es ein dramatisiertes Epos nennen müßte, eine heilige Götter- und Königsfabel in allen Reiz der Vorstellung gekleidet. ¹²⁶
Obgleich Herder also meint, das Wunderbare widerspreche grundsätzlich dem Dramatischen, belässt er es nicht bei dieser Gattungsbestimmung der Sakuntala als eines dramatisierten Epos.Vielmehr weist er im Fortgang der Argumentation nach, dass das Wunderbare dem ersten Anschein zum Trotz im indischen Drama dramatisch sei. Dies gelingt ihm, indem er auch das Wunderbare als ästhetische Kategorie versteht, deren Verständnis von historischen und geographischen Kontexten abhängig sei. Denn dasjenige, „[w]as Einem Volk, Einer Zeit unglaublich“¹²⁷ scheine, so Herder, sei einem andern keineswegs unbegreiflich. So sei der König im alten Indien zutiefst verflochten gewesen mit der Götterwelt, so dass in „dieser Region […] das Wunderbarste natürlich“¹²⁸ erschienen sei. Damit kann das Wunderbare als legitimes poetisches Mittel des indischen Dramas anerkannt werden. So sei es eben das „Wunderbare der vorausgesetzten Verblendung“, welches die „stärkste Wirkung des tragischen Schreckens und Mitleidens“ erwirke, „indem der verblendete König aus Unwissenheit, ja in der Meinung, daß er auf seinem heiligen Sitz sehr rein und edel handle, da er sich auch keinen Blick auf die Sakontala erlaubet, ein Verbrechen begeht, das er nachher so schwer büßen muß, ja ohne Zwischenkunft der Götter nie und nimmer abbüßen würde.“¹²⁹ Auch Aristoteles, da ist sich Herder sicher, würde hierin das Dramatische erkennen müssen: „Lesen Sie, was Aristoteles von solchen Szenen (Kap. 14.) sagt, und Sie werden die Wirkung des Wunderbaren hier sehr dramatisch finden.“¹³⁰
Ebd., S. 60. Zur zeitgenössischen poetologischen Diskussion über das ‘Wunderbare’ vgl. Karlheinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1975. Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 59 f., Hervorh. i.O. Ebd., S. 61 f. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63, Hervorh. i.O. Ebd., S. 63 f. Herder verweist hier auf jenes Kapitel in der Poetik, in dem Aristoteles sich mit der Gestaltung der Konfliktsituationen in den Tragödien auseinandersetzt. Aristoteles zufolge soll sich die Tragik nicht erst aus der Inszenierung der Tragödien ergeben, sondern aus der „Zusammenfügung der
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Nach dieser argumentativen Integration des Wunderbaren in den dramatischen Gattungsdiskurs kann der vorläufigen Gattungsbezeichnung des Textes als dramatisches Epos eine weitere Bestimmung an die Seite gestellt werden: Unvermerkt sind wir also zur Hauptfrage gelanget: „wie sich Sakontala überhaupt als Drama zu Aristoteles Begriffen von der theatralischen Poesie verhalte, und zu welcher Gattung derselben es gehöre? Ist es ein Trauer- ein Lust- oder ein sogenanntes Mischspiel?“ Ich antworte kurz: ein Episches Drama. ¹³¹
Mit dieser Terminologie sichert Herder zum einen grundsätzlich den gattungstheoretischen Status des indischen Textes als Drama. Um zum anderen rückt er Sakuntala damit in die Nähe der shakespeareschen Dramatik. Denn im Shakespear-Aufsatz hatte Herder der Dramatik des „nordische[n] Barde[n]“¹³² eine deutliche Affinität zum Epischen zugeschrieben.¹³³ Für Herder ist es die Darstellung von Geschichte, die Shakespeares Dramen ausmacht: „Kurz! alle Farben des Tragischen, Komischen u. s.w. fließen bei Shakespear so zusammen, daß man im Ganzen zwar immer, nach dem Mehrern in Trauer- und Lustspiel unterscheiden mag; allein mit Schattierungen, so viel, als Stücke sind, und am Ende bleibt Allen Stücken nichts gemein – als Geschichte“,¹³⁴ heißt es im ersten Entwurf des Aufsatzes. Angesichts des einzigen gemeinsamen Merkmals der shakespeareschen Dramen, der Darstellung von Geschichte,
Geschehnisse selbst“, so „daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammern empfindet.“ (Poetik, 1453b, 14. Kapitel, S. 41– 43). Indem Herder zuvor argumentiert hat, das Wunderbare sei im alten Indien als natürlich empfunden worden, meint er, dass es sich unter diesen Voraussetzungen als legitimer Teil der dramatischen Konfliktsituation im aristotelischen Sinne eigne. Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 64, Hervorh. i.O. Der Begriff des ‘dramatischen Epos’ wird damit allerdings nicht vollständig ersetzt, sondern taucht gegen Ende der Abhandlung noch einmal auf (Ebd., S. 66 f.). Herder: Shakespear, S. 509. Vgl. hierzu auch Tschopp: Inszenierte Geschichte, S. 377. Wenn Tschopp allerdings schreibt, Herder fordere ein solch epischeres Drama, „ein Drama, das die komplexe geschichtliche Welt in ihrer Totalität“ (S. 376) erfasse, wenngleich er „nur sehr bedingt Auskunft“ gebe „[ü]ber die formale Beschaffenheit eines derart zeitgemäßen Dramas“ (S. 377), dann geht diese Argumentation am Duktus des Shakespear-Aufsatzes vorbei. Dass Herder keinerlei Hinweise für ein modernes Drama formuliert und Shakespeare nicht, wie auch Tschopp sieht, als „Richtschnur für eine modernere Form des Schauspiels“ (ebd.) implementiert, liegt im Anliegen seiner Abhandlung begründet. Diese zielt zum einen auf Shakespeares Dramatik, die Herder aufwerten will, indem er sie von klassizistischen Ansprüchen befreit, und zum anderen auf eine Kritik der zeitgenössischen Dramen- und Gattungstheorie. Herder formuliert mit dem Text also zwar durchaus eine Forderung an die Gegenwart, aber diese bezieht sich keineswegs auf die zeitgenössische Dramatik. Vielmehr will Herder mit dem Aufsatz eine neue zeitgenössische Dramenkritik und einen anderen Blick auf die Gültigkeit von poetologischen Regelsystemen etablieren. Johann Gottfried Herder: Shakespear. Erster Entwurf, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767– 1781, hg.v. Gunter E. Grimm, Frankfurt/Main 1993, S. 522– 529, hier S. 525 f., Hervorh. i.O.
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verliert in Herders Sicht jegliche weitergehende Klassifizierung der Gattung ihr Erkenntnispotential. Es wurde verschiedentlich gezeigt, wie Herder seinen Begriff von Geschichte im Laufe der drei Fassungen des Aufsatzes immer weiter geschichtsphilosophisch präzisiert und verfeinert, so dass schließlich in der dritten Fassung Shakespeares geniale Autorschaft mit einem planvollen göttlichen Wirken im scheinbaren Chaos der Weltgeschichte korrespondiert:¹³⁵ Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch der Begebenheiten, der Vorsehung 〈,〉 der Welt! – einzelne Gepräge der Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten und abgetrenntest handelnden Maschinen, alle – was wir in der Hand des Weltschöpfers sind – unwissende, blinde Werkzeuge zum Ganzen Eines theatralischen Bildes, Einer Größe habenden Begebenheit, die nur der Dichter überschauet. Wer kann sich einen größern Dichter der nordischen Menschheit und in dem Zeitalter! denken! Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauschen, so tritt vor seine Bühne. Die Auftritte der Natur rücken vor und ab; würken in einander so disparat sie scheinen; bringen sich hervor, und zerstören sich, damit die Absicht des Schöpfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung gesellet zu haben schien, erfüllt werde – dunkle kleine Symbole zum Sonnenriß einer Theodizee Gottes.¹³⁶
Ähnlich wie später Hegel setzt damit auch Herder das Drama in Analogie zur Weltgeschichte,¹³⁷ aber mit denkbar verschiedenen Konsequenzen. Bei Hegel führt die Analogisierung, wie gesehen, zur Betonung einer strengen Dramenform, die idealtypisch in der spezifischen Struktur von Pathos, Kollision und Versöhnung der attischen Tragödie verankert wird und in deren Konsequenz das moderne Drama diesen Idealtypus nur verfehlen kann. Anders verfährt Herder, der im Shakespear-Aufsatz das scheinbare Chaos der Weltgeschichte betont. Diesem Chaos liegt zwar ein vernünftiger Plan Gottes zugrunde, aber er ist für die Menschheit nicht direkt einsichtig.¹³⁸ In Analogie zu einer solchen Struktur der Weltgeschichte zwischen äußerem Chaos und innerer Vernunft wird auch Shakespeares Dramatik charakterisiert. Dem angeblichen Chaos der Weltgeschichte entspricht die vermeintliche Disparatheit und Regellosigkeit der shakespeareschen Szenen, und der planvolle Gott der Weltgeschichte korrespondiert mit dem Dichter, der als einziger den inneren Plan des Dramas überblickt
Vgl. hierzu Proß: Herders Shakespeare-Interpretation und Grimm: Kommentar, S. 1166 f. Herder: Shakespear, S. 509 f. Vgl. auch Tschopp: Inszenierte Geschichte, S. 375. Die geschichtsphilosophischen Implikationen von Herders Aufsatz erhellen sich, wenn man daneben seine Ausführungen in der ebenfalls 1772/73 entstehenden Abhandlung Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit stellt. Ähnlich wie im Shakespear-Aufsatz im Arrangement des Dichters der Plan der Geschichte, die Theodizee, aufscheint, ist es in der Konzeption von Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit der (philosophische) Historiograph, in dessen Darstellung die Sinnhaftigkeit und der innere Plan der Geschichte deutlich werden sollen, auch wenn der Mensch nie in der Lage sein wird, diesen vollständig zu überblicken (vgl. Jürgen Brummack und Martin Bollacher: Kommentar, in: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774– 1787, hg.v. dens., Frankfurt/Main 1994, S. 816 – 837, hier S. 828 f.).
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und leitet. In letzter Konsequenz folgt aus der von Herder entwickelten strukturellen Analogie von Geschichte und Drama – ganz anders als bei Hegel – eine besondere Freiheit der Form. Mit den alten aristotelischen Gattungsbegriffen von Tragödie und Komödie, die sich unter den spezifischen Bedingungen der Polis und einem auf Simplizität und Lokalität ausgerichteten Geschichtsbewusstsein ausgebildet haben, ist dieses dem Zeitalter des elisabethanischen Englands angemessene ‘nordische Drama’ nicht mehr zu fassen. Es ist stattdessen beschreibbar als „dramatische[] Geschichte“.¹³⁹ Damit werden Shakespeares Dramen gattungstheoretisch in eine Nähe zu epischeren Formen gestellt, ohne den Status des Dramas zu verlieren. Das ähnelt dem Verfahren in der Sakuntala-Besprechung. Auch Sakuntala korrespondiert nach Herder nicht mit den klassisch antiken Begrifflichkeiten der Tragödie oder Komödie. Herder unterstreicht explizit die Ähnlichkeit der Form des indischen und des englischen sowie des spanischen Dramas: Alle Begebenheiten der Bühne sind uns Begebenheiten der Welt; unser Gesichtskreis ist erweitert, unsere Teilnehmung zwar gewiß nicht Urteilvoller, feiner, tiefer, als sie es bei den besten Griechen gewesen sein mochte, aber Bedingungsloser und gleichsam unumschränkter. Daher die Form der alten Spanischen und Englischen Stücke; daher auch die Form dieses Indischen Drama [sic!].¹⁴⁰
Auch Aristoteles, so Herder, habe diese epischere Form des Dramas gekannt, aber versucht „das Drama seiner Nation in den Kunstschranken zweier unvermischten Gattungen, des Trauer- und Lustspiels zu erhalten“, weil sonst „notwendig die Schärfe seines ganzen Kunstbegriffs verloren“ gegangen wäre.¹⁴¹ Herder ist diesen epischeren Formen des Dramas gegenüber hier nicht mehr so bedingungslos positiv eingestellt wie im Shakespear-Aufsatz, vielmehr betont er, dass das „wahre dramatische Kunstgefühl der Griechen […] manchem Volk ganz fremde“ geblieben sei, und es daher noch abzuwarten gelte, „[w]elchen Platz man einst den Indiern […] unter den Theaterliebhabern anweisen werde“. Trotzdem kann er am Ende befriedigt feststellen, dass „dies erste Stück, das wir von ihnen [den Indern, F.K.] kennen, ob es gleich nur ein dramatisches Epos ist, in allen wesentlichen Teilen aufs nächste und feinste an die griechische Kunst“ grenze.¹⁴² *** Es liegt nach diesen Ausführungen auf der Hand, warum Herder anhand Kālidāsas Sakuntala gattungstheoretische Überlegungen anstellte: Das Stück ermöglichte ihm, einige der knapp zwanzig Jahre zuvor im Shakespear-Aufsatz unternommenen Annahmen zur Gattung Drama zu verifizieren und zu präzisieren. Für dieses Unternehmen bot sich Sakuntala paradigmatisch an, weil Herder davon ausging, dass eine wie
Herder: Shakespear, S. 511. Herder: Über ein morgenländisches Drama, S. 65, Hervorh. i.O. Ebd., S. 67, Hervorh. i.O. Ebd., S. 68, Hervorh. i.O.
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auch immer geartete Einflussnahme des griechischen Dramas auf das indische Drama oder vice versa ausgeschlossen sei. Damit war die Sakuntala besser als alle Texte aus den europäischen Dramentraditionen geeignet, die These einer historischen Gebundenheit der dramatischen Gattung zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Selbstbewusster als noch im Shakespear-Aufsatz bezweifelte Herder darum anhand der Sakuntala die Brauchbarkeit der sogenannten aristotelischen Regeln für die Formulierung von Poetologien des Dramas mit universalem Geltungsanspruch.¹⁴³ Seine These der Historizität der Gattung konnte er erweitern, indem er sie durch die Behauptung einer historischen Gebundenheit des Wunderbaren auch auf ästhetische Prinzipien im Drama bezog. Als transhistorisch verbindendes Signum des Dramatischen verifizierte er abermals, wie auch schon im Shakespear-Aufsatz, die wirkungsästhetischen Kategorien Mitleid und Furcht. Allein in diesen Bestimmungen konnte die Poetik des Aristoteles nach Herder Anspruch auf universale Geltung erheben. Herders Definition des Gattungsbegriffs fiel damit wesentlich weicher aus, als dies in der aristotelischen Tradition der Fall war. Während in der Poetik das Trennende zwischen Epos und Tragödie sowie Komödie betont wird, rückte Herder schon im Shakespear-Aufsatz das ‘nordische Drama’ in die Nähe des Epischen. Konsequenter ausformuliert findet sich dies in Bezug auf die Sakuntala. Ob ‘dramatisches Epos’ oder ‘episches Drama’ – Sakuntala war für Herder ein (orientalisches) Drama, das in einem dramentheoretischen Gattungsdiskurs als Exempel der Gattung seinen Platz hatte.¹⁴⁴ Noch deutlicher als im Shakespear-Aufsatz verstand er damit in der Abhandlung Über ein Morgenländisches Drama das Epische als legitimen Modus der Gattung Drama.
Wie im Shakespear-Aufsatz argumentiert Herder auch in der Abhandlung Über ein morgenländisches Drama, dass „das Theater der Griechen nur aus dem Chor entstanden sei, und sich daraus gleichsam zergliedert habe“ und „daß eben dieses Chors wegen die Einheit des Orts, die Kürze der Zeit, das Einfache der Handlung in ihm gegeben und vorausgesetzt“ gewesen sei. Entschiedener aber noch als in dem früheren Text betont Herder im Kontext der Sakuntala-Besprechung, dass „Zusammenhang der Teile also, Einheit, Fortgang und Interesse der Handlung […] die Seele des Drama“ sei und „keine kleinliche Rücksicht auf Ort und Zeit, von der auch Aristoteles sehr entfernt“ gewesen sei. (Ebd., S. 65). Im Shakespear-Aufsatz ist diese Annahme, dass Aristoteles selbst einer extremen Betonung der Einheiten fern gestanden habe, zwar angelegt, aber noch nicht so deutlich ausformuliert. Dass es sich bei dieser Gattungszuschreibung keineswegs um eine Selbstverständlichkeit handelt, zeigt sich auch elf Jahre später im begleitenden Vorwort zu der von ihm herausgegebenen zweiten Auflage von Forsters Übersetzung, in der Herder sich genötigt sah, die Gattungszugehörigkeit des indischen Textes noch einmal extra zu betonen: „Uebrigens ist Sakontala, oder der entscheidende Ring, seiner Abweichungen vom Griechischen, Französischen und Englischen Theatercostume ungeachtet, ein Drama, wie irgend Eins es sein mag, eine wahre, ja ich möchte sagen, die zarteste Schicksalsfabel.“ (Herder: Vorrede zur zweiten Ausgabe von G. Forsters „Sakontala“ [1803], in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 8: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792– 1800, hg.v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/Main 1998, S. 986 – 990, hier S. 990).
2.2 Irritation und Stabilisierung des Gattungsdiskurses
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2.2.2 Indien und das romantische Drama in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wenn Herder Sakuntala im gleichen Atemzug mit dem spanischen und englischen Drama nennt, und alle drei Traditionen in Opposition zum attischen Drama setzt, dann ist das ein Zeichen dafür, wie leicht sich das indische Drama in zeitgenössische antiklassizistische (in diesem Fall frühromantische) Argumentationszusammenhänge einpassen ließ. Diese Tendenz hielt auch in den Jahrzehnten nach dem Erscheinen von Herders Sakuntala-Abhandlung an. Ähnlich wie Herder betont etwa August Wilhelm Schlegel in seinen 1808 gehaltenen Vorlesungen Ueber dramatische Kunst und Litteratur die Selbstständigkeit des indischen Schauspiels und seine Nähe zum romantischen Drama Shakespeares: [B]ey dem Volke, von welchem vielleicht alle Bildung des Menschengeschlechts ausgegangen, den Indiern, hat es Schauspiele gegeben, lange ehe sie irgend eine fremde Einwirkung erfahren. Sie haben, wie in Europa erst kürzlich bekannt geworden, eine reichhaltige dramatische Litteratur, deren Alter gegen zweytausend Jahre hinaufgeht.Von ihren Schauspielen (Nataks) kennen wir als Probe bis jetzt nur die liebliche Sakontala, welche, bey dem fremden klimatischen Colorit, im Bau des Ganzen eine so auffallende Aehnlichkeit mit unserm romantischen Schauspiel hat, daß man argwöhnen sollte, der englische Uebersetzer Jones habe aus Vorliebe für den Shakespeare auf diese Aehnlichkeit hingearbeitet, wenn nicht andre Gelehrte seine Treue bestätigten.¹⁴⁵
Schlegels Gedanke wurde etwa durch Oskar Wolff weiter tradiert, dem Übersetzer von Horace H. Wilsons Select Specimens of the Theatre of the Hindus (1827). In der Einleitung zu Wilsons Werk ordnet Wolff das indische Drama mit einem direkten Verweis auf Schlegel als romantisch ein: Die Bühne der Hindu’s gehört zu jener Abtheilung dramatischer Erzeugnisse, welche neuere Kritiker mit dem Namen der romantischen belegen, als Gegensatz zu denen, welche von einigen Schulen classisch bezeichnet werden. – Dies ist der Beobachtung eines der ersten Dramaturgen aller Zeiten nicht entgangen und Schlegel bemerkt, dass das Drama Sakontala durch seine glänzende orientalische Färbung hindurch, im Ganzen eine so treffende Aehnlichkeit mit unseren romantischen Schauspielen blicken lasse, dass man leicht auf die Meinung kommen könne, die Liebe zum Shakespear habe einen grossen Einfluss auf den Uebersetzer gehabt, stünden nicht andere Orientalisten für die Treue der Uebertragung ein.¹⁴⁶
Tatsächlich hatte schon William Jones selbst in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Sakuntala Kālidāsa „the SHAKSPEAR of India“¹⁴⁷ genannt, ein Vergleich, den Schlegel 1796 in der Abhandlung Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters aufnahm: August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. 1, S. 19. [Oscar Wolff]: Einleitung, in: Horace Hayman Wilson: Theater der Hindu’s. Aus der Englischen Uebertragung des Sanscrit Originals, metrisch übersetzt, Erster Theil, Weimar 1828, S. I-XII, hier S. V, Hervorh. i.O. Jones: Sacontalá, S. V, Hervorh. i.O.
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
„Die Nataks oder Indischen Schauspiele,“ sagt der berühmte Sir William Jones in seiner Vorrede zur Sakontala, „sind durchgehends in Versen, wo der Dialog einen höheren Schwung nimmt, und in Prosa, wo er sich zur gewöhnlichen Unterredung herablässt. Den Vornehmen und Gelehrten wird das reine Sanskrit in den Mund gelegt, die Weiber hingegen sprechen Prakrit, welches nicht viel anders ist, als die Bramensprache durch eine weichere Aussprache bis zur Zartheit des Italiänischen verschmelzt, und die geringen Leute den Dialekt der Provinz, den sie jedesmahl nach der Voraussetzung bewohnen.“ Dieß ist schon an sich merkwürdig genug: es liesse sich eine Abhandlung von Schlussfolgen darüber schreiben,welchen Grad der Bildung es bey den Hindus in dem Zeitpunkte voraussetzt, da jene Schauspiele geschrieben wurden. Aber ungemein merkwürdig wird es, wenn man einen Blick der Vergleichung auf unsern Dichter [Shakespeare, F.K.] wirft. Eine so auffallende, genaue Übereinstimmung in einem ganz besondern Punkte zwischen zwey Dichtern, die durch ein paar Jahrtausende, durch ganze Welttheile, durch den größten möglichen Abstand des Klima, des Nazionalgeistes, der Sitten und Sprachen, von einander geschieden werden! Man wird wohl annehmen müssen, daß sie nicht durch ein blindes Spiel der Willkühr zusammentreffen, sondern daß beyde aus einer gemeinschaftlichen Quelle geschöpft haben, die in allen Zonen und Zeitaltern fließt, wenn menschliche Verkehrtheit sie nicht verstopft.¹⁴⁸
Schlegels (an Jones angelehnte) Formulierung einer ästhetischen und geistigen Verwandtschaft von Shakespeare und Kālidāsa, die alle historischen und kulturellen Distanzen aufhob, setzte sich im deutschsprachigen Raum bis ins lexikalische Wissen durch. So wurde Kālidāsa etwa unter dem Eintrag ‘Indisches Theater’ im Allgemeinen Theater-Lexikon von 1840 ganz selbstverständlich als „der Shakespeare Indiens“ eingeführt.¹⁴⁹ Mit dieser behaupteten Nähe zwischen Kālidāsa und Shakespeare korrespondierte die Einordnung des indischen Dramas in dramen- und theatergeschichtlichen Werken sowie Abhandlungen zur indischen Kultur und Geschichte als ‘romantisches Drama’. Der Begriff des ‘romantischen Dramas’ umfasste das altindische, englische und spanische Drama und stand im Gegensatz zum ‘klassischen Drama’ der Griechen, bzw. demjenigen der Römer und Franzosen als deren vermeintlichen Epigonen. So heißt es etwa in einer 1830 erschienenen Studie des Königsberger Orientalisten Peter von Bohlen über die altindische Literatur und Kunst: Ueberhaupt ist die eigentliche Tragödie unbekannt, Trauer- und Lustspiel fließen hier in einander, und da noch überdieß der Inder eine wunderbare Entwickelung vorzieht, wo Aristoteles eine natürliche fordert, so kann man das Indische Drama, im Gegensatze des klassischen, das romantische nennen.¹⁵⁰
August Wilhelm Schlegel: Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters, in: Die Horen Bd. 6, 4. Stück (1796), S. 57– 112, hier S. 82 f. Art. „Indisches Theater“, in: Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde, hg.v. R. Blum, K. Herloßsohn, H. Marggraff, Bd. 4, Altenburg, Leipzig 1841, S. 279 – 282, hier S. 282. Peter von Bohlen: Das alte Indien, mit besonderer Rücksicht auf Aegypten, 2. Theil, Königsberg 1830, S. 427.
2.2 Irritation und Stabilisierung des Gattungsdiskurses
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Nicht nur der Hinweis auf die Bedeutung des Wunderbaren für das indische Drama deutet darauf hin, dass von Bohlen Herders Argumente aus dem Aufsatz Über ein morgenländisches Drama gekannt hat, sondern auch die Betonung, dass die beiden klassischen Dramengattungen der Tragödie und der Komödie in der indischen Literatur fehlen. Auch die Behauptung einer Abwesenheit der Einheit von Ort und Zeit, die für Herders Überlegungen zentral war, avancierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum maßgeblichen Indiz für die Zuordnung des indischen Dramas zum ‘romantischen Drama’.¹⁵¹ Im Laufe der Zeit wurden in der Diskussion über die Nähe zwischen dem altindischen und dem europäischen ‘romantischen Drama’ noch weitere Argumente vorgebracht. In den 1839 erschienenen Vorlesungen über die Geschichte der Poesie von Arnold Rudolf Carl Fortlage ist es neben den genannten Aspekten auch die Behauptung von ähnlichen Ursprungskontexten, die die Nähe von altindischem und europäischem Drama begründet: Das Drama trat im Alterthum bei zweien sehr entgegengesetzten Nationen selbstständig hervor. So entgegengesetzt der Charakter dieser Nationen war, eben so entgegengesetzt war auch der Charakter ihrer Schauspiele. In Indien nahmen sie ihren Ursprung aus Pantomimen und Schäferspielen; ihr Inhalt war Liebes-Intrigue von Anfang an. In Griechenland nahmen sie ihren Ursprung aus ernsten Festchören, und ihr Inhalt war die Blutrache des Schicksals. Der tragische Ausgang, welcher in Griechenland Voraussetzung war, war in Indien untersagt. Im neueren Europa hat sich bei vier Nationen ein selbstständiges Drama gebildet, in Spanien, England, Frankreich und Deutschland. Den Ursprung seines Drama’s hat Europa mit Indien gemein, nämlich Pantomimen und Schäferspiele.¹⁵²
In Fortlages Ursprungsszenerie des europäischen Theaters steht Europa Indien damit näher als dem antiken Griechenland. Dass Fortlage Rom als dritte Altertumskultur mit
Vgl. etwa das Vorwort des Tübinger Orientalisten Ernst Meier zu seiner Übersetzung der Sakuntala, in dem es heißt: „Was die Technik der indischen Schauspiele betrifft, so binden sie sich eben so wenig als unser romantisches Drama an die Einheit von Zeit und Ort.“ (Die klassischen Dichtungen der Inder. Aus dem Sanskrit übersetzt und erläutert, Zweiter Theil: Dramatische Poesie. Sakuntala. Ein indisches Schauspiel von Kalidasa. Aus dem Sanskrit und Prakrit übersetzt und erläutert von dems., Stuttgart 1852, S. XXVI). Ähnlich lautet die Argumentation eines anonymen Rezensenten in den Jahrbücher[n] der Literatur: „Wenn die Nataka [indische Schauspiele, F.K.] hinsichtlich der Feyerlichkeit der Handlung und der Würde der Person einige Aehnlichkeit mit der griechischen Tragödie darbeut, so wird nicht auf die Einheit der Zeit und des Ortes, wiewohl strenge auf die der Handlung gesehen; der wesentlichste Unterschied aber dieses indischen Schauspiels von dem griechischen und dem anderer Völker besteht in der gänzlichen Abwesenheit alles Unterschiedes zwischen Komödie und Tragödie; in dieser Hinsicht können die indischen Schauspiele in dieselbe Klasse mit so vielen spanischen und englischen, welche ein Zwitterart zwischen Tragödie und Komödie sind, gestellet werden.“ (Jahrbücher der Literatur, Bd. 46, April, Mai, Juni 1829, S. 2 f.). Auch Herder hatte schon die Einheit der Handlung als verbindendes Glied von griechischem und indischem Drama verstanden (vgl. Über ein morgenländisches Drama, S. 58). Carl Fortlage:Vorlesungen über die Geschichte der Poesie gehalten zu Dresden und Berlin im Jahre 1837, Stuttgart, Tübingen 1839, S. 272.
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
einer überlieferten Dramentradition ausspart, liegt in der zeitgenössisch verbreiteten Annahme begründet, das römische Drama sei ein Epigone des griechischen Dramas.¹⁵³ Fortlage geht daher von nur zwei Altertumskulturen mit einer eigenständigen Dramentradition aus. Während seine Annahme eines ähnlichen Ursprungs latent zunächst noch in einer gesamteuropäischen Perspektive gründet, unterscheidet er in den folgenden Abschnitten zwischen zwei großen Sphären, die mit der Differenzierung zwischen dem Drama des antiken Griechenlands und dem altindischen Drama korrespondieren und jeweils noch zwei weitere maßgebliche europäische Dramentraditionen umfassen: In der Tragödie haben die Franzosen am meisten, und nächst ihnen die Deutschen, griechischen Formen nachgeeifert. Die Franzosen nahmen von den Griechen die Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung an, dazu die Würde und langsame Bewegung der Gruppen, den gleichförmigen Pathos der Sprache, welche sich auf gleicher poetischer Höhe hält und weder steigt noch sinkt. Auch den senarischen Jambus, und das gemessene Gegenreden Vers gegen Vers, haben die Franzosen von den Griechen entlehnt. […] Unter den Deutschen hat Schiller mit Euripides das sententiöse Wesen und die gespannten Zustände gemein […]. Goethe hat im Tasso und in der Iphigenie Sophokleischen Candor der Sprache und Haltung erreicht. Dahingegen hat das englische Drama viele Züge mit dem indischen gemein, welche nirgendsher erborgt oder nachgeahmt wurden, sondern aus dem unmittelbaren Bedürfniß der Schauenden und dem Drange des Dichters hervorgingen. Bei Shakespear, so wie im indischen Drama,wechseln die Scenen schnell; die Scene läuft gleichsam der Handlung nach; es mischen sich Prosa und Verse, die grandiose Sprache der Helden und die niedrige der Knechte, komische und tragische Auftritte, Ernst und Humor durcheinander. […] Auch ist Shakespear stark, gleich den Indiern, in Naturschilderungen, besonders Schilderungen von Sturm und Seescenen, wobei auch er das Complicirte und blitzartig Treffende der indischen Phantasie hat, deren Bilder bei Auffassung des Ungeheuren mehr witzig als schön sind. Der im fünften Act der indischen Komödie Mritschakati geschilderte Sturm findet bei Shakespear viele Gegenbilder. Calderon erreicht besonders in seinen mythologischen Stücken, wie Echo und Narciß, den indischen Zauber, worin sich eine ganze Scenerie in die bloßen Farbenschatten einer bunten magischen Laterne zu verwandeln scheint. Auch hat Calderon das mit den Indiern gemein, daß er die Waldscenen liebt, und sich den Liebesgram gern gegen die Wildniß ausklagen läßt. Dazu entfaltet Calderon einen Reichthum orientalischer Phantasie, und erreicht die indische Sprache an Weichheit des Versbaus. So werden die Charaktere antiker Dramen im neuen Schauspiel gemischt und zerstreut wieder gefunden, theils durch künstliche Nachahmung, theils durch unwillkürliche Reproduction.¹⁵⁴
Natürlich gingen weder Fortlage noch andere Orientalisten oder Ästhetiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ernsthaft von einer direkten Nachahmung des altindischen Dramas durch ‘romantische Dramatiker’ wie Shakespeare oder Calderón aus. Dagegen sprachen die Fakten allzu deutlich. Denn während die antiken Tragödien Diese Annahme bestimmt die Theatergeschichtsschreibung bis heute. Theo Girshausen hat gezeigt, dass bis in die neuesten theatergeschichtlichen Überblicksstudien hinein, ‘antikes Theater’ das attische Theater des 5. Jh. v.Chr. meint, wohingegen das hellenistische und römische Theater weitgehend ausgespart wird (vgl. Ursprungszeiten des Theaters, S. 12 f.). Fortlage: Vorlesungen über die Geschichte der Poesie. S. 275 f.
2.2 Irritation und Stabilisierung des Gattungsdiskurses
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und Komödien und Aristoteles’ Poetik, im Zuge der Renaissance breit zugänglich gemacht worden waren, war mit Sakuntala das erste altindische Drama erst Ende des 18. Jahrhunderts in Europa bekannt geworden. Aber auch wenn es undenkbar war, eine solche direkte Verbindung zwischen Altindien und dem europäischen Drama zu formulieren, wie sie für die Relation des antiken Dramas zu Frankreich angenommen wurde, so war es doch möglich, eine geistige Verbindung zwischen dem indischen Drama und demjenigen Shakespeares und Calderóns herzustellen. Zentrale Argumente waren die Absenz der ‘klassischen’ Gattungen Tragödie und Komödie, die fehlende Geltung der Einheiten von Zeit und Ort, die Diagnose einer Vorliebe für besondere Szenerien und schließlich der Hinweis auf ähnliche Ursprungskontexte von indischem und europäischem Drama. In den dramenästhetischen Diskursen, die zwischen einem indischen ‘romantischen’ und einem griechischen ‘klassischen’ Drama unterschieden, nahm das deutsche Drama dabei eine bemerkenswerte Zwitterstellung ein. Es konnte einerseits wie bei Fortlage in eine Linie mit dem klassischen Drama gestellt werden. Es konnte aber andererseits auch als (geistige) Fortführung des altindischen Dramas vorgestellt werden. Ausgesprochen pathetisch klingt das gut 25 Jahre nach Fortlages Studien im dritten Band der monumentalen, 13bändigen Geschichte des Drama’s (1865 – 1876) des Dramatikers und Literarhistorikers Julius Leopold Klein. Klein hob insbesondere die außergewöhnliche Bedeutung der Sakuntala für die Deutschen hervor. Für die europäische Literatur schien sie ihm „die Schlüsselblume der dramatischen FrühlingsFlora Indiens; des indischen Drama-Aufgangs erster Morgenstrahl“: Alle deutschen Herzen voraus, wie mussten sich diese nicht ergriffen fühlen, als sie von den ersten Echoklängen des ersten, des stammverwandten Uebersetzers der Çakuntalâ, Sir William Jones (1789), oder vom Nachhall seiner Uebersetzung, Georg Forster’s Uebertragung der englischen Çakuntalâ in’s Deutsche (1791), berührt wurden. Mussten sie nicht von Empfindungen erzittern, denen ähnlich, die den Alpler in der Fremde durchbeben, wenn ihm die Klänge des Alphorns entgegenschallen? Und war es denn nicht auch ein Heimwehgefühl, ein Kuhreigen aus der Urheimat, dem Himalaya-Alpenlande, der seinen Wiederhall, schallend von sehnsuchtsvoller Entzückungswehmuth, in germanischen Herzen finden musste?¹⁵⁵
Kleins Schwärmerei ist Teil jenes vor allem sprachwissenschaftlich und mythographisch geprägten Diskurses, der Deutschland im 19. Jahrhundert in eine besondere Verwandtschaft zu Indien und auch zu Persien rückte. Während es allerdings in der Mythenforschung und der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft gelingen konnte, durch die Annahme eines Urmythos oder einer Ursprache, die im indischen oder persischen Raum lokalisiert wurden, genealogische Verbindungslinien zwischen dem alten Orient und dem deutschen Altertum zu ziehen,¹⁵⁶ war dies aufgrund der langen Unkenntnis des indischen Dramas in Europa nicht möglich. Die fehlende
Julius Leopold Klein: Geschichte des Drama’s, Bd. 3: Geschichte des aussereuropäischen Drama’s und der lateinischen Schauspiele nach Christus bis Ende des X. Jahrhunderts, Leipzig 1866, S. 228 f. Vgl. Kapitel 1.2.
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Kapitel 2: Die Altertümer im Gattungsdiskurs
Plausibilität einer solchen direkten Traditionslinie versuchte Klein daher durch metaphorische Behauptungen der Wesensverwandtschaft zu kompensieren, in denen Sakuntala zum langersehnten Echoklang aus der „Urheimat“ und Goethe schließlich zur Verkörperung der Synthese zwischen griechischem ‘Maßgefühl’ und indischer ‘Beschaulichkeit’ wurde: Unter deutschem Himmel und dem Einflusse deutscher Erziehung und Schulbildung empfing jenes geistig sinnliche Wesen die classische Stählung und ein plastisches Maassgefühl, wie keinem andern Dichter, seit den Griechen, beschieden ward. Dieses plastische Maassgefühl, diesen göttlichen Sinn für das Harmonisch-Schöne hat seine Kunst vor der Brahmanen-Poesie voraus, in welcher aber seine Geistesstimmung, sein tiefer Beschaulichkeitshang, doch immer wurzelt. Nächst Shakespeare, ist keines Dichters Seelengrundgewebe so indisch, wie bei Goethe.¹⁵⁷
Die Bedeutung der klassischen Antike für Goethe war demnach Resultat ernsthafter Studien – die Nähe zur „Brahmanen-Poesie“ aber beruhte auf einer geistigen Seelenverwandtschaft.
2.3 Fazit Während das Spektrum der Altertümer, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Referenzpunkte in ästhetischen und politischen Diskursen zur Verfügung standen, grundsätzlich breit war, blieb die Zahl derjenigen Altertumskulturen, die im zeitgenössischen Gattungsdiskurs über das Drama auf der Grundlage der Überlieferung zur Sprache kamen, eng begrenzt. Nachdem im Laufe des 18. Jahrhunderts die römische theatrale und dramatische Tradition diskursiv mehr und mehr in einem epigonalen Verhältnis zum griechischen Theater gesehen wurde, beschränkte sich im deutschsprachigen Raum die Suche nach einem Ursprung der europäischen Dramentraditionen regelmäßig auf Griechenland. An den dort etablierten Maßstäben waren schließlich alle nachfolgenden europäischen Dramen zu messen. Die Entdeckung eines indischen Dramas, dem eine ähnliche Anciennität zugeschrieben werden konnte, stellte daher eine ernsthafte Erschütterung dieses einsträngigen Narrativs dar. Dass es im alten Indien eine offensichtlich unabhängig von anderen Einflüssen entstandene Dramentradition gab, hatte zum einen eine Aufwertung und Popularisierung von Indien als Altertum zur Folge. Dies galt auch und insbesondere außerhalb der Grenzen von dramatischen Diskursen. Denn Sakuntala war maßgeblicher Katalysator für die Prominenz, die das Studium des Sanskrit und der indischen Philosophie und Kulturgeschichte in Deutschland gewann. Aber darüber hinaus entfaltete es auch Wirkung in gattungstheoretischen Diskursen. Die Geltung der klassizistischen Regeln des Dramas, die seit der Renaissance auf der aristotelischen Poetik gründeten, war zwar im deutschsprachigen gattungs-
Klein: Geschichte des aussereuropäischen Drama’s, S. 232 f.
2.3 Fazit
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theoretischen Diskurs noch bis weit in das 19. Jahrhundert fast ungebrochen. Das wurde hier exemplarisch an Hegels Dramentheorie demonstriert, deren Bedeutung im literarischen Feld in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kaum überschätzt werden kann. Hegel argumentiert, wie gesehen, in der Ästhetik sowohl systematisch als auch historisch: In einem systematischen Zugriff entwirft er die Struktur des Dramas in impliziter Analogie zum Verlauf der Weltgeschichte. Diese Struktur, die sich durch das Pathos der Helden, durch Kollision und Versöhnung auszeichnet, sieht er ideal verwirklicht in der attischen Tragödie. Die historische Verortung dieser Tragödie in der griechischen Antike des 5. Jahrhunderts v.Chr. führt dazu, dass die dramatische Poesie, gemessen an den hegelschen Leistungszuschreibungen, in der Moderne prekär geworden zu sein scheint. In Hegels Ästhetik ist die griechische Antike damit Angelpunkt seiner Bestimmungen des Dramas, der Tragödie und des Tragischen. Vor dem Hintergrund dieser Dominanz der griechischen Antike im zeitgenössischen gattungstheoretischen Diskurs ist die spezifische Resonanz bemerkenswert, die der Fund eines altindischen Dramas auslöste. Schon kurz nach dem Erscheinen von Forsters Übersetzung der Sakuntala wurde der Text, verstanden als paradigmatisches Exemplar der indischen Dramatik, zum Gegenstand gattungstheoretischer Überlegungen. Nirgendwo ist das so prominent formuliert worden wie in Herders Abhandlung Über ein morgenländisches Drama. Für ihn bietet der Text die Gelegenheit, die Argumente aus seinem zwanzig Jahre älteren Shakespear-Aufsatz zu bekräftigen und weiterzudenken. Gegen den universalen Geltungsanspruch klassizistischer Poetologien argumentiert Herder, dass Gattungen historischen Wandlungen unterlägen und dass eine zeitgenössische ästhetische Kritik diesem Umstand durch die Formulierung angemessener Poetologien Rechnung tragen müsse. Die Existenz eines indischen Dramas lässt sich in Herders Argumentation darum für einen Angriff auf den normativen Geltungsanspruch des attischen Dramas und Aristoteles’ Poetik nutzen. Was bei Herder schon angelegt war, setzte sich im Laufe der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts durch: Das altindische Drama, für das trotz anderer Funde Kālidāsas Sakuntala paradigmatisch blieb, avancierte zum frühen Vertreter des ‘romantischen Dramas’. Sakuntala stärkte damit das ‘romantische Drama’ und führte zur Stabilisierung eines Gattungsdiskurses, in dem ‘romantisches’ und ‘klassisches’ Drama als zwei grundsätzlich voneinander unterschiedene, gegensätzliche Dramentraditionen charakterisiert wurden. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war das hohe Alter des indischen Dramas. Denn nur durch diese Anciennität konnte es tatsächlich in ein Konkurrenzverhältnis zum griechischen Drama gebracht werden. In dieser Konstellation standen sich Indien und Griechenland antipodisch gegenüber: auf der einen Seite das ‘romantische Drama’ Altindiens, das seine geistige Nachfolge im Drama Shakespeares und Calderóns fand, und auf der anderen Seite das ‘klassische Drama’ der griechischen Antike mit seinen französischen Nachahmern. Das deutsche Drama aber konnte sowohl der einen als auch der anderen Seite zugeschlagen werden – oder gar, wie bei Julius Leopold Klein, als ideale Synthese beider Dramentraditionen verstanden werden.
Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer Nachdem das vorangegangene Kapitel den Ort bestimmt hat, der den Altertümern und der Antike im dramentheoretischen Gattungsdiskurs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugewiesen wurde, wechselt das folgende Kapitel die Seite und fragt nach den handfesten bühnenpraktischen Bedingungen für die Pluralisierung der Altertümer. Es geht um einen grundlegenden Wandel in den Darstellungskonventionen zwischen 1770 und 1830, der überhaupt erst die nötigen Prozesse der Diversifizierung ermöglichte. Auch dazu hat Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik kursorisch etwas gesagt. Die relevanten Passagen finden sich im Kontext seiner Überlegungen zu den spezifischen Potentialen mythologischer und historischer Stoffe für Dramen und andere Kunstwerke: Sie rücken das Geschehen in Distanz zur Gegenwart der Zuschauer und bewirken damit den Effekt der Verallgemeinerung, der, wie im zweiten Kapitel gezeigt, nach Hegels Auffassung für die Wirkung der Kunst unbedingt notwendig ist. Gleichzeitig sieht Hegel allerdings die Gefahr, dass das Publikum unter Umständen das Kunstwerk nicht verstehen könne, wenn es ihm an der nötigen Vorbildung fehle. Diese Problematik gilt nach Hegel in besonderem Maße, wenn die Handlung nicht nur in der Imagination der RezipientInnen Form gewinne, sondern unmittelbar in der Aufführungssituation vor Augen gestellt werde: Die gefährlichste Klippe aber sind diese [historischen, F.K.] Außenseiten für die dramatische Kunst, besonders bei Theateraufführungen, wo alles unmittelbar zu uns gesprochen wird oder lebendig an unsere sinnliche Anschauung kommt, so daß wir ebenso unmittelbar uns darin bekannt und vertraut finden wollen. Hier muß die Darstellung der historischen äußeren Wirklichkeit deshalb am meisten untergeordnet und ein bloßer Rahmen bleiben […]. In Shakespeares historischen Stücken z. B. ist für uns vieles, was uns fremd bleibt und wenig interessieren kann. Beim Lesen sind wir zwar damit zufrieden, im Theater nicht. Die Kritiker und Kenner meinen allerdings, dergleichen historische Kostbarkeiten sollten ihretwegen mit zur Darstellung kommen, und schimpfen dann über den schlechten, verdorbenen Geschmack des Publikums, wenn es bei solchen Dingen seine Langeweile zu erkennen gibt; das Kunstwerk aber und sein unmittelbarer Genuß ist nicht für die Kenner und Gelehrten, sondern für das Publikum […].¹
Ähnlich wie in der Frage nach geeigneten Stoffen argumentiert Hegel auch in Bezug auf die Aufführung rezeptionsästhetisch und fürchtet um die Wirkung einer Darbietung, die allzu stark auf die Historizität des Dargestellten setzt. Gerade im Theater seiner Gegenwart beobachtete er aber offensichtlich eine Tendenz, die seinem Wunsch nach der Verständlichkeit dramatischer Kunst entgegenlief. So bemerkt er, dass neuerdings „die Direktionen […] in Kostüm und Ausstattung sehr auf historische Treue“ Wert legten, und moniert zugleich, dies sei „eine Mühe, welche jedoch überhaupt in den
Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 357. DOI 10.1515/9783110473353-004
Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
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meisten Fällen verschwendet“ sei, betreffe sie doch „nur das Relative und Gleichgültige“.² Hegel wendet sich damit gegen eine Ausstattungspraxis, die zu seiner Zeit noch ganz am Anfang stand und sich in der Tat über das Kriterium der ‘historischen Treue’ definierte – wenngleich dieser Begriff sehr verschieden streng ausgelegt wurde. In Ansätzen wurde eine solche historische Kostüm- und Dekoraktionspraxis schon ab den 1730er Jahren diskutiert. Sie etablierte sich auf der Bühne aber erst sukzessive in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und fand durch die Aufführungen des Berliner Hoftheaters in den 1810er und 1820er Jahre weithin Beachtung, bevor sie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Theaterlandschaft als dominante Ausstattungspraxis durchsetzte, besonders eindrücklich in den Aufführungen des Meininger Hoftheaters in den 1860er und 1870er Jahren. Dieser Prozess der Etablierung einer historischen Ausstattungspraxis ist insbesondere in früheren Arbeiten zur Kostümpraxis herausgearbeitet worden.³ Bisher noch gar nicht in den Blick geraten ist allerdings die große Bedeutung, die in diesem Prozess die Rezeption der Antike und anderer Altertumskulturen einnimmt. Sie steht im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses. Die Analyse fußt auf zwei Thesen: Zum einen meine ich, dass die neue theatrale Kostüm- und Dekorationspraxis sich maßgeblich in der Auseinandersetzung mit der Antike und – zeitlich etwas versetzt – den anderen Altertumskulturen entwickelt hat. Durch den Zuwachs des historischen Wissens insbesondere über bislang nicht differenziert erforschte Altertumskulturen entstand das Bedürfnis, dieses Wissen auch auf der Bühne sichtbar zu machen.Während diese erste These auf die Adaptionen des neuen altertumskundlichen Wissens im Medium des Theaters fokussiert, basiert die zweite These auf der Beobachtung von Rückkopplungseffekten des Theaters auf den öffentlichen Diskurs: Indem nicht nur Griechen und Römer, sondern auch andere alte Völker in möglichst historisch getreuen Kostümen auf die Bühne traten, wurde das Altertum zu einer spatial und temporal dif-
Ebd., S. 358. Vgl. grundlegend und mit zahlreichen Kostümabbildungen Max von Boehn: Das Bühnenkostüm in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, Berlin 1921, insbesondere S. 376 – 441. Vgl. außerdem Wilhelm Fürstenberg: Das historische Kostüm auf der deutschen Bühne, Diss. masch. Kiel 1924; Joseph Gregor: Wiener szenische Kunst, Bd. 2: Das Bühnenkostüm in historischer, ästhetischer und psychologischer Analyse, Zürich u. a. 1925; Winfried Klara: Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung. Entwicklungsfragen des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert, Berlin 1931; Wilhelm Kopp: Das Tragödienkostüm von Betterton bis Kemble in seiner Entwicklung zur historischen Treue (1660 – 1817), Bonn 1929. Vgl. neuerdings (beschränkt auf Berlin bzw. Wien) den Sammelband von Klaus Gerlach (Hg.): Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland. August Wilhelm Iffland als Theaterdirektor, Schauspieler und Bühnenreformer, Berlin 2009 sowie die Monographie von Annemarie Stauss: Schauspiel und Nationale Frage. Kostümstil und Aufführungspraxis im Burgtheater der Schreyvogel- und Laubezeit, Tübingen 2011.Vgl. allgemein zur Aufführungspraxis um 1800 (allerdings bezogen auf das Musiktheater und die Oper) den kürzlich erschienenen Sammelband von Detlef Altenburg und Beate Agnes Schmidt (Hg.): Musik und Theater um 1800. Konzeptionen – Aufführungspraxis – Rezeption, Sinzig 2012 (Musik und Theater, Bd. 1).
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
ferenzierten Größe. Die historisierende Bühnenreform hatte damit wesentlichen Anteil an der Popularisierung derjenigen Pluralisierungsprozesse, die das historische Konzept des ‘Altertums’ vom 18. zum 19. Jahrhundert durchlief. Die Untersuchung ist gegliedert in drei Abschnitte: In einem ersten Schritt (3.1) wird zunächst die Entstehung der neuen historischen Ausstattungspraxis in der theaterpraktischen und auch philologischen, archäologischen und kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der klassischen Antike rekonstruiert. Der zweite Abschnitt des Kapitels (3.2) ist der Dekorations- und Kostümpraxis auf den Bühnen des Berliner Hoftheaters unter der Intendanz Karls von Brühl gewidmet. Brühl ist von besonderem Interesse, weil er als wichtigster Begründer der historischen Kostümpraxis gelten kann. Der Berliner Intendant war mit einer ordentlichen Portion Sendungsbewusstsein ausgestattet, was sich in einer eigenen Kostümzeitschrift manifestierte. Sein Interesse galt aber nicht nur den Kostümen, sondern auch der Bühnendekoration. Für einige Inszenierungen konnte er Friedrich Schinkel gewinnen, den er versuchte, in sein Projekt der ‚historischen Richtigkeit’ auf der Theaterbühne einzubeziehen. Es wird sich zeigen, dass Brühls Kostüm- und Dekorationsreform wesentlich auf der Aneignung und Transformation verschiedener Altertumskulturen beruhte. Ein kurzer Ausblick am Ende des Kapitels (3.3) wird exemplarisch vor Augen führen,welche Verbindlichkeit die historische Kostümpraxis im Laufe der Zeit gewann. Sie führte dazu, dass sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts selbst ein Künstler mit einem solch ausgeprägten ästhetischen Programm wie Richard Wagner, der dezidierte Vorstellungen von der Aufführung seines Ring des Nibelungen hatte, nicht von ihr absetzen konnte und stattdessen unfreiwillig zum Schöpfer des ‘Theatergermanen’ wurde.
3.1 Zur Bedeutung der klassischen Antike für die Genese der historischen Kostümpraxis Unmittelbares Indiz für die Relevanz, die man dem Kostüm im 19. Jahrhundert für das Gelingen von Theateraufführungen zusprach, ist ein Artikel in dem Theoretischpractische[n] Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters, das die Theaterregisseure Philipp Jacob Düringer und Heinrich Barthels im Jahr 1841 publizierten. Die Ausführlichkeit des Artikels über das „Costume“, der auf 63 eng bedruckten Spalten eine Synthese der zeitgenössischen Positionen zum Kostüm präsentiert, ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass er zugleich den theoretischen und den praktischen Anspruch einlösen sollte, der im Titel des Lexikons formuliert ist: Der erste, kürzere Teil des Artikels stellt einen knappen Abriss der neueren Geschichte des Kostüms dar, gespickt mit zahlreichen Belegen aus zeitgenössischen dramaturgischen Schriften. Kritisch wird hier konstatiert, dass das „Natürlichkeitsprincip“ im Bühnenkostüm, das sich seit den 1770er Jahren „mächtig rege[]“, in der „neuesten Zeit“ allzu weit getrieben worden sei. Gegenwärtig scheine es so, „als setze man in die Nachahmung des Aeußern mehr Werth, als in das Aeußerliche der Dar-
3.1 Zur Bedeutung der klassischen Antike für die Genese der historischen Kostümpraxis
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stellungskunst“. So habe man zum einen „mit den Costumen neuerdings einen solchen Luxus getrieben, daß der Aufwand für dieselben den größten Theil der Einkünfte einer Bühne“ verschlinge, womit auch „das Interesse der Zuschauer vorzugsweise auf das Sinnliche der Darstellung hingeleitet worden“ sei. Zum anderen habe „man nach einer pedantischen Genauigkeit mit einer peinlichen Treue in den Costumen gestrebt, als solle der Zuschauer von der Bühne aus die Kleidertrachten u. Moden der Völker kennen lernen“.⁴ Trotz dieser kritischen Zurückweisung von übertriebenem Aufwand und historischer Pedanterie im Kostümwesen erweist sich der zweite, weit umfangreichere Teil des Artikels dann aber doch als praktischer Wegweiser für die Umsetzung eines solchen auf „historische Wahrheit“⁵ verpflichteten Kostüms. Aufgeteilt in die drei großen Sparten „Alterthum“, „Mittelalter“ und „Neuere und neueste Zeit“ reihen sich „Costume-Andeutungen der verschiedenartigsten Nationen aller Zeiten“⁶ aneinander, geordnet nach Geschlechtern und Funktionen (Soldaten, Priester etc.), unter Nennung der wichtigsten literarischen und antiquarischen Quellen sowie der zentralen Forschungskompendien. In der Abteilung „Alterthum“ findet sich dabei ein denkbar weites Spektrum an alten Völkern: Angefangen bei „Aegyptier[n]“, „Aethiopier[n]“, „Alanen“ und „Amazonen“ über „Dacier“, „Gallier“, „Germanen od. Deutsche“ sowie „Griechen u. Römer“ bis hin zu „Syrer[n]“, „Thracier[n]“ und „Trojaner[n]“ werden insgesamt 31 Völker des Altertums gelistet und Hinweise für deren historische Kostümierung erteilt. Diese höchst differenzierte Anleitung widerspricht der zuvor geäußerten Kritik an einer zu strengen Umsetzung des Prinzips der ‘historischen Wahrheit’ im Kostümwesen. Auch für den Artikel selbst ist damit die Tendenz prägend, die er selbst beklagt. Offensichtlich hatte sich die historische Kostümpraxis zu Beginn der 1840er Jahre so weit durchgesetzt, dass es in einem Theaterlexikon mit praktischem Anspruch kaum möglich war, auf Informationen über Kostüme zu verzichten, die an den neuesten historischen Kenntnissen orientiert waren. Dagegen hatte die Theaterpraxis bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts noch vollkommen anders ausgesehen. In der Regel trugen die Schauspielerinnen und Schauspieler seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ein Rokoko-Kostüm, das sich in Frankreich vor allem in der traditionell luxuriöser ausgestatteten Oper ausgebildet hatte und an der jeweiligen Mode des Hofes orientiert war.Tief dekolletierte Kleider mit Reifröcken sowie Perücken sollten die visuellen Vorzüge der Schauspielerinnen betonen, Anzüge bestehend aus langen Bruststücken mit einem ausgestellten Hüftschurz oder Kniehosen diejenigen der Männer, die dazu Wadenstrümpfe, hohe Stiefel und zumindest zu Beginn des 18. Jahrhunderts ebenfalls Perücken trugen.⁷ Die Qualität
„Costume“, in: Theater-Lexikon. Theoretisch-practisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters, hg.v. Philipp Jacob Düringer und Heinrich Barthels, Leipzig 1841, Sp. 227– 290, hier Sp. 232 f., Hervorh. i.O. Ebd., Sp. 233. Ebd., Sp. 235. Einen Eindruck von diesen Rokoko-Kostümen vermitteln die nach französischer Vorlage durch Cosander von Goethe gefertigten Zeichnungen der Berliner Aufführung der Festa del Hymeneo (1700)
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dieser Kostüme bemaß sich weniger nach ihrer Leistung für die (historische, ständische o. ä.) Charakterisierung der jeweiligen Rolle, sondern vielmehr nach ihrer luxuriösen Ausstattung. Die Kostümpraxis reagierte daher zwar auf Änderungen der zeitgenössischen Mode, blieb sich aber darin gleich, dass in den allermeisten Fällen nur wenige Attribute den Rollencharakter unterstützten, die dem Kostüm hinzugefügt wurden. Diese Praxis galt zumal für die Truppen der Wandertheater, deren räumliche und finanzielle Ressourcen eng begrenzt waren.⁸ Aber auch für die stehenden Bühnen war es bis ins 19. Jahrhundert hinein überwiegend Usus, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler selbst für ihre Garderobe zu sorgen hatten und in der Konsequenz in weiten Teilen eigenmächtig entscheiden konnten, was sie auf der Bühne trugen.⁹ Dieser Zustand und die Folge, dass die Kostüme im Theater kaum Aussagekraft für die Rollenfiguren besaßen, hatte Gottsched schon 1730 in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen beklagt. Es wirke „lächerlich“, bemängelte er, wenn die „Römischen Bürger in Soldaten-Kleidern mit Degen an der Seite“ aufträten, „da sie doch lange weite Kleider von weißer Farbe“ getragen hätten. Gottsched forderte stattdessen, die Schauspieler sollten „bald in Römischer, bald in Griechischer, bald in
des italienischen Komponisten Attilio Ariosti (1666 – 1729), eines Singspiels mit Balletteinlagen, das durch den Prunk der Kostüme großes Aufsehen erregte.Vier kolorierte Figurinen sind beigelegt in Louis Schneider: Geschichte der Oper und des Koeniglichen Opernhauses in Berlin. Mit den architektonischen Plänen des 1740 vom Freiherrn von Knobelsdorff und des 1844 vom Königlichen Ober-Bau-Rath Langhans neuerbauten Berliner Opernhauses. Pracht-Ausgabe mit historischen Dokumenten, artistischen Beilagen und eingedruckten Holzschnitten, Berlin 1852. Vgl. außerdem die Stiche in Johann Meßelreuter: Neu-eröffneter Masquen-Saal, Oder: Der verkleideten Heydnischen Götter, Göttinnen und vergötterter Helden theatralischer Tempel, Darinnen In mehr als 200. Kupffer-Stichen vorgestellet wird / wie solche Gottheiten der Alten / bey jetziger Zeit In Opern, Comoedien, Aufzügen und Masqueraden eingekleidet und praesentiert werden können; Nebst einer beygefügten accuraten Beschreibung derer Zeichen und Farben / wie auch derer Götter Geburten / verrichteten Thaten / und erfolgten Vergötterund Verwandlungen / Aus Allerhand sowohl Heydnisch- als Christlichen Büchern colligiret, Bayreuth 1723. Allerdings wurde dem Kostüm bei Wandertruppen größere Aufmerksamkeit zuteil als der Dekoration. Diese war naturgemäß noch weitaus kostspieliger und aufwändiger in Aufbewahrung und Transport als die Kostüme,vgl. hierzu Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 71), S. 51 und Rudolf Münz: Schauspielkunst und Kostüm, in: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, hg.v. Wolfgang F. Bender, Stuttgart 1992, S. 147– 178, hier S. 158 – 160. So setzte sich August Wilhelm Iffland noch 1812 mit der Schauspielerin Friederike Bethmann-Unzelmann darüber auseinander, wer für die Kostüme verantwortlich sei, wobei er sie darauf hinwies, sie habe nach § 3 ihres „Garderobenkontraktes […] [a]lle erforderlichen französischen, altdeutschen, spanischen, türkischen oder sonstigen Anzüge mit Zutaten dazu selbst zu stellen“. Der Brief zeugt allerdings zugleich auch von dem Mentalitätswandel, der Anfang des 19. Jahrhunderts zumindest an den großen Bühnen eintrat, gestand der Theaterdirektor ihr mit dem Brief doch zu, dass sie nur noch „für 170 Taler […] den neufranzösischen Anzug zu stellen“ habe und das Theater in Zukunft für „alle übrigen Kleider ohne Ausnahme“ Sorge tragen werde (August Wilhelm Iffland an Friederike BethmannUnzelmann, 28. 3.1812, zit. nach Hermann Schaffner: Die Kostümreform unter der Intendanz des Grafen Brühl an den Kgl. Theatern zu Berlin 1814– 1828, Krefeld 1926, S. 27 f.).
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Persianischer, bald in Spanischer, bald in altdeutscher Tracht auf der Schaubühne erscheinen; und dieselbe so natürlich nachahmen als möglich“. Sein Wunsch war es daher, dass „ein verständiger Aufseher der Schaubühne sich in den Alterthümern“ kundig mache und „die Trachten aller Nationen ausstudire[], die er aufzuführen willens“ sei.¹⁰ Gottsched schlug also vor, die Weisung über das Kostüm innerhalb der Schauspieltruppen zu monopolisieren, und forderte zugleich einen höheren Stand des Wissens über die ‘Alterthümer’. Der Grund für Gottscheds Kritik an der Ahistorizität der Bühnenkostüme lag darin, dass er in ihr eine unverzeihliche Abkehr von dem Prinzip der französischen vraisemblance erkannte, wie er ein Jahrzehnt später in der [D]eutsche[n] Schaubühne betonte: [W]er in dem alten Athen, zu Demokrits Zeiten, Könige, Hofleute, Glockenthürme, Fischbeinröcke und andre solche vortreffliche Dinge verdauen kann; ja, wer einen Regulus mit einer langen Staatsperücke, und die römischen Feldherren, in der Belagerung von Karthago mit Fischbeinröcken und weißen Handschuhen; oder endlich eine Jungemagd, mit einem Achselbande und mit Mannesaufschlägen vertragen kann: der muß ja von der Wahrscheinlichkeit kein Wort sagen […].¹¹
Die unmittelbare Konsequenz seiner Appelle war allerdings zunächst nur eine entsprechende Aufführung des dritten Akts seines Sterbende[n] Cato durch Caroline Neuber im Jahr 1741 als Nachspiel zu einer Burleske unter dem Titel Das Schlaraffenland. Die berühmte Theaterprinzipalin, deren Verhältnis zu Gottsched zu diesem Zeitpunkt bereits angespannt war, kündigte die Inszenierung als einen „Versuch“ an und ließ das Stück „getreu in nachgeahmt römischer Tracht“ spielen, wobei die Schauspieler sogar ihre „Füße […] mit fleischfarbiger Leinwand überzogen hatten, um das Nackende auszudrücken“.¹² Die Kostüme, die auf den Bruch mit zeitgenössischen Sehgewohnheiten berechnet waren, wurden offenbar als so grotesk empfunden, dass das Publikum, welches den Seitenhieb auf Gottsched wohl verstand, in „schallendes Gelächter“¹³ ausgebrochen sein soll. Das erste ‘historische Kostüm’ auf einer deutschsprachigen Bühne war damit ein antikes – wenngleich im Modus der Satire vorgestellt. Der erste ernsthafte Versuch historischer Kostümierung fand erst ein Vierteljahrhundert später statt. Abermals ging es um die Kleidung der römischen Antike, zugleich aber auch um diejenige des deutschen Altertums: Am 6. Oktober 1766 führte die bekannte Kochsche Schauspiel-
Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen, Leipzig 1730, S. 583. Johann Christoph Gottsched: Die deutsche Schaubühne, 3. Theil, Leipzig 1741, S. XI. Gottscheds Kritik bezieht sich auf die mangelnde Urteilskraft des Publikums bei Aufführungen von Jean-François Regnards Komödie Démocrite amoureux (1700). Friedrich Johann von Reden-Esbeck: Caroline Neuber und ihre Zeitgenossen. Ein Beitrag zur deutschen Kultur- und Theatergeschichte, Leipzig 1881, S. 267.Vgl. auch die Beschreibung bei Heinrich Blümner: Geschichte des Theaters in Leipzig.Von dessen ersten Spuren bis auf die neueste Zeit, Leipzig 1818, S. 69 f. Reden-Esbeck: Caroline Neuber und ihre Zeitgenossen, S. 268.
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truppe Johann Elias Schlegels Trauerspiel Herrmann (1743) in Leipzig das erste Mal in Kostümen auf, die eine historische Kleidung darstellen sollten. Wenig später, am 18. Januar 1768, wurde in Wien der gleiche Stoff historisierend in der Uraufführung von Cornelius Hermann von Ayrenhoffs Trauerspiel Hermann und Thusnelde auf die Bühne gebracht. Leider gibt es keine Überlieferung der Kostüme beider Aufführungen. Belegt ist allerdings das ausgesprochene Desinteresse des Wiener Publikums.¹⁴ Dass die ersten Kostüme, die Ansätze zu einer historischen Semiotik zeigen,¹⁵ auf der Bühne allesamt in Inszenierungen von Dramen mit antiken Stoffen Verwendung fanden, lag vermutlich an dem großen Interesse, das man der Antike entgegenbrachte, mehr noch aber wohl daran, dass die Diskrepanz zur zeitgenössischen Mode in diesen Fällen besonders merklich war (wofür auch Gottscheds Kritik spricht). Entscheidenden Anteil an der Durchsetzung von Kostümen mit historischer Semiotik im deutschsprachigen Raum hatte allerdings erst die Uraufführung von Goethes Götz von
Vgl. Boehn: Das Bühnenkostüm in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, S. 388 f. Einiges spricht daher dafür, dass man die Germanen in den beiden Hermannsdramen entweder archaisierend in Felle gekleidet hatte oder ihr Kostüm an der römischen Tracht orientiert war, denn die archäologischen Kenntnisse über die ‘deutschen Alterthümer’ waren im 18. Jahrhundert noch denkbar gering, vgl. auch Kapitel 3.3. Mit dem Terminus ‘Semiotik des Kostüms’ beziehe ich mich auf Erika Fischer-Lichte, die das Theaterkostüm als Zeichen fasst, das auf die Identität der Rollenfigur verweise. Dabei versteht sie Identität im Anschluss an George Herbert Mead und Gregory Stone als eine grundsätzlich variable Größe, die sich in Kommunikationsprozessen und der „Wechselseitigkeit von Übernahme und Zuerkennung der jeweiligen Rollen“ ausbilde (Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd.1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 31994, S. 121). Mit Blick auf die Kostümgeschichte ist Fischer-Lichtes systematischer Ansatz allerdings dahingehend zu differenzieren, dass die semiotische Leistung des Kostüms in Bezug auf die Rollenidentität der Figuren sehr verschieden stark ausfallen kann. Das Theaterkostüm der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt beispielsweise, dass die entsprechende Zeichenfunktion nur gering ausgeprägt war. So wollten in der Regel auch Schauspielerinnen, die in der Rolle von Bäuerinnen oder Mägden auftraten, nicht hinter der Erscheinung von anderen Schauspielerinnen zurückstehen, die Frauen höheren Standes spielten. Es war ihnen dabei in der Regel gleichgültig,welcher historischen Epoche ihre Rollenfigur entstammte. Auch die zweite, „symbolische“ Funktion, die Fischer-Lichte dem Kostüm potentiell zuschreibt, wäre zu differenzieren: Die Wirkung, dass Kostüme durch „Hilfe von Ähnlichkeiten und Kontrasten in Farbe, Linie oder Ornament […] auf Bestehen und Veränderung bestimmter Beziehungen zwischen den Rollenfiguren hinweisen oder die Bedeutung einer Rollenfigur unterstreichen“ (S. 128), ist nur dann möglich, wenn die Kostüme in einer Aufführung in ein ästhetisches Gesamtkonzept eingebunden sind und nicht jeder Schauspieler und jede Schauspielerin eigenmächtig entscheidet, was er oder sie trägt. Letzteres führte unter anderem dazu, dass Schauspielerinnen und Schauspieler an deutschen Bühnen bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht konstant bei allen Aufführungen eines Stücks immer dasselbe Kostüm trugen, sondern wechselten und z. B. bei der Premiere das eine, am nächsten Tage ein anderes Kostüm wählten. Auch wenn Kostüme ohne jegliche semiotische Funktion kaum denkbar sind (so hatten sie auch im 18. Jahrhundert eine geschlechtliche Zeichenfunktion), schaffen erst die Kostümreformen an deutschen Bühnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Voraussetzungen dafür, dass die semiotische Funktion des Theaterkostüms in der zeitgenössischen Theaterpraxis und in den ästhetischen Diskursen realisiert wird. Erst ab dieser Zeit kann man für den deutschsprachigen Raum mit heuristischem Gewinn von einer Semiotik des Kostüms sprechen.
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Berlichingen mit der eisernen Hand am 12. April 1774 durch die Kochsche Truppe. Für die Kostüme zeichnete der Berliner Kupferstecher und spätere Direktor der Berliner Akademie der Künste Johann Wilhelm Meil (1733 – 1805) verantwortlich. Zur Vorlage dienten ihm dabei nicht etwa historische Abbildungen von deutschen Rittertrachten aus dem 16. Jahrhundert, sondern abermals Kostüme, die in Frankreich populär waren. Meil orientierte sich am sogenannten altspanischen Kostüm, das in Frankreich seit der Jahrhundertmitte beliebt war und allenfalls entfernt an die europäische Mode des 16. und 17. Jahrhunderts erinnerte.¹⁶ Im Unterschied zur späteren historischen Kostümpraxis ab der Wende zum 19. Jahrhundert betrieb Meil also für seine Entwürfe noch keine eigentlichen historischen Studien. Der Erfolg der Kostüme war indes durchschlagend. Sie wurden offensichtlich als historische Kostüme empfunden,¹⁷ und die Popularität des nunmehr zumeist ‘altdeutsch’ bezeichneten Kostüms trug in den folgenden Jahrzehnten nicht unwesentlich zur Konjunktur von Ritterdramen auf deutschen Bühnen bei.¹⁸ Mindestens ebenso aufsehenerregend wie Meils Kostüme für den Götz war ein Jahr später der Auftritt von Esther Charlotte Brandes in der Titelrolle des Duodramas Ariadne auf Naxos am 27. Januar 1775 im Schlosstheater zu Gotha. Autor des Stücks war ihr Mann Johann Christian Brandes, die Musik stammte vom Gothaer Kapellmeister Georg Benda. Die populäre Schauspielerin trat nach der Wahrnehmung der zeitgenössischen
Zur Genese des altspanischen bzw. altdeutschen Kostüms vgl. Boehn: Das Bühnenkostüm in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, S. 390 – 395 und Fürstenberg: Das historische Kostüm auf der deutschen Bühne. Dabei ist es allerdings theatergeschichtlich nicht „unwichtig“, wie Klaus Gerlach meint, dass Meil die Kostüme im Rückgriff auf das ‘spanische Kostüm’ und nicht auf historische Quellen entwarf (Ifflands Kostümreform oder Die Überwindung des Natürlichen, in: Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland. August Wilhelm Iffland als Theaterdirektor, Schauspieler und Bühnenreformer, hg.v. dems., Berlin 2009, S. 11– 29, hier S. 13). Wenngleich das Publikum die Kostüme als historisch korrekt ansah, wirkte die spätere Praxis, die Kostüme anhand historischer Quellen zu entwerfen, auch auf die Ansprüche zurück, die man an ein ‘historisches Kostüm’ stellte. Die Historizität von Meils Entwürfen ist insofern qualitativ eine andere als die Historizität der Entwürfe, die um 1800 in Weimar oder etwas später in Berlin entstanden. So macht Iffland 1811 als Theaterintendant in Berlin unter anderem die Popularität der Ritterstücke dafür verantwortlich, dass die Intendanten sich ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert intensiver als zuvor mit den Kostümen auseinandersetzen mussten (Verhältnisse der gegenwärtigen Theaterdirectionen, in Vergleich mit denen, worin die Directionen der Theater vormals sich befunden haben, in: Ders.: Almanach fürs Theater, Berlin 1811, S. 38 – 82, hier S. 44 f.). Vgl. auch die Beschreibung einer Leseszene in Goethes Wilhelm Meister (1795/96): „Die deutschen Ritterstücke waren eben neu, und hatten die Aufmerksamkeit und Neigung des Publikums an sich gezogen. Der alte Polterer hatte eines dieser Art mitgebracht, und die Vorlesung war beschlossen worden. Man setzte sich nieder. Wilhelm bemächtigte sich eines Exemplars, und fing zu lesen an. Die geharnischten Ritter, die alten Burgen, die Treuherzigkeit, Rechtlichkeit und Redlichkeit, besonders aber die Unabhängigkeit der handelnden Personen wurden mit großem Beifalle aufgenommen. […] Jeder Schauspieler sah nun, wie er bald in Helm und Harnisch, jede Schauspielerin, wie sie mit einem großen stehenden Kragen ihre Deutschheit vor dem Publiko produzieren werde.“ (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, WA I, 21, S. 197 f.).
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Öffentlichkeit in „völlig antike[r] Kleidung“ auf.¹⁹ Einen Eindruck davon, wie dieses ‘völlig antike’ Kostüm ausgesehen hat,vermittelt neben dem Kupferstich, den Heinrich Sintzenich nach einem heute verschollenen Gemälde von Anton Graff anfertigte (Abb. 1), ein Artikel im Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten aus dem Jahr 1806 : [Ariadne auf Naxos, F.K.] machte so wohl in als außerhalb Deutschland großes Aufsehen. Die Kleidung der Ariadne war vollkommen in altgriechischem Geschmack und nach Winkelmann und andern alten Kunstwerken verfertigt, so wie der Kopfputz gleichfalls von einer alten Gemme der Ariadne genommen war. Es war die erste ächt griechische Kleidung, die auf einem deutschen Theater erschien.²⁰
Das Kostüm der Ariadne war demnach also unter anderem in Auseinandersetzung mit historischen Quellen entstanden. Das klingt auch in der Autobiographie von Johann Christian Brandes an, in der sich dieser an das rege Interesse des Gothaer Hofs an der Ariadne erinnert. So habe die Gothaer Prinzessin Louise „bereitwillig, [sic!] zu der Kleidung, welche sie vollständig und prachtvoll forderte, die Kosten“ übernommen, und das Kostüm sei anschließend von dem „geschmackvolle[n], und mit den Alterthümern bekannte[n] Herzog“ ausgewählt worden.²¹
Abb. 1: Charlotte Brandes als Ariadne auf Naxos (Kupferstich von Heinrich Sintzenich nach einem Gemälde von Anton Graff)
Christian Heinrich Schmid: Chronologie des deutschen Theaters, [Leipzig] 1775, S. 355 f. „Johann Christian Brandes“, in: Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten, hg.v. Karl Heinrich Jördens, Bd. 1, Leipzig 1806, S. 179 – 191, hier S. 187. Vgl. zu der Aufführung auch Richard Hodermann: Geschichte des Gothaischen Hoftheaters 1775 – 1779, Hamburg, Leipzig 1894 (Theatergeschichtliche Forschungen IX), S. 8 – 13. Johann Christian Brandes: Meine Lebensgeschichte, Bd. 2, Berlin 1800, S. 173.
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Mit dem Kostüm von Charlotte Brandes wurde erstmals der Anspruch erhoben, das Kostüm jedenfalls in Teilen (etwa in Bezug auf den Kopfschmuck) auf der Grundlage von überlieferten antiken Quellen entworfen zu haben. Darin unterschied sich Brandes’ Kostüm von denjenigen Kostümen, die Meil für die Kochsche Truppe im Rückgriff auf das altspanische Kostüm aus Frankreich entworfen hatte.²² Betrachtet man den Kupferstich von Sintzenich, dann zeigt sich, dass der Anspruch, ein Kostüm zu entwerfen, das auf historischen Quellen beruhte, nicht konsequent durchgehalten wurde. Denn Brandes’ geschnürtes Kleid hatte immer noch den Reifrock und die Puffärmel des populären zeitgenössischen Kostüms. Der wesentliche Unterschied zur aktuellen Mode lag in einem etwas schlichteren Schnitt. Diese relative Einfachheit und die weiße Farbe waren es wohl vor allem, die im Dichterlexikon von 1806 gemeint sind, wenn vom „altgriechischen Geschmack“²³ die Rede ist.Vermutlich war es nicht zuletzt diese Korrespondenz mit den stereotypen Charakteristika der Antike, die dazu führte, dass das ‘antike’ Kostüm in der Folge eine bemerkenswerte Karriere erlebte. Denn es entsprach in seiner verhältnismäßigen Simplizität und seiner Monochromie dem zeitgenössischen Ideal der ‘edlen Einfalt und stillen Größe’ und wurde so unweigerlich als ‘antik’ erkannt. Zugleich ließ es sich in seiner oberflächlichen Orientierung an antiken Quellen mit der zeitgenössischen Mode vermitteln und brach darum kaum mit den Sehgewohnheiten des Publikums. So wie der Götz für das altdeutsche Kostüm stilbildend war, entwickelte Charlotte Brandes’ Auftritt als Ariadne einen ähnlichen Effekt bei der Ausbildung des antiken Kostüms.²⁴ Offenbar war das Publikum nunmehr bereit, neue Kostüme zu akzeptieren,
Signifikant ist außerdem, dass mit Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg ein Adeliger für die Kostüme verantwortlich zeichnete. Auch Karl von Brühl, der die historische Kostümpraxis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ästhetischen Bühnenprinzip erhob, und Herzog Georg II. von SachsenMeiningen, dessen Theatertruppe durch die aufwändigen historischen Kostüme und Dekorationen international berühmt wurde, entstammten adeligen Familien. Sie hatten damit eine andere Bildung genossen als Theaterpraktiker wie August Wilhelm Iffland oder Heinrich Laube, aus der, wie sich in der Diskussion von Brühls Intendanz noch zeigen wird, ein anderer Zugriff auf das Theater resultierte. Art. „Johann Christian Brandes“, in: Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten, S. 187. Wie wichtig der Auftritt von Charlotte Brandes als Ariadne für die Genese des ‘antiken Kostüms’ war, verdeutlicht auch ein Ausschnitt aus den Dramaturgische[n] Fragmente[n] des Schriftstellers Johann Friedrich Schink von 1781. Schink erregt sich dort zunächst über die Rokoko-Kostüme auf der Wiener Bühne, die jeder historischen Authentizität widersprächen: „Heil jeder Ariadne, die in Wien von den Felsen stürzt, dann sie ersäuft gewis nicht; die Weisheit des K. K. Teatralausschusses hat bedächtig dafür gesorgt, daß die Wellen sie nicht begraben können; der Steifrock, den er ihr um den Leib schnallt, wird sie sicher aufrecht erhalten. […] Aber ohne Scherz, und im ganzen Ernst, so exakt ein K. K. Teatralausschus in Ansehung der Wal der Uebersezzung und der Schauspiele überhaupt, so exakt er in der Besorgung eines richtigen Abdruks dieser Schauspiele ist; gerade so exakt ist seine Aufmerksamkeit für das Kostüme, und sein Geschmak in Anordnung desselben. Denn was die Aufmerksamkeit betrift, so kann nichts liederlicheres, und was den Geschmak angeht, so kann nichts abscheulicheres existiren. Wenn ihre Ariadnen und Medeen nur brav von Gold und Silber strozzen, wenn sie nur mit Kwasten, Franzen und Flittern wie die Frachttiere belastet sind, wenn sie sich nur in einem mächtigen Steifrok spreizen lassen können; so meinen die weisen Herren alles getan, so meinen sie recht köstlich fürs Auge
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denn in der Folge setzte sich an den Bühnen im deutschsprachigen Raum eine historische Semiotik des Kostüms durch, die noch zu Beginn der 1770er Jahre unvorstellbar gewesen war.²⁵ Diese historische Semiotik wurde durch ältere theatrale Sehgewohnheiten stabilisiert. Schon zuvor hatte es Ansätze zu einer ungefähren Ordnung der Kostüme gegeben, die nunmehr weit konsequenter und systematischer verfolgt wurden. Vier Sparten bildeten sich heraus – das antike, das altdeutsche (oder altspanische), das moderne neufranzösische und schließlich das türkische (oder persische) Kostüm, das für alle ‘orientalischen’ Rollen unabhängig von der historischen Situierung des jeweiligen Dramas gewählt wurde. Diese Ordnung des Kostüms ermöglichte eine grobe spatiale und temporale Verortung der Rollenfiguren. Eine solche sehr holzschnittartige Historisierung der Kostüme erforderte indes weder von Seiten der Theaterleiter, Schauspielerinnen und Schauspieler noch von Seiten des Publikums ein intensives historisches Studium der ‘Alterthümer’, wie Gottsched es sich gewünscht hatte. Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Auftritt von Charlotte Brandes in der Rolle der Ariadne wurde der historische Anspruch an das Bühnenkostüm in Deutschland gesorgt zu haben. Es kann unter der Sonne nichts abgeschmakteres erfunden werden, als ihre Griechen und Römer: die Helden des Altertums werden zu Seiltänzern, die sich einem geneigten Publikum produziren wollen; so bebändert, frisirt, und eingepudert erscheinen sie. Wahre griechische und römische Arlekine, und wahre Abdrükke von dem bunten Geschmak der weisen Herren, durch die sie existiren. Und ihre altenglischen und altdeutschen Rittertrachten, der nemliche Unsinn – der Ausschus gukt allenthalben hindurch – denn kein menschliches Gehirn sonst kann eine solche barokke, widersinnige, kunterbunte, Arlekinsmäßige Komposizion anordnen, als sie die hohe Weisheit dieser Herren in den altenglischen und altteutschen Trachter [sic!] anzugeben das Belieben hat.“ Nach dieser Polemik bietet Schink auch Vorschläge, wie man die Mängel dieser Kostümpraktiken beheben könne. Intensive Kostümstudien in den Wiener Museen, die Beauftragung echter Zeichner und nicht zuletzt eine Orientierung an Charlotte Brandes’ Kostüm als Ariadne sollen das Wiener Kostüm auf Vordermann bringen: „Und felt es etwa diesen Herren an Mustern zum wahren Kostüme? hat Wien etwa keine Gemälde, keine Kupferstichsammlungen echter griechischer, römischer, altenglischer und altteutscher Trachten, von denen sie abstrahiren könnten? felt es ihnen etwa an Künstlern, die ihnen Zeichnungen davon liefern könnten? hätten sie es wenigstens nicht schon längst aus dem Kupferstich der Brandes lernen können, wie eigentlich Ariadnens Tracht beschaffen sein müsste?“ (Johann Friedrich Schink: Dramaturgische Fragmente, 1. Band, Graz 1781, S. 275 – 277). Wie im Fall des Rokoko-Kostüms darf auch im Zusammenhang mit der Durchsetzung einer historischen Semiotik des Kostüms der Einfluss Frankreichs nicht unterschätzt werden. In Frankreich setzten Bemühungen um ein historisierendes Kostüm etwas früher ein. Stilbildend war etwa die Schauspielerin Claire Clairon (1723 – 1803), die allerdings mehr auf eine Vereinfachung des RokokoKostüms setzte als auf das Studium der Antike. Zu nennen sind außerdem der Schauspieler Henri-Louis Le Kain (1729 – 1778), der gemeinsam mit Clairon unter anderem in chinesischer Tracht auftrat, sowie die Sängerin und Schauspielerin Justine Favart (1727– 1772), die als Bäuerin im Leinenkleid und in Holzschuhen (statt in Reifrock und mit wertvollem Schmuck behängt) auf die Bühne ging. Der Anspruch, Kostüme tatsächlich nach historischen Vorlagen auszubilden, wurde im späten 18. Jahrhundert in Frankreich vor allem von François-Joseph Talma (1763 – 1826) vertreten. Die französischen Kostüme wurden nicht zuletzt durch die populären Costumes et Annales des grands théatres de Paris (1786 – 1789), in denen kolorierte Kupferstiche berühmter Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Kostümen abgebildet waren, auch im deutschsprachigen Raum bekannt.
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durch eine weitere Aufführung noch einmal deutlich erweitert: Unter dem Titel Die Brüder hatte am 24. Oktober 1801, dem Geburtstag Anna Amalias, am Weimarer Hoftheater eine Bearbeitung von Terenz’ Adelphoe aus der Feder des weimarschen Kammerherrn Friedrich Hildebrandt von Einsiedel Premiere.²⁶ Daran schloss sich in Weimar eine Reihe von weiteren Aufführungen römischer Komödien in verschiedenen Bearbeitungen an, die allerdings von Publikum und Kritik nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit erfuhren wie Einsiedels Bearbeitung der Adelphen. ²⁷ Der Beifall, den die Aufführung der Brüder erfuhr – das Stück erlebte, Gastspiele eingerechnet, immerhin 14 Wiederholungen – war nicht zuletzt dem „ganz besondre[n] Fleiß“²⁸ geschuldet, den man auf Kostüme und Dekorationen verwendet hatte. Die größte Sensation waren dabei die Masken, die von den männlichen Darstellern getragen wurden. Davon zeigte sich etwa August von Kotzebue in einer Kritik der Aufführung in der Leipziger Zeitung für die elegante Welt begeistert: Die Direkzion der Bühne, die so gern Alles unterstützt, was den einfachen, geläuterten Geschmack der Alten wieder herzustellen vermag, hatte von ihrer Seite nichts unterlassen, was der Vorstellung die höchste Täuschung leihen konnte. Nicht allein die Straßen-Dekorazion; nicht allein die griechischen Gewänder und Sklavenkleidungen, waren, nach der Angabe des Herrn Professor Meyer, antiken Mustern treu nachgebildet; sondern man war noch weiter gegangen, man hatte sogar mit den Masken der Alten uns wieder bekannt zu machen versucht. Jeder Schauspieler trug eine Larve, welche bald mehr bald weniger von seinem Gesichte bedeckte, und welche die Charakterzüge der spielenden Person darstellte. Je weniger das Publikum von dieser Neuerung zu erwarten schien, um so auffallender war die Wirkung.²⁹
Zahlreiche Kritiken und Quellen zu dieser Aufführung wie auch zur Adaption in Berlin durch Karl von Brühl sind gesammelt und abgedruckt in Oscar Fambach: Einsiedels Übersetzung der Adelphoe des Terenz in der deutschen Bühnen- und Kritikgeschichte, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1968, S. 59 – 129. Zu den Aufführungen der römischen Komödien in Weimar vgl. Barbara R. Kes: Die Rezeption der Komödien des Plautus und Terenz im 19. Jahrhundert. Theorie – Bearbeitung – Bühne, Amsterdam 1988, S. 201– 251. Zu Goethes Wirken als Theaterdirektor vgl. stellvertretend Birgit Himmelseher: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Kunstanspruch und Kulturpolitik im Konflikt, Berlin, New York 2010 (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, Bd. 56); darin auch eine Zusammenfassung der älteren Forschung zum Weimarer Theater S. 14– 23. Am 6. Juni 1803 hatte die Mohrin nach Terenz’ Eunuchuus iterum mulitatus Premiere, am 25. November 1803 Die Fremde aus Andros (nach Terenz’ Andria als einzige der römischen Komödien nicht von Einsiedel, sondern von August Hermann Niemeyer bearbeitet), am 30. April 1804 der Heautontimorumenos (nach Terenz), am 23. April 1806 Die Gefangenen (nach Plautus) und schließlich, als letztes Stück in der Reihe der Weimarer Adaptionen von Römerkomödien, am 28. April 1807 Das Gespenst (ebenfalls nach Plautus). Diese Aufführungen erfuhren weniger Resonanz als die Brüder. Aber auch hier wurde wohl eine Annäherung an antike Aufführungspraxen versucht, vgl. Kes: Die Rezeption der Komödien des Plautus und Terenz im 19. Jahrhundert, S. 241– 251. Carl August Böttiger: Die Brüder des Terenz mit Masken aufgeführt; auf dem Hoftheater in Weimar, in: Journal des Luxus und der Moden 16 (1801), S. 614– 623, hier S. 619. August von Kotzebue: Hoftheater in Weimar. (Die Brüder des Terentius.), in: Zeitung für die elegante Welt, 135. Stück, 10.11.1801, Sp. 1088 – 1090, hier Sp. 1088.
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
Bei der Aufführung handelte es sich um den Versuch, nicht nur einen antiken Stoff auf die Bühne zu bringen, sondern tatsächlich ein, wenngleich bearbeitetes, antikes Drama. Der Unterschied zu allen anderen Aufführungen, die bis dahin für die Ausbildung des historischen Kostüms bedeutsam waren, ist signifikant. Die Aufführung der Brüder war ein Versuch, tatsächlich ein Stück Antike „wieder herzustellen“, wie Kotzebue es formulierte, indem die antike Aufführungssituation jedenfalls in Teilen rekonstruiert wurde. Das war der Grund dafür, dass nicht nur die Kleidung der Schauspieler auf der Grundlage antiker Quellen entworfen wurde, sondern auch Masken verwendet wurden. Zur Vorlage dienten dabei insbesondere die Pitture antiche d’Ercolano e contorni incise con qualche spiegazione,³⁰ in denen zahlreiche pompeianische und herkulanische Wandgemälde mit Darstellungen von Theaterszenen und zum Teil auch einzelnen Masken abgedruckt sind (Abb. 2).
Abb. : Pitture antiche d’Ercolano, Bd. IV, Tav. XXXIII Abb. : Figurinen des Syrus und des Sannio (Einsiedel: Die Brüder)
Le pitture antiche d’Ercolano e contorni incise con qualche spiegazione, 5 Bde., Neapel 1755 – 1792; deutsche Ausgabe von Christoph Gottlieb von Murr: Abbildungen der Gemälde und Alterthümer, in dem Königlich Neapolitanischen Museo zu Portici, welche seit 1738. sowohl in der im Jahr Christi 79. verschütteten Stadt Herkulanum, als auch in den umliegenden Gegenden an das Licht gebracht worden, nebst ihrer Erklärung, 6 Bde., Augsburg 1777– 1783.
3.1 Zur Bedeutung der klassischen Antike für die Genese der historischen Kostümpraxis
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Allerdings versuchte man auch in Weimar weiterhin, einen allzu krassen Bruch mit den zeitgenössischen Sehgewohnheiten zu vermeiden. Goethes Freund, der Schweizer Maler und Kunsthistoriker Johann Heinrich Meyer, der für die Masken und Kostüme verantwortlich zeichnete und sich durch eine ausgedehnte Reise durch Italien breite Kenntnisse der antiken Kunst erworben hatte, hielt sich nicht exakt an die historischen Vorlagen, die ihm zur Verfügung standen. Kolorierte Kupferstiche, die der Ausgabe von Einsiedels Brüder[n] (1802) vorangestellt sind, vermitteln einen Eindruck von seinen Kostümentwürfen. In dem Stich, der Syrus und Sannio zeigt, sind die Masken gesondert abgebildet. Die Schauspieler, so wird hier erkennbar, trugen im Gegensatz zu den antiken Vorbildern nur Halbmasken (Abb. 3). In einer Kritik des zu dieser Zeit noch in Weimar lebenden, Goethe eng verbundenen Altertumswissenschaftlers Carl August Böttiger im Journal des Luxus und der Moden wird diese Entscheidung begründet: Man ging bei der Anordnung der Gesichtsmasken mit Recht von dem Grundsatz aus, daß sowohl die Art unserer Beleuchtung durch Lampenlicht (die Alten spielten unter freiem Himmel bei Tageslicht) als die große Annäherung im engern Raume eines kleinen Theaters die ganze Maske, wie wir sie z. B. in den Vaticanischen Handschriften des Terenz und auf so vielen alten Denkmälern noch jetzt abgebildet finden, nicht wohl gestatte. Man wählte also nur die Maskirung der Stirn und Nase, die, wie es das Alter der Personen foderte, mit einem Bart um das Kinn, oder auch wohl, wie beim Syrus, durch ein falsch angesetztes Kinn vermehrt wurde, und ließ die übrigen Theile des Gesichts unbedeckt. Dieß war auch hier vollkommen zureichend um der Person die karakteristische Bestimmung des Dichters zu ertheilen. Da nun damit auch die übrige Kleidung vollkommen übereinstimmte, und die antiquarische Gelehrsamkeit hier nur so weit angebracht wurde, als das höhere Gesetz des Schicklichen es gestattete; so war der Eindruck, den die so ausgeputzten Schauspieler machten, nichts weniger als grotesk oder auch nur befremdend. […] Micio, der von Hrn. Vohs mit dem edelsten Anstande gespielt und wahrhaft vornehm genommen wurde, war in seinem faltenreichen Mantel und in dem edlen Zug seiner Maske ein wahrhafter Athener. […] Aber vor allen waren die Masken des Kupplers Sannio und des Sclaven Syrus nach den noch vorhandenen Reliefs in der Villa Albani und den Heruculanischen Gemälden so sprechend kopirt, daß man sich bei ihrem Anblick wirklich ganz in das Alterthum versetzt glaubte.³¹
Böttigers Abhandlung und die kolorierten Kostümstiche machen die Prinzipien deutlich, nach denen man in Weimar eine „Annäherung an das Kostum des Alterthums“³² unternahm. Offensichtlich kalkulierte man die Wirkung von Kostüm, Masken und Dekoration unter den Bedingungen des kleinen Weimarer Hoftheaters ein, das sich naturgemäß in der räumlichen Anordnung deutlich von den antiken Spielstätten unterschied. Man entschied sich nicht zuletzt aus diesem Grund für Halbmasken. Ausschlag gegeben haben wird aber wohl auch die Überlegung, dass man damit dem Publikum nicht zumuten musste, auf das gewohnte Mienenspiel der Schauspieler zu verzichten. Die Halbmasken ließen den Schauspielern mimische Ausdrucksmöglichkeiten, die ihnen durch Masken, die das ganze Gesicht bedeckt hätten, völlig verwehrt
Böttiger: Die Brüder des Terenz mit Masken aufgeführt, S. 619 – 621, Hervorh. i.O. Ebd., S. 621.
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
worden wären. Dass solche Erwägungen eine Rolle gespielt haben dürften, ist auch an einer auffälligen geschlechtlichen Differenzierung des Ensembles abzulesen.Während die Männer durchweg mit Halbmasken spielten, erschien es den Weimarern offenbar mit Blick auf die Wirkung beim Publikum wenig opportun, den gleichen Verfremdungseffekt auch bei den Schauspielerinnen eintreten zu lassen. Damit zeigt sich hier eine Tendenz, die sich auch in den folgenden Jahrzehnten hielt: In der Regel wurde bei den männlichen Vertretern der Zunft mehr Wert auf historische Treue in den Kostümen gelegt als bei den weiblichen. Auffallend ist darüber hinaus Böttigers Bemerkung, die Maske habe der Rollenfigur des Micio einen „edlen Zug“ verliehen. Mit diesem Urteil war er nicht allein: Man sah durch die mit den Masken bewirkten „Correcturen an der Natur […] eine andre edlere Generation“³³ vor sich, und August Wilhelm Schlegel bewunderte den „griechischen Schnitt“,³⁴ den die Masken hervorriefen. Insbesondere mit den Halbmasken des älteren Brüderpaares Micio (Abb. 4) und Demea (Abb. 5), die sich durch gerade, verlängerte Nasen, Bart und lange Haare auszeichneten, folgten Goethe und Meyer damit eher „dem Schönheitsideal griechischer Plastiken“³⁵ als den stark verfremdeten und verzerrten Masken der antiken Komödie, wie sie etwa in den Pitture antiche d’ Ercolano abgebildet waren (Abb. 2), die Böttiger explizit als Vorlage für die Weimarer Kostüme benannte.³⁶ Wie im Fall der antiken Kostümierung von Charlotte Brandes wog auch bei den Weimarer Entwürfen offensichtlich eine bestimmte ideale Vorstellung dessen, was antik war, jedenfalls in weiten Teilen schwerer als die Treue zu den verwendeten historischen Vorlagen. Ungeachtet dieser Einschränkungen bleibt festzuhalten, dass man in Weimar entschiedener als zuvor auf deutschen Bühnen den Versuch unternahm, dem Publikum das antike Drama durch die Annäherung an die antiken Aufführungsbedingungen nahezubringen. Das betraf nicht nur die Verwendung der Masken, sondern mindestens in gleichem Maße auch die Kostüme. Denn anders als in Gotha, wo Brandes ein weißes Gewand mit übergeworfenem rotem Mantel ohne Musterung trug, traute man sich in Weimar, eine polychrome Antike auf die Bühne zu bringen. Dies galt insbesondere für die Figuren des Syrus und des Sannio:³⁷ Syrus’ Kleidung war nach
Amalie von Imhoff an Fritz von Stein, 2.11.1801, zit. nach Fambach: Einsiedels Übersetzung der Adelphoe des Terenz in der deutschen Bühnen- und Kritikgeschichte, S. 70. August Wilhelm Schlegel: Die Brüder des Terentius ein Schauspiel in Masken, in: Zeitung für die elegante Welt, 136. Stück (10.11.1801), Sp. 1093 – 1098, hier Sp. 1094. Kes: Die Rezeption der Komödien des Plautus und Terenz im 19. Jahrhundert, S. 210. Zu den Masken des antiken Theaters vgl. aus der jüngeren Forschung Heide Froning: Masken und Kostüme, in: Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike, hg.v. Susanne Moraw und Eckehart Nölle, Mainz 2002, S. 70 – 95 und Agnes Schwarzmaier: Die Entwicklung der antiken Theatermaske, in: Satyr Maske Festspiel. Aus der Welt des antiken Theaters, hg.v. Max Kunze, Ruhpolding 2006, S. 57– 70. Vgl. die Anmerkung bei Böttiger: Die Brüder des Terenz mit Masken aufgeführt, S. 620 f. Aber auch die Kostüme der ‘edlen’ Brüder Micio und Demea waren nicht monochrom: Ersterer trug über einem weißen Chiton, der am Saum verziert war, ein gelbes himation, das mit roten Purpurstreifen
3.1 Zur Bedeutung der klassischen Antike für die Genese der historischen Kostümpraxis
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Abb. und Abb. : Figurinen des Micio und des Demea (Einsiedel: Die Brüder)
dem Kommentar der Kupfer in einer Ausgabe von Einsiedels Brüder in der Tat „ziemlich genau einer komischen Maskenfigur nachgeahmt, welche in den antiken Gemälden des herkulanischen Museums vorkommt“,³⁸ wie ein Vergleich der Theaterfigurine mit der entsprechenden Tafel in den Pitture antiche d’Ercolano zeigt (Abb. 2 und 3). Auf der Tafel ist eine Theaterszenerie dargestellt – deutlich erkennbar an den Masken, die von den Figuren getragen werden – mit einem Sklaven und zwei Frauenfiguren. Am unteren Rand der Tafel sind vier komische Masken einzeln abgebildet. Auch in dieser Anordnung von Figuren und Masken gleichen sich die Tafel und der Kupferstich. Vor allem aber ist die Ähnlichkeit des Kostüms, das der Sklave trägt, mit dem von Meyers Syrus nicht zu übersehen, wenngleich der Sklave auf der Tafel eine Art himation um Bauch und Schulter geschlungen zu haben scheint, wohingegen der Schauspieler in Weimar offenbar eine am Bauch geschnürte Tunika trug und ein davon
abgesetzt war; der auf dem Land lebende Demea ist in rot-gelben Stiefeln, langer Weste aus Schafsfell und einem braunen Gewand mit roten Streifen am Saum und an den Ärmeln abgebildet (Abb. 4 und 5). Die auf zwei Seiten abgedruckte Erklärung der Kupfer findet sich in der zweiten Ausgabe von Einsiedels Brüdern von 1806. Sie ist ohne Paginierung zusammen mit den kolorierten Kupferstichen dem Dramentext vorangestellt (Friedrich Hildebrandt von Einsiedel: Die Brüder. Ein Lustspiel nach Terenz in fünf Akten, in: Lustspiele des Terenz in freyer metrischer Uebersetzung, Leipzig 1806 [Bibliothek der komischen Dichter Roms in freyen metrischen Uebersetzungen, Bd. 1]).
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
unabhängiges Tuch umgelegt hatte. Die Tafeln waren nicht farbig, so dass sich Meyer in der Farbgebung der Kostüme nicht auf diese Quelle berufen konnte. Er entschied sich den kolorierten Kupferstichen zufolge dafür, die kurze Tunika violett-grün mit roten Streifen, das umgeschlungene Tuch hingegen blau zu gestalten. Für die Figur des Sannio wählte Meyer ein langes, gelb-blau gestreiftes Obergewand mit weiten grünen Hosen und einem gefalteten roten Tuch.³⁹ Die Premiere der Brüder war nicht die erste Gelegenheit, für die Meyer ein antikes polychromes Theaterkostüm entwarf. Kurz zuvor hatte Böttiger eine kleine Abhandlung mit dem Titel Die Furienmaske, im Trauerspiele und auf den Bildwerken der alten Griechen (1801) verfasst.⁴⁰ Ziel der Studie war es, Lessings Behauptung im Laokoon zu verifizieren, der zufolge die Griechen in der bildenden Kunst keine Furie ausgebildet hätten, weil bei ihnen „Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen“⁴¹ sei. Zugleich sollte mit der Schrift die Frage beantwortet werden, in welcher Weise man sich den Auftritt der Furien in der antiken Tragödie vorzustellen habe. Nach einer breiten Auswertung literarischer und bildlicher Quellen (re‐)konstruierte Böttiger zwei verschiedene Versionen von Furienkostümen. Für die frühe Periode des griechischen Theaters nahm er ein Kostüm an, das sich durch „gräßliche[] Verbildungen“⁴² ausgezeichnet habe, wohingegen er im Rückgriff auf Lessings These meinte, in der klassischen Periode sei man den ‘Gesetzen der Schönheit’ schließlich auch im Theater gefolgt und habe daher „die Furie mit allem Prunke des tragischen Costums, ohne alle Beimischung körperlicher Häßlichkeit, herrlich aufgeschmückt“⁴³ auf die Bühne geschickt. Eine Besonderheit der Abhandlung sind die Kupferstiche, die eben jener Meyer, der auch für die Kostüme der Brüder verantwortlich war, nach Böttigers Angaben zur Visualisierung der philologischen Ausführungen entworfen hatte (Abb. 6 und 7). Beide Stiche sind koloriert. Und obgleich sich Böttiger auf verschiedene literarische und bildliche Quellen bezog, diente ihm am Ende vor allem Meyer als Gewährsmann für die historische Korrektheit des polychromen Kostüms: Auch so [nach Hinzuziehung bildlicher und literarischer Quellen, F.K.] war die Aufgabe, diese Figur [die zweite, geflügelte Furie, F.K.] ganz im Geiste des Alterthums zu coloriren, noch immer
Der Beschreibung der Kupfer in den Brüder[n] zufolge sollte dieser „etwas barbarische[] Anzug“ des Sannio, dessen „Reisen und Verkehr nach fernen Gegenden“ andeuten (vgl. Erklärung der Kupfer, in Einsiedel: Die Brüder [1806], ohne Paginierung). Carl August Böttiger: Die Furienmaske, im Trauerspiele und auf den Bildwerken der alten Griechen. Eine archäologische Untersuchung. Mit 3 Kupfertafeln, Weimar 1801. Den Hinweis auf Böttigers Bemühungen um die Rekonstruktion eines polychromen Furienkostüms verdanke ich Martin Dönike: Furios bunt: Karl August Böttigers archäologische Rekonstruktion antiker Theaterkostüme für die Weimarer Bühne, in: Die Farben der Klassik. Wissenschaft – Ästhetik – Literatur, hg.v. dems., Jutta Müller-Tamm und Friedrich Steinle, erscheint Göttingen 2016 (Schriftenreihe des Zentrums für Klassikforschung, Bd. 3), S. 95 – 117. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg.v. Wilfried Barner, Bd. 5.2: Werke 1766 – 1769, hg.v. dems., Frankfurt/Main 1990, S. 26. Böttiger: Die Furienmaske, im Trauerspiele und auf den Bildwerken der alten Griechen, S. 138. Ebd.
3.1 Zur Bedeutung der klassischen Antike für die Genese der historischen Kostümpraxis
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Abb. und Abb. : ‘Häßliche Furie’ – ‘Schöne Furie’ (Böttiger: Die Furienmaske) mit bedeutenden Schwierigkeiten verknüpft. Doch der durch Beschauung und Nachbildung der noch erhaltenen Ueberreste alter Gemälde in Rom und Neapel vielfach geübte Kunstsinn des Meisters [Meyer, F.K.], der hierbei nicht bloß die Zeichnung, sondern auch die Colorirung zu übernehmen die Gefälligkeit hatte, […] bürgt jedem Alterthumsliebhaber vor die Aechtheit der hier gewählten Farbengebung.⁴⁴
Die „Aechtheit“ der Farbigkeit führte Böttiger also auf Meyers Studium der italienischen Altertümer zurück; es galt als ausreichender Beleg dafür, dass das Kostüm der Furien wie abgebildet ausgesehen haben könnte. Hier zeigt sich, in welchem reziproken Verhältnis in Weimar philologische und kunsthistorische Forschung, Malerei und das Kostümwesen standen. Davon zeugt auch ein Bericht aus dem Journal des Luxus und der Moden über die Uraufführung von Christoph Willibald Glucks Oper Iphigenie auf Tauris am 27. Dezember 1800. Am Schluss der Oper, so ist aus dem Artikel zu erfahren, waren die Kostüme der Furien „ganz nach den Angaben des Alterthums und nach antiken Vasengemälden veranstaltet worden, worüber neulich der Hr. OCR. Böttiger eine eigene
Ebd., S. 139, Hervorh. i.O.
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Schrift mit colorirten Abbildungen ins Publikum gebracht hat, die auch als ein Beytrag für Schauspieldecorationen angesehen werden muß.“⁴⁵ Meyers und Böttigers Furien aus der kleinen Abhandlung wurden also direkt bühnenwirksam. Man kann davon ausgehen, dass Meyer die Zusammenarbeit mit Böttiger am polychromen Furienkostüm ermutigte, auch die Kostüme für die Brüder weitaus bunter zu gestalten als es die Regeln für das ‘antike Kostüm’ bis dato zugelassen hatten. *** In den 70 Jahren, die zwischen Gottscheds Forderung, die Theaterdirektoren sollten die ‘Alterthümer’ studieren, und dem Weimarer Experiment vergangen waren, hatte sich die Theaterpraxis gewandelt. Die Gewöhnung des Publikums und der Theaterpraktiker an eine historische Semiotik der Kostüme hatte spätestens im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts eingesetzt. ‘Historisch’ musste keineswegs heißen, dass der Entwurf eines Kostüms auf der Grundlage von philologischen und kunstwissenschaftlichen Studien hergestellt worden war, die seine Historizität beglaubigen konnten. Ein Kostüm konnte auch dann als ein historisches rezipiert werden, wenn es nach den eigenen Regeln des Kostümwesens funktionierte, die maßgeblich auf etablierten Sehgewohnheiten beruhten. In diesem Sinne erkannte man das ‘altdeutsche’ Kostüm als Rittertracht ebenso wie die weiße Gewandung der Charlotte Brandes als ‘antikes’ Kostüm – ungeachtet der zweifellos modernen Puffärmel und des weiten Rocks. Auch die Weimarer Aufführung der Brüder stellte mit Blick auf die Historizität der Darstellung einen Kompromiss dar: Einerseits folgte sie den Regeln eines Diskurses, in dem gerade Nasen als ‘griechisch’ verstanden wurden; andererseits versuchte sie durch die Verwendung von Masken und durch die annähernd exakte Rekonstruktion von bunten Kostümen aus der Antike, die nicht mit dem populären Stereotyp antiker Monochromie in Einklang zu bringen waren, die historische Realität abzubilden. Sie tat dies unter Berufung auf antike Quellen, die es nötig machten, mit den zeitgenössischen Sehgewohnheiten zu brechen. Es ist dabei kein Zufall, dass sich diese Neukonfiguration der historischen Semiotik des Kostüms an der Antike ausbildete: Die Weimarer Aufführung der Brüder zielte von Anfang an auf eine mehr oder weniger umfassende Nachahmung und Rekonstruktion der antiken Aufführungssituation. Auch bei den späteren Aufführungen römischer Komödien und bei den Weimarer Aufführungen von Bearbeitungen griechischer Tragödien verwendete man eine ähnliche Sorgfalt auf die Ausstattungen.⁴⁶ In diesem Versuch, die antike Aufführungssituation herzustellen, unterschieden sich die Projekte von anderen Theateraufführungen, in denen die vorgeführte Handlung schlicht temporal in der Antike situiert war.Wohl aus diesem Grund war dem Publikum Vgl. Anonymus: Theater. I.Weimar, den 5. Jan. 1801, in: Journal des Luxus und der Moden 16 (1801), H. 1, S. 30 – 32, hier S. 32. Vgl. hierzu Dönike: Karl August Böttigers archäologische Rekonstruktion antiker Theaterkostüme für die Weimarer Bühne, S. 114– 116. Vgl. zur Aufführungspraxis (bearbeiteter) antiker Dramen in Weimar Flashar: Inszenierung der Antike, S. 47– 57.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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deutlich mehr zuzumuten, als es sonst der Fall gewesen wäre. Die hohen Ansprüche an die Bereitschaft des Publikums, die ästhetischen Neuerungen zu akzeptieren, sind zudem sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass sich das Publikum des Weimarer Liebhabertheaters aus einem relativ elitären Kreis rekrutierte.⁴⁷ Aus der Anlage des Projekts, das antike Theater selbst zu imitieren, ebenso wie aus der personellen Konstellation in Weimar erklärt sich die bis dahin in dieser Weise unbekannte Kooperation zwischen Malerei, Altertumswissenschaft und Theaterausstattung. Diese Konstellation blieb indes nicht einmalig, sondern wurde über die Grenzen Weimars und der Antikenrezeption hinaus bestimmend für die Bühnenpraxis des 19. Jahrhunderts.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“. Die Zusammenarbeit von Friedrich Schinkel und Karl von Brühl am Berliner Hoftheater Die Wechselwirkungen von altertumswissenschaftlicher Forschung, bildender Kunst und Ausstattungspraxis der Theater, die in der Weimarer Aufführung der Brüder zum Tragen kamen, waren Teil umfassender zeitgenössischer Veränderungen des Status, den ‘Geschichte’ in ästhetischen Diskursen einnahm. Für den vorliegenden Diskussionszusammenhang ist insbesondere der neue Anspruch auf historische Genauigkeit und die Ablösung vornehmlich mythologischer und allegorischer Motive durch Darstellungen historischer Ereignisse in der Malerei des 19. Jahrhunderts augenfällig.⁴⁸ Die
Vgl. Birgit Himmelseher: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung, S. 64. Zur Entwicklung der Historienmalerei im 18. und 19. Jahrhundert vgl. stellvertretend Thomas W. Gaethgens und Uwe Fleckner (Hg.): Historienmalerei, Darmstadt 2003 (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 1); Werner Hager: Geschichte in Bildern. Studien zur Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, Hildesheim 1989 und Ekkehard Mai (Hg.): Historienmalerei in Europa: Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie, Mainz am Rhein 1990. Nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Denkmalkunst setzte sich der Anspruch auf historische Genauigkeit im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ästhetisches Paradigma durch. Die Frage, ob die im Denkmal gewürdigte Person eine ‘ideale’, das heißt antikisierende, oder eine ‘historische’, also der zeitgenössischen Mode des Dargestellten angepasste, Kleidung tragen solle, erregte gleichermaßen die Gemüter von Künstlern, Historikern, Ästhetikern und Auftraggebern. Die Debatten dokumentieren diese Spannungen des mehr als sieben Jahrzehnte währenden ‘Kostümstreits’ um das Denkmal Friedrichs des Großen. Sie endeten erst mit der Enthüllung von Rauchs Reiterdenkmal 1851 – mit einem Punktsieg für die Vertreter des historischen Kostüms. Die Kontroverse fand parallel zur Entwicklung der historischen Ausstattungspraxis an Theaterbühnen statt. In zeitlicher Perspektive lief er in die entgegengesetzte Richtung, stand aber unter den gleichen Vorzeichen: Auf der Bühne wurde, wie gesehen, im auslaufenden 18. Jahrhundert ein Wandel eingeläutet, mit dem das allgemein gültige, an der zeitgenössischen Mode orientierte Zeitkostüm abgelöst wurde durch Kostüme, die sich an alten historischen Quellen orientierten. Demgegenüber stand am Ende des ‘Kostümstreits’ in der bildenden Kunst eine Ablösung des idealen ‘antiken’ Kostüms durch ein historisches Kostüm, das der Zeit entsprach, aus welcher der Dargestellte entstammte. Damit wurden die Kostüme der Denkmäler also
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Berührungspunkte zwischen der Historienmalerei und der Theaterausstattungspraxis waren vor allem personeller Art, denn zu prestigeträchtigen Aufführungen wurden Kostümentwürfe oder Dekorationen ab dem späten 18. Jahrhundert an den großen Theatern häufig unter Hinzuziehung von (Historien‐)Malern entworfen. Dadurch wirkten die Forderungen nach immer größerer historischer Detailgenauigkeit in der bildenden Kunst, die sich auch in gewandelten Studieninhalten an den Kunstakademien niederschlugen, direkt auf das Theater.⁴⁹ Zur Entwicklung eines historischen Bühnenkostüms im 19. Jahrhundert trugen nicht nur die engen personellen Verflechtungen zwischen Historienmalern und Theaterpraktikern bei, sondern auch die zahlreichen Kostümwerke, die seit dem späten 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum entstanden und im 19. Jahrhundert eine ungebrochene Konjunktur erlebten.⁵⁰
‘moderner’, diejenigen auf der Bühne – in den entsprechenden Stücken – ‘antiker’. Beiden Entwicklungen aber lag eine ähnliche historische Denkfigur zugrunde, der zufolge die Dargestellten auf der Bühne wie im Denkmal historisch korrekt in das Kostüm ihrer eigenen Zeit gekleidet werden sollten. Zum Kostümstreit vgl. stellvertretend Hanna Hohl: Sergel, Schadow und die Frage des Kostüms in der Denkmalplastik, in: Johann Tobias Sergel 1740 – 1814, Katalog zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, München 1975, S. 58 – 71 und Jutta von Simson:Wie man die Helden anzog – Ein Beitrag zum „Kostümstreit“ im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Malerei und Plastik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Bd. 43, H. 2 (1989), S. 47– 63. Exemplarisch sei hier auf Johann Wilhelm Meil und Aloys Hirt verwiesen, die beide für das Berliner Theater tätig waren. Meil, der mit seinen Kostümen für den Götz erfolgreich war, arbeitete in seiner Zeit als Direktor an der Berliner Akademie der Künste bis in die 1790er Jahre hinein regelmäßig für das Berliner Theater und gilt als erster professioneller Theaterkostümmaler. Seine Entwürfe zeichneten sich durch jene neue historische Semiotik aus, die auch für die Kostüme des Götz galt. Er orientierte sich dabei nach wie vor eher locker an historischen Quellen. Meil wurde als Berliner Kostümexperte um die Jahrhundertwende von Aloys Hirt abgelöst, der lange Zeit in Rom gelebt hatte und ein herausragender Archäologe und Altertumswissenschaftler war. Hirt setzte sich sowohl als Professor an der Berliner Kunstakademie im Unterricht als auch in seinen Arbeiten für das Berliner Theater für eine größere Treue zu den antiken Quellen ein. Beispielhaft sei hier auf die Kostüme verwiesen, die anlässlich der Aufführung von Goethes Iphigenie von Tauris (Dezember 1802) in der Zusammenarbeit zwischen ihm und dem ebenfalls in der antiken Kunst bewanderten Künstler Johann Erdmann Hummel entstanden. Insbesondere die neben den Figurinen abgebildeten Requisiten sind Zeugnisse eines detaillierten Quellenstudiums. Sie sind abgedruckt in August Wilhelm Iffland: Kostüme auf dem Königlichen National-Theater zu Berlin, Berlin 1802– 1812. Zu Meils Kostümentwürfen vgl. Klara: Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung, S. 37– 53; zum Konnex von Historienmalerei und Theaterkostüm in Berlin vgl. Claudia Sedlarz: Der Zusammenhang von redender und bildender Kunst. Die Kostüme auf dem Königlichen National-Theater aus kunsthistorischer Sicht, in: Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland. August Wilhelm Iffland als Theaterdirektor, Schauspieler und Bühnenreformer, hg.v. Klaus Gerlach, Berlin 2009, S. 125 – 153; zu Hirt vgl. dies. (Hg.): Aloys Hirt. Archäologe, Historiker Kunstkenner, Hannover-Laatzen 2004 (Berliner Klassik, Bd. 1). Vgl. etwa Johann Christian Mannlich: Versuch über Gebräuche, Kleidung und Waffen der ältesten Völker bis auf Constantin den Grossen, nebst einigen Anmerkungen über die Schaubühne, München 1802; Jacob Falke: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte, Erster Theil: Die alte Zeit und das Mittelalter, Leipzig 1858 (Deutsches Leben. Eine Sammlung abgeschlossener Schilderungen aus der deutschen Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Cult-
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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Sie waren in der Regel reich bebildert, hatten häufig enzyklopädischen Charakter und stellten die Kleidungsformen verschiedener Völker und Epochen nach dem Stand der neuesten Forschung dar. Sie sind damit Dokumente eines neuen historischen Forschungsinteresses, das sich nicht zuletzt in den Altertumswissenschaften zunehmend auch auf Alltagsgegenstände wie Kleidung und Mode bezog.⁵¹ Wie eng auch hier der Zusammenhang von bildender Kunst, Theater und Altertumswissenschaft zu denken ist, zeigt Robert von Spalarts Skizze des Adressatenkreises, den er mit seinem Versuch über das Kostum der vorzüglichsten Völker des Alterthums, des Mittelalters und der neuern Zeiten (1797– 1811) zu erreichen hoffte. Der Versuch über das Kostüm stellte das erste deutschsprachige Kostümwerk dar. Es zielte auf das „Bedürfniß des bildenden Künstlers, des Schauspielers und Schauspieldichters, des philologischen Geschichtforschers [sic!] und des Erziehers […].“⁵² Adressaten solcher Kostümwerke waren also bildende Künstler, Historiker und Theatermacher gleichermaßen. Nach Klara standen in der Mannheimer ebenso wie in der Berliner Theaterbibliothek Anfang des 18. Jahrhunderts die Bände von Spalart und das bekannte Kostümwerk von André
urgeschichte und der Beziehungen zur Gegenwart, Bd. 1) und Hermann Weiss: Kostümkunde. Handbuch der Geschichte der Tracht, des Baues und des Geräthes der Völker des Alterthums. Mit 1945 Einzeldarstellungen nach Originalzeichnungen des Verfassers, Erste Abtheilung: Die Völker des Ostens, Zweite Abtheilung: Die Völker von Europa, Stuttgart 1860 (zwei weitere Bände, erschienen 1864 und 1872, behandeln das Mittelalter und die Neuzeit bis zur zeitgenössischen Gegenwart). Zu den Kostümwerken vgl. die kunsthistorisch angelegte Studie von Andrea Mayerhofer-Llanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte. Studien zu Kostümwerken des späten 18. und des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum, München 2006 (Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 84) und Sedlarz: Der Zusammenhang von redender und bildender Kunst, S. 126 – 129. In Frankreich, Belgien und England existierten zu diesem Zeitpunkt schon Kostümwerke, auch dort entstanden zahlreiche weitere ähnliche Publikationen im Laufe des 19. Jahrhunderts, vgl. MayerhoferLlanes: Die Anfänge der Kostümgeschichte, S. 5. Robert von Spalart: Versuch über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Alterthums, des Mittelalters und der neuern Zeiten. Nach den bewährten Schriftstellern bearbeitet von Robert von Spalart, auf eigene Kosten herausgegeben von Ignatz Albrecht,Wien 1796 – 1811, hier Bd. 1 (1796), S. 3. Die erste, in drei Teilen erschienene Abteilung ist ganz den Völkern des Altertums vorbehalten. Behandelt werden Ägypter, Griechen, die „barbarischen Nationen“, Hebräer, Inder, Römer, Etrusker, Lateiner, Samniter, Marsen und Sabiner. Ähnlich wie bei Spalart werden auch in dem reich illustrierten französischen Kostümwerk von Jean Charles Le Vacher de Charnois Maler wie Dramatiker gleichermaßen angesprochen, letztere mit dem Hinweis auf die Ansprüche des Illusionstheaters: „Si l’observance des Costumes est nécessaire aux Peintres d’Histoire, elle ne l’est pas moins à l’Auteur Tragique. Pour bien représenter les Héros de l’antiquité, il faut en même temps et se bien pénétrer de l’esprit de leur caractère, et les couvrir des vêtements qui leur étoient propres, soit au Civil, soit au Militaire, tant par rapport aux pays où ils vivoient, que relativement à l’adoption qu’ils avoient personellement faite de quelques acessoires de Costume. Le Théâtre est un Tableau qui ne peut produire d’illusion que par l’ heureux accord de toutes ses parties.“ (Recherches sur les Costumes et sur les Théâtres de toutes les Nations, tant anciennes que modernes. Ouvrage utile aux Peintres, Statuaires, Architectes, Décorateurs, Comédiens, Costumiers, en un mot aux Artistes de tous les genres; non moins utile pour l’étude de l’Histoire de temps reculés, de leurs Loix, et nécessaire à l’Education des Adolescens, Paris 1790, S. 2 f.).
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
Corneille Lens.⁵³ Klara nennt noch weitere, auch archäologische Werke, die in den beiden Theaterbibliotheken vorhanden gewesen seien.⁵⁴ Dabei ist auffällig, dass alle genannten Bände sich mit einer oder mehreren Altertumskulturen befassen (abgesehen von Spalarts umfassenderem Kostümwerk, das allerdings auch mit den Völkern des Altertums einsetzt). Dieser Befund unterstützt die These, dass sich das ‘historisch korrekte’ Bühnenkostüm maßgeblich an der Darstellung von Altertumsdramen ausbildete. Vor allem aber hatten diese Kostümwerke, die sowohl in den Kunstakademien als auch in den Bibliotheken großer Theater standen und hier wie dort gleichermaßen für Studien und Entwürfe genutzt wurden, großen Anteil an einer gemeinsamen Ausbildung der Kostümsprache von Malerei und Bühne.⁵⁵ Die Entwicklung einer historischen Semiotik der Kostüme muss also begriffen werden als Teil von umfassenden ästhetischen Transformationen. Einen entscheidenden weiteren Schritt für die Ausbildung dieser historischen Semiotik bilden die Intendanz Karls von Brühl am Berliner Hoftheater von 1815 bis 1828 und seine Zusammenarbeit mit Karl Friedrich Schinkel, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Den Anfang macht ein Blick auf Schinkels frühe Reformvorschläge für einen Umbau des Berliner Schauspielhauses, weil hier ein spezifischer Umgang mit dem Theater der Antike deutlich wird, der einerseits den diskursiven Regeln seiner Zeit unterlag und andererseits Eigenarten von Schinkels Zugriff auf das Theater deutlich macht, die im Zuge seiner praktischen Arbeit für das Theater einigen Wandlungen ausgesetzt waren (3.2.1). Im Anschluss stehen die Gemeinsamkeiten und Divergenzen von Brühl und Schinkel im Mittelpunkt des Interesses, die sich auch in einem unterschiedlichen Umgang mit den Altertümern niederschlugen (3.2.2). Aus Brühls Kostümreform folgte, so wird sich schließlich zeigen, eine neue Funktionsbestimmung des Theaters, welche zugleich Teil einer Neukonfiguration des Konzepts ‘Altertum’ war, die sich auch an ganz anderer Stelle niederschlug, nämlich in dem gewandelten Verständnis der Bedeutung des Altertums im Museum (3.2.3).
Das Kostum der meisten Völker des Alterthums, durch Kunstwerke dargestellt und erwiesen von Andreas Lens. Aus dem Französischen übersezt, berichtiget, mit Zusätzen und einer Vorrede begleitet von Georg Heinrich Martini, Dresden 1784 Vgl. Klara: Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung, S. 27. Nach Klara standen in der Mannheimer ebenso wie in der Berliner Theaterbibliothek Anfang des 18. Jahrhunderts die Bände von Spalart und das bekannte Kostümwerk von André Corneille Lens (Das Kostum der meisten Völker des Alterthums, durch Kunstwerke dargestellt und erwiesen von Andreas Lens. Aus dem Französischen übersezt, berichtiget, mit Zusätzen und einer Vorrede begleitet von Georg Heinrich Martini, Dresden 1784). Klara nennt noch weitere, auch archäologische Werke, die in den beiden Theaterbibliotheken vorhanden gewesen seien (vgl. Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung, S. 27). Dabei ist auffällig, dass alle genannten Bände sich mit einer oder mehreren Altertumskulturen befassen (abgesehen von Spalarts umfassenderem Kostümwerk, das allerdings auch mit den Völkern des Altertums einsetzt). Dieser Befund unterstützt die These, dass sich das ‘historisch korrekte’ Bühnenkostüm maßgeblich an der Darstellung von Altertumsdramen ausbildete.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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3.2.1 Bühnenarchitektur als Rezeption des antiken Theaters Nicht nur das althergebrachte barocke Theaterkostüm geriet in die Kritik, sondern etwas zeitlich versetzt, ab Beginn des 19. Jahrhunderts, auch die im Barock entwickelte Kulissenbühne.⁵⁶ Sie zeichnete sich durch ein bestimmtes Dekorationssystem aus: Rechts und links der Bühne waren eng hintereinander paarweise die Kulissen gestaffelt, einfache Holzrahmen, in die man die Dekorationen einhängen konnte, die im Verlauf eines Theaterabends mehrmals gewechselt wurden. Von oben waren die Kulissen durch Sofitten abgeschlossen, hinter denen der Schnürboden verschwand. In die Tiefe der Bühne hinein verjüngten sich die Kulissen, bis ein Prospekt die Bühne abschloss. Sie erzeugten so in Kombination mit dem Bühnenfall, der ansteigenden Neigung der Bühne hin zum Abschlussprospekt, eine illusionistische Tiefenwirkung. In dieser visuellen Wirkung lag zugleich die optische Problematik der Kulissenbühne begründet, die um 1800 neben akustischen Nachteilen in die Kritik der Bühnentheoretiker und ‐praktiker geriet. Denn der gewollte illusionistische Effekt entfaltete sich nur von einem einzigen perspektivischen Fluchtpunkt aus, der Mittelloge im ersten Rang, die in der Regel auch die Fürstenloge war.⁵⁷ Von allen anderen Plätzen aus zerfiel das Bühnenbild in seine Einzelteile. Zudem verdeckten die Kulissen häufig den Blick auf die Schauspielerinnen und Schauspieler und ließen diese grotesk groß erscheinen, wenn sie die Tiefe des Bühnenraums für ihr Spiel nutzten. Dies aber stellte Theaterpraktiker spätestens ab dem Ende des 18. Jahrhundert vor kaum lösbare perspektivische Probleme, weil die Massenaufzüge der neuen Historiendramen es unmöglich machten, das Spiel der Darsteller allein auf das Proszenium – also die der tiefen Bühne vorgelagerte Vorderbühne – zu beschränken. Solche optischen Verzerrungen, die unweigerlich aus den architektonischen Gegebenheiten der Bühne folgten, standen quer zum illusionistischen Anliegen, das mit der Kulissenbühne eigentlich verbunden war. Es waren so unterschiedliche Köpfe wie die Architekten Louis Catel (1776 – 1819) und Friedrich Weinbrenner (1766 – 1826), der Komponist und Schriftsteller E.T.A.
Diese Diskussionen gingen Hand in Hand mit anderen Reformdebatten im Theaterbau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die insbesondere eine Verbesserung der Auditorien betrafen, vgl. hierzu Jochen Meyer: Theaterbautheorien zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Diskussion über Theaterbau im deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1998 (Studien und Texte zur Geschichte der Architekturtheorie). Die Debatten um die Abschaffung der Kulissenbühne sind wegen dieser Perspektivierung auf den Fürsten von der Forschung immer wieder in den Kontext antifeudaler Bewegungen des aufstrebenden Bürgertums um 1800 gestellt worden, vgl. stellvertretend Andreas Haus: Karl Friedrich Schinkel als Künstler. Annäherung und Kommentar, München, Berlin 2001, S. 136 und Ingeborg Krengel-Strudthoff: Eine vergessene Bühnenreform: Johann Adam Breysigs Weg zur Szenographie des Königsberger Neuen Schauspielhauses von 1808, in: In blauer Ferne. Von der Kulissenbühne zum Königsberger panoramischen Theater. Schriften zur Bühnenreform von Johann Adam Breysig (1766 – 1831), hg.v. ders. und Bärbel Rudin, Wiesbaden 1993 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 12), S. 9 – 66, hier S. 13.
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Hoffmann (1776 – 1822) und die Theatermaler Johann Adam Breysig (1766 – 1831) und Friedrich Christian Beuther (1777– 1856), die sich schließlich für die Modifikation oder gar Abschaffung der Kulissenbühne einsetzten.⁵⁸ Wenn sie auch in einzelnen Punkten unterschiedliche Ansichten vertraten, ähnelten sich ihre Reformideen doch grundsätzlich: Man wünschte eine Verbesserung der Rampenbeleuchtung etwa durch Oberlichter, wollte das Orchester aus akustischen und visuellen Gründen absenken und strebte nach antikem Vorbild eine Verbreiterung des Proszeniums an sowie eine Verringerung der Tiefe der hinteren Bühne.Vor allem aber wurde in den verschiedenen Reformschriften für eine Abschaffung oder mindestens starke Reduzierung der Anzahl von Kulissen und Sofitten zugunsten einer Aufwertung des großen Abschlussprospekts am hinteren Ende der Bühne plädiert. Die meisten dieser Ideen für eine Reform des Bühnenraums hatten allerdings zunächst nur auf dem Papier Bestand. Bis weit ins 19. Jahrhundert wurden Theaterneubauten mit der barocken Kulissenbühne errichtet.⁵⁹ Der wohl prominenteste Vertreter, der sich für eine Reform der Bühneneinrichtung einsetzte, war Schinkel. Brühls Vorgänger August Wilhelm Iffland hatte Schinkels Bewerbung als Theatermaler im Jahr 1813 abgelehnt, ihm aber immerhin seinen Wunsch erfüllt, den von Karl Gotthard Langhans entworfenen Theaterbau auf dem Gendarmenmarkt eingehend studieren zu können. Schinkel nutzte Ifflands Angebot und schickte diesem im Dezember 1813 zwei aufwendige Zeichnungen – einen Grundriss und einen Aufriss des Theaters –, denen ein Heft mit Reformvorschlägen
Vgl. Louis Catel: Vorschläge zur Verbesserung der Schauspielhäuser, Berlin 1802; Friedrich Weinbrenner: Über Theater in architektonischer Hinsicht mit Beziehung auf Plan und Ausführung des neuen Hoftheaters zu Carlsruhe, Tübingen 1809; E.T.A. Hoffmann: Seltsame Leiden eines Theaterdirektors, in: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Band 3: Nachtstücke, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla. Werke 1816 – 1820, hg.v. Hartmut Steinecke, Frankfurt/Main 1985, S. 399 – 518; Johann Adam Breysig: Szenographie oder Bühnen-Gemälde des Königsberger neuen Schauspielhauses, das nach bessern, bisher nicht beachteten Grundsätzen konstruirt ist. Idealisirt, gemahlt und flüchtig beschrieben, Königsberg 1808 und Friedrich Christian Beuther: Bemerkungen und Ansichten über Theatermalerei, in: Allgemeiner Theateralmanach für das Jahr 1822, hg.v. August Klingemann, S. 223 – 256. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt Johann Adam Breysigs Bühnentechnik für das Neue Schauspielhaus in Königsberg dar, das im April 1808 eröffnet wurde. Breysig gelang es in Königsberg tatsächlich, eine Bühne ohne Kulissen, Sofitten und Bühnenfall einzurichten. Die Seiten der Bühne wurden mit Prospekten verhängt, die auf festen Holzrahmen standen und die schräg auf den großen Abschlussprospekt zuliefen. Der Blick auf die Bühne erfolgte durch ein mit Logen eingefasstes Proszenium. Die Lenkung des Blicks durch den Sehschacht des Proszeniums auf die Weite des breiten Abschlussprospekts zielte auf einen panoramaartigen Effekt. Breysigs revolutionäre Neuerungen hatten indes kaum Einfluss auf die übrige Theaterbaulandschaft. Das lag wohl vor allem daran, dass das Neue Schauspielhaus nur zwei Monate nach der Eröffnung abbrannte. Ein Großteil von Breysigs Schriften ist gesammelt in Ingeborg Krengel-Strudthoff und Bärbel Rudin (Hg.): In blauer Ferne.Von der Kulissenbühne zum Königsberger panoramischen Theater. Schriften zur Bühnenreform von Johann Adam Breysig (1766 – 1831), Wiesbaden 1993 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 12); vgl. darin auch den instruktiven Aufsatz von Krengel-Strudthoff: Johann Adam Breysigs Weg zur Szenographie des Königsberger Neuen Schauspielhauses von 1808.
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beigelegt war, die sich auf den Bühnenraum bezogen. Leider ist dieses Heft nicht erhalten, aber zwei Entwürfe des Textes sind überliefert, von denen der zweite wohl im Wesentlichen mit dem endgültigen Heft übereinstimmen dürfte.⁶⁰ Schon in der ersten, sehr viel kürzeren Fassung sind alle wesentlichen praktischen Änderungsvorschläge enthalten, die sich in ihren Grundzügen mit den genannten zeitgenössisch kursierenden Reformideen deckten. Trotzdem besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Fassungen. Denn während Schinkel in der ersten Fassung seine Vorschläge Iffland noch überwiegend durch ökonomische Argumente schmackhaft machen wollte, ist der zweite erhalten gebliebene Text durch ausführliche Rekurse auf das antike Theater strukturiert. Damit fügt er sich einerseits in die theaterbautheoretischen Diskurse seiner Zeit ein. Denn um 1800 avancierten die antiken Amphitheater neben der Shakespearebühne theaterbaulich zum Vorbild.⁶¹ Der antike Theaterbau und seine Theoretisierung insbesondere durch Vitruvs De architectura hatten großen Einfluss auf die neuen Ideen zum Auditorium. Nicht nur Schinkel, sondern auch Architekten wie Friedrich Gilly, Louis Catel bis hin zu Gottfried Semper wollten unter anderem aus akustischen Erwägungen die antike cavea in die modernen Theaterbauten integrieren und damit das alte Logenauditorium ablösen.⁶² Ebenfalls auf Anregungen aus dem antiken Theaterbau gingen die Bemühungen um eine Verbreiterung des Proszeniums und die Forderung nach einer ‘reliefartigen’ Regieführung (anstelle der Praxis, in die Tiefe des Bühnenraums zu spielen) zurück. Wenngleich sich Schinkels zweiter Textentwurf an Iffland also in solche theaterbaulichen Diskurse einordnen lässt, zeichnet er sich andererseits durch einen spezifischen emphatischen Rekurs auf das antike Theater aus, der über die Umsetzung konkreter baulicher Vorbilder der Antike hinausgeht. Der Text setzt mit einer eindringlichen Idealisierung des griechischen Theaters ein: Im griechischen Altertum war das Theater als ein religiöser Gegenstand ein reines Ideal, was unmöglich machte, daß es wie bei uns in manchem Zweige zum Ärmlichsten und Frivolsten des gemeinen Lebens herabsinken konnte. Selbst das Indezente war damals in der Wiedergeburt durch die Kunst zu einem höheren Leben geworden, welches die gemeine Lust von sich wies. Weit entfernt, die ganz gemeine und physische Täuschung zum Gipfel der Kunst zu erheben (welches nur der Barbarei angehört), ward alles Individuelle zur Gattung erhoben und erhielt dadurch den
Beide Entwürfe sind vollständig abgedruckt in Ulrike Harten: Die Bühnenentwürfe, überarb. v. Helmut Börsch-Supan und Gottfried Riemann, München, Berlin 2000 (Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk, 17), S. 33 – 40.Vgl. zu Schinkels Reformvorschlägen stellvertretend ebd., S. 33 – 50; Friederike Krippner: Zwischen „symbolischer Andeutung“ und „historischer Treue“. Karl Friedrich Schinkels Arbeiten für das Berliner Hoftheater, in: Karl Friedrich Schinkel. Geschichte und Poesie. Das Studienbuch, hg.v. Heinrich Th. Schulze Altcappenberg und Rolf H. Johannsen, Berlin 2012, S. 73 – 82, hier S. 74– 76 und Meyer: Theaterbautheorien zwischen Kunst und Wissenschaft, S. 337– 339. Vgl. zur Bedeutung der Shakespeare-Bühne im deutschsprachigen Raum die grundlegende Arbeit von Heide Nüssel: Rekonstruktionen der Shakespeare-Bühne auf dem deutschen Theater, Köln 1967. Vgl. hierzu Meyer: Theaterbautheorien zwischen Kunst und Wissenschaft, S. 225 – 239.
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allgemeinen und höheren Charakter, mit dem allein es in der schönen Kunst aufgenommen werden kann. […] Bei den unzähligen Verirrungen unserer Tage liegt eine Erquickung in der Erinnerung an jene schöne und helle Zeit, und eine unwiderstehliche Neigung regt sich in den Besseren, den alten Faden wieder anzuknüpfen und zu schaffen nach alter Kunst und Art, soweit die Kräfte reichen.⁶³
In Schinkels Rhetorik wird das moderne Theater zur degenerierten Schwundstufe des „reine[n] Ideals“, das im attischen Theater verwirklicht war.⁶⁴ Rettung verheißt nur der Versuch, an „den alten Faden wieder anzuknüpfen“, was Schinkel denn auch auf bemerkenswerte Weise tut: Bei dem Theater der Alten wirkten in jenem Geiste alle Teile zusammen, und so entstand die Vollendung. Die Szenerie selbst war damals nichts weiter als das Sammlungsglas, welches das Bild der Handlung auf einen Punkt zusammenzog und dadurch der physisch umgebenden Welt entrückte, damit der ungestörte frei gewordene Geist in dem reinen Antlitz der Kunst eintauchen und jeder höheren Freude teilhaftig werden konnte. Hieraus geht hervor, nicht allein wie wenig darauf ankommen konnte, sondern wie sogar absichtlich vermieden werden mußte, eine gemein physische Täuschung der Szene zu bewirken, auf die bei dem modernen Theater nicht allein so fälschlich hingearbeitet wurde, sondern wo die Aufgabe so schlecht als möglich gelöst wurde und aus guten Gründen nie gelöst werden wird. Eine symbolische Andeutung des Ortes, in dem die Handlung gedacht war (seine Andeutung, die beinah unbedeutend aus der mit einer immer stehenden eigentümlichen Architektur versehenen Szene hervorblickte), war vollkommen hinreichend, der produktiven Phantasie des Zuschauers – auf die bei jedem höheren Genusse gerechnet werden muß, da diese nicht für Holz und Stein gereicht wird – eine Anregung zu geben, durch die er imstande war, bei der hinreißenden Kunst in der Darstellung, die Handlung ganz ideal und den angedeuteten Ort um dieselbe herum bei sich weiter fort auszubilden, woraus ihm dann die wahre und ideale Illusion erwuchs, die ihm ein ganzes modernes Theater mit allen Kulissen und Soffitten [sic!] nicht geben kann. Denn wer nur daran, ewig ein Sklave, mit seiner Phantasie sich zu halten vermag, dem ist bei der höchsten malerischen Täuschung das Bild verloren, sobald er nur um das geringste das Auge wendet und das Volk diesseits des Proszeniums erblickt, das ihm sagt, daß er im Theater sei. Ein solcher ist eben nicht zu berücksichtigen, der muß sich besser gewöhnen, und wenn er dies nicht kann, den Genuß entbehren, um den er gewiß schon vorher die Theater nicht besuchte, da ihm so manche andere Zerstreuung näher liegt, die er bei diesem Besuch zu finden glaubt, und die Kasse hat nicht einmal Schaden daran.⁶⁵
Karl Friedrich Schinkel: [Konzept zu einer Denkschrift, 1813, an August Wilhelm Iffland], zit. nach Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 36 – 40, hier S. 36. Mit dieser Position stand Schinkel nicht allein. So beklagte Johann Georg Sulzer: „Unsre Schaubühnen sind gegen die griechischen nicht viel besser, als Raritätenkasten […]“ (Art. „Drama. Dramatische Dichtkunst“, in: Ders.: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Neue vermehrte Auflage, 4 Bde., Leipzig 1786 – 1787, Bd. 1 [1786], S. 479 – 494, hier S. 485). Ähnlich äußerte sich auch der Architekt Friedrich Weinbrenner 1809: „So ausgezeichnet die aus dem klassischen Alterthum uns erhaltenen wenigen Theaterstücke sind, eben so hervorstechend und glänzend müssen ihre Theatergebäude gewesen seyn. Alle aus jenem Zeitalter übrig gebliebenen klassischen Werke lassen uns schliessen, dass die Theatergebäude, analog mit jenen dichterischen und rednerischen Producten, an Kunst und Pracht die Theater unsers Zeitalters weit übertrafen.“ (Über Theater in architektonischer Hinsicht, S. 2). Schinkel: [Konzept zu einer Denkschrift, 1813, an August Wilhelm Iffland], S. 36 f.
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Das ideale antike Theater funktionierte demnach nur für den idealen Zuschauer, dem es im Akt der Rezeption gelang, eine „ideale Illusion“ herzustellen. Einen solchen Zuschauer hat auch Schinkels Neuentwurf der modernen Bühne im Blick. Kurzerhand entfernt Schinkel all jene Zuschauer, die sich an der illusionistischen Kulissenbühne erfreuen, als vernachlässigenswerte „Sklave[n]“ aus dem fiktiven Zuschauerraum und übersetzt im Vertrauen auf ein phantasiebegabtes Publikum die Charakteristika der antiken Bühne in seine zentralen bühnentechnischen Änderungsvorschläge: Wenn wir daher unsere Szene in den mehrsten Fällen mit einer einzigen großen Bildwand verzieren könnten, so gingen wir schon unendlich weiter als die Alten, indem auf einer solchen selbst die vollkommenste physische Täuschung einer Ortsversetzung durch Mittel der Kunst erzwungen werden kann und besser und leichter als auf einer Szene mit Kulissen und Soffitten, die überall auseinanderfallen und bei der besten Anordnung nie aus einem einzigen Punkt einen Zusammenhang bilden können. Der größte Vorteil, der dadurch entsteht, würde aber der sein, daß das Bild der Szene in jeder Hinsicht künstlerisch behandelt werden könnte und dennoch als ein mitwirkender Nebenteil der Handlung weniger Abbruch täte, da es sich nicht prahlend vordrängt, sondern als symbolischer Hintergrund immer nur die für die Phantasie wohltätige Ferne hält. Soll die Szene einen höheren Charakter gewinnen, so muß dieses Proszenium mehr das Wesen der festen Szene der Alten gewinnen und ein kräftiger Abschlußrahmen sein für das Bild der ganzen Theatererscheinung, in welchen aus der Szene heraus die bewegliche Handlung tritt wie ein herausgeworfener Fokus und so den leuchtensten [sic!] Punkt der ganzen Erscheinung bildet.⁶⁶
Im Vergleich zur cavea als architektonischem Vorbild für halbrunde Auditorien stellt Schinkels Rückgriff auf das antike Theater eine denkbar abstrakte Übersetzung antiker Theaterbauten in die moderne Bühnenarchitektur dar: War im griechischen Theater die „immer stehende Architektur“ der skené das „Sammlungsglas“ für den Blick des Zuschauers, so soll diese Aufgabe im Berliner Nationaltheater ein verbreitertes, durch vier korinthische Säulen eingefasstes Proszenium übernehmen. Die griechische lediglich „symbolische Andeutung“ des Handlungsortes findet sich wieder in Schinkels Vorschlag, einen großen Abschlussprospekt zu verwenden, bei gleichzeitigem Verzicht auf Kulissen und Sofitten. Bemerkenswerterwesie sind es also nicht direkte bauliche Vorlagen, an denen sich Schinkel orientierte, sondern er machte eine idealisierte Antike zum Referenzpunkt seiner modernen Reformideen. Eine besondere Bedeutung kam seinem Plädoyer für einen breiten, von vorangestellten Kulissen und Sofitten befreiten Abschlussprospekt zu. Nach Schinkel war dieser selbst unter illusionistischen Gesichtspunkten den stets perspektivisch zerfallenden Kulissendekorationen überlegen. Aber sein Vorschlag zielte keineswegs auf eine Modifikation des Illusionstheaters. Im Gegensatz etwa zu dem Theatermaler Johann Adam Breysig, der ganz ähnliche praktische Ideen wie Schinkel entwickelte und sich davon eine Verbesserung der Illusionswirkung erhoffte, wollte Schinkel die in der Kulissenbühne angestrebte Illusion durch ein symbolisches Prinzip ablösen, aus dem
Ebd., S. 37.
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dann „die wahre und ideale Illusion“⁶⁷ erwachsen sollte. Diese ‘ideale Illusion’ wollte er grundsätzlich unterschieden wissen von der „ängstlichen Suche[] nach allerlei Natürlichkeiten in der Szenenverzierung“ des Illusionstheaters, die dazu anhalte, das Publikum „vom Wesentlichen der Handlung“ abzulenken.⁶⁸ In seinem Text entwirft Schinkel also ein Ideal des antiken Theaters, in dem Theaterarchitektur und Zuschauer in einer konstruktiven Wechselbeziehung stehen. Dieses Ideal wollte er in die Moderne übersetzen. Seine Forderung nach maximaler Zurückhaltung des Bühnenbilds zielte auf ein neues Anforderungsprofil an die modernen Zuschauer. Auch sie sollten wie ihre antiken Vorbilder der „produktiven Phantasie“⁶⁹ mächtig sein – und wenn sie es noch nicht waren, dann sollten sie dazu erzogen werden. Ihr Blick sollte durch die Bühnenarchitektur auf die Handlung und nicht auf die Dekoration konzentriert werden. Im Rückgriff auf das neuhumanistische Ideal der griechischen Antike waren Schinkels Vorschläge an Iffland damit Ausdruck eines komplexen ästhetischen Bildungsprogramms, das weit über eine bloße optische und akustische Verbesserung des Bühnenraums hinausging.
3.2.2 Die Altertümer im Bühnenbild und Kostüm der Berliner Bühne Wie bei den meisten anderen dieser frühen Theaterbaureformer verließen auch Schinkels Vorschläge nicht das Papier: Als im Mai 1821, gut sieben Jahre nachdem sich Schinkel an Iffland gewandt hatte, Schinkels eigener Theaterbau auf dem Gendarmenmarkt eröffnet wurde, war von seinen Reformvorschlägen nicht mehr viel übrig. Die Bühne in dem neuen Theaterbau hatte nur einen schwach ausgebildeten Proszeniumsrahmen. Und obgleich Schinkel die Kulissengassen räumlich im Vergleich zur früheren Bühne entzerrte, blieb es bei der Staffelung von fünf Kulissenpaaren. Schinkel hat wohl seine Reformvorschläge, als er 1817 den Bauauftrag bekam, nicht abermals am Hof unterbreitet.⁷⁰ Auch eine Reaktion von Iffland auf Schinkels Reformvorschläge von 1813 ist nicht erhalten. Möglicherweise konnte sich der Theaterdirektor dazu auch nicht mehr äußern, denn er war schwer erkrankt und starb schließlich am 22. September 1814. Als Nachfolger wurde im Januar 1815 der kunsthistorisch umfassend interessierte und gebildete Karl von Brühl benannt. Brühl war zunächst als Forstreferendar ausgebildet worden und seit 1800 königlicher Kammerherr. Auf seinen ausgedehnten Reisen widmete er sich vor allem Kunst- und Theaterstudien.⁷¹ Auf den ausgewiesenen Theaterpraktiker Iffland, der sich schon vor
Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Auch Tieck, E.T.A. Hoffmann und etwas später Semper sprachen sich gegen das Illusionstheater aus, vgl. hierzu Meyer: Theaterbautheorien zwischen Kunst und Wissenschaft, S. 337– 345. Ebd., S. 36. Vgl. Ulrike Harten: Die Bühnenbilder K. F. Schinkels, 1798 – 1834, Kiel 1974, S. 97. Zu Brühls Biographie vgl. Hans von Krosigk: Karl Graf von Brühl General-Intendant der Königlichen Schauspiele, später der Museen in Berlin und seine Eltern. Lebensbilder auf Grund der Handschriften
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seiner Intendanz in Berlin als berühmter Schauspieler und Theaterautor hervorgetan hatte, folgte also ein kunsthistorisch gesinnter Adeliger, der bisher dem Theater nur durch Liebhaberei verbunden geswesen war. Der personelle Wechsel hatte Konsequenzen: Während Ifflands vornehmlichstes Interesse der Entwicklung der Schauspielkunst galt, so legte Brühl auf nie dagewesene Weise den Schwerpunkt auf das Kostüm-und Dekorationswesen. Anders als Iffland bemühte Brühl sich denn auch sofort darum, den zu diesem Zeitpunkt schon bekannten Maler und Architekten Schinkel für die Arbeit an den königlichen Bühnen zu gewinnen. Allerdings wäre es verfehlt, aus der produktiven Zusammenarbeit von Brühl und Schinkel auf einen Gleichklang ihrer ästhetischen Programme zu schließen. Dies zeigt sich eindrücklich in dem unterschiedlichen Stellenwert, den die beiden dem antiken Theater für die moderne Theaterarchitektur beimaßen. So schreibt Brühl über den Neubau des Schauspielhauses: Zu den gewöhnlichen Schwächen aller Architekten beim Bau eines Theaters gehört, daß sie auf die Theater der Alten zurückgehen, um die neueren darnach einrichten zu wollen; nichts kann unverständiger und nachtheiliger sein, als dieß. Unsere ganze jetzige Sinnes- und Lebensart, unser Geschmack, unsere Begriffe von Annehmlichkeit und Interesse am Schauspiel, sowie am Singspiel und dem Tanze ist so durchaus verschieden von Allem, was die Alten liebten, daß ein antikes Theater zu unsern modernen Schauspielen ungefähr passen würde, wie die großen Courrierstiefeln aus Ludwigs XIV. Zeiten, zu den jetzigen leichtfüßigen Ballettsprüngen. […] Längst war es mein Wunsch, mich mit unserm vortrefflichen Schinkel deßhalb [wegen der Planungen zum Schauspielhaus, F.K.] in Unterhandlungen einzulassen, weil ich ihn ohne Uebertreibung für einen der genialsten und geistreichsten Baukünstler halte, welche Deutschland besitzt. Anfänglich schien er nicht dazu gewilligt und zwar aus demselben Grunde, der alle Unterhandlungen mit den Architekten erschwerte, nämlich er hatte über Theater und Theaterwesen, über Schauspiel, Dichtung und Tanz so abweichende Gedanken von dem, was da war und bestand, daß ich nimmermehr hoffen konnte mich mit ihm zu vereinigen.⁷²
Auch wenn sich Brühl und Schinkel schließlich doch noch so weit einigten, dass der Theaterdirektor die Bestellung Schinkels zum Architekten für den neuen Theaterbau
des Archivs zu Seifersdorf, Berlin 1910; zu Brühls Berliner Kostüm- und Bühnenreform vgl. Marieluise Hübscher: Die Königlichen Schauspiele zu Berlin unter der Intendanz des Grafen Brühl (1815 bis 1828), Berlin 1960; dies.: Theater unter dem Grafen Brühl (1815 – 1828), in: Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, hg.v. Carl Dahlhaus, Regensburg 1980 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 56), S. 415 – 428; Ruth Freydank: Theater in Berlin.Von den Anfängen bis 1945, Berlin 1988, S. 158 – 197; Friederike Krippner: „Historische Richtigkeit“ und die Grenzen des Wissens. Die Pluralisierung der Altertümer durch Karl von Brühls Berliner Kostümreform 1815 – 1828, in: Grenzen der Antike. Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen, hg.v. Anna Heinze, Sebastian Möckel und Werner Röcke, Berlin 2014, S. 325 – 352; Schaffner: Die Kostümreform unter der Intendanz des Grafen Brühl an den Kgl. Theatern zu Berlin 1814– 1828. Der Text ist ohne Angabe von Adressat und Datum mitgeteilt in: Johann Valentin Teichmanns weiland königl. preußischen Hofrathes ec. Literarischer Nachlaß, hg.v. Franz Dingelstedt, Stuttgart 1863, S. 127.
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befürwortete,⁷³ ist Brühls Eindruck, beide hätten vollkommen verschiedene Ansichten über das Theaterwesen, aufschlussreich. Denn seine eigene Stellungnahme zum Theater der Antike liest sich in der Tat wie ein Gegenprogramm zu den Reformideen, die Schinkel in der Schrift an Iffland formulierte. Während letzterer seine Neuerungsvorschläge im emphatischen Rekurs auf ein idealisiertes antikes Theater gewann, konnte für Brühl nur die Auseinandersetzung mit dem Theater der Gegenwart Antworten auf notwendige Neuerungen im Theaterbau liefern. Das zitierte Schreiben ist symptomatisch für den geringen Stellenwert, den Brühl der klassischen Antike in ästhetischer Hinsicht beimaß. Damit unterscheidet sich sein Standpunkt wesentlich von der bisher beobachteten Bedeutung der klassischen Antike als Katalysator sowohl für die Entwicklung einer historischen Semiotik des Theaterkostüms als auch für die Entwicklung neuer theaterbaulicher Reformprogramme – angefangen bei Gottscheds Kostümkritik über das Kostüm von Charlotte Brandes und Goethes Aufführungen antiker Dramen bis hin zu den Reformvorschlägen von Schinkel. Schaut man sich allerdings die Anfänge von Brühls Tätigkeit in Berlin an, könnte man leicht auch zum gegenteiligen Ergebnis kommen. Denn eines der ersten Stücke, die Brühl für Berlin einrichtete, waren die schon bekannten Brüder von Einsiedel.⁷⁴ Goethe war für Brühl ein wichtiger Mentor.⁷⁵ Im November 1813 hatte Brühl eine Aufführung von Goethes Einrichtung der Brüder in Weimar gesehen, die ihn offensichtlich nachhaltig beeindruckt hatte. Er entschied sich nicht nur dafür, Die Brüder in Berlin zu bringen, sondern hielt sich auch bei der Auswahl der Kostüme sehr nah an die Weimarer Vorlagen. Das zeigt ein Vergleich der Figurine des Syrus, die in Brühls neu gegründeter Kostümzeitschrift abgebildet war (Abb. 8), mit der Figurine der gleichen Rollenfigur aus Weimar (Abb. 3).Wie in Weimar wurde in Berlin demnach mit Halbmasken gespielt, und auch das Gewand, das der Berliner Syrus trug, ähnelte demjenigen, das man in Weimar entworfen hatte. Schon in Weimar allerdings war das umgeschlungene himation des Sklaven, der auf der entsprechenden Tafel in den Pitture antiche d’Ercolano abgebildet ist (Abb. 2), zu einer kurzen Tunica geworden, die mit einem Tuch ergänzt wurde. In Berlin wurde diese Transformation dann als zweiteiliges Kostüm interpretiert, mit einer kurzen Tunica, über der eine Art weißes, kurzärmliges Hemd getragen wurde, das bis zur Hüfte reichte. Brühl folgte damit in dieser frühen Inszenierung seiner Intendanz derjenigen Praxis, die er später immer wieder kriti-
Zur Auseinandersetzung von Schinkel und Brühl über die Modalitäten des Baus vgl. Adalbert Behr und Alfred Hoffmann: Das Schauspielhaus in Berlin, hg.v. Erhardt Gißke, Berlin 1984, S. 60 – 69. Die Brüder avancierten in Berlin zu einem Erfolgsstück, das 40 Mal zwischen 1815 und 1830 gegeben wurde, vgl. Fambach: Einsiedels Übersetzung der Adelphoe des Terenz in der deutschen Bühnen- und Kritikgeschichte, S. 129. Brühl hatte Goethe bereits in seiner Jugend kennengelernt. Im Jahr 1800 hatte er sich einige Zeit in Weimar aufgehalten und dort an Liebhaberaufführungen teilgenommen. Während seiner Intendanz stand er in enger Korrespondenz mit Goethe, vgl. Erna Arnold: Goethes Berliner Beziehungen, Gotha 1925, S. 117 f. und 127 f.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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sierte. Er orientierte sich bei den Kostümen an anderen Entwürfen und betrieb keine eigenen antiquarischen Studien, mit der Konsequenz, dass sich die Kopie der Kopie weit von der antiken Vorlage entfernte.
Abb. 8: Figurine des Syrus in Die Brüder (Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin)
Für die Orientierung an den Weimarer Kostümen mag auch seine große Bewunderung für Goethes Theaterarbeiten eine Rolle gespielt haben. Verschiedentlich ist daher angenommen worden, dass die Inszenierung der Brüder in Weimar einen wichtigen Impuls für Brühls spätere Kostümreform gegeben habe.⁷⁶ Aber die Differenzen überwiegen. Denn Goethe interessierte sich für die historische Nachahmung im Kostümwesen nur in bestimmten Kontexten – in der Perspektive auf die Antike, genauer: in dem Versuch, die antike Aufführungssituation zu rekonstruieren. Ansonsten aber war er der Meinung, man solle bei der „Treue“ in Kostüm und Dekoration „eine gewisse Liberalität“ walten lassen, wie er in einem Brief an Brühl formulierte.⁷⁷ Brühl hingegen erhob im Laufe seiner Intendanz das Kriterium der „historische[n] Richtigkeit“⁷⁸ der Kostüme (und in eingeschränkterem Maße auch der Dekorationen) zum
Vgl. Heinrich Huesmann: Goethe als Theaterleiter. Historisches Umfeld und Grundzüge, in: Ein Theatermann. Theorie und Praxis. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Badenhausen, hg.v. Ingrid Nohl, München 1977, S. 143 – 160, hier S. 151 und Kes: Die Rezeption der Komödien des Plautus und Terenz im 19. Jahrhundert, S. 267. Johann Wolfgang Goethe an Carl Friedrich Moritz Paul Graf von Brühl, 2.4.1820, WA IV, 32, S. 222. Die treffende Formel von der „historische[n] Richtigkeit“ stammt nicht von Brühl selbst, sondern von Eduard Devrient, der sie in seiner Geschichte der deutschen Schauspielkunst (1848 – 1874) im Zusammenhang mit Brühls Bühnenreform verwendet (Dramatische und Dramaturgische Schriften, Bd. 8: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, Bd. 4, Leipzig 1861, S. 10).
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ästhetischen und bildungsprogrammatischen Prinzip seines theaterkünstlerischen Schaffens. Auch wenn die Kostüme in der Retrospektive in ihren Schnitten durchaus verraten, dass sie Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden sind, zeichnet sich dieses Prinzip der ‘historischen Richtigkeit’ durch das Bemühen aus, möglichst getreu nach historischen Quellen zu arbeiten und sie zum Maßstab der Kostümierung zu machen. Vor allem aber spielte die klassische Antike selbst nur eine untergeordnete Rolle. In Brühls Ansichten hatte die klassische Antike einen Platz neben anderen Altertumskulturen. Das antike Kostüm interessierte ihn, weil er dort schlimme Misstände des Kostümwesens sah, aber römische oder griechische Kostüme waren seiner Leidenschaft etwa für ägyptische, althebräische oder persische Kostüme in keinster Weise übergeordnet. Die Auseinandersetzung mit den Altertümern, im Plural, ist ein entscheidendes Charakteristikum seines Reformprogramms. Brühl entwickelte dabei ein besonderes Sendungsbewusstsein, das sich in einer eigenen Kostümzeitschrift dokumentiert, die er unter dem Titel Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, unter der Generalintendantur des Herrn Grafen von Brühl zwischen 1819 und 1831 herausgab.⁷⁹ Im Vorwort des ersten Bandes erläuterte er allen „wahrhaft kunstliebenden Theater-Directoren […] wohlmeinend zur näheren Beherzigung“⁸⁰ die Maximen der Berliner Kostümpraxis: Grosse Prachtwerke werden zu Tage gefördert über Sitten, Gebräuche, Kleidungen, Gegenden und Pflanzen aller Länder; – und werden emsig studirt! Warum soll nicht auch die Bühne ein unterrichtendes lebendes Bild werden voller characteristischer Wahrheit? Der Dichter sucht nach Eigenthümlichkeit und Characteristik zu streben, warum soll der Bühnen-Director ihn darin nicht unterstützen? – Warum soll unser Auge nicht auch durch die äussere Form in das Zeitalter oder das Land versetzt werden, wohin uns der Dichter durch sein Geistes-Product zu versetzten strebt? Warum soll das Publikum nicht im Theater Gelegenheit finden zu jeder Art von wissenschaftlicher Bildung? ⁸¹
Damit knüpfte Brühl an seinen Vorgänger Iffland an, der ebenfalls eine solche Kostümzeitschrift herausgegeben hatte (Kostüme auf dem Königlichen National-Theater zu Berlin, Berlin 1802– 1812). Auch in anderer Hinsicht konnte Brühl an die Bemühungen seines Vorgängers um das Kostümwesen anschließen. Das betraf praktische Maßnahmen wie Ifflands Verbot, Kostüme ohne Absprache mit der Intendanz zu ändern (vgl. Gesetze und Anordnungen für das Königliche National-Theater zu Berlin, Berlin 1802, S. 41– 53). Vor allem aber hatte Iffland schon für verschiedene Projekte (etwa bei den Entwürfen für die Kostüme zu Goethes Iphigenie) mit Altertumswissenschaftlern zusammen gearbeitet und sich also um die historische Authentizität der Kostüme bemüht. Vgl. hierzu Gerlach (Hg.): Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland und Krippner: „Historische Richtigkeit“ und die Grenzen des Wissens, S. 327– 336. Karl von Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin unter der Generalintendantur des Herrn Grafen von Brühl, Berlin 1819 – 1831, Bd. 1, [S. 3]. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, [S. 1 f.], Hervorh. i.O. Nicht von ungefähr spricht der ehemalige Kammerherr am preußischen Hof von der Bühne als einem ‘lebenden Bild’. Hier klingt die weit verbreitete Praxis der tableaux vivants an, mit der Brühl auch durch eigene Arrangements am Hof und in Adelskreisen gut vertraut war. Zur zeitgenössischen Mode der tableaux vivants in Berlin vgl. Gisold Lammel: Lebende Bilder – Tableaux vivants im Berlin des
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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Brühls Ansatz, im Theater „jede Art von wissenschaftlicher Bildung“ zu ermöglichen, war nicht ganz neu. Ähnliches hatte etwa auch schon Johann Christian Mannlich vorgeschwebt, der sich in seinem 1802 erschienenen Kostümwerk Bühnenausstattungen wünschte, die es im Hinblick auf ihre belehrende Wirkung mit den trockenen Studierstuben der Altertumskundler aufnehmen sollten: Bey Vorstellung grosser historischer Schauspiele und Opern, wo Zeit und Ort angegeben ist, muß nothwendig der Architekturmahler den Geschmack des Volkes und der Zeit, bis in das hohe Alterthum oder in die Epoche, wo sich die Geschichte zugetragen haben soll, verfolgen, und dem Zuschauer Wahrheit darstellen; so müssen auch Kleidung, Geräthe,Waffen und Gefäse [sic!] einer jeden Nation eigen und der Wahrheit gemäs seyn. Auf diese Art wird auch der unwissende Zuschauer nach und nach ohne Mühe Kenntnisse in der Alterthumskunde erlangen, welche ihrer Trockenheit wegen von so wenigen gründlich studirt wird. Man glaube nicht, daß unsere Bühne, indem wir den Erfindungsgeist des Theaterarchitekten […] an Wahrheit binden, dabey an Pracht, Grösse und Reichthum verlieren möchte: es wird im Gegentheile Neuheit und Verschiedenheit daraus entstehen; denn welches Volk war grösser, unternehmender und sonderbarer, als die alten Aegypter? welches reiner und geschmackvoller als die Griechen und ihre Nachahmer die Römer? Der Geschmack der Perser, der Araber und Indianer wird Stof [sic!] zu den prächtigsten Dekorationen darbieten, die Wahrheit mit ihren Reitzen wird überdieß noch das Gepräg der Neuheit tragen, und um so vielmehr, und gewisser gefallen.⁸²
Mannlich schwebte die Bühne als pädagogischer Raum vor, in dem sich die Öffentlichkeit auf angenehme und unterhaltsame Weise Kenntnisse über die verschiedensten Altertumskulturen aneignen sollte. Wie Brühl machte auch Mannlich dabei keinen Unterschied zwischen dem ‚klassischen’ Griechenland und Rom auf der einen und den Altertumskulturen der Ägypter, Perser, Inder und Araber auf der anderen Seite. Als Intendant der königlichen Bühnen hatte Brühl die Möglichkeit, das von Mannlich geforderte Theaterereignis als „Alterthumskunde“ auf der Bühne zu realisieren. Die besondere Aufmerksamkeit auf die Altertümer zeigt sich unter anderem daran, dass in den Kostümheften überproportional viele Kostüme zu Dramen und Opern mit Altertumsstoffen abgedruckt sind, wenn man ihre tatsächliche Präsenz im Berliner Spielplan bedenkt.⁸³ Obgleich sein Anspruch der ‘wissenschaftlichen Bil-
19. Jahrhunderts, in: Studien zur Kunstgeschichte, hg.v. Karl-Heinz Klingenburg, Leipzig 1986, S. 221– 327. Mannlich: Versuch über Gebräuche, Kleidung und Waffen der ältesten Völker bis auf Constantin den Grossen, nebst einigen Anmerkungen über die Schaubühne, S. 15 f. Der Berliner Spielplan lässt sich rekonstruieren anhand von Carl Schäffer und Carl Hartmann: Die Königlichen Theater in Berlin. Statistischer Rückblick auf die künstlerische Thätigkeit und die Personal-Verhältnisse während des Zeitraums vom 5. December 1786 bis 31. December 1885, Berlin 1886. In Berlin spielten Dramen und mehr noch Opern mit Altertumsstoffen zwar eine wichtige, aber keine herausragende Rolle. Der Spielplan wurde vielmehr dominiert von französischen Lustspielen und bürgerlichen Schauspielen (vgl. Hübscher: Die Königlichen Schauspiele zu Berlin unter der Intendanz des Grafen Brühl, S. 61– 63). In den 23 Kostümheften wiederum sind mehrfach griechische, römische, ägyptische, aber auch hebräische, makedonische, assyrische und (explizit als dem Altertum entstammend benannte) altböhmische Kostüme abgedruckt. Neben den Kostümen des Altertums sind es
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
dung’ alle Epochen umfasste, wurden um 1800 die verschiedenen Altertumskulturen besonders „emsig studirt“.⁸⁴ Vor allem aber sah Brühl hier die schlimmsten Missstände auf dem Feld der Kostümkunde. Das galt insbesondere für die Kostümsparte des türkischen Kostüms, in der Brühl jegliches Bewusstsein für das historische Altertum orientalischer Völker vermisste. Dass das türkische Kostüm auf der Bühne überwiegend auf Grundlage eines Gemischs zeitgenössischer ‘orientalischer’ Kleidung aus verschiedenen Ländern entworfen wurde, die man unter anderem durch Reiseberichte kannte, hing maßgeblich mit der Idee des ‘geschichtslosen Orients’ zusammen. Man nahm, wie Bernhard Lang gezeigt hat, schlichtweg an, dass sich im zeitgenössischen ‘Orient’ die altorientalische Kleidung erhalten habe.⁸⁵ Exemplarisch lassen sich Brühls Bemühungen um ein historisch exaktes Kostüm anhand eines Kostümheftes nachvollziehen, das eine Auswahl seiner Entwürfe anlässlich der Aufführung von Ernst Raupachs Drama Die Tochter der Luft (1829) präsentiert. Das Drama war eine Bearbeitung von Calderóns La hija del aire (1653). Im Zentrum stand Semiramis mit ihren beiden (dem Figurenverzeichnis zufolge) assyrischen Ehemännern Ninus und Menon. In seinem Kommentar zu den abgedruckten Kostümen profiliert Brühl seine eigene Ausstattungspraxis, indem er die zeitgenössisch übliche historische Unbesorgtheit im Umgang mit dem türkischen Kostüm rügt: Die vorliegenden Blätter sind sämmtlich möglichst nach den besten Quellen entworfen, und die Abbildung der Basreliefs,welche man auf den Trümmern von Persepolis und der Umgegend findet, haben zum Leitfaden gedient. Nicht unnütz dürfte es seyn, hier einen Irrthum zu rügen,welcher im Allgemeinen fast auf den mehrsten Theatern herrscht, dass, sobald von alt-orientalischen, persischen und andern Kostümen die Rede ist, stets das neu-persische, oder vielmehr türkische, mit Turban, sehr weiten türkischen Beinkleidern u.s.w., gewählt wird. Auf erwähnten Basreliefs findet sich aber durchaus nichts dem Aehnliches, wohl aber für die Frauen über den Kopf geworfene herumgeschlungene Schleier, für die Männer aber fast im Allgemeinen eine Art Mütze, welche sogar der gegenwärtig eingeführten Kopfbedeckung unsers Militairs ähnlich sieht. […] Für die Männer dürfen die bis über die Knöchel heruntergehenden Beinkleider nicht fehlen, wogegen dieselben bei der Frauen-Kleidung nicht anwendbar sind. Die Beinkleider der Männer müssen durchaus nicht weit und faltig seyn, und [es, F.K.] kann hier nur auf oben erwähnte antiken [sic!] Fragmente hingewiesen werden. […] Helme, Harnische und andere Schutzwaffen, ausser den Schilden, finden sich nirgend in den Abbildungen persischer Krieger. Krumme Säbel und auch kurze gerade Schwerter sieht man abwechselnd auf denselben. Lanzen, Bogen und Pfeile sind ausserdem die gewöhnlichen An-
solche des Mittelalters oder der frühen Neuzeit, die Brühl interessierten. Kostüme aus der zeitgenössischen Gegenwart (etwa aus unterschiedlichen Regionen oder verschiedene Stände betreffend) sind dagegen kaum abgedruckt. Auch hier zeigt sich, dass seine Kostümreform vor allem auf die Differenzierung der historischen Semiotik des Kostüms zielte. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, [S. 1]. Vgl. Bernhard Lang: Der Orientreisende als Exeget, oder Turban und Taubenmist. Beiträge der Reiseliteratur zum Verständnis der Bibel im 18. und 19. Jh., in: Zeitschrift des Deutschen PalästinaVereins 121/1 (2005), S. 67– 85, insbesondere S. 70 – 72.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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griffswaffen. Die Köcher selten an der Schulter, gemeiniglich an die Hüfte hängend, wie sie noch gegenwärtig die Asiaten oft zu tragen pflegen.⁸⁶
Obgleich Brühl nicht angibt, welche Abbildung eines Basreliefs aus Persepolis ihm als Quelle vorlag,⁸⁷ zeigt ein Vergleich der Kriegerfigurine mit einem Relief am östlichen Seitenaufgang der Apadana in Persepolis doch, dass er sich eindeutig an solche archäologischen Quellen hielt (Abb. 9 und 10). Nicht nur die Beinkleidung und das Gewand, sondern auch der Speer, der Schild und die Kopfbedeckung sind offensichtlich nach dem Vorbild der archäologischen Funde gestaltet.
Abb. : Figurinen des Königs aus Baktra und eines assyrischen Kriegers in Raupachs Die Tochter der Luft (Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin)
Abb. : Persepolis, Apadana, Relief am östlichen Seitenaufgang
Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 3, 22. Heft, [S. 15], Hervorh. i.O. Wahrscheinlich ist, dass Brühl eine Ausgabe von John Chardins Travels to Persia (1686) zu Rate zog, in dem sich zahlreiche archäologische Abbildungen zu Persepolis finden und auf das auch Schinkel für Bühnenbilder zurückgriff, so etwa für die Ausstattung von Friedrich von Uechtritz’ Alexander und Darius (Berliner Premiere 10. März 1827).
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
Abb. 11: Figurine des Hohepriesters in Poißls Athalia (Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin)
Das Prinzip der historischen Genauigkeit im Kostüm- und Dekorationswesen in Berlin etabliert zu haben, sah Brühl als seine innovative Leistung an. So verwies er im Zusammenhang mit der Aufführung von Spontinis Olimpia, die am 14. Mai 1821 Premiere hatte, stolz darauf, dass „Kenner […] sowohl den Dekorationen, als auch den Kostümen das Zeugniss ertheilt [hätten, F.K.], dass sie vollkommen kunstmässig und passend angeordnet worden“ seien, was darauf zurückzuführen sei, dass man sich nicht einfach an den „in illuminirten Bildern erschienenen Kostümen des Pariser Theaters zu Olimpia“ orientiert habe, sondern „etwas neues, kunstgerechtes“ aufgestellt habe.⁸⁸ Auch für das hebräische Kostüm wollte Brühl neue Maßstäbe setzen, indem er einen Hohepriester zeigte, der „möglichst nach den mosaischen Angaben kostumirt“ war (Abb. 11).⁸⁹ In Bezug auf das „weit zurück liegende[] Alterthume unter den Sarmatischen Stämmen“, in das er die Oper Libussa versetzte,⁹⁰ bedauerte er zwar, dass es an „ältern Gemälde“ fehle, welche „die nöthigen Anleitungen […] geben“
Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 12. Heft, [S. 5], Hervorh. i.O. Die Berliner Olimpia war eine Bearbeitung der französischen Oper Olimpie. Das Libretto stammt von Michel Dieulafoy und Charles Brifaut, die Übersetzung von E.T.A. Hoffmann. Der Komponist ist Gaspare Spontini (1774– 1851), der 1820 Generalmusikdirektor in Berlin geworden war. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, 3. Heft, [S. 6]. Die Oper Libussa von Joseph Carl Bernard und Conradin Kreutzer hatte am 1. Dezember 1823 anlässlich der Hochzeit des Kronprinzen Friedrich Wilhelm mit Prinzessin Elisabeth von Bayern Premiere und war daher entsprechend prächtig ausgestattet.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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könnten, hielt sich aber zugute, durch die Kombination verschiedener Quellen, wie etwa der Darstellung der „Dazier auf der Trajans-Säule“, mit der zeitgenössischen Tracht der Tschechen und Polen ein historisch zumindest wahrscheinliches Kostüm rekonstruiert zu haben.⁹¹ Und anlässlich der Uraufführung von Johann Nepomuk von Poißls Oper Nittetis am 1. Dezember 1819 rühmte sich Brühl, das erste Mal das „ägyptische Kostum […] in seiner Reinheit“ auf das Theater gebracht zu haben, indem man „aus den besten Quellen“ geschöpft habe, wobei diese „nöthige[] Richtigkeit“ auch „theatralisch angenehm für das Auge“ gewesen sei.⁹² Die breite Masse der Kritik und des Publikums sah das allerdings anders. Die zeitgenössische Öffentlichkeit wusste mit einer solchen „Reinheit“ des ägyptischen Kostüms offenbar wenig anzufangen. Die mit großem finanziellen und personellen Aufwand ausgestattete Oper erlebte nur zwei Aufführungen.⁹³ Der Gegenwind, den der Theaterdirektor zu spüren bekam, veranlasste Böttiger, der seit 1814 Direktor der Dresdener Antikensammlung war, dazu, in einer Ausgabe der Dresdener Abend-Zeitung Brühls Kostüme zu verteidigen. Um die historische Korrektheit von Brühls Kostümen zu überprüfen, konsultierte er das „grosse französische Werk über Aegypten, aus welchem vor allem hier geschöpft wurde“.⁹⁴ Gemeint waren wahrscheinlich die berühmten und zeitgenössisch breit rezipierten Voyages dans la basse et haute Egypte pendant les Campagnes du Général Bonaparte en 1798 et 1799 von Vivant Denon, die prägend für das Ägyptenbild Europas wurden.⁹⁵ Böttigers Vergleich ergab, dass in Berlin „jene[r] Nudität, welche in Verbindung mit dem nie fehlenden Brustkragen im Original eigentlich nichts zulässt, als einen streifigen Byssusschurz um die Lenden, der mit einem oder zwei Brustbändern festgehalten wird, so viel Ober- und Untergewand zugemessen wurde, als überhaupt mit dem antiquarischen Gewissen vereinbar
Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 3, 18. Heft, [S. 7]. In dem Heft hob Brühl auch Schinkels Dekorationen zur Libussa lobend hervor, die unter Hinzuziehung der Beratung durch den „Oberst-Burggrafen von Böhmen, Herrn Grafen von Kolowrat und de[n] verdienstvollen Academie-Director[] Herrn Bergler“ entstanden seien (ebd., Hervorh. i.O.). Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 11. Heft, [S. 3]. Die Presse beurteilte die Ausstattung überwiegend negativ, vgl. etwa die beißende Kritik von Friedrich Wilhelm Gubitz im Gesellschafter, der sich über Brühls „Prunksucht“ bei den Kostümen erregte, die besonders sträflich bei der Darstellung der „Völker des Nils“ sei, „deren Kostüme wenig oder gar nicht weiter zu gebrauchen“ seien (Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, 3. Jahrgang, 6.12. und 8.12.1819, S. 792 und 796, hier S. 796). Carl August Böttiger: [Artikel über Brühls Kostüme], in: Abend-Zeitung. Artistisches Notizenblatt, Nr. 16, Jahrg. 1822, abgedruckt in: Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 3, [S. 1 f., hier S. 1]. Vivant Denon: Voyages dans la basse et haute Egypte pendant les Campagnes du Général Bonaparte, 2 Bde., Paris 1802. Für dieses Werk als Quelle spricht auch eine Kritik von Adolph Müllner im Zusammenhang mit den Kostümen zur Nittetis, in der es heißt: „Muß der Teufel den Bonaparte nach Aegypten geführt haben, daß unsere Theaterschneider ec. sein Prachtwerk nachdrucken!“ (Korrespondenzen und Notizen aus Berlin, in: Zeitschrift für die elegante Welt, 20. Jahrgang, Zitat in Nr. 14, 21.1., Sp. 111).
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schien.“⁹⁶ Nach Böttiger also war die Vermittlung zwischen antiquarischer Redlichkeit und den theatralen Anforderungen des Anstands hier gelungen.
Abb. 12: Figurine der Beroe in Poißls Nittetis (Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin)
Brühls eigener Anspruch lautete allerdings dezidiert, so wenig Rücksicht als möglich auf die Theaterkonventionen zu nehmen. Man dürfe „bei der Betrachtung der Berliner Theater-Kostüme nie auf Mode oder augenblicklichen Zeitgeschmack zurückkommen“, hieß es ebenfalls im Heft zur Nittetis. ⁹⁷ Diese Einstellung galt auch für bisher vernachlässigte Details wie die Haartracht der Schauspielerinnen und Schau-
Karl August Böttiger: [Artikel über Brühls Kostüme], [S. 1]. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 11. Heft, [S. 4]. Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass Brühl die historische Wahrheit höher gewichtete als die Konventionen dessen, was auf der Bühne als schicklich empfunden wurde. So heißt es im Zusammenhang mit den Kostümen zu Fernand Cortez: „Das Amerikanische Kostüm der Frauen ganz genau nachzubilden, dürfte wohl seine Schwierigkeit haben, da dasselbe gewöhnlich den Oberkörper ganz unbekleidet lässt, obgleich in neueren Zeiten man auch auf der Bühne toleranter geworden, und dort manches duldet, wenn nur dadurch der Wahrheit näher zu kommen ist. Diese Toleranz wird in andern Fällen auch dadurch bemerklich, dass man nicht mehr unschicklich findet, wirkliche Uniformen und selbst Ordenskreuze auf der Bühne zu zeigen, aus dem sehr richtigen Grunde, dass die Bühne ein lebendiges Bild aller Weltbegebenheiten ist, wobei die Schauspieler mit ihrer Individualität eigentlich nicht in’s Spiel kommen, sondern in dem Augenblick der Darstellung als ein grosses Bild gehörige Figuren betrachtet werden müssen.“ (Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 15. Heft, [S. 11]).
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spieler. Brühl wies etwa darauf hin, dass die Ägypter „durchaus gar kein Haupthaar“ getragen hätten und daher auch „Backen- noch andere Bärte“ der Schauspieler höchst unpassend seien. Allerdings gab er zu, „dass für eine Schauspielerin einige Selbstverleugnung dazu [gehöre, F.K.], fast keine Haare sehen zu lassen“, gab aber zu bedenken, die „ägyptische Mütze“ könne, wenn sie „gut geformt“ sei, durchaus kleidsam sein, „zumal wegen der zu beiden Seiten auf die Schultern herabhängenden Streifen, welche das Gesicht angenehm einfassen“ würden.⁹⁸ Von der Kleidsamkeit dieser Mütze ebenso wie von der „Nudität“⁹⁹ der Rollenfiguren gibt die Abbildung der Beroe einen Eindruck (Abb. 12).¹⁰⁰ Es ist kein Zufall, dass ein Großteil der Abbildungen in Brühls Kostümzeitschrift Opernkostüme zeigt. Das Budget der Oper war besonders groß, weil die Tradition hier aufwendige Ausstattungen verlangte. Zudem schätzte Friedrich Wilhelm III. die Oper mehr als ernste Schauspiele und Tragödien. Auch die statischere Regieführung kam Brühls aufwendigen Kostümen wahrscheinlich entgegen, wenngleich er dieses Argument nicht gelten ließ. So beklagt er in dem Kostümwerk mehrfach den mangelnden Kunstsinn der Balletttänzerinnen und -tänzer, die regelmäßig seine Kostümvorschläge ablehnen würden, weil sie „dem Tanze hinderlich“ seien, „wie unwahr und ungegründet dies auch gewöhnlich“ sei.¹⁰¹ Bei der Aufführung der Nittetis gab Brühl diesem Widerstand der Tänzerinnen und Tänzer nach (Abb. 13): Die beiden tanzenden Figuren sind grösstentheils im Kostum der übrigen ziemlich ähnlich; bis auf die Kopfbedeckung! – Bei dem durchaus unkünstlerischen Wesen fast aller Tänzer, bei dem gänzlichen Mangel an Kenntnissen, welchen man bei diesen Leuten findet, und bei dem wunderbaren Character, den das Ballet überhaupt angenommen hat; – welcher so einförmig geworden ist, dass eine [sic!] und dieselben Tänze gelten müssen; – es mag ein Ballet zu Zeiten der Aegypter, der Römer, der Griechen, Indier, Perser, Franzosen oder Deutschen dargestellt werden; es mag einen Waffentanz, einen Tanz der Nimphen, oder einen der Priester gelten; – ist es nicht möglich, in Hinsicht auf Charakteristik der Kostüme mit denen der Schauspieler gleichen Schritt halten zu können, und haben Vernunft und reinere Kunstansichten auf diese letzteren, schon eine bedeutende Einwirkung. Wenn daher das Kostum des Ballets nur einigermassen nicht ganz abweichend von dem übrigen im Stücke vorkommenden ist, so muss die kritische Wahrheit auf sich beruhen bleiben.¹⁰²
Brühl diagnostiziert bei den Tänzerinnen und Tänzern des Balletts ein mangelndes historisches Bewusstsein, dass sich auch in ihrem Tanz manifestiere, weil dieser keinen Unterschied zwischen dem alten Rom und Ägypten, zwischen Nymphen und Priestern mache. Mit diesem Verfehlen der „kritischen Wahrheit“ ging nach seiner Logik zugleich auch ein „unkünstlerische[s] Wesen“ der Tänzer einher – künstlerischer Anspruch und historisches Bewusstsein fielen für Brühl also in eins. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 11. Heft, [S. 4]. Carl August Böttiger: [Artikel über Brühls Kostüme], S. 1. Ebd. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 12. Heft, [S. 7]. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 11. Heft, [S. 5].
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Abb. 13: Figurine eines Solotänzers in Poißls Nittetis (Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin)
Brühls Anspruch an die ‘Richtigkeit’ der Kostüme, den er nur bei den Tänzerinnen und Tänzer notgedrungen etwas zurückstufte, galt ähnlich auch für die Theaterdekorationen. Anders als bei den Kostümen, die er nach eigener Aussage in Zusammenarbeit mit Künstlern und Kunsthistorikern selbst entwerfen und verantworten konnte, war er hier allerdings auf die Hilfe eines Architekten oder Theatermalers angewiesen. Für außergewöhnliche Projekte zog er dabei Schinkel heran. Von Schinkels Dekorationen wurden ausgewählte Entwürfe zwischen 1819 und 1824 in einzelnen Heften unter dem Titel Dekorationen auf den Kgl. Hoftheatern zu Berlin veröffentlicht, die denjenigen von Brühls Kostümheften ähnelten.¹⁰³ Auch hier for-
Zu Schinkels Bühnendekorationen vgl. insgesamt den Band von Harten: Die Bühnenentwürfe; vgl. außerdem dies.: Die Bühnenbilder K.F. Schinkels; Helmut Börsch-Supan: Karl Friedrich Schinkel und das Theater, in: Kleine Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Heft 32, Berlin 1982, S. 3 – 26; ders: Karl Friedrich Schinkel. Bühnenentwürfe/Stage Designs, 2 Bde., Berlin 1990 und Krippner: Zwischen „symbolischer Andeutung“ und „historischer Treue“, S. 76 – 81.
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mulierte Brühl seinen historischen Anspruch an die Ausstattungspraxis deutlich im programmatischen Vorwort zum ersten Band:¹⁰⁴ Als Haupt-Grundsatz wird von der hiesigen Direction angenommen, dass bei jeder Decoration das Charakteristische vorzüglich heraustrete […]. Es sind hierzu für den Decorateur bei weitem mehr Kenntnisse nöthig, als allgemein geglaubt wird, und nicht zu hart ist die Behauptung, dass die bisherige Bildungsart der Decorationsmaler sie nie dahin hat führen können. Decorateurs von wirklich bedeutendem Rufe, wie sie früher hier angestellt gewesen, haben dies deutlich genug bewiesen. Es geschah ihnen sehr oft, in einem Stücke, welches in Troja spielte, Säulen von jonischer oder corinthischer Ordnung anzubringen, Altdeutsch, Byzantinisch, Maurisch, Altegyptisch oder Indisch durch einander zu mischen, und in Landschaften ein und dieselbe Baumart unter allen Himmelsstrichen anzubringen.¹⁰⁵
In Berlin, so Brühl weiter, habe man mit diesen Missständen aufgeräumt. Man könne daher „[o]hne Anmassung“¹⁰⁶ hoffen, hier sei „der erste Schritt zu einem ganz neuen System der Decorations-Malerei gemacht worden“.¹⁰⁷ Dieser Fortschritt sei nicht unwesentlich auf Schinkels umfassende bauhistorische Bildung zurückzuführen, wie er lobend fortfährt: Herr Schinkel ist deshalb als Architect vorzüglich gross und ausgezeichnet, weil er sich vor Einseitigkeit bewahrt, alle Arten von Baukunst mit gleicher Theilnahme aufgefasst, und das Fortschreiten, so wie die Veränderung im Geschmack der Baukunst, durch alle Jahrhunderte und durch alle Länder mit Fleiss studirt hat. Diese Eigenschaft macht ihn vorzüglich geschickt, Zeichnungen für das Theater zu entwerfen […].¹⁰⁸
Brühl schreibt dies 1819, zu einem Zeitpunkt also, an dem seine Zusammenarbeit mit Schinkel schon vier Jahre andauert. Es ist durchaus bemerkenswert, wie deutlich Brühl Schinkel hier zum Gewährsmann seiner eigenen Anschauungen macht, nach denen das ‘Charakteristische’ Synonym für eine größtmögliche Treue zu historischen Quellen ist. Denn in seinen frühen Bühnenentwürfen verzichtete Schinkel größtenteils auf ein solches Bemühen um historische Korrektheit. Dies gilt insbesondere für die bekannten zwölf Bühnenbilder zu Mozarts Zauberflöte, die Schinkel 1816 entwarf.¹⁰⁹ War diese
Der Autor des Textes ist in dem Heft nicht angegeben. Aber sowohl der Inhalt als auch der Duktus des Textes gleichen Brühls Vorrede zu den Kostümheften und lassen daher mit Sicherheit auf seine Autorschaft schließen. In einem Brief vom Dezember 1819 an Böttiger erwähnt er zudem selbst die Vorrede, die er für die Dekorationszeitschrift verfasst habe, vgl. Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 62. [Brühl]: [Vorrede zur Dekorationszeitschrift], abgedruckt in: Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 62– 65, hier S. 63. Ebd., S. 63 f. Ebd., S. 64. Ebd. Die Zauberflöte hatte mit Schinkels Dekorationen Premiere am 18. Januar 1816 im Opernhaus.Vgl. zu den Dekorationen zur Zauberflöte Hans-Jürgen Rydzyk: Die Bühne wird zum Bild. Zu Karl Friedrich Schinkels Entwürfen zur Zauberflöte, in: Kleine Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Heft 32, Berlin 1982, S. 27– 57; Haus: Karl Friedrich Schinkel als Künstler, S. 137– 146, Harten: Die
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Oper traditionell in lockere ägyptisierende Kontexte gestellt worden, so wies Brühl in der Kostümzeitschrift ausdrücklich darauf hin, man habe in Kostüm und Dekorationen „das egyptische Wesen mit ganzer Genauigkeit nachzuahmen beschlossen.“¹¹⁰ Von dieser angeblichen Genauigkeit lassen Schinkels Entwürfe allerdings wenig spüren. Das zeigt schon der Entwurf zur ersten Dekoration, die das Reich der Königin der Nacht darstellt (Abb. 14). Zu sehen ist ein Gebäude, das in eine hoch aufgetürmte Felsenlandschaft hinein gebaut ist und dessen baulicher Grundriss eher an eine klassische Dreiflügelanlage erinnert als an ägyptische Baukunst. Die Figuren, die das Gebäude zieren, wirken dagegen durchaus ägyptisierend. Diese Mischung verschiedener Elemente in den Architekturdetails der Dekoration wurde auch von den Zeitgenossen wahrgenommen. Man identifizierte darin keineswegs einen Mangel, sondern zeigte sich im Gegenteil davon angetan, weil man hierin eine Entsprechung zu der historischen Unbestimmtheit der Oper sah. So heißt es etwa in einer Kritik der Aufführung im Münchener Theaterjournal: Die Dichtung, die ohne Zeit und Heimath ist, oder eine Vermischung des persischen, alt indischen und egyptischen Mythos, gab dem Dekorateur ein weites Feld der Formen, daher der bewunderungswürdige Reichthum von originellen Kapitälern, Gesimsen u. s. w.¹¹¹
In der Detailgenauigkeit des ersten Entwurfs ging Schinkel zwar über seine Forderung einer bloß „symbolische[n] Andeutung des Ortes“,¹¹² die er drei Jahre zuvor in Rekurs auf ein ideales antiken Theaters abgeleitet hatte, merklich hinaus. Aber seine Dekorationen zur Zauberflöte zeugen doch von seinen älteren ästhetischen Idealen, die nicht mit Brühls Ästhetik der ‘Richtigkeit’ korrespondierte. Für die Dekorationen der Zauberflöte kombinierte Schinkel frei verschiedene Elemente aus dem Fundus seines umfangreichen Wissens über Kunst und Architektur unterschiedlicher Altertumskulturen. So entstanden eigene Phantasiewelten, die dem Publikum viel Raum für symbolisch-inhaltliche Ausdeutungen gaben und insofern an jene „produktive[] Phantasie“¹¹³ appellierten, die er 1813 in Referenz auf das altgriechische Theater zum Ausgangspunkt seiner Reformvorschläge gemacht hatte.
Bühnenentwürfe, S. 117– 172 und Krippner: Zwischen „symbolischer Andeutung“ und „historischer Treue“, S. 77– 79. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, 5. Heft, [S. 7]. Münchener Theaterjournal 1816, 3. Jg., 3. Heft, S. 152 f.; zit. nach Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 119. Ähnlich lobte auch Catel die „Mischung des Altindischen mit dem Egyptischen“, die bei Schinkel „meisterhaft“ gelungen sei, vgl. Louis Catel: Über die Dekorationen der Zauberflöte, in: Vossische Zeitung, zit. nach Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 121. Schinkel: [Konzept zu einer Denkschrift, 1813, an August Wilhelm Iffland], S. 36. Allerdings kann Schinkels wohl berühmtestes Bühnenbild, die zweite Dekoration der Zauberflöte, die das Gemach der Königin der Nacht als einen zur Kuppel gewölbten Sternenhimmel darstellt, vor dem die Darstellerin der Königin auf einer liegenden Mondsichel auftrat, in seiner aufgeladenen Entmaterialisierung durchaus als Verwirklichung einer solchen ‘symbolischen Andeutung’ des Handlungsortes gelten. Schinkel: [Konzept zu einer Denkschrift, 1813, an August Wilhelm Iffland], S. 36.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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Abb. 14: Schinkel: Entwurf zur Zweiten Dekoration für Mozarts Zauberflöte
Vor allem Schinkels frühe Arbeiten für die Berliner Bühne sind von einem solchen freien Umgang mit der Baugeschichte geprägt. In seinen späteren Dekorationen überwiegen dagegen die historisch begründete Inszenierung von Architektur und botanisch gesicherte Darstellung von Landschaften.¹¹⁴ In Bezug auf die Bühnendekorationen zu verschiedenen Altertumskulturen hieß dies vor allem, dass Schinkel sich häufig selbst an archäologischen (Re‐)Konstruktionen versuchte. Ausgehend von archäologischen Realien entwarf Schinkel Bühnenbilder, die fast immer über das historisch-archäologisch Belegbare hinausgingen – teilweise notgedrungen, weil er antike Räume, Gebäude und Artefakte darstellen musste, die nicht überliefert waren, teilweise aber auch, weil ihm seine eigenen Vorstellungen stimmiger erschienen. Schinkels Rekonstruktionsleistungen wurden überwiegend wohlwollend aufgenommen, so etwa von dem ihm freundschaftlich verbundenen Kunsthistoriker Gustav Friedrich Waagen (1794– 1868), der über eine Dekoration zu Spontinis Olimpia schrieb: „Die innere Ansicht des Tempels der Diana von Ephesus zu der Oper Olympia von Spontini ist aber […] als eine förmliche und höchst gelungene Restauration dieses Denkmals zu betrachten.“¹¹⁵
Ulrike Harten unterscheidet daher zwischen einer kurzen frühen „symbolischen“ Phase in den Jahren 1815/1816 und einer langen darauf folgenden „charakteristischen“ Phase, die bis 1830 gereicht habe (vgl. Die Bühnenentwürfe, S. 56 – 70). Gustav Friedrich Waagen: Karl Friedrich Schinkel als Mensch und als Künstler. Die erste Biografie Schinkels im Berliner Kalender von 1844 als Reprint hg. und eingel. v. Werner Gabler, Düsseldorf 1980, S. 341.
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
Abb. 15: Schinkel: Entwurf zur zweiten Dekoration für Poißls Nittetis
Abb. 16: Schinkel: Entwurf zur zweiten Dekoration für Glucks Alceste
Ein Beispiel für Schinkels archäologisch inspirierten Dekorationen, bei denen er notgedrungen frei kombinieren musste,waren diejenigen für die bereits erwähnte Oper Nittetis, für die Brühl nach eigener Einschätzung neue Maßstäbe in Bezug auf die ‘historische Richtigkeit’ ägyptischer Kostüme gesetzt hatte. Die Szenenangaben verlangte einen Triumphbogen als Dekoration. Da dieser der ägyptischen Architektur fremd war, konnte Schinkel sich natürlich nicht auf ein ägyptisches Original beziehen. Schinkel entwickelte daher auf Grundlage verschiedener archäologischer Quellen einen Triumphbogen, wie er ausgesehen haben könnte, falls es ihn im alten Ägypten
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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gegeben hätte. Harten hat angeführt, dass Schinkel hierfür wahrscheinlich „die verkürzte Front einer Tempelvorhalle zum Vorbild [nahm, F.K.], wie etwa die des Horos Tempels in Edfu“, auf die er dann Schmuckelemente applizierte, die vermutlich, wie Brühls Kostüme zu dieser Oper, auf Darstellungen ägyptischer Altertümer in den französischen Bänden von Vivant Denon basierten (Abb. 15).¹¹⁶ Könnte man argumentieren, dass Schinkel hier notwendigerweise kombinieren musste, weil von ihm ein Bühnenbild verlangt wurde, dass schlichtweg der historischen Realität widersprach, so griff er aber auch dort ein, wo die exakte Überlieferung aufhörte oder ihm unzulänglich erschien. Dies war etwa der Fall bei der zweiten Dekoration, die Schinkel zu Christoph Willibald Glucks Alceste (Berliner Erstaufführung 15. Oktober 1817) entwarf (Abb. 16). Brühl hatte Schinkel eine Kritik Böttigers weitergeleitet, in der offenbar in Frage gestellt wurde, ob in der Antike Giebel im inneren Hof eines Tempels mit einem Relief verziert gewesen seien, wie es auf Schinkels Dekoration zu sehen war. Als Replik legte Schinkel Brühl ausführlich die Gründe dar, die ihn dazu veranlasst hatten, den inneren Giebel zu verzieren, obgleich er hierfür keine direkte antike Vorlage als Referenz anbieten konnte: Was den Gedanken betrifft, auch die Kehrseite des Giebels für den inneren offenen Tempel der Griechen (hypaethros) mit einem Basrelief zu zieren, so schien mir dieser Gedanke sehr natürlich, obgleich darüber aus dem Alterthum nichts bekannt geworden. Es ist dabey gedacht worden, daß diese in der Decoration zu Apollos Tempel gesehene, verzierte Giebel Seite nicht die Rückseite des auf den vorderen Eingang Säulen ruhenden Giebel sey, welche man bei dem engen Raum im Inneren des Tempels nicht sehen konnte, indem dieser Giebel um die Tiefe der ganzen Vorhalle zurückstand, sondern, daß dieses Basrelief einem Giebel angehörte, der nothwendig dicht an der inneren offenen Tempelhalle stand und mit jenem erst gedachten Vorder Giebel das hohe Dach einschloß, was die Vorhalle bedeckte.Von dergl. Giebeln gibt es überall Spuren, ich führe nur den Tempel der Concordia zu Agrigent an; aber die Spuren sind sehr dürftig und es scheint, daß bei den häufigen Zerstörungen, welche besonders immer die Dächer der Tempel zuerst trafen, diese Giebel leicht ihren Untergang fanden, und man wohl annehmen könnte, daß manche dieser inneren Giebel hätte verziert gewesen sein können. […] Das Basrelief in dieser sonst sehr nackt aussehenden Fläche scheint mir zwar am natürlichsten und dem Geiste des Alterthums am angemessensten, indeß wäre es auch wohl möglich gewesen, daß die Fläche mit Fresco gefüllt war; vielleicht auch konnte sie mit Metall Sculptur belegt gewesen sein; um das prächtige des inneren Eindrucks des Tempels zu erhöhen; und daher könnte es auch kommen, daß so wenig Spuren übrig sind, weil diese Metallreliefs gewiß zuerst geraubt wurden. Gewiß ist es, daß die nackte Fläche dieser Giebel nicht statt finden konnte, wenn der Anblick des ganzen Innern dieser Gebäude harmonisch wirken sollte […].¹¹⁷
Schinkels Antwort zeigt, dass er sich von altertumswissenschaftlichen Überlegungen leiten ließ. Sie verrät allerdings auch den Architekten, denn seine Argumentation folgt eindeutig ästhetischen Prämissen, wenn es heißt, der Giebel könne in der Antike nicht ohne Dekoration gestaltet worden sein, weil das Gebäude dann nicht „harmonisch“
Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 345. Schinkel an Brühl, 17.1.1820, zit. nach Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 246.
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
gewirkt hätte. Hier ist denn auch der wichtigste Unterschied zu Brühl zu benennen: Anders als für den Intendanten war für Schinkel der bloße möglichst exakte Rekurs auf archäologisch-historische Quellen nicht alleiniges Qualitätsmerkmal von Theaterdekorationen, sondern mindestens ebenso wichtig war ihm die ästhetische Stimmigkeit seiner Entwürfe. Trotzdem macht die Replik deutlich, dass Schinkel Böttigers Einwand, der sich auf einen Zweifel an der historischen Korrektheit seiner Darstellung bezogen hatte, als durchaus berechtigt empfand. An die Stelle des ‘symbolischen’ Prinzips im Dekorationswesen war bei Schinkel nun eine antiquarische Ästhetik getreten.
3.2.3 Die Musealität des Theaters und die Theatralität des Museums Die Kommunikation zwischen Schinkel, Brühl und Böttiger anlässlich der Dekorationen zur Alceste gleicht derjenigen zwischen altertumskundlichen Experten. Diese neue Gelehrsamkeit hinter und auf der Bühne wurde zum Teil ausgesprochen kritisch beurteilt.Wo Brühl stolz darauf war, das erste Mal das „ägyptische Kostum […] in seiner Reinheit“¹¹⁸ auf die Bühne zu bringen, da hatte der Dramatiker Adolph Müllner nur beißenden Spott für die professorale Ausstattung der Nittetis übrig: Nittetis, große Oper von Poißl – will nicht von der Musik reden, aber das affreuse ägyptische Kostüm aus dem Pariser Prachtwerke! Muß der Teufel den Bonaparte nach Aegypten geführt haben, daß unsere Theaterschneider ec. sein Prachtwerk nachdrucken! Kostet 5 – 6000 Thaler, der Nachdruck! Weggeworfen!¹¹⁹
Müllners eigenes Drama König Yngurd war gut zwei Jahre zuvor, im Juni 1817, in Berlin uraufgeführt worden. Schon damals war es zu Konflikten zwischen Brühl und Müllner gekommen, weil Brühl das historisch eigentlich unbestimmte Stück kurzerhand in das Jahr 1000 n.Chr. verlegt und ähnlich aufwendig und mit demselben Anspruch an historische ‘Richtigkeit’ aufgeführt hatte wie später die Nittetis. Im Vorwort zum König Yngurd hatte Müllner ausdrücklich darauf verwiesen, dass die Handlung des Stücks nicht dem „Buche der Geschichte“¹²⁰ entnommen sei. Im Figurenverzeichnis gab er an, es solle auf der Theaterbühne in die „fabelhafte Heldenzeit des Norden [sic!]“¹²¹ um 1000 v.Chr. in Norwegen versetzt werden. Brühl ignorierte diese Anweisungen, indem er das Stück 2000 Jahre später spielen ließ. Sein Eingreifen ist wohl darauf zurückzuführen, dass mit Müllners Zeitangabe kaum der Berliner Anspruch auf historische ‘Richtigkeit’ eingelöst werden konnte, da man keine überlieferten ‘Alterthümer’ aus
Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 2, 11. Heft, [S. 3]. Müllner: Korrespondenzen und Notizen aus Berlin, Sp. 111. Adolph Müllner: König Yngurd. Trauerspiel in fünf Akten, Leipzig 1817, Zuschrift „An die Leser“, unpaginiert. Ebd., Figurenverzeichnis, unpaginiert.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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dieser Zeit hatte. Indem Brühl das Stück 1000 n. Chr. spielen ließ, konnte er dem Publikum durch Schinkels Bühnenbilder die normannisch-nordische Architektur des Mittelalters nahebringen.¹²² Müllner war dagegen ein Verfechter einer gemäßigten historischen Semiotik der Kostüme. Ausführlich äußert er sich zur Problematik der Ausstattung in seinen Ideen zu einem Theater-Lexikon. Dort fordert er eine „kunstgemäße Uebereinstimmung der Trachten mit dem Geiste der darzustellenden Dichtung“, eine Praxis, die er die „Theater-Correctheit des Kostüms“ nennt. Diese „Theater-Correctheit“ will er in Opposition verstanden wissen zur „wissenschaftlichen Correctheit“, die das Publikum allenfalls verwirren könne, sei doch die „wirkliche Trachtenmode aller Zeiten und Völker […] ein ewiger Wechsel von Verschiedenheiten, welche kaum in einem menschlichen Gedächtnisse, geschweige denn in einer Theater-Gaderobe [sic!] Platz“ hätten.¹²³ In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik, die Ludwig Tieck in seinen Bemerkungen, Einfälle[n] und Grillen über das Deutsche Theater aus dem Jahr 1825 am historischen Kostüm übt: Jede Kunst hat ihre eigenthümliche Wahrheit, und kennt jene wirkliche, außenliegende gar nicht; sie bewegt sich in ihrem eigenen Elemente, und nimmt keine Kenntniß davon, wenn man ihr etwas Fremdartiges aufdrängen will. […] Das größte, das höchste Leben bewegt sich freilich im aufgeführten Drama vor unseren Augen, aber die Schönheit darf auch hier nicht verletzt werden, um sie einer ganz unwahren Wahrheit aufzuopfern.Weg also mit Allem, was das Auge beleidigt, oder den Spielenden hemmt. Jene Helme mit Greifenflügeln, von denen wir noch vor zwanzig Jahren nichts wußten, jene langen Aermel, jene Mäntel mit hohen Kragen mögen wieder verschwinden, sowie alle die falsche Gelehrsamkeit in Schilden, Schwertern, Kragen, stachlichten Knieschienen u. dgl., die auf das Theater gar nicht hingehört. Jemehr der Zuschauer dieselben anständigen Kleidertrachten wieder sieht, die er schon gewohnt ist, desto weniger wird er im Genuß der Poesie und des Spieles gestört; desto leichter wird es dem Spieler,vortrefflich zu sein,weil er in jenen Trachten, die er kennt, schon eingeübt ist. Es gibt, mit einem Wort, ein Theatercostüm, wie es ein Maler- und Bildhauercostüm gibt; von diesem wird der verständige Schauspieler nur wenig abweichen, um dieses und jenes Volk, oder einen scharfgezeichneten Charakter zu nüancieren; diese Modifikationen werden aber auf einem allgemeinen Elemente ruhen, auf einer poetischen und malerischen Theatertracht, die in solchen Hüten, Mänteln, Wämmsen und Stiefeln vielleicht niemals so getragen wurde […].¹²⁴
Wie Müllner stößt Tieck sich zwar nicht grundsätzlich an einer historischen Semiotik des Kostüms, aber er besteht auf einer theaterinternen Logik, die dem Spiel der Schauspielerinnen und Schauspieler ebenso entgegenkommen soll wie den Sehgewohnheiten des Publikums. Die Kostüme sollen, indem sie solchen theatralen Regeln
Vgl. auch Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 208 f. Adolph Müllner: Ideen zu einem Theater-Lexikon [o. J.], in: Müllner’s Werke. Zweiter Supplementband, hg.v. Schütz, Meißen 1830, S. 15 – 188, hier S. 102 f. Ludwig Tieck: Bemerkungen, Einfälle und Grillen über das Deutsche Theater auf einer Reise in den Monaten Mai und Juni des Jahres 1825, in: Ders.: Kritische Schriften, Bd. 4, Leipzig 1852, S. 1– 105, hier S. 12 f.
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
folgen, eine optische Evidenz für das Publikum besitzen und leichte Zuordnungen der Rollenfiguren ermöglichen.¹²⁵ Tiecks Beharren auf einer „eigenthümliche[n] Wahrheit“ der (Theater‐)Kunst markiert wie Müllners „Theater-Correctheit“ eine grundsätzliche Differenz zu Brühls Ansatz. Das wird deutlicher noch, wenn man Brühls eigenen Gebrauch des Begriffs ‘Wahrheit’ in der Vorrede zu den Kostümheften dagegenhält. Während Tieck ‘Wahrheit’ kunstintern versteht, bezieht sich der Begriff bei Brühl auf eine außertheatrale Wirklichkeit: In Hinsicht auf Kostüme thut dem kunstgewöhnten Auge die Wahrheit gewöhnlich sehr wohl; und die bestimmte Beibehaltung des Haupt-Characters jeder nationalen Eigenthümlichkeit bringt Mannigfaltigkeit auf die Bühne – giebt dem Künstler einen kritischen Kunstgenuss – und dem Layen in der bildenden Kunst, Gelegenheit seine Kenntnisse zu erweitern. […] Sobald der theatralische Kostümier nicht mehr der Wahrheit, und dem folgt, was diese gebietet, sondern nur nach Geschmack verfahren und verändern will, so giebt er der Kritik eines jeden Einzelnen dadurch das ungeheuerste Feld, denn wer mag entscheiden, wenn es nur auf Geschmack ankommen soll?¹²⁶
Dieser Begriff von ‘Wahrheit’ stand im Zentrum von Brühls gelehrter Ausstattungsreform, die damit auf ein neues Publikum abzielte. Dieses unterschied sich deutlich von Idealen, wie sie etwa der junge Schinkel formuliert hatte. Während Schinkel in seinen Reformvorschlägen an Iffland die produktive Phantasie der Zuschauerinnen und Zuschauer zur Bedingung gemacht hatte und die weniger Phantasiebegabten aus dem Zuschauerraum verbannt wissen wollte, war Brühls ideales Publikum zweigeteilt in ein gelehrtes und ein zu belehrendes. Auf der einen Seite sah Brühl die wohlinformierten Experten, denen Kostüme und Dekorationen „einen kritischen Kunstgenuss“¹²⁷ bereiten sollten und mit denen sich – wie mit Böttiger – über die historische ‘Richtigkeit’ des Dargestellten debattieren ließ. Auf der anderen Seite richtete sich sein
Daher steht es auch nicht im Widerspruch zu diesen Ansichten, dass Tieck sich an der berühmten Berlin/Potsdamer Aufführung der Antigone 1841 als Dramaturg beteiligte, in der man sich um historische Dekorationen und Kostüme bemühte. Denn dabei ging es – ähnlich wie einst in Weimar, nur in radikalerer Form – darum, die antike Aufführungssituation herzustellen. Damit handelte es sich um ein Theaterexperiment, bei dem für ihn offensichtlich andere Regeln galten als für das gängige zeitgenössische Theater. Vgl. für die Berlin/Potsdamer Aufführung der Antigone Susanne Boetius: Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts. Bühnenfassungen mit Schauspielmusik, Tübingen 2005 (Theatron, Bd. 44); Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 2009, S. 58 – 79; ders.: Die Entdeckung der griechischen Tragödie für die deutsche Bühne, in: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels, hg.v. Otto Pöggeler und Annemarie GethmannSiefert, Bonn 1983 (Hegel-Studien, Beiheft 22), S. 285 – 308 und Julia Stenzel: Von schäumenden und kontrollierenden Kommentaren. Die Berliner Antigone-Inszenierung von 1842 [sic!] und ihre Reformulierungen in der politisierten Literatur des Vor- und Nachmärz, in: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg.v. Anja Becker und Jan Mohr, Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Bd. 8), S. 365 – 386. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, [S. 1 f.], Hervorh. i.O. Ebd., [S. 1].
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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Theater an die „Layen“,¹²⁸ die Neues auf der Bühne entdecken konnten und historisch wie kunstgeschichtlich unterrichtet werden sollten, indem sie erfuhren, wie ein altpersischer Krieger, wie eine ägyptische Hirtin und wie ein hebräischer Priester nach zeitgenössischem Kenntnisstand aussahen, oder wie ein griechischer Tempel im Innern gebaut gewesen sein könnte. Brühl stand mit dieser Position nicht allein. Er war allerdings der erste, der diesen neuen Kunstanspruch auf der Bühne tatsächlich realisierte. Eine ähnliche Reform hatte schon dem Theatermaler Breysig vorgeschwebt, als er 1798 schrieb, das Theater könne, wenn man „mehr Fleiß auf dasselbe“ verwenden würde, viel „für die Bildung thun“ und schließlich „für Künstler und Kunstliebhaber“ zu einem „Kunstsaal [werden], worin sich diese, und zwar mit besonderm Vergnügen, Rath hohlten“.¹²⁹ Ähnlich wie Breysig bemerkte gut 80 Jahre später Karl Frenzel in seiner Berliner Dramaturgie, der Stil der berühmten Meiniger habe den Gang durch „die Antikensäle unseres Museums“ überflüssig machen sollen.¹³⁰ Was Frenzel bei den Meiningern verwirklicht sah, hatte auch Brühl in seiner Intendanz angestrebt. Programmatisch endete seine Vorrede 1819 darum mit einem Vergleich von Theaterbühne und Museum: „Die Bühne einer grossen Hauptstadt […] ist mit den übrigen Kunstlehranstalten, Bilder-Gallerien, Museen u.s.w. vollkommen in eine Cathegorie zu stellen.“¹³¹ Brühls Wahrheitsbegriff, seine Orientierung an historischer ‘Richtigkeit’ und die Verabschiedung von zeitgenössischen visuellen Konventionen des Mediums Theater zugunsten von Kostümen, die im Rückgriff auf das neuste historische Wissen entworfen wurden, zielte damit nicht nur auf ein neues Publikum; die einzelnen Elemente korrespondierten auch mit einer neuen Funktionszuschreibung an das Theater. Das Theater sollte eine „Kunstlehranstalt[]“ sein, und das hieß hier vor allem, eine Bildungsanstalt zur (kunst‐)historischen Wissenserweiterung. Vor dem Hintergrund dieser Musealisierung des Theaters erscheint es nur konsequent, dass Brühl nach dem Ende seiner Theaterintendanz zum Generalintendanten der königlichen Museen berufen wurde. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Differenz zwischen Schinkels Reformvorschlägen und Brühls programmatischer Vorrede zu den Kostümheften: Während für Schinkel die klassische Antike ästhetisches Vorbild für das Theater der Gegenwart war, interessierten Brühl die Altertümer allein als historische Epochen. Brühls Ausstattungsreform hatte Anteil am Prozess der Historisierung und Pluralisierung des Altertums, mit deutlichen Rückkopplungseffekten auf den Geltungsan-
Ebd., Hervorh. i.O. Johann Adam Breysig: Ueber den Bau, die Maschinerie und Mahlerey des Theaters (1799), in: In blauer Ferne. Von der Kulissenbühne zum Königsberger panoramischen Theater. Schriften zur Bühnenreform von Johann Adam Breysig (1766 – 1831), hg.v. Ingeborg Krengel-Strudthoff und Bärbel Rudin, Wiesbaden 1993 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 12), S. 86 – 97, hier S. 96. Karl Frenzel: Berliner Dramaturgie, 2 Bde., Erfurt 1877, Bd. 1, S. 81. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, [S. 4].
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
spruch der klassischen Antike, der dadurch ausgehebelt wurde. Brühls wissenschaftlicher und kunsthistorischer Blick auf Altertumskulturen wie das alte Israel, Persien, Ägypten oder Böhmen, mit denen auf der Bühne Rom und Griechenland zu Altertumskulturen unter anderen wurden, waren damit Teil umfassender Verschiebungen in der Tektonik der Altertümer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ähnliche Tendenzen lassen sich wenig später auch an anderer Stelle in Berlin eindrucksvoll beobachten: in der Gegenüberstellung von Altem und Neuem Museum.¹³² Am 3. August 1830 eröffnete das von Schinkel entworfene Alte Museum, in dem Gemälde und antike Skulpturen und etwas später auch antike Vasen, Gemmen und Münzen ausgestellt wurden. Mit Schinkel als Architekten hatte die zuständige Museumskommission für ein Museumsverständnis votiert, nach dem die klassische Antike baulich und ideell als ästhetisches Vorbild fungierte. Das Museum sollte eine weihevolle Stätte sein, in der die großen Kunstwerke der Vergangenheit bewundert werden konnten.¹³³ Explizit ausgeschlossen worden waren von Wilhelm von Humboldt, der die Einrichtungskommission des Museums leitete, die ursprünglich vorgesehene ägyptische Sammlung sowie die Gipsfigurensammlung. Beiden Sammlungen maß Humboldt nicht ausreichend ästhetische Qualitäten zu, um in einem Museum präsentiert zu werden, das durch ästhetische Anschauung zur moralischen Erhebung des Publikums beitragen sollte.¹³⁴ Nur elf Jahre nach dieser Eröffnung wurde damit begonnen, direkt angrenzend an das Alte Museum ein weiteres Museum zu bauen: das von Friedrich August Stüler entworfene Neue Museum, das jene Sammlungen umfassen sollte, die im Alten Museum aus konzeptuellen und auch räumlichen Gründen nicht untergebracht worden waren. In der Konzeption des Neuen Museums, das Teil von Friedrich Wilhelms IV. Plan war, „die ganze Spree-Insel hinter dem Museum zu einer Freistätte für Kunst und
Vgl. hierzu grundlegend Hartmut Dorgerloh: Das Neue Museum. Ort und Ordnung der Weltkunst, in: Neues Museum. Architektur, Sammlung, Geschichte, hg.v. Elke Blauert, Berlin 22010, S. 66 – 75; Eva Heinecke: König Friedrich Wilhelm IV.von Preußen und die Errichtung des Neuen Museums 1841– 60 in Berlin. Baugeschichte – Verantwortliche – Nordische und Ägyptische Abteilung – Geschichtskonzept, Halle/Saale 2011 und Elsa van Wezel: Die Konzeptionen des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewusstsein (Jahrbuch der Berliner Museen N.F. 43 [2001], Beiheft). Vgl. etwa Schinkels Verteidigung der Rotunde im Alten Museum, in der antike Skulpturen aufgestellt werden sollten: „Endlich auch kann die Anlage eines so mächtigen Gebäudes, wie das Museum unter allen Umständen werden wird, eines würdigen Mittelpunktes nicht entbehren, welcher das Heiligthum sein muß, in welchem das Kostbarste bewahrt wird. Diesen Ort betritt man zuerst, wenn man aus der äußeren Halle hineingeht, und hier muß der Anblick eines schönen und erhabenen Raums empfänglich machen und eine Stimmung geben für den Genuß und die Erkenntniß dessen, was das Gebäude überhaupt bewahrt.“ (Friedrich Schinkel: Votum vom 5. Februar 1823 zu dem Gutachten des Hofraths Hirt, in: Aus Schinkel’s Nachlaß. Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen, hg.v. Alfred von Wolzogen, Bd. 3, Berlin 1863, S. 244– 249, hier S. 248). Vgl. van Wezel: Die Konzeptionen des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewusstsein, S. 97.
3.2 Das „Theater der Alten“ und die „wissenschaftliche Bildung“
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Wissenschaft“¹³⁵ auszubauen, spiegelt sich ein neues historisches und museales Verständnis. Brühls Nachfolger im Amt des Generaldirektors der königlichen Museen, Ignaz Maria von Olfers, und Stüler schwebte ein Museum vor, in dem die Kunst durch die Jahrhunderte hindurch dokumentiert werden sollte. Ähnlich wie Brühl die Bühne zu einem Ort „wissenschaftlicher Bildung“¹³⁶ hatte machen wollen, sollte das Museumserlebnis nun nicht mehr primär zur ästhetisch-ideellen Erhebung dienen, sondern der wissenschaftlichen und kunsthistorischen Bildung. Die Anordnung der verschiedenen Sammlungen erfolgte dabei chronologisch aufsteigend: Im Erdgeschoss waren die ägyptischen, die ‘vaterländischen’ und die ethnographischen Sammlungen untergebracht, das gesamte erste Obergeschoss war den von Humboldt verschmähten Gipsabgüssen gewidmet, die von der klassischen Antike bis zur zeitgenössischen Gegenwart führten, und das zweite Obergeschoss beherbergte das Kupferstichkabinett und die Kunstkammer.¹³⁷ Stüler setzte den historischen Anspruch des Museums vor allem innenarchitektonisch um, indem er, wie er selbst 1862 schrieb, danach trachtete, „in der Haltung und Decoration der Localien die Sammlungen so viel als möglich zu ergänzen“.¹³⁸ Während der Bau von außen relativ einfach gehalten war, zeichneten sich die Ausstellungsräume durch spektakuläre architektonische und dekorative Inszenierungen aus. Für den ägyptischen Saal arbeitete Stüler mit Richard Lepsius zusammen, der 1845 von seiner ausgedehnten Ägyptenexpedition zurückgekehrt war.¹³⁹ Die Räume wurden auf der Grundlage von Zeichnungen ausgemalt, die während der Expedition in Tempeln und Gräbern entstanden waren. Die von Lepsius sorgfältig ausgewählten Bildprogramme wie auch die ägyptisierende Architektur der Räume sollten einen umfassenden Eindruck von der altägyptischen Kunst und Kultur vermitteln und zugleich zur direkten Erläuterung der Exponate dienen. Diese enge Verbindung von Exponaten, Dekoration und Architektur ist für fast alle Räume des Neuen Museums charakteristisch, so auch für den Vaterländischen Saal, in dem man unter anderem das erste Mal einen Versuch unternahm, die nordische Götterwelt umfassend darzustellen. Das Bildprogramm des Zyklus, der von verschiedenen Malern ausgeführt wurde, entstand in Auseinandersetzung mit Jacob Grimms Deutsche[r] Mythologie (1835) und August
Friedrich Wilhelm IV. an Ignaz von Olfers, 8. 3.1841, zit. nach van Wezel: Die Konzeptionen des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewusstsein, S. 124. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, [S. 2], Hervorh. i.O. Zur zeitgenössischen Ausstellungskonzeption im Neuen Museum vgl. Astrid Bähr: Zwischen Kulturgeschichtlicher Erhellung und räumlicher Enge. Die Sammlungen im Neuen Museum 1855 – 1939, in: Neues Museum. Architektur, Sammlung, Geschichte, hg.v. Elke Blauert, Berlin 22010, S. 76 – 85 und van Wezel: Die Konzeptionen des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewusstsein, S. 157– 220. Friedrich August Stüler: Das Neue Museum in Berlin. Vierundzwanzig Tafeln, Berlin 1862, [S. 1]. Zur Konzeption der ägyptischen Abteilung vgl. Heinecke: König Friedrich Wilhelm IV.von Preußen und die Errichtung des Neuen Museums 1841– 60 in Berlin, S. 95 – 228 und Olivia Zorn: Der mythologische Saal, in: Neues Museum. Architektur, Sammlung, Geschichte, hg.v. Elke Blauert, Berlin 22010, S. 114– 121.
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Kapitel 3: Die Bühne als Imaginationsraum der Altertümer
Scharders Germanische[r] Mythologie (1843). Daneben fanden die zeitgenössischen Diskussionen um die Edda und antike wie christliche Bildtraditionen Eingang in die Bilder, wobei man auch hier direkte Bezüge zu den Exponaten herstellte.¹⁴⁰ Das Neue Museum vermittelte so nicht nur über die Exponate historisches und kunsthistorisches Wissen verschiedener Epochen, sondern auch über die Architektursprache und die Dekorationen. Stülers Museumskonzeption ist in mancher Hinsicht mit Brühls Bühne vergleichbar: Hier wie dort erarbeitete man auf der Grundlage von philologischen und archäologischen Studien neue Bildprogramme, die das altertumskundliche Wissen erweiterten. Auch dann, wenn sich die Erkenntnisse letzten Endes nicht halten ließen, waren die Museumsräume wie die Bühne wirkmächtig, weil sie einem breiten Publikum vor Augen gestellt wurden. So wie Brühls Bühne war auch das Neue Museum Teil eines neuen Bildungsprogramms, bei dem nicht mehr ästhetische Erbauung wie noch im Alten Museum, sondern historisch-wissenschaftliche Belehrung im Mittelpunkt stand. Und auch für die Tektonik der Altertümer war die Wirkung in beiden Institutionen eine ähnliche: Im Neuen Museum wurden wie in Brühls Theater (und im Unterschied zum Alten Museum) die römische und griechische Antike zu historischen Epochen unter anderen. Stülers umfassende Inszenierung der Räumlichkeiten war schnell Kritik ausgesetzt. Zum einen bedeutete die enge Bezogenheit der Räume auf die Exponate eine Einschränkung der Ausstellungsmöglichkeiten, die angesichts der stetig wachsenden Fülle an Objekten wenig praktikabel war. Zum anderen kritisierte man, dass die spektakuläre Ausmalung der Räume von den Exponaten ablenke, die eigentlich zur Schau gestellt werden sollten.¹⁴¹ Diese Kritik zeigt noch einmal, dass die Konzeption des Neuen Museums und Brühls Theaterexperimente in der Öffentlichkeit ähnlich wahrgenommen wurden. Denn auch gegen Brühls Ausstattungspraxis wurde der Einwand erhoben, sie lenke vom Eigentlichen ab, nämlich der Poesie des Theaters und dem Spiel der Schauspieler. Während Brühl eine zu strenge Befolgung wissenschaftlicher Grundsätze vorgeworfen wurde, die den theaterinternen Regeln zuwider laufe, wurde Stüler wegen der zu starken theatralen Wirkung seiner Räume getadelt, die den wissenschaftlichen Charakter der Sammlungen zu dominieren drohte. Betrachtet man diese zeitlich allerdings etwas versetzte Annäherung von Museum und Theater, dann muss man Brühl Recht geben: In diesem Sinne war das Berliner Hoftheater tatsächlich mit den Museen „vollkommen in eine Cathegorie zu stellen.“¹⁴²
Vgl. Marion Bertram: Der Vaterländische Saal, in: Neues Museum. Architektur, Sammlung, Geschichte, hg.v. Elke Blauert, Berlin 22010, S. 106 – 113, hier S. 108, vgl. zur Nordischen Abteilung außerdem Heinecke: König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und die Errichtung des Neuen Museums 1841– 60 in Berlin, S. 229 – 303. Vgl. hierzu Bähr: Zwischen Kulturgeschichtlicher Erhellung und räumlicher Enge, S. 78 f. Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin, Bd. 1, [S. 4].
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3.3 Fazit und Ausblick: Richard Wagners ‘Theatergermanen’ Schon im Laufe des 18. Jahrhunderts und vor allem in dessen letztem Viertel, so hat sich gezeigt, war eine historische Semiotik des vormals weitgehend unbestimmten Theaterkostüms entstanden. Neben der Etablierung des altdeutschen Kostüms war es insbesondere die Rezeption der römischen und griechischen Antike, die daran entscheidenden Anteil hatte. Signifikant waren von Beginn an die Unterschiede zwischen der Genese des altdeutschen und des antiken Kostüms. Während ersteres eine Modifikation des aus Frankreich bekannten altspanischen Kostüms darstellte, entstand letzteres in der direkten Auseinandersetzung mit antiken Quellen. Das galt Ende des 18. Jahrhunderts schon partiell, wie etwa für den Kopfschmuck von Charlotte Brandes’ Ariadne. Aber erst bei den Weimarer Aufführung der Brüder und den darauf folgenden Adaptionen römischer Komödien und griechischer Tragödien orientierte man sich für die Kostümentwürfe umfassender an historischen Quellen. Den Impuls für ein so verstandenes historisches Kostüm gab damit der Versuch, das antike Theaterereignis zumindest so weit nachzuahmen, wie Goethe es mit den modernen Sehgewohnheiten noch für vermittelbar hielt. Die exklusive Perspektive auf die griechische und römische Antike in der historischen Ausstattungspraxis verschob sich, als Brühl sein Verständnis von der Bühne als ‘Kunstlehranstalt‘ etablierte. Seine Intendanz markiert in zweifacher Hinsicht einen Paradigmenwechsel: Zum einen hatte Brühls Bühnenreform Anteil an einer Umstrukturierung des Konzepts ‘Altertum’. Seine Orientierung an außertheatralen Quellen hatte eine umfassende Ausdifferenzierung der historischen Semiotik der Kostüme zur Folge, wie sie sich besonders eindrücklich beim orientalischen Kostüm gezeigt hat. Die Kostüme von Brühl und die späteren Dekorationen von Schinkel vermittelten dem Berliner Publikum ein neues visuelles Wissen von den Altertümern. Indem sich beide dort, wo die Quellen fehlten, an archäologischen und kostümkundlichen (Re‐)Konstruktionen versuchten und sich mit Altertumswissenschaftlern über die Plausibilität ihrer Arbeiten austauschten, wurde zugleich altertumskundliches Wissen generiert. Mit Brühls Historisierung der Altertümer wurden auch die griechische und römische Antike zu Epochen unter anderen. Brühls Ausstattungsreform trug damit bei zur Pluralisierung des Konzepts ‘Altertum’ und ist dem weiteren Umfeld des Historismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuzuordnen. Zum anderen etablierte Brühl eine historische Semiotik von Kostüm und Bühne. Die Historizität der Kostüme wurde nun nicht mehr über theaterinterne Regeln und Sehgewohnheiten hergestellt, sondern maßgebend wurde für die Kostümentwürfe die Orientierung an außertheatralen kunsthistorischen, archäologischen und vereinzelt auch philologischen Quellen. Diese Kostümpraxis setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als dominantes ästhetisches Ideal durch. Noch konsequenter als Brühl erhob in den 1860er und 1870er Jahren schließlich die Schauspieltruppe Georgs II. von Meiningen die historisch-wissenschaftliche Kostüm- und Dekorationspraxis zum ästhetischen Prinzip, etwa wenn der Herzog für die Aufführung von Shakespeares Julius Cäsar eigene philologische und archäologische Studien betrieb, und sich zu diesem
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Zweck in Rom mit Pietro Ercole Visconti beriet, dem damaligen Direktor der Vatikanischen Sammlungen.¹⁴³ Die Durchsetzung der historischen Ausstattungspraxis schlug sich zudem in vielen Dramentexten nieder, in denen in den Regieanweisungen oder Vorreden zum Teil exakte Angaben gemacht wurden, wie Kostüme und Dekorationen nach historischem Kenntnisstand beschaffen sein sollten.¹⁴⁴ Anhand der Vorrede zu Brühls Kostümzeitschrift hat sich gezeigt, dass das wichtigste Movens für seine Ausstattungsreform die Beobachtung eines umfassenden historisch-archäologischen Wissenszuwachses war. Um zu zeigen, dass die Freude an dem neuen altertumskundlichen Wissen sich bisweilen verselbstständigte, sei abschließend ein knapper Blick auf die Kostüme erlaubt, die Richard Wagner anlässlich der Premiere seines Ring des Nibelungen am 13. August 1876 in Bayreuth anfertigen ließ. Schon eineinhalb Jahre zuvor hatte Wagner den Berliner Maler und Kostümbildner Carl Emil Doepler mit den Entwürfen beauftragt und ihn dabei explizit darauf hingewiesen, dass das „Bild,welches sich nach dem Vorgang von Cornelius, Schnorr u. A. für die Darstellung der Figuren des mittelalterlichen Nibelungen-Liedes, zur Geltung zu bringen versucht hat, hier gänzlich außer Acht gelassen werden“¹⁴⁵ müsse. Wagner bezog sich damit auf die Kupferstiche zur Nibelungensage, die der Düsseldorfer Maler Peter von Cornelius hergestellt und 1817 in Berlin publiziert hatte und die für die
Zur Aufführung von Julius Cäsar durch die Meininger vgl. Inge Krengel-Strudthoff: Das antike Rom auf der Bühne und der Übergang vom gemalten zum plastischen Bühnenbild. Anmerkungen zu den Cäsar-Dekorationen Georgs von Meiningen, in: Bühnenformen – Bühnenräume – Bühnendekorationen. Beiträge zur Entwicklung des Spielorts, hg.v. Rolf Badenhausen und Harald Zielske, Berlin 1974, S. 160 – 176. Zur Ausstattungspraxis der Meininger allgemein vgl. auch Thomas Hahm: Die Gastspiele des Meininger Hoftheaters im Urteil der Zeitgenossen unter besonderer Berücksichtigung der Gastspiele in Berlin und Wien, Köln 1970 und John Osborne (Hg.): Die Meininger. Texte zur Rezeption, Tübingen 1980. Ein ganz frühes Beispiel, das noch auf die Zeit vor Brühl datiert, ist August von Kotzebues Octavia (1801). Kotzebue stellt dem Drama eine Beschreibung der Kostüme der Schauspielerinnen und Schauspieler voran. So sollte etwa die Darstellerin der Octavia „die Tunica patagiata, ein Unterkleid mit spitzen Aermeln, das vom Hals bis zu den Füssen mit Gold oder Silber gestickt ist, unten mit Franzen besetzt“ tragen, der Schauspieler des Cäsar „das Paludamentum, oder den langen Purpurmantel über den Harnisch“, und die Schauspielerin der Cleopatra sollte in „die Stola der Göttin Iris, wie sie auf Münzen abgebildet wird“, gekleidet werden. (August von Kotzebue: Octavia. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen,Wien 1802, [S. 3 f.], Hervorh. i.O.). Ein Beispiel aus etwas späterer Zeit ist das Leonidas-Drama von Anton Kaspar, in dem nach dem Figurenverzeichnis als „Anmerkungen für die Bühne“ notiert ist: „a. Nach dem, über die Argier erfochtenen Siege ward es bey den Lakedämoniern gesetzmäßig, das Haar lang und ganz ungekürzt zu tragen. b. Die Perser haben das Schwert an der rechten Hüfte an einem Gürtel hängen.“ (Anton Kasper: Leonidas. Trauerspiel mit Chören in fünf Aufzügen, Wien 1834, [S. 8], Hervorh. i.O.). Daneben zeigt sich in der Altertumsdramatik des 19. Jahrhunderts auch, dass die bühnenästhetischen Potentiale differenter Altertumskulturen Wirkung für die dramaturgische Konzeption der Dramen zeitigten, vgl. hierzu Kapitel 4.2. Richard Wagner an Carl Emil Doepler, 17.12.1874, in: Bayreuther Briefe von Richard Wagner (1871– 1883), hg.v. Carl Friedrich Glasenapp, Berlin, Leipzig 21907, S. 188.
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populäre Imagination ausgesprochen wirkmächtig wurden.¹⁴⁶ Die Figuren auf den Stichen tragen Kleidung und Waffen, die locker am 14. bis 16. Jahrhundert und an der pseudohistorischen, auch vom Theater bekannten altdeutschen Tracht orientiert waren. Unter anderem von Cornelius beeinflusst war der zweite Maler, den Wagner nannte, Julius Schnorr von Carolsfeld, der zwischen 1831 und 1867 einige Säle des Königsbaus der Münchner Residenz mit einem Zyklus des Nibelungenliedes ausmalte. Obgleich sich Schnorr um historische Korrektheit bemühte, philologische Studien für seine Bildentwürfe anstellte und ausdrücklich das Hochmittelalter zum Zeitpunkt des Geschehens wählte, herrscht in dem Zyklus ebenfalls das pseudohistorische altdeutsche Kostüm vor, das sich unter anderem an Darstellungen von Theaterfigurinen orientierte.¹⁴⁷ Wagners Verweis auf Cornelius und Schnorr zeigt aber an, dass deren Nibelungen-Bilder auch umgekehrt Rückwirkungen auf das Theater hatten. So ließ etwa Karl Theodor von Küstner 1833 für die Inszenierung von Ernst Raupachs Der Nibelungen-Hort am Münchner Hoftheater Kostüme direkt nach Vorlage von Schnorrs Fresken anfertigen.¹⁴⁸ Wagner schwebte für seinen Ring demgegenüber eine gänzlich andere Ikonographie vor. Er verwies zwar darauf, dass die „Andeutungen der mit germanischen Völkern in Berührung gekommenen römischen Schriftsteller über die Trachten Jener“¹⁴⁹ noch nicht hinreichend Beachtung gefunden hätten. Aber er hatte trotzdem kein eigentlich historisches Kostüm im Sinn, sondern er wollte den mythischen Charakter des Zyklus unterstützt wissen und setzte daher darauf, dass es Doepler gelingen möge, mit den Kostümen in eine „jeder Erfahrung, oder Anknüpfung an eine Erfahrung, fernliegende[] Kultur-Epoche“¹⁵⁰ zu führen. Obgleich Doepler tatsächlich insofern Wagners Wunsch entsprach, als er eine neue Ikonographie der Nibelungen schuf, missverstand er offensichtlich die Ideen seines Auftraggebers. Doepler, der unter anderem Kostüme für die Meininger entwarf, war in der historisch korrekten Kostümpraxis geschult. Und so machte er sich sofort daran, „[m]ehr als fünfhundert Spezialzeichnungen für Waffen, Geräthe, Schmuck nach den in den Museen von Kopenhagen, Kiel, Mainz und Berlin vorhandenen Mustern“ anfertigen zu lassen, wie es im Begleittext zu Doeplers 1889 veröffentlichten Ring-Kostümfigurinen heißt.¹⁵¹ Neben diesen archäologischen Forschungen folgte
Peter von Cornelius: Aventiure von den Nibelungen, Berlin 1817. Vgl. für das Folgende auch Joachim Heinzle: Indianer-Häuptlinge in Walhall. Ein Mythos wird kostümiert, in: Der Ring des Nibelungen. Figurinen erfunden und gezeichnet von Prof. Carl Emil Doepler, Berlin o. J. [1889], Reprint Leipzig 2012, S. 97– 103. Zu Cornelius Nibelungenzyklen vgl. Frank Büttner: Nibelungen-Bilder der deutschen Romantik, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hg.v. Joachim Heinzle u. a.,Wiesbaden 2003, S. 561– 582, hier S. 562– 567. Vgl. ebd., S. 574 und S. 577. Vgl. Boehn: Das Bühnenkostüm in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, S. 434. Richard Wagner an Carl Emil Doepler, 17.12.1874, S. 188. Ebd., S. 187. Clara Steinitz: [Begleittext zu Doeplers Kostümfigurinen], in: Der Ring des Nibelungen. Figurinen erfunden und gezeichnet von Prof. Carl Emil Doepler, Berlin o.J. [1889], Reprint Leipzig 2012.
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Doepler Wagners Rat und betrieb philologische Studien, so dass er seine Entwürfe auch an den Beschreibungen der Germanen bei Cäsar, Sallust und Tacitus orientierte.¹⁵² Resultat waren Kostüme, in denen die Frauen lange, griechisch anmutende Kleider trugen und zum Teil mit Rüstungen angetan waren, wohingegen die Männer kurze Gewänder und Felle mit einem „Schuß römischer Legionärstracht“¹⁵³ trugen. Besondere Aufmerksamkeit verwendete Doepler auf Schmuck, Waffen und Ornamente, für die er fast durchgängig auf archäologische Quellen zurückgriff. Sie entsprachen dem damaligen Kenntnisstand von Relikten des ‘vaterländischen Altertums’; entpuppen sie sich auch nach heutigem archäologischen Kenntnisstand als buntes Gemisch von Eisen- und Bronzezeit verschiedenster Regionen.¹⁵⁴ Einen Eindruck von diesen Kostümen vermittelt die Abbildung der ‘Mannen Gunthers’ (Abb. 17), die Clara Steinitz 1889 im Kostümbuch zu einem Kommentar über die Vorbildlichkeit der Kostüme veranlasste: Neben der künstlerischen Gestaltungskraft macht sich hier das kunsthistorische Element fast mehr noch als auf den übrigen Blättern geltend, die in ihrer Gesammtheit einen reichen Beitrag zur Geschichte der alterthümlichen germanischen Trachten bieten. Schier unerschöpflich zeigt sich die Abwechslung in den Gewandmotiven, von denen keines erfunden ist, sondern die sämmtlich stilstrengen Mustern entlehnt sind. Selbst die Linienverschlingungen und Mäander der Ornamente sind nach Zeichnungen gehalten, wie altgermanische Gefässe sie aufweisen.¹⁵⁵
Doeplers Kostüme waren demnach das Resultat archäologischer Studien und wurden dadurch zugleich zu lehrreichen Studienobjekten, wie sie sich auch Brühl nicht besser hätte wünschen können. Das Ehepaar Wagner war indes wenig begeistert von jenem „kunsthistorische[n] Element“ der Kostüme, auf das Steinitz verweist. Das geht aus Cosima Wagners Tagebüchern hervor. Offenbar hatten dem Ehepaar Wagner Doeplers Kostüme anfänglich annähernd gefallen, denn im März lobte Cosima noch die Schönheit und Einfachheit der Kostüme, in denen ihr „eine ganze Kultur“ entgegen getreten sei.¹⁵⁶ Aber diese Kultur war keineswegs jene „jeder Erfahrung, oder Anknüpfung an eine Erfahrung, fernliegende[] Kultur-Epoche“,¹⁵⁷ wie sie Richard Wagner vorgeschwebt hatte, und so fügte Cosima auch schon zu diesem Zeitpunkt skeptisch hinzu, ihr wäre „eine mehr mystische Andeutung angenehmer gewesen“, da „alles
Vgl. Heidemarie Anderlik: „Der Ring des Nibelungen“: Bühnenkunst und Germanenbild im 19. Jahrhundert, in: Zwischen Walhall und Paradies. Eine Ausstellung zur Archäologie und Geschichte des frühen Mittelalters, hg.v. Deutschen Historischen Museum, Berlin 1991, S. 26 – 32, hier S. 27 f. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 28 – 32. Clara Steinitz: [Begleittext zu Doeplers Kostümfigurinen], S. 13. Cosima Wagner: Tagebucheintrag vom 6. 3.1876, in: Dies.: Die Tagebücher, Bd. 1: 1869 – 1877, ediert und kommentiert v. Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München, Zürich 1976, S. 974. Richard Wagner an Carl Emil Doepler, 17.12.1874, S. 187.
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Abb. 17: Doepler: Mannen Gunters (Der Ring des Nibelungen. Figurinen erfunden und gezeichnet von Prof. Carl Emil Doepler)
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plastisch zu Deutliche […] der Wirkung der Musik und der Tragödie“ schade.¹⁵⁸ Hier klingt der Grundkonflikt zwischen dem Wunsch der Wagners nach einer symbolischen Semiotik der Kostüme auf der einen Seite und Doeplers historisch-archäologischer Kostümpraxis auf der anderen Seite schon an, der sich in den folgenden Monaten zuspitzte. Cosima Wagner zeigte sich im Juli 1876 „sehr betrübt“ über Doeplers Kostümfigurinen, sie dokumentierten ihr nur den „spielerische[n] Trieb des Archäologen […], zum Schaden des Tragischen und Mythischen“.¹⁵⁹ Am Ende fiel ihr Urteil vernichtend aus, die Kostüme wirkten in ihren Augen „beinahe lächerlich“¹⁶⁰ und die kostümierten Schauspieler erinnerten sie nunmehr „durchweg an Indianer-Häuptlinge“.¹⁶¹ Aus den Tagebüchern geht hervor, dass Richard Wagner ihr Urteil teilte.¹⁶² Allerdings konnten die Wagners aus finanziellen und zeitlichen Gründen nicht mehr von Doeplers Entwürfen Abstand nehmen. Doeplers Nibelungenkostüme begründeten eine neue Germanenikonographie, mit der auch Wagner in Verbindung gebracht wurde. Seiner schlechten ökonomischen Situation geschuldet, verkaufte dieser 1881 die Ausstattung der Aufführung von 1876 an den Operndirektor Angelo Neumann, der sich mit dem Ring auf Tourneen durch Europa begab. Dadurch wurden die neuen Kostüme europaweit bekannt. Da man allgemein von Wagners Reserve gegenüber den Kostümen nichts wusste, wurden diese unweigerlich mit seinem Namen und seinem Werk verbunden. Auch das Kostümwerk zu den Ring-Kostümen der Uraufführung, das 1889 publiziert wurde und in dem mit keiner Silbe erwähnt wird, dass Wagner die Kostüme missfallen hatten, trug zur Popularisierung von Doeplers Kostümen bei. Der Stil dieser Kostüme fand sich damals zudem auf zahlreichen Plakaten zu Opernaufführungen des Rings. ¹⁶³ Mit Doepler wurde der ‘historisch richtige’ Theatergermane auf den Bühnen heimisch – und Richard Wagner zu dessen unfreiwilligem (Co‐)Schöpfer.
Cosima Wagner: Tagebucheintrag vom 6. 3.1876, in: Dies.: Die Tagebücher, Bd. 1, S. 974. Cosima Wagner: Tagebucheintrag vom 13.7.1876, ebd., S. 994. Cosima Wagner: Tagebucheintrag vom 2. 8.1876, ebd., S. 997. Cosima Wagner: Tagebucheintrag vom 28.7.1876, ebd. Vgl. etwa Cosima Wagners Tagebucheintrag vom 23. Februar 1877, in dem es heißt: „[E]r [Richard Wagner, F.K.] gibt mir recht, wie ich ihm sage, daß mit dem Lappen von Doepler der ganze Zauber aus gewesen sei.“ (Ebd., S. 1034, Hervorh. i.O.). Vgl. Heinzle: Indianer-Häuptlinge in Walhall, S. 101.
Teil II: Dramatik
Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer im Diskursraum der dramatischen Literatur Im ersten Teil der Arbeit wurde nach dem Ort der Altertümer im theoretischen Gattungsdiskurs gefragt, um dann eine Reihe von Entwicklungen in der Ausstattungspraxis zu rekonstruieren, die dafür entscheidend waren, dass die Bühne im 19. Jahrhundert zum Imaginationsraum der Altertümer werden konnte. Hat sich gezeigt, dass es sich hierbei um zwei ganz unterschiedliche Diskursräume handelt, die eigenen Regeln folgen und von verschiedenen Protagonisten bespielt wurden, so wird nun im zweiten Teil der Versuch unternommen, diese beiden Stränge zusammenzuführen und für die Analyse der Dramen fruchtbar zu machen. Angesichts des großen Pools infrage kommender Dramen musste eine radikale Auswahl getroffen werden:¹ Ein Korpus an Alexanderdramen ermöglicht im vierten Kapitel die Schnittpunkte zwischen Dramentheorie, Ausstattungspraxis und Dramatik exemplarisch zu diskutieren. Alexander ist im Kontext der vorliegenden Studie auch deshalb besonders attraktiv, weil er in den entsprechenden Dramen sowohl als griechischer Heros wie auch als völkervereinender Weltenmann entworfen wurde, sich in ihm also antike Überbietungs- und Integrationsstrategien vereinten. Mit Hebbel gerät im folgenden fünften und letzten Kapitel dann ein Autor in den Fokus, dessen Werk wie das keines zweiten Autors durch den zeitgenössischen Altertumsdiskurs geprägt ist. Auch bei ihm lassen sich die Einflüsse der (hegelianischen) Dramentheorie und der neuen historischen Ausstattungspraxis nachvollziehen. Darüber hinaus wird aber auch erkennbar, dass er in seiner Dramatik und in seinen theoretischen Reflexionen eine eigene Poetologie der Altertümer entwickelt. Zunächst indes zu Alexander: Der makedonische Feldheer und König hatte im 19. Jahrhundert bereits eine gut zwei Jahrtausende währende Faszinationsgeschichte erfahren. Die Geschichten um die historische Gestalt Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.) bilden ein immenses Reservoir, aus dem die gesamte europäische Literatur immer wieder geschöpft hat. Die Figur Alexanders in ihrem Zentrum lässt sich als umfassender und wandelbarer Memorialtopos der europäischen Geschichte des Altertums verstehen, der im Laufe der Zeit in seinen historischen und mythischen Dimensionen beständig ausgeschrieben wurde. Die Anfänge dieser Alexandertopik
Im Rahmen des Forschungsprojekts Konkurrenz der Altertümer im Sonderforschungsbereich Transformationen der Antike, in dem auch diese Arbeit entstanden ist, wurden sämtliche deutschsprachige Dramen mit historischen und mythologischen Altertumsstoffen im 19. Jahrhundert bibliographiert und in einer Datenbank zugänglich gemacht. Dabei ergab sich ein Pool von ca. 800 Dramen. Die Datenbank ermöglicht insbesondere die Suche nach einem oder mehreren Altertumskulturen. Vgl. http://www.sfb-antike.de/antikendrama/. DOI 10.1515/9783110473353-005
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liegen in der Antike selbst, etwa im griechisch-ägyptischen Alexanderroman, der rasende Verbreitung fand, oder in der Alexanderverehrung durch die Römer, und das Interesse an Alexander und seine Vereinnahmung für politische und ästhetische Diskurse ließ im Mittelalter und der Neuzeit nicht nach; das galt auch für den deutschsprachigen Raum.² Fragt man indes nach einer spezifisch dramatischen Tradition Alexanders in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dann sucht man fast vergeblich. Hinzuweisen ist lediglich auf Hans Sachs’ „Tragedia mit 21 Personen: Von Alexander Magno, dem König Macedonie, sein geburt, leben und endt“ von 1558, das aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum rezipiert wurde. Als dramatische Figur war Alexander zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielmehr vorrangig durch Übersetzungen von Racines Alexandre le Grand (1665)³ und durch Aufführungen von Händels Alessandro (1726) und Alexander’s Feast or the Power of Musick (1736) präsent.⁴ Angesichts dieser Absenz einer spezfisch deutschen Alexanderdramatik, aber der gleichzeitigen deutschen Rezeption Racines, ist es auffällig, dass im Jahr 1826 ein Dramenautor, der unter dem (bisher nicht aufzulösenden) Pseudonym X.Y.Z. Clärobscür publizierte, nicht nur behauptete, einen bisher noch nicht literarisch verarbeiteten Ausschnitt aus der historischen Überlieferung dramatisiert zu haben, sondern diese Behauptung zugleich auch mit Nachdruck verteidigen musste. Die Geschichte um Alexanders Feldzug gegen Darius, der schließlich durch die Hand
Vgl. stellvertretend die bündige Darstellung von Paul Cartledge: Alexander der Große – Machtmensch und Mythos, in: Erinnerungsorte der Antike, hg.v. Elke und Karl-Joachim Stein-Hölkeskamp, Bd. 2: Die Griechische Welt, München 2010, S. 370 – 383; für die literarische Tradition sind nicht nur die antiken Alexanderhistoriker, sondern insbesondere auch der sagenhafte ‘Alexanderroman’ des Pseudo-Kalisthenes verantwortlich; vgl. dazu Ernst Badian: Alexanderhistoriker, in: Der Neue Pauly, hg.v. Hubert Cancik u. a., Bd. 1, Stuttgart 1996, Sp. 453 f.; Henriette Harich-Schwarzbauer: Der lateinische Alexanderroman, in: Der Neue Pauly, hg.v. Hubert Cancik u. a., Bd. 1, 1996, Sp. 458 – 460. Zur Alexander-Rezeption in der mittelalterlichen Literatur vgl. zuletzt das Kompendium von Z. David Zuwiyya (Hg.): A Companion to Alexander Literature in the Middle Ages, Leiden, Boston 2011. Vgl. dazu Alexander Nebrigs Studie mitsamt kommentierter Bibliographie der Übersetzungen: Die Rhetorizität des hohen Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung, Göttingen 2007 (Münchener Komparatistische Studien, Bd. 10), insbesondere S. 375 – 413. Zur öffentlichen Rezeption von Händels Alexander’s Feast im 19. Jahrhundert vgl. Dominik Höink und Rebekka Sandmeier: Händels Alexanderfest im Spiegel der musikalischen Presse im 19. Jahrhundert, in: Die Macht der Musik: Georg Friedrich Händels Alexander’s Feast, hg.v. dens., Göttingen 2010, S. 129 – 150. Historiographisch einflussreich war Johann Gustav Droysens hegelianisch geprägte Geschichte Alexanders des Grossen (Berlin 1833), in der die historische Person Alexanders vor dem Hintergrund seiner welthistorischen Bedeutung moralisch positiv bewertet wurde; eine entgegengesetzte Position formulierte Barthold Georg Niebuhr in seinen Vorträgen über Alte Geschichte (3 Bde., Berlin 1847– 1851); vgl. hierzu auch Alexander Demandt: Politische Aspekte im Alexanderbild der Neuzeit. Ein Beitrag zur historischen Methodenkritik, in: Archiv für Kulturgeschichte 64 (1972), S. 325 – 363; zuletzt ders.: Alexander der Große. Leben und Legende, München 2009, S. 405 – 456; und Reinhold Bichler:Wie lange wollen wir noch mit Alexander dem Großen siegen?, in: Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Gedenkschrift für Karl Christ, hg.v. Volker Losemann, Wiesbaden 2009, S. 25 – 64.
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seines eigenen Feldherrn Beßus stirbt, sei – so heißt es zunächst – ein paradigmatischer Tragödienstoff:⁵ Die Schicksale des letzten persischen Königs, Darius Codomannus, sind, (zumal nach der meisterhaften, beinahe an das Romantische grenzenden Darstellung des classischen Curtius) so tief erschütternd, so wahrhaft tragisch, daß es befremden muß,warum sie noch nie zum Stoff einer Tragödie gemacht wurden. […] [D]es Beßus Verschwörung gegen Darius und der Sturz des mächtigsten Reichs der alten Welt ist, soviel dem Verf. bekannt, nie auf dem Theater dargestellt worden.⁶
Diese entschieden vorgetragene Behauptung, den Stoff zum ersten Mal dramatisch gestaltet zu haben, war allerdings nicht unstrittig, auch dann nicht, wenn man Racine außer Acht lässt und sich auf den deutschsprachigen Raum konzentiriert. Denn die Öffentlichkeit kannte die dramatische Konstellation zum Zeitpunkt der Publikation von Darius und Alexander bereits: Im Februar und März desselben Jahres war die Tragödie Alexander und Darius von Friedrich von Uechtritz (1800 – 1875) zunächst in Dresden und dann in Berlin zur Aufführung gebracht worden und hatte große Aufmerksamkeit beim zeitgenössischen Publikum erregt – empörend für Clärobscür, der sein eigenes Drama schon im Jahr 1823 an die Direktion des Berliner Hoftheaters gesendet und seitdem vergeblich auf eine angekündigte Reaktion gewartet hatte, die trotz mehrfacher Nachfragen ausgeblieben war. Mit der Veröffentlichung im Druck wollte er nunmehr das „Publicum […] richten“ lassen, welcher Dichter den „wahrhaft tragischen Stoff würdiger behandelt habe“.⁷ In jedem Fall aber hielt er an dem Anspruch fest, der erste gewesen zu sein, der die Auseinandersetzung von Alexander und Darius zum Gegenstand eines Dramas gemacht habe. Darüber informierte er die zeitgenössische Öffentlichkeit sowohl im zitierten Vorwort als auch in einer späteren Notiz im Literarische[n] Anzeiger. ⁸ Der kleine Skandal, den schließlich auch Karl von Brühl als säumiger Intendant kommentieren musste (wobei er zugab, dass sich das Manuskript von Clärobscürs Drama tatsächlich bereits seit 1823 in seinen Händen befand),⁹ hat eine hübsche Pointe: Noch einmal zwei Jahre zuvor hatte bereits der
Die Schreibung der Figuren variiert im Folgenden, weil sie den Konventionen der jeweiligen Dramen folgt. X. Y. Z. Clärobscür: Darius und Alexander oder Die Verschwörung des Beßus. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Leipzig 1826, Vorwort, S. III. Ebd., Vorwort, S. XIf. Vgl. Clärobscür: Berichtigung, in: Literarischer Anzeiger, Nr. XXI (1827), [Sp. 1 f.]. Mit großer Genugtuung rückt Clärobscür den gesamten Text der entsprechenden Bekanntmachung Brühls in seine Berichtigung im Literarischen Anzeiger ein. Dass Brühl sie nach Clärobscürs Auskunft sowohl in der Abendzeitung, als auch im Morgenblatt und im Intelligenzblatt veröffentlicht hatte (die Nachweise ebd.), lässt darauf schließen, dass merklich Druck auf Brühl ausgeübt wurde: „In Folge empfangener Veranlassung wird hiermit angezeigt, daß das Manuscript des im Sommer 1826 in der Köhler’schen Buchhandlung zu Leipzig unter dem Namen X.Y.Z. Clairobscur erschienenen Trauerspiels: ‘Darius und Alexander, oder die Verschwörung des Bessus’, schon im April 1823 zur Aufführung an den
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Mannheimer Schauspieler Karl Theodor Beil (1788 – 1867) in seinem Alexander von Macedonien ebenfalls den Konflikt zwischen Darius und Alexander dramatisiert. Die drei Texte, die innerhalb von wenigen Jahren erschienen bzw. zur Aufführung kamen, sind nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie die neue dramatische Konstellation von Darius und Alexander etablieren, sondern sie markieren insgesamt den Beginn einer eigenen Konjunktur deutschsprachiger Alexanderdramen zwischen 1820 und 1870, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der aktuellen Literaturgeschichtsschreibung liegt. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Dramen nicht von kanonisierten Autoren stammen. So haben etwa Hebbel und Grabbe zwar Pläne für Alexanderdramen entwickelt, sind aber über erste Skizzen nicht hinausgekommen.¹⁰ Die Zeitgenossen hingegen haben die Konjunktur klar benannt und die prominenten Autoren gekannt, darunter Friedrich von Uechtritz, dessen Alexanderdrama ihn in den 1820er Jahren für kurze Zeit zu einem der meist diskutierten Gegenwartsdramatiker machte, oder Hans Herrig (1845 – 1892), der durch seine zahlreichen historischen Dramen, aber auch durch seine nationalkonservative Publizistik zu einer wichtigen intellektuellen Person im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde. Mögen die Autoren in der heutigen Forschung auch kaum mehr eine Rolle spielen – damals waren sie bekannt und aus literarhistorischer Sicht erscheint es darum durchaus lohnenswert, sich ihre Dramen einmal genauer anzuschauen. Den Auftakt der Konjunktur von Alexanderdramen im 19. Jahrhundert machen die bereits genannten drei Trauerspiele, die innerhalb von nur sechs Jahren erschienen: 1821 publizierte Karl Theodor Beil seinen Alexander von Macedonien, 1826 folgte Clärobscürs Trauerspiel Darius und Alexander oder Die Verschwörung des Beßus, ¹¹ 1827 schließlich der Druck des schon 1826 mit großer Resonanz in Presse und Kritik aufgeführte Trauerspiels Alexander und Darius des jungen Friedrich von Uechtritz.¹² Während diese drei Dramen den Konflikt zwischen Alexander und dem persischen König Dareios III. (um 380 – 330 v.Chr.) in Szene setzen, greifen zwei monumentale Alexander-Trilogien der 1830er und 1850er Jahre weiter aus, mit deutlichem Akzent auf internen griechischen Konflikten: Der Pfarrer, Altphilologe und Literat Ludwig Amandus Bauer (1803 – 1846) spannt in seiner Trilogie Alexander der Große (1836) einen Bogen von den blutigen Auseinandersetzungen Alexanders mit dem griechischen Satrapen Memnon über seinen erfolgreichen Kampf gegen Dareios III. bis hin Unterzeichneten eingesandt ist und sich noch jetzt in dessen Händen befindet. | Berlin, den 5ten März 1827 | Graf Brühl, | Generalintendant der königlichen Schauspiele.“ [Ebd., Sp. 1]. Vgl. Christian Dietrich Grabbe: [Aus „Alexander der Große“, 1835], in: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 6 Bde., hg.v. d. Akademie der Wissenschaften in Göttingen, bearb. v. Alfred Bergmann, Bd. 4, Emsdetten 1966, S. 341 f. und Friedrich Hebbel an Elise Lensing, 21. 2.1837, in: Briefwechsel 1829 – 1863. Wesselburener Ausgabe, Historisch-kritische Ausgabe in fünf Bänden, hg.v. Otfrid Ehrismann u. a., München 1999, Bd. 1, Nr. 89, S. 158. Karl Theodor Beil: Alexander von Macedonien. Schauspiel in vier Abtheilungen, Mannheim 1821 (zitiert wird nach der zweiten Auflage Mannheim 1826). Fr[iedrich] von Üchtritz: Alexander und Darius. Trauerspiel. Mit einer Vorrede von L. Tieck, Berlin 1827.
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zum Tod des makedonischen Feldherrn in Babylon.¹³ Historisch früher setzt die weitere Trilogie Alexandrea (1857) des Altphilologen und Schriftstellers Friedrich Adolf Maercker (1804– 1889) ein, klassizistisch ambitioniert in Alexandrinern und trochäischen Tetrametern geschrieben.¹⁴ Die Handlung reicht von Alexanders Konflikt mit seinem Vater Philipp über die Bemühungen des attischen Redners und Politikers Demosthenes bis zum Tod des aus Indien zurückgekehrten Königs in Babylon. Nach diesen zwei Trilogien erschienen um 1870 in kurzer Folge schließlich noch einmal drei Alexanderdramen, in denen eine signifikante Ausweitung der Handlungsorte zu beobachten ist. Beschränkten sich die bisherigen Dramen bei den Schauplätzen auf Persien bzw. bei Maercker auch Griechenland, so geriet nunmehr Alexanders Indienfeldzug in den Fokus. Das gilt für die beiden Dramen, die Georg Prinz von Preußen (1826 – 1902) erstmals 1868 unter dem Pseudonym G. Conrad veröffentlichte.¹⁵ Sein „Phantastisches Trauerspiel“ Der Alexanderzug führt in drei Akten von Persepolis über Indien nach Babylon; der ausführlichere Alexandros spielt in fünf Akten zunächst im makedonischen Aigai, dann in der libyschen Wüste beim Heiligtum des Zeus Ammon, anschließend in Persepolis und in Indien und endet schließlich mit Alexanders Tod in Babylon. Ähnlich hat Hans Herrigs Alexander aus dem Jahr 1872 neben verschiedenen Schauplätzen in Persien auch Indien als Handlungsort.¹⁶ Aus dem Korpus der Alexanderdramen werden im Folgenden die beiden signifikanten Konstellationen von jeweils drei Einzeldramen herausgegriffen, die um 1820 (Beil, Clärobscür und Uechtritz) und um 1870 (Georg von Preußen, Herrig) in enger zeitlicher Nachbarschaft entstanden. An ihnen lässt sich zum einen paradigmatisch im Diskursraum der dramatischen Literatur die Entstehung einer heterogenen Pluralität der Altertümer ablesen. Die konkreten Alexanderdramen sind im Kontext der vorliegenden Arbeit zum anderen aufschlussreich, weil sie die Schnittstellen von theoretischem Gattungsdiskurs, theatraler Ausstattungspraxis und Altertumsdramatik sichtbar machen.¹⁷ Ludwig Bauer: Alexander der Große. Karaktergemälde in drei Abtheilungen, Stuttgart 1836. Friedrich Adolf Maercker: Alexandrea. Tragische Trilogie, Berlin 1857. G. Conrad: Der Alexanderzug. Phantastisches Trauerspiel in drei Aufzügen, in: Ders.: Vermischte Schriften, 2. Theil, Bremen 1868 (zweite Auflage, nach der im Folgenden zitiert wird, in ders.: Dramatische Werke, Bd. 2, Bremen 1870, S. 181– 265) und ders.: Alexandros. Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Ders.: Vermischte Schriften, 2. Theil, Bremen 1868 (zweite Auflage, nach der im Folgenden zitiert wird, in ders.: Dramatische Werke, Bd. 3, Bremen 1870, S. 27– 151). Hans Herrig: Alexander, Berlin 1872 (zweite Auflage Berlin 1880, dritte überarbeitete Auflage in: Ders.: Gesammelte Schriften, 5. Theil, Berlin 1888). Die Ursachen für die neue literarische Konjunktur werden dagegen kein zentraler Gegenstand der Untersuchung sein. Sie lassen sich auch nicht abschließend bestimmen. Zwar verweist Clärobscürs Leipziger Verleger Köhler in seiner Ankündigung des Dramas darauf, dass aktuell „Aller Augen auf Griechenland gerichtet“ seien, und versucht so dem Text die Aufmerksamkeit seines Publikums zu sichern (vgl. die Ankündigung im Intelligenzblatt Nr. 42 zum Morgenblatt für gebildete Leser im Jahr 1826, S. 167), aber als dramatischer Kommentar zum zeitgenössischen griechischen Freiheitskampf eignet sich die Figur des Eroberers Alexander kaum, anders als etwa der spartanische ‘Freiheitskämpfer’ Leonidas (in der Tat kann man ein eigenes Korpus von Leonidas-Dramen im ersten Drittel des
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Drei Schritte strukturieren die Untersuchung: Im ersten Abschnitt (4.1) wird auf den Beginn der Konjunktur in den 1820er Jahren fokussiert und herausgearbeitet, wie Alexander und sein persischer Widersacher Darius in der Rezeption insbesondere von Uechtritz’ Drama zu Paradigmen für die gattungstheoretischen Diskussionen wurden. Im zweiten Abschnitt (4.2) steht die Frage im Mittelpunkt, welche visuelle Ästhetik der Altertumskulturen in den dramatischen Texten entworfen wird. Schließlich wird im dritten Teil (4.3) der Wechsel von einer dramatischen Konstellation der binären Opposition von Alexander und Darius hin zur zunehmenden Betonung der Pluralität der Kulturen diskutiert, in deren Zentrum Alexander als Figuration der Synthese steht.
4.1 Alexander und Darius als paradigmatische Helden. Die Gattungsdiskussion der 1820er Jahre In dem bereits zitierten Vorwort zu Darius und Alexander wundert sich Clärobscür, dass nicht schon andere Dramatiker vor ihm den Sturz des persischen Königs durch den griechischen Feldherrn dramatisiert hätten, handle es sich hierbei doch um einen „wahrhaft tragisch[en]“¹⁸ Stoff. Neben der fehlenden Bereitschaft vieler Dramatiker zum nötigen intensiven Studium der alten Schriften nennt er noch einen gewichtigeren Grund, der für diese Zurückhaltung verantwortlich sein könnte. Die Geschichte von Alexanders Feldzug gegen Persien wirke, so Clärobscür, in seiner zeitlichen und räumlichen Ausdehnung mehr als „eine Aufeinanderfolge von Begebenheiten“, denn „als eine durch das Band der Nothwendigkeit zu einem Ganzen verknüpfte Handlung“.¹⁹ Die Struktur der historischen Ereignisse erscheint ihm also problematisch für die Gattung des Dramas zu sein, das grundsätzlich auf das Handlungsprinzip der Notwendigkeit verpflichtet sei. Clärobscürs Lösungsweg aus diesem Dilemma ist eine gattungstheoretische Grundsatzentscheidung: Er habe sich, so heißt es weiter, beim Schreiben seines Trauerspiels nicht „[n]ach der ängstlichen Theorie des französischen Theaters“ gerichtet, sondern vielmehr an Shakespeares Dramatik orientiert, deren „über große Ort- und Zeiträume nicht blos von Act zu Act, sondern selbst von Auftritt zu Auftritt wegfliegende, blos die Einheit und den zweckmäßigen Zusammenhang der Begebenheiten selbst, als nothwendig, anerkennende Einbildungskraft […] auch im
19. Jahrhunderts ausmachen). Eher noch wird die Figur Alexanders das zeitgenössische Publikum an die jüngste napoleonische Vergangenheit erinnert haben, aber die literarischen Texte lassen sich auch darauf thematisch nicht verpflichten. Die vorliegende Arbeit schlägt stattdessen vor, weniger außerliterarische politische Kontexte für die Konjunktur verantwortlich zu machen, als vielmehr die ideale Anschließbarkeit des Stoffs an zeitgenössische dramenästhetische Positionen und literarische Verfahren. Das lässt sich nicht zuletzt an der erhitzten Diskussion in der Flut der Theaterkritiken nachlesen, vgl. dazu das folgende Kapitel 4.1. Clärobscür: Darius und Alexander (Vorwort), S. III. Ebd., S. IV, Hervorh. i.O.
4.1 Alexander und Darius als paradigmatische Helden
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freisinnigen Deutschland als Vorbild bei dramatischen Darstellungen, vornehmlich historischer Stoffe, anerkannt worden“ sei.²⁰ Was Clärobscür hier als gattungstheoretische Wahl eines Dichters zwischen den Alternativen von französisch-klassischer Regelpoetologie und shakespearscher Freiheit deklariert, löste im Zusammenhang mit Uechtritz’ Alexander und Darius eine hitzige Debatte aus. Friedrich de La Motte Fouqué hat den Streit in einem kleinen ironischen Text aus dem Jahr 1829 kommentiert, als sich die Erregung wieder etwas gelegt hatte. In seinem Trauerspiel zwischen zwei Scheerenklingen, das in den Berlinische[n] Blaetter[n] fuer deutsche Frauen erschien, lassen sich in einem „reale[n] Gespräch“ ein „Klassischer“, ein „Moderner“ und ein „Poet“ über die „jüngst in Scene gesetzte Tragödie des neuesten jungen Dichters“ aus.²¹ Die ironische Pointe des Textes liegt darin, dass sich der ‘klassische’ und der ‘moderne’ Kritiker zwar oberflächlich zu verstehen glauben, aber doch grundlegend unterschiedlicher Ansicht sind über die gattungstheoretischen Voraussetzungen des Dramas und die Eignung von Alexander als tragischem Helden. Beiden erscheint Uechtritz’ Umgang mit dem alten Stoff als illegitim, allerdings aus verschiedenen Gründen: Der ‘Klassische’ beklagt, Uechtritz’ „Tragödie“ sei in Form und Inhalt nicht klassisch genug, sondern „einer beinahe Shakespear’schen Vielseitigkeit“ verfallen,²² so dass man regelrecht von einem „neue[n] Alterthum“ sprechen müsse, „so neu“ sei der Verfasser „mit der Antike umgegangen“.²³ Der ‘Moderne’ hingegen ehrt Shakespeare ebenso wie Calderón und Lope de Vega, will aber keinerlei regelpoetologische „Autorität“²⁴ anerkennen und ist der Meinung, „der junge Poet“ hätte Alexander als „romantischen Helden“ vorführen sollen.²⁵ Einig sind sich beide am Ende des Streits, als sie ihr gegenseitiges Missverstehen schon eingesehen haben, noch immer in einem Punkt – darin nämlich, dass der uechtritzsche Text misslungen sei. Fouqués Text ist ein treffender Kommentar zur Diskussion um Uechtritz’ Alexander und Darius, in der die Vertreter hegelianisch-geschichtsphilosophischer, klassizistischer und romantischer Dramaturgien über ihre verschiedenen dramen- und gattungstheoretischen Positionen stritten. Die Auseinandersetzung, die auf die Aufführungen des Dramas in Dresden (Uraufführung am 28. Februar 1826) und Berlin (Premiere am 10. März 1826) sowie auf die Publikation des Textes (1827) folgte,war weit heftiger, als man es selbst im Kontext der zeitgenössischen ‘Theaterwut’ in Berlin
Ebd. [Friedrich de] l[a] M[otte] F[ouqué]: Das Trauerspiel zwischen zwei Scheerenklingen, in: Berlinische Blaetter fuer deutsche Frauen, Bd. 3 – 4 [1829], Reprint Nendeln 1972, S. 116 f. Fouqué hatte sich im Beiwagen für Kritik und Antikritik mit einer äußerst wohlwollenden Kritik zu Uechtritz an den Debatten selbst beteiligt (vgl. Abermals ein Wort über Alexander und Darius, in: Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, Nr. 22 [3.6.1826], [Sp. 4– 7]). Fouqué: Das Trauerspiel zwischen zwei Scheerenklingen, S. 120. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120. Ebd., S. 122.
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erwarten konnte.²⁶ Sie kreiste überwiegend um die grundsätzliche Frage, ob es sich bei Alexander und Darius um tragische oder epische Helden handle, sowie darum, ob historischen Stoffen im Allgemeinen und antiken im Besonderen spezifische Valenzen für die dramatische Gattung zuzusprechen seien. Allein im hegelianisch geprägten Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, der von Moritz Gottlieb Saphir herausgegeben wurde, erschienen zwischen April und Juni 1826 in schneller Folge insgesamt elf Kritiken des Dramas. Die Debatte setzte ein mit einem Beitrag von August Beyfus, dessen Antwort auf die Frage, ob es sich bei Alexander um einen tragischen Helden handle, eindeutig negativ ausfiel: Vor allem aber hat er [Uechtritz, F.K.] sich in der Wahl des Stoffes vergriffen, worauf bei aller Dichtung, besonders aber bei der dramatischen, so viel ankommt. Zuvörderst ist Alexander kein tragischer Charakter, das heißt, kein Charakter für die Tragödie, wenn auch sein Leben selbst, wie im Grunde das Leben eines jeden bedeutenden Menschen als solchen, eine Tragödie in einem andern, höhern Sinne ist. […] Alle seine Tugenden, seine herzgewinnende Großmuth, seine Freigebigkeit und Milde, die Großartigkeit seiner geselligen Neigungen, seine tiefe Empfänglichkeit für Freundschaft, ja sein Menschlichkeitsgefühl (Humanität) überhaupt, das bei ihm ausgebildeter war, als vielleicht bei irgend einem andern Griechen, Alles floß aus einer Quelle, aus dem Glauben, aus dem in den Tiefen der Seele heimlich wirkenden Gefühl, daß er zum Welteroberer geboren sei, und das will mehr sagen, als wenn er es sich bloß vorgesetzt hätte. Zum Welteroberer, weniger zum Weltregierer, und als er ruhen mußte, starb er auch. […] Daß eine solche Größe, die in dem mannigfachsten Wechsel der Begebenheiten sich auf dieselbige Weise erhält, und nur in immer höhern, überraschenden Wendungen sich wieder erzeugt, bis sie an ihrem eigenen Ueberflusse stirbt, kein Gegenstand für die Tragödie, wohl aber für das Epos sei, ist klar genug. Die Tragödie fordert einen großen Charakter, dem sich Gegensätze von innen und außen in den Weg stellen, wodurch eine schmerzliche Entwicklung und Vollendung herbeigeführt wird, die darum immer tragisch ist, wenn der Held auch nicht stirbt.²⁷
Nach Beyfus eignet sich die historische Gestalt Alexanders des Großen also grundsätzlich nicht zum tragischen Helden, weil seine Biographie die inneren und äußeren Widersprüche vermissen lasse, die für eine Tragödie vorausgesetzt werden müssten.²⁸ Eine knappe Zusammenstellung der wichtigsten Organe und Mitstreiter der Debatte findet sich bei Wilhelm Steitz: Friedrich von Uechtritz als dramatischer Dichter. Ein Beitrag zur Literatur- und Theatergeschichte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Görlitz 1909, S. 67– 69. Aug[ust] Beyfus: Königliches Schauspielhaus. Den 10. März zum Erstenmale: Alexander und Darius, Trauerspiel in fünf Akten, von Freiherrn v. Uechtriz [sic!], in: Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, Nr. 10 (15. 3.1826), [Sp. 1– 6, hier Sp. 1 f.], Hervorh. i.O. Auch Darius ist nach Beyfus kein tragischer Held, wenngleich der Kritiker die tragischen Valenzen des Persers nicht so grundsätzlich wie bei Alexander in Frage stellt, sondern argumentiert, dass Darius zumindest so, wie Uechtritz ihn darstelle, nicht zum tragischen Charakter tauge: „In Darius hat der Dichter einen König schildern wollen, der eigentlich wegen seines sanften, zärtlichen Charakters mehr zum Privatleben taugte, in dem sich aber der Wahn festgesetzt hat, er sei zum König geboren, und müsse sich so königlich als möglich zeigen. Hier drängt sich die Frage auf, unter welchen Bedingungen eine dem Wahnsinne nahe kommende Leidenschaftlichkeit als tragisch zu betrachten sei. Die Antwort ist: wenn in dieser Leidenschaftlichkeit etwas Berechtigtes und wenn sie nach innen und außen thätig wird;
4.1 Alexander und Darius als paradigmatische Helden
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Ähnlich kritisch distanziert fiel auch das Urteil aus, das Heinrich Gustav Hotho, der spätere Hegel-Editor, in seiner Kritik im folgenden Heft des Beiwagen für Kritik und Antikritik über Alexanders Eignung zum tragischen Helden fällte. Uechtritz’ Stoffwahl, die Beyfus als größten Fehler benannt hatte, erschien ihm dabei allerdings noch als einzig lobenswerte Leistung des Autors: Es gehört gewiß zu einem der größten Verdienste des jungen Dichters [Uechtritz, F.K.] […], […] sich der Geschichte und ihren ewigen Trauerspielen zugewendet zu haben.Wollte man die Geisteskraft unseres Dichters nach dem Gegenstande, den sie zur Verarbeitung wählt, messen, so müßte sie einem Riesengeiste angehören; aber sie hat sich nur dahin geäußert, daß aus der Verarbeitung eine Bearbeitung ward, der Riese ist nur zu gewöhnlicher Jünglingsgröße ausgewachsen.²⁹
Hier manifestiert sich jene Analogie von Tragödie und Geschichte, die für die hegelsche Schule bezeichnend war und die in der Adaption seiner Schüler vielfach noch rigoroser formuliert wurde als von Hegel selbst.³⁰ Für Hotho stellt Alexanders Leben ein für den Verlauf der Weltgeschichte bezeichnendes „ewige[s] Trauerspiel[]“ dar. Dies folgt der Idee, die Weltgeschichte selbst sei tragisch strukturiert und könne daher leisten, was der Dichter nur noch in die literarische Form der Tragödie fassen müsse.³¹ In diesem Kontext scheint Hotho die Antiquität des Stoffs von besonderem Vorteil zu sein, weil es dem Dichter im besten Fall gelingen könne, „eine treue, in dichterischem Geist wiedergeborene Darstellung der antiken Welt“ zu zeichnen, „frisch und lebendig, weil sie wiedergeboren; uns näher gerückt, weil sie neugeboren.“³² So sehr Hotho damit aber Uechtritz’ Stoffwahl befürwortet, so entschieden diagnostiziert er zugleich das Scheitern des Autors. Der Hegelianer sieht Uechtritz’ Versagen nicht zuletzt in dessen vermeintlich unsouveränem Umgang mit dem alten Persien: Er [Uechtritz, F.K.] spricht eigentlich nur immer von sich, selten von Griechenland und Persien. Denn weil die Personen nur einzelne Reflexionen über die Weltgeschichte bleiben, die nie die gesammte Sache selbst sind, bilden sie unter einander weder ein lebendiges Ganze [sic!], welches das Ganze des Weltzustandes, den sie darstellen sollen, wäre, noch sind sie selber nur besondere Seiten dieses Zustandes, sondern indem der moderne Dichter, seine und somit nicht die Reflexionen der Sache selber darstellt, muß auch vieles der Sache fremdes hinzukommen, was in ihren
beide Momente müssen darin vorhanden sein. […] Nun ist aber bei unserm Darius der Irrthum, der sein Leben beherrscht, und aus dem er erst dicht vor seinem Tode herausspringt, eine fixe Idee, die sich wohl auch in der Natur findet, aber darum weder schön noch erhaben ist.“ (Ebd., [Sp. 3.f.]). H[einrich] G[ustav] H[otho]: Königliches Schauspielhaus. Berlin. Freitag, den 10. März. Zum Erstenmale: Alexander und Darius, Trauerspiel in 5 Aufzügen, von Fr. v. Uechtritz, in: Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, Nr. 11 (22. 3.1826), [Sp. 1– 6, hier Sp. 1], Hervorh. i.O. Vgl. hierzu und zu Hegels analoger Konzeption der Weltgeschichte und der Tragödie Kapitel 2.1. Hothos Formulierung, Uechtritz habe eines der ‘ewigen Trauerspiele der Geschichte’ zur Grundlage seines Dramas gewählt, erinnert an Rötschers spätere Überlegungen zum Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffes (1846), in denen dieser davon ausgeht, dass der ‘Weltgeist’ ideale Stoffe und Charaktere schon vorgebildet habe, die der Dramatiker dann nur noch aufgreifen und vereinfachen müsse (vgl. Kapitel 2.1.3). Hotho: Königliches Schauspielhaus, [Sp. 1], Hervorh. i.O.
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Tod zwar ein neues aber desto falscheres Leben hineinhaucht. Die Leiche Persiens ist mit modernen Blumen aufgeputzt. Doch dies vermag kein regeres Interesse herein zu bringen, denn bei dieser Modernisirung werden weder die persischen zu unsrigen Interessen, noch unsrige zu persischen, beide vermischen sich zu einer uninteressanten Zwittergestalt. Ein solcher weltgeschichtlicher Zustand kann nur durch seine Weltgeschichtlichkeit selbst Anforderung auf Theilnahme machen, so muß denn aber auch der weltgeschichtliche Sinn und Standpunkt, dies ganze weltgeschichtliche Leben aufs treuste, frischeste dargestellt werden und zwar nicht in seinem als zufällig erscheinenden Geschehen, sondern so daß uns bei der aufbrechenden Schaale dieser Zufälligkeit der Kern der inneren weltgeschichtlichen Nothwendigkeit hervorblicke.³³
In Hothos Logik sind Darius und Alexander ideale tragische Helden, weil sie jeweils den Zustand der eigenen Altertumskultur repräsentieren und ihr Kampf und Darius’ Scheitern damit den Gang der Weltgeschichte repräsentieren können. Indem Uechtritz die Figuren aber zu modern zeichne, verfehle er den eigentlichen Zweck eines Trauerspiels. Insbesondere Uechtritz’ Charakterisierung des persischen Königs Darius und dessen Frau Statira missfiel Hotho. Beide Figuren sind im Alexander und Darius als Liebespaar charakterisiert: So geriert sich Darius als eifersüchtiger Partner, nachdem Statira Alexanders Großmut gelobt hat (I/8 und 9), und Statira will ihren geliebten Gatten davon abhalten, in die entscheidende Schlacht gegen Alexander zu ziehen, indem sie ihn dazu auffordert, auf Krone und Herrschaft zu verzichten und sich als Satrap mit ihr nach Armenien zurückzuziehen, wo sie gemeinsam gelebt hatten, bevor Darius zum König wurde (I/10). Darius’ wehmütige Replik auf Statiras Vorschlag beschwört die Erinnerung an ein bürgerliches Liebesidyll herauf, in dem er in der „Heimath“ glücklich tagsüber gärtnerte, während Statira ihm dabei zuschaute und sie gemeinsam „Abends dann zur Wohnung“ gingen, wo „winkend / Die Mutter stand“.³⁴ Hothos Kritik fiel angesichts solcher Figurenentwürfe bissig aus: Ueberall aber muß er [Darius, F.K.] eins mit diesem persischen Zustande sein, denn er ist das Individuum, die Person dieses Zustandes. Welch ein anderer Darius tritt uns aber statt des persischen entgegen. […] Er weint und jammert darüber, daß er seine Empfindungen als Mensch müsse verbergen und verstummen lassen als Herrscher! Wo ist diese Trennung des Menschen vom Herrscher, diese unendliche Vertiefung des einzelnen Menschen in seine eigenste vom Inhalte seines Lebens getrennte leere Persönlichkeit, dieser tiefste Bruch moderner Welt, je einem Orientalen eingefallen, und wie kann es uns [sic!] Interesse erregen, was Darius als dieser einzelne zufällige Mensch, der sich von dem was er eigentlich ist losschält, empfindet und jammert und sich verwimmert. Wir haben es mit Persien zu thun und dem persischen Darius. Diese Haltung des modernisirten Darius ist einer der größten Fehler. […] Es wird Jeder sogleich zugestehn, daß in Darius sich das ganze persische Reich abspiegeln muß. Was wird aber statt dieses Reiches dargestellt? Darius Liebe zu seiner Gattin Statira, die von Alexander gefangen und freigelassen, nun mit dem Gatten die modernste Liebesscene spielt. Was geht uns die Eifersucht des Darius an, die aufflammt, als Statira den Edelmuth und Heldensinn Alexanders rühmt; kann sie uns dafür entschädigen, daß wir ihretwegen nicht den Zustand des großen weiten ohnmächtigen Reiches
Ebd., [Sp. 2], Hervorh. i.O. Uechtritz: Alexander und Darius, S. 27 f.
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sich lebendig vor uns entwickeln sehn? Ueberhaupt ist Statira eine ganz überflüssige Figur, sie fordert nichts, sie giebt uns nicht einmal die Anschauung einer persischen Ehe, sie stört nur überall durch unnützes Liebesgeschwätz.³⁵
In hegelscher Manier kann „einem Orientalen“ nach Hotho nichts fremder sein, als ein solcher Rückzug ins Innere, als die – mit Hegel gesprochen – ‘selbstbezügliche Subjektivität’, die Uechtritz Darius andichtet und die doch eigentlich Signum der Moderne ist.³⁶ Wie Alexander ist der historische Darius also nach Hotho ein idealer tragischer Held, mehr noch als bei Alexander aber sieht Hotho Uechtritz an der Figurenzeichnung des Persers scheitern. Die Diskussion um die Frage, ob Alexander und Darius tragische oder epische Helden seien, wurde in den folgenden Ausgaben des Beiwagen für Kritik und Antikritik fortgesetzt. Die Argumente wiederholten sich: Auf der einen Seite stand die Meinung, insbesondere Alexander sei als Protagonist einer Tragödie schlichtweg ungeeignet, weil es ihm an inneren Widersprüchen fehle, er „zu sehr identisch mit der Tat sei“³⁷, und auch sein Tod, der erst nach seinen Taten erfolge, jegliches dramatische Potential vermissen lasse; auf der anderen Seite die (auch noch einmal von Hotho vertretene)³⁸ Ansicht, Alexander und Darius eigneten sich hervorragend für die Tragödie, weil ihr Kampf den Verlauf der Weltgeschichte in nuce darstelle. In diesem Verständnis hatte die Antike mit Alexanders Feldzug gegen Persien ein ideales ‘Trauerspiel’ schon vorgebildet, weil Alexander und Darius als idealtypische weltgeschichtliche Individuen zu verstehen seien, die in sich den Zustand des aufstrebenden Griechenlands und des vergehenden persischen Reichs trugen.³⁹ Alexander und Darius wurde im Beiwagen für Kritik und Antikritik zum Paradigma für Interpretationen, in denen die Gattung Tragödie auf die Korrelation mit dem Verlauf der ‘Weltgeschichte’ und auf die Inszenierung großer ‘weltgeschichtlicher’ Heldenfigurationen verpflichtet wurde. Unter gänzlich anderen gattungstheoretischen Vorzeichen nahm auch Ludwig Tieck Uechtritz’ Trauerspiel zum Anlass für die Diskussion grundsätzlicher dramentheoretischer Probleme. Tiecks Vorrede zu der Publikation des Dramentextes aus dem Jahr 1827 datiert auf einen Zeitpunkt, an dem die Debatte um Alexander und Darius auf Hotho: Königliches Schauspielhaus, [Sp. 3]. Vgl. etwa Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 534 f.; vgl. auch Kapitel 2.1.2. Anonymus: Alexander und Darius. Trauerspiel von Fr. v. Uechtritz, in: Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, Nr. 14 (12.4.1826), [Sp. 1– 4, hier Sp. 1]. Vgl. Hothos explizite Gegenkritik zu dem anonym erschienen Beitrag in der 14. Ausgabe der Schnellpost. Hotho führt hier noch einmal aus – diesmal ohne auf Uechtritz’ Drama näher einzugehen –, warum Alexander im Gegensatz zu den Ausführungen des anonymen Kritikers ein idealer tragischer Held sei (Alexander als dramatischer Held, in: Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, Nr. 16 [22.4.1826], [Sp. 1– 7]). Zu dieser hegelianischen Annahme äußerte sich ausgesprochen spöttisch Leopold von Ranke, der allerdings ungeachtet dieser Kritik an den Hegelianern und deren Ausfällen gegen Uechtritz ebenfalls wenig von dessen Trauerspiel hielt. Rankes Kritik ist abgedruckt in Theodor Wiedemann: Leopold von Ranke über das Trauerspiel von Friedrich von Uechtritz „Alexander und Darius“, in: Euphorion 3 (1896), S. 8 – 13; Rankes Kritik S. 10 – 12.
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der Grundlage der Aufführungen des Dramas bereits im Gange war. Vor allem auf den Vorwurf, dass Uechtritz’ Drama den antiken Stoff unangemessen modern behandle, nahm Tieck explizit Bezug: Man hat vielfachen Tadel darüber ausgesprochen, daß alles dies modern und aus unsrer Zeit, daß das Alterthum nicht beobachtet, daß Styl und Form nicht antik seien. Diese Vorwürfe habe ich nur halb verstanden. Ohne Zweifel muß jeder Dichter, der uns das Alterthum als solches schildern will, damit bekannt und vertraut sein. Der Fall kann ja aber auch eintreten, wenn ihn die allgemeine Forderung seiner Zeit so bedingt, daß er blos den rohen Stoff, die Thatsache aus dem Alterthum nimmt, und alles dennoch wie den neusten Gegenstand bearbeiten will und muß. So war es in Spanien, und so hat Calderon mehr wie eine Comödie aus Mythologie oder alter Geschichte gedichtet. Meinte man denn etwa, dieser Darius müsse ohngefähr in der Form des Sophocles sein? Der Mißverstand wäre seltsam, da schon Aeschylus seine Perser anders als seine übrigen Werke dichtete. Oder fordert man, daß, weil es ein Gegenstand alter Geschichte ist, man die sogenannten drei Einheiten beobachten müsse? Das wäre doch nur das mißverstandene französische Bühnengesetz und Shakspear’s Coriolan und Antonius wäre auch in die falsche Form gerathen. Ich finde bei den Griechen im Gedicht griechische Gesinnung, bei den Asiaten asiatische, d. h. so viel, als der Dichter für nöthig erachtet.⁴⁰
Es gelte, so Tieck weiter, endlich einzusehen, dass es unmöglich sei „griechisch, römisch oder persisch zu dichten“.⁴¹ Historisch solle nicht die Form, wohl aber die „Gesinnung“⁴² der Figuren sein. Dies sei dem Dichter vorzüglich gelungen, „der seinen Alexander ganz der Geschichte getreu“ geschildert habe.⁴³ Die Form von Alexander und Darius aber sei „gewissermaßen eine neue zu nennen“, und auch hierin sei Uechtritz zu loben: „Eine Form, wenn sie wirklich einem Dichterwerke anpaßt, und mit diesem zugleich in der Imagination aufgegangen ist, kann nicht zum zweitenmale wiederholt werden.“⁴⁴ Alexander und Darius wird in Tiecks Vorrede so zum Exemplum eines Plädoyers für eine romantische Dramaturgie jenseits der Zwänge eines poetologischen Regelkanons. Diese Ansicht musste wiederum die klassizistische Schule herausfordern. Auf Tiecks Kritik folgte direkt eine Gegenkritik in der Allgemeine[n] Literatur-Zeitung, in der sich der anonyme Verfasser primär nicht über Uechtritz’ Drama, sondern über Tiecks Vorrede ausführlich ausließ. Es sei die „Tieck’sche[] Schule“,⁴⁵ die Schuld trage an der minderwertigen Qualität von Uechtritz’ Trauerspiel. Wo Tieck die freie Form lobt, da
L[udwig] Tieck: Vorrede, in: Alexander und Darius. Trauerspiel von Fr[iedrich] von Uechtritz, Berlin 1827, S. III-XVI, hier S. IX. Ebd., S. X. Ebd., S. IX. Ebd., S. VI. Ebd., S. XI. Anonymus: Schöne Künste. Berlin, in d.Vereinsbuchh.: Alexander und Darius. Trauerspiel von Fr. v. Uechtritz. Mit einer Vorrede von L. Tieck. 1827. XVI u. 135 S. 8. (1 Rthlr.), in: Allgemeine Literatur-Zeitung 130 (Mai 1827), Sp. 193 – 198, hier Sp. 197; Fortsetzung in: Allgemeine Literatur-Zeitung 131 (Mai 1827), Sp. 201– 206.
4.1 Alexander und Darius als paradigmatische Helden
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weist der Rezensent indigniert auf die „minder vollkommenen Dramen“ Shakespeares hin, und meint, Uechtritz hätte besser daran getan, den „erhabenen Bau der antiken Trilogien“ zum Vorbild zu nehmen.⁴⁶ Und wo Tieck hervorhebt, Uechtritz habe die „Geschichte getreu“⁴⁷ geschildert, da erregt sich der Autor in der Allgemeine[n] Literatur-Zeitung darüber, dass der junge Dichter sich allzu treu daran gehalten habe. Vor allem die Darstellung des persischen Darius war dem Rezensenten dabei ein Dorn im Auge. Seine Kritik entzündete sich an einer Szene, in der Darius in seiner Eifersucht auf Alexander in einem Ausbruch despotischer Wut seinen Arzt Phradates hinrichten lassen will (I/8): Welchen Antheil kann uns ein solcher Charakter einflössen? Man sieht wohl, dass der Vf. hier den asiatischen Despoten und die Reizbarkeit eines gekrönten Harems-Hahnes hat malen wollen; aber war hier der Ort? […] Unser Vf. […] hat offenbar keinen andern Zweck dabey gehabt, als den Helden recht morgenländisch darzustellen, und das ist eben der Fehler der obgedachten historischen Schule, dass sie dem National-Costume der Sitten häufig das Interesse aufopfert, welches der Beschauer an den Charakteren nehmen muss, wenn die Handlung gehörig auf ihn wirken soll. Wollte der Vf. Antheil erwecken für den liebenden Darius (und wozu sonst die Erscheinung der Statira?) so war es völlig zweckwidrig, hier den asiatischen Despoten und die Harems-Sclavin, deren Haupt keine Secunde auf dem Halse sicher steht, als Repräsentanten der Liebe aufzustellen. Dieses Asiatische musste hier gleichsam aus dem Persischen in das rein Menschliche übersetzt werden.⁴⁸
Dem Kritiker zufolge hatte Uechtritz Darius also ein allzu persisches Colorit verpasst. Denn ein solch persisch-despotischer Held war nicht zu vereinbaren mit den Vorstellungen des Kritikers von einem großen moralischen Charakter, dessen es in der Tragödie bedürfe.⁴⁹ Es ist, wie sich gezeigt hat, regelmäßig die Darstellung von Darius vor dem kulturellen Hintergrund des alten Persiens, an der sich die Hauptkritikpunkte verschiedener Schulen entzündeten: Wo die Hegelianer mit ihrer Korrelation von Tragödie und Weltgeschichte das historische Moment Persiens vollkommen verfehlt sahen, beklagte der klassizistisch gesinnte anonyme Kritiker in der Allgemeine[n] Literatur-Zeitung ein Zuviel an persischer Gesinnungsart. Allein Tieck sah hier das richtige Maß getroffen. So sehr die Lesarten divergierten, so deutlich zeigen sie aber, dass sie weit über eine eigentliche Kritik von Uechtritz’ Trauerspiel hinausgingen. Uechtritz’ Alexander und Darius und die spezifische Gegenüberstellung von Griechenland und Persien in dem Trauerspiel wurden in den Jahren 1826/27 zum Paradigma, anhand dessen grundsätzliche gattungstheoretische Debatten geführt wurden.
Anonymus: Alexander und Darius (Allgemeine Literatur-Zeitung 130, Mai 1827), Sp. 196. Tieck: Vorrede, S. VI. Anonymus: Alexander und Darius (Allgemeine Literatur-Zeitung 130, Mai 1827), Sp. 198. Vgl. ebd., Sp. 197 f.
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4.2 „Die Pracht dieses Aufzugs ist […] unentbehrlich.“ Zum Wandel der Bühnenästhetik in den dramatischen Texten
Abb. : Schinkel: Entwurf zur Vierten Dekoration für Uechtritz’ Darius und Alexander
In den zeitgenössischen Diskussionen über Uechtritz’ Alexander und Darius wurden nicht nur gattungstheoretische Fragen behandelt. Auch die aufwändige Ausstattung der Berliner Aufführung unter Karl von Brühl geriet in das Visier der Kritik. Das galt insbesondere auch für die Bühnenbilder. Sie waren von Friedrich Schinkel entworfen und von Carl Gropius ausgeführt worden. Aus den Kritiken kann man schließen, dass es mehrere sehr aufwändige Dekorationen gegeben haben muss. Leider ist nur der Entwurf zur IV. Dekoration des Stücks überliefert (Abb. 18). Er zeigt eine Halle im Palast zu Persepolis, in deren Durchsicht weitere Gebäude des Palastes zu erkennen sind. Ulrike Harten hat nachgewiesen, dass Schinkel für die architektonischen Details der Halle auf die Abbildungen von Persepolis in den dreibändigen Voyages de Monsieur le Chevalier Chardin en Perse et autres lieux de l’Orient (1686; Neudruck Paris 1811) zurückgriff. In Chardins Werk finden sich die doppelten Pferdeköpfe der Kapitelle jener Säulen, die bei Schinkel den Hintergrund der Halle abschließen, und auch für die links und rechts der seitlichen Treppen aufgestellten Lamassu sowie für das Relief am
4.2 „Die Pracht dieses Aufzugs ist […] unentbehrlich.“
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Sockel der Plattform gibt es bei Chardin Vorlagen.⁵⁰ Schinkel zeigte sich hier,wie so oft, als archäologischer Konstrukteur, indem er in Ermangelung einer exakten Überlieferung der Palasthallen in Persepolis eine eigene Architektur des Raums entwarf, diesen aber zugleich mit archäologisch überlieferten Details ausstattete. Die Bühnendekorationen für Alexander und Darius waren damit Teil jener historisch-korrekten Darstellungspraxis, die Brühl und Schinkel an der Berliner Hofbühne etablierten und die zeitgenössisch sowohl Lob als auch harsche Kritik erntete.⁵¹ Bei den Dekorationen zu Alexander und Darius war überwiegend letzteres der Fall, wie etwa ein ironisch-bissiger Kommentar im Beiwagen für Kritik und Antikritik zeigt: Der ganze erste Akt geht dem Publikum im Anschauen des Zeltes des Darius und seines goldenen Stuhles verloren; die Wände und Säulen sind mit blauer, grüner, roter Folie – sprich Fo – li –é – so reich beklebt, daß das Auge unwiderstehlich davon angezogen wird, und wenn die Dichtung der Diamant ist, dessen Wasser durch die Unterlage gehoben werden soll, so scheint hierin diesmal des Guten zu viel gethan. […] Noch mehr aber als der gewöhnliche Zuschauer wird der Archäolog und der Botaniker durch solche Dekorationen zerstreut. – Also das ist wirklich der goldene Stuhl des Xerxes? – Ja, gewiß. Zwar sind Böttiger und Quatremere de Quincy, Hirt und Levezow nicht ganz einverstanden, allein es hat sich die Beschreibung des einen Stuhlbeines irgendwo gefunden und – ex ungue leonem – und so ist denn dieser ziemlich breite, man könnte sagen zweischläfrige Stuhl herausconstruirt worden […].⁵²
Der anonyme Kritiker sah Schinkel damit zum einen an den – in seinen Augen offensichtlich absurden – archäologischen Ansprüchen scheitern, die das Berliner Hoftheater selbst setzte. Zum andern und vor allem aber identifizierte er in dem reichen Bühnenbild ein Hindernis für die Konzentration des Publikums. Damit war er keineswegs allein: Allgemein wurde der für ein Trauerspiel als unpassend empfundene „Opernprunk“⁵³ kritisiert. So erregte sich Hotho darüber, dass die „glänzende Ausstattung, der Prunk, mit welchem die Handlung in Scene gesetzt ist, diese Opernverschwendung […] gerade das Entgegengesetzte [bewirke, F.K.], was sie sollte“, indem sie „als Hauptsache“ hervortrete und das Wort nicht unterstütze, sondern unterdrücke.⁵⁴ Man rügte, dass für die Berliner Aufführung bei aller „Correktheit“ im Bühnenbild nicht der „Unterschied zwischen einer Oper und Tragödie“⁵⁵ bedacht worden sei. Auch dort, wo ausdrücklich lobend hervorgehoben wurde, dass „die
Vgl. Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 432, dort auch die entsprechenden Abbildungen aus Chardins Werk. Vgl. Kapitel 3.2. Anonymus: Alexander und Darius (Beiwagen für Kritik und Antikritik, Nr. 14), [Sp. 3], Hervorh. i.O. Anonymus: Alexander und Darius, in: Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, Nr. 16 (22.4.1826), [Sp. 8]. Hotho: Alexander und Darius, [Sp. 6]. F[riedrich] W[ilhelm] Gubitz: Zeitung der Ereignisse und Ansichten. Berlin. Am 10. März im Königlichen Theater zum ersten Mal: „Alexander und Darius“, Trauerspiel in fünf Akten von Fr. v. Uechtritz, in: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, 46stes Blatt (22. 3.1826), S. 227 f., hier S. 228.
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Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer
Costüme exakt und reich in persischer Ueppigkeit; die neuen Dekorationen superb“ gewesen seien, wurde noch angemerkt, dass der Gesamteindruck „für Auge und Ohr fast zu viel“ gewesen sei.⁵⁶ Schließlich soll auch Uechtritz selbst Kritik an der aufwändigen Ausstattung der Aufführung geäußert und gebeten haben, diese zumindest im vierten Akt bescheidener zu gestalten.⁵⁷ Mit Blick auf den überlieferten Dramentext erscheinen diese Kritiken auch in der Retrospektive durchaus berechtigt. Die Handlung des fünfaktigen Trauerspiels findet an nur vier Schauplätzen statt, die Szenenangaben fallen denkbar knapp aus und entwickeln keinerlei visuelle Ästhetik der verschiedenen Altertumskulturen: Die ersten drei Akte spielen in Zelten, die kaum näher beschrieben werden – der erste und dritte Akt in Darius’, der zweite in Alexanders Zelt –, der vierte Akt, zu dem Schinkel die prächtige offene Halle entwarf, in der „Vorhalle in Persepolis“,⁵⁸ der fünfte Akt, in dem Darius stirbt, in einer „buschige[n] Gegend, durch welche ein Quell fließt“.⁵⁹ Der weitgehende Verzicht auf persisch-orientalische Prachtentfaltung und griechische Szenerien ist nicht allein mit der Unerfahrenheit eines jungen Dichters mit Bühnenanweisungen zu erklären. Vielmehr liegt er in der Konstruktion von Uechtritz’ Drama begründet, das ganz auf die Konfrontation zweier unterschiedlicher tragischer Charaktere baut, die allenfalls am Rande durch das persische und griechische Altertum konturiert werden. Nur in Nebenschauplätzen wird das alte Persien aufgerufen, etwa durch die Referenz auf die Stärke des ehemaligen König Xerxes,⁶⁰ durch die Aufzählung der verschiedenen exotischen Völker, die Darius untertan sind,⁶¹ und durch die bereits erwähnte kurze Szene, in der Darius seinen Arzt willkürlich zum Tode verurteilt (I/8), die den Topos des orientalischen Gewaltherrschers aufruft. Die Schlagkraft dieser Szene wird indes sofort zurückgenommen, indem sich der König schnell besinnt und von der Hinrichtung absieht. Zur Charakterisierung von Darius tragen diese persischen Kolorierungen damit kaum etwas bei. Seine Tragik liegt vielmehr darin begründet, ein zu „sanftes, melancholisches Gemüth“⁶² zu haben, das ihn für die So in einer Anmerkung der Redaktion zur Kritik zu Alexander und Darius von Beyfus in der 10. Ausgabe des Beiwagen für Kritik und Antikritik (Sp. 5, ***). Vgl. dazu in Gubitz’ Kritik des Dramas: „Wir hören mit wahrhafter Freude, daß, auf Veranlassung des Dichters, im vierten Akt der übermäßige Opern-Luxus gemindert wird, wie dies auch im Allgemeinen bei diesem Trauerspiel geschehen könnte.“ (Gubitz: „Alexander und Darius“, S. 227 f.). Uechtritz: Alexander und Darius, IV, S. 84. Ebd., V, S. 104. Vgl. etwa ebd., I/3, S. 9 und III/2, S. 61. Vgl. Darius’ Befehl vor der entscheidenden Schlacht gegen Alexander: „Führe Du, Spithraces, / Das Volk der Inder, eingehüllt in weiche, / Baumwoll’ne Schmuckgewande! Du, Phraortes, / Die schwärzlichen Gedrosier, die Hyreanier / Und die Nomaden der Mongolischen Steppen! / Daphernes, Du die bogenkundigen Parther, / Zerstreut auf Rossen fliegend durch die Schlucht, / Die pelzumwickelten Caspier und Utier / Und der Sagartier wilde Jägerschwärme, / Den Feind in Schlingen fangend, wie ein Raubthier! / Du, Bessus, ordne Deine Bactrier, / Die goldumrauschten Meder und Assyrier! / Allein die Perser und Armenier führe, / Von meines Wagens hohem Sitz herab, ich selbst!“ (Ebd., III/1, S. 57 f.). Ebd., I/3, S. 8.
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erfolgreiche Reichs- und Kriegsführung ungeeignet macht, und in der Problematik, dass er König sein muss und sich nicht in das eigentlich gewünschte Leben mit seiner geliebten Statira zurückziehen kann. Die Dynamik des dramatischen Konflikts entsteht also aus dem Gegensatz zwischen einem sensiblen Herrscher, der auf privates Glück bedacht ist, und dem jungen Alexander, der auf seine eigene Kraft und seinen Eroberungswillen vertraut. Uechtritz’ Drama kreist um diese unterschiedlichen Herrschercharaktere, die Konfrontation zweier alter Kulturen ist dabei nur sekundär. Die aufwändigen historisierenden Kostüme und Dekorationen von Brühl und Schinkel, mit denen die beiden Altertümer visuell bei der Aufführung in den Fokus gerückt wurden, standen daher wohl in der Tat quer zur Eigendynamik des Dramentextes. Von den frühen Alexanderdramen wartet allein Clärobscürs Darius und Alexander mit ausführlichen Angaben zur Kostüm- und Bühnenausstattung auf.⁶³ Im Vorwort zu seinem Trauerspiel verweist der Autor darauf, dass er es beim Schreiben ausdrücklich nicht als Lesedrama, sondern „für die Aufführung bestimmt“ habe. Er sieht sich daher veranlasst, einige Anmerkungen zu machen, „unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen er sich die günstigste Wirkung derselben auf dem Theater möglich denke“. Kernpunkt ist, dass das Drama „vornehmlich was Darius und seine Umgebung betrifft, in den ersten vier Acten mit Pracht gegeben werden“ müsse. Denn erst „in dem Contrast der hohen Einfachheit Alexanders mit der zwecklosen Verschwendung des über bloßem Prunk das Wesentliche vergessenden Darius“, würden die Figuren ihre Konturen gewinnen: „Diese Pracht ist demnach, als Mittel der Versichtbarung des Characters jenes unglücklichen Königs [Darius, F.K.], – unentbehrlich!“⁶⁴ Es ist signifikant, dass Clärobscür in seinem Trauerspiel tatsächlich viel Tinte für die Beschreibung der persischen Pracht in Regieanweisungen fließen lässt, die Darstellung griechischer Szenerien dagegen weitgehend vernachlässigt. Anders als in Uechtritz’ Trauerspiel, in dem Darius und Alexander gleichrangig als tragische Helden fungieren, ist bei Clärobscür eindeutig Darius der Held, um den das Stück kreist. Er ist die weitaus komplexere Herrscherfigur: einerseits grausamer Despot, der seinen griechischen Getreuen Charidemus zum Tode verurteilt, weil dieser ihm die Wahrheit über die überlegene griechische Kriegsführung sagt, andererseits mild und schwach gegenüber dem persischen Oberfeldherrn Beßus, der ihn am Ende umbringen wird; sowohl tapferer Krieger auf dem Schlachtfeld als auch ein entscheidungsschwacher
Auch Beils Alexander von Macedonien spielt nur wenig mit den visuellen Potentialen der verschiedenen Altertümer. Allerdings zeigt die letzte Szene einen großen Platz in Babylon, auf dessen rechter Seite ein „mit orientalischer Pracht geschmückter, Thron“ steht, an dem die „Gesandten von Carthago, Spanien, Italien und Griechenland“ vorbeiziehen, wobei alles „von der höchsten, verschwenderischesten Pracht“ zeugen soll (Beil: Alexander von Macedonien, [Letzte Scene], S. 155). Der Schluss des Dramas orientalisiert damit Alexander und funktioniert – im Gegensatz zum restlichen Stück – wesentlich durch das Aufrufen von visueller Prachtentfaltung. Die Szene hebt sich auch dadurch vom Rest des Dramas ab, als sie nicht dem letzten Akt zugeordnet ist, sondern dezidiert als „Letzte Scene“ bezeichnet wird. Clärobscür: Darius und Alexander (Vorwort), S. VIII.
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Anführer; im Umgang mit Alexander zunächst herablassend, dann voll Bewunderung. Demgegenüber ist sein Widersacher Alexander bis zum Ende ungebrochen voll „Großmuth und Edelsinn“⁶⁵ gegen Griechen und Perser gleichermaßen. Alexander bleibt als Figur blass, er ist die Folie, von der sich der zerrissene Charakter des Darius abhebt. Mit dieser Ungleichverteilung der Aufmerksamkeit auf die beiden Figuren korrespondiert die unterschiedliche Mühe, die auf die visuellen Eigenheiten des persischen und des griechischen Altertums verwendet werden. Weder Alexanders Kleidung noch seine Waffen oder die Gegenstände, die ihn umgeben, werden beschrieben. Allein sein Zelt wird charakterisiert, allerdings nur als „höchst einfach[]“.⁶⁶ Wie Alexanders edler Charakter Folie für denjenigen des tragischen Helden Darius ist, so ist die griechische Simplizität der Hintergrund, von dem sich umso deutlicher der persische Luxus abhebt. Dieser Luxus wird insbesondere im zweiten Akt ausführlich beschrieben, der mit einem Opferzug beginnt, um die persischen Götter für die anstehende Schlacht gegen Alexander gnädig zu stimmen. Eine lange Regieanweisung entwirft nicht nur detailliert das Geschehen, sondern bietet auch einen Schnellkurs in persischer Ikonographie und Kulturgeschichte: Zwölf Jünglinge in Purpurgewändern, Sinnbilder der Monate, folgen [den Magiern, F.K.]. Hinter ihnen wird von Männern in weißen Gewändern an goldnem Zaume das schneeweiße Sonnenpferd geführt. Ihnen folgen: a) die Unsterblichen (immortales – Curtius B. 3. c. 3.); ihre Talare und Waffen sind golden und mit Edelsteinen reich besetzt, goldne Ketten schmücken sie. b) Die Königsverwandten, alle in verschiedenfarbigen prächtigen Kleidern, jedoch ohne Waffen. c) Die königlichen Trabanten, mit goldnen Speeren bewaffnet. Sie gehen unmittelbar vor dem Wagen des Königs. Diesem zu beiden Seiten werden von Trabanten auf hohen silbernen Stangen befestigt goldne Adler (mit ausgebreiteten Flügeln) getragen *). [Die Anmerkung lautet: *) Man sehe hierüber Brissonius de regio Persarum principatu pag. 766].⁶⁷
Die Regiebemerkung geht noch ausführlich weiter. Das aufwändige Kostüm des Königs wird beschrieben sowie die restlichen Teilnehmer des Zugs, an dessen Ende „Kameele“ und „schwarze Verschnittene“ laufen.⁶⁸ Die Regieanweisung schließt mit einer Fußnote: **) Diese Beschreibung ist ein unsern Theatern ohngefähr angepaßter Auszug aus der Beschreibung in Curtius B. 3. c. 3. wo der Aufzug des Darius noch weit prächtiger geschildert ist. Die Pracht dieses Aufzugs ist übrigens wegen des Contrasts mit dem nachherigen Elend, und mit der Einfachheit Alexanders, unentbehrlich.⁶⁹
Clärobscür: Darius und Alexander, IV/1, S. 74. Ebd., III/1, S. 45. Clärobscür: Darius und Alexander, II/1, S. 18 f., Hervorh. i.O. Ebd., II/1, S. 19. Ebd., Hervorh. i.O.
4.2 „Die Pracht dieses Aufzugs ist […] unentbehrlich.“
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Clärobscür will im Vorwort sein Trauerspiel ausdrücklich als „historische[s] Schauspiel[]“⁷⁰ verstanden wissen und versichert seinen Leserinnen und Lesern, dass er „in den Hauptbegebenheiten von der Geschichte fast nie, aber auch bei minder bedeutenden Ereignissen nur aus wichtigen, durch die Oeconomie des Stücks und die Beschränkungen unsers Theaters nothwendig gemachten Gründen abgewichen“⁷¹ sei. Zur Verifikation einer so verstandenen Historizität des Textes dienen die zahlreiche Fußnoten, die für bestimmte Szenen und Beschreibungen die jeweiligen antiken Quellen oder die zeitgenössische Forschungsliteratur nennen. Darius und Alexander ist damit ein frühes Beispiel für jenes literarische Phänomen, das vor allem aus dem späteren 19. Jahrhundert in Prosatexten unter dem Stichwort des ‘Professorenromans’ bekannt wurde.⁷² Die genaue Schilderung des Opferzuges dokumentiert in Darius und Alexander die historische Korrektheit des Dramas. Diese Funktion erfüllt sie allerdings insbesondere dann, wenn man das Trauerspiel – entgegen Clärobscürs Ansage – als Lesedrama versteht. Denn obgleich der Autor im Vorwort versichert, es handle sich um einen Text, der zur Aufführung bestimmt sei, entfaltet das Gros der erläuternden Informationen seinen Sinn allein in der Lektüre der Regieanweisung und nicht in der Darstellung auf der Bühne. Die Angabe, die Jünglinge zu Beginn des Opferzuges versinnbildlichten die Monate des Jahres, die korrekten, aber visuell unerheblichen Bezeichnungen der persischen Gruppen als „Unsterbliche[]“, „Königsverwandte[]“ oder „Verschnittene“, die „Kameele“, die über die Bühne schreiten sollen, und die zahlreichen Quellennachweise machen das Trauerspiel allen Beteuerungen von Clärobscür zum Trotz nicht zur Spielvorlage, sondern zum gelehrten Lesedrama.⁷³ Von den frühen Alexanderdramen von Beil und Uechtritz, in denen die Ausstattung kaum eine Rolle spielt, aber auch von Clärobscürs professoralen Lese-Regieanweisungen hebt sich die Bühnenästhetik der Altertümer in den Alexanderdramen, die um 1870 publiziert wurden, deutlich ab. So gleichen sich die beiden Alexanderdramen Georg von Preußens auf signifikante Weise in ihrer Tektonik insofern, als jeder neue Akt jeweils mit einem neuen Hauptspielplatz korreliert:⁷⁴ Im Alexanderzug (1868)
Ebd., (Vorwort), S. IX. Ebd., (Vorwort), S. VII, Hervorh. i.O. Vgl. dazu zuletzt Timm Reimers: Der ‚Professorenroman‘ zwischen Imagination und Evidenz. Zur Funktion der Paratexte in den Romanen von Georg Ebers und Ernst Eckstein, in: Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus, hg.v. Ernst Osterkamp und Thorsten Valk, Berlin, Boston 2011, S. 199 – 215. Vgl. hierzu auch Anke Detkens These, dass „Regiebemerkungen dann umfangreich und variationsreich formuliert werden, wenn sie nicht zur Bühnenpraxis, sondern zum Leser im Verhältnis stehen.“ (Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009 [Theatron, Bd. 54], S. 392). Dass Georg von Preußen die Aufführung seiner Dramen im Blick hatte, zeigt sich darin, dass er eine Lese- und eine Bühnenversion seiner Texte anbietet, indem er Verse, die bei der Aufführung weggelassen werden können, durch Anführungszeichen markiert. Mit dieser seltenen Praxis bietet er eine Lese- und eine Strichfassung in einem Druck, wobei er vor allem reflektierende Passagen für die Bühnenfassung streicht. Von seinen zahlreichen Dramen, darunter auch weitere Altertumsdramen,
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spielt der erste Akt in Persepolis, der zweite in Indien und der dritte in Babylon. Der Alexandros (1868) führt in fünf Akten vom makedonischen Aigai über das Heiligtum des Zeus Ammon in der libyschen Wüste, Persepolis und Indien schließlich nach Babylon. Die Regieanweisungen geben in knapper, präziser Theatersprache Auskunft über die visuellen Bestandteile der jeweiligen Schauplätze. So wird etwa im Alexandros die Dekoration zum Heiligtum des Ammon als „Oasis. Prachvolle Vegetation, hohe Palmenbäume, klare Quellen, zur Rechten der Tempel des Amun-Ra (Zeus Ammon), im Hintergrunde die libysche Wüste“⁷⁵ beschrieben, Indien soll als „blühendes Thal; [mit] hohe[n] Tempel[n] und Pagoden zwischen Palmenbäumen“⁷⁶ dargestellt werden, und in Babylon sollen Durchsichten von einem „Badezimmer in dem kleinen Palast zu Babylon“ den Blick „auf den großen Teich der königlichen Bäder“ sowie „den Euphrat und den am andern Ufer gelegenen großen Palast […], neben welchem man die hangenden Gärten der Semiramis und den Belusthurm erblickt“, freigeben.⁷⁷ Die Korrespondenz von je einem Akt mit je einem kulturell neuen Hauptschauplatz ist mit Blick auf die Bühnenästhetik strategisch zu verstehen: In der Tektonik der Aufzüge mit ihren wechselnden Hauptschauplätzen wird die Reichweite von Alexanders Eroberungszügen visuell erfahrbar. Sie schlägt sich darüber hinaus auch in Details nieder, etwa in Alexandros’ „[p]rachtvolle[m] Zelt“, das im vierten Aufzug des Alexandros „mit griechischen, persischen und indischen Waffen geschmückt“ ist und so die verschiedenen Stationen des Feldzuges repräsentiert und zugleich zusammenführt.⁷⁸ Die Ausstattung konturiert damit die Zielrichtung des Alexandros, in dem der Titelheld als Feldherr entworfen wird, der eine Synthese der verschiedenen Kulturen anstrebt. Noch deutlicher als Georg von Preußen kalkuliert Hans Herrig in seinem Alexander bühnenästhetisch mit den visuellen Effekten der verschiedenen Altertumskulturen.⁷⁹ Das zeigt schon ein kurzer Blick auf Anfang und Ende des Stücks. Der erste Aufzug setzt mit einer ausführlichen Regieanweisung ein: Audienzhof des Königs Darius. Assyrisch-persische Architektur. In der Mitte des Hintergrundes der Thron, dessen Gardinen herunter gelassen sind. Zu beiden Seiten desselben Thore, durch geflügelte Stiergenien gebildet; ebenso vorn am Proscenium. An den Wänden hervorspringende Colossalstatuen der vier ersten persischen Könige. Vorn in der Mitte ein Altar, auf dem das heilige Feuer brennt. ⁸⁰
wurden einige aufgeführt, so beispielsweise der Alexandros im Oktober 1882 im Stadttheater Düsseldorf. Conrad: Alexandros, II/1, S. 45. Ebd., IV/1, S. 101. Ebd.,V/1, S. 125. Auch Georg von Preußen gibt in einigen wenigen Anmerkungen eine Quelle an, so wird der Blick auf die königlichen Bäder mit einem Hinweis „S. Plutarch“ versehen. Ebd., IV/1, S. 101. Paradoxerweise war das Drama allerdings nicht als Bühnenstück, sondern als Lesedrama erfolgreich. Zwischen 1872 und 1888 erschienen immerhin drei Auflagen des Dramas, während im selben Zeitraum, soweit ersichtlich, keine einzige Aufführung des Stücks auf die Bühne kam, was Herrig in der zweiten Auflage des Dramas von 1880 dazu veranlasste, dezidiert auf die Bühnentauglichkeit der Tragödie hinzuweisen. Herrig: Alexander (1872), I/1, S. 1.
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Die hier eingeführten Skulpturen spielen im Folgenden eine Schlüsselrolle für die Machtdemonstration Persiens und später auch Griechenlands. So erklärt im ersten Akt ein griechischer Gesandter Darius im Namen Alexanders den Krieg (I/5). Der Bote trägt den Namen Leonidas, mit dem auf die Schlacht bei den Thermopylen angespielt wird, die trotz Persiens Sieg bekanntlich als Sinnbild griechischen Heldentums in das kulturelle Gedächtnis einging.⁸¹ Auf die Kriegserklärung durch den Boten mit dem symbolträchtigen Namen reagiert Darius mit einem gelassenen Verweis: Darius Weißt du nicht, welchen Stamm’s Darius ist? Ein Enkel Jener bin ich, die du schaust, In meinen Adern fließt ihr Götterblut. Die sich auf diesen Thron gesetzt, sie sind Wandlungen nur desselben Königthums. Les’t ihm die Schriften vor, die Ruhms-Urkunden Der Herrscher Persiens und die meinen drum. Die Inschriften am Piedstale der Königsstatuen werden wie folgt vorgelesen. ⁸²
Die angesprochene Überlegenheit persischen Königtums materialisiert sich im Bühnenbild in den Statuen. Eine besondere Rolle kommt dabei den Inschriften auf den Skulpturen zu. In etwas anderer Anordnung gleicht die Beschreibung der Bühnendekoration des ersten Aufzuges in der überarbeiteten Auflage im Wesentlichen derjenigen aus der ersten Auflage.⁸³ Aber in der überarbeiteten Auflage werden die Inschriften auf den Statuen als „Keil-Inschriften“⁸⁴ präzisiert. Mit der Erforschung und Entzifferung der Keilschrift, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großes Aufsehen erregt hatten, war diese im Laufe des 19. Jahrhunderts zum festen ikonographischen Inventar verschiedener altorientalischer Völker geworden. In Herrigs Drama ist sie nicht allein dekorative Kulisse, sondern zentrales ästhetisches Element der Dramaturgie des Dramas. Der Grieche Leonidas kann die Inschriften nicht lesen, aber sie werden ihm auf Befehl des Königs (in beiden Fassungen des Dramas) von vier verschiedenen Persern laut vorgelesen. Nach dieser Entzifferung erweisen sich die Statuen als Abbilder der vier großen persischen Herrscher Kyros II., Kambyses II., Dareios I. und Xerxes, deren Ruhmestaten für Persien in den Inschriften kurz umrissen
Vgl. zur Rezeption der Thermopylenschlacht die einschlägige Studie von Anuschka Albertz: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2006 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 17). Herrig: Alexander (1872), I/5, S. 10. Die Regieangabe lautet in der überarbeiteten Fassung: (Königshof in Persepolis. In der Mitte der rechten Seite der Thron auf einer hervorspringenden steinernen Erhöhung, zu welcher eine Treppe emporführt. Derselbe kann durch einen Vorhang verhüllt werden. Zu beiden Seiten Thore. An der andern Seite gleichfalls zwei Thore. Zwischen denselben, dem Throne gegenüber, ein Altar, auf welchem das heilige Feuer brennt. Die Rückwand ist mit Skulpturen geschmückt: vier Königsfiguren von übermenschlicher Größe mit Keil-Inschriften), Herrig: Alexander (1888), I, S. 1. Ebd.
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werden. Leonidas zeigt sich von den vorgetragenen Versen allerdings wenig beeindruckt und ruft, unberührt von den „stolzen Monumente[n]“, die nur „Erinnerung“ seien, gegen die behauptete Konstanz persischer Überlegenheit die persische Niederlage von „Marathon“ ins Gedächtnis.⁸⁵ Griechisches Selbst- und Geschichtsbewusstsein treffen damit auf orientalisch-statische Machtbehauptung. Der Fortgang des Dramas gibt Leonidas’ Selbstbewusstsein recht. Denn am Ende des zweiten Akts wird Darius auf seinem eigenen Thron von dem persischen Verräter Bessus erdolcht. Mit bemerkenswertem Bewusstsein für die Macht der Bildersprache verwehrt Bessus seinem König, sich in die Reihe der großen vier persischen Könige einzureihen, indem er, schon auf der Flucht aus dem Saal, noch einmal umkehrt, um die Vorhänge vor dem Thron zuzuziehen, mit dem höhnenden Kommentar: „Misch dich, nachäffend solch ein steinern Denkmal, / Nicht in die würdige Gesellschaft ein.“⁸⁶ Am Schluss des Stücks (V/9 – 13) wird die Dekoration des Königshofs in Persepolis, die im ersten und zweiten Akt eine so große Rolle spielt, wieder aufgenommen, allerdings mit einer signifikanten Erweiterung: (Erste Decoration des ersten Actes. Alles ist wiederhergestellt. Außer den Statuen des persischen Königs auch noch die des Alexander und Achilles. Alles ist genau wie im ersten Aufzuge.) ⁸⁷
Im Medium der Skulptur stehen hier Persien und Griechenland in einem Saal vereint. Angezeigt werden damit Alexanders Bemühungen um eine Einigung der beiden Reiche. Aber so wie die (Keil‐)Inschriften auf den persischen Königsstatuen im ersten Akt die vergangene Glorie Persiens heraufbeschwören, so werden auch die Schriftzüge auf den beiden neu hinzugekommenen griechischen Skulpturen zum schlechten Omen. Denn nicht nur in den Statuen nimmt der Schluss das Geschehen des ersten Aktes auf: Nun sitzt Alexander auf dem Thron, auf dem im ersten Akt Darius Platz genommen hat. Der makedonische Feldherr ist schon schwer krank und dem Tode nah. Und wie im ersten Akt ein Abgesandter Griechenlands vor den persischen König tritt, will sich im letzten Akt ein römischer Bote Gehör bei Alexander verschaffen.⁸⁸ Allerdings erklärt der Römer Alexander nicht wie zuvor Leonidas Darius den Krieg, sondern will „Freundschaft und ein treues Bündniß“⁸⁹ anbieten. Auf dieses friedliche Ansinnen
Herrig: Alexander (1872), I/5, S. 12. Ebd., II/14, S. 46. Ebd., V/9, S. 105. Einiges spricht dafür, dass hier eigentlich die vier Statuen der persischen Könige (im Plural) gemeint sind – denn so ist die Dekoration im ersten Akt beschrieben, die hier aufgenommen werden soll, und auch in der überarbeiteten Fassung ist in der Regieanweisung von den Königsstatuen im Plural die Rede, vgl. Herrig (1888), V/9, S. 104. Für eine römische Gesandtschaft, die im Jahr 323 v.Chr. bei Alexander in Babylon eingetroffen sein soll, gibt es zwar keine sicheren Zeugnisse, aber doch eine Reihe von Überlieferungssträngen, vgl. Arrian VII, 15.4– 6; Kleitarchos Fragment 23 und Plinius Hist. Nat. 3, 5, 57. Herrig: Alexander (1872), V/12, S. 113.
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reagiert Alexander indes ähnlich schroff und machtbewusst wie Darius zuvor gegenüber Leonidas: Alexander
[…] Geh hin, geh heimwärts, sage deinen Römern, Ich käme bald. Sahst du die Krieger nicht, Nicht die unzählgen, meinem Wink bereit? Erfuhrst du nicht, daß ich ein Göttersohn? Hast von Achilles du gehört? Schau dort, Wie heißt’s am Bild? Hephästion (lesend) Die Inschrift lautet kurz: „Ich bin Achill.“ Alexander Und dort an jenem Stein, Der meine Züge trägt! Lies ihm auch die. Perdikkas „Ich übertraf Achill.“⁹⁰
Wie Darius im ersten Akt die (Keil‐)Inschriften zur Machtdemonstration gegenüber Griechenland nutzt, so weist auch Alexander jetzt seine Feldherren an, dem Römer die griechischen Inschriften vorzulesen, um seinen eigenen Ruhm herauszustellen. Darius wird vernichtend von den Griechen geschlagen und stirbt im darauffolgenden Akt durch Bessus’ Hand. Auch an Alexanders Machtdemonstration durch die Skulpturen und Inschriften schließt sich sein Ende an. In einer letzten ausführlichen Figurenrede entwirft er in einem visionären Rundumschlag ein Panorama an Stätten, die es zu erobern gelte – von Arabien über Afrika, Karthago, Rom, Hispania und Atlantis – und ernennt sich zum neuem Zeus, bevor er sterbend in die Arme des römischen Boten fällt: Alexander […] Die Welt ward mir zum Eigenthum gegeben, Und das, was mein ist, nehm ich in Besitz. Wenn nun mein Werk gethan, so gründ ich mir Hoch auf dem Kaukasus die Königsburg, Den Wolken nah, damit aus ihnen ich Den Blitz des Göttervaters langen kann. Ein neuer Zeus sitz ich auf diesem Thron, Die gold’ne Zeit steigt aus dem Chaos auf, Und herrschen werd ich – herrschen – (Bei den letzten Sätzen ist er aufgestanden und auf die untersten Thronstufen getreten. Seine Stimme wird immer matter. Das letzte Wort murmelt er in die Arme des Römers sinkend.) Römer Du wollt’st zuviel und stirbst nun in Roms Hand!⁹¹
Die Skulpturen mit ihren Inschriften zeigen in ihrer statischen Materialisierung vergangenen Ruhms damit sowohl im ersten als auch im letzten Akt große historische Umschwünge an: Das persische Großreich wird abgelöst durch Alexanders Reich, der auftretende Römer im fünften Akt zeigt die spätere epochale Bedeutung Roms an.
Ebd., V/12, S. 114. Ebd., V/12, S. 115.
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Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer
In Herrigs Drama sind das Bühnenbild und die Ikonographie der Altertümer damit fester Bestandteil der dramaturgischen Konstruktion. Offensichtlich ist sein Drama mit Blick auf die Beschaffenheit der zeitgenössischen Bühne geschrieben. Davon zeugt auch ein Nachtrag in der überarbeiteten Fassung des Textes von 1888. In beiden Fassungen treten sowohl im ersten Akt vor Darius als auch im fünften Akt vor Alexander je vier Gesandtschaften aus dem Kaukasus, Indien, Turan und Ägypten auf. In der ersten Fassung des Dramas aber sprechen diese vier Völker ausführlich von ihrer Heimat und erläutern den Tribut, den sie Darius entrichten. Während aus dem Kaukasus „[k]unstreiche Waffen, Hörner, zott’ge Felle“ kommen, führt der Inder Sklaven und einen Elefanten mit sich, der „Turanier“ hat „schnelle[] Rosse“ dabei, und der Ägypter schließlich bringt reiche „Gaben“ aus dem Land der Pharaonen, Pyramiden und Sphingen.⁹² Obwohl dieselben Boten auch in der überarbeiteten Fassung zweimal auftreten, sind ihre Verse dort gestrichen, wofür Herrig im Nachtrag zum Drama folgende Begründung anführt: Ich habe sie [die Verse der Boten, F.K.] fortgelassen, weil ich der Ansicht bin, daß sie nur bei der allerreichsten Ausstattung ihren Zweck erreichen, wenn das Auge genugsam beschäftigt ist und möglichst Alles sieht, wovon die Gesandten reden. Im anderen Falle muß eine solche Schilderung auf der Coulissenbühne langweilen, während sie im Gegentheil auf der coulissenlosen Volksbühne, welche sich von vornherein ausschließlich an die Phantasie wendet, Eindruck machen würde.⁹³
Herrig rechnete also mit verschiedenen Bühnenkonventionen. Seiner ersten Fassung gewachsen sah er nur Bühnen mit anspruchsvoller Ausstattungspraxis oder aber solche, die fast ohne Ausstattung auskamen. Da er aber offenbar davon ausging, dass sein Stück voraussichtlich auf einer durchschnittlichen Kulissenbühne gespielt werden würde, schien es ihm angeraten, auf eine allzu ausführliche Beschreibung der vier Völker durch Figurenreden zu verzichten. Mit einer solch komplexen und genau durchkomponierten Bildregie heben sich Herrigs Alexander, aber auch Georgs von Preußen Alexandros und der Alexanderzug von den früheren Alexanderdramen ab. Dies gilt auch, wenngleich in eingeschränkterem Maße, im Vergleich zu Clärobscürs Trauerspiel Darius und Alexander aus dem Jahr 1826. Letzteres baut relativ schematisch auf den dualen Gegensatz von persischer Pracht und griechischer Einfachheit, einer Einfachheit zudem, die nicht in präzise Szenenangaben übersetzt wird. Die ausführlichen Regieanweisungen zu den persischen Kulissen und Kostümen mit ihren erläuternden Zusätzen und den Nachweisen der jeweiligen antiken Quellen erfüllen ihre Funktion zudem entgegen Clärobscürs Intention sehr viel mehr in einem Lesedrama als in einem Aufführungstext. Zwei Gründe lassen sich für diesen Wandel der Bildregie von den 1820er zu den 1870er Jahren anführen: Zum ersten schlägt sich hier die Etablierung der historischen
Ebd., I/5, S. 8 f. Herrig (1888): Alexander (Nachtrag), S. 117.
4.3 „wie sich Griechenland mit Persien / Vereint“
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Aufführungspraxis nieder. Georg von Preußen kann 1868 davon ausgehen, dass auf der Bühne die Differenz von indischen, griechischen und persischen Waffen repräsentiert werden wird, und Herrig kann eine Bühne denken, in der komplexe Dekorationen und Kostüme angemessen ausgeführt werden. Zum zweiten zeigt sich hier aber auch eine gewandelte Epistemologie der Altertümer. Diese hatten sich bis 1870 nicht nur philologisch und altertumswissenschaftlich, sondern auch bühnenästhetisch so entschieden ausdifferenziert, dass ein souveränes Spiel mit ihnen möglich wurde.
4.3 „wie sich Griechenland mit Persien / Vereint“. Alexander als Figuration der Synthese Eine Wandlung im ästhetischen Umgang mit den verschiedenen Altertümern lässt sich in den Alexanderdramen nicht nur anhand des Bühnenbildes, sondern auch anhand der gesamten tektonischen Anlage der Dramen und der Zeichnung der tragischen Helden nachvollziehen. Eine wichtige Differenz wurde dabei schon mehrfach angesprochen: Während die Dramen der 1820er Jahre von Beil, Clärobscür und Uechtritz die Konfrontation des griechisch-makedonischen Alexander mit dem persischen Darius in den Mittelpunkt rücken, wird das Blickfeld in den Dramen der 1870er Jahren mindestens um Indien erweitert, in Nebenfiguren wie etwa dem römischen Boten bei Herrig auch um weitere Altertumskulturen. Damit korrespondiert ein weiterer Umstand, der die dramatische Konfiguration der Texte entscheidend beeinflusst: In den frühen Trauerspielen steht Alexander am Dramenschluss stets in der Blüte seiner Jahre und auf dem Höhepunkt seines Eroberungswillens, während die späten Dramen sämtlich mit seinem Tod enden. Schon hieraus ergibt sich eine andersartige Anlage der dramatischen Charaktere und der Bedeutungen, die Griechenland, Persien und später auch Indien in den Dramen jeweils zugesprochen werden. Alle Dramen eint dabei aber ein Grundzug: Alexander ist stets (auch) eine Figur, die darum bemüht ist, die verschiedenen Altertumskulturen in einem Reich aufgehen zu lassen. Damit wird ein altes Motiv aufgenommen, denn schon in der Antike werden Alexanders Feldzüge verbunden mit der Idee, dieser habe sich um eine „Synthese oder sozusagen Vermählung von Orient und Okzident“⁹⁴ bemüht. Die Syntheseleistung der Figur wird allerdings in den Dramen der 1870er Jahre weitaus stärker hervorgehoben als in den früheren Dramen der 1820er Jahre. Dieser Wandel lässt sich an der Reihe der Dramen gut ablesen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Argumentationsfiguren, mit denen Alexanders Feldzug gegen Persien begründet wird. In Karl Theodor Beils Alexander von Macedonien (1821) wird Alexander als starker Eroberer inszeniert, mit dem Willen, ein neues Reich zu gründen, und zugleich als Rächer früherer Schmach:
Wilhelm Halbfass: Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel, Stuttgart 1981, S. 19.
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Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer
Alexander […] Mich Bestimmte das Geschick zum Bildner und Zerstörer im Gebiet der Weltgeschichte; Das Aufgethürmte muß gebrochen werden, Daß neue Schöpfung neuen Raum gewinne! So bricht mein Schwerdt des Perserkönigs Macht So räch’ ich Griechenland an Asien, Und trage unsres Volkes hohe Bildung Ins Reich der überwundenen Barbaren; Ein nie gesehenes Beyspiel soll im Sturz Des persischen Kolosses klar bewähren, Daß nur der Geist erhabne Werke schafft!⁹⁵
Der hegelianisch-geschichtsphilosophische Ton des Dramas ist kaum zu überhören. Immer wieder beschwört Alexander die exzeptionelle Rolle, die er in der „Weltgeschichte“ spiele,⁹⁶ sowie den „Geist“ der „allgewaltige[n] Nothwendigkeit“, der ihn „[b]eherrscht und zwingt“, sie voranzutreiben.⁹⁷ Dieser weltgeschichtliche ‘Geist der Notwendigkeit’ ist konkret gefasst: Es ist die Durchsetzung von Bildung und Zivilisation, von „ew’ge[m] Geist des Rechtes und der Tugend“,⁹⁸ für die Griechenlands Expansion steht. Der Bildung der Griechen ist daher auch eine ausführliche philosophische, dabei dramaturgisch den Handlungsverlauf zugleich entscheidend hemmende Szene zwischen einem griechischen Bildhauer und Alexander gewidmet (II/6). In ihr wird nicht nur die Skulptur in hegelscher Manier als paradigmatische griechische Kunstform profiliert, sondern am Ende des Gesprächs präzisiert Alexander noch einmal, dass er im Geiste von Homer und Aristoteles das Schwert gegen Persien erhebe. Beil bemüht die klassische Opposition von Griechen auf der einen und Barbaren auf der anderen Seite⁹⁹ für ein Drama, in dem die Eroberung Persiens durch Griechenland paradigmatisch für den Fortschritt des ‘weltgeschichtlichen Geistes’ steht.
Beil: Alexander von Macedonien, I/5, S. 25 f. Vgl. etwa auch Alexanders Entgegnung auf die Prophezeiung eines Skythen, dass nichts von Alexanders Rache an Persien übrigbleiben werde: „Nichts, als der hohe Geist der Weltgeschichte, / Der durch die Helden auf die Menschheit wirkt.“ (Ebd., II/11, S. 77). Vgl. außerdem Alexanders Movens, weiter zu herrschen, nachdem er tief geknickt ist, weil er am Tod der vormaligen Vertrauten Parmenio und Klitus Schuld trägt: „Ich will / Die Rolle enden, die ich auf der Bühne / Der Weltgeschichte kühn begann; ich will / Sie enden, weil sie einzig ist.“ (Ebd., IV/8, S. 154). Ebd., I/5, S. 20. Ebd., I/5, S. 26. Nicht nur die Perser werden als Barbaren angesprochen, sondern ein Streitgespräch zwischen Alexander und einem Skythen, der sich nicht den Griechen unterwerfen will, greift diese Opposition ebenfalls auf, wenn Alexander dem widerständigen Wüstenvolk den geschichtsphilosophischen Fortgang von Geschichte nahezubringen versucht: „Die alte Roheit [sic!] muß der Bildung weichen, / Dieß ist der Menschheit ewiges Gesetz. / Die Scythen werden diesen Gang nicht hemmen. / Wo jetzt die Barbarei, die du als Tugend / Mir rühmest, haus’t, da werden Dörfer einst / Und Städte sich erheben, Wissenschaften / Und Künste prangen, Ueppigkeit und Pracht / Gedeihn, auch viele sanfte, schwergeprüfte, / Doch darum wahre Tugenden erblühen.“ (Ebd., II/11, S. 77).
4.3 „wie sich Griechenland mit Persien / Vereint“
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Das Verständnis von Griechenland als Bildungsträger ist auch in Clärobscürs Darius und Alexander (1826) das Movens für Alexanders Feldzug, wenngleich dies, auch wegen der Konzentration auf den tragischen Helden Darius, weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit steht als bei Beil. Erst am Dramenende, als Darius schon tot ist, entwirft Alexander ein umfassendes Zivilisationsprogramm, dann aber mit ähnlich programmatischem Charakter wie in Beils Alexander von Macedonien. So lauten Alexanders letzte Zeilen bei Clärobscür: Ja! Eine schönre Zeit steig’ golden nieder! Du [Darius, F.K.] warst zu mild für solcher Bosheit Stürme! Nicht ferner wüth’ in Persien freche Willkühr, Satrapenunterdrückung und Verrath, Bestechlichkeit der Richter, Aemterhandel! Der Würdigste gelang’ allein zu Würden! Allgegenwärtig reiche allen Völkern des Ueberflusses Horn der freie Handel, beschützt von meinem Arm, knüpf’ er die Länder Europas an die Fernen Asiens! Homers unsterblichen Gesängen lausche des Euphrats und des Tigris Blumenufer. Persepolis lern’ künftig deine Weisheit, mein großer Lehrer, ew’ger Stagirit! Weg allen Groll! – ein Brüderreich fortan sey Persien und Macedonien, Europa, Asien ein großes Reich!¹⁰⁰
Auch wenn Alexander in seinem Bestreben gezeigt wird, Europa und Asien zu vereinen – symbolträchtig ergreift er beim Sprechen dieser Zeilen die Hand des toten persischen Königs –, so steht hier doch Griechenland eindeutig als Bildungsträger da. Von Griechenland soll die „Weisheit“ ausgehen mit dem Ziel, Persien von Willkür und Verrat zu befreien, und zugleich sollen ökonomische Verbindungen beide Völker einen. In Uechtritz’ Alexander und Darius (1827) schließlich entspricht der gleichrangigen Gewichtung zweier tragischer Helden zwar eine grundsätzlich ähnliche Wertschätzung der Sitten Europas und Asiens. Aber auch hier beteuert Alexander gegenüber Hephästion, im Herzen stets Grieche zu bleiben, und führt dabei seine Liebe zu Homer, Aristoteles und Achill an, die letztlich berührender seien als der orientalische Zarathustra: So will ich Asiens Völker und Europa’s Zu einem heitern Sittentausche laden, So meinen Fremdlingsthron befestigen Mit der uralten Pracht des stolzen Asiens, Das seine tausendjährigen Gebräuche
Clärobscür: Darius und Alexander, V/7, S. 124, Hervorh. i.O.
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Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer
Mehr als des Lebens höchste Güter ehrt, Mehr als Homer’s Gesänge die Hellenen. Doch fürchte nicht, daß jemals Zoroasters Wortreiche Weisheit mich begeistern werde, Wie Ein erhab’ner Harfenschlag Homer’s! Auch im weitfaltigen Gewand der Meder Bleib’ ich der Enkel des Achill, der Schüler Des Aristoteles!¹⁰¹
Auch wenn die drei genannten Trauerspiele in den vorgetragenen Argumentationsfiguren leicht differieren, so überwiegen doch die Ähnlichkeiten: In allen drei Dramen wird Griechenland als Bildungsträger inszeniert und die Vereinigung von Europa und Asien – vor allem bei Clärobscür und Beil – als grundsätzlich hegemoniales Verhältnis gedacht. Zudem eint die Dramen ein starkes Augenmerk auf die Konfrontation und Konkurrenz von Persien und Griechenland, das damit korrespondiert, dass Darius stets ein ähnlich starker und stolzer Charakter ist wie Alexander. In den Dramen der 1870er Jahre wird der persische König dagegen zur Nebenfigur. Herrigs Darius ist ein „Schwächling[]“,¹⁰² der nach verlorener Schlacht einem „Säugling“¹⁰³ gleich, den Kopf in den Schoß seiner Mutter gebettet, schläft und bei Bessus (vergeblich) mit den Worten um sein Leben bettelt: „Ich biete dir mein Gold, ich biete dir / Die Krone meiner Ahnen. Laß mich leben.“¹⁰⁴ In Georg von Preußens Alexandros werden Dareios nur drei Szenen am Ende des zweiten Akts zugestanden, in denen er von Bessos ermordet und von Alexander gefunden wird. Im Alexanderzug desselben Autors schließlich wird auch diesem Sterben kein Raum mehr eingeräumt, sondern Darius ist als Leiche in einem Sarkophag nur noch Teil der Dekoration der ersten Szene des Dramas. Der Schwächung der dramatischen Figur des Darius entspricht eine komplexere Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Altertumskulturen, die einhergeht mit einer stärkeren Aufmerksamkeit auf Alexanders Bemühungen, diese differenten Kulturen in einem Reich zu vereinen. So wird in Herrigs Alexander, wie gesehen, Persien selbst als höchst diverses Reich visualisiert durch den Auftritt der verschiedenen Gesandtschaften aus dem Kaukasus, Indien,Turan und Ägypten im ersten und fünften Akt. Zudem werden der persische Darius und der griechische Alexander um eine indische Herrscherfigur ergänzt: Calanus. Der indische Weise Calanus, der Alexander antiken Quellen zufolge begleitet und sich vor den Augen von Alexanders Soldaten verbrannt haben soll, ist bei Herrig ein indischer König, der seine Herrscherwürde freiwillig abgetreten hat, um in einem Büßerhain zu leben, bevor er Alexander auf dem Feldzug nach Indien folgt. Das hegemoniale Verhältnis von Griechenland und Persien, das in den Dramen der 1820er Jahre inszeniert wird, ist hier aufgelöst zugunsten einer grundsätzlichen Pluralität der
Uechtritz: Alexander und Darius, II/4, S. 53. Herrig: Alexander (1872), II/15, S. 48. Ebd., II/13, S. 43. Ebd., II/13, S. 45.
4.3 „wie sich Griechenland mit Persien / Vereint“
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Altertumskulturen. In Herrigs Drama sind die Griechen weder den Persern noch den Indern (und schon gar nicht den Römern) überlegen. Auch wenn Darius ein schwacher König ist, bemerkt Alexander etwa den Vorzug persischer Krieger gegenüber den „steifen Bauern Macedoniens“ (ebd., V/3, S. 95). Vor allem aber Calanus wird als indische Positivgestalt inszeniert, in deren Angesicht Alexanders Ruhmessucht kritikwürdig erscheint.¹⁰⁵ Mit dieser gleichberechtigten Pluralität der Altertumskulturen korrespondiert eine größere Aufmerksamkeit auf Alexanders Anstrengungen, das diverse Weltreich zu vereinen. So werden etwa Alexanders diplomatische Bemühungen um Porus (IV/1) thematisiert, die Gründung Alexandriens spielt eine Rolle (IV/1), und die Ausbildung persischer Krieger in griechischer Kriegskunst wird mehrfach erwähnt (V/3 und V/5). Auch der Schluss visualisiert, wie gesehen, Alexanders Bemühung (und sein Scheitern), aus der Pluralität der verschiedenen Altertumskulturen heraus ein gemeinsames Reich zu schaffen – durch die Dekoration mit den persischen und griechischen Statuen und durch den Aufzug der unterschiedlichen Gesandtschaften, die Alexander huldigen. In den beiden Alexanderdramen Georg von Preußens steht die Frage, ob Alexanders Feldzug eine Geschichte der Konkurrenz oder der Synthese verschiedener Kulturen sei, im Zentrum der Texte. Diese Modi werden in beiden Dramen deutlich geschlechtlich kodiert. Denn sowohl im Alexanderzug als auch im Alexandros spielt Alexanders Mutter Olympias eine herausragende Rolle für die Vereinigung verschiedener Kulturen, während dessen eigener Antrieb zunächst vor allem auf Eroberungsund Ruhmeslust und zum Teil auch Rachegedanken fußt. So ist es Olympias, die im Alexanderzug ihren Sohn in Indien zur Umkehr bewegt, indem sie ihn davon überzeugt, dass er seine Tatkraft nunmehr nicht auf weitere Eroberungen, sondern auf die Einigung seines höchst diversen Reiches verwenden müsse: Alexander Nein, ich will weiter dringen, Mutter! Laß Die Waffen mich bis zu den fernsten Landen, Durch Indien’s glüh’nde Wunderreiche tragen! Viel Mährchenhaftes und Geheimnißvolles Birgt sich in jenen Fernen noch: ich muß Die Welt mir unterwerfen, ob bekannt, Ob unbekannt; zu lockend ist der Ruhm, Der dort mir blüht: o laß ihn mich erringen! Olympias Nur jetzt bezähme diesen Thatendrang! Du bist noch jung, Dir bleibt noch viele Zeit. Vor Allem gilt’s, das weite Weltenreich, Das Du gewonnen hast, mit klugem Sinn Und dauernd zu befest’gen. Traue nicht Dem eitlen Schein, der trügerisch Dich blendet!
Bei dieser Inszenierung spielen unverkennbar christliche Allusionen eine große Rolle: Calanus folgt einem „Stern“, der ihn über Darius, den falschen König, zum „der Männer Größten“ (ebd., I/5, S. 9) respektive Alexander führt. Am Ende verbrennt sich Calanus nicht wie der historischen Überlieferung zufolge, sondern stirbt im Büßerhain (IV/7). Dort befindet sich bereits ein vorbereitetes Grab für ihn, symbolträchtig verschlossen durch einen großen Stein, den Alexander für ihn zur Seite wälzt.
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Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer
Haß und Verrath und Mißgunst sind noch nicht Erschöpft; der Perser grollt dem schlauen Griechen, Der Grieche sieht im Perser den Barbaren, Unrein erscheint dem Inder jedes Volk, Das nicht an seine trübe Lehre glaubt, Der alles Irdische gehaltlos ist.¹⁰⁶
Dieser Dialog von Olympias und Alexander bezeichnet im Drama einen Wendepunkt im buchstäblichen Sinne: Alexander kehrt um und kümmert sich nun, seiner großen Sehnsucht nach weiterer Expansion zum Trotz, um die Aufgabe, die verschiedenen Kulturen zu einem Reich zusammenzufügen. Im letzten Akt, vom Tod seiner engsten Freunde schon schwer gezeichnet, fasst er, angetan in „persische[r] Königstracht“, sein Lebensziel noch einmal im Sinne Olympias zusammen: Allein muß ich das große Werk vollenden, Das Persien, Indien und Griechenland, Arabien und das düstere Aegypten Untrennbar fest zu einem mächt’gen Ganzen Zusammenfügt, wie sich in einem Guß Die edelsten Metalle unauflöslich Verschmelzen. Dann erst stehe ich am Ziele, Dann erst bin ich der Sohn des Zeus Ammon, Ein Gott der Menschheit!¹⁰⁷
Indes scheidet Alexander kurz darauf aus dem Leben in der Vorstellung, dass sein Werk am Ende wahrscheinlich unvollendet bleiben wird. Auch Olympias will nun sterben, weil sie ahnt, dass mit dem Tod ihres Sohnes das „Reich zerfällt“.¹⁰⁸ Statira schließlich – in diesem Drama Tochter des ermordeten Perserkönigs Darius und Alexanders Frau wider Willen – macht unmissverständlich deutlich, dass Alexanders Streben nach Einheit tatsächlich vollkommen gescheitert ist. In den Augen der Perserin war Alexanders Leben „[e]in sinnlos Blutvergießen“, er selbst Feind der Perser, ein „Unterdrücker“ sondergleichen, der noch dazu „der Vernunft“ seines eigenen Volkes, „[d]es stolzen Bürgervolks der Griechen“ gespottet habe, indem er sich Zeus Ammon genannt habe.¹⁰⁹ Die Tragik des griechischen Helden liegt im Alexanderzug darin begründet, dass die Konkurrenz der verschiedenen Altertumskulturen bestehen bleibt, seinen Bemühungen um eine Einigung zum Trotz. Der Alexandros desselben Autors kreist um die gleiche Problematik, aber die Gewichte sind leicht verschoben. Auch hier ist Alexandros’ Motiv für den Feldzug zunächst Rache an Persien. So ruft er nach dem Mord an seinem Vater Philipp die Makedonier zum Krieg gegen Persien mit den Worten auf:
Conrad: Der Alexanderzug, II/4, S. 220 f. Ebd., III/5, S. 245, Hervorh. i.O. Ebd., III/9, S. 261. Ebd., III/9, S. 256 f.
4.3 „wie sich Griechenland mit Persien / Vereint“
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Wir wollen nun das Riesenwerk beginnen, Das tief verhaßte Perserreich zerstören Und, wenn wir Rache an dem Feind genommen, Vom altersgrauen Throne Babylon’s Die Herrschaft über diese Welt verkünden, Die Herrschaft Deines Geistes, Griechenland!¹¹⁰
Ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Griechenland zu Persien entwickelt dagegen seine Mutter Olympias. So klagt die unglückliche Stateira, als die Niederlage ihres Vaters Dareios absehbar ist, gegenüber Olympias, dass die Perser von den „heiteren Hellenen“ allen kulturellen Leistungen zum Trotz als „Barbaren“ tituliert und zudem in ihrem Glauben an den „Gott des Lichts“ geringgeschätzt würden.¹¹¹ Daraufhin entfaltet Olympias ihr gegenüber ein synkretistisches Programm, das die differenten Völker vereinen und dessen politisches Symbol die Vermählung von Stateira mit Alexandros bilden soll: Olympias Das Göttliche, zu dem wir oft uns sehnen, Bleibt stets dasselbe, ist unwandelbar; Verschieden sind die Namen nur, die Bilder, Die aus der Menschen Seelen widerstrahlen. Stateira So denkt auch Alexander, denn er brachte Dem unsichtbaren Gotte der Ebräer, Den sie den einzig wahren und den Gott Der Rache nennen, seine Opfer dar, Wie auch dem Apis, jenem schwarzen Stier Zu Memphis, dem Aegypten knieend huldigt, Weil sich in ihm, so lehren es die Priester, Osiris offenbart. Olympias Ist es nicht klüger Den Glauben Andersdenkender zu schonen? Der Kern ist ja derselbe allenthalben, Verschieden nur die Form. Ist Amun-Ra Nicht Zeus Ammon, und dieser höchste Gott Nicht auch Ormuzd, den Ihr als Gott des Lichts Uns preist? Ist nicht derselbe auch den Indern Erschienen, die im Buddha Szakjamuni Das höchste Wesen ehren […]? Wie traurig ist es, daß der eine Gott, Verschieden von den Menschen aufgefaßt, Nun auch in viele Götterbilder sich Zertheilen muß. […] Stateira O wie hast Du mich beglückt, Erlöst durch diese Worte! Jetzt, erst jetzt Versteh’ ich Euch, versteh’ das Riesenwerk,
Conrad: Alexandros, I/3, S. 41. Ebd., S. 65.
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Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer
Das dieser Heros, den ein Gott uns sandte, Mit der Titanen wunderbarer Kraft hohem Siegsbewußtsein unternahm. […] Olympias (enthusiastisch) Nun wird es Licht in Deiner Seele, Freundin, Nun kannst Du auch ein großes Wort vernehmen: Wenn dieser Krieg geendet ist, dann muß Sich Griechenland mit Persien versöhnen […]. Stateira Wann bricht er an, der wunderbare Tag? Werd’ ich ihn sehn? Olympias Auch Du sollst glücklich werden, Und wie sich Griechenland mit Persien Vereint, wirst Du mit Alexander Dich Vermählen […].¹¹²
Anders als im Alexanderzug ist im Alexandros die Verbindung von Stateira und Alexandros als gelungene Synthese beider Kulturen inszeniert. Aber die politischsynkretistischen Pläne von Olympias, die auch Alexandros im Laufe des Dramas übernimmt, gehen über dieses Bündnis von Griechenland und Persien weit hinaus. Durch die Vermischung der Religionen und mithilfe der „Bildung Griechenland’s“ sollen vielmehr „Griechen, Perser, Inder und Aegypter, / Auch Araber und Scythen, die sich jetzt / Noch gegenseitig hassen und verachten, / Zum Schwerte greifen, wenn sie sich erblicken, / Und sich vernichten möchten, […] / […] sich in edler Menschlichkeit versöhnen“.¹¹³ Mit viel Sinn für Symbolkraft soll sich diese umfassende Vereinigung nicht nur in Alexandrien dokumentieren, der „Stadt, in der Europa, Afrika / Und Asien von nun an sich begegnen“,¹¹⁴ sondern auch im Turm zu Babel, den Alexandros als Zeichen des Endes der Sprachverwirrung vollenden will (V/3). Aber obgleich sich am Ende „Griechen, Perser, Inder, Aegypter, Juden, Priester aller Religionen“ einträchtig im „Thronsaal zu Babylon“ einfinden,¹¹⁵ zeigt auch dieses Trauerspiel einen tragischen Tod von Alexandros. Am Ende muss er mit ansehen, wie sich der wahnsinnig gewordene Pausanias, der Mörder seines Vaters Philipp, auf den persischen Thron setzt. Von dort aus klagt Pausanias Alexandros an, die „Menschheit“¹¹⁶ mit Füßen getreten zu haben. Auch hier werden noch einmal verschiedene Religionen aufgerufen, allerdings nunmehr zu Alexandros’ Diffamierung: Seid froh, daß ihr den Wütherich nicht seht! Die Schlange ist sein Vater; gab es nicht Ein Paradies, da sie verführerisch Um den Erkenntnißbaum sich ringelte? Die Schlange ist der Böse, und Zeus Ammon
Ebd., III/1, S. 66 f. Ebd., III/3, S. 74. Ebd., V/6, S. 142. Ebd., V/4, S. 136. Ebd., V/6, S. 147.
4.4 Fazit
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Trägt Hörner, Widderhörner; das ist auch Der Schmuck des Teufels, sagte mir ein Jude.¹¹⁷
Nach Pausanias’ Anschuldigungen stirbt Alexandros im tiefen Zweifel, ob er sich „[d]en Menschen und den Göttern aufgedrängt“¹¹⁸ habe. Das Schlusstableau allerdings ist gnädig, indem der gesamte, bunt durchmischte Hofstaat „in tiefer Rührung“¹¹⁹ vor dem toten Alexandros niederkniet. Conrads Alexandros lässt damit die Frage offen, ob dem Titelhelden die Synthese verschiedener Kulturen gelungen sei.
4.4 Fazit In der Gegenüberstellung der Alexanderdramen der 1820er und 1870er Jahre sind eine Reihe von ästhetischen Wandlungen im Umgang mit der Antike und den Altertümern sichtbar geworden. In den 1820er Jahren führte die duale Konstellation von Darius und Alexander in den Kern der dramentheoretischen Auseinandersetzungen der Zeit. Die kontrovers und breit geführte Diskussion im hegelianisch geprägten Beiwagen für Kritik und Antikritik hat dabei jene Affinität von hegelianischer Gattungstheorie und Altertumsdramen gezeigt, die im zweiten Kapitel dieser Studie schon angesprochen wurde. Die Hegelianer stürzten sich auf Uechtritz’ Alexander und Darius, weil sich die dramatische Konstellation der Konfrontation großer alter Helden offensichtlich paradigmatisch anbot für eine Dramen- und Tragödientheorie, in der die Gattung auf die Darstellung der Weltgeschichte in nuce festgelegt wurde. Dass man Uechtritz dabei grandios an Ansprüchen scheitern sah, die dem jungen Dichter selbst höchstwahrscheinlich niemals vorgeschwebt hatten, gehört zur Eigendynamik dieser Vereinnahmung der Altertumsdramatik durch die hegelianische Ästhetik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber auch abseits solch hegelianischer Pfade provozierte die Konfrontation von Alexander und Darius weitreichende dramen- und gattungstheoretische Auseinandersetzungen. Es war dabei insbesondere die Frage, wie antik und wie persisch ein modernes Drama in Form und Inhalt sein dürfe oder sein müsse, die die Kritiker umtrieb. Diese Frage galt in ähnlicher Weise auch für die Darstellung des Dramas auf der Bühne: Die Berliner Aufführung von Uechtritz’ Alexander und Darius geriet in die Kritik, weil Kostüme und Dekorationen allzu historisch das antike Persien vor Augen stellten. Die vielfach konstatierte historische Korrektheit in Bühnenbild und Kostüm, die mit Schinkels (Re‐)Konstruktion einer Halle im Palast von Persepolis weit weg führte von gewohnter Theaterikonographie, erregte Widerspruch, weil sie als ablenkend und zudem für ein Trauerspiel unpassend empfunden wurde. Dass auch
Ebd., V/6, S. 148. Ebd., V/6, S. 149. Ebd., V/6, S. 151.
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Kapitel 4: Alexander 1820/1870. Die Pluralität der Altertümer
Uechtritz selbst Einspruch gegen Brühls und Schinkels Darstellungsmodus erhoben haben soll, bestätigt,was die Analyse des Dramentextes zeigt: Alexander und Darius, in dessen Mittelpunkt der Konflikt zweier grundsätzlich verschiedener Herrschertypen steht, setzt nicht auf eine (visuelle) Ästhetik der Altertumskulturen. Die historische Kostüm- und Dekorationspraxis musste daher in der Tat die dramaturgische Konstruktion des Dramentextes unterlaufen. Indes setzte sich die historische Ausstattungspraxis, die Brühl so entschieden vertrat und mit der eine bühnenästhetische Ausdifferenzierung der Altertumskulturen einherging, im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend (wenngleich in unterschiedlicher Radikalität) durch. Dass dieser Prozess zeitlich versetzt auch in der Altertumsdramatik zu beobachten ist, hat die Analyse der Alexanderdramen der 1870er Jahre exemplarisch gezeigt: Während in den frühen Alexanderdramen keine oder wie bei Clärobscür eine überwiegend gelehrte und wenig bühnenpraktische visuelle Ästhetik der Altertümer entwickelt wird, stehen die visuellen Eigenheiten der Altertümer im ästhetischen Zentrum der Dramen der 1870er Jahre. Die aus der Theaterpraxis resultierende bühnenästhetische Ausdifferenzierung der Altertumskulturen ermöglichte nun einen souveränen Umgang mit den verschiedenen visuellen Potentialen der Altertümer, die über Clärobscürs auf antiken Quellen fußendes Wissen über Persien hinausging. Auch in der Tektonik der Dramen macht sich diese neue Souveränität bemerkbar. Während die frühen Dramen sämtlich die Konfrontation und Konkurrenz von Persien und Griechenland in den Blick nehmen, weitet sich das Spielfeld im Laufe des 19. Jahrhunderts merklich aus. Die seit der Antike immer wieder gestellte Frage, ob Alexanders Eroberungszüge eher als aggressive Expansion denn als großzügige und geniale Völkervereinigung zu werten seien, konnte erst durch diese Komplexität der pluralen Altertumskulturen in das Zentrum der Dramen rücken. Es war also ausgerechnet die neue ästhetische Pluralität der Altertümer, die Alexander in den Dramen und auf der Theaterbühne erneut zu einer Figuration der kulturellen Synthese werden ließ.
Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik In den Alexanderdramen der 1870er Jahren nutzten die Autoren, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, insbesondere die visuellen Valenzen differenter Altertumskulturen für die Dramaturgie der Stücke. Friedrich Hebbels Stücke kommen demgegenüber fast vollständig ohne die potentielle visuelle Exotik der verschiedenen Altertumskulturen aus und das, obwohl Altertümer in seinem Werk eine zentrale Rolle spielen: Wie kaum ein anderer Autor des 19. Jahrhunderts hat Hebbel in seinen Tragödien das ganze Spektrum der maßgeblichen zeitgenössischen Altertumskulturen ausgeschrieben. Charakteristisch ist in seinem Werk die regelmäßige Konfrontation mehrerer Altertümer miteinander. Schon in seinem Erstling Judith (1840 uraufgeführt, 1841 publiziert) ermordet die titelgebende ‘Ebräerin’ den assyrischen Hauptmann Holofernes. Das hebräische Altertum wird auch in Herodes und Mariamne (1849 uraufgeführt, 1850 publiziert) aufgerufen, dort intern noch einmal differenziert in die Hauptfiguren der Makkabäerin Mariamne und des judäischen Herrschers Herodes. Darüber hinaus entfaltet die Tragödie ein breites Panorama der Alten Welt: Der Text ist bevölkert von Galiläern, Römern und Persern, die ägyptische Herrscherin Cleopatra wird erwähnt, und die ‘drei Könige aus dem Morgenland’ künden am Ende von der Ära des Christentums. Ähnlich divers, zugleich aber weit konzentrierter gestaltet sich die Konstellation in der Tragödie Gyges und sein Ring (1855 erschienen, allerdings vordatiert auf 1856), für die Hebbel „Herodot’s alte Fabel“¹ umgeschrieben hat. Die drei Protagonisten, die bei Platon und Herodot allesamt Lyder sind, macht Hebbel zu Exponenten von drei verschiedenen Völkern des Altertums: Gyges ist Grieche, Kandaules Lyder, und seine Gemahlin Rhodope entstammt daher, „[w]o indische und griech’sche Art sich mischen“.² In den Nibelungen (1861 uraufgeführt, 1862 publiziert) muss Brunhild ihre Heimat – mit „Thor und Odin“³ und einer „Runentafel“⁴ unmissverständlich germanisch-nordisch kodiert – verlassen und gerät in Konflikt mit den höfisch-ritterlichen Burgundern. Auch in Hebbels Dramenfragment Moloch, sei-
T III, Nr. 5213, 14.12.1853. Hebbels Texte werden nach den folgenden Ausgaben zitiert: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria Werner, I. Abt.: 12 Bde., Berlin 1901– 1903 (zitiert als W); Tagebücher. Historisch-Kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria Werner, 4 Bde., Berlin 1907 (zitiert als T) und Briefwechsel 1829 – 1863. Wesselburener Ausgabe, Historischkritische Ausgabe in fünf Bänden, hg.v. Otfrid Ehrismann u. a., München 1999 (zitiert als B). Die Dramen werden aus der Ausgabe W ohne Sigle mit Kurztitel und Versangabe bzw. Seitenzahl zitiert. Briefe und theoretische Texte werden (entgegen den Konventionen in der Hebbel-Forschung) nicht nur mit Sigle, Bandnummer und Nummer des Eintrags zitiert, sondern auch mit Datum und Korrespondenten bzw. Titel, um eine zeitliche Einordnung der Zitate problemlos zu ermöglichen. Tagebucheinträge werden mit Sigle, Nummer und Datum angegeben. Hebbel: Gyges und sein Ring, W III, V. 990. Hebbel: Die Nibelungen, 2. Abteilung: Siegfrieds Tod, W IV, V. 675. Ebd., V. 688. DOI 10.1515/9783110473353-006
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nem unvollendeten „Hauptwerk“,⁵ das ihn über zwei Jahrzehnte beschäftigte und in dem wie im Gyges die Altertumskulturen triadisch anlegt sind, spielen die Germanen eine zentrale Rolle. Der karthagische Greis Hieram beabsichtigt mithilfe der brutalgewaltsamen Moloch-Religion, die ‘deutschen’ Thuler zu zivilisieren, um gemeinsam mit ihnen in den Kampf gegen Rom zu ziehen. Ebenfalls Fragment geblieben ist schließlich ein geplantes Christus-Drama, das abermals den Blick nach Judäa richten sollte, diesmal explizit aufgefasst als „römische Provinz“, in deren „Hintergrund das große Getriebe des römischen Reichs“ sichtbar werden sollte.⁶ Hebbels Dramenproduktion zeichnet sich durch diese auffällige Vielfalt der Altertumskulturen und ‐konflikte aus. Darüber hinaus hat er seinen Umgang mit den Altertümern konsequent reflektiert und kommentiert. Dazu gehören nicht nur die markanten Selbstzuschreibungen, das Bibeldrama erfunden⁷ und die Griechen mit seinem Gyges wieder neu auf die Bühne des 19. Jahrhunderts gebracht zu haben,⁸ sondern auch eine Vielzahl von entsprechenden Äußerungen in seinen Korrespondenzen und Tagebüchern.⁹ Mit Blick auf das Korpus der Texte kann man darum von einer regelrechten ‘Altertumsdramatik’ sprechen, in deren Zentrum die Altertümer mit ihren kulturellen, ästhetischen und politischen Valenzen stehen. Die poetologische Funktion der Altertümer, um die es im Folgenden gehen wird, ist von der Forschung bisher kaum bemerkt worden, und in den seltenen Fällen, in der sie in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten ist, in der Regel unter anderen Schlagworten rubriziert worden. Von den Zeitgenossen dagegen ist die Bedeutung der Altertumskulturen in Hebbels Tragödien immer wieder beobachtet und mit Hebbel diskutiert worden, wie sich im Weiteren zeigen wird.¹⁰
Vgl. etwa die autobiographischen Angaben, die Hebbel für den Brockhaus im Brief vom 15. September 1852 an Arnold Ruge formulierte: „In Rom begann ich meinen Moloch, den ich als mein Hauptwerk betrachte […].“ (B II, Nr. 1162, S. 552). Hebbel: Christus, W V, S. 318. Vgl. etwa Hebbels Rede von seinen „Nachfolger[n] im Bibeldrama“ im Tagebucheintrag vom 17. März 1853 (T III, Nr. 5087). Vgl. Hebbels Tagebuchnotat im Oktober 1856: „Wieder ein neues griechisches Stück mit unendlichem Jubel über die Bühne gegangen,während mein Gyges, der die Griechen wieder in die Mode gebracht hat, in der Schublade ruht. Ich fühle aber so wenig Eifersucht und Neid, als ob ich ein Pferd im Wettlaufen siegen sähe.“ (T IV, Nr. 5480, 20.10.1856). Die Uraufführung von Gyges und sein Ring fand erst am 25. April 1889 am Wiener Burgtheater statt, also lange nach Hebbels Tod. Vgl. zu Hebbels eigener Reflexion der poetologischen Funktion der Altertumskulturen am Beispiel von Gyges und sein Ring Kapitel 5.3.1. Für das Interesse an den poetologischen Funktionen der Altertumskulturen in Hebbels Dramatik können hier als ein Beispiel unter vielen Wilhelm Gärtners Überlegungen genannt werden, welche Konsequenz die Situierung von Gyges und sein Ring in einer germanischen Vorzeit gehabt hätte: „Noch kann ich einen Gedanken nicht los werden: Wie wärs geworden, – wenn Sie den Gegenstand in die altgermanische (vorchristl:) Zeit versenkt hätten? Sie hätten dann weniger objektiv, will sagen: mythologisch sein müssen; u das Mysterium mit dem Ringe hätte in die alte german. Naturanschauung, od. vielmehr zum seelischen Wesen der Natur dort am Ende noch besser gepasst als in die Griechenwelt. – Das ist nur ein Gedanke; möglich daß ich ihn selber noch los werde: aber auch die Rhodope hätte
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Als paradigmatisch für eine frühe Negation der Bedeutung der Altertumskonstellation für Hebbels Dramen kann demgegenüber eine Rezension von Theodor Fontane angeführt werden, die am 29. September 1874 anlässlich einer Berliner Aufführung von Herodes und Mariamne in der Vossischen Zeitung erschien. In dem Beitrag zeigt sich der Theaterkritiker enttäuscht von der Tragödie: Herodes und Mariamne, beide stehen auf einer Leidenschafts-Höhe, die uns flüchtig wohl ein Staunen, nachhaltig aber doch nur tiefste Abneigung einflößen kann, um nicht, in schuldiger Rücksicht gegen die außerordentliche Begabung des Dichters, ein noch stärkeres Wort zu wählen. Das Kulturhistorische als solches, wenn es mehr als Hintergrund sein, mehr als Lokaltöne geben will, ist für das Drama absolut unverwendbar. Es gehört in den Roman. Im Drama soll uns das,was geschieht, zu menschlich-herzlicher Teilnahme stimmen. Wir müssen, damit dies möglich wird, der Empfindungsweise derer folgen können, die uns zur Teilnahme an ihrem Geschick einladen. Das vermochten wir diesen beiden Gestalten gegenüber nicht! Wir würden uns dazu, nach der geringen Bedeutung, die wir, wie wir nur wiederholen können, dem kultur-historischen Element für das Drama beilegen, mutmaßlich auch dann noch außer Stande gesehen haben, wenn die entsprechende Aufgabe: ein Verfall- und Schreckensbild aus der Wendezeit der heidnischen und christlichen Welt zu geben, wirklich und glücklich gelöst worden wäre; aber diese Aufgabe wurde nicht gelöst, sehr wahrscheinlich nicht einmal gestellt […]. Was uns hier als Herodes und Mariamne entgegentritt, ist nicht Herodes und Mariamne, es sind vielmehr Träger der Anschauungen, die Hebbel von zwei Formen der Liebe, von der unechten, egoistisch-tyrannischen und von der echten, selbstsuchtslos-heroischen hatte, denen er zwei Königskleider umhing und ihnen die Zettel anheftete: Herodes und Mariamne. So sehen wir, vier Stunden lang, ein Liebespaar sich und andere quälen, das weder modern ist, noch antik, sondern nur geschaffen wurde, um der Welt zu zeigen,wie Hebbel sich die Liebe denkt. […] Es [das Stück, F.K.] springt hin und her; jetzt treffen die Klänge unser Ohr, die etwa der Empfindungsweise Lenaus entsprechen, bis dann wieder ein Dutzend abgeschlagener Köpfe uns daran erinnert, daß wir im Königspalast zu Jerusalem und nicht im Justinus Kernerschen Äolsharfen-Turm zu Weinsberg sind. Es ist ein Mischstück: Hebbel tragiert im Kleide des Herodes umher. Diese Verkleidung verdrießt um so mehr, als dieser ‘falsche Herodes’ gerade des einen entbehrt, das mit dem echten einigermaßen aussöhnen könnte: die wirkliche, auf Kraft und Gesundheit ruhende Leidenschaft.¹¹
Fontane bemerkt zwar die Prominenz des Altertums, aber er kritisiert zugleich, dass der geschichtliche Hintergrund für das Drama eigentlich obsolet sei. Nach seinem normativen Gattungsverständnis hat das „kultur-historische[] Element“ seinen Platz im Roman, für alle dramatischen Gattungen erscheint es dagegen generell als ungeeignet. Mehr noch: Fontane sieht es in Herodes und Mariamne keineswegs verwirklicht und bezweifelt grundsätzlich, dass es Hebbel überhaupt um eine kulturhistorische Situierung gegangen sei. Die paar „abgeschlagene[n] Köpfe“ werden ihm so zum
dorthin getaugt.“ (Wilhelm Gärtner an Friedrich Hebbel, 20. 8.1855, B III, Nr. 1556, S. 222, Hervorh. i.O.). Gärtners Ansinnen zeigt, dass auch Hebbels Leserschaft den verschiedenen Altertümern unterschiedliche ästhetische und epistemologische Valenzen zuwies und für die besondere Wirkung des dramatischen Werks von den historischen Konstellationen und Überlieferungen abstrahierte. Theodor Fontane: Hebbel: Herodes und Mariamne, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg.v.Walter Keitel, 3. Abt., 2. Bd.: Theaterkritiken, hg.v. Siegmar Gerndt, München 1969, S. 192– 196, hier S. 192– 193, Hervorh. i.O.
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halbherzigen Versuch einer historischen Einordnung. In Fontanes Verständnis oszilliert das Stück unbefriedigend zwischen Moderne und Antike, der Rückgriff auf den alten Stoff ist ihm deshalb nur Staffage eines (noch dazu misslungenen) Liebesdramas. Dass Fontane mit jenem „kultur-historischen Element“ so gar nichts anzufangen weiß, gründet also zum einen auf einem vorausgesetzten Verständnis davon, was die dramatische Gattung zu leisten habe (ein Verständnis, das – wie man zeigen kann – Hebbel nicht geteilt hat), und damit geht die Annahme einher, der alte Stoff sei nicht mehr als Kulisse. So wie in Fontanes Kritik ist auch in der modernen Forschung die Bedeutung der historischen oder mythologischen Situierung von Hebbels Tragödien entweder nicht gesehen oder bestritten worden. Man hat diese wahlweise als methodische „Selbstbehinderung“ Hebbels dargestellt, als „Verschiebung des Wesentlichen ins Kolorit, des nah Bedrängenden ins Fremde, Uneuropäische“.¹² Oder die Bedeutung von Hebbels Stoffwahl ist unter dem Forschungsparadigma eines gattungspoetologischen „Formzwangs“¹³ a priori als irrelevant klassifiziert worden. In den Fällen, in denen die Stoffwahl hingegen ernst genommen worden ist, wurde sie entweder in geschichtsphilosophischen Kontexten verortet, die Hebbels Altertumsdramen allesamt als „Kulturstufen-Tragödie[n]“¹⁴ lesbar machen. Oder sie wurde unter generalisierenden Schlagwörtern wie „Fremdheit“¹⁵ oder „Orient“¹⁶ diskutiert. So geht es Friederike Raphaela Lanz in ihrer Dissertation um „‘Fremdheit’ im weitesten Sinne in ausgewählten Dramen Grillparzers und Hebbels“¹⁷, vor allem aber um die „Fremdheit zwischen den Kulturen“ und die „Fremdheit der Geschlechter“ sowie die Interferenzen zwischen diesen beiden.¹⁸ Der Begriff der ‚Fremdheit’ erweist sich im Verlauf der Studie dann aber als problematische Analysekategorie, die mehr verwischt als erklärt, zumal Lanz ihn trotz einer ausführlichen Rekapitulation verschiedener ‘Fremdheitskonzepte’ kaum präzisiert.¹⁹ Zudem gelingt es ihr nicht, Dreierkonstellationen – wie etwa in Gyges und sein Ring – systematisch zu beschreiben, weil sie nur Dualismen
Peter Schütze: Die maskierte Idee. Betrachtungen anhand „Herodes und Mariamne“, in: HebbelJahrbuch 1984, S. 103 – 133, hier S. 105. Heinz Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus, in: Hannelore Schlaffer und ders.: Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt 1975, S. 121– 139, hier S. 133. Hartmut Reinhardt: Apologie der Tragödie. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels, Tübingen 1989 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 104), hier S. 298. Friederike Raphaela Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“ – Fremdheit und Fremde im dramatischen Werk Franz Grillparzers und Friedrich Hebbels, Diss. Mainz 2009 (https://publications.ub.uni-mainz.de/theses/volltexte/2009/2032/pdf/2032.pdf, letzter Zugriff am 15.7. 2016). Klaus Schuhmacher: Vernichtungsphantasien. Hebbels Orient in der Nachbarschaft von Delacroix und Flaubert, in: Geschichtserfahrung im Spiegel der Literatur. Festschrift für Jürgen Schröder zum 65. Geburtstag, hg.v. Cornelia Blasberg und Franz-Josef Deiters, Tübingen 2000, S. 134– 148. Friederike Raphaela Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“ – Fremdheit und Fremde im dramatischen Werk Franz Grillparzers und Friedrich Hebbels, Diss. Mainz 2009, S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. S. 15 – 20 und S. 40 – 89.
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sieht. Damit hängt eng zusammen, dass Lanz meint, die „Fremdheit zwischen Mann und Frau“ spiegle sich in Hebbels und Grillparzers Dramen auf „kultureller Ebene“.²⁰ Das stellt sich im Lauf der der Untersuchung als wenig überzeugende Vorannahme heraus, weil die kulturellen Differenzen damit stets als sekundäres Phänomen zum ‘eigentlichen’ Konflikt zwischen den Geschlechtern verstanden werden. Auch Klaus Schuhmacher gelingt es nicht, mit dem Begriff ‚Orient’, die Komplexität der verschieden figurierten Altertumskulturen in den Blick zu nehmen. Zwar versteht er in seinem Artikel Vernichtungsphantasien die Stoffwahl explizit als konstitutives poetologisches und ästhetisches Element von Hebbels Dramen. Aber im selben Zug, in dem er die raum-zeitliche Situierung der Tragödien interpretatorisch zentral setzt,werden ihm alle Stoffe letztlich gleich, insofern er in ihnen einen Orient in seiner „antike[n] Vorstufe semitischer Prägung“²¹ identifiziert. Dieses Argument bezieht Hebbels Judith ebenso mit ein wie Herodes und Mariamne, das Christus-Fragment, Gyges und sein Ring bis hin zum Dramenfragment Moloch, dessen Handlung in Thules Wäldern spielt. Bei Schuhmacher wird dieser Orient zu einem Topos der „Gewaltsamkeit, die Geschichte in Schwellenzeiten mit einem Vernichtungsprozeß“²² verbinde. In der Konsequenz schlägt er vor, fast alle hebbelschen Tragödien auf einen Grundzug des „strukturellen Exotismus“²³ zurückzuführen. Selbst Die Nibelungen folgen laut Schuhmacher diesem „Zug nach Südosten“, weil Kriemhild, die Hagen zunächst Gunthers abgeschlagenes Haupt zeigt, bevor sie ihn eigenhändig tötet, „in einer geradezu exotistischen Aufgipfelung Salomé und Judith“ in sich vereine.²⁴ Ob Hebräer, Assyrer, Perser oder Römer wie in Judith, Herodes und Mariamne oder dem Christus-Projekt, ob Altinder, Griechen und Lyder in Gyges und sein Ring, Karthager, Germanen und Römer im Moloch oder die altnordisch-germanischen und mittelalterlich-höfischen Figuren in den Nibelungen – sie alle sollen einem von Schuhmacher stereotyp gezeichneten Orientalismus zugeschrieben werden, der einzig durch ein exotistisches Moment der Grausamkeit charakterisiert ist und Hebbel in die Nachbarschaft von Delacroix und Flaubert stellt.²⁵ Die folgende Untersuchung bezieht eine entgegengesetzte Position zu Lanz und Schuhmacher. Sie geht davon aus, dass eine große Gruppe von Hebbels Dramen als Altertumsdramatik qualifiziert werden kann, deren poetologisches Zentrum die Plu-
Ebd, S. 13. Schumacher: Vernichtungsphantasien, S. 137. Ebd., S. 138. Ebd., S. 142. Ebd., S. 138. Vgl. den Untertitel der Studie (Hebbels Orient in der Nachbarschaft von Delacroix und Flaubert). Schuhmacher argumentiert zwar, dass „Hebbels Orientbilder […] auf die Oberflächensuggestion“ verzichteten, im Rückgriff aus Edward Saids Orientalism (New York 1975) meint er aber: „[E]in großer Teil seines [Hebbels, F.K.] dramatischen Schaffens liiert sich mit einem Exotismus des Stoffes, wie ihn der Westen auf den Osten projiziert […].“ Hebbels „Orientalismus“ sei zwar „Grausamkeitsanlaß“, aber „kein Fest für die Blicke“, damit sei er „spektakulär in seiner Inversion“ und gehöre „in diesem Sinn […] ins Zentrum von Hebbels Werk.“ (S. 137 f.).
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ralität und Differenz der Altertümer bildet. Die Analyse gliedert sich in vier Teile: In einem ersten Schritt (5.1) soll geklärt werden, welche Annahmen in der Forschungsdiskussion dazu geführt haben, dass die zentrale Bedeutung der differenten Altertumskulturen in Hebbels Dramen bisher übersehen worden ist. Das Forschungsparadigma, das für diese Einschätzung verantwortlich ist, stellt die Bedeutung von Hebbels Stoffwahl hinter seinen vermeintlich obsessiven ‘Gattungsformalismus’ als sekundär zurück. Diese Einschätzung beruht auf fragwürdigen methodischen Vorannahmen, die dazu führen, dass die Bedeutung von Hebbels Dramen regelmäßig aus seinen theoretischen Texten abgeleitet wird. Demgegenüber wird vorgeschlagen, die Relation zwischen literarischen und theoretischen Texten allenfalls umgekehrt zu formulieren. Darüber hinaus kommt eine genaue Lektüre der theoretischen Texte zu dem Ergebnis, dass Hebbel zwar einer zeitgenössischen geschichtsphilosophisch fundierten Ästhetik nahe steht, die sowohl im Forschungsdiskurs als auch bei den Zeitgenossen den dominanten Deutungsrahmen für seine Texte abgibt, dass er aber zugleich auch signifikante Differenzen und Vorbehalte akzentuiert. Es ist nötig, diesen theoretischen und forschungskritischen Fragestellungen zu Beginn der Untersuchung breiten Raum zu geben, weil erst durch sie der Blick auf Hebbels Altertumsdramatik frei wird. Im Anschluss wird in einem zweiten Abschnitt (5.2) die Tragödie Herodes und Mariamne untersucht, die wie kein anderes von Hebbels Dramen diesen methodisch kritischen Deutungen ausgesetzt war und ist. Vor dem Hintergrund der ausführlichen methodischen Standortbestimmung im ersten Teil des Kapitels lässt sich eine Neuinterpretation formulieren, die den semantischen Valenzen und der komplexen Konstellation verschiedener Altertümer gerecht wird. Im Kontext der vorliegenden Arbeit mit ihrem Fokus auf die Konfrontation der verschiedenen Altertumskulturen wird die Tragödie lesbar als Drama einer pluralen Geschichtsreflexion. In einem dritten Schritt (5.3) werden die Ergebnisse der textnahen Analyse in Hebbels Altertumsdramatik weiter verfolgt, um die poetologische Funktion der Altertümer profilieren zu können. So wird sich anhand der Tragödie Gyges und sein Ring die Bedeutung der Altertumskulturen für das dramaturgische Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ zeigen, anhand der dramatischen Konstellation in der Judith kann das spannungsreiche Verhältnis der Kategorien ‘Geschlecht’ und ‘Altertum’ in Hebbels Tragödien diskutiert werden, und mit Blick auf die Wissensökonomie in den Tragödien lässt sich die Funktion der Altertumskulturen in den Texten präzisieren. Am Beispiel des gescheiterten Moloch-Projekts wird abschließend (5.4) noch einmal die fundamentale poetologische Bedeutung der Altertumskulturen für Hebbels Dramatik bestimmt, um zugleich auf die Grenzen und Problematiken seiner Poetologie der Altertümer zu verweisen.
5.1 „Stoff ist Aufgabe. Form ist Lösung.“ Hebbels tragödientheoretische Texte
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5.1 „Stoff ist Aufgabe. Form ist Lösung.“ Hebbels tragödientheoretische Texte Hebbel gilt gemeinhin als Dichter, der sich im 19. Jahrhundert wie kein zweiter um die Rettung der Gattung Tragödie bemühte. Besonders pointiert hat Heinz Schlaffer diese Annahme in seinem einflussreichen Aufsatz zu Friedrich Hebbels tragische[m] Historismus formuliert: So ist ihm [Hebbel, F.K.] […] die ‘Tragödie’ das Erste, für die dann alle Gegenden des vergangenen und jetzigen Lebens auf einen geeigneten Stoff durchforscht werden, unbekümmert darum, ob dieses Leben seinem Wesen nach (und nicht bloß in peripheren Zufälligkeiten) in der apriorisch gedachten Gattung darstellbar ist. Gegen Hebbel griffe der Einwand, er habe die falsche Form gewählt, zu kurz: denn die Form Tragödie ist zugleich ihr einziger Inhalt. ²⁶
Schlaffers These lautet, dass Hebbel die Tragödie als höchste Gattung in einer Epoche verteidigt habe, in der das Konzept des ‘tragischen Helden’ durch den Vernunft-Anspruch der Aufklärung eigentlich unmöglich geworden sei. „[U]m den prinzipiellen Widerspruch zwischen dem Zeitalter und der Gattung Tragödie zu verdecken“,²⁷ habe Hebbel auf das Mittel eines historistisch zu nennenden „Formzwangs“²⁸ zurückgegriffen – historistisch deshalb, weil Hebbels theoretischer und praktischer Kampf um die Tragödie als „reflexive[] Zuwendung zu einem prinzipiell Vergangenen und seiner Wiederholung in einer vollständig differenten Gegenwart“²⁹ zu beschreiben sei und damit dem Geist des Historismus entsprochen habe. Es lohnt sich, Schlaffers Position ausführlich zu diskutieren, weil er als Stellvertreter einer „dominierenden“³⁰ Forschungsrichtung gelten kann, die Hebbels dramatisches Schaffen vornehmlich unter dem Begriff der Form diskutiert, und weil in seinem Aufsatz zudem die methodisch-interpretatorischen Konsequenzen dieser Annahme eines „Primat[s] der Form“³¹ auf engem Raum sichtbar werden. Sie ist interpretatorisch folgenreich, denn mit ihr werden Aussagen sowohl über den Stellenwert der Tragödienstoffe als auch über den Inhalt der Texte gemacht. Die Stoffe erscheinen unter dem Blickwinkel eines „Primat[s] der Form“ mehr oder weniger kontingent gewählt, und zugleich scheinen die Tragödien in der Konsequenz kaum etwas anderes zu verhandeln als die Bedeutung ihrer eigenen Gattungszugehörigkeit. Schlaffer verwendet beide Begriffe – Stoff und Inhalt – fast deckungsgleich, und sie dienen in seiner Diagnose keinem anderen Zweck als dem der Formlegitimation:
Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 131, Hervorh. i.O. Ebd., S. 135. Ebd., S. 133. Ebd., S. 126. Hargen Thomsen: Grenzen des Individiuums. Die Ich-Problematik im Werk Friedrich Hebbels, München 1992 (Cursus, Bd. 6), S. 56. Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 130.
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Ausgewählt allein im Hinblick auf die tragische Form, verliert der Inhalt von Hebbels Tragödien den Charakter konkreter Inhaltlichkeit und geht in bloße Formalität über.³²
Inhalt, der über die Verhandlung der tragischen Form hinausgeht, gibt es demzufolge in Hebbels Tragödien nicht, und deshalb muss, so die implizite Schlussfolgerung, eine Interpretation seiner Dramen darauf hinauslaufen, zu überprüfen, wie und mit welchen Mitteln Hebbel die selbst gesetzte Gattungsvorgabe erfüllt. Dass dies, so Schlaffer, dem Dichter nicht überzeugend gelungen sei (und auch nicht gelingen konnte, weil die Tragödie Schlaffer zufolge als Gattung seit der Aufklärung nicht mehr angemessene Ausdrucksform sein kann), davon zeugten Protagonisten, in deren „Handeln kein Leben, sondern nur […] Mechanik zum Vorschein“³³ komme. Die Zeichnung der Figuren erscheine marionettenhaft, weil Hebbel ihnen den gesamten Formzwang der Tragödie aufgeladen habe, und sie also tragisch überhaupt nur insofern zu nennen seien, als „ihre vorwiegende Eigenschaft der Hang zur Tragödie“³⁴ sei. Zu den interpretatorischen Konsequenzen eines solchen Ansatzes, der Hebbels Dramatik a priori allein auf die Verteidigung der Gattung Tragödie festlegt, gehört erstens die zirkuläre Logik der daraus folgenden Interpretationen. Ihr Ausgang ist durch ihren Anfang bereits bestimmt: Wenn alles Form ist und es außerhalb der über die Form legitimierten Gattung Tragödie keine Bedeutungsebenen der Dramen gibt, dann stellt sich nur die Frage, mit welchen Mitteln Hebbel die Gattungsvorgabe erfüllt oder ob ihm dies in der einen Tragödie besser oder schlechter als in einer anderen gelungen ist. Die zweite Konsequenz bezieht sich auf den Stellenwert, der den Dramenstoffen zugestanden wird. Wird die tragische Form zum einzigen Zweck der hebbelschen Dramatik erklärt, dann geraten die Stoffwahl ebenso wie die Themen, die mit diesem Stoff potentiell verhandelt werden, aus dem Blick, oder aber sie stellen sich, wenn sie doch Beachtung erfahren, nur als eine weitere Spielart von Hebbels ‘Formzwang’ heraus. Es ist deshalb bemerkenswert, dass Schlaffers Aufsatz nicht, wie man annehmen könnte, mit Hebbels theoretischen Äußerungen zur Tragödie einsetzt, sondern mit der historischen Bestimmung der Tragödienstoffe: „Daß Ort und Zeit der Hebbelschen Dramen möglichst weit von der Gegenwart abgerückt“ seien, so Schlaffer, sei „keine Äußerlichkeit, keine bloße Frage der Kulisse, sondern innere Bedingung des tragischen Aufbaus […].“³⁵ Der argumentative Bogen vom Stoff zur
Ebd., S. 132. Angesichts dieses Zitats ist es irritierend, dass Carsten Scholz meint, Schlaffer negiere nicht das „Inhaltliche überhaupt“ (Der junge Hebbel. Eine Mentalitätsgeschichte, Köln u. a. 2011 [Literatur und Leben, Bd. 80], S. 18). Er argumentiert, dass Schlaffer vielmehr die Archaik und Mythologie der Stoffe als poetologisches Prinzip herausgearbeitet habe. Scholz übersieht damit, dass Schlaffers These einer ‘Archaik’ der Stoffe überhaupt erst argumentatives Resultat des von ihm selbst gesetzten Formprinzips ist. Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 135. Ebd., S. 133. Ebd., S. 121.
5.1 „Stoff ist Aufgabe. Form ist Lösung.“ Hebbels tragödientheoretische Texte
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Form gelingt Schlaffer dadurch, dass er Hebbels Stoffwahl mit dem Kriterium der „Archaik“³⁶ erklärt. Hebbel kann die Tragödie nach Schlaffer nur retten, indem er sie den Bedingungen der Aufklärung und deren Rationalismus entzieht, sie also in einem unaufgeklärten Zeitalter ansiedelt. Die ‘Archaik’ wird damit zu einem Gegenbegriff zur Aufklärung und die Stoffwahl zum Instrument für das Eigentliche, nämlich die Tragödienform: „[D]ie Tragödienform [lebt, F.K.] aus dem archaischen Inhalt“.³⁷ Um dieses Argument zu plausibilisieren, müssen unweigerlich alle hebbelschen Tragödienstoffe archaisch sein. Das führt direkt zu einer dritten Konsequenz: Hebbels Tragödien erscheinen allesamt austauschbar, weil sie nur verschiedene (wenn auch verschieden gut gelungene) literarische Ausbuchstabierungen seines Tragödien-Formalismus sind. So schreibt Schlaffer denn auch, dass „mit gleichem Recht alle Tragödien Hebbels“³⁸ als prähistorisch bzw. archaisch bestimmt werden könnten, und zwar nicht nur Gyges und sein Ring, Judith, Herodes und Mariamne, Die Nibelungen und (die mittelalterliche) Genoveva, sondern auch Hebbels bürgerliches Trauerspiel, die zeitgenössisch situierte Maria Magdalene. ³⁹ Die genannten problematischen Forschungsannahmen – die Tautologie einer Interpretation, die von der Form ausgehend zurück zur Form gelangt, das geringe Augenmerk auf die Stoffe und schließlich die Tendenz, Hebbels Tragödien als austauschbar zu verstehen – haben entscheidende Konsequenzen für eine Bewertung der Altertumsdramen: Wenn alles nur Form ist, wenn Hebbels Tragödien stets Projekte der Gattungslegitimation sind, dann kann die Rolle der verschiedenen Altertumskulturen tatsächlich allenfalls als Staffage und zu vernachlässigende Kulisse verstanden werden. Als Beleg für ein solches Primat der Form in der hebbelschen Dramatik wird oft angeführt, dass Hebbel selbst die entscheidenden Interpretationsmaximen in seiner ‘Tragödientheorie’ expliziert habe. Insbesondere das Tagebuchnotat „Die Form ist der höchste Inhalt“⁴⁰ scheint nahezulegen, dass die Bedeutung von Hebbels Formalismus gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die Frage nach dem Verhältnis von Stoff und Form in Hebbels Dramatik ist daher auf einer Metaebene zugleich eine Frage nach den impliziten und expliziten Vorannahmen der Hebbel-Forschung mit all den aufgezeigten Konsequenzen. Die These, dass die ‘Form der einzige Inhalt’ von Hebbels Tragödien sei, ist allein dramenimmanent nicht denkbar, sie braucht vielmehr immer
Ebd., S. 122. Ebd., S. 121. Ebd. Maria Magdalene lässt sich in Schlaffers Interpretation deshalb als archaisch bestimmen, weil er ausführt, dass in ihr Motive überwögen, die der Aufklärung fremd seien, nämlich „Analphabetismus, Bigotterie, Aberglaube[], Sündenangst und starre[] Moralbegriffe[]“ (ebd., S. 122). Archaik ist bei Schlaffer also – obwohl anfangs als „historische […] Bestimmung“ eingeleitet (S. 121) – kein Begriff, der eine bestimmte Zeit meint, sondern ein systematischer Gegenbegriff zur Aufklärung. Deshalb kann Schlaffer auch von „Archaik der Frühe und Archaik der Gegenwart“ sprechen (S. 122). T I, Nr. 1625, August 1839.
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Hebbels theoretische Reflexionen. Das gilt auch für den Aufsatz von Schlaffer, in dem dieser zwar auf eine Rekonstruktion des hebbelschen Theoriegebäudes verzichtet und über weite Strecken dramenimmanent argumentiert. Aber es ist signifikant, dass er ausgerechnet dann auf die theoretischen Äußerungen zurückgreifen muss, wenn er das a priori der Form als alleiniges poetologisches Prinzip der hebbelschen Dramatik einführt.⁴¹ Die Frage nach einem potentiellen ‘Primat der Form’ in Hebbels Dramatik – mit der eigentlich ein Primat der Gattungslegitmation gemeint ist – macht ein methodisches Problem ansprechbar, nämlich die Frage danach, wie die Beziehung zwischen Hebbels eigenen theoretischen Aussagen und seiner Dramenpraxis zu beurteilen ist. Es wird sich zeigen, dass Hebbels theoretische Texte als überwiegend extern adressierte Kommentare zu seinem dramatischen Werk gelesen werden müssen (5.1.1). Sie sind Dokumente einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit der Gattung Tragödie und der eigenen Dramenpraxis. Insbesondere Hebbels Umgang mit der ‘Geschichte’ ist in diesem Zusammenhang signifikant (5.1.2). Seine Unterteilung der Geschichte in eine grundsätzlich zu vernachlässigende ‘materielle’ und eine relevante ‘geistige Geschichte’ verrät die Nähe zu zeitgenössischen geschichtsphilosophischen Gattungsdiskussionen. Der Begriff der ‘Atmosphäre’ vermittelt dramenpraktisch zwischen diesen beiden. In diesem dritten Terminus konkretisiert sich ein charakteristischer Zug in Hebbels Umgang mit den Altertümern. Weil sich Geschichts- und Gattungsdiskurs auch bei Hebbel nicht trennscharf unterscheiden lassen, ermöglicht der Blick auf seine triadische Unterteilung der Geschichte ein Verständnis davon, wie Hebbel selbst das Verhältnis von Stoff und Form fasst. Es wird sich zeigen, dass die Annahme eines absolut zu setzenden Primats der Form nicht nur aus methodischen Erwägungen abzulehnen ist, sondern dass sie sich zudem auch nicht aus Hebbels eigenen theoretischen Überlegungen ableiten lässt. Die Untersuchung verfolgt also ein doppeltes Interesse: Die theoretischen Texte erweisen sich als aufschlussreich für die Kontextualisierung von Hebbels Auseinandersetzungen mit den Gattungs- und Geschichtsreflexionen seiner Zeit. Und zugleich erlaubt der kritische Blick auf ihre Beschaffenheit eine methodische Standortbestimmung für die folgende Untersuchung der Altertumsdramatik.
5.1.1 Zum Verhältnis zwischen Hebbels tragödientheoretischen Reflexionen und seiner Dramenpraxis Die Frage nach dem Status von Hebbels tragödientheoretischen Ausführungen und vor allem danach, wie ihr Verhältnis zu Hebbels Dramatik zu fassen ist, stellt gleichsam die Gretchenfrage der Hebbel-Forschung dar. Ganz unabhängig davon, wie die theoretischen Ausführungen dann im Einzelnen bestimmt wurden, kann prinzipiell zwischen
Vgl. Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 130 – 132.
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drei Antwortmöglichkeiten unterschieden werden. Die frühe Forschung hat das Verhältnis eindeutig zugunsten der theoretischen Texte entschieden. Hebbels Dramatik wurde mehr oder weniger als poetische Ausbuchstabierung eines (verschieden bestimmten) philosophischen Systems verstanden.⁴² In seiner 1938 erschienenen Dissertation Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels hat Klaus Ziegler mit diesem Problem der Hebbelforschung ⁴³ programmatisch abgerechnet und beklagt, dass die „Betrachtung der Dichtungen Hebbels und vor allem der Hebbelschen Tragödie […] sich im Wesentlichen auf eine ganz schematische und mechanische Einordnung und Aufteilung der einzelnen Dichtungen unter das von Hebbel in seinen Tagebüchern, Briefen und Aufsätzen ansatz- und umrißweise skizzierte System allgemeiner ästhetischer und metaphysischer Begriffe“ beschränkt habe.⁴⁴ Ziegler hat dagegen eine andere, zweite Position formuliert und „die Subjektivität des dichterischen Bewußtseins und das objektive Sein des Gedichteten […] bei Hebbel“ als „durchaus inkommensurabel“ gesehen. Er zog daraus die methodische Konsequenz einer strikten Trennung von „Theorie und Praxis“.⁴⁵ In seiner Studie verfuhr er streng dramenimmanent und öffnete damit den Blick für Dramendeutungen jenseits hebbelscher Theoreme, womit ihm nach Herbert Kaiser das Verdienst zukommt, „die Interpretation in die Hebbel-Forschung erst eigentlich eingeführt“⁴⁶ zu haben. Als dritte Möglichkeit, in der Mitte zwischen den beiden Positionen, kann schließlich Kaisers eigener Vorschlag gelten, der von einer „grundsätzlichen Einheit von Drama und ästhetisch-theoretischer Reflexion“⁴⁷ ausgeht. Die Dramen sind damit nicht mehr, wie in den früheren Arbeiten, der Theorie nachgeordnet, sie sind aber auch nicht grundsätzlich losgelöst von ihr zu behandeln, sondern erst „mit der Plausibilität der Interpretationen“ ist der Beweis für „die weitergehende Verknüpfung von Drama und Theorie“⁴⁸ erbracht.
Vgl. stellvertretend Arno Scheunert: Der Pantragismus als System der Weltanschauung und Ästhetik Friedrich Hebbels, Hamburg, Leipzig 1903. So der Untertitel von Klaus Zieglers Einleitung (Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels, Berlin 1938 [Neue Forschung. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker, Bd. 32], S. 7– 14). Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Herbert Kaiser: Friedrich Hebbel. Geschichtliche Interpretation des dramatischen Werks, München 1983, S. 12. Auf Zieglers methodische Trennung nimmt auch Herbert Kraft in seiner einflussreichen Studie Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels (Tübingen 1971, insbesondere S. 1– 6) affirmativ Bezug, wenngleich er anders als Ziegler Hebbels Schriften durchaus als „die theoretische Grundlegung für seine Dichtung“ (S. 6) versteht. Krafts Zurückhaltung gegenüber den theoretischen Schriften bedeutet daher keine strikte Trennung des Dichters vom Denker, sondern ist der generellen wissenschaftlichen Überzeugung geschuldet, dass die „tragische Dichtung“ immanent interpretiert werden müsse, weshalb er zwar aus den theoretischen Schriften zitiert, sie aber nicht als „Beweise“, sondern als „Verdeutlichung“ und „abstrahierende[] Formulierung des an der Dichtung Entwickelten“ verstanden wissen möchte (ebd.). Kaiser: Friedrich Hebbel, S. 10. Ebd., S. 9. Ähnlich verfahren etwa auch Kraft: Poesie der Idee und Reinhardt: Apologie der Tragödie.
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Hebbel hat sich während seines gesamten Schriftstellerlebens theoretisch und philosophisch ambitioniert mit der Gattung Tragödie und der Kategorie des Tragischen auseinandergesetzt: in seinen Briefen, in seinen Tagebüchern, und natürlich auch in Texten, die er publizierte – in Ein Wort über das Drama! (Januar 1843) und der Erweiterung Mein Wort über das Drama (Juli 1843), in den Vorworten zu Judith, Genoveva, Maria Magdalene und Julia (1840, 1842, 1844 und 1850), in Über den Styl des Dramas (1847) und in der Abfertigung eines ästhetischen Kannengießers (1851).⁴⁹ Die Intensität seiner Reflexion über die Gattung der Tragödie ist ohne Zweifel bemerkenswert. Die in der Forschungsliteratur allgemein übliche Rede von Hebbels ‘Tragödientheorie’ führt allerdings in zweifacher Hinsicht in die Irre: Denn erstens behandeln die genannten Texte über weite Strecken nicht die Tragödie, sondern das Drama als übergeordnete Kategorie für die Komödie und die Tragödie.⁵⁰ Angesichts dessen, dass Hebbel den exzeptionellen Status des Dramas aber durch das Tragische legitimiert, wird im Folgenden allerdings auch von Hebbels ‘tragödientheoretischen Reflexionen’ gesprochen. Nicht allerdings von einer ‘Tragödientheorie’, denn schwerer als dieser erste Einwand wiegt ein zweiter. Mit dem Begriff der Theorie wird eine systematische Geschlossenheit und ein Anspruch suggeriert, der sich kaum mit der inhaltlichen, zeitlichen und gattungsgebundenen Disparatheit der genannten Texte vereinbaren lässt. Bei der Mehrzahl der publizierten Theorietexte handelt es sich zudem entweder um Vorworte zu einzelnen Dramen oder aber um explizite und polemische Rechtfertigungen gegenüber einzelnen Kritikern, in denen die persönliche Verletzung des Autors spürbar ist (etwa gegenüber Johann Ludvig Heiberg oder dem – in Hebbels Worten – ästhetischen Kannengießer Julian Schmidt). Auffällig ist auch, dass Hebbel sich vor allem in jungen Jahren programmatisch geäußert hat. Am ehesten erfüllen noch Mein Wort über das Drama! von 1843 und das Vorwort zu Maria Magdalene von 1844 die Ansprüche, die man an eine umfassende theoretische Auseinandersetzung mit dem Drama stellen würde. Je mehr sich Hebbel als literarischer Autor etablierte, desto
Es handelt sich um die Texte, in denen Hebbel sich ausführlich theoretisch geäußert hat. Diese Liste könnte allerdings erweitert werden, denn insbesondere in seinen Rezensionen hat er häufig auch allgemein-dramentheoretische Überlegungen ausgebreitet. In diesem Sinne als Terminus, der Tragödie und Komödie umfasst, wird auch hier im Folgenden der Begriff Drama verwendet. Tragödie und Komödie sind für Hebbel „im Grunde nur zwei verschiedene Formen für die gleiche Idee“ (T II, Nr. 2393, 29.11.1841). Der Komödienautor, so Hebbel an anderer Stelle, unterscheide sich vom Tragiker alleine in der Art und Weise, wie er die Darstellung des Tragischen angehe, also „[i]n dem freieren Überblick und der aus diesem entspringenden größeren Gleichgültigkeit gegen die Einzelerscheinungen, die der Tragöde weinend zerbrechen sieht, der Komöde lachend selbst zerbricht!“ (Mirandolina. Der zerbrochene Krug. Der verwunschene Prinz (1850),W XI, S. 349 – 353, hier S. 353). Später allerdings hat Hebbel der Tragödie vereinzelt doch einen prioritären Status zugesprochen, so heißt es 1862, dass „das Drama […] die höchste Form der Kunst und die Tragödie wieder die höchste Form des Dramas“ (Gervinus’ Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts [1862], W XII, 328) darstelle.
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stärker geriet sein theoretisches Interesse an der Gattung in den Hintergrund.⁵¹ Es ist deshalb doppelt richtig, wenn Hartmut Reinhardt in Bezug auf die tragödientheoretischen Texte von einer „Logik der Rechtfertigung“⁵² spricht. Zum einen rechtfertigte Hebbel in den theoretischen Ausführungen im Sinne Reinhardts die dramatische Gattung. Zum anderen verteidigte er aber auch ganz konkret seine eigenen Dramen. Hebbel versuchte also diejenige Gattung theoretisch zu legitimieren, die er als Schriftsteller vorrangig bediente, und er bot zugleich einen „philosophischen Rahmen“⁵³ für die Deutung seiner eigenen Dramen an. Dieser doppelte Verteidigungsgestus macht die Bedeutung von Hebbels theoretischen Texten deutlich. Es war nicht ihre Funktion, eine ästhetische oder philosophische Tragödientheorie um der Theorie willen zu entwerfen,⁵⁴ sondern vielmehr die Legitimation der eigenen Dramen und damit auch der eigenen Tätigkeit als Autor mithilfe einer gattungstheoretischen Argumentation.⁵⁵ Mit der seit Ziegler immer wieder diskutierten strikten Trennung des Theoretikers vom Dramatiker Hebbel wird der enge Zusammenhang der theoretischen Texte mit der Dramatik übersehen – denn den Theoretiker Hebbel gäbe es ohne den Dramatiker gewiss nicht – und ihr Erkenntnispotential verspielt.⁵⁶ Hebbels theoretische Überlegungen sind als Reflexionen
Zwar hat sich Hebbel zeitlebens mit der Tragödie als Gattung auseinandergesetzt, das belegen insbesondere seine Korrespondenzen. Aber während er dort wie auch in seinen Rezensionen Überlegungen zu Gattungskonventionen und dem Stellenwert des Dramas fast immer mit und an Dramen entwickelt, haben seine frühen Schriften einen anderen Charakter: In ihnen äußert er sich noch programmatisch, in weiten Teilen losgelöst vom konkreten Beispiel. Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 48. Hans-Georg Werner: Die ästhetische Rettung des Subjekts durch den Tragödiendichter Friedrich Hebbel, in: Hebbel. Mensch und Dichter im Werk. Jubiläumsband 1995,Wien 1995 (Hebbel. Mensch und Dichter im Werk, Bd. 5), S. 33 – 46, hier S. 33. Dass sich Hebbels Selbstverständnis als Autor primär durch seine poetischen und nicht durch seine theoretischen Texten konstituierte, liefert eine pragmatische Erklärung für sein Insistieren auf der Vorrangstellung der Kunst gegenüber der Philosophie, wie er sie etwa im Vorwort zu Maria Magdalene (1844) formuliert hat: „Aber die Kunst ist nicht bloß unendlich viel mehr, sie ist etwas ganz Anderes, sie ist die realisierte Philosophie, wie die Welt die realisierte Idee, und eine Philosophie, die nicht mit ihr schließen, die nicht selbst in ihr zur Erscheinung werden, und dadurch den höchsten Beweis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht mit der Welt anzufangen […].“ (W XI, S. 56, Hervorh. i.O.). Der Streit darum, ob die Ästhetik oder die Philosophie einen prioritären Status behauptet, ist alt, aber er kommt, wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Studie gesehen, zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der Vereinnahmung des Dramas und des Tragischen durch die Philosophie des Idealismus neu in Fahrt. Vgl. auch Herbert Kaiser: Hebbel und die Metaphysik des Tragischen im 19. Jahrhundert, in: Ders.: Friedrich Hebbel. Schmerz und Form. Perspektiven auf seine Idee des Tragischen, Frankfurt/Main u. a. 2006, S. 221– 238, hier S. 231. Das ändert aber nichts daran, dass Zieglers Vorstoß forschungsgeschichtlich extrem produktiv war, weil damit überhaupt erst Drameninterpretationen jenseits von Hebbels Selbstdeutungen angestoßen wurden, vgl. Ziegler: Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels, S. 7– 14 und ders.: Wandlungen des Tragischen, in: Hebbel in neuer Sicht, hg.v. Helmut Kreuzer, 2. durchgesehene Aufl., Stuttgart 1969, S. 11– 25.
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über die eigene Dramatik, das eigene Schreiben und als Inszenierungen der eigenen Autorschaft ebenso aufschlussreich wie als Beiträge zu den dramen- und tragödientheoretischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts. Wollte man diese Überlegungen als Theorie verstehen, die den dramatischen Texten vorgeordnet wäre und für sie systematisch verbindliche Geltung besäße, so dass sie sich als Interpretationsmatrix für Deutungen der Dramen anböte, würde man ihren Charakter ebenso verkennen wie die Eigenheiten und Komplexität der hebbelschen Tragödien (wie überhaupt diejenigen literarischer Texte).⁵⁷
5.1.2 ‘Atmosphäre’. Geschichte zwischen Stoff und Form Auch wenn die theoretischen Texte also nicht die Interpretationsmatrix für Hebbels Tragödien vorgeben dürfen, sind sie für die vorliegende Arbeit dennoch relevant: Denn erstens zeichnet sich mit dem hier vorgeschlagenen Fokus auf den Verteidigungs- und Legitimationsgestus der Texte ein eigenwilliger Umgang mit dem Konzept Geschichte ab (5.1.2.1), der aufschlussreich ist für den geistigen Kontext, in dem Hebbels Altertumsdramatik entstand. Sowohl in der Überblendung von Geschichte und der Gattung
Ähnlich auch Hans-Georg Werner, der zu Recht zweifelnd fragt, „ob den variablen Voraussetzungen eines großen dichterischen Werkes, der Vielgestaltigkeit und Mehrdeutigkeit poetischer Texte ein philosophisches System – welcher Qualität auch immer – zu entsprechen vermag“ (Die ästhetische Rettung des Subjekts, S. 33). Der vorgeschlagene Fokus auf den Verteidigungs- und Legitimationsgestus der theoretischen Texte verlangt allerdings eine Differenzierung dieser Texte, denn Hebbel hat sich vor allem in seinen publizierten Texten verteidigt. Herbert Kraft hat als erster die strenge systematische Trennung von Tagebüchern und Briefen auf der einen und den „eigentlichen theoretischen Schriften“ (Poesie der Idee, S. 3) auf der anderen Seite gefordert. Allerdings führt diese Unterscheidung zu problematischen Konsequenzen. Zwar haben die Tagebücher und Briefe den Charakter „des Vorläufigen“ (S. 4), ihnen deshalb jegliches Erkenntnispotential für Hebbels Reflexionen über das eigene Schreiben und seine Werke abzusprechen, erscheint dennoch wenig schlüssig, schon alleine weil Vorläufigkeit als Ausschlussargument bestimmter Texte eine literaturwissenschaftlich wenig tragbare Kategorie ist. Ein zweites Problem, das die Vermittlung zwischen den Tagebüchern und anderen theoretischen Texten betrifft, hat Peter Michelsen in seiner grundlegenden Studie zu den Tagebüchern formuliert. Denn Hebbels Notate lassen sich nur schwer zu einer kohärenten theoretischen Position addieren: „Das These-Antithese-Verhältnis […] läßt sich […] in ein zeitliches Nacheinander im Sinne einer sich vollziehenden Entwicklung nicht auflösen. Die Negation steht vielmehr unmittelbar neben der positiv aufgestellten Behauptung, und diese neben jener.“ (Friedrich Hebbels Tagebücher. Eine Analyse, Göttingen 1966, S. 66). Michelsens Beobachtung spricht aber eher für eine Einbeziehung der Tagebücher in das Korpus jener Texte, die sich theoretisch mit der Gattung Drama beschäftigen. Hebbel selbst hat seinen Tagebüchern bekanntlich einen hohen Stellenwert beigemessen, die Gattung eröffnete ihm offenbar die Freiheit weniger spruchreifer und antithetischer Reflexionen, die nicht als ungesagt gestrichen werden können, nur weil sie sich nicht griffig synthetisieren lassen. Krafts Hinweis auf die unterschiedliche Beschaffenheit der Textsorten bleibt dennoch hilfreich. So ist es wohl kein Zufall, dass Hebbel sich in seinen veröffentlichten Texten etwa zum Verhältnis von Stoff und Form anders geäußert hat als in den Tagebüchern, weil er in den ersteren strategischer agierte als in den letzteren, wo er freier, ungeschützter und ‘vorläufiger’ schreiben konnte.
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Tragödie als auch in der hierarchischen Unterscheidung zwischen einer zu vernachlässigenden ‘materiellen Geschichte’ und einer ‘geistigen Geschichte’, die den prioritären Status des Dramas und insbesondere der Tragödie begründet, zeigt sich Hebbels Nähe zu Überlegungen hegelianischer Provenienz. Der nicht theoretisch ausformulierte Begriff der ‘Atmosphäre’ aber liefert einen Fingerzeig auf Hebbels literarischen Umgang mit Stoffen. Die Tragödien, die in dieser Arbeit unter dem Begriff der Altertumsdramatik gefasst werden, sind immer wieder als Ausbuchstabierung geschichtsphilosophischer Tragödientheorien verstanden worden.⁵⁸ Hebbels programmatisch ausgearbeiteten Reflexionen über das Verhältnis von Geschichte und Gattung zeigen einerseits den Kontext an, in dem er sich als Autor literarisch bewegte, und zugleich wird deutlich, dass die theoretischen Texte stark beeinflusst sind von der eigenen literarischen Schreibpraxis und seinem Selbstverständnis als Dramatiker. In diesem Zusammenhang ist es zweitens bedeutungsvoll, dass in den theoretischen Texten das Verhältnis von Stoff und Form kaum je problematisiert wird (5.1.2.2). Die Annahme eines Primats der Form, das eigentlich die Annahme eines Primats der Gattung Tragödie ist und das in der Forschung weithin vertreten wird, ist daher, wie sich zeigen wird, nicht nur auf einer methodischen Metaebene als problematisch zu verstehen, sondern darüber hinaus auch kaum vereinbar mit Hebbels eigenen Theoremen.
5.1.2.1 Geschichtskonzepte Hebbel äußert sich in seinen theoretischen Texten kritisch gegenüber Positionen, die der Geschichte für die Dramatik besondere Potentiale zusprechen. Dem steht indes ein dramatisches Werk gegenüber, in dem Hebbel bemerkenswert konsequent auf historische und mythische Stoffe zurückgreift.⁵⁹ Es ist daher aufschlussreich, was Hebbel selbst unter dem Begriff des Stoffs fasst und wie er dabei verschiedene Begrifflichkeiten gegeneinander ausspielt, etwa in der frühen Abhandlung Mein Wort über das Drama!: Den Stoff des Dramas bilden Fabel und Charactere.Von jener wollen wir hier absehen, denn sie ist, wenigstens bei den Neueren, ein untergeordnetes Moment geworden, wie Jeder, der etwa zweifelt,
Vgl. stellvertretend Reinhardt: Apologie der Tragödie. Vgl. außerdem Kapitel 5.2 dieser Studie zu Herodes und Mariamne, dort in den Anmerkungen auch ein Forschungsabriss zu den geschichtsphilosophischen Lektüren der Tragödie. Eine kritische Position gegenüber affirmativ geschichtsphilosophischen Lesarten in Bezug auf die Nibelungen nimmt Claude Haas ein (Brunhild auf Tauris. Friedrich Hebbels ‘Die Nibelungen’ und die Tradition des deutschen Humanitätsdramas, in: Nibelungen – Mythos, Kitsch, Kult, hg.v. Peter Glasner Albert Kümmel-Schnur und Elmar Scheuren, Bonn 2008, S. 171– 182). Eine Ausnahme bildet allein Maria Magdalene. Auch dort, wo große Teile des Stoffs auf Hebbels Phantasie beruhen (etwa im Moloch-Fragment), liegen der Konzeption des Dramas historische und mythische Überlieferungen zugrunde (etwa der Fall der Karthager und die Moloch-Religion, vgl. hierzu auch Kapitel 5.4).
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sich klar machen kann, wenn er ein Shakespear’sches Stück zur Hand nimmt, und sich fragt, was wohl den Dichter entzündet hat, die Geschichte oder die Menschen, die er auftreten läßt. Von der allergrößten Wichtigkeit dagegen ist die Behandlung der Charactere. Diese dürfen in keinem Fall als fertige erscheinen, die nur noch allerlei Verhältnisse durch- und abspielen, und wohl äußerlich an Glück oder Unglück, nicht aber innerlich an Kern und Wesenhaftigkeit gewinnen und verlieren können. Das ist der Tod des Dramas, der Tod vor der Geburt. Nur dadurch, daß es uns veranschaulicht, wie das Individuum im Kampf zwischen seinem persönlichen und dem allgemeinen Weltwillen […] seine Form und seinen Schwerpunct gewinnt […] – nur dadurch wird das Drama lebendig.⁶⁰
Hebbel untergliedert den Stoff in zwei Teile – die Figuren auf der einen Seite und etwas, das er Fabel oder Handlung eines Dramas nennt und das er als grundsätzlich vernachlässigbar klassifiziert, auf der anderen Seite.⁶¹ Dabei gebraucht er „Fabel“ und „Geschichte“ synonym, ähnlich wie die drei Begriffe „Character“, „Mensch“ und „Individuum“. Mit seinem Akzent auf das Individuum und der synonymen Begriffsverwendung ist das Zitat symptomatisch für Hebbels theoretische Legitimation der Gattung Drama. Denn sie basiert auf einem radikal-ästhetischen tragischen Weltbild, dessen Dreh- und Angelpunkt das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Allgemeinem ist und das argumentativ darauf beruht, dass Begriffe und Phänomene zugleich ästhetisch und gesellschaftlich-geschichtlich verstanden werden. Die Individuation, die „Vereinzelung“ vom Weltganzen, „die nicht Maaß zu halten weiß“,⁶² bildet den Kern von Hebbels Tragikbegriff.⁶³ Nur im Allgemeinen, in der Totalität, im Universum, also im Ausgleich aller Kräfte, gibt es demnach „Vernunft und Sittlichkeit“.⁶⁴ Der Mensch dagegen handelt in der Konsequenz seiner unumgänglichen Individuation stets unmoralisch und unsittlich, denn er kann nur „unmittelbar
Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 4 f. Eine ähnliche Differenzierung des Stoffs findet sich auch in einem Tagebuchnotat von 1847, in dem Hebbel über das Unbewusste in der Kunst reflektiert: „Unbewußter Weise erzeugt sich im Künstler alles Stoffliche, bei’m dramatischen Dichter z. B. die Gestalten, die Situationen, zuweilen sogar die ganze Handlung, ihrer anecdotischen Seite nach, denn das tritt plötzlich und ohne Ankündigung aus der Phantasie hervor. Alles Uebrige aber fällt nothwendig in den Kreis des Bewußtseyns.“ (T III, Nr. 4272, 17.9.1847, Hervorh. i.O.). Der Stoff setzt sich demnach aus zweierlei zusammen, nämlich einerseits aus den „Gestalten“ und andererseits aus den „Situationen“ bzw. aus der „Handlung“, der Zusatz ihrer „anecdotischen Seite nach“ trennt das „Stoffliche“ dabei von seiner formal-ästhetischen Gestaltung. Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 4. Vgl. für Rekonstruktionen von Hebbels ‘Tragödientheorie’ die problemorientierten Darstellungen bei Herbert Kaiser: Friedrich Hebbel, S. 139 – 165 und die Beiträge in ders: Friedrich Hebbel – Schmerz und Form. Perspektiven auf seine Idee des Tragischen, Frankfurt/Main 2006. Vgl. außerdem HansJoachim Anders: Zum tragischen Idealismus bei Friedrich Hebbel, in: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg.v. Reinhold Grimm, Bd. II, Frankfurt/Main 1971, S. 323 – 344; Kraft: Poesie der Idee, S. 125 – 131; Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 5 – 68 und Hans-Christian Stillmark: Hebbels Traum vom perfekten Drama – Konzeption und Problematik, in: Zu neuer Aufklärung und Humanität, hg.v. Ida Koller-Andorf und Carsten Kretschmann, Berlin 2004 (Hebbel. Mensch und Dichter im Werk, Bd. 8), S. 55 – 70. Friedrich Hebbel: Vorwort zur „Julia“ (1850), W XIII, S. 136.
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aus dem Willen selbst, aus der starren eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs“⁶⁵ heraus agieren. Daher schließt Individuation „nothwendig und wesentlich“⁶⁶ Schuld mit ein. Hebbel denkt Schuld als Konsequenz jeglichen menschlichen Daseins, der nicht zu entkommen ist.⁶⁷ Der Mensch ist schuldig, da er als Individuum immer etwas will. Was er will, ist für Hebbels Begriff der Tragik unerheblich.⁶⁸ Weil die Schuldhaftigkeit des Menschen zwangsläufig aus seinem Subjektstatus folgt, kann sie nur ohne weitere ethische Konsequenzen konstatiert werden. Die Spannung zwischen Individuum und Universum wird allein durch den Tod aufgehoben. Denn erst dann geht die Vereinzelung wieder in der Totalität auf. Tragisch ist, dass es den Menschen nicht ohne Individuation und Individuation nicht ohne Schuld geben kann. Genau an dieser Stelle seines tragischen Weltbildes hat für Hebbel das Drama seinen Ort: Das Drama stellt den Lebensproceß an sich dar. Und zwar nicht bloß in dem Sinne, daß es uns das Leben in seiner ganzen Breite vorführt, was die epische Dichtung sich ja wohl auch zu thun erlaubt, sondern in dem Sinne, daß es uns das bedenkliche Verhältniß vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene Individuum dem Ganzen, dessen Theil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenüber steht.⁶⁹
Gegenüber anderen Gattungen genießt das Drama demzufolge eine Vorrangstellung, weil es die tragischen Gesetze des Lebens zur Anschauung bringt. So kann sich der Tragödiendichter nicht nur gewiss sein, dass er einen Beitrag zum Diskurs der literarischen Leitgattung leistet, sondern mit dem „höchste[n] Drama“⁷⁰ soll er darüber hinaus in den Geschichtsprozess selbst eingreifen. Das Drama solle, so Hebbel, „keine geringere, als die weltgeschichtliche Aufgabe selbst lösen helfen“ und zwar indem es „zwischen der Idee und dem Welt- und Menschen-Zustand“ vermittle.⁷¹ Die Pointe von Hebbels Tragödienreflexion – das hat Herbert Kaiser gezeigt – liegt in dieser Überblendung von dramatisch-ästhetischer und gesellschaftlich-geschichtlicher Perspek Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 4. Ebd. Vgl. Hebbels Ausführungen in Mein Wort über das Drama!: „In der Maaßlosigkeit liegt die Schuld, zugleich aber auch, da das Vereinzelte nur darum maaßlos ist, weil es, als unvollkommen, keinen Anspruch auf Dauer hat und deshalb auf seine eigene Zerstörung hinarbeiten muß, die Versöhnung, so weit im Kreise der Kunst darnach gefragt werden kann. Diese Schuld ist eine uranfängliche, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende, sie ist mit dem Leben selbst gesetzt. Sie zieht sich als dunkelster Faden durch die Ueberlieferungen aller Völker hindurch, und die Erbsünde selbst ist nichts weiter, als eine aus ihr abgeleitete, christlich modificirte Consequenz. Sie hängt von der Richtung des menschlichen Willens nicht ab, sie begleitet alles menschliche Handeln, wir mögen uns dem Guten oder dem Bösen zuwenden, das Maß können wir dort überschreiten wie hier.“ (Ebd., S. 29 f.). Dazu ausführlich Kaiser: Friedrich Hebbel, S. 150 – 153. Nach Hebbel unterscheidet sie sich hierin von der christlichen Erbsünde, die ethische Implikationen mit sich bringe, weil sie „erst aus der Richtung des menschlichen Willens“ entspringe (Mein Wort über das Drama! [1843], W XI, S. 4). Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 3 f. Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 40. Ebd., S. 57, Hervorh. i.O.
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tive. Auf diese Weise begründet Hebbel zugleich den herausgehobenen Stellenwert des Dramas und sein Selbstbewusstsein als Dramatiker.⁷² Hierin zeigt sich auch die Nachbarschaft von Hebbels theoretischen Reflexionen zu Hegels Dramen- und Tragödientheorie, bzw. mehr noch zu deren Aneignung durch die Hegelianer, wie sie in Kapitel 2.1 dieser Studie diskutiert wurde. Auch in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik wird die herausragende Bedeutung der Gattung Drama begründet durch deren Nähe zur Struktur der Geschichte. Während Hegel diese Rolle des Dramas aber historisch an die Antike koppelt und argumentiert, dass es durch die ‘selbstbezügliche Subjektivität’ als Signum der Moderne unmöglich geworden sei, weiterhin weltgeschichtliche Auseinandersetzungen im Drama darzustellen, haben Hegels Schüler diese Historisierung vielfach nicht mitvollzogen, sondern das Drama als einen solchen Ort der Vergegenwärtigung des Verlaufs von Weltgeschichte verstanden. Insbesondere Hebbels frühe Texte stehen einer solchen Argumentation nahe, unterscheiden sich von ihr aber darin, so wird sich noch zeigen, dass der Prozess der Weltgeschichte weit pessimistischer verstanden wird.⁷³ Wenn bei Hebbel dramatische Charaktere also das ästhetische Äquivalent zum gesellschaftlich-geschichtlichen Individuum sind, dann erklärt sich, warum Hebbel in einem Satz von „Charactere[n]“, in einem zweiten vom „Mensch[en]“ und in einem dritten vom „Individuum“ sprechen kann,⁷⁴ handelt es sich letztlich doch um nur leicht verschiedene begriffliche Akzentuierungen ein und desselben Phänomens. Da er mit der Vergegenwärtigung, Konzentration und Vermittlung des prekären Verhältnisses von Individuum und Allgemeinem den Beweis für die exzeptionelle Aufgabe des Dramas zu erbringen sucht, interessiert sich Hebbel in seinen theoretischen Texten auch konsequent für die ästhetische Repräsentation der Individuen, nämlich für die dramatischen Charaktere. Sind die Charaktere das ästhetisch-dramatische Äquivalent zum Individuum, dann würde es sich dem obigen Zitat zufolge bei der Fabel um die ästhetische Ausformulierung der Geschichte handeln.Vor diesem Hintergrund erscheint es aber wenig eingängig, dass Hebbel der Fabel jegliche theoretische und ästhetische Relevanz abspricht. Schließlich sind die ‘Geschichte’ und das ‘Historische’ prominente Begriffe in den theoretischen Texten, und wenn Hebbel von der Kunst als der „höchste[n] Geschichtsschreibung“⁷⁵ spricht, dann ist das eindeutig als Nobilitierung zu verste-
Vgl. Kaiser: Friedrich Hebbel, S. 143. Ähnlich formuliert schon früher Helmut Kreuzer, dass Hebbel „das Gesetz der Welt und das Gesetz der Tragödie“ gleichsetze (Die Tragödien Friedrich Hebbels. Versuch ihrer Deutung in Einzelanalysen, Diss. masch. Tübingen 1956, S. 2). Zur Bedeutung von Hegel für Hebbel vgl. Birgit Fenner: Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud, Stuttgart 1979; Ludwig Marcuse: Der Hegelianer Friedrich Hebbel – Gegen Hegel, in: Monatshefte 39 (1947), S. 506 – 514; Claudia Pilling: Hebbels Dramen, Frankfurt/Main u. a. 1996 (Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 26) und Walter Schnyder: Hebbel und Rötscher unter besonderer Berücksichtigung der beiderseitigen Beziehungen zu Hegel, Berlin 1923. Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 4 f. Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 58.
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hen.⁷⁶ Aber der Begriff der Geschichte umfasst bei Hebbel, auch hierin hegelianischen Ästhetiken nicht unähnlich, zwei Phänomene, deren Berührungspunkte allenfalls als peripher verstanden werden. Differenziert wird zwischen der „materielle[n] Hälfte“ der Geschichte, die Hebbel „durchstreich[t]“, und einer „geistigen, die durch die Kunst wieder geboren werden soll“.⁷⁷ Letztere ist gemeint, wenn Hebbel im obigen Zitat von „der wirklichen Welt-Historie“⁷⁸ spricht, und diese hat mit dem „ungeheure[n] Wust von zweifelhaften Thatsachen, und einseitig oder gar nicht umrissenen Characterbildern“ der ‘materiellen’ Geschichte, die laut Hebbel ohnehin „früher oder später das Fassungsvermögen übersteigen“⁷⁹ werde, kaum etwas zu tun. Hebbels Begriff der ‘geistigen Geschichte’ eröffnet eine Perspektive auf seinen Begriff des Tragischen. Er ist entzeitlicht und nicht an historische Veränderungen gebunden, weil die schuldhafte Individuation unausweichlich und immer mit der Existenz des Menschen gegeben ist. „[D]er Mensch, wie die Dinge um ihn her sich auch verändern mögen“ bleibt „seiner Natur und seinem Geschick nach ewig derselbe“.⁸⁰
Hebbel hat das Verhältnis von Geschichte und Fabel selbst thematisiert in einer polemischen Antwort auf Heibergs Vorwurf, er habe ‘Fabel’ und ‘Geschichte’ in der Abhandlung Ein Wort über das Drama! verwechselt: „Auf den Taschenspielerkniff brauche ich nun wohl kaum noch zurück zu kommen. Ich soll ihn dadurch begangen haben, daß ich, als ich von Shakespeares Unterordnung der Fabel unter die Charactere sprach, mich des Ausdrucks Geschichte bediente, statt den Ausdruck Fabel zu wiederholen. […] Es ist bekannt, daß man nach deutschem Sprachgebrauch eben so gut von merkwürdigen Geschichten, wie von der Geschichte spricht, und daß man damit gerade wunderbare Ereignisse und schauerliche Vorgänge, wie Novellen- und Dramen-Dichter sie wohl zu benutzen pflegen, bezeichnet. In diesem Sinne gebrauchte ich den Ausdruck, und eben bei Shakespeare, der so oft seltsame Geschichten behandelt hat, war er richtig angewandt. In einem anderen Sinne konnte ich ihn gar nicht gebrauchen wollen, denn der eigentlich historischen Stücke sind bei Shakespeare ungleich weniger, als der dem Stoff nach phantastischen und sagenhaften […]. Ohnehin spreche ich, wie mein Aufsatz lehrt, von der Historie, der wirklichen Welt-Historie, viel später; auch setzte ich, und dieß entscheidet, am fraglichen Orte für den Ausdruck Charactere den Ausdruck Menschen, wie für den Ausdruck Fabel den Ausdruck Geschichte, und zeigte dadurch deutlich genug, daß es mir um strenge Handhabung der herkömmlichen Terminologie keineswegs zu thun sei.“ (Mein Wort über das Drama! [1843],W XI, S. 37 f.). Dass Hebbel die Kritik am synonymen Gebrauch von Fabel und Geschichte mit dem Argument abtut, Heiberg habe ihn nur sprachlich missverstanden, weil der Begriff der Geschichte eigentlich nur eine Variante der Fabel darstelle, einen Ausdruck für (seltsame) Geschichten, kann als Erklärungsversuch nur halb befriedigen. Denn erstens verweist Hebbels Zusatz, ihm sei es nicht um die „strenge Handhabung der herkömmlichen Terminologie“ gegangen, implizit darauf, was diese Unschärfe systematisch ermöglicht: die Überblendung von Ästhetik und gesellschaftlich-geschichtlich gedachter Realität. Und zweitens zeigt sich hier die gleiche Tendenz wie in demjenigen Zitat, das Hebbel verteidigen will: die Abwertung der faktischen Geschichte. Die forcierten Bemühungen, der Faktizität von Geschichte jegliches besondere stoffliche Potential abzusprechen, deuten darauf hin, dass seine Gleichsetzung von Fabel und Geschichte im fraglichen Zitat keineswegs so zufällig ist, wie Hebbel es in der Verteidigung gegenüber Heiberg darstellt. Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 36. Ebd., S. 38. Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 4.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Trotzdem ereignet sich Geschichte, weil die tragische Grundsituation des Menschen zwar die Gleiche bleibt, sie aber trotzdem einen Geschichtsprozess initiiert: Das Drama, als die Spitze aller Kunst, soll den jedesmaligen Welt- und Menschen-Zustand in seinem Verhältniß zur Idee, d. h. hier zu dem Alles bedingenden sittlichen Centrum, das wir im Welt-Organismus, schon seiner Selbst-Erhaltung wegen, annehmen müssen, veranschaulichen.⁸¹
Die tragische Schuld ist demnach eine konstante Größe, aber der „Welt- und MenschenZustand“ ändert sich. Geschichte zeichnet sich durch die kontinuierliche Veränderung des Verhältnisses von Welt und Mensch zur sittlichen Idee aus. Die Differenz zur hegelschen Philosophie wird hier offenkundig. Hegel setzt das affirmative Vertrauen in den vernünftigen Fortschritt der Geschichte zentral, sie ist Kern seines philosophischen Programms. Demgegenüber argumentiert Hebbel formal-pragmatisch: Er muss ein sittliches Zentrum voraussetzen, weil der „Welt-Organismus“ in seinem dialektischen Verhältnis von Allgemeinem und Individuation sonst nicht gedacht werden könnte.⁸² An diesem Verhältnis aber hängt Hebbels tragisches Weltbild und damit auch die Legitimation der exzeptionellen Bedeutung der Gattung Drama und des Dramatikers. Hebbel geht von einem grundsätzlichen Kreislauf aus, die Tragik des Menschen bleibt sich immer gleich und ist einer „fortschrittlosen Dialektik“⁸³ von Besonderem und Allgemeinem unterworfen, zugleich aber sieht er ein grundsätzliches Fortschreiten der Menschheitsgeschichte. Der „sich schon jetzt verstrengende historische Ausscheidungsproceß, der das Bedeutende vom Unbedeutenden“ trennt, konzentriert Geschichte auf „die durch die Phasen der Religion und Philosophie bedingten allgemeinsten Entwicklungs-Epochen der Menschheit“.⁸⁴ Geschichte, so Hebbel, ereigne sich in großen Umbrüchen, in „historischen Krisen“.⁸⁵ Daraus folgt, dass das ‘höchste Drama’ auch nur in solchen Krisenzeiten entstehen kann. Von diesen Krisen hat es nach Hebbel zurückliegend nur zwei gegeben – die erste situiert er in der Antike, die zweite im Aufkommen des Protestantismus. Die dritte Krise diagnostiziert er in der eigenen Gegenwart. Diese historische Reihe lässt sich zu der Entwicklungslinie in der Gattungsgeschichte der Dramatik in Beziehung setzen, die im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum kanonisch geworden war: von der griechischen Tragödie (Antike) führt sie über Shakespeare (dessen Dramen sich in Hebbels Verständnis am Protestantismus entzündet haben) zu Goethe (Gegenwart).⁸⁶ Hebbels Pointe besteht
Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 40, Hervorh. i.O. Vgl. auch Kaiser: Friedrich Hebbel, S. 141. Ebd., S. 224. Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 58. Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 5, Die bewusste Kanonizität der Beispiele zeigt sich darin, dass Hebbel das Fehlen Calderons thematisiert, der zeitgenössisch in diese Reihe gepasst hätte: „Es muß Niemand wundern, daß ich Calderon, dem Manche einen gleichen Rang anweisen, übergehe, denn das Calderon’sche Drama ist allerdings bewunderungswürdig in seiner consequenten Ausbildung […], aber es enthält nur
5.1 „Stoff ist Aufgabe. Form ist Lösung.“ Hebbels tragödientheoretische Texte
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darin, dass letzterer „nur den Weg gewiesen“⁸⁷ habe. Hebbel konzipiert die Reihe damit als unvollständig: Es braucht noch den Dichter, der die Gunst der Stunde nutzt und vollendet, was Goethe nur begonnen hat. Das zeigt abermals den strategischen Charakter der theoretischen Texte, denn Hebbel positioniert sich so als Autor einer Zeit, in der es ihm selbst gelingen kann, das höchste Drama zu schreiben. Die Reihe antike Tragödie–Shakespeare–Goethe müsste also, so die Suggestion, um den Namen ‘Hebbel’ erweitert werden. Damit aber inszeniert Hebbel sich letztlich als denjenigen, der dazu berufen ist, „die weltgeschichtliche Aufgabe selbst lösen“⁸⁸ zu helfen. Die Bestimmung eines solchen Dramatikers liegt darin, die „Quintessenz der Geschichte“⁸⁹ darzustellen, und nicht darin, sich in die Niederungen der ‘materiellen Geschichte’ zu begeben. Diese stelle, so Hebbel, für den Dichter allenfalls „ein Vehikel zur Verkörperung seiner Anschauungen und Ideen“ dar, keinesfalls aber sei „umgekehrt der Dichter der Auferstehungsengel der Geschichte“.⁹⁰ Die Fabel als ästhetisches Pendant zur ‘materiellen Geschichte’ hat daher in den theoretischen Ausführungen keinen Platz. Dass Hebbel, wie gesehen, stoffintern die Charaktere gegen die Fabel ausspielt, hängt also mit der Logik einer Argumentation zusammen, in der beide Begriffe als jeweils ästhetische Pendants des Individuums und der ‘materiellen Geschichte’ gelten. Allen Priorisierungen der ‘geistigen Geschichte’ zum Trotz gibt es in Hebbels theoretischen Schriften zugleich auch Hinweise auf ein veritables Interesse an der historischen Gebundenheit von Dramenstoffen. Hierfür wird ein dritter Begriff verwendet, dessen Signifikanz von der Forschung noch nicht bemerkt wurde: den der ‘Atmosphäre’. Im Vorwort zur Maria Magdalene schreibt Hebbel in blumig-metaphorischem Stil, das Drama solle den „Gehalt der Geschichte in der Schaale der speciellen Perioden“ darstellen und damit zwar „nicht das weitläuftige und gleichgültige Register der Gärtner, die den Baum pflanzten und düngten“ (respektive die Details der ‘materiellen Geschichte’), wohl aber die „Frucht mit Fleisch und Kern“ (die ‘geistige Geschichte’) „und außerdem noch den Duft der Atmosphäre, in der sie reifte, darbieten […].“⁹¹ Der Begriff der ‘Atmosphäre’, der hier als dritte Option genannt wird, ist nicht allein der Metaphorik dieses Zitats geschuldet, sondern mit ihm denkt Hebbel die historisch-kulturelle Situierung der dramatischen Handlung. Das wird besonders deutlich in Hebbels Besprechung des Ludovico (1849), einer Bearbeitung von Philip Massingers The Duke of Milan (1623) durch Johann Ludwig Deinhardstein. Hebbels scharfe Kritik entzündet sich daran, dass Massinger das Stück
Vergangenheit, keine Zukunft, es setzt in seiner Abhängigkeit vom Dogma voraus, was es beweisen soll, und nimmt daher, wenn auch nicht der Form, so doch dem Gehalt nach, nur eine untergeordnete Stellung ein.“ (Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 41). Ebd. Ebd., S. 57. Kaiser: Hebbel und die Metaphysik des Tragischen, S. 222. Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 9. Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 59, Hervorh. i.O.
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im Italien des 16. Jahrhunderts angesiedelt habe, obwohl der „Angelpunct dieser Tragödie […] dem geschichtskundigen Leser aus dem Josephus bekannt“ sei. Sie beruhe „auf einem historischen Faktum“,⁹² nämlich auf den Geschehnissen um König Herodes und dessen makkabäische Gattin Mariamne, die der judäische Geschichtsschreiber Flavius Josephus in seiner Geschichte des Judäischen Krieges und der Jüdische[n] Altertümer ausführlich dargestellt hat. „[E]in einfacher Auszug aus dem Josephus“ stelle daher „die beste Kritik des englischen Dichters“⁹³ dar, weil in dieser Gegenüberstellung deutlich werde, dass mit Massingers Transformation eine Trivialisierung des Stoffs einhergehe. Das „Geschichtsmoment“⁹⁴ ist es, das Hebbel im Ludovico fehlt, und mit Geschichte meint er hier die korrekte spatial-temporale Kontextualisierung. In diesem Zusammenhang fällt wieder der Begriff der ‘Atmosphäre’. Ein Dramatiker, so Hebbel, der Josephus’ Herodes zur stofflichen Vorlage wähle, müsse „das Fieber des Herodes aus der Atmosphäre, in der er athmete, und diese aus dem dampfenden, vulcanischen Boden, auf dem er stand, zu entwickeln“⁹⁵ wissen. Sein offensichtliches tiefes Unbehagen gegenüber der historischen Dekontextualisierung eines Stoffs fasst er unter dieses Prinzip der ‘Atmosphäre’. Man kann den Begriff der ‘Atmosphäre’ als Relais verstehen, mit dem Hebbel die ‘geistige Geschichte’ und die grundsätzlich der Fabel zugeordnete ‘materielle Geschichte’ strukturell miteinander verbindet. Denn einerseits steht der Begriff in einer gewissen Nähe zur ‘geistigen Geschichte’, die sich über lange Zeiträume in epochalen Umwälzungen entwickelt. So heißt es in dem oben zitierten Passus, der Dramatiker dürfe nicht ins Spezielle abgleiten, solle aber wohl die „Frucht mit Fleisch und Kern […] und außerdem noch den Duft der Atmosphäre, in der sie reifte“,⁹⁶ darstellen. Und auch in Mein Wort über das Drama! dringt Hebbel darauf, die Kunst müsse „die Atmosphäre der Zeiten […] zur Anschauung bringen.“⁹⁷ Grundsätzlich sind im Begriff der ‘Atmosphäre’ also nicht empirische Details historischer Realität angesprochen, sondern allgemeine kulturelle Verortungen in eher großräumig gedachten Epochen. Zugleich hat die Forderung nach der korrekten ‘Atmosphäre’ aber wichtige dramenpraktische Konsequenzen. Hebbel hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichungen seiner Ludovico-Kritik bereits seine eigene dramatische Verarbeitung des durch Josephus überlieferten Stoffs abgeschlossen, die Tragödie Herodes und Mariamne. Zu Recht ist die Kritik daher als „getarnte[s] ‘Vorwort’ des Dichters zu ‘Herodes und Mariamne’“⁹⁸ Hebbel: Ludovico. Eine Tragödie in fünf Acten von Massinger. Bearbeitet von Deinhardstein (1849), W XI, S. 247– 260, hier S. 247. Ebd. Ebd., S. 253. Ebd., Hervorh. i.O. Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 59, Hervorh. F.K. Hebbel: Mein Wort über das Drama! (1843), W XI, S. 5, Hervorh. F.K. Rainer Gruenter: Hebbel. Herodes und Mariamne, in: Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, hg.v. Benno von Wiese, Bd. II: Vom Realismus bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1958, S. 123 – 140, hier S. 125. Hebbel hatte sein Drama Herodes und Mariamne zum Zeitpunkt seiner Ludovico-Kritik schon abgeschlossen. Sie lässt sich insofern tatsächlich als Kommentar zum
5.1 „Stoff ist Aufgabe. Form ist Lösung.“ Hebbels tragödientheoretische Texte
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bezeichnet worden. Hebbels Insistieren auf der Bedeutung der ‘Atmosphäre’ ist daher auch als Reflex auf seine eigene, eben fertig gestellte Tragödie zu verstehen.Vor diesem Hintergrund lesen sich seine Sätze als Hinweise darauf, wie mit der Stoffvorlage umgegangen werden solle, und zwar im Hinblick auf die von ihm sonst strategisch vernachlässigte ‘Fabel’. In letzter Konsequenz steht der Begriff daher auch der ‘materiellen Geschichte’ nicht fern. Die ‘Atmosphäre’ bildet damit nicht nur ein strukturelles Verbindungsglied zwischen der ‘materiellen’ und der ‘geistigen Geschichte’, sondern darüber hinaus auch zwischen den tragödientheoretischen Reflexionen und der eigenen literarischen Praxis – allerdings ohne dass Hebbel diese Systematik selbst ausformuliert hätte.
5.1.2.2 Stoff und Form Anders als das stoffinterne Verhältnis von Fabel und Charakteren war die Beziehung von Stoff und Form für Hebbel offensichtlich wenig problematisch, denn sie spielt in den veröffentlichten Texten keine Rolle. Der Formbegriff selbst hingegen ist, wie der des Stoffs, unbestreitbar zentral, er ist sowohl in den veröffentlichten Texten als auch in den Tagebüchern und Briefen allgegenwärtig. „Aus meinem Begriff der Form folgt sehr viel, und das Verschiedenste“, notiert er 1840 in sein Tagebuch und fährt fort: „Dramatik. Form ist da der Punct, wo göttliche und menschliche Kraft einander neutralisiren.“⁹⁹ Auch wenn aus Hebbels Formbegriff „das Verschiedenste“ folgt – dramenpraktische Konsequenzen im Sinne von formalen Ratschlägen (Anzahl der Akte, Stil des Dramas o. ä.) gehören nicht dazu.¹⁰⁰ Hans-Joachim Anders bedauert daher, dass Hebbel „leider keine Auskunft“ gebe, „wie man die Form zu schaffen habe“,¹⁰¹ die, wie dieser fordert, „Alles einschmilzt“.¹⁰² Hebbels Formulierung des Einschmelzens bringt seinen Formbegriff indes pointiert zum Ausdruck. Aufgabe der Form ist es nach Hebbel, zwischen verschiedenen Gegensätzen zu vermitteln. „Es giebt keinen Punct auf der Erde“, schreibt er in sein Tagebuch, „der nicht zugleich in den Himmel hinauf und in den Abgrund hinunter führte. Die diametrale Linie nun, die beide Perspektiven verknüpft, ist die Form.“¹⁰³
eigenen Drama lesen. Aber Hebbel erwähnt Herodes und Mariamne mit keiner Silbe, sondern betont im Gegenteil, dass „der köstliche Schatz [der Herodes-Stoff, F.K.] noch ganz unberührt“ daliege (Hebbel: Ludovico [1849], W XI, S. 247– 260, hier S. 254). T II, Nr. 1953, 28[?].3.1840, Hervorh. i.O. Wenn Hebbel solche Ratschläge erteilt, dann unter den Stichworten „Darstellung“ oder „Darstellbarkeit“, vgl. etwa im Vorwort zur „Maria Magdalene“ W XI, S. 55 und 52. Anders: Zum tragischen Idealismus bei Friedrich Hebbel, S. 337. Friedrich Hebbel: Schillers Briefwechsel mit Körner. Berlin,Verlag von Veit und Comp. 1847, W XI, S. 90 – 197, hier S. 144, Hervorh. i.O. T II, Nr. 2587, 8.9.1842. Vgl. hierzu auch Kaiser: Hebbel und die Metaphysik des Tragischen im 19. Jahrhundert, S. 225 – 227. Kaiser versteht ‘Form’ zu Recht als einen dialektischen Begriff (ohne das Verhältnis von Form zum Stoff zu beschreiben): „Die Dialektik der Form ist der vollkommene Ausdruck der Dialektik der tragischen Idee.“ (Ebd., S. 226).
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Oder, wie es ebenfalls im Tagebuch heißt: „Das Wesen der Form liegt in dem harmonischen Verhältniß des ausgesprochenen Individuellen zu dem vorausgesetzten Allgemeinen.“¹⁰⁴ Form vereint in sich damit die schon bekannte ästhetische und die gesellschaftlich-geschichtliche Perspektive. Form beschreibt das Verhältnis zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen, und zugleich ist die Darstellung dieses Verhältnisses die Aufgabe der als Gattung Tragödie gedachten Form. Form in diesem Sinne ist zwar abstrakt, aber alles andere als inhaltsleer gefasst. So ist auch Hebbels Tagebuchnotat aus dem Jahr 1838 zu verstehen, das häufig als Beleg für das Primat der Form zitiert wird, verstanden als Primat der Gattung Tragödie: „‘Form ist Ausdruck der Nothwendigkeit!’ sag’ ich in einer Kritik. Beste Definition! Stoff ist Aufgabe; Form ist Lösung.“¹⁰⁵ Damit wird aber nicht die Bedeutung der Form vor der Bedeutung des Stoffs privilegiert, sondern ein dialektisches Verhältnis von Stoff und Form benannt. Die Form soll den Stoff bändigen, und zugleich ist der Stoff die Herausforderung für den Prozess der Formung. Zentral ist dabei der Begriff der ‘Notwendigkeit’, mit dem abermals zwei Ebenen angesprochen werden: Einerseits ist der tragische Geschichtsverlauf gemeint. Die Form ist Ausdruck der Notwendigkeit, weil sie gleichzeitig „Unterscheidungs- und Verbindungslinie“¹⁰⁶ des notwendig tragischen Verhältnisses zwischen Individuum und Allgemeinem ist. Andererseits wird damit aber auch die dramentechnische Überlegung auf einen Begriff gebracht, dass Handlung und Figuren eines Dramas motiviert sein müssen, dass sie also keinesfalls kontingent erscheinen dürfen. Die ideale Form der Tragödie soll sicherstellen, dass sich aus der Anlage der Figuren und Konfliktfelder der tragische Verlauf notwendig entwickelt. Nicht nur methodische Einwände sprechen also dagegen, Hebbels Tragödien als literarische Dokumente der Legitimation eines inhaltsleeren Gattungsformalismus zu verstehen. Schlaffers einflussreicher Aufsatz vernachlässigt die Tatsache, dass Form und Stoff bei Hebbel in einem dialektischen Verhältnis stehen. Im Gegenteil, nach Schlaffers Meinung verschließt „[d]as Apriori der vom Inhalt dissoziierten Form […] Hebbels Tragödien“ jeglicher „Form-Inhalt-Dialektik“, das „Primat des Willens zur Tragödie“, so heißt es weiter, habe zur Folge, dass Hebbel „nach tragischen Stoffresten such[e]“, und darüber die Frage vernachlässige, „ob die Tragödie überhaupt angemessener Ausdruck der geschichtlichen Situation und Bewegung sein könnte“.¹⁰⁷ Schlaffer spart für seinen Formbegriff Hebbels Verständnis der Form als Figur der Verhältnisbestimmung zwischen einander antipodisch gegenüberstehenden Phänomenen aus. Er versteht den Begriff der Form stattdessen kurzschlüssig als ein Synonym für Gattung: „Primat der Form“ und „Primat des Willens zur Tragödie“ meint bei ihm dasselbe. Zwar verwendet auch Hebbel den Begriff der ‘Form’ im Sinne von ‘Gattung’, T I, Nr. 1761, 28.10.1839. T I, Nr. 1395, 6.12.1838. Kaiser: Hebbel und die Metaphysik des Tragischen im 19. Jahrhundert, S. 226. Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 131 f., vgl. ähnlich Kaiser: Friedrich Hebbel, S. 191 f.
5.1 „Stoff ist Aufgabe. Form ist Lösung.“ Hebbels tragödientheoretische Texte
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und die fraglichen Stellen dienen Schlaffer als Belege.¹⁰⁸ Aber tatsächlich ist Hebbels Begriff, wie gezeigt, sehr viel weiter gefasst. Die inhaltliche Dimension des Begriffs passt allerdings nicht in Schlaffers Argumentation. Schlaffers These von einem ‘a priori der Form’, die treffender ‘a priori der Gattung’ heißen müsste, erscheint also weniger als Hebbels eigene poetologische Setzung, sondern vielmehr als diejenige des Literaturwissenschaftlers selbst. Schlaffer zieht den legitimatorischen Gestus der theoretischen Texte nicht in Betracht. Erst aus dieser Perspektive wird die theoretische Aufwertung der Gattung Tragödie als strategische Entscheidung verständlich, die nicht umgekehrt notwendigerweise das Primat der Gattung zum poetologischen Prinzip von Hebbels gesamtem Schaffen macht. Zugleich ist gegen Schlaffers Position einzuwenden, dass seine Argumentation auf dem normativen Urteil ruht, die Tragödie sei als Gattung mit der Aufklärung an ihr Ende gekommen. So wird Hebbels Verteidigung der Tragödie als überholt klassifiziert, ihre Inhaltsleere erscheint doppelt begründet: Hebbels Tragödien haben keinen Inhalt, weil Hebbel nur an der Gattung interessiert ist. Und diese Reduktion von Hebbels Tragödien auf das reine Formverlangen passt gut in das Bild einer Literaturgeschichtsschreibung, die für die Gattung im 19. Jahrhundert keine Berechtigung mehr sieht – eine Feststellung, der Hebbels Zeitgenossen entschieden widersprochen hätten.¹⁰⁹ *** Der Gang durch Hebbels tragödientheoretische Reflexionen zielte auf zweierlei: Er sollte erstens die grundlegende methodische Frage diskutieren, wie das Verhältnis dieser Texte zu Hebbels Dramen zu fassen ist. Und er sollte zweitens vor dem Hintergrund, dass die Altertumsdramen zeitgenössisch wie auch in der neueren Forschung immer wieder geschichtsphilosophisch und spezifischer noch in hegelianischen Kontexten gelesen worden sind, Hebbels Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Geschichte und der Gattung des Dramas und der Tragödie in den Blick nehmen. Es hat sich gezeigt, dass Hebbels theoretische Texte nicht als Bedingung der Dramen, sondern vielmehr umgekehrt, als eine begleitende philosophisch-ästhetische
Vgl. ebd., S. 130. Vgl. hierzu auch Monika Ritzer: Trauerspiel versus Tragödie: Konstellationen des 19. Jahrhunderts im Drama Grillparzers und Hebbels, in: Hebbel-Jahrbuch 2010, S. 7– 36. Ritzer geht am Beispiel der Judith der Frage nach, ob Hebbels Beharren auf der Gattung Tragödie als überholtes Formbemühen zu verstehen sei. Sie argumentiert, dass das in der Judith verhandelte „konfliktträchtige Bedürfnis individueller Selbstbehauptung, das tragische Dimension“ erhalte, „indem es in ‘natürlicher Folge’ zur ‘Maßlosigkeit’“ (S. 28) führe, eine intellektuelle Reaktion auf den Weltschmerz und die Krise des Subjektbegriffs der Restaurationszeit sei. Indem Hebbel „diese Krise des Persönlichkeitsbegriffs“ (S. 24) zum Thema seiner Dichtung mache, erleide er keineswegs einen epigonalen Rückfall zur durch das Trauerspiel der Restaurationszeit obsolet gewordenen Gattung Tragödie, sondern suche im Gegenteil „die zeitgeschichtliche Relevanz der Gattung im Anschluß an das gattungstheoretische Paradigma […] zu bestimmen“ (S. 26).
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Verteidigung und Legitimierung des eigenen Schaffens zu lesen sind. Nicht zuletzt Hebbels Pointe, das ‘höchste Drama’ sei nur in Krisenzeiten realisierbar, von denen es in der Vergangenheit nur zwei gegeben habe und deren dritte sich in der zeitgenössischen Gegenwart ereigne, ist Indiz für den strategischen Charakter seiner theoretischen Texte. Weil die theoretischen Texte eine ganz eigene Agenda verfolgen, dürfen Hebbels Dramen nicht als poetische Bewährung der poetologisch-philosophischen Entwürfe in der dramatischen Praxis gelesen werden. Diese methodische Grundsatzentscheidung folgt dabei zugleich einer generellen Skepsis gegenüber der Annahme, dass die Bedeutung literarischer Texte sich ausschließlich auf die Erfüllung philosophischer Theoreme beschränken ließe. Insbesondere die Tendenz der Forschung, Hebbels Tragödien vornehmlich als verzweifelte Versuche der Verteidigung einer unzeitgemäßen Gattung zu lesen, hat sich als problematisch erwiesen. Der Begriff der ‘Form’, der immer wieder ins Zentrum der Untersuchungen gerückt wird, wird von Hebbel weitaus vielschichtiger gebraucht als in der Forschungsdiskussion. Hebbel selbst verwendet ihn keineswegs nur als Synonym für Gattung, sondern auch als komplexe Figur der verbindenden Verhältnisbestimmung zwischen verschiedensten ästhetischen und historischen Phänomenen. Mit dem Fokus auf die Textstrategien ist zudem sichtbar geworden, dass Hebbel zwar vielfach Begriffe und Denkfiguren aus idealistisch-geschichtsphilosophischen Kontexten entlehnt. Aber er verhält sich eher distanziert zu jenen Geschichtskonzepten, in denen Geschichte als teleologische Progression von Vernunft, Moral oder Freiheit gedacht wird. Obwohl Hebbel die ‘materielle Geschichte’, in der auch so etwas wie Kontingenz denkbar wäre, aus seinem ästhetischen und historischen Denken ausdrücklich verbannt, dürfen in seinem Verständnis historische Stoffe nicht dekontextualisiert werden. Anhand von Hebbels Kritik des Ludovico ist vielmehr deutlich geworden, dass für den Autor die historische Situierung der Dramenhandlung ein zentrales Anliegen darstellt und nicht zur Staffage degradiert werden darf. In seinen theoretischen Texten steht der Begriff der ‘Atmosphäre’ für eine solche Verbindlichkeit historischer Stoffe. Das Verhältnis von theoretischen Äußerungen und literarischer Praxis sowie Hebbels Positionierung dazu, was Geschichte ausmacht, welche Sinnstiftungspotentiale sie hat und welche Relevanz ihr in ästhetischen und gesellschaftlichen Diskursen zukommt, wird im Folgenden paradigmatisch an der Tragödie Herodes und Mariamne diskutiert. Damit wird ein Stück analysiert, in dem die Altertumskulturen in ihrer Vielfalt besonders komplex angeordnet sind. Immer wieder hat man in der Forschung auch diese Tragödie als Ausformulierung gattungstheoretischer und geschichtsphilosophischer Theoreme gelesen. Es wird darum noch einmal zu zeigen sein, dass Hebbels theoretische Äußerungen im Umfeld der Tragödie auf der einen Seite stark beeinflusst worden sind von geschichtsphilosophischen Diskussionen. Zugleich macht der Fokus auf Hebbels ästhetischen Gebrauch der differenten Altertumskulturen aber deutlich, dass in Herodes und Mariamne keineswegs der Versuch einer literarischen Abbildung geschichtsphilosophischer Theoreme unternommen wird. Ge-
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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rade ihre Problematisierung steht im Zentrum der Tragödie. Damit wird sich auch erweisen, dass eine methodische Trennung von Stoff, Form und Inhalt (im Sinne von Bedeutung) der Tragödie weder möglich noch wünschenswert ist. Denn Inhalt jenseits von Form gibt es in literarischen Texten ebenso wenig, wie es dramatische Form ohne Stoff und Inhalt geben kann. Erst mit Blick darauf, wie der Stoff formal gestaltet ist, wie die Tektonik der Tragödie strukturiert ist und wie die zeitgenössischen Gattungsvorgaben umgesetzt sind, wird sich zeigen, welche Bedeutungsebenen in Herodes und Mariamne entfaltet werden.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50) Herodes und Mariamne wurde am 19. April 1849 im Burgtheater mit Hebbels Frau Christine in der weiblichen Titelrolle uraufgeführt. „Das Spiel war vortrefflich, die Inscenirung glänzend“ schreibt der Autor am Abend der Uraufführung, nichtsdestotrotz sei es ein „schmerzenreicher, qualvoller Abend für [ihn, F.K.] als Mensch“ gewesen, aus familiären Gründen, da die gemeinsame Tochter krank gewesen sei, und zugleich, weil das Publikum das Stück „im höchsten Grade kühl“ aufgenommen habe: Das Verwirrende lag für die Masse der Zuschauer in dem zweiten Moment des Dramas, in dem historischen, dessen Nothwendigkeit bei der großen Gleichgültigkeit der Meisten gegen alle und jede tiefere Motivirung sie nicht begriffen.¹¹⁰
Angesichts der voraussetzungsreichen Handlung des Stücks kann man nicht umhin zu vermuten, dass die ‘Verwirrung’ des Publikums nicht nur dessen mangelndem Verständnis des geschichtlichen Moments der Tragödie geschuldet war (darauf wird noch zurückzukommen sein), sondern mindestens gleichrangig der Komplexität des Stoffs. Hebbel selbst empfand den Herodes-Stoff als so attraktiv, dass er sich sicher war, damit den „großen Haufen“¹¹¹ in die Theater zu ziehen, eine Hoffnung, die sich allerdings weder zu seinen Lebzeiten noch später erfüllen sollte. Zugleich wollte er dem verwinkelten Plot zum Trotz „eine Tragödie absoluter Nothwendigkeit“¹¹² schaffen, die auch „den Kenner befriedigen“¹¹³ sollte. Das Resultat dieses Spagats zwischen der Komplexität des Stoffs und der Konzentration auf die durchgängige Motivierung des
T III, Nr. 4581, 19.4.1849. Friedrich Hebbel an Julius Campe, 24. 2.1847, B I, Nr. 460, S. 869. Ähnlich auch an Felix Bamberg: „[E]ine historische Tragödie [Herodes und Mariamne, F.K.] […] habe ich vor zwei Tagen angefangen und den ersten Act fast schon vollendet; es wird sicher diesen Winter noch fertig und eben so sicher auf allen Bühnen Deutschlands gespielt werden. Ein großes Wort, nicht wahr, wie Sie es aus meinem Munde nicht gewohnt sind. Aber ich rede nicht ohne Grund. Meine Productivität ist jetzt sehr groß […]. Und was den zweiten Punct betrifft, so habe ich dies Mal einen Stoff aufgenommen, der den großen Haufen schon durch das Interesse, das er an sich einflößt, für sich gewinnt.“ (26. 2.1847, B I, Nr. 461, S. 871). Friedrich Hebbel an Heinrich Theodor Rötscher, 22.12.1847, B I, Nr. 555, S. 979. Friedrich Hebbel an Julius Campe, 24. 2.1847, B I, Nr. 460, S. 869.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Geschehens ist ein Text, in dem ein Großteil der Handlung in retrospektive Figurenrede und Botenberichte verlegt ist (etwa der Mord an Mariamnes Bruder Aristobolus, Herodes’ Besuch bei Antonius, seine Bestätigung als König durch Octavian etc.) und der dabei bis in die Nebenfiguren so genau durchkomponiert ist, dass Rainer Gruenter in ihm kaum mehr als eine „mathematische[] Gleichung“¹¹⁴ zu sehen vermochte. Die komplexe Handlung, die beim zeitgenössischen Publikum vielleicht für ‘Verwirrung’ sorgte, lässt sich kurz rekapitulieren: Herodes ist König von Judäa und verheiratet mit der schönen Makkabäerin Mariamne, die er im „Uebermaß“ (V. 420) liebt. In der ersten Szene werden bereits alle Bedrängnisse genannt, denen sich der Souverän ausgesetzt sieht:¹¹⁵ Die Beziehung zu Mariamne (V. 28) ist gestört, weil Herodes ihren Bruder Aristobolus ermorden ließ (V. 54), einen schönen jungen Priester, der ein Komplott gegen Herodes geplant und nicht zuletzt wegen seiner Beliebtheit beim Volk eine ernsthafte Bedrohung für den König dargestellt hatte. Herodes Regierungsstil kollidiert mit den Gesetzen der alten Religion, woran ihn der Pharisäer Sameas (nach V. 33) wenig freundlich erinnert. Aber nicht nur die Pharisäer weiß der König gegen sich, sondern auch Mariamnes makkabäische Mutter Alexandra (V. 82), die verschiedene Intrigen gegen ihn verantwortet. Antonius (V. 116), unter dessen Protektorat Herodes steht, hat von den merkwürdigen Umständen, unter denen Aristobolus zu Tode gekommen ist, gehört und lädt den König darum vor. Zudem schwelt im Hintergrund die Auseinandersetzung der beiden Triumvirn Antonius und Octavian (V. 122), an deren Ausgang auch Herodes eigenes Schicksal hängt. Diese vielfältigen Konflikte, die allesamt in den ersten 200 Versen aufgerufen werden, greifen im Folgenden ineinander und entfalten ihr tragisches Potential. Von Antonius „verklagt auf Tod und Leben“ (V. 202) und in Sorge, ein anderer (vielleicht sogar der Römer selbst) könne im Falle seines Todes Mariamne zur Frau nehmen, erbittet sich Herodes von ihr vor seiner Abreise das Versprechen, sich selbst zu töten, sollte er nicht von der Reise zurückkehren. Mariamne verweigert ihm den geforderten Schwur, nur um ihn wenig später, kurz nach Herodes Abreise, vor ihrer entsetzten Mutter Alexandra zu leisten. Herodes hat sie zu diesem Zeitpunkt aber schon heimlich „unter’s Schwert“ (V. 507) stellen lassen, das heißt er hat seinem Schwager und potentiellen Nachfolger Joseph den Befehl erteilt, sie im Falle seines eigenen Todes hinrichten zu lassen. In Herodes’ Abwesenheit lehnt sich das judäische Volk auf, angestiftet vor allem durch Sameas, der das Komplott mit Alexandra geplant hat.Von dem Aufruhr und Mariamne bedrängt, verrät Joseph dieser das tödliche Geheimnis. Als Herodes unversehrt von Antonius zurückkehrt, bezichtigt seine eifersüchtige Schwester Salome Mariamne des Ehebruchs mit ihrem Mann Joseph. Herodes, unsicher ob er Salomes Denunziation glauben kann, erfährt durch Mariamne, dass Joseph ihn verraten hat, und lässt daraufhin seinen Schwager unbefragt hinrichten. Mariamne ist durch den Schwertbefehl tief verletzt und sieht in sich „die Menschheit / Geschändet“ (V. 1684 f.).
Gruenter: Herodes und Mariamne, S. 134. Die folgenden Versangaben beziehen sich auf die jeweils erste Nennung bzw. den ersten Auftritt der Figuren in I, 1.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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Als Herodes ein zweites Mal aufbrechen muss, diesmal um Antonius im Kampf gegen Octavian beizustehen, schöpft sie Hoffnung, denn „[d]as Rad der Zeit“ (V. 1905), so meint sie, sei zurückgedreht. Sollte Herodes dieses Mal auf den Hinrichtungsbefehl verzichten, so will sie ihm verzeihen: „Jetzt werd’ ich’s seh’n, ob’s bloß ein Fieber war, / Das Fieber der gereizten Leidenschaft, / Das ihn verwirrte, oder ob sich mir / In klarer That sein Innerstes verrieth!“ (Vv. 1803 – 1806). Herodes aber, durch Mariamnes kühle Zurückhaltung in seinem Glauben an ihre Liebe endgültig erschüttert, erteilt abermals den Befehl, seine Frau im Falle seines eigenen Todes hinrichten zu lassen. Diesmal ergeht der prekäre Auftrag an den ihm treu ergebenen galiläischen Statthalter Soemus. Aber ähnlich wie Mariamne fühlt sich Soemus durch Herodes Befehl verletzt und entdeckt ihr darum das Geheimnis. Die Königin beschließt darauf, tief gekränkt und lebensmüde, ihren Gatten hinters Licht führen. Die politische Situation für Herodes steht scheinbar schlecht, weil Antonius in der Schlacht zu Actium geschlagen wurde. Mariamne will ihn, falls er noch lebt, in seinen schlimmsten und zugleich irrigen Vermutungen über sie bestärken. Zu diesem Zweck gibt sie ein Fest, so dass er denken muss, sie feiere seinen vermeintlichen Tod. Die Täuschung gelingt ihr: Als Herodes als freudestrahlender Sieger nach Jerusalem zurückkehrt, unerwartet von seinem einstigen Gegner Octavian in seiner Herrschaft bestätigt und sogar mit einer neuen Provinz beschenkt, ist er sich angesichts der Feier sicher, dass Mariamne ihn erst mit Joseph und dann mit Soemus betrogen und so von den Tötungsbefehlen erfahren habe.Wie zuvor seinen Schwager lässt er auch den galiläischen Statthalter ohne ernsthaftes Verhör zum Henker bringen. Zugleich führt er seine Frau dem Gericht zu, das sie in seinem Sinne wegen Ehebruchs zum Tode verurteilt. Auf Mariamnes Wunsch gewährt Herodes ihr eine letzte Unterredung mit dem römischen Hauptmann Titus. Ihm entdeckt sie ihre wahren Beweggründe: „Als ich mir sagen mußte: eher gleicht / Dein Schatten Dir, als das verzerrte Bild, / Das er [Herodes, F.K.] im tieffsten Innern von Dir trägt! / Das hielt ich nicht mehr aus, und konnt’ ich’s denn? / Ich griff zu meinem Dolch, und, abgehalten / Vom rasch versuchten Selbstmord, schwur ich ihm: / Du willst im Tode meinen Henker machen? / Du sollst mein Henker werden, doch im Leben! / Du sollst das Weib, das Du erblicktest, tödten / Und erst im Tod mich sehen wie ich bin!“ (Vv. 3033 – 3042). Von den Ereignissen erschüttert empfängt Herodes die unvermittelt auftretenden „[d]rei Kön’ge aus dem Morgenland“ (V. 3125), die auf der Suche nach dem „König aller Könige“ (V. 3156) sind. Als Herodes nach ihrem Abgang durch Titus und Alexandra erfährt, dass er sich in Mariamne getäuscht hat, ist es zu spät. Seine Frau ist bereits hingerichtet worden. Herodes will um jeden Preis an seiner Macht festhalten: „Darum bleib’ ich noch / Und halte fest, was ich noch hab’! Das ist / Nicht viel, doch eine Krone ist darunter, / Die jetzt an Weibes Statt mir gelten soll […].“ (Vv. 3291– 3294). Um den geheimnisvollen neugeborenen König aus dem Feld zu räumen, gibt er den Befehl „[d]ie Kinder, die im letzten Jahr / Geboren wurden, auf der Stelle“ (V. 3308 f.) zu töten. Zugleich aber ist er empfindlich geschwächt, und so endet das Drama mit dem physischen Zusammenbruch des judäischen Königs, der dem römischen Hauptmann Titus in die Arme sinkt. Nicht allein der symbolträchtige Schluss zeigt an, dass hier Welten ins Wanken geraten sind. Mit den Figuren wird ein Panorama von alten Reichen entwickelt, die sich
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
im Übergang befinden: Im titelgebenden Paar ist der Wechsel von der Macht der religiösen Makkabäer zur säkularisierenden Herrschaft des Herodes figuriert. Im Hintergrund tobt der Kampf zwischen Antonius und Octavian, durch Figurenberichte erfährt man von der Niederlage des ersteren und dem Aufstieg eines neuen Roms. Damit verbunden ist der Untergang Cleopatras und des ägyptischen Ptolemäerreichs. Herodes’ Zusammenbruch am Schluss des Dramas, bei dem ihn der Römer Titus stützt, versinnbildlicht das Ende der relativen Autonomie Judäas. In dieser Figurenkonstellation und auch in den Grundzügen der Handlung hält sich Hebbel an seine Vorlage, die Überlieferung des Stoffs durch den judäischen Historiographen Flavius Josephus (37– 100 n.Chr.) im 17.–23. Kapitel des Bellum Judaeorum und im 15. Buch der Antiquitates Judaeorum. ¹¹⁶ Aber Hebbel verdichtet die historischen Geschehnisse entscheidend. Aristobolus III. wurde 35 v.Chr. ermordet, die Seeschlacht bei Actium wurde 31 v.Chr. geschlagen, Antonius starb erst ein Jahr darauf, und Mariamne wurde 29 v.Chr. hingerichtet. Diese Zeitspanne wird im Drama auf wenige Tage konzentriert, in denen sich die Ereignisse überschlagen. Die Angabe im Figurenverzeichnis nimmt den Schluss der Tragödie, das heißt den Auftritt der drei Könige und den bethlehemitischen Kindermordbefehl, zum zeitlichen Fixpunkt, sie lautet schlicht „[u]m Christi Geburt“. Hebbel zieht also eigentlich nicht nur rund sechs, sondern sogar 35 Jahre zusammen. Durch diese extreme Kontraktion der Zeit erscheint die Welt in rasantem Wandel. Daran, dass es wirklich um nichts weniger als um die
Beide Darstellungen waren im 19. Jahrhundert populär. Sie lagen in Übersetzung in zwei Gesamtausgaben aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor (Flavii Josephi Alterthümer wie auch Krieg der Juden mit den Römern. Mit nöthigen Einleitungen, Anmerkungen, Figuren und Müntzen versehen und besorgt von Johann Baptista Ott, 6 Bde., Zürich 1735/1736; Des fürtrefflichen Jüdischen GeschichtSchreibers Flavii Josephi Sämmtliche Werke. Als Zwantzig Bücher von den alten Jüdischen Geschichten. Hierzu kommen ferner Dessen Sieben Bücher von dem Kriege der Juden mit den Römern. Mit vielen Anmerkungen, wie auch accuraten Registern versehen und ausgefertigt von Johann Friedrich Cotta, Tübingen 1735). Vom Bellum Judaicum waren außerdem noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei weitere Übersetzungen erschienen (Flavius Josephus:Vom jüdischen Kriege, übers.v. J. B. Frise, 2 Bde., Altona 1804 und ders.: Geschichte des jüdischen Krieges oder Untergang des jüdischen Volkes und seiner Hauptstadt Jerusalem, neu übers. und hg.v. A. Fr. Gfrörer. Mit geographischen und historischen Erläuterungen von Wilhelm Hoffmann, 2 Teile, Stuttgart 1836). Hebbel gibt mehrmals Josephus als Quelle an. Dass er ihn in deutscher Übersetzung gelesen hat, liegt aufgrund mangelnder Griechisch-Kenntnisse auf der Hand, aber aus seinen Tagebüchern und Korrespondenzen wird nicht ersichtlich, welche Ausgabe er verwendet hat. Hayo Matthiesen hat nachgewiesen, dass Hebbel beide Josephus-Versionen des Herodes-Stoffs gekannt hat, also sowohl die ausführlichere der Antiquitates als auch die straffere und pointiertere des Bellum, darum ist davon auszugehen, dass er eine der beiden (oder beide?) Gesamtausgaben verwendet hat (vgl. „Herodes und Mariamne“. Eine Untersuchung über die Quellen, in: Hebbel-Jahrbuch 1966, S. 88 – 116, hier S. 90). Für die Unterschiede zwischen der historischen Vorlage und Hebbels Drama vgl. außerdem das entsprechende Kapitel in Matthiesens Dissertation (Untersuchungen über die Quellen zu Friedrich Hebbels Historischen Dramen. Ein Beitrag zur Stoffgeschichte und zur Deutung des Dichters, Diss. masch. Kiel 1965, S. 64– 106) sowie Carsten Kretschmann: „… bis zu den untersten Abstufungen herab“ – Zur Konfiguration von Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne, in: Die dramatische Konfiguration, hg.v. Karl Konrad Polheim, Paderborn u. a. 1997, S. 167– 210, hier S. 167– 175.
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ganze Welt gehen soll, wird kein Zweifel gelassen. So betont Herodes vor seinem Aufbruch in den Krieg gegen die Araber, es handle sich diesmal um „einen hitz’gern Kampf, / Wie jemals“, weil „alle andern Kämpfe […] / Um Etwas in der Welt geführt“ worden seien, dieser aber „um die Welt“ (Vv. 1812– 1814) selbst.¹¹⁷ Der Eindruck, dass tatsächlich alles in Veränderung ist, wird außerdem durch zwei Figurenkonstellationen im Drama verstärkt, die epochale kulturelle Umbrüche anzeigen. Das betrifft zum einen die Einführung des Dieners Artaxerxes in das Drama, mit dem ein Übergang vom persischen zum jüdischen Altertum eingeführt wird, und zum anderen die schon genannten drei Könige aus dem Morgenland, die das „Kind“ (V. 3170) und mithin das Christentum als neue kulturelle Macht ankündigen. Die epochalen Umbrüche, die Hebbels Herodes und Mariamne charakterisieren, haben dazu geführt, dass das Drama wiederholt im geschichtsphilosophischen Kontext verortet und als „Kulturstufen-Tragödie“¹¹⁸ gelesen worden ist. Die Lesarten variieren zwar im Detail, aber grundsätzlich gehen sie alle davon aus, Hebbel habe in dem Drama ein „geschichtsphilosophische[s] Schema“¹¹⁹ veranschaulicht.¹²⁰ Für die Auch in der Judith und in Gyges und sein Ring werden die Auseinandersetzungen als weltgeschichtliche inszeniert. So hofft Holofernes auf einen ihm ebenbürtigen oder sogar überlegenen Gegner, der imstande ist, den „Erdball […] aus den Angeln“ (Hebbel: Judith, W I, S. 63) zu heben. Kandaules wiederum gewinnt die Einsicht, dass an Gyges mythischem Ring „[v]ielleicht […] das ganze Weltgeschick“ hänge (Hebbel: Gyges und sein Ring, W III, V. 1784), und als er Gyges auffordert, ihn zu töten, wehrt sich dieser mit dem Ausruf „Nicht um die Welt!“, woraufhin Kandaules entgegnet: „Um sie, mein Freund um sie!“ (V. 1764). Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 298. Gruenter: Herodes und Mariamne, S. 129. Um eine Auswahl an geschichtsphilosophisch inspirierten Lesarten zu nennen: Rainer Gruenter sieht die „geschichtsphilosophische Fracht“ im „Aufmarsch von Nebenfiguren“ verwirklicht. „Sameas als Vertreter der überlebten mosaischen Gesetzeshärte, die lebende ‘Uhr’ Artaxerxes, der die unhaltbare heidnische Geringschätzung des Menschenwertes demonstrieren soll, Soemus als geschichtsphilosophische Parallelfigur zu Mariamne, die die ‘neuen’ Gesinnungen durchsetzt, die heiligen drei Könige aus dem Morgenland, die eine neue Geschichtsära verkünden.“ (Herodes und Mariamne, S. 129). Demgegenüber bettet Heinz Stolte seine Lektüre zwar nicht explizit geschichtsphilosophisch ein, sieht aber im Auftritt der drei Könige, dass der „Zeiger der Weltgeschichte in eine neue Epoche, einen neuen Weltzustand vorwärts“ gedreht werde: „So stehen wir wieder einmal an einem Umbruch, an einer Schwelle von Weltzeitaltern.Wie auch sollte man in der ‘Welt des Scheins’ anders leben können, als mit dem, was der neue Heiland verkünden soll: Liebe, Geduld, Güte!“ (Hebbels ‘Herodes und Mariamne’ als Bekenntnisdichtung, in: Hebbel-Jahrbuch 1961, S. 90 – 117, hier S. 112). Ähnlich, aber explizit geschichtsphilosophisch reflektiert, versteht Herbert Kraft den Auftritt der drei Könige als „Symbol des Glaubens und des Vertrauens“, mit dem die „Zeitenwende“ (Poesie der Idee, S. 186) eingeläutet werde. Kraft meint, dass dieser „Versöhnung“ am Ende des Dramas „das ganze Gewicht ihres geschichtlichen Inhalts“ (S. 191 f.) zukomme. Allenfalls eine gebrochene „Versöhnung“ vermag hingegen Herbert Kaiser in dem Schluss zu sehen. Er macht Mariamnes „Entwürdigung“ zum Kern seiner Interpretation und sieht in den Polen Persien (Artaxerxes) und Rom ein „geschichtsphilosophische[s] Ost-West-Gefälle[]“, bei dem Rom zur Chiffre für eine „Funktionsgesellschaft“ (Friedrich Hebbel, S. 80) werde, als deren „Opfer“ er Kaiser Herodes versteht, so dass dessen „Abgang […] keineswegs […] Hoffnung auf das in den heiligen drei Königen angedeutete Zeitalter der Menschlichkeit“ (S. 83) mache. Ähnlich wie Hartmut Reinhardt (s.o.) vertritt schließlich Kretschmann die These, dass man Hebbel in Bezug auf Herodes und
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Frage nach den Konturen und dem Stellenwert der Altertümer in Herodes und Mariamne hat ein solcher Bedeutungshorizont natürlich Konsequenzen. Denn in diesem Sinne läge die poetologische Funktion der Altertumskulturen darin, den sich teleologisch und vernünftig entwickelnden Weltlauf zu verbildlichen. Die Frage, inwieweit dieser (hegelianisch‐)geschichtsphilosophische Ansatz trägt und welche Rolle dabei die Altertümer spielen, soll im Folgenden im Mittelpunkt stehen: Dafür wird zunächst (5.2.1) der Entstehungskontext der Tragödie rekapituliert, denn während Hebbel an Herodes und Mariamne schrieb, stand er in enger Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Theoretiker und Hegelianer Heinrich Theodor Rötscher. Der Kontakt mit Rötscher war auch deshalb bedeutsam,weil der erste Akt des Dramas in dessen Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur vorabgedruckt wurde, ergänzt um eine Einleitung aus Rötschers Feder. Dort lieferte dieser eine geschichtsphilosophisch inspirierte Interpretation des Dramas, die nicht nur einen prägnanten Beleg für die engen Beziehungen zwischen hegelianischer Geschichtsphilosophie und Dramatik mit Altertumsstoffen um die Mitte des 19. Jahrhunderts darstellt, sondern darüber hinaus die Erwartungs- und Interpretationshaltung gegenüber Hebbels Tragödien bis in die moderne Forschung hinein geprägt hat. Vor diesem Hintergrund des zeitgenössischen geschichtsphilosophisch-dramentheoretischen Diskurses und zugleich in kritischer Distanz zu dem methodischen Ansatz, dass Hebbels Dramen eine Ausbuchstabierung seiner theoretischen Reflexionen seien, werden im Anschluss die signifikanten historischen Umbrüche in den Blick genommen, die über die Verkörperung bestimmter Altertumskulturen durch die dramatischen Figuren vorgeführt werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht daher zweitens der Diener Artaxerxes (5.2.2). Mit der Nebenfigur des Persers entfernt sich Hebbel von seiner Quelle Josephus, in der Persien im Zusammenhang mit Herodes keine Rolle spielt. Es erscheint darum aus geschichtsphilosophischer Perspektive sinnvoll, hierin die Inszenierung eines zivilisatorischen Fortschritts zu sehen, zumal man in der Altertumskonstellation eine lockere Entsprechung zu Hegels in der Ästhetik propagierten dreischrittigen Geschichtsbild Orient-Antike-Romantik sehen könnte, wenn man Herodes politische Nähe zu Rom höher veranschlagen würde als die semantische Verbindung Judäas zum Orient. Der Anbruch der dritten Epoche wäre in dieser Lesart durch den Auftritt der ‘drei Könige aus dem Morgenland’ angekündigt. Dieser gehört zu den am häufigsten diskutierten Szenen in Herodes und Mariamne, bildet er doch den Kristallisationspunkt für geschichtsphilosophische Lektüren, und er wird dabei in der Regel als außergewöhnlicher dramentechnischer Bruch verstanden, der allein dem geschichtsphilosophischen Thema der Tragödie geschuldet ist. Aber diese Szene muss, so der Vorschlag in dieser Arbeit, im dramentektonischen Kontext des gesamten fünften Akts gelesen werden (5.2.3). Dann wird deutlich, dass hier ein ‘doppelter Schluss’ inszeniert wird, mit Mariamnes Tod als ‘erstem’ und dem Auftritt der drei
Mariamne als geschichtsphilosophischen „Denker“ ernst nehmen müsse (Zur Konfiguration von Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne, S. 174).
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Könige und Herodes’ Zusammenbruch in Titus’ Armen als ‘zweitem Schluss’. Mit der Frage nach der Funktion dieser Doppelung ist die Frage danach verbunden, wie Geschichte in Herodes und Mariamne entworfen wird und welche Rolle die Semantik der Altertumskulturen dabei spielt.
5.2.1 Hebbel, Rötscher und die These von der ‘Kulturstufen-Tragödie’ Eine der ausführlichsten und geschlossensten Lektüren von Herodes und Mariamne hat Hartmut Reinhardt vorgelegt. Seiner Interpretation liegt die These zugrunde, dass Hebbel mit dem Drama die „explizite[] Wendung zur Geschichte“¹²¹ hegelianischer Couleur vollzogen habe, unter deren Stern dann auch seine weitere Dramatik gestanden habe: Das Rad, das Hebbels „Mühle“ treibt, steht unter einem gleichsam weltgeschichtlichen Antrieb. Erst jetzt [mit Herodes und Mariamne, F.K.] wirkt sich der Hegelianismus vollauf in der Hebbelschen Dramatik aus: nicht bloß darin, daß wie in der Pariser Zeit um das Werk ein entsprechender Theorierahmen gelegt würde (dem im ‘bürgerlichen Trauerspiel’ [Maria Magdalene, F.K.] noch keine durchgängige Historisierung der inneren Form entspricht), sondern in der Erweiterung der Formkapazität durch das Moment geschichtlicher Spannung und geschichtlicher Bewegung, freilich auf dem Terrain der Vergangenheit.¹²²
Reinhardt weist allerdings auch darauf hin, dass der Hegelianismus, der sich in der Tragödie erstmals in Hebbels poetischem Werk niedergeschlagen habe, wohl nicht primär direkter Hegel-Lektüre entsprungen sei, sondern vor allem auf die enge briefliche Korrespondenz mit Rötscher zurückzuführen sei,¹²³ mit dem Hebbel einige Jahre (1847– 1851) in Kontakt stand.¹²⁴ Rötscher, der Mitglied des dramaturgischen Lesekomitees am Berliner Hoftheater war, setzte sich in dieser Zeit mit Nachdruck für Hebbel ein. Die Aufführung von Maria Magdalene am Königsstädtischen Theater (27. April 1848) geht maßgeblich auf seine Initiative zurück, zudem verhalf er Christine Hebbel zu einem Gastengagement im Sommer 1851 am Berliner Hoftheater. Mit ihr in der Titelrolle wurde während dieser Zeit erstmals die Judith in Berlin gegeben. Hebbel veröffentlichte außerdem mehrere Texte in den von Rötscher herausgegebenen Jahr-
Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 284. Ebd., S. 290. Vgl. ebd. S. 291– 301; vgl. zur Bedeutung Rötschers für Hebbel auch Schnyder: Hebbel und Rötscher. Nach 1851 brach der Kontakt ab, wahrscheinlich hatte sich Hebbel mit Rötscher überworfen. So empört sich Hebbel etwa im März 1852, dass Rötscher „gar Nichts für’s Deutsche Drama“ tue (Friedrich Hebbel an Christine Hebbel, 19. 3.1852, B II, Nr. 1095, S. 464).
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büchern für dramatische Kunst und Literatur, in denen, wie bereits erwähnt, auch der erste Akt von Herodes und Mariamne vorabgedruckt wurde.¹²⁵ Dramentheoretisch verhandelten Rötscher und Hebbel in ihren Briefen vor allem zwei Probleme: das Verhältnis von Geschichte und Drama sowie, eng damit zusammenhängend, die hegelianische Kategorie der ‘Versöhnung’. Die beiden Themenkomplexe wurden allerdings nicht von beiden Korrespondenten mit gleicher Intensität verfolgt. Hebbel interessierte sich vor allem für die Relation von Geschichte und Drama. Seine eigenen Ansichten hierzu empfand er denen seines Briefpartners ähnelnd, wie er in einem Brief im Dezember 1847 betonte: Ich hoffe, daß meine neue Tragödie Mariamne die Hoffnungen, die Sie, verehrtester Freund, an sie knüpfen, nicht ganz täuschen werde. Wenn sie so ausfällt, wie sie ausfallen muß, so wird namentlich derjenige Punct Ihrer Theorie, der das Verhältniß der dramatischen Kunst zur materiellen Geschichte betrifft, durch sie eine schlagende, vielleicht unwidersprechliche Bestätigung finden. Es geht mir mit dem Stoff merkwürdig. Aus der Ferne betrachtet, schreckte er mich im Anfang ab; aber aus ganz anderen Gründen, als woraus dieß sonst wohl der Fall ist. Er schien mir schon zu vollendet, zu abgerundet in sich, um dem Künstler auch nur noch so viel Arbeit zu geben, als nöthig ist, wenn er sich begeistern soll; er schien mir geradezu eine derjenigen Tragödien zu seyn, wie sie, obwohl sparsam, in vollendeter Gestalt ohne Beihilfe des Dichters der historische Geist selbst hervor bringt. Nahebei besehen fand ich das freilich etwas anders. Es kommen im Gegentheil in der Geschichte des Herodes Dinge vor, die so unglaublich hingestellt sind, daß wohl der bornirteste Gegner Ihrer hier in Frage stehenden Ansicht nicht verlangen wird, daß der Künstler sie so in den Kreis seiner Darstellung aufnehmen soll und daß ein Dichter, der sich, wie ich, die Aufgabe setzte, eine Tragödie absoluter Nothwendigkeit hervor zu bringen, in Verzweiflung gerathen muß.¹²⁶
Als Beispiel für ein solches „Ding“, über das ein Dichter schlichtweg in „Verzweiflung“ geraten müsse, führt Hebbel die durch Flavius Josephus überlieferte Episode an, der zufolge Joseph Mariamne von dem Tötungsbefehl erzählt habe, „um ihr zu zeigen, wie sehr Herodes sie – liebe!“¹²⁷ Der Spiegelstrich visualisiert typographisch Hebbels Empörung über diesen „abgeschmackten Grund[]“,¹²⁸ sie hallt ähnlich auch in der
Vgl. Friedrich Hebbel: Herodes und Mariamne. Eine Tragödie in fünf Akten (Manuscript), Erster Akt, in: Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur 1849, S. 247– 275; vorangestellt ist Rötschers Vorbemerkung (S. 247– 249), die auch in der Wernerschen Säkularausgabe abgedruckt ist (W II, Anhang, S. 163 – 165). Rötscher hatte in den Jahrbüchern schon Hebbels Maria Magdalene besprochen,vgl. Jahrbücher für dramatische Kunst und Literatur 1848, S. 145 – 154. Friedrich Hebbel an Heinrich Theodor Rötscher, 22.12.1847, B I, Nr. 555, S. 978 f. Ebd., S. 979. Vgl. die Version bei Flavius Josephus: „Joseph aber verriet das Geheimnis, nicht in böser Absicht, sondern um Mariamne die Liebe des Königs zu beweisen […].“ (Geschichte des Jüdischen Krieges, übers. und mit Einl. und Anm. versehen v. Heinrich Clementz, Halle/Saale o.J. [1900], 1. Buch, Kapitel 22, 4, S. 124). In den Jüdischen Altertümern hingegen wird nicht begründet, warum Josephus das Geheimnis verraten hat, sondern Mariamne bemerkt lediglich gegenüber Herodes, dass sie davon wisse (vgl. Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, übers. und mit Einl. und Anm. versehen v. Heinrich Clementz, Bd. II, Berlin, Wien 1923, 15. Buch, Kapitel 3, 9, S. 304). Friedrich Hebbel an Heinrich Theodor Rötscher, 22.12.1847, B I, Nr. 555, S. 979.
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Ludovico-Kritik nach.¹²⁹ Seine Aufgabe als Dichter sah Hebbel darin, das „Factum“ von Josephs Verrat in „Vernunft aufzulösen“, das heißt die Preisgabe des Geheimnisses wahrscheinlicher zu motivieren. In diesem poetologischen Verfahren nahm Hebbel die Nähe zur „Ansicht“¹³⁰ des hegelianischen Ästhetikers wahr.¹³¹ Rötscher hatte seine Sicht auf das Verhältnis von Dichtung und Geschichte 1846 in der Abhandlung über Das Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffs publiziert.¹³² Er plädiert in dem Text für eine grundsätzliche Autonomie des Dichters gegenüber den historischen Fakten, weil die „Kunst es mit der poetischen Wahrheit zu thun“ habe, die ihren eigenen Regeln folge und darum „nothwendig mit der historischen, empirischen Wahrheit in Konflikt“ geraten müsse.¹³³ Diese prinzipielle Entbin-
Der entsprechende Passus in der Ludovico-Kritik lautet: „Joseph hatte sein Geheimniß verrathen, er hatte Mariamnen gesagt,welch ein Befehl ihm in Bezug auf sie zu Theil geworden sei; er hatte es nach dem jüdischen Geschichtschreiber gethan, um ihr zu zeigen, wie unendlich Herodes sie liebe. Das kann nicht wahr sein! Nicht, als ob es nicht einen solchen Schwachkopf in Jerusalem hätte geben können; das wird Keiner bestreiten wollen. Aber nimmermehr hätte Herodes sich über diesen Schwachkopf getäuscht und ihm den Befehl anvertraut. Hier ist Josephus schlecht unterrichtet, und wenn der Historiker das auch nicht ohne äußere Beweise einräumen will, der Dichter wird die innern unbedingt anerkennen und einen anderen Schlüssel suchen müssen.“ (W XI, S. 250). Hebbel argumentiert hier etwas anders als im Brief an Rötscher, wo er offensichtlich die Nähe zu dessen Theorie betonen wollte. So zeigt sich Hebbel in der Ludovico-Passage weniger gegenüber einer Argumentationslogik skeptisch, die den Dichter auf historische Faktizität verpflichtet, sondern meint vielmehr, dass sich die Begebenheit wahrscheinlich anders zugetragen habe, als Josephus berichtet. Nach dieser Darstellung hätte also der ‘historische Geist’ selbst sehr wohl eine Tragödie geschaffen, aber die Überlieferung derselben wäre gescheitert. Friedrich Hebbel an Heinrich Theodor Rötscher, 22.12.1847, B I, Nr. 555, S. 979. Hebbels Bemühen, diese Nähe zu Rötscher herzustellen, lässt sich bis in die Wortwahl hinein verfolgen. So spricht Hebbel in seinem Brief an Rötscher vom „historische[n] Geist“ (Friedrich Hebbel an Heinrich Theodor Rötscher, 22.12.1847, B I, Nr. 555, S. 978), eine hegelianische Begriffswahl, die er in seinen theoretischen Texten eher meidet. Die Übernahme von Rötschers Formulierungen lässt sich auch für andere Stellen nachweisen. So heißt es etwa in einem Brief von Rötscher an Hebbel: „Er [Herodes, F.K.] steht auf einem Vulkan u fühlt es; dies bringt jene fieberhafte Spannung in ihm hervor.“ (1.12.1848, B I, Nr. 641, S. 1079, Hervorh. i.O.). In der Ludovico-Kritik, die im Januar 1849 erschien, schreibt Hebbel dann, dass ein Dichter, der sich den Herodes-Stoff vornehme, „das Fieber des Herodes aus der Atmosphäre, in der er athmete, und diese aus dem dampfenden, vulcanischen Boden, auf dem er stand“ entwickeln müsse (W XI, S. 253, Hervorh. i.O.). Auch Hebbels Formulierung, er habe Herodes und Mariamne in den Tagen des „Bombardements und der Einnahme der Stadt“ beendet und die Hauptszenen gar „während der letzten Kanonade“ verfasst (Friedrich Hebbel an Gustav Kühne, 21.11.1848, B I, Nr. 638, S. 1074), ähnelt Rötschers kurz zuvor gesendeter, schmeichelnder Frage in einem Brief vom 7. November 1848: „Die Schlußscene Ihrer Mariamne war am 21 t October noch nicht geschrieben. Haben Sie die Kraft u Stimmung gefunden, dieselbe unter dem Donnern der Kanonen zu vollenden? Vielleicht sind die letzten Striche des Gemäldes unter der Gewalt des furchtbaren Ereignisses gemacht worden, wie einst Hegel die letzte Seite seiner Phänomenologie des Geistes unter dem Donner der Kanonen von Jena daselbst schrieb.“ (B I, Nr. 636, S. 1072, Hervorh. i.O.). Vgl. zu Rötschers Recht der Poesie auch Kapitel 2.1.3; dort vor allem mit Blick auf die Differenz von Rötschers Positionen zu Hegels gattungstheoretischen Annahmen. Rötscher: Das Recht der Poesie in der Behandlung des geschichtlichen Stoffes, S. 25, Hervorh. i.O.
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dung des Dichters von der Verpflichtung auf „geschichtliche Treue“¹³⁴ bezieht Rötscher allerdings nur auf die Faktizität der ‘empirischen Geschichte’. Als Hegelianer sieht er „geschichtliche[] Treue“ dennoch gefordert, weil „der Dichter durch die treue Darlegung des geschichtlichen Geistes, durch die reine Wiederspiegelung [sic!] der geschichtlichen Bewegung, ohne subjektive Zuthaten, den Prozeß des göttlichen Geistes am reinsten vor uns auslegen“ könne.¹³⁵ In Rötschers Artikel konnte Hebbel also seine dezidierte Ablehnung einer Verpflichtung des Dichters auf die Darstellung der faktischen Geschichte bestätigt sehen, die er bereits in Mein Wort über das Drama! (1843) und im Vorwort zur Maria Magdalene (1844) publiziert hatte. Das gleiche gilt für seine Unterscheidung von ‘materieller’ und ‘geistiger’ Geschichte, der Rötschers Differenzierung von ‘faktischer’ bzw. ‘empirischer’ Geschichte einerseits und dem sich in seiner Vernunft entfaltenden ‘historischen Geist’ andererseits entspricht.¹³⁶ Beiden Argumentationen liegt eine – beim Dichter implizit, beim Philosophen explizit getroffene – hierarchische Unterteilung von Geschichte zugrunde. Sie macht es möglich, einen vernünftigen und vor allem notwendigen Geschichtsprozess zu denken, indem die Kontingenzen und Faktizitäten der Geschichte in einen als irrelevant klassifizierbaren Geschichtsbegriff ausgelagert werden (nämlich in die wahlweise ‘materielle’, ‘faktische’ oder ‘empirische’ Geschichte) und getrennt werden von einem inneren Wesenskern der Geschichte (der ‘geistigen Geschichte’ oder aber, in der hegelianischen Wendung, des ‘historischen Geistes’). Die Denkfiguren ähneln sich zwar grundsätzlich, doch ist ihre verschiedene Akzentuierung auffällig: Während der hegelianische Ästhetiker Rötscher in seiner Abhandlung betont, dass die Dichtung sich in den Dienst des ‘historischen Geistes’ stelle, betont Hebbel die exzeptionelle Bedeutung des Dramatikers, die er damit begründet, dass dieser mit seiner Dichtung in den Geschichtsprozess selbst eingreifen könne, indem er den ‘höchsten Gehalt’ von Geschichte darstelle. Die unterschiedliche Akzentuierung signalisiert bei allen Gemeinsamkeiten doch einen verschiedenen Umgang mit dem geschichtsphilosophischen Begriff des ‘historischen Geistes’, der sich noch eklatanter in der zweiten dramentheoretisch zentralen Frage nach der ‘Versöhnung’ zeigt. Im geistigen Umkreis von Hegel war die Versöhnung als Zielpunkt jeder Tragödie, als harmonische Aufhebung der Kollision und damit der widerstreitenden individuellen Prinzipien im Allgemeinen, zur zentralen Kategorie tragödientheoretischer Ästhetiken avanciert.¹³⁷ Diesem geschichtsphilosophischen Trend widersetzte sich Hebbel in frühen Jahren aufs Deutlichste, etwa in einem Tagebuchnotat von 1842:
Ebd., S. 24. Ebd., S. 50 f., Hervorh. i.O. Hebbels Unterscheidung von ‘materieller’ und ‘geistiger’ Geschichte, die man, wie gesehen, noch um die dritte Kategorie der ‘Atmosphäre’ erweitern könnte, vollzieht Reinhardt nicht mit (vgl. Apologie der Tragödie, insbesondere S. 284– 291) und fällt daher das Urteil, dass sich die „vielfältigen Äußerungen Hebbels zur Geschichte […] nicht systematisieren“ (S. 289) ließen. Vgl. Kapitel 2.1.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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Ich denke viel über das nach, was die Recensenten das Versöhnende in der tragischen Kunst nennen. Es giebt keine Versöhnung. Die Helden stürzen weil sie sich überheben.¹³⁸
Dabei handelt es sich zwar um eine frühe Äußerung gut fünf Jahre vor dem intensiven Kontakt mit Rötscher, und die aus dem Notat sprechende extreme Abwehr der Versöhnung ist in den publizierten Texten nicht artikuliert. Aber auch in diesen Texten spielt die Versöhnung allenfalls am Rande eine Rolle, und in der Regel in Formulierungen, die eine skeptische Distanz zu der Kategorie und ihrer inflationären Verwendung durch Dramenkritiker ausdrücken.¹³⁹ Zwar ist die geistige Geschichte in den theoretischen Texten grundsätzlich als fortschreitender Prozess gedacht, aber, wie gezeigt, durchaus nicht als affirmatives Vertrauen in den sinnvollen Fortgang von Geschichte. Während Hegel den Begriff positiv in Bezug auf den objektiven, zu sich selbst kommenden Weltgeist bestimmt, begründet Hebbel seinen Geschichtsbegriff argumentativ-formal. Für Hebbel ist die Annahme eines sittlichen Zentrums, zu dem der „Welt- und Menschen-Zustand“ ¹⁴⁰ in einem Verhältnis steht, Folgeerscheinung einer Argumentation, die auf die Verteidigung des prioritären Status des Dramas abzielt. Die hegelsche Versöhnung mit ihrem Pochen auf den vernünftigen Fortschritt der Freiheit und den Triumph des harmonischen Allgemeinen war für Hebbel kein Hauptziel, mehr noch, er bezweifelte grundsätzlich, dass es sich hierbei um eine sinnvolle ästhetische Kategorie handelte. Für den Hegelianer Rötscher dagegen war die tragische Versöhnung ein zentrales Anliegen.¹⁴¹ In einem Brief vom 17. Dezember 1847 kam der Ästhetiker auf den Punkt ausführlicher zu sprechen und zwar im Zusammenhang mit Hebbels Tragödie Julia. Rötscher hatte zu diesem Zeitpunkt schon den ersten Akt von Herodes und Mariamne gelesen und setzte auf dieser Grundlage große Hoffnungen in das Stück:
T II, Nr. 2578, 29.7.1842. In Mein Wort über das Drama! schreibt Hebbel, dass in der „Maaßlosigkeit“ die „Schuld“ des Individuums liege, aber auch die „Versöhnung“, denn „das Vereinzelte“ sei „nur darum maaßlos […], weil es, als unvollkommen, keinen Anspruch auf Dauer“ habe und in der Konsequenz „auf seine eigene Zerstörung hinarbeiten“ müsse. Sogleich aber fügt Hebbel einschränkend hinzu, dies gelte überhaupt nur, „so weit im Kreise der Kunst darnach [nach der Versöhnung, F.K.] gefragt werden“ könne (W XI, S. 29, Hervorh. i.O.). Hebbels Verwendung des Begriffs an dieser Stelle ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass er sich mit dem Text gegen den dänischen Hegelianer Johan Ludvig Heiberg zu verteidigen suchte. Deutlich pejorativer äußerte er sich im Vorwort zur Maria Magdalene (1844), wo er sich von der „sogenannten Versöhnung unserer Aesthetici, welche sie in einem in der wahren Tragödie […] unmöglichen, in der auf conventionelle Verwirrungen gebauten aber leicht herbei zu führenden schließlichen Embrassement der Anfangs auf Tod und Leben entzweiten Gegensätze zu erblicken pflegen“, ausdrücklich distanzierte (W XI, S. 64, Hervorh. i.O.). Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“ (1844), W XI, S. 40, Hervorh. i.O. Dass Hegel die Kategorie der Versöhnung aus der antiken Tragödie gewinnt und sie im modernen Drama als höchst prekär gewordenes Prinzip darstellt, steht auf einem anderen Blatt, denn diese Historisierung und Problematisierung vollzieht Rötscher nicht mit, vgl. Kapitel 2.1.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Die ganze Weltanschauung der Julia hängt mit der Maria Magdalena auf das innigste zusammen; auch in Betreff der Versöhnung. In beiden Werken fällt diesselbe [sic!] außer dem Stück in die Welt d. h. in der Darstellung [unsichere Lesart der Herausgeber, F.K.] des sich innerhalb der Welt hervorthuenden Gegensatzes, einer anderen Ordnung der Dinge, welche aber noch nicht wichtig geworden u einer alten Ordnung, welche noch faktisch gilt, die Macht hat. Beide Werke zeigen das Problem einer mit Nothwendigkeit sich von der alten Weltordnung u ihrem ganzen Complex der Vorstellungen losringenden neuen Weltordnung in dramatischer Bewegung auf. Die Versöhnung ist u kann dabei nur die der unerbittlichen Notwendigkeit sein. Wir werden in beiden Dramen mit der Überzeugung entlassen: solch ein Kampf ist nothwendig, seine Opfer fallen dem Zusammenstoß dieser Mächte; es ist ein Unausweichliches, was sich begiebt. Die Versöhnung ist hier noch die harte Nothwendigkeit, d. h. das Bewußtsein eines unabweisbaren tragischen Geschicks, dessen letzter Wurzel in dem Ringen des geschichtlichen Geistes liegt. […] Ich glaube man könnte diese Form der Versöhnung mit einer Hegelschen Kategorie die an sich seyende Versöhnung nennen im Gegensatz derjenigen, welche sich aus der Bewegung der Handlung u dem Kampf der Individualitäten vollständig innerhalb der Tragoedie vollbringt, welche man dann als die an u für sich seyende bezeichnen dürfte. […] Ich glaube, Sie werden in Herodes u Mariamne, wie es mir nach der Anlage erschienen ist, den Fortschritt von der Versöhnung in der Form der Nothwendigkeit, zur Form der Freiheit machen.¹⁴²
An der dramatischen Verwirklichung der anspruchsvoll ausformulierten Kategorie der Versöhnung hing für Rötscher die Qualität einer Tragödie, er erwartete von Hebbel insbesondere hierin „Fortschritt“, und er sah seine Forderung nach einer sich „innerhalb der Tragödie“ selbst entwickelnden Versöhnung in Hebbels Herodes und Mariamne schließlich auch tatsächlich verwirklicht. Dokumentiert ist seine Begeisterung darüber in der begleitenden Einleitung zum Abdruck des 1. Akts in den Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur: In Herodes und Mariamne reagirt das Gefühl und das Bewußtsein menschlicher Würde und Hoheit gegen die Zumuthung, zu einem Mittel herabgesetzt und der Selbstsucht, wenn auch einer reichen mächtigen Persönlichkeit, geopfert zu werden. Es ist das Gefühl der freien Subjektivität, welche sich ihres unendlichen Werths, und ihres unendlichen Rechts bewußt ist, das im Untergange triumphirt, indem es sich durch einen freiwilligen Untergang für die Herabsetzung rächt, welche es erfahren hat. In diesem Rückschlag, welchen die Selbstsucht einer großartigen Persönlichkeit (Herodes) […] durch Mariamne erfährt […], liegt zugleich auch die versöhnende Kraft dieser Tragödie, wodurch Hebbel entschieden über seine früheren Tragödien hinausgegangen ist. Diesen allgemeinen, tiefgefaßten menschlichen Konflikt, der sich natürlich erst aus der Bekanntschaft mit dem ganzen Werke, als die Seele desselben herausstellen kann, hat der Dichter zugleich in eine großartige historische Beziehung gebracht. Er führt uns an die Gränzscheide zweier Welten, der untergehenden alten, und der werdenden, aber noch erst ganz im Keime existirenden, neuen Welt. Hebbel hat zu diesem Zweck die Faktoren der Geschichte in den Kreis der Handlung hineingezogen, das römische und jüdische Reich, letzteres in seiner innern Auflösung […], im Hintergrunde der Entscheidungskampf zwischen Antonius und Octavian, und in der Perspective endlich die Geburt des Kindes, von dem ein neuer Geist über die Welt ausgeht, dies sind die Elemente unserer Tragödie. Man wird dem Verfasser sicher als ein Verdienst anrechnen, daß, obgleich seine Tragödie in der Zeit der furchtbarsten europäischen Kämpfe entstanden ist, er doch
Heinrich Theodor Rötscher an Friedrich Hebbel, 17.12.1847, B I, Nr. 554, S. 974, Hervorh. i.O.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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durch keine einzige Phrase der Zeitstimmung, oder dem Credo einer politischen Partei gehuldigt hat.¹⁴³
Schon in Mariamnes freiwilliger Fügung in den Tod, in der Rötscher eine Manifestation der Freiheit des Individuums sieht, lokalisiert er die erhoffte drameninterne Versöhnung. Zugleich versteht er den „menschlichen“ Konflikt als eingebettet in eine „historische“ Dimension, deren Kern ein Geschichtsprozess ist, an dessen Ende die versöhnende Aussicht darauf besteht, dass „ein neuer Geist über die Welt“ ausgehe. In diesem Zusammenhang ist auch das Lob zu verstehen, das Rötscher Hebbels tagespolitischer Zurückhaltung zollt. Denn Hebbel erscheint in diesem Licht als unbeirrbarer Dichter, der sich durch die Wirren des Revolutionsjahres 1848 nicht von seiner größeren, geschichtsphilosophischen Perspektive abbringen ließ. Hebbel selbst griff den Begriff der Versöhnung in der Korrespondenz mit Rötscher so gut wie gar nicht auf.¹⁴⁴ Im Gegenteil – während Rötscher meinte, dass Hebbel „poetisch eigentlich dies Stadium [das der Julia, F.K.] bereits überschritten“¹⁴⁵ habe, weil es ihm nunmehr gelungen sei, die Versöhnung innerhalb des Dramas selbst zu vollziehen, lagen für den Dichter die Dinge deutlich anders, wie seine kühle Antwort zeigt: Ihre Frage, ob ich es für angemessen hielte, ein Stück, dessen Stadium ich poetisch überwunden habe, zur Aufführung zu bringen, hat mich ein wenig überrascht. Vielleicht habe ich Ihren früheren Brief über die Julia in einem zu günstigen Sinne ausgelegt. Nach meiner Ansicht sind alle meine bisherigen Stücke nur in dem Sinne Stufen, daß sie, wie bei anderen Dichtern auch, den hervorbringenden Geist freilich weiter führen, nichts destoweniger aber für sich Spitzen darstellen.¹⁴⁶
Insgesamt behielt Hebbel eine distanzierte Haltung zur Kategorie der Versöhnung. Im Mai 1849 schrieb er an den Journalisten und Schriftsteller Gustav Kühne, Herodes und Mariamne enthalte „so viel Versöhnung, als sich mit dem Begriff der Tragödie“¹⁴⁷ vertrage. Kühne war ein enger Freund Theodor Mundts und ehemaliger Hegel-Schüler, und es ist auffällig, das Hebbel vor allem gegenüber Hegelianern auf die Bedeutung und Stellung der Versöhnung in seinen Tragödien zu sprechen kam. Offensichtlich bestimmte der Erwartungshorizont seiner Gesprächspartner die formulierte Ein-
Heinrich Theodor Rötscher: Vorbemerkung [zum Abdruck des 1. Akts von Herodes und Mariamne] (1849), in: W II, Anhang, S. 163 – 165, hier S. 164 f., Hervorh. i.O. Aus einem Brief von Rötscher an Hebbel vom 18. Oktober 1847 ist allerdings ersichtlich, dass er das Thema einmal angesprochen haben muss, dort heißt es: „Sie haben in Ihrem letzten Briefe ein sehr fruchtbares Thema angeregt, nämlich den Begriff der Versöhnung zu erörtern.“ (B I, Nr. 539, S. 955, Hervorh. i.O.). Hebbels Vorschlag bezog sich offenbar darauf, dass Rötscher den Begriff der ‘Versöhnung’ in den Jahrbüchern diskutieren sollte. Heinrich Theodor Rötscher an Friedrich Hebbel, 15. 2.1849, B II, Nr. 658, S. 10. Friedrich Hebbel an Heinrich Theodor Rötscher, 20. 2.1849, B II, Nr. 660, S. 13 f. Friedrich Hebbel an Gustav Kühne, 30. 5.1849, B II, Nr. 680, S. 31.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
schätzung des eigenen Werks. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch Hebbels entschiedenste affirmative Äußerung zur Versöhnung in einem Brief an den Junghegelianer Arnold Ruge, in dem er seinen eigenen Werdegang für einen Brockhaus-Artikel zusammenfasste: Zunächst sind in meiner Dichterlaufbahn zwei Perioden wohl zu unterscheiden. Die erste geht von der Judith bis zum Herodes; in ihr habe ich das Licht gewiß auch gemalt, aber allerdings meistens durch den Schatten, und man kann die Werke derselben versöhnungslos finden, wenn man, freilich mit Unrecht, durchaus verlangt, daß die Versöhnung unmittelbar in den Kreis des Dramas hinein fallen soll. Die zweite beginnt mit dem Herodes […]. Den hieher gehörigen Werken wird Niemand die Versöhnung absprechen können, wenn er anders mit der in der Tragödie überhaupt möglichen zufrieden ist, und nicht fordert, daß die Conflicte, die im Allgemeinen zur Ausgleichung gebracht werden, auch in den Individuen, welche sie vertreten zur Ausgleichung kommen sollen; dieß hieße natürlich die Individuen umbiegen und auflösen, also den Grund des Dramas zerstören.¹⁴⁸
Die Passage liest sich wie eine Paraphrase von Rötschers Brief aus dem Dezember 1847 mit der Unterscheidung zwischen der „an sich seyende[n] Versöhnung“, die der Reflexion des Rezipienten überlassen ist, und der „an u für sich seyende[n]“¹⁴⁹ Versöhnung, die innerhalb des Dramas vollzogen wird. Zugleich ist aber auch im Brief an Ruge noch eine gewisse Skepsis hörbar gegenüber dem postulierten Stellenwert, den die Versöhnung in der Tragödie haben solle, und dem, was sie zu leisten vermöge. *** Unbestreitbar bildet also der Kontakt zwischen Hebbel und Rötscher einen diskursiven Kontext für die Entstehung von Herodes und Mariamne. Unübersehbar ist auch, dass Hebbel in seinen theoretischen Äußerungen bis in die Formulierungen hinein die Nähe zu dem Berliner Ästhetiker suchte. Festzustellen ist schließlich, dass sich Rötschers Einfluss auf Hebbels Einordnung des eigenen Werks sogar noch über die positive persönliche Bindung hinaus auswirkte. Zugleich ist aber auch eine Diskrepanz zu erkennen zwischen Hebbels Begeisterung für einen gemeinsamen Geschichtsbegriff und Rötschers steter Betonung der Bedeutung der Versöhnung für Hebbels Dramen, die dieser in den Briefen so gut wie gar nicht aufgriff. Rötschers geschichtsphilosophische, auf die Versöhnung hinauslaufende Lesart lässt sich, darauf wurde schon eingangs verwiesen, bis in die Hebbel-Forschung hinein verfolgen. So vertritt Hartmut Reinhardt die These, dass man angesichts der „enge[n] Verbindung zwischen Hebbel und Rötscher […] die Diskussion um ‘Herodes und Mariamne’ nicht gut außerhalb dieses ästhetisch-literarischen Kontextes führen“ könne. Wenngleich dadurch „natürlich nicht jeder Einzelschritt der […] Interpretation
Friedrich Hebbel an Arnold Ruge, 15.9.1852, B II, Nr. 1162, S. 555. Anders als Rötscher verortet Hebbel in diesem Brief allerdings die Versöhnung nicht auch in Mariamnes Tod, sondern allein im Auftritt der Könige, vgl. ebd., S. 556. Heinrich Theodor Rötscher an Friedrich Hebbel, 17.12.1847, B I, Nr. 554, S. 974.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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bereits im vorhinein festgelegt sein“ könne, sei doch „schon viel gewonnen“, wenn man realisiere, „daß nicht erst der Dreikönigsschluß den Hegelianismus in Hebbels Drama“ bringe.¹⁵⁰ Reinhardt meint zwar keineswegs, dass Hebbel an die „vernunftorientierte Schematisierung der Geschichte“ ohne Vorbehalt geglaubt habe, aber er versteht die mit Herodes und Mariamne angeblich vollzogene Wende zum Hegelianismus als Resultat von Hebbels ‘Gattungsformalismus’. So seien die „’Resultate’ der Geschichtsphilosophie, ihre aprioristische Konstruktion des Weltganzen als eines vernunftgeleiteten Evolutionsprozesses“ von Hebbel „im Interesse einer ästhetischen Stabilisierung der unsicher gewordenen hohen Tragödie“ genutzt worden.¹⁵¹ Um die Gattung Tragödie zu retten, habe Hebbel das durch Rötscher nachdrücklich vertretene geschichtsphilosophische Angebot genutzt. Bei Herodes und Mariamne handle es sich damit um die erste von drei „Kulturstufen-Tragödie[n]“,¹⁵² zu denen Reinhardt außerdem Gyges und sein Ring und Die Nibelungen zählt. Auch den Schluss von Herodes und Mariamne interpretiert er im Kontext des Hegelianismus, wenngleich er die konstitutive „Versöhnung“ nur als „knapp vollbracht[]“ versteht.¹⁵³ Damit folgt Reinhardt letztlich der von Rötscher vorgezeichneten Interpretationslinie. Gegen sie lässt sich zweierlei einwenden: Zunächst ist, wie unter Kapitel 5.1 ausführlich entwickelt, methodische Skepsis gegenüber Interpretationen angesagt, die allzu leicht Hebbels theoretische Äußerungen auf seine dramatischen Texte applizieren. Aber selbst wenn man dies anders einschätzt, dann lässt sich zweitens aus dem Briefkontakt zwischen Rötscher und Hebbel kaum eine affirmative Haltung zur Kategorie der Versöhnung ableiten.Wohl aber zeigt Hebbels Kontakt mit Rötscher und anderen Hegelianern, dass er sich mit der hegelianischen Kategorie der Versöhnung zeitlebens auseinandersetzte und auseinandersetzen musste, weil sie den Horizont eines Gutteils der literaturkritischen Diskurse im deutschsprachigen Raum bestimmte. Der hegelianisch-geschichtsphilosophische Kontext in seiner engen Verbindung mit der Tragödienform soll daher im Folgenden keineswegs negiert werden, aber es wird sich zeigen, dass seine Annahmen nicht einfach reproduziert werden, sondern dass der Geschichtsdiskurs selbst den Gegenstand bildet, der in Herodes und Mariamne in einem virtuosen Umgang mit den semantischen Potentialen der Altertümer kritisch reflektiert wird.
Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 299. Ebd., S. 300. Reinhardt rekapituliert sogar Hebbels eigene Skepsis gegenüber dem VersöhnungsBegriff (vgl. S. 385 – 387), sieht insofern auch eine Differenz zu Rötscher, argumentiert dann aber nichtsdestotrotz, dass sich Hebbel aus pragmatisch-gattungsformalen Gründen für das geschichtsphilosophische Modell entschieden habe. Ebd., S. 298. Ebd., S. 379.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
5.2.2 Artaxerxes. Persien und die Verdinglichung des Menschen Auch die Bedeutung des Persers Artaxerxes ist von Beginn an in geschichtsphilosophischen Kontexten verortet worden. Das zeigt exemplarisch ein Brief des Publizisten, Historikers und späteren Hebbel-Editors Felix Bamberg vom 12. Mai 1850, der dort in einer kurzen Kritik der Tragödie die Figur des persischen Dieners besonders hervorhebt:¹⁵⁴ Bewundernswerth an dem Stücke ist der Hintergrund und die Aussicht. Artaxerxes allein schließt uns das sinnlich scheußliche Heidenthum auf, diese Uhr-Szene ist allein ein Meisterstück, die höchste humoristische Art der Geschichtsschreibung. Wenn sich im Ganzen das Brechen eines Weltzustandes darstellt der gegen diese heidnischen Gestalten, schon mildere Elemente in sich trägt, so eröffnen die drei Könige, die wie sprechende Wachsfiguren wirken, Sameas und die Schlußszene, die Fernsicht auf das Christentum – kann man einen großartigeren Rahmen wählen, zumal da auch Antonius Sturz mit hineinfällt?¹⁵⁵
Diese emphatisch-geschichtsphilosophische Lesart verrät sofort, dass auch Bamberg vom Hegelianismus stark beeinflusst war. Nicht zuletzt deshalb provoziert sie die Frage, ob das qualitative historische Gefälle zwischen der judäischen Gegenwart des Dramas und der vergangenen Epoche des persischen Reiches, das der Kritiker hier ausmacht, tatsächlich im Text inszeniert wird. Bemerkenswert ist, dass Bamberg den Diener überhaupt in seiner kurzen Kritik erwähnt. Denn bei Artaxerxes handelt es sich um eine Nebenfigur, die nur einen Auftritt hat, der kaum eine halbe Szene in Anspruch nimmt. Aber ihre Funktion ist in der Tat hinterfragenswert, schon allein deshalb, weil der persische Kulturraum bei Josephus, an den Hebbel sich sonst relativ eng hält, im Zusammenhang mit Herodes keine Rolle spielt. Der Auftritt des Persers zu Beginn der vierten Szene des vierten Akts ist zudem in keiner Weise handlungsleitend und folgt auf eine der Schlüsselszenen des Dramas. Diese dramaturgische Anordnung evoziert die Frage, warum Hebbel den Perser in die so genau durchkomponierte Tragödie integriert hat. In der vorangegangenen Sezne (IV/3) erfährt Mariamne von Soemus, dass Herodes sie abermals hat „unter’s Schwert“ stellen lassen; nach einem von Alexandra verhinderten Suizidversuch beschließt sie, das verhängnisvolle Fest zu geben. Zugleich gibt die Szene Auskunft darüber, dass sich der römische Krieg zugunsten Octavians entschieden hat. Soemus ist sich damit sicher, dass Herodes tot sein müsse. Zumindest auf den ersten Blick erscheint darum die darauf folgende Szene (IV/4) um den Diener Artaxerxes die Stringenz und dramatische Dynamik der Tragödie eher zu unterbrechen. Die unbestreitbare bühnentechnische Funktion des Auftritts der drei Diener – Auch später ist die Funktion der Figur des Artaxerxes, einen weiteren kulturellen Wandel in das Drama einzuführen, immer wieder, wenn auch meist beiläufig, konstatiert worden, vgl. etwa Gruenter: Herodes und Mariamne, S. 129; Kraft: Poesie der Idee, S. 175 und S. 183 f. und Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 359 f. Felix Bamberg an Friedrich Hebbel, 12. 5.1850, B II, Nr. 809, S. 148, Hervorh. i.O.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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mit ihrer Hilfe kann die Dekoration für Mariamnes Fest auf die Bühne gelangen – erschließt nur eine Seite ihrer Bedeutung.¹⁵⁶ Vor dem Hintergrund der Lektüre von IV/3 wird sich vielmehr zeigen, dass hier eine vermeintlich technische Szene ausgebaut ist zu einer symbolisch aufgeladenen Parallele zum Schicksal von Mariamne und Soemus. Die Symbolkraft der Artaxerxes-Szene wird schon deutlich durch die Figurennamen der drei auftretenden Diener: Moses erinnert an den Führer des Volks Israel durch die Wüste, Jehu hieß ein König im Israel des 9. Jahrhunderts v.Chr. und Artaxerxes schließlich war der Herrschername einer ganzen Reihe von persischen Königen aus der Dynastie der Achämeniden seit dem 5. Jahrhundert v.Chr. Wenn Diener Namen von Königen und Anführern tragen, dann haben sich ganz offensichtlich Machtverhältnisse verkehrt, sind Welten ins Wanken geraten, wie auch schon Carsten Kretschmann gezeigt hat. ¹⁵⁷ Die Anwesenheit von Artaxerxes am herodianischen Hof ist erklärungsbedürftig. Sie wird damit begründet, dass er mit „andern Kriegsgefang’nen“ (V. 2290) dorthin verschleppt worden sei, ein Umstand den Moses, der bei Hebbel zumindest auf Dienerebene noch Anführer ist, keineswegs gutheißt. „[F]remde[] Diener“, so erregt er sich, gebe es überhaupt erst seit der Herrschaft des Herodes, des „halbe[n] Heide[n]“ (V. 2279 f.). Artaxerxes verfügt nach Moses nicht über ein seiner Position angemessenes Arbeitsethos.¹⁵⁸
Vgl. Kretschmann: Zur Konfiguration von Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne, S. 204 f. Vgl. ebd., S. 205. Allerdings teile ich Kretschmanns von geschichtsphilosophischen Annahmen geleitete Interpretation der Namensgebung nicht. Kretschmann meint, die Namen zeigten an, dass „die Zeit reif [sei, F.K.] für eine neue, festgefügtere Epoche der Geschichte“ (ebd.), die er dann, vorbereitet durch Mariamne und Soemus, im Schluss durch den Auftritt der drei Könige angekündigt findet. Auch Kretschmanns These, dass Artaxerxes als Nebenfigur auf die Seite des Herodes gehöre, entspricht der Struktur der Tragödie m. E. nicht. Sie beruht darauf, dass Kretschmann allzu formalistisch unbedingt alle Figuren auf zwei Lager aufteilen möchte, nämlich das des Herodes und das der Mariamne. Durch diese Aufteilung will er beweisen, dass Hebbel in Herodes und Mariamne seinem eigenen Plädoyer entsprochen habe, demnach ein vollkommenes „Lebensbild“ in einem Drama nur dann entsteht, „wenn der Hauptcharacter das für die Neben- und Gegencharactere wird, was das Geschick, mit dem er ringt, für ihn ist, und wenn sich auf solche Weise Alles, bis zu den untersten Abstufungen herab, in, durch, und mit einander entwickelt, bedingt und spiegelt.“ (Hebbel: Mein Wort über das Drama! [1843], W XI, S. 5). Selbst wenn man Hebbels Aussage zum interpretatorischen Schlüssel für Deutungen von Herodes und Mariamne machen möchte (eine methodisch, wie gezeigt, gängige, aber problematische Praxis), belegt sie keineswegs, dass ein Stück so konstruiert sein muss, dass sich alle Figuren eines Dramas dualistisch auf zwei Lager verteilen lassen. Im Gegenteil plädiert Hebbel hier eher für multiple Verweisungen. Kretschmann ordnet den persischen Diener auf die Seite des Herodes, obwohl er sieht, dass Artaxerxes’ Schicksal das der Mariamne spiegelt, und begründet diese Zuordnung wenig überzeugend damit, sowohl Artaxerxes als auch Herodes besäßen beide „kein Gespür für den Wert des Menschen“ (Zur Konfiguration von Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne, S. 205). Kretschmanns Klassifikation zeigt damit aber vor allem, dass seine Interpretation selbst dem Schematismus unterworfen ist, den er Hebbel zuschreibt (vgl. S. 208). Vgl. Moses’ Kritik: „Du [Artaxerxes, F.K.] selbst / Sollst, wie wir Andern, in der Zeit was thun! / Faullenzerei [sic!], Nichts weiter!“ Vv. 2274– 2276.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Das Unvermögen des Persers, dem Leistungsprinzip am herodianischen Hof zu genügen, liegt darin begründet, dass er als Diener am persischen Hof eine vollkommen andere Funktion erfüllte. Er war die Uhr des Satrapen:¹⁵⁹ Jehu
Du, ist das wirklich wahr, was man von Dir Erzählt? Artaxerxes Wie sollt’ es denn nicht wahr sein? Soll ich’s vielleicht noch hundertmal betheuern? Am Hofe des Satrapen war ich Uhr Und hatt’ es gut, viel besser, wie bei Euch!
(Vv. – )
Artaxerxes hat dieses Uhr- bzw. Ding-Sein so sehr verinnerlicht, dass er mit seinem neuen Leben, in dem er als Mensch agieren soll, wenig anfangen kann. In der zunächst marginal erscheinenden Figur des persischen Dieners wird damit ein zentrales Motiv der Tragödie aufgegriffen: die Verdinglichung und Enthumanisierung des Menschen.¹⁶⁰ Das Motiv bestimmt den tragischen Konflikt des Dramas. Schon Herodes erster Befehl, sie „unter’s Schwert“ (V. 507) zu stellen, quittiert Mariamne mit dem schmerzlichen Satz: „Ich war ihm nur ein Ding und weiter Nichts“ (V. 1382). Diese Verdinglichung seiner Frau ist der erste Fehler des Herodes, sein zweiter besteht darin, dass er den ersten Fehler wiederholt und darüber hinaus neben Mariamne noch einen weiteren Menschen instrumentalisiert, nämlich seinen Stellvertreter Soemus. Als Mariamne von dem galiläischen Statthalter von jenem zweiten Hinrichtungsbefehl erfährt, reagiert die Königin zwar erschüttert, hält ihm aber zugleich vor, dass er seinem König hätte treu bleiben müssen und ihr deshalb nichts von Herodes’ Befehl hätte erzählen dürfen. Auf Mariamnes Invektive, er sei ein „Heuchler“ (V. 2179), verteidigt sich Soemus: Unklar ist, ob Hebbel sich, abgesehen vom Namen des Persers, für die Episode durch andere Quellen inspirieren ließ. Möglich ist eine Anregung durch Jean Pauls Siebenkäs (1796/1797), wo die Idee einer „Uhr aus Menschen“ entwickelt wird (in: Ders: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 2, hg.v. Norbert Miller, Frankfurt/Main 21996, S. 7– 576, hier S. 387). So legt es Hebbels Biograph Emil Kuh nahe (Biographie Friedrich Hebbels, 2 Bde., Wien 1877, Bd. 2, S. 350). Möglich wäre auch eine Anregung durch Ludwig Tiecks Novelle Des Lebens Überfluß, die Hebbel sehr gelobt hat (vgl. etwa T I, Nr. 1498, 16. 2.1839) und in der der verarmte Heinrich erzählt, er sei auf einer Auktion als „Kaminschirm“ oder „Kronleuchter“ angepriesen worden, verbunden mit dem Versprechen, er sei auch „als Karyatide zu nutzen“, um „ihm etwa eine Uhr auf den Kopf zu stellen“. (Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluss, in: Ders.: Werke in vier Bänden, Bd. III: Novellen, hg.v. Marianne Thalmann, Darmstadt 1965, 893 – 943, hier S. 920).Vgl. hierzu Reinhardt, S. 359 f. Die Verdinglichung des Menschen als zentrales Motiv, das sich durch die Hebbelschen Tragödien zieht, ist in mehreren Studien ausführlich behandelt worden, vgl. Ilse Brugger: Die ‘Mensch-Ding’Problematik bei Hebbel, in: Hebbel-Jahrbuch 1963, S. 66 – 94; Young-Mok Kim: Die Verdinglichung des Menschen und der menschlichen Beziehungen im frühen dramatischen Werk Friedrich Hebbels, Stuttgart 2000; Ludger Lütkehaus: Gegenwartsdarstellung, Verdinglichungsproblematik, Gesellschaftskritik, Heidelberg 1976 und Helmut Martin: Besitzdenken im dramatischen Werk Friedrich Hebbels. Studien zu einem historischen Verständnis des Dichters, Nürnberg 1976.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
Soemus Der bin ich nicht! Ich war Herodes’ Freund Ich war sein Waffenbruder und Gefährte, Eh’ er den Thron bestieg, ich war sein Diener, Sein treu’ster Diener, seit er König ist. Doch war ich’s nur, so lange er in mir Den Mann zu ehren wußte und den Menschen, Wie ich in ihm den Helden und den Herrn. Das that er, bis er, heuchlerisch die Augen Zum ersten Mal unwürdig niederschlagend, Den Blutbefehl mir gab, durch den er mich Herzlos, wie Dich, dem sichern Tode weihte, Durch den er mich der Rache Deines Volks, Dem Zorn der Römer und der eig’nen Tücke Preis gab, wie Dich der Spitze meines Schwerts. Da hatt’ ich den Beweis, was ich ihm galt!
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(Vv. – )
Der „Heuchler“, so stellt Soemus klar, ist nicht er, sondern der König selbst, der seinen Befehl nur erteilen konnte, indem er dabei „heuchlerisch die Augen“ niederschlug. Durch die beständige Wiederholung komplementärer Personalpronomen und durch parallele syntaktische Strukturen („mich / Herzlos, wie Dich“, „mich der Rache Deines Volks, / […] wie Dich der Spitze meines Schwerts“) stellt Soemus performativ eine Nähe zu Mariamne her. Unüberhörbar wird so, dass Soemus sein Schicksal an ihres bindet, ebenso deutlich wird aber auch, dass er die Fronten gewechselt hat: „Ich war Herodes’ Freund“, setzt er zu seiner Verteidigung an. Und tatsächlich wird Soemus während des gesamten dritten Akts als Herodes ebenbürtig etabliert, und zwar von seiner ersten Figurenrede an: Soemus […] In Galiläa Wird höchstens der gesteinigt, der es wagt, Sich Dir und mir, der ich Dein Schatten bin, Dein Sprachrohr, oder, was Du immer willst, Zu widersetzen.
(Vv. – )
Ähnlich wie später gegenüber Mariamne, stellt auch hier Soemus die Parallele sprachlich über den Gebrauch komplementärer Personalpronomina her. Herodes aber traut dieser Nähe zunächst nicht: Herodes
Ja, da sind sie [die Galiläer, F.K.] treu! Dem eig’nen Vortheil nämlich, und weil dieser Mit meinem Hand in Hand geht, meinem auch!
(Vv. – )
Es ist kein Zufall, dass Hebbel aus dem ituräischen Wächter Soemus einen Galiläer macht.¹⁶¹ Damit wählt er ein altes Volk, das im zeitgenössischen historischen Wissen geläufiger war und schöpft die Semantik der beiden alten Völker aus. Das Verhältnis
Vgl. Josephus: Jüdische Altertümer, Bd. II, 15. Buch, Kapitel 6, 5, S. 322.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
der beiden Figuren spiegelt sich in der politischen Bindung von Judäa und Galiläa. Am Ende des dritten Akts betonen dann auch Herodes wie Soemus die gemeinsame Nähe. Soemus ist ihm ebenbürtig, ihm traut Herodes zu, ihn im Zweifelsfalle zu ersetzen: Herodes […] Er ist Ein Mann, der, wär’ ich selbst nicht auf der Welt, Da stünde, wo ich steh’.
(Vv. – )
So wie Soemus zunächst als gleichwertiger (wenngleich auch nicht gleichrangiger) Partner zu Herodes aufgebaut wird,¹⁶² weshalb sein späterer Wechsel auf Mariamnes Seite die Fronten zwischen dem königlichen Paar umso drastischer betont, so ist er zugleich der Gegencharakter zu Joseph. Beide haben den gleichen Auftrag und werden von Herodes zum Tode verurteilt, und Soemus selbst muss Joseph zum Henker führen, gleichsam als eine Präfiguration dessen, was ihm selber widerfahren wird.¹⁶³ Aber der Umgang der Männer mit Herodes’ Befehl könnte unterschiedlicher kaum sein. Während Joseph nicht von Mariamnes Seite weicht, weil er in Sorge um sein eigenes Leben und seinen Machterhalt lebt und ihr schließlich sein Geheimnis nur deshalb verrät, weil er ihrem Drängen nicht Stand zu halten vermag, will Soemus Mariamne von Beginn an alles erzählen. Diese meidet ihn aber konsequent, so dass er den Pharisäer Sameas frei lassen muss, nur um überhaupt zur Königin gelangen zu können. Vor der Folie von Josephs Verhalten erscheint Soemus’ Handeln ungleich edler. Mariamne erkennt denn auch seine Verteidigungsrede im vollen Umfang an: Mariamne Ich bitt’ Dir ab. Du stehst zu ihm, wie ich, Du bist, wie ich, in Deinem Heiligsten Gekränkt, wie ich, zum Ding herabgesetzt! Er ist ein Freund, wie er ein Gatte ist.
(Vv. – )
Nachdem er Mariamne von dem Befehl erzählt hat, betont Soemus gegenüber Alexandra die Unterschiede zwischen ihm und seinem Herrscher: „Für seines Gleichen / Halt’ ich mich nicht und werd’ es niemals thun! / […] Ich sah den Höher’n immer schon in ihm / Und hob dem Waffenbruder seinen Schild, / Wenn er ihn fallen ließ, so willig auf, / Wie je dem König seinen Herrscherstab!“ (Vv. 2216 – 2229). Hier klingt zwar große Bewunderung für den König an, aber Soemus weiß um seinen eigenen Wert („So groß ist Keiner, daß er mich als Werkzeug / Gebrauchen darf!“ [Vv. 2234 f.]). Durch seinen Verrat will er zeigen, „daß es zwischen Königen / Und Sclaven eine Mittelstufe giebt, / Und daß der Mann auf dieser steht!“ (Vv. 2239 – 2241). Soemus gleicht Herodes also, aber er ist ihm nicht gleichrangig. Ursprünglich hatte Hebbel diesen makabren gemeinsamen Gang und die Parallele des gleich lautenden Befehls noch stärker betont, so sagt Soemus in H1 und H2: „Er [Herodes, F.K.] täuschte mich nicht einen Augenblick, / Und um so weniger, als Josephs Tod / Mir nicht ein solches Räthsel war, wie Allen, / Die ihn nicht sah’n auf seinem letzten Gang. / Der hatte, staun’ und schaudre! einen gleichen / Befehl erhalten und ward stumm gemacht, / Damit er Nichts verriethe, wenigstens / Muß ich das glauben, denn er schwur noch sterbend, / Er hätt’ Nichts Todeswürdiges gethan!“ (Lesarten und Anmerkungen zu Herodes und Mariamne, W II, S. 215). In H3 stand die Passage wahrscheinlich ursprünglich auch, ist aber von Hebbel nachträglich gelöscht worden, vgl. ebd., S. 214.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
233
Mariamne greift die von Soemus in seiner Verteidigungsrede etablierte syntaktische Struktur auf (Soemus’ „wie dich“ wird bei ihr zum dreimaligen „wie ich“) und verdeutlicht damit noch einmal, dass sie das gleiche Schicksal teilen. Beide sind von Herodes als „Werkzeug[e]“ (V. 2234) missbraucht worden und dadurch so tief gekränkt, dass sie ihre Beziehungen zum König aufkündigen: Soemus durch Befehlsverweigerung und Verrat, Mariamne, nach dem durch Alexandra vereitelten Suizidversuch, indem sie ein Fest veranlasst, das Herodes kaum eine andere Wahl lässt, als ihr endgültig zu misstrauen und – zumindest nach seiner eigenen despotischen Logik – sie hinrichten zu lassen. Mit der Figur des Artaxerxes wird in IV/4 also das Verdinglichungsmotiv wieder aufgenommen, das zuvor in IV/3 durch die Parallelisierung von Soemus’ und Mariamnes Schicksal schon verdoppelt wurde. Es gewinnt nun allerdings eine andere Qualität als zuvor. Denn das Uhr-Sein ist dem Perser buchstäblich in Fleisch, Blut und Puls übergegangen. Das ist der Grund dafür, dass es ihm nicht gelingt, den neuen Ansprüchen am judäischen Hof gerecht zu werden. Er kann das Zählen nicht einfach abstellen wie eine Tätigkeit, denn am Hof des Satrapen ist er tatsächlich Uhr, ist er Ding gewesen: „Ich und mein Bruder, Alle waren Uhren –“ (V. 2300).¹⁶⁴ Die Verdinglichung des persischen Dieners ist ontologisch zu verstehen, und in diesen Kontext ist auch Artaxerxes’ Hinweis einzuordnen, dass die Feste am persischen Hof prächtiger gewesen seien als in Jerusalem, weil dort „Menschen, / Die man mit Hanf umwickelt und mit Pech / Beträufelt hatte, in den Gärten Nachts / Als Fackeln brannten –“ (Vv. 2319 – 2322). Das hier entwickelte Motiv von verschiedenen Leuchtmitteln als metaphorischen Indikatoren für den ontologischen Status des Menschen als Ding wird in den folgenden Szenen durchgespielt, wobei die persischen „Fackeln“ allerdings zu judäischen „Kerzen“ werden. So entgegnet Mariamne auf die Frage ihrer Mutter, warum sie ein Fest anlässlich des angeblichen Todes von Herodes veranstalte und dabei doch unglücklich aussehe: Mariamne Ich bin kein Instrument und keine Kerze, Ich soll nicht klingen, und ich soll nicht leuchten, D’rum nehmt mich, wie ich bin!
(Vv. – )
Die gleiche Konstellation von ‘Kerzen’ und ‘klingen’ taucht wiederum eine Szene später in einem Dialog mit Herodes’ Schwester Salome auf: Salome Die Kerzen – Mariamne Sind sie nicht zum Leuchten da? Salome Die Cymbeln – Mariamne Müssen klingen, weißt Du’s anders?
(V. f.)
Vgl. auch „Artaxerxes […] Ich greif’ ganz unwillkürlich mit der Rechten / Mir an den Puls der Linken, zähl’ und zähle / Und zähle oft bis sechszig [sic!], eh’ ich mich / Besinne, daß ich keine Uhr mehr bin!“ (Vv. 2268 – 2271).
234
Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Anders als am persischen Hof müssen in Mariamnes und Salomes Welt zwar nicht mehr Menschen leuchten, Mariamne selbst ist keine Kerze. Aber der technische und zivilisatorische Fortschritt ist mit keiner positiven qualitativen Wertung verbunden. Denn er ist es, der ein (tödliches) Spiel mit dem Als-ob, mit dem Schein eröffnet. Das gilt auch im ganz wörtlichen Sinne, schließlich ist es der Schein von „[t]ausend Kerzen“ (V. 2532), der Herodes zunächst glauben lässt, dass er von Mariamne freudig erwartet werde, bis er durch Salome erkennen muss, das ihn genau diese „Kerzen […] betrogen“ (V. 2536) haben.¹⁶⁵ Mariamnes gesamtes Fest ist ein einziges Spiel mit Schein und Maskerade. Erst am Ende – im Wissen, dass es für eine gemeinsame Zukunft mit Herodes zu spät ist – erklärt sie sich Titus: Mariamne Du [Titus, F.K.] warst auf meinem Fest. Nun: Eine Larve Hat dort getanzt! Titus Ha! Mariamne Eine Larve stand Heut’ vor Gericht, für eine Larve wird Das Beil geschliffen, doch es trifft mich selbst!
(Vv. – )
Das Motiv der „Larve“ und die Frage, ob Mariamne eine solche trägt oder nicht, zieht sich wie ein roter Faden durch die Tragödie.¹⁶⁶ Obwohl Mariamne offensichtlich das Spiel mit den Masken beherrscht, so virtuos, dass niemand – nicht ihre Mutter, nicht ihr Ehemann und auch nicht der neutrale Beobachter Titus, der „gelassen-kalt“ in die „Hölle“ (V. 3004 f.) Jerusalems und der Ehe von Herodes und Mariamne hineinschaut – vermag, zwischen Wahrheit und Schein zu unterscheiden, ist es am Ende diese Maskerade, an der sie zu Grunde geht, weil sie in einer solchen Welt nicht leben möchte: Titus Wir leben aber in der Welt des Scheins! Mariamne Das seh’ ich jetzt, d’rum gehe ich hinaus!
(V. f.)
Soemus und insbesondere Mariamne verweigern sich Herodes’ Verdinglichungslogik. Zu Recht hat Young-Mok Kim darauf hingewiesen, dass dieser „Entverdinglichungs-
Das symbolische Potential der „Kerze“ wird noch weiter durchgespielt. Kerzen zeigen Herodes Mariamnes vermeintlichen Betrug deutlicher an als das Wort seiner eigenen Schwester. So mahnt er Salome zu schweigen, weil er ihr in ihrem Hass nicht trauen könne: „Hör’ auf, hör’ auf! […] / Wenn Dich [Salome, F.K.] Dein Eifer noch / Nicht ruhen läßt,wird er sein Ziel verfehlen, / Ich werde denken, daß der Haß allein / Aus Deinem Munde spricht, und Dich als Zeugin / Verwerfen,wenn ich jede Kerze auch / Als solche gelten lasse, die geflammt, / Und jede Blume, die geduftet hat!“ (Vv. 2613 – 2624). So begegnet Herodes etwa Salomes Anschuldigungen nach seiner ersten Rückkehr zunächst damit, dass er seiner Schwester deutlich macht, Mariamne habe einen „Freibrief […] [j]ede Larve / Zu tragen“ (Vv. 1534– 1536), die sie möge, um Salome zu täuschen. Und Alexandra meint fälschlicherweise anlässlich Mariamnes Festes zu Titus beglückt, die bisherige Treue ihrer Tochter gegenüber Herodes sei nur eine „Maske“ (V. 2456) gewesen.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
235
wille“¹⁶⁷ die Makkabäerin und den Galiläer vom persischen Diener unterscheidet. Die Praxen der Verdinglichung haben am persischen Hof das eigene Selbstverständnis von Artaxerxes so nachhaltig affiziert, dass es ihm nicht gelingt, sich als Mensch in die Ökonomie des hebräischen Hofes zu integrieren. Die Verdinglichung, die der Königin und dem Statthalter widerfährt, erfolgt dagegen weitaus indirekter als diejenige des Dieners. Herodes instrumentalisiert Mariamne und Soemus, er verfügt über sie wie über ein Ding und beraubt sie durch dieses Als-ob ihrer Menschenwürde. Das ist eine anders gewendete Verdinglichung, die in der Konsequenz aber nicht weniger grausam ist als diejenige, die am Hof des persischen Satrapen praktiziert wurde. Denn wie Artaxerxes’ als Uhr auf dem Schlachtfeld gestorbener Vater (Vv. 2298 – 2301) und wie die bei persischen Festen als Fackeln verwendeten Menschen endet auch Mariamnes und Soemus’ Verdinglichung im gewaltsamen Tod. Der Prozess der Verdinglichung von Artaxerxes verläuft umgekehrt zu dem von Mariamne und Soemus, wenngleich er ihn als ähnlich krisenhaft erlebt. Mariamne und Soemus werden vom Menschen zum Ding, während Artaxerxes durch seinen Übergang vom altpersischen in den hebräischen Kulturraum vom Ding zum Menschen wird oder jedenfalls werden soll. Durch die Semantik Persiens als eines alten Weltreichs, das älter ist als der judäische Staat, wird mit der Figur des Dieners Artaxerxes eine weitere epochale kulturelle Dynamik in das Drama eingeschrieben, nämlich ein vorgelagerter, auf der Zeitebene des Dramas schon vollzogener Umbruch vom primitiv-gewaltvoll figurierten altpersischen Kulturraum zu einem altjüdischen Kulturraum, der an Grausamkeiten nicht ärmer ist. Für beide Kulturräume nutzt Hebbel die Semantik des gewaltvollen Orients, zugleich macht er sich aber auch diejenige von Persien als altem Weltreich zunutze. Zwar ist die neue „Welt des Scheins“ als Effekt eines zivilisatorischen Fortschritts lesbar, denn anders als Artaxerxes wissen Mariamne und Soemus, dass sie nicht Dinge, sondern Menschen sind, und versuchen, sich gegen ihre Instrumentalisierung zur Wehr zu setzen. Aber ihr einziger Ausweg führt über den Henker. Dass Mariamne (anders als Soemus) nicht von Herodes selbst, sondern von den Richtern zum Tode verurteilt wird, unterstreicht nur die Heimtücke der herodianischen Herrschaft. Denn die vermeintlich übergeordnete Instanz bestätigt hilflos Herodes’ Willen. Das Prinzip der Rechtstaatlichkeit wird so ad absurdum geführt. Köpfe rollen also in beiden Welten gleichermaßen und aus strukturell ähnlichen Gründen: als Folge der Verdinglichung und Enthumanisierung des Menschen. Damit ist die brutale Willkür in der Welt des Herodes nur perfider verkleidet als in der des persischen Satrapen. Persien und Judäa erscheinen zwar in historischer Folge, aber diese Folge trägt nicht die Insignien eines moralischen oder vernünftigen Fortschritts. Die grausamen zwischenmenschlichen Mechanismen bleiben bestehen, sie tragen nur neue Züge.
Kim: Die Verdinglichung des Menschen und der menschlichen Beziehungen im frühen dramatischen Werk Friedrich Hebbels, Hervorh. i.O. S. 278.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
5.2.3 Von Makkabäern, Orientalen, Christen und Römern, oder: Der doppelte Schluss In Herodes und Mariamne wird also bis in die Nebenfiguren hinein eine Vielzahl an kulturellen Umbrüchen inszeniert, die sich nicht auf eine einzige lineare Metaerzählung reduzieren lassen. Daran kann man die These anschließen, dass das Drama nicht nur einen Schluss kennt. Schon Rötscher diagnostiziert in seiner Einleitung zum Vorabdruck des ersten Akts, wenn nicht explizit zwei Dramenenden, so doch einen doppelten Horizont der Tragödie. In dem Text identifiziert der Theaterkritiker, wie bereits angedeutet, eigentlich schon in Mariamnes Hinrichtung und in dem „Rückschlag“, den Herodes dadurch erleide, die hegelianische „versöhnende Kraft“. Allerdings endet das Drama bekanntlich nicht mit Mariamnes Tod, und so betont Rötscher, dass dieser „menschliche[] Konflikt“, der zwar die eigentliche „Seele“ der Tragödie darstelle, in eine „großartige historische Beziehung gebracht“ worden sei. Die geschichtliche „Perspective“ sei in der „Geburt des Kindes“ zu lokalisieren, „von dem ein neuer Geist über die Welt“ ausgehe.¹⁶⁸ In Rötschers Lesart bildet damit das Christentum – angezeigt durch den Auftritt der drei Könige und den Kindermordbefehl – die Erweiterung der Versöhnung um eine dezidiert historische Dimension. Rötschers ‘Perspektiven’ müssen noch um eine weitere ergänzt werden. Denn der Zusammenbruch des Herodes, der symbolträchtig in die Arme des römischen Hauptmanns Titus sinkt, kann dem christlichen Ausblick der Tragödie nicht restlos untergeordnet werden. Letztlich hat die Tragödie damit zwei Schlüsse: zum einen Mariamnes Hinrichtung und zum anderen das ‘historische’ Ende, doppelt perspektiviert mit den drei Königen und Titus. Beide Schlüsse fokussieren so auf mehrere, miteinander konkurrierende Altertumskulturen. Während Mariamnes Tod den Untergang der Makkabäer und den Sieg eines säkularisierten judäischen Staats anzeigt, verbindet sich mit den drei Königen aus dem Morgenland das neue christliche Zeitalter, und mit Titus, der Herodes stützt, steht am Ende ein schwaches Jerusalem in offensichtlicher Abhängigkeit von einem starken römischen Reich. Dies gilt umso mehr, als Titus einen historisch denkbar aufgeladenen Namen trägt: Er korrespondiert mit dem Namen des späteren Kaiser Titus, der 70 n.Chr. Jerusalem eroberte und dabei Stadt und Tempel zerstörte. Schließlich verweist die enge Verknüpfung der drei Könige mit der Herodes/Titus-Episode auch auf die spätere Verbindung Roms mit dem Christentum. Offensichtlich sind diese multiplen Verweisungen auf historische Epochenumbrüche für das Drama maximal bedeutsam. Darum ist zu fragen, wie sie sich zueinander verhalten und welches Geschichtsbild mit ihnen verbunden wird. Erst dann lässt sich die Frage beantworten, in welchem Verhältnis Herodes und Mariamne zum zeitgenössischen Hegelianismus steht.
Rötscher: Vorbemerkung (1849), S. 164, Hervorh. i.O.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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5.2.3.1 Der erste Schluss: Der Tod der „letzten Maccabäerin“ Zunächst zum ‘ersten Schluss’, Mariamnes Tod, mit dem Rötscher die von ihm eingeforderte drameninterne Versöhnung erreicht sah. Ihre Hinrichtung hat auf handlungslogischer Ebene einen prekären Status. Nicht nur die Richter bereuen direkt ihren Schuldspruch, auch der Henker Joab erfüllt die Aufgabe, die ihm zugedacht ist, nur höchst widerwillig und entschuldigt sich dafür bei seiner Königin, die ihn allerdings dazu anhält, sein Amt auszuüben: „Thu, was Dein Herr gebot, und thu es schnell!“ (V. 2956). Denn Mariamne ist mehr als nur bereit zu sterben. In paradoxer Zuspitzung ist sie bereits tot. Das zeigt sich, als Titus zu Beginn der Unterredung mit Mariamne, die sie sich als letzten Wunsch von Herodes erbeten hat, erstaunt darüber ist, „daß ein Weib [ihn, F.K.] lehren“ solle, wie er „als Mann dereinst zu sterben“ (V. 2964 f.) habe, woraufhin sie ihm entgegnet: Mariamne […] Es ist nicht, wie Du denkst! Ich fühle keinen Schmerz mehr, denn zum Schmerz Gehört noch Leben, und das Leben ist In mir erloschen, ich bin längst nur noch Ein Mittelding vom Menschen und vom Schatten Und fass’ es kaum, daß ich noch sterben kann.
(Vv. – )
Mariamne hat der doppelte Schwertbefehl nicht nur tief verletzt, sondern Herodes hat ihr tatsächlich die Möglichkeit der Existenz genommen.¹⁶⁹ Vor diesem Horizont eines gleichsam vorweggenommenen Todes ist Mariamnes erste Reaktion auf Soemus’ Enthüllung in IV/3 zu verstehen: Soemus
[…] Soll ich auch Dich mit meinem Schwert durchstoßen? Ich hab’ auch dazu den Befehl von ihm! Mariamne Weh’! Alexandra Nimmermehr!
In den ersten beiden Fassungen des Dramas sowie in der Theaterbearbeitung für die Wiener Erstaufführung wurde Mariamnes bereits erfolgter, innerlicher Tod noch offensichtlicher. So sagt sie dort zu Titus: „Da [als Mariamne von dem zweiten Schwertbefehl erfuhr, F.K.] starb ich, doch das Athemholen ging / Noch fort […].“ (Lesarten und Anmerkungen, S. 228, V. 3036 f., H1, H2, ThS). Das Schicksal der lebenden Toten teilt Mariamne mit anderen Hebbelschen Frauenfiguren. So versteht Judith, die aufgrund der nicht vollzogenen Ehe mit Manasse tief verstört ist, ihr Gebet zu Gott als Quasisuizid: „Mein Gebet ist dann ein Untertauchen in Gott, es ist nur eine andere Art von Selbstmord, ich springe in den Ewigen hinein, wie Verzweifelnde in ein tiefes Wasser – –“ (Hebbel: Judith,W I, S. 19). Noch deutlicher ist die Parallele zwischen Mariamne und Rhodope.Wie Herodes Mariamne, so hat auch Kandaules Rhodope verdinglicht, indem er sie einem anderen Mann wie einen „Edelstein“ (Hebbel: Gyges und sein Ring,W III,V. 439) und gegen ihren Willen vorgeführt hat. In dem Moment, in dem sie um ihre Befleckung durch Gyges’ Blick sicher weiß, ist Rhodope innerlich tot. Auch bei ihr ist der Suizid vor dem Altar der Hestia dann nur Vollzug des Überfälligen. So entgegnet sie dem besorgten Kandaules, der bei ihrem Anblick einen Arzt holen will: „Halt! Oeffne lieber eine Todtengruft! / Nicht finst’rer wird der reine Sonnengott / Sich von zerbroch’nen Aschenkrügen wenden, / Als von dem Weibe, das Du Dein genannt!“ (Vv. 1027– 1030).
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Mariamne
So ist das Ende da! Und welch ein Ende! Eins, das auch den Anfang Verschlingt und Alles! Die Vergangenheit Lös’t, wie die Zukunft, sich in Nichts mir auf! Ich hatte Nichts, ich habe Nichts, ich werde Nichts haben! War denn je ein Mensch so arm!
(Vv. – )
Das von Mariamne beschworene „Ende“ ist für sie schon hier „da“, obwohl es physisch erst im V. Akt eintritt. Es ist gegenwärtig, allerdings in einer Gegenwart, die für sie eigentlich schon nicht mehr existiert, weil dieses Ende wirklich „Alles“ „[v]erschlingt“ und ihr nicht nur die Zukunft, sondern auch Vergangenheit und Gegenwart nimmt. Mariamne stirbt, weil ihr gar nichts anderes übrig bleibt. Der doppelte Schwertbefehl hat ihre eigene Geschichte zum Verschwinden gebracht. Peter Nölle vertritt die These, dass es in Herodes und Mariamne um die „Macht der Vergangenheit“ gehe, „die Gegenwart und Zukunft abtöte[n]“ könne.¹⁷⁰ Das mag zwar für Herodes gelten, der von seinem Mord an Aristobolus, der auch dramentektonisch in der Vergangenheit liegt, nämlich vor dem Einsatz des Dramas, immer wieder eingeholt wird. Aber Mariamne entgleiten alle drei Zeitdimensionen, die Vergangenheit holt sie nicht ein, sondern ihre Vergangenheit, die untrennbar mit Herodes verflochten war, existiert für sie gar nicht mehr. Damit wird Mariamnes anfänglicher Grund pervertiert, ihren Tod unter Umständen freiwillig zu wählen. Ursprünglich hatte sie auf Herodes’ Frage, ob sie sich im Falle seines Todes umbringen werde, geantwortet: Mariamne
Wenn Du [Herodes, F.K.] Dir sagen darffst, Daß Du die Welt mir aufgewogen hast, Was sollte mich wohl in der Welt noch halten?
(Vv. – )
Mariamne stirbt schließlich nicht, weil der Mann tot ist, an dem ihre Welt hing, sondern weil dieser Mann ihr durch die vollkommene Missachtung und Verkennung ihres Wesens ihren Platz in der Welt gewaltsam genommen hat. Schon mit dem zweiten Schwertbefehl tötet Herodes Mariamne, jedenfalls innerlich. Die von ihm veranlasste Hinrichtung ist dann nur noch der physische Vollzug des eigentlich schon vollbrachten Mordes an ihr. „Ich mach’ ein Ende, wie’s auch stehen mag!“ (V. 2740), sagt Herodes zu Titus, bevor die Richter sich versammelt haben, und bestätigt damit nur,was Mariamne ohnehin schon ereilt hat.¹⁷¹ Rötscher hat, wie gesehen, in Mariamnes Tod die vollzogene hegelsche „Versöhnung“ diagnostiziert, weil Mariamne „im Untergange“ triumphiere, indem „das Gefühl der freien Subjektivität, welche sich ihres unendlichen Werths, und ihres unendlichen Rechts bewußt ist, […] sich für die Herabsetzung rächt, welche es erfahren
Peter Nölle: „Repräsentation“ und restringierte Zeitdimensionen in Hebbels Tragödie Herodes und Mariamne, in: Hebbel-Jahrbuch 1998, S. 81– 93, hier S. 82. Vgl. zur „Endzeit-Erwartung“ der Figuren auch Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 382.
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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hat.“¹⁷² Das kann aber auch nach hegelschen Prämissen nicht überzeugen, weil Mariamne ihren Tod letztlich nicht freiwillig herbeiführt, zumindest nicht in ihrer eigenen Logik: Denn Tote können den Tod nicht mehr wählen. Durch die wiederholte Verdinglichung Mariamnes, den Frevel gegen die „Menschheit“ (V. 1684), macht Herodes (ihre) Geschichte zunichte. „Ich hatte Nichts, ich habe Nichts, ich werde / Nichts haben!“ (V. 2143 f.). Aus dieser sentenziösen Betonung des Nichts spricht ein krasser Geschichtspessimismus. Und noch etwas anderes lässt Mariamnes Tod zum ‘Ende der Geschichte’ werden. Mariamne ist Makkabäerin und damit Vertreterin einer Altertumskultur, die im Text mit eigenen Konturen inszeniert wird:¹⁷³ durch zahlreiche genealogische Verweise,¹⁷⁴ vor allem aber durch die stete Benennung von Mariamne und Alexandra als Makkabäerinnen.¹⁷⁵ Diese Linie aber endet mit ihrem Tod.¹⁷⁶ Mariamne verweigert zunächst die Identifizierung mit den Makkabäern, weil diese Zuschreibung nicht mit ihrer Liebe zu Herodes in Einklang zu bringen ist.¹⁷⁷ Erst vor
Rötscher: Vorbemerkung (1849), S. 164. Der Aufstand der Makkabäer und die Gründung eines jüdischen Staats durch das folgende Herrschergeschlecht der Hasmonäer waren im 19. Jahrhundert (nicht nur, aber auch) in der Dramatik prominent vertreten. Vgl. Karl Gottfried Theodor Winkler: Die Makkabäer: Drama in vier Aufzügen, Leipzig 1818; Zacharias Werner: Die Mutter der Makkabäer. Tragödie in fünf Akten, Wien 1820; Otto Ludwig: Die Makkabäer. Trauerspiel in fünf Akten, Leipzig 1854; Leopold Stein: Die Hasmonäer. Historisches Drama in 5 Acten, Frankfurt/Main 1859; Sigismund Wiese: Die Seleuciden und die Hasmonäer. Ein Trauerspiel in 5 Akten, Berlin 1861; Seligmann Heller: Die letzten Hasmonäer. Tragödie in fünf Akten. Prag 1868. Die Aufmerksamkeit der Forschung hat aus diesem Korpus an Dramentexten bisher nur Otto Ludwigs Trauerspiel gefunden, vgl. zuletzt Diana Schilling: Einigkeit statt Recht und Freiheit. Die intergrative Macht nationalen Denkens im Trauerspiel ‘Die Makkabäer’, in: Otto Ludwig. Das literarische und musikalische Werk, hg.v. Claudia Pilling, Frankfurt/Main 1999, S. 162– 178. Vgl. etwa Mariamne zu Alexandra: „Ich dächte doch,/ Ich hätt’ mir den Gemahl nicht selbst gewählt, / Ich hätte mich nur in das Loos gefügt, / Das Du und Hyrkan über mich, die Tochter / Und Enkelin, mit Vorbedacht verhängt.“ (Vv. 971– 975); Alexandras Vergleich der eigenen Machtposition mit derjenigen ihrer Namensvetterin und Vorfahrin, der Königin (Salome) Alexandra: „Es gab schon einmal eine Alexandra, / Die eine Krone trug in Israel, / Die zugriff, als sie frei geworden war, / Und sie nicht liegen ließ für einen Dieb. / Es soll, bei Gott! nicht an der zweiten fehlen, / Wenn’s wirklich (zu Mariamne) Maccabäerinnen giebt, / Die kind’sche Schwüre halten!“ (Vv. 1158 – 1164) und schließlich Alexandras Bezug auf Judas Makkabäus: „Sie [Königin Alexandra, F.K.] sah im Traum wohl nie / Den Ahnhernn ihres Stamms, den großen Judas“ (V. 1175 f.). Vgl. etwa Vv. 1006, 1163, 2635, 2949 etc. Auch wenn Alexandra statt Mariamne Königin würde, würde Mariamnes Tod das Ende der Genealogie markieren, weil sie selbst außerhalb des gebärfähigen Alters ist und Mariamnes und Herodes’ Kinder offensichtlich in der Logik des Dramas nicht als Fortführer der makkabäischen Linie gelten, wie sie ohnehin keine größere Rolle spielen. Dies mag unter anderem dem historischen Wissen geschuldet sein, dass Herodes die gemeinsamen Söhne später auch hinrichten ließ. Vgl. Mariamnes Antwort auf Alexandras Kritik daran, dass sie Herodes den Mord an Aristobolus nicht verübelt und sich in der Ehe insgesamt nicht politisch korrekt verhalte: „Ich zog es vor, dem Mann ein Weib zu sein, / Dem Du mich zugeführt, und über ihn / Die Maccabäerin so zu vergessen, / Wie er den König über mich vergaß.“ (Vv. 1004– 1007, vgl. auch Kapitel 5.3.2). In der Folge dieser Auseinan-
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den Richtern, die sie zum Tode verurteilen, beruft sie sich eindringlich auf ihr Makkabäertum. So antwortet sie auf die Frage des Richters Aaron, ob sie das von ihm vertretene Gericht nicht anerkenne: Mariamne
Ich sehe Ein höh’res hier! Wenn das auf Eure Fragen Die Antwort mir gestattet, werd’ ich reden, Und schweigen werd’ ich, wenn es sie verbeut! – Mein Auge sieht Euch kaum! Denn hinter Euch Steh’n Geister, die mich stumm und ernst betrachten, Es sind die großen Ahnen meines Stamms. Drei Nächte sah ich sie bereits im Traum, Nun kommen sie bei Tage auch, und wohl Erkenn’ ich, was es heißt, daß sich der Reigen Der Todten schon für mich geöffnet hat Und daß, was lebt und athmet, mir erbleicht. Dort, hinter jenem Thron, auf dem ein König Zu sitzen scheint, steht Judas Maccabäus: Du Held der Helden, blicke nicht so finster Auf mich herab, Du sollst mit mir zufrieden sein!
(Vv. – )
Während Mariamne einige Szenen zuvor stolz gegenüber Alexandra betont, dass sie darüber, ihrem „Mann ein Weib“ zu sein, die „Maccabäerin“ vergessen habe (V. 1004 u. 1006), verblasst angesichts des Todes im diametralen Unterschied dazu nunmehr ihr Mann zusehends. Stattdessen erblickt Mariamne umso deutlicher ihren Vorfahren „Judas Maccabäus“. Dass sich Mariamne im Angesicht des Todes auf die Makkabäer beruft, betont das Ende dieser genealogischen Linie. Das verstört schließlich auch die Richter. Nachdem sie das Todesurteil zunächst bestätigt haben,versuchen sie, Herodes doch noch „zu erweichen“: „Mir ist dieß entsetzlich!“, so Aaron, „Es ist die letzte Maccabäerin!“ (V. 2948 f.).Während Mariamne als Makkabäerin inszeniert wird und sie diese Rolle im Sterben annimmt, wird Herodes demgegenüber keineswegs als Idumäer etabliert. Weder spielt die genealogische Herkunft im Zusammenhang mit seiner Figur eine größere Rolle, noch werden er und seine Gefolgschaft ‘Idumäer’ oder auch ‘Herodianer’ genannt, obwohl zeitgenössisch beide Bezeichnungen zur Verfügung gestanden hätten.¹⁷⁸ Der Fokus liegt also nicht darauf, dass mit Herodes eine neue Dynastie beginnt, und auch nicht auf dem Wechsel der Dynastien, sondern alleine darauf, dass mit Mariamne die Geschichte der Makkabäer endet. Mariamnes Tod erscheint so als eigener Schluss, der ein nihilistisches Geschichtsbild propagiert. Diese Bedeutung wird überdies dramaturgisch dadurch un-
dersetzung leistet Mariamne dann den Schwur, dass sie sich im Falle von Herodes’ Tod umbringen werde, womit sie eigenmächtig die Linie der Makkabäer enden lassen würde. Die einzige Ausnahme im gesamten Drama bildet die Opposition zwischen „Edoms Schwert“ (der Idumäer Herodes) und der „Perle Zions“ (der Makkabäerin Mariamne), die Alexandra im Gespräch mit Mariamne entwirft (V. 985 f.).
5.2 Herodes und Mariamne (1849/50)
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terstützt, dass Hebbels Tragödie der „unbedingtesten Nothwendigkeit“¹⁷⁹ von Beginn an auf Mariamnes freiwilligen oder unfreiwilligen Tod perspektiviert ist, jedenfalls aber auf ein gewaltsames Sterben. Symbolträchtig setzt die Tragödie mit einer Unterhaltung von Judas und Herodes über eine Frau ein, die ihre eigene Rettung aus einem brennenden Haus verweigert habe, weil ihr Mann kurz zuvor gestorben sei (I/1).¹⁸⁰ Unter diesem Eindruck bittet Herodes Mariamne, sie möge schwören, dass sie sich im Falle seines Todes umbringen werde (I/3). Weil sie den geforderten Schwur nicht leisten will, lässt Herodes Mariamne das erste Mal „unter’s Schwert“ (V. 507) stellen (I/4 – I/6), nicht ahnend, dass sie den Schwur in seiner Abwesenheit nachholen wird (II/3). Auf die Auseinandersetzung von Herodes und Mariamne, nachdem diese von seinem Frevel erfahren hat, folgt dann dessen Entschluss zum zweiten Schwertbefehl (IV/1).Von Anfang an steuert also die Tragödie auf Mariamnes Tod zu. Aber erst nachdem Mariamne von dem zweiten Tötungsbefehl durch Soemus erfahren hat, entwickelt sich eine zwangsläufige, nur noch um das Wie des Todes kreisende Dynamik: Auf Soemus’ Mitteilung hin will sie sich sofort umbringen und damit den inneren Tod durch den Suizid äußerlich vollziehen, aber ihre Mutter Alexandra verhindert den Versuch (IV/3). Darauf folgt mit IV/4 eine komplexe Unterbrechung der Handlung. Die Szene ist zweigeteilt: Zuerst findet das bereits ausführlich besprochene Dienergespräch statt, dann – getrennt durch eine kurze Regieanweisung, die den Beginn des Fests anzeigt – eine ähnlich kurze Unterredung zwischen dem Bürger Silo und dem Hauptmann Judas. Wie Artaxerxes hat auch Silo nur diesen kurzen Auftritt im gesamten Drama. Mit dem Diener Artaxerxes wird das Verdinglichungsmotiv aufgegriffen und damit das zentrale Motiv des Konflikts zwischen Herodes und Mariamne. Das Gespräch zwischen Silo und Judas hingegen spiegelt in der geschilderten Episode des Gärtnersohns, der einen Stein gegen einen römischen Adler geworfen hat, das prekäre Verhältnis von Rom und Jerusalem und den Graben innerhalb der Bevölkerung Jerusalems zwischen den religiösen ‘Rom-Hassern’ auf der einen und dem neuen herodianischen, gegenüber Rom aufgeschlossenen Jerusalem, das vom Hauptmann Judas vertreten wird, auf der anderen Seite. Die Auflösung dieser Episode nimmt darüber hinaus antithetisch die Ankündigung des Kindes durch die drei Könige und insbesondere den Kindermordbefehl am Ende des Dramas vorweg. Denn Judas fragt Silo nach dem Alter des Gärtnersohns und kann ihn daraufhin beruhigen:
So kündigt Hebbel die Tragödie in einem Brief an Felix Bamberg vom 27.5.1847 an (B I, Nr. 500, S. 913), vgl. auch T III, Nr. 4334, 22.12.1847. Mechthild Keller hat darauf verwiesen, dass sich in Hebbels Dramatik häufig die „Exposition in der Motivation erfüllt“ – eine spezifische dramaturgische Technik, die später auch für Henrik Ibsen charakteristisch wird (Anmerkungen zu Hebbels Dramentechnik: Motivation und Handlung, in: Friedrich Hebbel. Neue Studien zu Werk und Wirkung, hg.v. Hilmar Grundmann, Heide 1982 [Steinburger Studien, Bd. 3], S. 117– 129, hier S. 125).
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Judas Wohl! Im Vertrau’n denn! Weil er Zwanzig ist, Geschieht ihm Nichts! […] […] Und willst Du wissen Warum? Der König selbst hat einen Sohn Von zwanzig Jahren, doch er kennt ihn nicht! Die Mutter hat ihm, als er sie verließ, Das Kind entführt und feierlich geschworen, Es zu verderben – […] So zu verderben, daß er’s tödten müsse, Verstehst Du mich? Ich halt’s für Raserei, Die sich gelegt hat nach der ersten Wuth, Doch ihn macht’s ängstlich, und kein Todesurtheil Ward je an einem Menschen noch vollzogen, Der in dem Alter seines Sohnes stand. Tröst’ Deinen Gärtner!
(Vv. – )
Herodes’ Sorge, zum Henker seines eigenen Sohnes zu werden, kann als Referenz auf Mariamnes Söhne gelesen werden, die der historische Herodes Josephus zufolge tatsächlich hinrichten ließ. Zugleich ist der geheimnisvolle Sohn aber auch, wie Reinhardt schlüssig argumentiert, ein impliziter Verweis „auf den Messias – als den ‘wahren Sohn’“.¹⁸¹ IV/4 entpuppt sich so als präzise konzipierte Szene, die in sich den doppelten Schluss und die verschiedenen Konkurrenzen am Ende des Dramas spiegelt: Die Verdinglichung des Artaxerxes verweist auf Mariamnes Tod, der durch deren Verdinglichung veranlasst ist; der unbekannte Sohn des Herodes, dessentwegen dieser keinen Gleichaltrigen hinrichten lässt, ist Referenz auf den Befehl zum Kindermord, dem der echte Messias entkommen wird (so jedenfalls im Wissen der RezipientInnen); und im Anschlag auf den römischen Adler, der die Wut der Judäer auf die Macht der Römer versinnbildlicht, klingt schließlich der Zusammenbruch des schwächelnden judäischen Herrschers in die Arme des Römers Titus an. Nach dieser komplexen Interimsszene nimmt dann Mariamnes Plan Gestalt an, Herodes das „Amt“ (V. 2152) des Henkers zu überlassen. Dazu ist das inszenierte Fest das Mittel (IV /5 – IV/8). Herodes bestellt daraufhin das Gericht ein (V/1-V3). Nachdem das hilflose Gericht sie schuldig gesprochen hat (V/5), droht Mariamne ihrer Hinrichtung ein zweites Mal zuvorzukommen, indem sie während des Gesprächs mit Titus (V/6) „den Dolch auf ihrer Brust versteckt“ (V. 3210) hält, für den Fall, dass er einen Versuch unternehmen sollte, ihr Schicksal abzuwenden. Erst nach dieser Unterredung, die sicherstellt, dass die RezipientInnen des Dramas sowie – auf handlungslogischer Ebene – Herodes selbst von Mariamnes tatsächlichen Beweggründen für das Fest erfahren, erscheint dann endlich Joab (V/6): Mariamne (zu Joab). Bist Du bereit? Joab (verneigt sich). Mariamne (gegen Herodes’ Gemächer). Herodes, lebe wohl!
Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 383.
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(gegen die Erde) Du, Aristobolus, sei mir gegrüßt! Gleich bin ich bei Dir in der ew’gen Nacht! (Sie schreitet auf die Tür zu. Joab öffnet. Man sieht Bewaffnete, die ehrerbietig Reihen bilden. Sie geht hinaus. Titus folgt ihr. Joab schließt sich an. Feierliche Pause.) (Vv. – nach )
Der Bogen, der von Szene IV/3 bis hierher gespannt wurde, kommt mit der „[f]eierliche[n] Pause“ zu seinem vorläufigen Ende. Der Logik und Dynamik der vorangehenden Szenen zufolge müsste diese Pause Mariamnes Hinrichtung anzeigen. Damit die Auseinandersetzung zwischen dem judäischen Herrscherpaar auch auf einer Sinnebene einen Abschluss finden würde, müsste Titus nur noch Herodes über Mariamnes Unschuld aufklären. Stattdessen tritt Herodes’ Schwester Salome auf (V/7), die sich ängstigt, Herodes könne sich noch umstimmen lassen und damit die Hinrichtung ihrer Widersacherin in letzter Sekunde abwenden. Die fremden Könige, die von einem Diener angekündigt werden, sind ihr darum mehr als eine willkommene Ablenkung für ihren Bruder. Sie werden zu Garanten, dass der König dem Henker nicht mehr zuvorkommen kann: Ein Diener Drei Kön’ge aus dem Morgenland sind da, Mit köstlichen Geschenken reich beladen, Sie kommen an in diesem Augenblick, Und nie noch sah man fremdere Gestalten Und wundersam’re Trachten hier, wie die! Salome Führ’ sie herein! (Diener ab) Die meld’ ich ihm sogleich. Solange die bei ihm sind, denkt er nicht An sie! Und bald ist Alles aus mit ihr! (Sie geht zu Herodes hinein.) Der Diener (führt die drei Könige herein. […] Herodes tritt mit Salome gleich nachher ein). (Vv. – nach )
Salomes Sorge um die noch nicht vollzogene Hinrichtung bildet nur ein schwaches dramaturgisches Verbindungsglied zu dem ansonsten recht unvermittelten Auftritt der drei Könige. Die „feierliche Pause“ entpuppt sich als dramaturgischer Kniff: Sie löst den Spannungsbogen von Mariamnes immer wieder verschobenem Tod auf. Im Moment der Pause scheint die Hinrichtung stattzufinden. Erst durch Salomes Monolog wird im Rückblick deutlich, dass die Pause doch nicht Mariamnes Tod angezeigt hat, jedenfalls nicht eindeutig. Auf diese Weise wird einerseits der seit IV/3 aufgebaute Spannungsbogen szenisch zu einem Ende gebracht und andererseits eine inhaltliche Brücke zu den anschließend auftretenden Königen geschlagen. In diesem Sinne zeigt die „Pause“ einen ersten Schluss an, der aber durch Salomes Auftritt direkt wieder aufgehoben wird, ein Effekt, der in der Rezeption des aufgeführten Dramas noch überzeugender als im Akt des Lesens ist, weil sich nur dann die Pause wirklich zeitlich vollzieht.
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5.2.3.2 Der zweite Schluss: Die drei Könige und Titus Ob der Versuch, Mariamnes Schicksal mit dem Drei-Königs-Auftritt zu verbinden, dramenästhetisch als gelungen zu bezeichnen ist, steht auf einem anderen Blatt. Folgt man der Mehrheit insbesondere der früheren Hebbel-InterpretatorInnen, dann ist diese Frage mit einem klaren ‘Nein’ zu beantworten. Der Auftritt ist wahlweise als „Anhängsel“,¹⁸² „überflüssig“¹⁸³ oder „außerhalb“¹⁸⁴ der eigentlichen Tragödie beschrieben worden,¹⁸⁵ oder man hat ihn gar nicht erst in die Analyse des Textes einbezogen.¹⁸⁶ In der Tat ändern auch die beiden früheren Verweise auf die Geburt des ‘neuen Königs’ – chiffriert in IV/4 durch den unbekannten Herodes-Sohn, eindeutiger in V/5 durch den Pharisäer Sameas, der unter Folter den Messias ankündigt – nur wenig an der Abruptheit, mit der die drei Könige nach Mariamnes feierlichem Abgang zur Hinrichtung plötzlich auf der Bühne erscheinen. Der nur lose innerdramatische Zusammenhang des Auftritts der drei Könige mit dem bisherigen Verlauf der Tragödie wird über diese plötzliche Unmittelbarkeit ihres Erscheinens hinaus zudem betont
Karl Böhrig: Die Probleme der Hebbelschen Tragödie, Leipzig 1899, S. 53; Beate Everling: Der Mensch zwischen Mythos und Individualität. Eine Untersuchung der tragischen Übergangssituation im Drama Friedrich Hebbels, Diss. masch. Freiburg/Brsg. 1948, S. 71 und Fritz Martini: Friedrich Hebbels Anschauungen vom Beruf des Dichters, in: Hebbel-Jahrbuch 1941, S. 1– 39, hier S. 3. Anna Schapire-Neurath: Friedrich Hebbel, Leipzig 1909 (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 238), S. 65. Kreuzer: Die Tragödien Friedrich Hebbels, S. 160. Die Zusammenstellung der Zitate bei Kraft: Poesie der Idee, S. 189. Einige InterpretInnen haben sich bemüht, die pejorativ-normativen ästhetischen Urteile über den Auftritt der drei Könige zu revidieren, so etwa Heinz Stolte, der in dem Tod die „Umrisse eines göttlichen Welt- und Heilsplanes im Hintergrunde“ sieht, der das „tragische Ergebnis“ von Mariamnes Tod „gleichsam historisch“ relativiere (Hebbels „Herodes und Mariamne“ als Bekenntnisdichtung, S. 112) oder – affirmativ in Bezug auf die geschichtsphilosophische Dimension des Dramas – Herbert Kraft, der zwar die mangelnde dramatische Motivation der Szene bemerkt, diese aber wegen der historischen Strahlkraft der Szene nicht für notwendig hält. Denn er erkennt in ihr die „letzte Stufe der Versöhnung“, der das „ganze Gewicht […] des geschichtlichen Inhalts“ der Tragödie zukomme (Poesie der Idee, S. 191 f.). Ähnlich auch Reinhardt, der allerdings stärker noch als Kraft die „konstitutionelle[] Schwierigkeit“ der Szene betont, die er zum einen im Anschluss an Marie Louise Hiller (Friedrich Hebbels ‘Herodes und Mariamne’ auf der Bühne 1849 – 1927, Leipzig 1930, Nachdr. Hildesheim 1978, hier S. 12 f.) in der Schwierigkeit der Darstellbarkeit des Krippenspiel-Stils der Szene lokalisiert und zum anderen darin, dass sie nicht „unmittelbar sinnfällig“ werde, sondern nur durch das Wissen der RezipientInnen (Apologie der Tragödie, S. 379 – 391, hier S. 391). Insbesondere Interpretationen, in denen Herodes und Mariamne vornehmlich als Ehe- oder Liebestragödie gelesen wird, sparen den eigentlichen Schluss der Tragödie oftmals aus. Solche Analysen bestätigen, dass Mariamnes Tod durchaus als eine Art eigenständiges Dramenende verstanden werden kann, das in sich schlüssig ist und offenbar dazu herausfordert, das Folgende zu vernachlässigen, um eine eindeutige Interpretation des Dramas liefern zu können.Vgl. für Interpretationen des Dramas, in denen die drei Könige weitgehend ignoriert werden, etwa Gruenter: Herodes und Mariamne; Kim: Die Verdinglichung des Menschen und der menschlichen Beziehungen im frühen dramatischen Werk Friedrich Hebbels, S. 278 – 285; Kurt May: Hebbels „Herodes und Mariamne“, in: Hebbel-Jahrbuch 1949/50, S. 47– 59 sowie Alexandra Tischel: Tragödie der Geschlechter. Studien zur Dramatik Friedrich Hebbels. Freiburg/Brsg. 2002 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 96), S. 65 – 98.
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durch die sprachlich gleichförmige Gestaltung ihres Auftritts, die auf jedwede Charakterisierung der Figuren verzichtet,was Felix Bamberg dazu veranlasste, sie in einem Brief an Hebbel als „sprechende Wachsfiguren“¹⁸⁷ zu beschreiben. Die drei Könige heben sich durch diesen nach Hebbels eigenen Angaben unbedingt intendierten „Holzschnitt-Styl“¹⁸⁸ vom Rest des so genau durchkomponierten und auf das Paradigma der ‘Notwendigkeit’ verpflichteten Dramas ab. Durch normativ-ästhetische Urteile ist die Eigenheit der drei Könige daher kaum zu fassen, weil sie im Zweifelsfall bei der Diagnose des misslungenen Versuchs stehen bleiben. Aufschlussreicher erscheint es vielmehr, den Auftritt in seiner dramaturgischen Unvermitteltheit interpretatorisch ernst zu nehmen und von hier aus nach seiner Funktion zu fragen. Zunächst ist zu konstatieren, dass mit den zwei lose miteinander verflochtenen Dramenenden – Mariamnes Hinrichtung und der Ankündigung des Christentums – im Text die beiden wichtigsten Stränge der Überlieferung zur Person des Herodes verbunden werden:¹⁸⁹ Ein Strang geht auf den biblischen Herodes zurück, kurz erwähnt in Lk 1, 5, maßgeblich ist aber die Version bei Mt 2. Dort werden die „Weisen“,¹⁹⁰ bevor der Stern sie zum neugeborenen Kind führt,von Herodes zu sich gerufen. Er fordert sie auf, nach ihrem Besuch zu ihm zurückzukehren und zu erzählen, wo das Kind zu finden sei – eine Bitte, der sie auf göttliches Geheiß hin nicht entsprechen. Der erzürnte judäische König veranlasst daraufhin den bethlehemitischen Kindermord. Insbesondere auf diese grausame Episode ging die erste Theaterkarriere der Herodes-Figur zurück. Als Bösewicht und Tyrann eroberte Herodes die Bühne zunächst in den mittelalterlichen Mysterienspielen. Auch in der Literatur der Renaissance und des Barocks erschien er vor allem als Kindermörder. Der Konflikt zwischen Herodes und Mariamne – als zweiter maßgeblicher Traditionsstrang – fand erst ab dem 17. Jahrhundert, nach den ersten Josephus-Übersetzungen der Renaissance,¹⁹¹ Eingang in literarische Bearbeitungen. Zunächst war er nur Supplement zum eigentlich ausgearbeiteten Kindermord, so erstmals in Daniel Heinsius’ Drama Herodes infanticida (1621), in dem Mariamne dem Herodes als Geist erscheint, um ihm ein schlimmes Ende zu prophezeien.¹⁹² Die erste tatsächliche Dramatisierung nach Josephus war Hans Sachs’ wütrich könig He-
Felix Bamberg an Friedrich Hebbel, 12. 5.1850, B II, Nr. 809, S. 148. Hebbel fasste Bambergs Beschreibung so auf, wie dieser sie verstanden wissen wollte, nämlich als Lob, und antwortete beglückt, dass ihm gerade die „Bezeichnung der heiligen drei Könige als sprechender [sic!] Wachs-Figuren“ gefallen habe, die vollkommen seiner „Intention“ entsprochen habe (Friedrich Hebbel an Felix Bamberg, 31.8.1850, B II, Nr. 842, S. 188). Ebd. Vgl. für den folgenden Abschnitt Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart 81992, S. 324– 327 und Matthiesen: „Herodes und Mariamne“. So die lutherische Übersetzung, im Original gr. μάγοι. Auf die Unterschiede zwischen Hebbels Königen und den μάγοι wird im Folgenden eingegangen. Zur neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte von Josephus vgl. Heinz Schreckenberg: Rezeptionsgeschichtliche und textkritische Untersuchungen zu Flavius Josephus, Leiden 1977. Das Motiv der warnenden Mariamne findet sich auch in Andreas Gryphius’ Epos Dei vindicis impetus et Herodis interitus (1635) und in Johann Klajs Redeactus Herodes der Kinder-Mörder (1645).
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rodes (1522). Gemeinsam mit Lodovico Dolces Marianna (1560) bildete das Drama den Auftakt für eine Reihe von Dramen, in denen fortan nicht mehr der biblische Kindermörder-Herodes in den literarischen Bearbeitungen dominierte, sondern die prekäre Beziehung von Herodes und Mariamne. Dadurch wurde die Figur des Königs zugleich vielschichtiger und oszillierte nunmehr zwischen dem Gattinnenmörder, dem großen Liebenden und nicht zuletzt dem kalkulierenden Staatsmann. Mitte des 19. Jahrhundert avancierte die Beziehung von Herodes und Mariamne zu einem attraktiven Dramenstoff.¹⁹³ Schon vor Hebbel hatte Friedrich Rückert im ersten Teil seines Doppeldramas Herodes der Große (1844) eine Zusammenführung der beiden Traditionen des Herodes-Stoffs unternommen.¹⁹⁴ Unter dem Titel Herodes und Mariamne spannte Rückert, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem als Lyriker und Professor für Orientalistik einen Namen machte, dort den Bogen von der Eheschließung des titelgebenden Paares bis zu Mariamnes Hinrichtung und der Geburt Jesu. Es lässt sich nicht abschließend klären, ob Hebbel Rückerts Drama kannte.¹⁹⁵ Unabhängig davon bietet es sich aber als Folie für die Interpretation der hebbelschen Tragödie an. Denn obwohl sich die beiden gleichnamigen Stücke, zwischen denen ungefähr fünf Jahre liegen, zunächst eng an die Überlieferung durch Flavius Josephus halten und in beiden am Ende eine Wende zum Herodes der biblischchristlichen Tradition vollzogen wird, könnte der Umgang mit dieser gleichen Konstellation kaum unterschiedlicher sein: Wo Hebbel ein kompliziertes Geflecht verschiedener Altertums-Konkurrenzen an den Tragödienschluss setzt, endet Rückerts
Vgl. etwa Christoph Kuffner: Herodes und Mariamne. Dramatische Dichtung, in: Cyanen. Taschenbuch für 1840, S. 259 – 98; Rudolph Neumeister: Herodes der Große und Mariamne. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Leipzig 1856; Bernhard von Lepel: König Herodes. Tragödie in fünf Acten, Berlin 1860 und Seligmann Heller: Die letzten Hasmonäer. Tragödie in fünf Akten, Prag 1868. Friedrich Rückert: Herodes der Große, in zwei Stücken, I. Stück: Herodes und Mariamne, II. Stück: Herodes und seine Söhne, Stuttgart 1844. Zwar könnte gegen Hebbels Kenntnis von Rückerts Drama angeführt werden, dass er in seiner Kritik des Ludovico meint, „der köstliche Schatz [der Herodes-Stoff, F.K.]“ liege „noch ganz unberührt“ da (Hebbel: Ludovico (1849), W XI, S. 254). Allerdings verschweigt Hebbel hier auch, wie bereits gesehen, seine eigene Tragödie, die zum Zeitpunkt des Erscheinens der Kritik schon vollendet war. Hayo Matthiesen geht „mit Sicherheit“ („Herodes und Mariamne“, S. 92) davon aus, dass Hebbel das Drama gekannt habe, weil die Übereinstimmungen beider Stücke unübersehbar seien. Neben der Einführung der drei Könige oder Weisen nennt er Mariamnes Liebe zu Herodes, die Transformation des Pharisäers Sameas von einem Gegner in einen Anhänger des Königs und das Auftreten eines Blinden als Verschwörer (ebd.). Zwar hat Reinhardt recht, wenn er meint, mit „Sicherheit“ könne Hebbels Kenntnis des Dramas nicht belegt werden, aber die von Matthiesen angeführten Indizien sprechen doch dafür. Dass Hebbel sich nicht in seinem Tagebuch zu Rückerts Herodes geäußert hat, ist kein schlagendes Argument gegen Hebbels Kenntnis des Stücks, weil dieser dort keineswegs Auskunft über seine gesamten Lektüren gibt. Auch Reinhardts These, die Übereinstimmungen ergäben sich „aus den hier wie dort benutzten Quellen (Flavius Josephus und die Bibel)“ (Apologie der Tragödie, S. 381, Anm. 247), geht an Matthiesens Argument vorbei, der ja die Gemeinsamkeiten beider Dramen in den Abweichungen des durch Josephus überlieferten Stoffs betont (ganz abgesehen davon, dass Grundlage für Hebbels ‘heilige drei Könige’ nicht die biblischen μάγοι sind, sondern die christlich-volkstümliche Tradition).
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Herodes und Mariamne dezidiert heilsgeschichtlich. Das wird zum einen deutlich an der verschiedenen Rezeption der neutestamentlichen μάγοι, zum anderen an der unterschiedlichen Realisation der dramaturgischen und semantischen Verbindung der beiden maßgeblichen literarischen Herodes-Traditionen. Die Einführung der drei Könige oder Weisen ist in Hebbels und Rückerts Tragödien denkbar verschieden gestaltet. Bei Rückert treten sie zunächst gar nicht auf.Von ihrem Besuch am herodianischen Hof erfahren die RezipientInnen vielmehr in der Retrospektive durch das Gespräch zweier kriegerischer Wachen: Erster Krieger […] [Z]um König kamen sie, Die einen sagen: selbst drei Kön’gen gleich; Die andern sagen: ähnlich dreien Weisen Aus Morgenland, und fragten an, wo hier Der neugeborne König sei zu finden. – ¹⁹⁶
Die Fragen nach Alter, geographischer Herkunft, sozialem Stand und Funktion der neutestamentlichen μάγοι wurde im 19. Jahrhundert intensiv diskutiert.¹⁹⁷ In der Epoche der historisch-kritischen Philologie konnte man kaum ignorieren, dass bei Mt 2, 1– 12 lediglich von Magiern die Rede ist, die aus dem Osten nach Jerusalem kamen und aus denen erst die christlich-abendländische volkstümliche Tradition im Laufe des 5. und 6. Jahrhunderts drei Könige gemacht hat.¹⁹⁸ Der nur vermeintlich königliche Rang wird im Gespräch der Wachen diskutiert. Luther übersetzte μάγοι als „Weise aus dem Morgenland“, und für diese etablierte Variante entschied sich Rückert in den Metatexten und im Figurenverzeichnis, wo er auch auf die biblisch nicht belegte Dreizahl verzichtete. Demgegenüber wählte Hebbel die pseudobiblisch-volkstümliche Variante der „[d]rei Kön’ge aus dem Morgenland“ (V. 3125) und beließ es dabei auch ungeachtet der Kritik, die ihm deswegen schon bei der ersten Lesung des Dramas am 9. Februar 1849 in
Rückert: Herodes und Mariamne, S. 192. Vgl. etwa den weiter unten zitierten Brief von Josef von Hammer-Purgstall. Diese Fragen stellten sich nicht nur in philologischer und exegetischer Hinsicht, sondern sie spielten auch eine große Rolle in der Kontroverse um die Echtheit der Reliquien der drei Könige im Kölner Dom, die ihren Höhepunkt in der Umbettung der Gebeine 1864 fand, der auch renommierte Wissenschaftler wie der Schädelforscher Hermann Schaafhausen beiwohnten, vgl. Walter Schulten: Heilige drei Könige, in: Theologische Realenzyklopädie, hg.v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Bd. 9, Berlin, New York 1982, S. 166 – 169, hier S. 168. Die Dreizahl geht – vielleicht als Korrespondenz mit den drei Gaben Gold,Weihrauch und Myrrhe – auf Origenes zurück. Der königliche Rang wird erstmals bei Tertullian erwähnt. Dass aus den Magiern Könige wurden, hängt wohl wesentlich mit Ps 72, 10 („Die Könige von Tarsis und auf den Inseln sollen Geschenke bringen, die Könige aus Saba und Seba sollen Gaben senden.“) und Jes 60, 3 („Und die Heiden werden zu deinem Lichte ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht.“) zusammen. Zitiert nach: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, Stuttgart 1999. Vgl. Schulten: Heilige drei Könige, S. 166 – 168 und Adolf Weis: Drei Könige, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg.v. Engelbert Kirschbaum, Bd. 1, Rom u. a. 1968, Sp. 539 – 549.
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Wien entgegenschlug. Sie ist hörbar etwa in einem Brief des Hebbel freundschaftlich verbundenen Altorientalisten Josef von Hammer-Purgstall: Erlauben Sie daß der Doctor dem Doctor der Orientalist dem Dichter mit der aufrichtigen Bewunderung der Marianne [sic!] abgesehen von der gestrigen Bemerkung noch die Bemerkung beifüge, daß wenn Sie durchaus die Erscheinung der drey Weisen aus dem Morgenlande für nöthig finden es durchaus unstatthaft ist daß Sie dieselben in „Könige“ verwandeln, sie heissen im Originale Mαγοι in Luthers Übersetzung Weise und auch in der Vulgata des Hieronymus Magi. Die orientl. Geschichte kennt sogar die Feuertempel woher sie kamen. Es ist nur ein Volksaberglaube der gar keinen Halt hat, der die Weisen in Könige verkehrt hat, auch spielen drey Könige gegenüber eines solchen Königs wie Herodes keine gute Rolle, ich bitte also jedenfalls um die Verwandlg [sic!] der apocryphen Könige in die biblische Wahrheit der Weisen aus dem Morgenlande, die aber nicht als Könige aus verschiedenen Ländern sondern als Priester eines und desselben Feuertempels nach Bethlem [sic!] kamen […].¹⁹⁹
Hebbels Entscheidung für die volkstümliche Transformation der μάγοι kann angesichts dieser scharfen Kritik aus dem wissenschaftlichen Lager und seiner Tendenz, sich sonst relativ treu an die Quellen zu halten, kaum als philologischer Lapsus abgetan werden. Um die Frage zu beantworten, welchen Bedeutungshorizont die ‘drei Könige’ gegenüber den lutherischen ‘Weisen’ eröffnen, ist die Regieanweisung aufschlussreich, die ihren Auftritt anzeigt: Sie [die drei Könige, F.K.] sind fremdartig gekleidet und so, daß sie sich in Allem von einander unterscheiden. Ein reiches Gefolge, von dem dasselbe gilt, begleitet sie. Gold, Weihrauch und Myrrhen. (nach V. 3132)
Der kurze Metatext ist schon deshalb auffällig, weil es im gesamten Stück nur noch eine andere, sehr kurze Regiebemerkung gibt, die das Kostüm einer Figur thematisiert.²⁰⁰ Klaus Schuhmacher hat darauf hingewiesen, dass Hebbels Dramatik trotz der potentiell exotischen oder historisch interessanten Schauplätze seiner Tragödien „kein Fest für die Blicke“²⁰¹ bietet. Hebbel befürwortete entgegen zeitgenössischen Trends eine zurückhaltende Ausstattung. Diese Haltung propagiert er ausdrücklich in seinem Vorwort zur Judith: [D]aß hier nur die freie orientalische Bekleidung und Decorirung am Platz ist, und daß Assyrier und Ebräer durch ihre Tracht auf eine leicht in die Augen fallende Weise unterschieden werden müssen, versteht sich von selbst; im Uebrigen halte ich dafür, daß zu große Treue und Aengst-
Josef von Hammer-Purgstall an Friedrich Hebbel, 10. 2.1849, B II, Nr. 656, S. 5, Hervorh. i.O. Herodes und Mariamne ist (wie die meisten anderen Hebbelschen Tragödien auch) insgesamt arm an Metatexten. Eine weitere Angabe zum Kostüm gibt es nur im Zusammenhang mit Herodes’ plötzlichem Besuch von Mariamnes Fest. Es heißt dort schlicht, er sei „kriegerisch angethan“ (vor V. 2526). Auch durch implizite Regiebemerkungen gibt es keine Hinweise auf die Kostüme, eine Ausnahme bildet lediglich der symbolträchtige Rubin, den Mariamne bei ihrem Fest trägt (vgl. V. 2493). Schuhmacher: Vernichtungsphantasien, S. 138.
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lichkeit in solchen Dingen die Illusion eher stört, als befördert, indem die Aufmerksamkeit dadurch auf fremdartige Gegenstände geleitet und von der Hauptsache abgezogen wird.²⁰²
‘Ebräer’ und ‘Assyrer’ sollten demnach klar voneinander unterschieden werden.Wenn Hebbel für seine Judith die „freie orientalischen Bekleidung“ vorschwebt, dann ist das allerdings als eine deutliche Abgrenzung von jener historischen Kostüm- und Dekorationspraxis im 19. Jahrhundert zu verstehen, die auf die möglichst exakte Nachbildung historischer Wirklichkeit setzte.²⁰³ Im Gegenteil, Hebbel fürchtet ausdrücklich das Ablenkungspotential „fremdartige[r] Gegenstände“ auf der Bühne. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Sorge, das Publikum könne durch die übermäßige Entfaltung von visuellen Reizen auf der Bühne von der „Hauptsache“ der Tragödie abgelenkt werden, wird deutlich, dass es kaum die Funktion der zitierten Regieanweisung sein kann, kurz vor Schluss die Aufmerksamkeit des Publikums durch orientalische Prachtentfaltung zu erregen. Das Kostüm der drei Könige ist vielmehr in einer doppelten strukturellen Funktion zu lesen: Mit seiner Hilfe sollen die Figuren erstens ‘fremdartig’ erscheinen. Damit wird ihr identifikatorisches Potential gemindert. Und zweitens sollen sich die drei Männer durch ihre Kleidung voneinander unterscheiden. Wie bei den Hebräern und Assyrern in der Judith soll auch hier das Kostüm eine Differenz der Figuren zueinander markieren. In der Perspektive auf diese Differenzierungsleistung des Kostüms liefert die Regiebemerkung einen Fingerzeig, welche Semantik mit den drei Königen verbunden wird, die mit den lutherischen Weisen nicht zu haben war. Denn an die volkstümlich überlieferte Version der drei Könige wurde im Mittelalter über die Dreizahl und den königlichen Stand eine komplexe Symbolik gebunden, die stets mit der Kategorie der
Hebbel: Judith, W I, Lesarten und Anmerkungen, S. 410 Zur historischen Kostüm- und Dekorationspraxis vgl. Kapitel 3. Hebbels distanzierte Haltung zu einer Aufführungspraxis, die auf Requisiten und spektakuläre Szenenwechsel setzt, ist an den Dramentexten ablesbar. In ihnen wird fast vollständig darauf verzichtet, durch implizite oder explizite Regieanweisungen die visuellen Reize der verschiedenen Altertumskulturen auszuspielen. Das Fehlen visueller Exotik und die Zurückhaltung in konkreten Kostüm- und Dekorationsanweisungen darf aber nicht zu der Annahme führen, Hebbel sei ein Autor gewesen, der die medialen Möglichkeiten und Anforderungen des Theaters in seiner Dramatik nicht einkalkuliert hätte. Die Analyse der „[f]eierliche[n] Pause“ (nach V. 3115) (die Pause als szenischer „erster Schluss“ und gleichzeitige inhaltliche Brücke zum Auftritt der drei Könige) wie auch die oben zitierte Regieanweisung zum Auftritt der drei Könige zeigen, dass in den Tragödien die medialen Möglichkeiten der Bühne mitgedacht sind. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die erste Szene in Gyges und sein Ring. Das Drama setzt mit einer Regieanweisung ein: „Kandaules und Gyges (treten auf. Kandaules schnallt sich das Schwert um, Thoas folgt mit dem Diadem).“ (Hebbel: Gyges und sein Ring, W III, vor V. 1). An diesen beiden Herrschaftsinsignien, die zunächst in ihrer bloßen Materialität in Szene gesetzt werden, entzündet sich im Folgenden die Auseinandersetzung zwischen Thoas und Kandaules um die Frage nach Tradition auf der einen Seite und politischem, säkularisierendem Fortschritt auf der anderen Seite, die für die gesamte Tragödie zentral ist (vgl. auch Peter Michelsen: Rhodopes Schleier. Betrachtungen zu Friedrich Hebbels ‘Gyges und sein Ring’, in: Festschrift für Klaus Ziegler, hg.v. Eckehard Catholy und Winfried Hellmann, Tübingen 1968, S. 233 – 268, hier S. 233 f.).
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Differenz operierte. So wurden die Könige verstanden als Repräsentanten der drei biblischen Völkergruppen (Semiten, Hamiten und Japhiten), der mittelalterlich bekannten drei Erdteile (Europa, Asien und Afrika) oder auch der drei Lebensalter (Jüngling, Mann, Greis).²⁰⁴ Es sind diese Bedeutungsoptionen, die auch bei den LeserInnen und ZuschauerInnen des 19. Jahrhunderts aufgerufen wurden. Mit dem Akzent auf die im Kostüm realisierte Differenz lotet die Regieanweisung also einerseits die universalgeschichtliche und anthropologische Repräsentationsleistung der drei Könige aus. Zugleich wird ihr Identifikationsangebot minimiert, indem sie „fremdartig“ (nach V. 3132) gekleidet sind und der Diener betont, man habe an Herodes’ Hof noch „nie […] fremdere Gestalten / Und wundersam’re Trachten“ (V. 3128 f.) gesehen. Im Figurenverzeichnis wird zudem eine kritische Distanznahme zum Christentum betont. Dort heißt es: „Drei Könige aus dem Morgenlande, von der christlichen Kirche später die heiligen zubenannt.“ Im Gegensatz zu Rückert, der mit der Thematisierung des Unterschieds zwischen Königen und Weisen das nicht in Einklang zu bringende Verhältnis von biblischer und volkstümlicher Überlieferung aufruft, um sich in den Metatexten für die biblisch-philologisch durch Luther etablierte Version zu entscheiden, bietet Hebbels Figurenbezeichnung mit seiner Reflexion christlicher Heiligenlegenden einen ironischen Kommentar zur Heilsgeschichte des Christentums. Die Christus-Verweise bei Hebbel eröffnen auf der Oberfläche eine heilsgeschichtliche Dimension, mit der auch ein Vertrauen auf den teleologischen Fortgang von Geschichte verbunden sein könnte. Solche Perspektiven haben dazu geführt, dass das Drama in der Forschung als (hegelianisch‐)geschichtsphilosophische Kulturstufen-Tragödie gelesen wurde. Gegen diese eindeutige Lesart sperrt sich der Text aber auf verschiedene Weise: erstens, indem die Frage nach Christus durch die drei fremdartig und divers gekleideten drei Könige angekündigt wird, deren Auftritt zugleich einen universalgeschichtlichem Anspruch artikuliert und ein denkbares Identifikationsangebot verweigert; zweitens, indem dieser Bruch auch dramentektonisch durch den nur lose mit dem Rest der Tragödie verbundenen Drei-Könige-Auftritt realisiert wird; drittens schließlich wird ein affirmativ auf eine teleologische Dynamik vertrauendes Geschichtsverständnis auch dadurch gebrochen, dass das Figurenverzeichnis die (christlich-legendarische) Geschichtsschreibung kritisch reflektiert. Das Drama lässt sich darum nicht als Kulturstufen-Tragödie verstehen, sondern vor dem skizzierten Hintergrund wird die Referenz auf das Christentum vielmehr lesbar als skeptischironischer Kommentar zur Tragweite des idealistischen Geschichtsmodells. Dass die Kombination der beiden maßgeblichen literarischen Herodes-Traditionen durchaus affirmativ Vorstellungen von einer Teleologie der Geschichte begründen konnte, zeigt ein neuerlicher Vergleich mit Rückerts Herodes und Mariamne. In Rüc Auf diese Bedeutungshorizonte der drei Könige verweist auch Kraft: Poesie der Idee, S. 190. Zumindest die These der drei Lebensalter schien sich bei der Kölner Exhumierung der Reliquien 1864 zu bewahrheiten, wurde im Protokoll doch vermerkt, ein Schädel sei einem Mann im Alter von 10 bis 12 Jahren, ein zweiter einem Mann im Alter von 25 bis 30 Jahren und ein dritter einem um die 50 Jahre alten Mann zuzuordnen, vgl. Schulten: Heilige drei Könige, S. 168.
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kerts Drama erscheint das Christentum als teleologisch-genealogischer Fortschritt, als Überbietung der bisherigen Kulturstufen. Auch in dieser Hinsicht ist es aufschlussreich, dass das Erscheinen der morgenländischen Weisen am herodianischen Hof in Rückerts Drama nicht direkt szenisch realisiert wird, sondern dass stattdessen die beiden Wachen davon berichten. Auf diese Weise wird die Ankündigung der Geburt Christi mit zwei Altertumskulturen verbunden, die mit Identifikationsangeboten ausgestattet sind, die durch die orientalischen Könige/Weisen kaum figuriert werden konnten: Bei den beiden Kriegern handelt es sich um einen Germanen und einen Gallier.²⁰⁵ Bemerkenswerterweise wird die im 19. Jahrhundert fest etablierte Analogie der beiden Altertumskulturen mit den Deutschen und Franzosen im Wissen der RezipientInnen aktualisiert,²⁰⁶ indem die Wachen zunächst darüber streiten, wem der „Rhein“ gehöre, den Germanen oder den Galliern. Sie legen die Auseinandersetzung vorläufig bei, weil sie „an anderm Ort, zu andrer Zeit / Wol auszumachen“²⁰⁷ sei. Sie rufen so erstens den zeitgenössischen politischen deutsch-französischen Konflikt auf, der im Folgenden durch einen christlich-brüderlichen Schulterschluss gelöst wird. Zweitens bereitet ihr kurzer Streit auch ein genealogisches Argument vor. Denn nachdem der Germane seinen gallischen Gefährten von dem Besuch der drei Männer am herodianischen Hof unterrichtet hat, die nach einem „neugeborne[n] König“ gefragt hätten, einem König, der „in aller Welt“ herrschen und „kein Mensch“, sondern „des höchsten Gottes Sohn“ sein solle, fährt er fort, dass die Vorstellung von einem solchen König auf „einen Glauben aus uralter Zeit“²⁰⁸ des judäischen Volks zurückgehe. Damit ruft er ein Alleinstellungsmerkmal des hebräischen Altertums auf, das diesem aber sofort wieder abgesprochen wird, um die Geburt Christi nahtlos in die genealogische Folge von Germanen und Galliern einbinden zu können. So denken die beiden Krieger am Schluss der Szene darüber nach, was sie mit den drei Männern und deren Botschaft von einem neuen König anfangen sollen: Dass die Herkunft der beiden Krieger in der Logik des Dramas erklärungsbedürftig ist, zeigen die umständlichen Erläuterungen der beiden Wachen, warum sie als Germane und Gallier überhaupt am judäischen Hof leben. Ihre Ausführungen eröffnen zugleich die Möglichkeit, die geographischen Dimensionen der antiken Welt zu entfalten. Die beiden Männer erinnern sich, sie seien zunächst von Cäsar „ausgehoben“ und „angeworben“ worden, dessen Armee sie über „Britannien, […] / Hin übers Meer […] Dann übern Rubicon, / Nach Rom. […] Dann in den Orient, und nach / Aegypten endlich“ (Rückert: Herodes und Mariamne, S. 187) geführt habe. Dort habe Cäsar sie Kleopatra „zur Leibwach’“ (S. 188) geschenkt, wo sie Augustus, dem Sieger über Kleopatra und Antonius, zugefallen seien, der die beiden Männer wiederum an Herodes verschenkt habe. Herodes schließlich habe sie (wie Cäsar seiner Kleopatra) Mariamne zum Schutz gegeben (vgl. ebd.). Es mag auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, dass Rückert sich genötigt fühlte, die Mitte des 19. Jahrhunderts längst fest etablierte Gleichung Germanen-Deutsche und Gallier-Franzosen solchermaßen abzusichern. Das Verfahren entspricht aber der Strategie im gesamten Drama, jede Kleinigkeit bis ins letzte Detail zu explizieren. Anders als Hebbel verließ sich Rückert offenbar nur ungern auf das Altertums-Wissen seiner RezipientInnen. Vgl. zu solchen Fragen der Wissensökonomie in Hebbels Tragödien Kapitel 5.3.3. Rückert: Herodes und Mariamne, S. 186. Ebd., S. 192 f.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Zweiter Krieger [der Gallier, F.K.] Glaubst du daran? Ich möchte daran glauben, Erster Krieger [der Germane, F.K.] Doch weiß ich nicht den Faden anzuknüpfen. Zweiter Krieger Es ist so arg geworden in der Welt, Daß, wie es scheint, kein Mensch mehr helfen kann, Und selbst ein Gott vom Himmel steigen muß: Hilft das vielleicht den Faden knüpfen, Bruder Germane? Still, und laß uns weiter sinnen, Erster Krieger Zweiter Krieger Auch unsere Druiden profezeien Von solchen Dingen. Erster Krieger Und von Götterdämmrung Klingt solch ein Lied in den german’schen Hainen.²⁰⁹
Wie der „Faden“ zu knüpfen sei, ist damit klar: Er zieht sich von den gallischen Druiden und germanischen Hainen direkt über das neugeborene Christuskind bis zu den französisch-deutschen Brüdern. Rückerts Drama bietet so eine heilsgeschichtlich aufgeladene Ursprungserzählung christlich-abendländischer Kultur. Dies gelingt auch durch eine andere dramentektonische Lösung der Verbindung der beiden literarischen Herodes-Traditionen. Mariamne wird in Rückerts Drama schon am Ende des vierten Akts hingerichtet. Anschließend kann der fünfte und letzte Akt fast ganz dem destruktiven, gewaltvollen und in den Wahn gesteigerten „Jammer“²¹⁰ des Herodes gewidmet werden. Herodes kommt dabei die Rolle des negativen Gegenspielers zum neuen Heiland zu. Er wird von den Wachen als „Finstre[r]“²¹¹ bezeichnet, und ihm wird zwischen der germanisch-gallischen heilsgeschichtlichen Szene und dem krippenspielähnlichen Schluss noch ein längerer Monolog zugestanden, in dem seine Gottlosigkeit durch das Bekenntnis zu einem konturlosen Polytheismus in Szene gesetzt wird. Herodes ruft nicht nur einen ganzen Hofstaat griechisch-römischer Götter (Apollon, Aesculap, Pallas, Aegis, die Furien, die Eumeniden, die Dioskuren, Vulcan, Ceres, Bacchus) an, sondern auch „Ba’al“, Moloch und Pan.²¹² Und um keinen Zweifel an der Verderbtheit des in jeder Hinsicht gefallenen Idumäers zu lassen, integriert er in seine Reihe von griechischen, römischen, babylonischen und karthagischen Gottheiten mit Jehova auch noch die jüdisch-monotheistische Religion. „Trost- und hülflose Welt, wo ist dein Heil? / Wo, rettungslos verlorne, deine Rettung?“,²¹³ fragt der in der Götterschar einsame König, bevor er abgeht. Die Hirten und Engel „[v]or Bethlehem auf dem Felde“,²¹⁴ die nach einem Szenenwechsel die Bühne bevölkern, zeigen schließlich, wie die Rettung aussieht – wenn nicht für den reuelosen Herodes, so doch für diejenigen, die sich dem christli-
Ebd., S. 194. Ebd., S. 190. Ebd., S. 194. Ebd., S. 195 – 197, die Schreibung der Götternamen folgt Rückert. Ebd., S. 197. Ebd., S. 197.
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chen Gott zuwenden, der durch die aufgestellte Krippe des Jesuskindes bühnenwirksam ist. Geleitet von den himmlischen Chören finden sich die Hirten in der finalen Szene nämlich ebendort wieder, vereint mit Weisen und Engeln zum KrippenspielTableau. Das Christentum, so wird am Ende des Dramas propagiert, lässt die alten Götter, darunter auch den jüdischen Jehova,weit hinter sich. Es figuriert als historische Überbietung der polytheistischen Religionen und des jüdischen Monotheismus und wird zugleich genealogisch angebunden: locker an die Hebräer, mehr noch an die Germanen und die Gallier. Ex negativo bildet der destruktive Wahn des Herodes das dramaturgische Verbindungsglied zum „Frieden“ und zur „Gnade“²¹⁵ des neugeborenen Kindes. In diesem Kontrast entfaltet das Geschehen vor der Krippe seine heilsgeschichtliche Strahlkraft, und die christliche Botschaft erhält durch die bühnenwirksame Realisation in den letzten beiden Szenen des Dramas eine ungleich größere Wucht als in Hebbels Tragödie, in der das Christentum nur implizit, im Wissen der RezipientInnen aufgerufen wird, denen es überlassen bleibt, die Signale der drei Könige und des Kindermords zu deuten. In Rückerts Drama hingegen ist die Heilsbotschaft explizit. Am Schluss spricht im Ton eines einfachen Liedes mahnend ein Engel.²¹⁶ Herodes taucht nur noch implizit als Gegenfigur auf, nämlich als gottloser lebender Toter, für den der Trost der christlichen Heilsbotschaft nicht gilt: Denn das Leben ist gegeben Dem, der es im Tode fand; Doch ein Tod ist dieses Leben, Das sich ab von Gott gewandt.²¹⁷
Während bei Rückert ein Engel das letzte Wort hat, gehört es bei Hebbel Herodes: Herodes (verhalten) Du [Joab, F.K.] ziehst nach Bethlehem hinab Und sagst dem Hauptmann, welcher dort befiehlt, Er soll den Wunderknaben – Doch, er findet Ihn nicht heraus, nicht Jeder sieht den Stern, Und diese Kön’ge sind so falsch, als fromm – Er soll die Kinder, die im letzten Jahr Geboren wurden, auf der Stelle tödten, Es darf nicht ein’s am Leben bleiben! Joab (tritt zurück). Wohl! (für sich) Ich weiß warum! Doch Moses ward gerettet, Trotz Pharao!
Ebd. Zur metrischen Gestalt und Semantik der vielseitig einsetzbaren kreuzgereimten vier- und dreihebigen trochäischen Verse und ihrer Konjunktur in den Jahren um 1800 vgl. Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 2. Aufl., Tübingen, Basel 1993, S. 180 – 186. Rückert: Herodes und Marianne, S. 200.
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Herodes (noch laut und stark). Ich sehe morgen nach! – Heut’ muß ich Mariamne – (Er bricht zusammen.) Titus! Titus (fängt ihn auf).
(Vv. – )
Diese letzten Verse des Herodes staffeln en miniature die drei historischen Dimensionen hintereinander, die der letzte Akt der Tragödie eröffnet: „Ich sehe morgen nach!“ bezieht sich noch auf den Kindermordbefehl; „Heut’ muß ich Mariamne –“ lenkt den Blick zurück auf die gestorbene Gattin; und mit dem Ausruf „Titus!“ sinkt der schwächelnde König in Roms Arme.²¹⁸ Im Finale werden so verschiedene geschichtliche Wandlungen angesprochen: Das Christentum erscheint als aufziehende weltgeschichtliche Macht, zugleich wird ein neues und starkes Rom angesprochen, das Judäa endgültig der Autonomie berauben wird. Schließlich kann das Dramenende überdies auch als Anspielung der erst später, mit der konstantinischen Wende einsetzenden christlich-römischen Ära verstanden werden, insbesondere durch die enge Verbindung, die zwischen dem angedeuteten Scheitern des herodianischen Kindermordbefehls und dem Zusammenbruch des Königs am Ende des Dramas hergestellt wird. Ganz gleich welche der Perspektiven man wählt, sie alle akzentuieren epochale Umbrüche und den Fortgang von Geschichte. Mit Herodes’ Verweis auf Mariamne hingegen wird diesen Entwürfen die radikale Geschichtsskepsis entgegengestellt, die durch das ‘alles verschlingende Ende’ der „letzte[n] Maccabäerin“ (V. 2949) zuvor umfassend etabliert wurde. *** Ausgehend von der Kontextualisierung von Hebbels Herodes und Mariamne in die zeitgenössischen geschichtsphilosophischen Diskurse, die in der Forschung regelmäßig zur Begründung von entsprechenden Lesarten herangezogen werden, wurde gefragt, welches Geschichtsbild in Herodes und Mariamne tatsächlich entworfen wird und welche Rolle die Semantik der Altertumskulturen dabei spielt. Die Frage lässt sich nicht einsinnig beantworten. Allein im Plural erschließt sich die spezifische Leistung der Tragödie: Der ‘erste Schluss’ der Tragödie, Mariamnes Abgang mit ihrem Henker, vollzieht das durch die Dynamik des Dramas längst Überfällige. Mariamnes Tod erscheint in ihrer Perspektive als absolutes Ende, das (ihre) Geschichte aufhebt. Dieser zum Nihilismus gesteigerten Geschichtsskepsis scheint im direkt folgenden Auftritt der drei Könige ein geschichtsphilosophisch gewendetes Vertrauen auf einen vernünftigen und teleologisch gerichteten historischen Fortschritt entgegengesetzt zu werden, der hegelianischen Positionen nahe steht. Diese Perspektive wird aber mehrfach gebro Die letzten Verse funktionieren nach einem ähnlichen dramentektonischen Prinzip wie die oben beschriebene ‘Interimsszene’ IV/4, die ebenfalls mit der dreifachen Geschichtsperspektive korreliert. Ohne Zweifel war Hebbel ein Dramatiker, der die Tektonik seiner Tragödien akribisch ausbalancierte und immer wieder komplexe Verweisungssysteme etablierte, teilweise allerdings bis zur ästhetischen Ermüdung.
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chen: durch die dramentektonische Unvermitteltheit des Auftritts, durch die im Figurenverzeichnis angedeutete kritische Reflexion (kirchlicher) Historiographie und schließlich auch dadurch, dass das universale Identifikationsangebot des Christentums, das die drei Könige verkörpern könnten, in der Spannung zu ihrer ostentativen Alterität fragil wird. Diesen beiden diametral unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie Geschichte zu denken ist und welche Sinnstiftungspotentiale sie hat, wird mit dem Zusammenbruch des Königs, der in die Arme des Römers Titus sinkt, schließlich eine dritte und letzte Perspektive hinzugefügt. Diese dritte Perspektive kommt Hebbels Geschichtsbild, das er in seinen theoretischen Texten entwirft, wohl am nächsten: Geschichte ist hier ein Prozess, der sich in großen Umbrüchen vollzieht, ohne dass damit zugleich ein Vertrauen in ihren vernünftigen Fortgang verbunden wäre.²¹⁹ Das Titus-Finale, das den tatsächlichen Tragödienschluss bildet, korreliert in dieser Hinsicht mit der Artaxerxes-Episode, die zunächst ebenfalls eine kulturelle Dynamik in die Tragödie einschreibt. Auch dort wird der geschichtsphilosophische Erwartungshorizont, dass der Umbruch Persien-Judäa eine moralische Progression markieren könnte, entschieden konterkariert. Die Figur des Artaxerxes nimmt spiegelbildlich die Verdinglichung von Mariamne und Soemus auf. Vor diesem Horizont erscheint Judäa keineswegs als kultureller Raum des zivilisatorischen Fortschritts, der sich in der größeren Freiheit des Individuums konkretisieren würde. Dies gilt umso mehr, als Mariamne ihren eigenen Tod mitnichten als selbständigen Akt der Befreiung inszeniert, sondern sich in das für sie Unabwendbare fügt. In Hebbels Tragödie finden sich also drei Vorstellungen von Geschichte: ihre nihilistische Aufhebung, eine zeitgenössischen geschichtsphilosophischen Theorien nahestehende Konstruktion von Geschichte als einem teleologischen und vernünftigen Fortschrittsprozess und schließlich – im scharfen Gegensatz dazu – ein Verständnis von Geschichte als einem Prozess, der sich zwar in epochalen Umbrüchen vollzieht, dabei aber nicht als Fortschritt in Vernunft und Freiheit gefasst wird. Die drei Perspektiven darauf, was Geschichte sein könnte, welche Sinnstiftungsfunktionen in ihr liegen und welche Spielräume der Interpretation sie eröffnet, werden in der Konkurrenz der verschiedenen Altertumskulturen und ihres Kampfes um politische Vorherrschaft entworfen. Der Begriff der Geschichte wird so untrennbar verbunden mit Akten der Interpretation. Die mehrfache Brechung dieser drei Deutungen von Geschichte, die über die semantischen Valenzen der unterschiedlichen Altertumskulturen inszeniert und in den abschließenden Versen des Herodes noch einmal aufge-
Insofern stimme ich der Auffassung von Michael Post zu, dass in Herodes und Mariamne Geschichte als eine „Kette von Zeitaltern“ erscheint und dass mit diesem Geschichtsbild „keine Aussage darüber“ getroffen wird, „ob die Abfolge der Epochen eine nach irgendeinem Maßstab zu beurteilende Entwicklung enthält, oder aber eine bloße Aneinanderreihung gleichwertiger Zeiten ist.“ (Das Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie. Eine Interpretation zu Hebbels „Herodes und Mariamne“, in: Hebbel-Jahrbuch 1987, S. 27– 56, hier S. 55). Anders als Post es darstellt, der hierin die „Aussage des Stücks“ (ebd.) vermutet, stellt diese Perspektive aber nur eine der verhandelten Positionen dar. Die Pointe des Textes liegt darin, dass verschiedene Geschichtskonzepte reflektiert werden.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
rufen werden, machen Herodes und Mariamne darum lesbar als Tragödie der virtuosen Geschichtsreflexion. Von diesem Ergebnis her lässt sich auch die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Hebbels Tragödie zum zeitgenössischen Hegelianismus neu diskutieren. Mit Blick auf die Semantik der Altertumskulturen fällt die Antwort anders aus als die herrschende Forschungsmeinung. Erinnert sei noch einmal an Reinhardt, der davon ausgeht, dass in Herodes und Mariamne die ästhetische Wende zum Hegelianismus vollzogen sei. Reinhardt meint allerdings nicht, dass Hebbel dessen Geschichtsmodell affirmativ vertreten habe, sondern er sieht in diesem Anschluss an den Hegelianismus vielmehr einen geschickten Schachzug zur „ästhetischen Stabilisierung der unsicher gewordenen hohen Tragödie“.²²⁰ Die „knapp vollbrachte ‘Versöhnung’“²²¹ durch den Auftritt der drei König scheint damit in den Kontext von Hebbels manischem lebenslangen Projekt einer Verteidigung der Gattung ‘Tragödie’ zu gehören. Die hegelsche Geschichtsphilosophie wäre also die halbherzig in Kauf genommene Hilfsfigur zur Rettung der Form. Vor dem Hintergrund der Analyse ergibt sich indes eine umgekehrte Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und literarischer Form in Herodes und Mariamne. Nimmt man den Drei-Könige-Auftritt mit seinen vielschichtigen Semantiken und in seiner Unvermitteltheit als dramaturgischen Schachzug ernst, so wird er lesbar als doppelter Bruch: Die Abkehr von der Strenge der Tragödienform, die auf notwendige Entwicklung verpflichtet ist, korrespondiert dann mit der kritischen Distanzierung von Hegels Geschichtsmodell. In dieser Lesart findet die Tragödie keineswegs im „ästhetischen Traditionalismus […] ihre letzte Zufluchtsstätte“.²²² Im Gegenteil, sie unterläuft exakt solche Positionen und hinterfragt in einer auffälligen Preisgabe der strengen Tragödienform das Potential geschichtsphilosophischer Erklärungsmodelle. Man muss also umgekehrt zu Reinhardt formulieren: Hebbel unternimmt in Herodes und Mariamne eine kritische Reflexion geschichtsphilosophischer Diskurse und bemüht sich, dafür die richtige Form zu finden – die richtige Form liegt für ihn in diesem Fall aber gerade im Unterlaufen der dramentektonischen Geschlossenheit der Tragödie.
5.3 Tektonik der Altertümer. Zum Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ in Hebbels Tragödien Die ausführliche Analyse von Herodes und Mariamne hat gezeigt, dass der alte Stoff Hebbel als Folie für die kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Geschichtsbegriffen und ‐konzepten dient. Dabei ist deutlich geworden, dass generali-
Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 300. Ebd., S. 379. Ebd., S. 391.
5.3 Tektonik der Altertümer
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sierende Sammelbegriffe wie „Orient“²²³ oder „Archaik“²²⁴ die Konturen dieser pluralen Geschichtsreflexion verwischen, die einen Plural der Altertümer voraussetzt. Erst dieser Blick auf die verschiedenen Altertumskulturen macht sichtbar, dass in Hebbels Drama verschiedene Geschichtskonzepte verhandelt werden. Der folgende dritte Teil des Kapitels soll durch eine Ausweitung der Perspektive auf weitere Altertumstragödien Hebbels zeigen, dass ihnen eine eigene Poetologie der Altertümer zu Grunde liegt. Die fundamentale Bedeutung dieser Poetologie wird in drei Schritten herausgearbeitet: Im ersten Schritt (5.3.1) steht Hebbels Tragödie Gyges und sein Ring im Mittelpunkt. Hier wird deutlich werden, dass Hebbel das zeitgenössisch virulente Problem der ‘notwendigen Motivierung’ seiner Tragödien über die spezifischen spannungsreichen Konstellationen der Altertumskulturen und insbesondere deren Konkurrenz zueinander inszeniert. Von diesem Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ hing in den zeitgenössischen gattungstheoretischen Diskursen wesentlich die ästhetische Qualität eines Dramas ab. Wenn die einzelnen Motive im Drama nicht „derart verzahnt“ wurden, „daß ein Gefüge von gegenseitigen Einflüssen, Bedingtheiten und Abhängigkeiten zustande kommt, das den Gang des Geschehens geradezu determiniert und damit im Sinne einer inneren und äußeren Notwendigkeit lenkt“,²²⁵ dann geriet das dargestellte Geschehen unter Kontingenzverdacht. Kontingenz aber kollidierte erstens mit der gattungstheoretischen Forderung einer besonderen ‘Geschlossenheit’ des Dramas in zeitgenössischen ästhetischen Diskursen idealistischer und realistischer Provenienz.²²⁶ Zugleich waren zweitens Handlungsverläufe und Rationalitäten von Figuren, die kontingent erschienen, all jenen Positionierungen abträglich, die der Gattung Tragödie eine besondere geschichtsphilosophische Valenz zuschrieben. Das Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ war zeitgenössisch auch deshalb von herausragender Bedeutung, weil es mit einem tragischen Weltbild korrespondierte. Die Technik einer Motivierung der Figuren, mit der alle Stadien der Handlung zwangsläufig aus den vorherigen folgen, korrelierte mit der Annahme eines teleologischen Geschichtsverlaufs.²²⁷ Für Hebbel war es erklärtes Ziel, dass ihm eine Tragödie der „absolute[n] Nothwendigkeit“²²⁸ gelingen werde. Nicht zuletzt wegen seines Augenmerks auf die Verzahnung der Handlung ist ihm von der
So im Titel des bereits zitierten Aufsatzes von Schuhmacher: Vernichtungsphantasien. Hebbels Orient in der Nachbarschaft von Delacroix und Flaubert. Schlaffer: Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 122. Keller: Anmerkungen zu Hebbels Dramentechnik, S. 119. Monika Ritzer betont überzeugend die Nähe von Hebbels Versuchen, eine ‘Tragödie der Notwendigkeit’ zu schreiben, zu realistischen Dramentheorien, die sie in dem Verfahren identifiziert, „Verknüpfung und Folgerichtigkeit […] dramaturgisch zu akzentuieren“ (Hebbels Tragödie der Notwendigkeit und die Poetik des realistischen Dramas, in: Studien zur Literatur des Frührealismus, hg.v. Günter Blamberger, Manfred Engel und ders., Frankfurt/Main u. a. 1991, S. 77– 118, hier S. 80). Vgl. Kapitel 2.1. Friederich Hebbel an Heinrich Theodor Rötscher, 22.12.1847, B I, Nr. 555, S. 979.
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Forschung immer wieder der bekannte Formalismus-Vorwurf gemacht worden.²²⁹ Tatsächlich scheint es, als habe Hebbel dieses Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ in seinen Tragödien doppelt absichern wollen. Denn in seinen Altertumstragödien ist es in der Regel nicht allein abhängig von der spezifischen Tektonik der Altertumskulturen, sondern fußt auch auf dem komplizierten Verhältnis der Geschlechter zueinander. In einem zweiten Schritt (5.3.2) wird daher am Beispiel von Hebbels Erstling, der Judith, das Verhältnis dieser beiden maßgeblichen Konfliktfelder zueinander in Bezug auf das Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ untersucht. Es wird sich schließlich in einem dritten Schritt zeigen (5.3.3), dass Hebbels Poetologie der Altertümer ein ästhetisch riskantes Unterfangen darstellt, weil es nicht allein auf ein breites altertumskundliches Wissen, sondern auch auf ein Vermögen der strukturellen Übertragung von historischen oder mythologischen Bedeutungszusammenhängen auf die dramatische Konfiguration baut. Die Detailgenauigkeit der Analyse von Herodes und Mariamne wird in den folgenden Ausführungen im Interesse der Darstellungsökonomie nicht durchgehalten. Es wird nunmehr weniger darum gehen, die Tragödien umfassend in allen Bedeutungsaspekten zu interpretieren, sondern es sollen vielmehr in exemplarischen Analysen die wichtigsten Strukturelemente aufgezeigt werden, die für die poetologische Funktion der Altertümer in Hebbels Tragödien prägend sind.
5.3.1 Konkurrenz der Altertümer – Gyges und sein Ring (1856) Paradigmatisch lässt sich Hebbels Umgang mit dem dramentektonischen Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ an Gyges und sein Ring zeigen (abgeschlossen im November 1854, veröffentlicht 1856).²³⁰ Stoffliche Vorlage für die Tragödie war die unter anderem durch Platon und Herodot überlieferte Anekdote von dem lydischen König Kandaules, der seine Frau seinem Protegé Gyges nackt zeigt und damit ihre Schamgrenze verletzt, so dass Gyges sich schließlich gezwungen sieht, Kandaules zu töten. Während nach der Überlieferung des Stoffs alle drei Protagonisten Lyder sind, ordnete
Vgl. stellvertretend Schlaffers bereits zitierten Vorwurf, im Handeln von Hebbels Figuren komme „kein Leben, sondern nur […] Mechanik zum Vorschein“ (Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 135) oder Gruenters Sicht auf die Tragödie Herodes und Mariamne, die ihm nur eine „mathematische[] Gleichung“ (Herodes und Mariamne, S. 134) ist. Die fünfaktige, nur knapp 2000 Verse umfassende Tragödie zeichnet sich durch einen für Hebbel bemerkenswerten Klassizismus aus. Besonders deutlich wird das in der Zeitstruktur. So bestimmt ein Zusatz im Figurenverzeichnis, dass sich die Handlung „innerhalb eines Zeitraums von zwei Mal vier und zwanzig Stunden“ ereignen solle. Hebbel selbst sah darum nicht zu Unrecht eine Nähe des Stücks zur tragédie classique und liebäugelte damit, es zuerst in Frankreich auf die Bühne zu bringen, vgl. etwa Friedrich Hebbel an Sigmund Engländer, 6.-25. 5.1854, B III, Nr. 1379, S. 31 f. (datiert auf den 6.5.) und Felix Bamberg an Friedrich Hebbel, 4. 3.1856, B III, Nr. 1603, S. 270. Tatsächlich wurde Gyges und sein Ring aber zu Hebbels Lebzeiten weder in Frankreich noch im deutschsprachigen Raum gegeben. Die Uraufführung fand erst 1898 am Wiener Burgtheater statt.
5.3 Tektonik der Altertümer
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Hebbel ihnen je eine Altertumskultur zu: Einzig Kandaules ist Lyder, der titelgebende Gyges dagegen ist Grieche und Rhodope kommt daher, „[w]o indische und griech’sche Art sich mischen“.²³¹ In einem Brief an Sigmund Engländer aus dem Januar 1863 berichtet Hebbel, die erste Anregung zum Gyges von einem „schöngeistigen Beamten“²³² erhalten zu haben, der ihm bei einem Bibliotheksbesuch „Knall und Fall“ gefragt habe, warum er nie „die Geschichte von Kandaules und Rhodope“²³³ dramatisiert habe. Er habe entgegnet, die Geschichte nicht zu kennen, woraufhin ihm „der Mann […] den Band von Pierer’s Lexicon mit dem betreffenden Artikel“ gereicht habe.Von der Lektüre sofort inspiriert, habe er noch am selben Abend „eine der Hauptscenen“ geschrieben.²³⁴ Nach dieser ersten spontanen Begeisterung fand sich Hebbel allerdings mit der Dramatisierung von „Herodot’s alte[r] Fabel vom Gyges“ vor Probleme gestellt, die vor
Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 990. Friedrich Hebbel an Sigmund Engländer, 27.1.1863, B IV, Nr. 2649, S. 577. Aus einem Tagebucheintrag kann man schließen, dass es sich bei dem Beamten um den unter Pseudonym auch selbst literarisch tätigen Bibliothekar Karl Johann Braun von Braunthal handelte,vgl. T III, Nr. 5213, 14.12.1853. Friedrich Hebbel an Sigmund Engländer, 27.1.1863, B IV, Nr. 2649, S. 577. Hebbels Erinnerung, der Beamte habe ihn auf die Fabel von „Kandaules und Rhodope“ aufmerksam gemacht, zeugt davon, dass ihm seine eigene Version des Stoffs in Blut und Fleisch übergegangen war. Denn der Name der Königin beruht auf seiner eigenen Erfindung. In der Mythographie trägt die lydische Königin den Namen Nysia, in der Historiographie heißt sie auch Klytia, Gabro oder Tudo (vgl. Ernst Bickel: RekonstruktionsVersuch einer hellenistischen Gyges-Nysia Tragödie, in: Rheinisches Museum für Philologie N.F. 100 [1957], S. 141– 152, hier S. 143). Hebbel wird wahrscheinlich keinen dieser Namen gekannt haben, denn im erwähnten Artikel aus Pierers Universal-Lexikon ist die Königin ebenso namenlos wie bei Herodot, den Hebbel nach eigenen Angaben für ein ausführlicheres Quellenstudium nutzte. Und auch in der Überlieferung durch Platon, die Hebbel wegen der Ring-Parabel gekannt haben muss, ist Kandaules’ Gattin namenlos. Es ist im Übrigen nicht zu entscheiden, ob Hebbel tatsächlich eine Übersetzung des entsprechenden Passus in Platons Politeia gelesen hat (II, 359b-360d) oder ob seine Kenntnis der platonischen Überlieferung allein auf der kurzen Notiz in Pierers Universal-Lexikon beruht. Ebenso wenig weiß man, ob Hebbel die zweite Auflage des Lexikons von 1835 benutzt hat, wie Werner in der Säkularausgabe angibt (vgl.W III, XLIf.), oder doch die aktuellere dritte von 1843. In der zweiten Auflage werden noch historische Zeitangaben gemacht, die in der dritten Auflage fehlen. Daraus schließt Tischel, Hebbel habe letztere genutzt, denn im Figurenverzeichnis heißt es lediglich, die Zeit sei „vorgeschichtlich und mythisch“. Vgl. Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 107, Anm. 17; die beiden Lexikonartikel finden sich in Heinrich A. Pierer (Hg.): Universal-Lexikon oder vollständiges encyclopädisches Wörterbuch, Bd. 8, Altenburg 1835, S. 698; ders. (Hg.): Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encylopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Bd. 13, 2. völlig umgearbeitete Aufl. (Dritte Ausgabe), Altenburg 1843, S. 185. Zur Rezeption des Gyges-Stoffs in der Literatur vgl. Regina Pichler: Die Gygesgeschichte in der griechischen Literatur und ihre neuzeitliche Rezeption, München 1986, darin auch ein Kapitel zu Hebbels Gyges und sein Ring, in dem ausführlich diskutiert wird, welche Quellen Hebbel neben Herodot vorgelegen haben könnten (vgl. S. 117– 134).Vgl. hierzu außerdem Ernst Bickel: Gyges und sein Ring. Zum Begriff Novelle und zu Hebbels tragischer Kunst, in: Neue Jahrbücher für die klassische Altertumswissenschaft 24 (1921), 336 – 358 und Matthiesen: Untersuchungen über die Quellen zu Friedrich Hebbels Historischen Dramen, S. 162– 190. Friedrich Hebbel an Sigmund Engländer, 27.1.1863, B IV, Nr. 2649, S. 577.
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allem die weibliche Hauptfigur betrafen. Am 14. Dezember 1853 notierte er in sein Tagebuch: „Heute den 1sten Act der Rhodope geendigt. […] Freilich wird die Motivirung der Königin schwer seyn.“²³⁵ Das Problem der Motivierung ergab sich durch die Überlieferung bei Herodot. Dort fordert Kandaules seinen treuen Leibwächter Gyges auf, heimlich seine schöne Frau nackt anzuschauen, und diese, über alle Maßen beschämt, verlangt unbarmherzig Rache. Sie weiß sofort, dass ihr Mann hinter dem Streich steht, deshalb lässt sie nach Gyges senden, und stellt ihn vor eine schwere Wahl: Entweder muss er Kandaules töten, oder sie wird veranlassen, dass er selbst getötet wird. In dieser dramatischen Situation, in der einer gewiss sterben muss, entscheidet sich Gyges schließlich für sein eigenes Leben. Mithilfe der Königin tötet er den letzten Herakliden, heiratet die rachsüchtige Königin und gründet eine neue Dynastie. Es liegt angesichts dieses Plots auf der Hand, dass Hebbel die „Motivirung der Königin“ als Problem empfand. Die blutige Racheforderung der Königin, so wie sie bei Herodot überliefert ist, musste dem modernen Publikum des 19. Jahrhunderts als unverhältnismäßig erscheinen.²³⁶ Eine rachsüchtige oder gar willkürlich handelnde Königin aber hätte den Handlungsverlauf unter Kontingenzverdacht gestellt und damit eine ernsthafte Gefährdung der Tragik zur Folge gehabt – und so stellte sich Hebbel in der Tat das Problem der „Motivirung“. Offensichtlich erschien schon Herodot die extreme Reaktion der Königin auf den Streich von Kandaules und Gyges erklärungsbedürftig. Er begründet sie damit, dass es „bei den Lydern und bei fast allen Barbaren […] selbst für einen Mann eine große Schande [sei], nackt gesehen zu werden.“²³⁷ Der Racheakt wird bei Herodot also – aus der griechischen Perspektive – durch den Hinweis auf die kulturelle Andersartigkeit der Lyder plausibilisiert. Auch Hebbel machte die kulturelle Differenz zum poetologischen Prinzip bei der Motivierung seiner Figuren, indem er alle drei Hauptfiguren einer je verschiedenen Altertumskultur zuordnete. Besonders deutlich wird das anhand des folgenreichen Gesprächs zwischen Rhodope und Kandaules zu Beginn des III. Akts. Es findet nach der verhängnisvollen Nacht statt, in der Gyges mithilfe des unsichtbar machenden Rings auf Wunsch des Königs in das Schlafzimmer geschlichen ist und Rhodope gesehen hat. Kandaules ist während einer frühmorgendlichen Unterredung mit Gyges klar geworden, dass sich der Grieche beim nächtlichen Anblick der Königin auf der Stelle in diese verliebt hat. Erregt gewährt er Gyges darum den erbetenen Abschied: „Leb’ wohl, leb’ wohl! / Doch
T III, Nr. 5213, 14.12.1853. Vgl. etwa Bambergers briefliche Kritik an Rhodopes Idealität: „Mariamne war in ähnlicher Beziehung [der untheatralen Idealität, F.K.] schon ein Äußerstes; aber welcher Unterschied zwischen der Schuld des Herodes und der des Kandaules!“ (Felix Bamberg an Friedrich Hebbel, 4. 3.1856, B III, Nr. 1603, S. 270). Herodot: Historien I, 10; Übersetzung nach Herodot: Das Geschichtswerk, Bd. 1, übers. v. Theodor Braun, bearb. v. Hannelore Barth, Berlin, Weimar 1967, S. 7.
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niemals dürfen wir uns wiederseh’n!“²³⁸ Er weiß nunmehr, dass er zu weit gegangen ist, und eilt zu seiner Frau, deren Reaktion auf seinen Besuch ihn allerdings in Verwunderung versetzt: Hero (tritt ein). Der König! Rhodope Schon? – So kommt der Tod mit ihm! Nun, der verhüllt mich in die Nacht der Nächte, Wovon die ird’sche bloß ein Schatten ist, Was beb’ ich denn? Die wünschte ich mir ja! Kandaules Vergiebst Du? Rhodope Herr, ich weiß, Du kannst nicht anders, Da gilt die Stunde gleich. Was fragst Du viel? Kandaules Ich kann Dich nicht versteh’n. Rhodope Sei offen, König! Du findest mich bereit! Kandaules Bereit! Wozu? Rhodope Ich kenne Deine Pflicht, und danke Dir, Daß Du sie rasch erfüllen willst. […] Du hast geforscht, entdeckt und gleich gerichtet, Ich seh’s Dir an, nun trifft die Reihe mich! Kandaules Wohin verirrst Du Dich? Rhodope Erscheinst Du nicht Als Rächer hier? Kandaules Bei allen Göttern, nein! […]²³⁹
Während die lydische Königin bei Herodot sofort weiß, dass ihr Mann hinter dem Streich steht, ist sich Rhodope nur sicher, dass jemand in ihrem Zimmer war. Dass sie trotz des merkwürdigen Gebarens ihres Mannes während besagter Nacht nicht auf die Idee kommt, dieser könne selbst Schuld daran tragen, wird im Drama plausibilisiert durch ihre lydisch-griechische Herkunft. Hebbels Rhodope muss Kandaules Beteiligung an dem, was geschehen ist, übersehen, weil in der Welt, aus der sie kommt und die sie sich durch ihren Schleier und die Abgeschiedenheit ihres Lebens auch im fremden Lydien zu erhalten versucht, der Blick eines fremden Mannes als Entehrung der Frau und zugleich auch ihres Gatten gilt. So ist auch Rhodopes Warnung zu verstehen, als Kandaules ihre Hand nehmen will: „Rühr’ sie nicht an, / Den Fleck nimmt Dir kein Wasser wieder weg.“²⁴⁰ Es ist für Rhodope undenkbar, Kandaules könne den Blick eines anderen Mannes auf sie billigen, geschweige denn willentlich veranlasst haben. Im Gegenteil, angesichts ihrer Ehrverletzung ist sie sich sicher, dass er selbst ‘nicht anders könne’, als sie zu töten. Das Missverstehen von Rhodope und Kandaules ist also notwendig im hebbelschen Sinne: Das kulturelle Wissen, mit dem Rhodope aufgrund ihrer Herkunft ausgestattet ist, lässt sie erwarten, dass Kandaules sie töten
Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 882 f. Ebd., Vv. 942– 956, Hervorh. F.K. Ebd., V. 1018 f.
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wird, um seine eigene Ehre wiederherzustellen und seine Gattin zugleich von dem Leid zu erlösen, selber befleckt worden zu sein. So wie es außerhalb Rhodopes Vorstellungshorizont liegt, Kandaules als Initiator des nächtlichen Besuchs zu verdächtigen, so ist es gleichzeitig dem Lyder unmöglich, in letzter Konsequenz zu begreifen, was er Rhodope angetan hat. Das wird im Fortgang des Gesprächs deutlich, in dem Kandaules versucht, das Gegenteil zu beweisen, nämlich zu zeigen, dass er seine Frau nunmehr verstehe. Rhodope, die verwirrt ist,weil ihr Mann offensichtlich nicht gekommen ist, um sie zu töten, fragt ihn schließlich, was er von ihr wolle. Der König verweist zunächst auf seine Rechte als Gatte, lenkt aber direkt um auf eine umfassende Erklärung seines (neuen) Wissens um die kulturellen Dispositionen seiner Frau: Kandaules Hätt’ ich nach dieser Nacht kein Recht, zu kommen? Warst Du, wie sonst? Hast Du mir nicht sogar, Als säßest Du, die Lilie in der Hand, Noch unter dem Platanenbaum, wie einst, Den einz’gen Kuß versagt, um den ich bat? Rhodope Das wirst Du mir noch danken! Kandaules Aber fürchte Dich nicht! Zwar trieb’s mich zu Dir, wie am Morgen Nach uns’rer Hochzeit, doch Du brauchst mir nur Zu winken, und ich gehe, wie ich kam! Ja, schneller werde ich von hinnen eilen, Als hätt’ ich, um zu trinken, einer Quelle Mich still genaht, und sähe, daß ihr eben, Die schüchterne Najade scheu entsteigt. Rhodope Bleib! Kandaules Nein! Nicht eines Odemzuges Dauer, Wenn es Dich ängstigt! Und es ängstigt Dich, Ich fühl’ es wohl. Dieß ist gewiß die Stunde, In welcher Du, wie Du’s so lieblich nennst, Dich innerlich besiehst! Die will ich nicht Entheiligen. Und hätt’ auch Aphrodite, Holdselig lächelnd diesem frühen Gang, Den gold’nen Gürtel, den sie nie verschenkt Und kaum verleiht, mir für Dich zugeworfen: Ich käm’ ein ander Mal und reicht’ ihn Dir! Rhodope Halt ein! Das klingt zu süß und macht mir bang, Denn meine Amme sagte: wenn der Mann Sich all zu zärtlich seinem Weibe nähert, So hat er im Geheimen sie gekränkt! Kandaules Das trifft mich auch! Ich habe Dich gekränkt! Ich weiß ja, wie Du bist, ich weiß ja auch, Daß Du nicht anders kannst; Dein Vater thront, Wo indische und griech’sche Art sich mischen, Dein Schleier ist ein Theil von Deinem Selbst. Und dennoch zerr’ und zupf’ ich stets an ihm Und hätt’ ihn gestern gern Dir abgerissen!
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Nun, das bereu’ ich, und ich schwöre Dir – Dieß trieb mich her!²⁴¹
Konsequent wird der Blick auf Rhodopes Herkunft gelenkt, nicht nur durch ihre eigene Erwähnung der Amme, sondern vor allem durch Kandaules. Er erinnert sich an den „Platanenbaum“,²⁴² unter dem sie einst saß, charakterisiert sie als Frau, die sich nach „innen“ kehre, und akzentuiert ihren Schleier als Zeichen ihrer Herkunft und ‘Theil ihrer Selbst’. Er meint, nunmehr die kulturelle Andersartigkeit seiner Frau zu begreifen und zu verstehen, dass sie wegen ihrer Herkunft ‘nicht anders könne’ als von der Öffentlichkeit zurückgezogen und verschleiert zu leben. Das Gespräch aber zeigt, dass er Rhodope auch zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden hat. Er bittet sie zwar um Verzeihung und gibt zu, sie gekränkt zu haben, aber er bezieht sich damit keineswegs auf das nächtliche Ereignis, das für seine Frau zu einer Frage von Leben und Tod geworden ist, sondern darauf, dass er sie am Vortag gefragt hat, ob sie ihn zu den Spielen anlässlich der Feier des Herakles begleite. Sein Unvermögen, Rhodopes Wesen zu begreifen, zeigt sich vor allem darin, dass er meint, sie mit diesem Gespräch beruhigen zu können. Das Gegenteil ist der Fall, denn der Königin wird im Laufe des Dialogs klar, dass es Gyges gewesen sein muss, der nachts bei ihr war, und dass Kandaules offensichtlich darum weiß. Ihre Fassungslosigkeit darüber bringt sie zum Ausdruck, als Kandaules sie verlassen hat: Rhodope Kein And’rer ist’s, als Gyges – das ist klar! Er hat den Ring gehabt – das ist noch klarer! Kandaules ahnt’s, er muß – das ist am klarsten! Und statt das Ungeheure ungeheuer An ihm zu ahnden, läßt er ihn entflieh’n. So wird ein Räthsel durch ein an’dres Räthsel Gelös’t, das mich von Sinnen bringen kann, Wenn es mir dunkel bleibt! Ein Gatte sieht Sein Weib entehrt – entehrt? Sprich gleich: getödtet – Getödtet? – Mehr, verdammt, sich selbst zu tödten, Wenn nicht des Frevlers Blut zur Sühne fließt! Der Gatte ist ein König, trägt das Schwert Der Dike, braucht von der Erinnys nicht Den Dolch zu borgen, hat die heil’ge Pflicht, Den Gräu’l zu strafen, wenn die Liebe ihn Nicht antreibt, ihn zu rächen, muß den Göttern, Das Opfer bringen, wenn er’s mir versagt! Und dieser Gatte, dieser König zückt Nicht Schwert, noch Dolch, er läßt den Frevler flieh’n!²⁴³
Hebbel: Gyges und sein Ring, Vv. 960 – 995, Hervorh. F.K. Der Platanenbaum ist zugleich auch – ebenso wie die Lilie – ein Zeichen für Rhodopes damalige Jungfräulichkeit. Hebbel: Gyges und sein Ring, Vv. 1138 – 1156.
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Kandaules wird für Rhodope zum Rätsel, weil sie nicht verstehen kann, dass er seiner Pflicht zur Rache seines ‘entehrten Weibs’ nicht nachkommt, die nach ihrer Auffassung unausweichlich ist. Schon im ersten Akt erklärt sie, „von weit entleg’ner Gränze“²⁴⁴ zu kommen, wo ihr die Amme vorgesungen habe, dass des „Mannes Angesicht der Tod“²⁴⁵ sei. Und im vierten Akt erinnert sie sich, schon „[i]n frühster Jugend“ gehört zu haben, „daß die Befleckte / Nicht leben“ dürfe.²⁴⁶ Die Motivation für das folgende Blutvergießen ist durch Rhodopes Festlegung auf diese Herkunft gegeben. Und ihr kultureller Hintergrund begründet auch, dass ihr ein Tod nicht reichen wird: Ihr lydischer Gatte muss sterben, weil er die entehrende Tat ersonnen hat, sie selbst muss am Ende Suizid begehen, weil sie nach der Entehrung nicht weiterleben kann. Das steht wiederum im Gegensatz zur herodotschen Quelle, in der Gyges’ Mord an Kandaules den Weg frei macht für die Gründung einer neuen Dynastie. In Hebbels Tragödie motiviert Rhodopes Herkunft ihre ideale Keuschheit, die unrettbar verloren ist, sobald ein anderer Mann sie sieht, und diese Keuschheit wiederum ist der notwendige Grund für ihr Handeln in der Tragödie.²⁴⁷ Immer wieder ist die Konzeption der Figur der Rhodope in Verbindung gebracht worden mit Hebbels Rezension des dritten Bandes der von dem Orientalisten und Germanisten Adolf Holtzmann (1810 – 1870) übersetzten Indischen Sagen. ²⁴⁸ Darin rechnet Hebbel ironisch mit der Faszination ab, die der indische Kulturkreis auf das zeitgenössische intellektuelle Deutschland ausübte. Indem er die Indienbegeisterung kritisiert, distanziert er sich von den Brüdern Schlegel und auch, wenngleich subtiler, von dem Übervater Goethe. Erstere tadelt er, weil sie es in ihrer philologisch-philosophischen Indienbegeisterung zu weit getrieben hätten; letzterer allerdings habe mit seiner Ängstlichkeit gegenüber dem neuen Altertum eine wiederum unberechtigte Abkehr von Indien bewirkt. Am Ende positioniert Hebbel sich selbst mit seinem ästhetischen Interesse an den Indischen Sagen auf der Seite der Indien-Bewunderer: „Ja, das ist Poesie für alle Völker, das verdient aus einer todten Sprache in alle lebenden hinüber gerettet zu werden, das ist ein Gewinn für jede Literatur!“²⁴⁹ In Abgrenzung zu den Schlegel-Brüdern interessiert ihn dabei aber nicht die Philologie oder Philosophie,
Ebd., V. 434. Ebd., V. 455. Ebd., V. 1269 f. Peter Michelsens These, Rhodope nutze ihre indische Herkunft nur als Vorwand, um ein abgeschottetes Leben führen zu können, das ihrem „Wesen“ (Rhodopes Schleier, S. 251) entspreche, geht am Problem vorbei. Denn in der Konzeption der Figur ist so etwas wie das ‘Wesen’ der Königin nicht zu trennen von ihrer Herkunft. Eine ähnliche Kritik an Michelsen übt auch Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“, S. 205. Adolf Holtzmann: Indische Sagen, 3 Bde., Karlsruhe 1845 – 1847. Den Einfluss der Indischen Sagen auf die Konzeption der Rhodope macht schon Werner in der Einleitung zu Gyges und sein Ring in der Säkularausgabe stark (W III, S. XLIV). Vgl. in der jüngeren Forschung stellvertretend Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 114 f. Friedrich Hebbel: Indische Sagen von Adolph Holtzmann. Dritter Theil, Verlag von Georg Holtzmann, 1847 [1848], W XI, S. 197– 204, hier S. 203.
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sondern er bezieht sich ausdrücklich auf das poetische Vermächtnis Indiens, das er in seiner historischen Sonderstellung bei gleichzeitiger überzeitlicher Geltung als den „homerischen Dichtungen“²⁵⁰ vergleichbar empfindet, dabei aber ausdrücklich nicht als Überbietung der Antike versteht, eine Position, die er den Schlegels vorwirft.²⁵¹ Hebbel kann also als ein Bewunderer der altindischen Literatur gelten, und es ist bekannt, dass er Holtzmanns Indische Sagen auch im Umfeld der Entstehung des Gyges las.²⁵² Dass diese Lektüre im Gyges tatsächlich Widerhall gefunden hat, zeigt sich exemplarisch in der Figur des Karna. Karna, der Rhodope begleitet, seit sie auf einem Elefanten reitend die Heimat verlassen hat, ist „so klug, als tapfer“.²⁵³ Sein Vorbild ist offensichtlich der gleichnamige großartige Krieger aus dem Mahabharata, der auch im dritten Teil der Indischen Sagen eine große Rolle spielt. Die Forschung hat den Einfluss dieser Quelle hoch veranschlagt und vermutet, dass Rhodope „aus der nochmaligen Beschäftigung mit den Indischen Sagen Holtzmanns ihre Konturen erhalten“²⁵⁴ habe. Diese Annahme greift allerdings – trotz
Ebd. In einem Tagebucheintrag vergleicht Hebbel den Rhythmus des Gedichts von Nala und Damayanti aus dem dritten Band der Indischen Sagen mit dem „Homerschen Hexameter und dem Vers des Niebelungen-Liedes“ (T III, Nr. 4278, 20.9.1847). Ausführlich liest sich Hebbels Kommentar zu den Schlegels und Goethe so: „Die Gebrüder Schlegel, Friedrich voran, waren die Ersten, die sich unter uns gründlich mit der Sprache und der geistigen Verlassenschaft der alten Inder beschäftigten. Leider aber machten sie es hier, wie überall, sie gingen zu weit, sie wußten ihrer an sich gerechten Begeisterung nicht Maaß noch Ziel zu finden. […] Eben so [wie sie mit Shakespeare und Calderón verfuhren, F.K.] galten ihnen, als sie sich den durch Jones freilich schon gelichteten Weg zu den Braminen gebahnt hatten, diese bald für mehr, als alle ihre frühren Lehrer, als Aristoteles und Plato, als Jacob Böhme und Schelling, und das Prophetenthum […] wurde von ihnen wieder, allerdings in Uebereinstimmung mit der in der späteren indischen Literatur aufgekommenen Betrachtungsart, als eine weit über den Bereich der Vernunft hinausliegende unmittelbare Incarnation der Idee, als ein Letztes und Höchstes geltend gemacht. Das hätte üble Folgen haben können, aber glücklicher Weise fehlte es in Deutschland dem neuen Evangelium gegenüber nicht an einer protestirenden Stimme von hinlänglichem Gewicht. Goethe, der treue Hort der Zeit, gab es ungern zu, wenn irgendwo ein altes Grab geöffnet werden sollte, denn er fürchtete die Pestdämpfe, die bei einem solchen Anlaß hervorzudringen und sich unheilvoll mit der frischen Lebensluft zu mischen pflegen, und er glaubte, daß die daraus entspringende Gefahr durch die etwa zu entdeckenden Paar goldenen Ringe und Münzen selten aufgewogen würde. Er freute sich der lieblichen Sacontala, aber er vergaß über dem Spielen mit dem Zauberkinde nicht seiner Wächterpflicht, er schaute unverwandten Blicks nach den am Ganges in emsigster Thätigkeit beschäftigten deutschen Todtengräbern hinüber; er schüttelte jedes Mal das olympische Haupt […], wenn eine versteinerte Kuh oder ein Affe aus dem Schutt hervorgezogen und dabei triumphirend verkündigt wurde, das seien die eigentlichen Ahnen alles Wahren und Schönen; er ward endlich ungeduldig und erklärte, daß er ein für alle Mal mit Kühen und Affen, mit Elephanten und Schlangen in keine verwandtschaftlichen Beziehungen treten wollte, und mit ihm wandte sich ganz Deutschland von Indien wieder ab.“ (Hebbel: Indische Sagen von Adolph Holtzmann, S. 196 f.). Vgl. T IV, Nr. 5342– 5344, 14. 8.1854. Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 1260. Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 115.
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merklicher Einflüsse wie den genannten Karna – zu kurz.²⁵⁵ Denn erstens kommt Rhodope nach Ausweis des Dramentextes nicht direkt aus dem alten Indien, sondern daher wo „indische und griech’sche Art sich mischen“,²⁵⁶ zweitens ist auch ihr Name (anders als derjenige Karnas) nicht aus dem indischen Altertum bekannt, und drittens schließlich sind die Frauengestalten in Holtzmanns Indischen Sagen zwar vorzugsweise ‘keusch’ und ‘brav’, aber von einem Schleier, den sie tragen, ist dort ebenso wenig die Rede wie davon, dass allein der Blick eines fremden Mannes die Schändung der Frau bedeutet. Die poetische Konzeption der Rhodope geht also offensichtlich weniger auf eine direkte Inspiration durch die Indischen Sagen zurück,²⁵⁷ sondern der Hinweis auf Rhodopes halbindische Herkunft setzt auf die zeitgenössische orientalisierende Semantik Indiens und die Assoziation einer besonderen Keuschheit der (verschleierten) Frauen.²⁵⁸ Sie geht sicherlich nicht zuletzt auf die Rezeption und Popularität der Sakuntala zurück, deren titelgebende Hauptfigur als Inbegriff zarter und unschuldiger Weiblichkeit galt.²⁵⁹ Dass die Verbindung von Indien und ‘Keuschheit der Frau’ großes Vgl. hierzu auch Pichler, die meint, „wenn man Hebbels Werk daraufhin“ untersuche, „was aus indischen Quellen hineingelangt sein könnte […]“, bleibe nur der Name Karna übrig sowie die Charakterisierung Rhodopes als Frau, die sich nach innen kehre (Die Gygesgeschichte in der griechischen Literatur und ihre neuzeitliche Rezeption, S. 123, Anm. 2). Pichler schließt aus der „orientalische[n] Gesittung Rhodopes“ (S. 123), dass Hebbel Théophile Gautiers Le roi candaule (1844) gekannt haben müsse, weil in dieser Erzählung die Verschleierung der Königin ebenfalls eine große Rolle spielt. Auch Karl Reuschel (Friedrich Hebbel und Théophile Gautier. Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, Bd. 1, 1901) und Bickel (vgl. Gyges und sein Ring, S. 351– 356) gehen schon von Hebbels Kenntnis der französischen Erzählung aus. Eine Anregung durch Gautier ist durchaus möglich, allerdings verfügte Hebbel nur über bescheidene Französischkenntnisse. Leider ist eine Antwort von Hebbel auf die Frage von Gustav zu Pulitz, ob er die Erzählung gelesen habe, nicht bekannt (vgl. Gustav zu Pulitz an Friedrich Hebbel, 27.11.1856, B III, Nr. 1682, S. 364). Allerdings ist es keinesfalls „zwingend“, wie Pichler meint, dass Hebbel Gautier kannte, entsprach doch die Assoziation des alten Indiens mit einer besonderen Keuschheit der Frau einem verbreiteten zeitgenössischen ‘Wissen’ (Pichler: Die Gygesgeschichte in der griechischen Literatur und ihre neuzeitliche Rezeption, S. 123). Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 990. Das schließt allerdings nicht aus, dass einzelne Motive, wie etwa Kandaules’ Vergleich von Rhodope mit Edelsteinen auf Motive in den Indischen Sagen zurückzuführen sein können, vgl. hierzu Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“, S. 214, Anm. 760. Keuschheit ist dabei nicht gleichzusetzen mit Jungfräulichkeit, wie in der Forschung wiederholt geschehen. Nichts spricht dafür, dass die Ehe zwischen Kandaules und Rhodope nicht vollzogen worden ist, im Gegenteil, der König schläft selbstverständlich in ihrem Gemach. Der Platanenbaum und die Lilie, die Peter Michelsen sowie Friederike Lanz als Zeichen von Rhodopes Jungfräulichkeit anführen, werden von Kandaules ausdrücklich in der Retrospektive verwendet, und der Schleier ist nicht immer, wie Michelsen meint, ein Symbol der Virginität (vgl. Michelsen: Rhodopes Schleier, S. 247– 249 und Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“, S. 204, Anm. 734). Michelsens Fehlschluss besteht darin, dass er den Schleier unabhängig von Rhodopes halbindischer Herkunft deutet. In dieser Verbindung mit dem indischen Altertum aber kann der Schleier als ‘Schutz’ vor dem männlichen Blick verstanden werden, der für Jungfrauen ebenso wirksam ist wie für verheiratete Frauen. Vgl. etwa Schillers Formulierung in einem Brief vom 17.12.1795 an Wilhelm von Humboldt, dieser werde ihm „doch gestehen, daß es im ganzen griechischen Alterthum keine poetische Darstellung
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Evidenzpotential besaß, zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der Hebbel Rhodopes orientalischen Ursprung in einem Brief an Heinrich Laube argumentativ ins Feld führt. Laube hatte schon eine erste Bitte Hebbels, die Aufführung des Stücks in Erwägung zu ziehen, mit dem Argument abschlägig beantwortet, dass das „Grundmotiv, auf welches alle phantastischen Kräfte der Zuschauer gedrängt“ würden, „der Erlaubniß zur Aufführung im Wege“ stehen werde.²⁶⁰ Damit spielte der Wiener Intendant wohl darauf an, dass Rhodope von Gyges in ihren eigenen Gemächern heimlich gesehen wird. Jedenfalls erneuerte Hebbel seine Bitte an Laube noch einmal und schickte die Druckfassung des Textes zusammen mit einer beruhigenden Notiz: Das Hauptmotiv, daß Rhodope von Gyges gesehen wird, hat so wenig bei Frauen, als bei Männern Anstoß erregt, und wenn Sie es nothwendig finden, so kann ich dasselbe, ohne den Lebensnerv des Ganzen empfindlich zu berühren, noch ausdrücklich dahin mildern, daß Gyges nur das Gesicht erblickt hat und dieß sagt, denn bei ihm kann sich, seinem Jünglings-Character gemäß, die heilige Scheu, die ihn von dannen hetzt, schon dann einstellen, und für die Orientalin ist es schon Verletzung genug.²⁶¹
Und auch ein Brief von Felix Bamberg bestätigt, wie unmittelbar einsichtig die Verbindung eines (orientalisierten) Indiens mit weiblicher Keuschheit erschien: Rhodopen’s Keuschheit ist so ideal, daß sie eigentlich kein wirksames dramatisches Motiv mehr ist. In einem Mährchen wäre das wundervoll, im Drama scheint es mir unmöglich ein Weib dadurch tragisch vernichtet zu zeigen, daß sie gesehen worden ist. […] Sie motiviren allerdings viel durch den halb-indischen Ursprung Rhodopen’s, auch ist die Anwesenheit eines fremden Mannes in ihrem Schlafgemache allerdings eine Art Entweihung; aber ich glaube doch Sie haben die Linie des auf der Bühne möglichen Ideals überschritten. Mariamne war in ähnlicher Beziehung schon ein Äußerstes; aber welcher Unterschied zwischen der Schuld des Herodes und der des Kandaules! Das Christentum und die abendländische Welt hat das Weib emanzipirt und vielleicht ist diese Emancipation zu weit gegangen, wenn sie die ewige Verschleierung und Absperrung der orientalischen Weiber für Barbarei hält. Das freie mit der Gesellschaft der Männer verkehrende Weib das keusch bleibt, das ist das Ideal der modernen Gesellschaft. Sie verlangt daß man nichts böses und nichts Unschönes thue, sie glaubt aber den nicht dem Verderben geweiht, der das Unschöne nur
schöner Weiblichkeit oder schöner Liebe gibt, die nur von fern an die Sacontala […] reichte.“ (Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe, hg.v. Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, 28. Band: Schillers Briefe 1795 – 1796, hg.v. Norbert Oellers,Weimar 1969, Nr. 102, S. 135).Vgl. auch Herders Vorrede zu der von ihm herausgegebenen zweiten Auflage von Forsters Sakontala-Übersetzung: „[…] Sakontala, das Kind der Natur, aufgeblüht im reinsten Aether, einem Schutz- und Erziehungsort der Frauen. Wald und Blumen, die geheiligte Einsamkeit sind das umzäunte Paradies, worinnen diese unbekannte Hochgeborne, als eine Blume, verborgen und ungestört sich entfaltete, ihre unschuldige Seele gebildet und gepflegt von der Hand der Weisheit ihres Pflegevaters […].“ (Vorrede zur zweiten Ausgabe von G. Forsters „Sakontala“ [1803], S. 988). Heinrich Laube an Friedrich Hebbel, 26.1.1855, B III, Nr. 1473, S. 140. Friedrich Hebbel an Heinrich Laube, 11.10.1856, B III, Nr. 1663, S. 341 f. Anders als bei Herodot ist in Hebbels Tragödie an keiner Stelle die Rede davon, dass Rhodope tatsächlich nackt gesehen wird. Hebbel bot Laube also keine weitreichende Änderung an, sondern schlug lediglich vor, die Offenheit der Tragödie in diesem Punkt zugunsten einer besonders sittlichen Lesart zu vereindeutigen.
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erleidet. Dieser Gesellschaft halten Sie nun die Rhodope vor und glauben Sie mir, ich weiß welche Fratze sie in diesem reinen Spiegel macht; aber verdenken Sie es ihr auch nicht, wenn Sie Ihre Rhodope, schon um nicht als unzüchtig zu gelten, für unmöglich, für ein reines Gespinnst dichterischer, wenn auch edler dichterischer Phantasie hält.²⁶²
Anders als Hebbel, der – bestärkt durch Laube – fürchtete, dass das Drama als zu gewagt für die Aufführung empfunden werden könnte, sah Bamberg im Gegenteil in der idealisierten Keuschheit ein dramatisches Problem.²⁶³ Rhodopes halbindischer Ursprung, mit dem in der Tragödie ihre Verschleierung und ihr abgeschottetes Leben verbunden werden, erschien ihm offensichtlich als geeignetes Erklärungsmuster für diese Keuschheit, und nur aufgrund ihrer Herkunft sah er eine Chance, Rhodope auch als dramatische Figur zu retten. Allerdings identifizierte er in der spezifisch orientalischen Keuschheit zugleich die Gefahr, dass sich das ‘okzidentale’ Publikum von dem Stück abwenden könnte, weil dessen eigene Wertvorstellungen darin nicht oder aber in einer zu reinen und fremden Form vorgeführt würden. Signifikant ist, dass Bamberg nur Rhodopes halbindische Herkunft erwähnt, denn sowohl in der zeitgenössischen Diskussion als auch in der Forschung ist die andere, griechische ‘Hälfte’ weitgehend unerwähnt geblieben. Das gilt auch für die jüngsten Interpretationen von Friederike Raphaela Lanz und Alexandra Tischel, die ausdrücklich die kulturellen Zugehörigkeiten der Figuren in den Blick nehmen.²⁶⁴ Dabei ist diese Doppelung der Altertumskulturen insbesondere vor dem Hintergrund der Keuschheit bedeutsam, in deren Licht Kandaules’ Gattin nicht als rachsüchtige Barbarin erscheint, sondern als in ihrer Würde zutiefst verletzte Frau. Rhodopes halbindische, halbgriechische Herkunft kann einerseits gelesen werden als historische Anspielung auf das indo-griechische Königreich des 2. und 1. Jahrhunderts v.Chr., dessen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert vornehmlich aus Münz-
Felix Bamberg an Friedrich Hebbel, 4. 3.1856, B III, Nr. 1603, S. 270, Hervorh. i.O. Der Brief liest sich in der Frage der Aufführbarkeit des Stücks tatsächlich als diametraler Gegensatz zur Korrespondenz zwischen Laube und Hebbel zum gleichen Thema. So heißt es bei Bamberg: „Was nun die Aufführbarkeit und namentlich auf einer französischen Bühne anbetrifft, so sehe ich durchaus kein absolutes Hinderniß dagegen, wiewohl die französische Gesellschaft, die doch noch etwas sinnlicher ist als die deutsche, Rhodopen möglicherweise noch idealer finden wird, als ein Berliner und Hamburger.“ (Ebd.). Anders als Laube hatte Bamberg also keine Sorge, das Stück könne als anstößig empfunden werden, sondern fürchtete vielmehr, dem französischen Publikum werde es in dem Drama an Sinnlichkeit mangeln. Denkt man etwa an Théophile Gautiers Bearbeitung des Stoffs in der Erzählung Le roi Candaule (1844), in der die Beschreibung der Entkleidung der Königin Nysia breiten Raum einnimmt (ebenso wie die Darstellung des orientalisch-exotischen Umfelds, insbesondere des lydischen Palasts), dann erscheint dieser Gedanke nicht abwegig. Allerdings gilt es zu bedenken, dass auch in Frankreich zeitgenössisch das Medium Theater engere Grenzen für sinnliche Ausdeutungen setzte als Prosaerzählungen. Vgl. Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“, in dem das entsprechende Kapitel sogar Indien, Heimat Rhodopes (S. 198 – 202) betitelt ist, und Tischel: Tragödie der Geschlechter, insbesondere S. 111– 119.
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funden rekonstruiert wurde.²⁶⁵ Aber das Wissen über dieses Königreich war nicht prägnant genug, um eine tiefere Motivation der Figur Rhodope zu begründen. Mit dem gelehrten Fingerzeig auf das indo-griechische Königreich ist daher nur ein Aspekt von Rhodopes Herkunft angesprochen. Darüber hinaus muss ihre Abstammung andererseits auch als doppelte verstanden werden: Sie ist (halb)indisch und (halb)griechisch.²⁶⁶ Wenn man auf die griechische Seite fokussiert, ist insbesondere die Namenswahl bemerkenswert, die von der Forschung bisher kaum Beachtung gefunden hat.²⁶⁷ Obwohl dem indischen Altertum zur „Motivirung“ der Figur offensichtlich einiges zuzutrauen war, trägt Rhodope keinen indischen, sondern einen aus der griechischen Mythologie bekannten Namen. Mit ihm ist zum einen der Mythos von Haimos und Rhodope verbunden, einem thrakischen Königspaar, das sich den Zeus- und Herakult aneignete und zur Strafe von Zeus in ein Gebirge – die Rhodopen – verwandelt wurde. Zum anderen kennt die griechische Mythologie ein junges Mädchen namens Rhodopis, das zum Jagdgefolge der Artemis gehörte. Sie hatte ihrer Göttin Keuschheit gelobt und geschworen, sich der Gewalt der Aphrodite zu entziehen. Als Aphrodite davon erfuhr, führte sie Rhodopis mit einem jungen Jäger zusammen, der den gleichen Schwur geleistet hatte. Eros sorgte dafür, dass beide einander verfielen. Zur Strafe verwandelte Artemis Rhodopis schließlich in eine Quelle, das sagenumwobene Styx-Wasser, das unter anderem zur Keuschheitsprüfung von Jungfrauen verwendet wurde.²⁶⁸ Vieles spricht dafür, den griechischen Namen der lydischen Königin mit diesem zuletzt genannten Mythos zu verbinden, in dessen Zentrum die Qualität der Keuschheit steht. Hebbels Rhodope in Gyges und sein Ring erwähnt selbst den „Styx“,²⁶⁹ als sie sich nach der verhängnisvollen Nacht unwiederbringlich geschändet und befleckt fühlt und mit den Göttern hadert. Und in dem darauf folgenden, oben zitierten Dialog von Rhodope und Kandaules nimmt der König das Motiv der Quelle auf, indem er verspricht, Rhodope vorsichtiger als eine der Quelle entsprungene Najade zu behandeln:
Vgl. etwa Carl Ludwig Grotefend: Die Münzen der griechischen, parthischen und indoskythischen Könige von Baktrien und den Ländern am Indus. Hannover 1839 und Christian Lassen: Zur Geschichte der griechischen und indoskythischen Könige in Baktrien, Kabul und Indien durch Entzifferung der Altkabulischen Legenden auf ihren Münzen, Bonn 1838. Rhodopes doppelte Herkunft zeigt sich auch in ihrem souveränen Umgang mit den ‘fremden Göttern’ und ‘dunklen Bräuchen’ (vgl. Hebbel: Gyges und sein Ring,Vv. 1899 – 1901) auf der einen Seite und mit den griechischen Göttern auf der anderen Seite. Sie spiegelt sich darüber hinaus bis in Details, etwa in Rhodopes Frage, ob Karna schon den „Scheiterhaufen“ (V. 1880) bereitgestellt habe. Diese Frage kann sowohl als Anspielung auf die Sitte der indischen Witwenverbrennung als auch als Hinweis auf die altgriechische Bestattungsriten verstanden werden. Im Anschluss an Werner meint Bickel, Hebbel habe den Namen entweder von einer schönen Hetäre aus Herodots Historien (II, 134 f.) entlehnt oder aus Grillparzers Sappho, wo im zweiten Auftritt des ersten Aufzugs eine Dienerin als Rhodope angesprochen wird. Bickel leitet aus Hebbels Namenswahl allerdings keine interpretatorischen Konsequenzen ab (vgl. Gyges und sein Ring, S. 350). Vgl. Achilleus Tatios: Leukippe und Kleitophon VIII, 12. Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 938.
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Ja, schneller werde ich von hinnen eilen, Als hätt’ ich, um zu trinken, einer Quelle Mich still genaht, und sähe, daß ihr eben, Die schüchterne Najade scheu entsteigt.²⁷⁰
Der griechische Name ermöglicht einmal mehr, Rhodopes Keuschheitsanspruch zu begründen. Ihre indisch-griechische Herkunft geht damit in einer Doppelmotivierung ihrer Keuschheit auf und diese Keuschheit motiviert die Figur.²⁷¹ Ebd., Vv. 969 – 972. Die in der älteren und jüngeren Forschung verbreitete Annahme, Rhodope entstamme einem „primitiven Kulturkreis“ (Elise Dosenheimer: Das zentrale Problem in der Tragödie Friedrich Hebbels, Halle 1925, S. 87), einer „orientalisch-rückständigen Kultur“ (Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 132), vor allem aber einer „primitivere[n] Kultur“ (Oskar F. Walzel: Hebbelprobleme. Studien, Leipzig 1909 [Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literatur-Geschichte, N.F. 1], S. 71) als Kandaules, kann vor dem Hintergrund der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung nicht überzeugen. Jenseits des an dieser Stelle interessierenden Problems der ‘Motivierung’ wäre daher zu fragen, ob Rhodopes halbgriechischer Hintergrund nicht vielmehr eine besondere Nähe zum Griechen Gyges impliziert. Dafür spricht, dass Gyges ähnliche archaische religiöse Praktiken kennt wie Rhodope, wenn er sich gegenüber Kandaules selbst als menschliches Opfer am Altar des Zeus anbietet. Rhodope setzt ein solches Selbstopfer am Schluss des Dramas am Altar der Hestia in die Tat um. Dabei ist ihr Tod bis ins Detail spiegelbildlich zu Gyges Vorschlag des „Jünglingsopfer[s]“ (Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 671) durchkomponiert: Gyges will sein „junges Leben“ (V. 661) am „Altar des Zeus“ (V. 664) lassen, indem er sich selbst durchstößt, und dabei will er „mit einer Hand“ (V. 665) Kandaules fassen. Rhodope dagegen erdolcht sich als zweifach verheiratete Frau (wenngleich vor dem Vollzug der zweiten Ehe) am Altar der Hestia, und eine Regieanweisung gibt an, dass sie Gyges’ Hand zuvor losgelassen hat. Die Nähe von Rhodope und Gyges zeigt sich auch darin, dass letzterer im Gegensatz zu Kandaules die Logik von Rhodope zu verstehen vermag, und zwar sogar noch, bevor er mit ihr gesprochen hat. So vergleicht er seinen Frevel an ihr mit einem Mord und erwidert auf Kandaules Einwand, von Mord könne keine Rede sein: „Wer weiß! Die Götter wenden / Sich vom Befleckten ab! Wie, wenn sich jetzt / Die gold’ne Aphrodite, schwer beleidigt, / Von ihrer liebsten Tochter wenden müßte, / Weil sie ein Blick aus fremdem Aug’ entweiht! / Sie thut’s nicht gern, sie säumt noch, weil sie hofft, / Daß eine rasche Sühne folgen wird, / O, Göttin, lächle fort! Ich bringe sie!“ (Vv. 649 – 656). Kandaules erwidert darauf: „Das sprach der Grieche.“ (V. 657). Noch vor Rhodope entwirft der Grieche Gyges damit die Logik der Befleckung, die durch Blut gesühnt werden muss. Das sind Überlegungen, auf die der Lyder Kandaules nur mit Unverständnis reagieren kann, so wie es ihm später unmöglich ist, Rhodope zu verstehen, als diese denkt, er komme, um sie zu töten. Es zeigt sich damit einmal mehr, dass Rhodopes Wertesystem zwischen Indien und einem archaisch semantisierten Griechenland angesiedelt ist. Auch vor dem Hintergrund der späteren Begeisterung für das archaische Griechenland am Ausgang des 19. Jahrhunderts, dessen Gegenklassizismus eine dezidiert moderne Transformation der Antike darstellt, wird deutlich, dass der Akzent im Gyges offensichtlich weniger auf der Opposition von primitiver und aufgeklärter Kultur liegt, als vielmehr auf der Verhandlung solcher verschieden konnotierter Antikenkonzepte. In diesem Sinne erscheint die durch Rhodope und Gyges verkörperte Archaik als durchaus modernes Modell. Diese komplexen Bezüge zwischen den einzelnen Figuren und Altertumskulturen stehen quer zu (geschichtsphilosophisch‐)schematisierenden Interpretationen, wie sie etwa Reinhardt entwickelt hat: „Rhodope stammt aus Indien. Diese Herkunft ist – ebenso wie die griechische des Gyges, den die herodoteische Quelle als Leibwächter des Kandaules aufführt – von Hebbel erfunden worden, um gegen den Lyder Kandaules andere Kulturstufen zu setzen, die sich letztlich nach einem weltgeschichtlichen Entwicklungsprinzip gliedern sollen.“ (Die Kröte vor dem
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Zur tragischen Figur wird Rhodope jedoch erst in Konfrontation mit ihren Gegenübern: mit Kandaules und Gyges. Auch ersteren wollte Hebbel maßgeblich durch die Bindung an eine Altertumskultur motiviert wissen. Aber anders als bei Rhodope konnte er offenbar nicht darauf vertrauen, dass die Konnotation, die er mit dem alten Lydien verband, dem (Lese‐)Publikum ähnlich präsent sein würde. So schreibt er im Mai 1856 an Karl Werner: Dieß Stück [Gyges und sein Ring, F.K.] wird einen schweren Stand haben und ich wußte es voraus. Es ist nicht leicht, sich aus der modernen Welt heraus in eine Anschauung zu versetzen, wornach das Weib bloß Sache war, und das wird nun einmal verlangt, wenn Kandaules nicht gerade zu abscheulich erscheinen soll. Der alte Homer wäre zwar eine gute Vorbereitung, denn seine Griechen und Trojaner schlagen sich doch buchstäblich um die Helena,wie um ein Möbel,welches dadurch Nichts an seinem Werth verliert, daß es von Hand zu Hand geht. Aber Homer wird nicht viel mehr gelesen, sonst würde man Herodots Kandaules in seiner Eitelkeit so natürlich finden,wie irgend einen Menschen unserer Zeit, der seine Schätze zeigt, weil er nicht gewiß weiß, ob er wirklich den reinsten Diamant besitzt und weil er einen kleinen Hang zum Prahler hat.Von dieser Basis aber ausgegangen, die eine historisch gegebene ist, und nicht bloß das Absonderliche, sondern sogar das Besondere ausschließt, dürfte mein Drama keine Schwierigkeiten mehr darbieten, denn Kandaules kann den Adel seiner Natur doch nicht besser beweisen, als dadurch, daß er sich selbst, so wie sich Rhodope vor seinen Augen aus einer Sache in eine Person verwandelt, zum Opfer darbringt, um den halb unbewußt verübten Frevel zu sühnen, und dieser Adel kann ihr gegenüber doch auch nicht früher hervortreten!²⁷²
Entgegen der antiken Vorlage darf Rhodope nicht rachsüchtig wirken, und Ähnliches gilt für Kandaules. Wird er als „abscheulich“ verstanden, dann hätte er sich den zeitgenössischen gattungstheoretischen Regeln zufolge als tragische Figur disqualifiziert. Wie bei Rhodope vertraut Hebbel auch bei Kandaules auf die Semantik des Altertums,wenngleich er fürchtet, missverstanden zu werden.²⁷³ Weil Kandaules Lyder ist, so das Argument in dem Brief, das Hebbel auch an anderer Stelle wiederholt,²⁷⁴ ist er stolz darauf, seine Gattin Rhodope zu besitzen. In Hebbels Lydien ist diese männliche „Eitelkeit“ der Normalfall, und sie kann Kandaules darum nicht zum Vorwurf gemacht werden. Hebbel dreht mithilfe Lydiens das Argument zugunsten des
Gemach. Zur Verteidigung der tragischen Struktur in Hebbels „Gyges und sein Ring“, in: HebbelJahrbuch 1983, S. 89 – 126, hier S. 95). Nur die prinzipielle Ausblendung von Rhodopes halbgriechischer Herkunft macht Reinhardts These von Kulturstufen möglich, die durch die Figuren verkörpert würden. Friedrich Hebbel an Karl Werner, 16. 5.1856, B III, Nr. 1616, S. 283. Vgl. hierzu auch Kapitel 5.3.3. Vgl. Friederich Hebbel an Arnold Schloenbach am 3. Juni 1856: „Ueber meinem Gyges kann ich Ihnen nur sagen: halten Sie Sich [sic!] an das Bild selbst und vergegenwärtigen Sie Sich die Welt, der es angehört. Daß das Weib selbst für die Griechen nur Sache war, wissen Sie aus dem Homer; Helena ging von Hand zu Hand und man schlägt sich um sie, nicht um sie zu züchtigen, sondern um sie, wie einen entflogenen Vogel, wieder zu bekommen. Daß diese Sache sich aber doch selbst unter den barbarischen Lydiern zuweilen in eine Person verwandelte, zeigt die Fabel des Herodot, die mir als Stoff diente.“ (B III, Nr. 1619, S. 288).
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Königs, den es adle, dass er Rhodope im Laufe der Tragödie entgegen der Logik seiner Heimat als „Person“ anerkenne. Tragische Dynamik bekommt diese lydische Verdinglichung der Frau, die Hebbel der homerischen Welt zuordnet, im Drama durch die Konfrontation mit Gyges’ Griechentum.²⁷⁵ Lydien und Griechenland werden schon in den ersten acht Versen der Tragödie in einem spannungsgeladenen Verhältnis präsentiert: Kandaules Heut’ sollst Du [Gyges, F.K.] seh’n, was Lydien vermag! – Ich weiß, Ihr Griechen, wenn auch unterwürfig, Weil Ihr nicht anders könnt, tragt knirschend nur Das alte Joch und spottet Eurer Herrn. Auch wird nicht leicht was auf der Welt erfunden, Das Ihr nicht gleich verbessert: wär’s auch nur Der Kranz, den Ihr hinzufügt, einerlei, Ihr drückt ihn d’rauf und habt das Ding gemacht!²⁷⁶
Zwar ist die griechische Antike die zivilisatorisch überlegene Kultur, aber das barbarische Lydien hat dessen ungeachtet die faktische Vorherrschaft. Die Spiele zu Ehren des Herakles, des göttlichen Ahnherrn der Lyder, werden zum stellvertretenden Schauplatz der griechisch-lydischen Konkurrenz. Während Kandaules plant, dem Griechen vorzuführen, was „Lydien vermag“, verweigert Gyges den ihm zugewiesenen Platz als Zuschauer der lydischen Machtdemonstration. Gyges’ Bitte, ihn an den
Die Funktion der griechischen Herkunft von Gyges beschränkt sich nicht auf das Problem der notwendigen Motivierung der Figur. Zwei Zusammenhänge, in denen es darüber hinaus zu diskutieren wäre, können hier nur kurz angedeutet werden: Zum einen ist der Gyges als literarische Auseinandersetzung mit Goethes Iphigenie auf Tauris zu lesen. Die intertextuellen Bezüge reichen von Thoas (bei Goethe der barbarische Herrscher, der Iphigenie umwirbt – bei Hebbel der weise und auf die Tradition beharrende Sklave des fortschrittlichen barbarischen Königs Kandaules) über die antithetische Opferstruktur (Iphigenie, die der Göttin Diana geopfert und von ihr gerettet wurde – dagegen Rhodope, die sich selber zum Opfer darbietet am Altar der Hestia) bis hin zu den Erinnyen (die in der Iphigenie Orest verfolgen – und deren unheilvolles Wirken Kandaules sowohl in Bezug auf Gyges als auch auf Rhodope vermutet). In diesem Kontext spielt auch Gyges’ Griechentum eine wichtige Rolle. Denn in der Konkurrenz von Kandaules und Gyges wird die Opposition von Barbaren und Griechen immer wieder aufgegriffen. Zum anderen und eng damit zusammenhängend werden in dem Text verschiedene Modelle und Funktionen der griechischen Antike verhandelt. In den Referenzen auf Goethes Iphigenie klingt das Antikebild der Weimarer Klassik an. Zugleich wird mit Gyges’ Wunsch eines Jünglingsopfers am Altar des Zeus ein archaischer Gegenentwurf zu dieser humanistischen Antike aufgerufen, wie er dann vor allem das späte 19. Jahrhundert beschäftigte (vgl. auch Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 125 f.; zum Wandel des Antikebilds ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. den Sammelband von Achim Aurnhammer u.Thomas Pittrof [Hg.]: Mehr Dionysos als Apoll. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Frankfurt/Main 2002; darin insbesondere die Einleitung der beiden Herausgeber, S. 1– 17). Obwohl Hebbel selbst immer die Nähe des Gyges zu Goethes Iphigenie betont hat (vgl. etwa den Brief vom 14.12.1854 an Friedrich von Uechtritz [B III, Nr. 1458, S. 123] oder T III, Nr. 5211, 26.11.1853), liest sich die Tragödie in dieser Hinsicht eher als Anti-Iphigenie. Hebbel: Gyges und sein Ring, Vv. 1– 8.
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Spielen partizipieren zu lassen, beantwortet Kandaules in betonter Sorge um das physische Wohl seines Gegenübers: Kandaules Du weißt nicht, was Du [Gyges, F.K.] thust! Kennst Du die Lyder? Ihr Griechen seid ein kluges Volk, Ihr laßt Die Andern alle spinnen und Ihr webt. Das giebt ein Netz, wovon kein einz’ger Faden Euch selbst gehört, und das doch Euer ist! Wie leicht wär’s zugezogen und wie rasch Die ganze Welt gefangen, wenn der Arm Des Fischers nur ein wenig stärker wäre, Der es regiren soll. Da aber fehlt’s! Ihr könnt durch keine Kunst die Nervenstränge Uns aus dem Leibe haspeln, darum stellen Wir uns viel blinder, als wir wirklich sind, Und geh’n zu uns’rem eig’nen Spaß hinein: Ein kleiner Ruck macht uns ja wieder frei.²⁷⁷
Das Bild der starken Barbaren und kulturell überlegenen, aber verweichlichten Griechen, das der lydische König hier zeichnet, wird allerdings durch Gyges’ Siege bei den folgenden Spielen konterkariert. Kandaules quittiert diese Siege nach außen hin zwar spöttisch-wohlwollend, aber mit spürbarem Bewusstsein für die Umkehr des Kräfteverhältnisses, das er nur kurz zuvor entworfen hatte: Kandaules (in den Hintergrund schauend) Im Discuswerfen auch? Zum dritten Mal? Das sollt’ ich übel nehmen! Da kommt ja gar Nichts auf die Meinigen. (heruntersteigend und dem aus dem Hintergrunde kommenden Gyges, dem das Volk noch immer zujubelt und Platz macht, entgegenschreitend) Bescheiden bist Du, das ist wahr! Du nimmst Nicht mehr, als da ist. Gyges Herr, ich kämpfte heut’ Als Grieche, nicht als Gyges. Kandaules Um so schlimmer Für uns, wenn Du die neue Regel bist! Da thut’s ja noth, die alten Drachenhäute Hervor zu suchen und sie auszustopfen, Die, vom Heracles her, noch irgendwo Im Winkel eines Tempels faulen sollen, Den Balg der Schlange mit den hundert Köpfen Und And’res mehr, was Euch erschrecken kann!²⁷⁸
Dass Kandaules, der den alten Traditionen grundsätzlich kritisch gegenübersteht, die „alten Drachenhäute“ scherzhaft als Wehr gegen die Griechen anführt, zeigt die
Ebd., Vv. 99 – 112. Ebd., Vv. 458 – 464.
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Hilflosigkeit, mit der er auf Gyges’ physische Machtdemonstration reagiert. Dessen ausdrücklicher Hinweis darauf, er habe nicht für sich, sondern als Stellvertreter der Griechen gekämpft, profiliert die Konkurrenz der beiden Altertumskulturen.²⁷⁹ Die Rivalität der beiden Männer, die unter der Oberfläche der gegenseitigen Ehrerbietung brodelt,²⁸⁰ wird durch diese Altertumskonkurrenz der Lyder und Griechen motiviert. Erst durch sie gewinnt Kandaules’ verdinglichender Besitzerstolz auf Rhodope tragisches Potential. Schon vorher hatte er seinen wertvollen weiblichen „Edelstein“²⁸¹ auf der Tribüne präsentieren wollen. Aber während er in Angesicht seiner Frau deren Absage schließlich akzeptiert, kennt sein Besitzerstolz nach der Konfrontation mit Gyges’ Siegen kein Halten mehr. In der gleichen Szene, in der Kandaules auf dem heraklidischen Kampfplatz mit ansehen muss, dass die Konkurrenz zwischen Lydien und Griechenland durch Gyges’ Siege zugunsten der Griechen entschieden worden ist, schlägt er seinem griechischen Gast vor, mithilfe des Rings zu Rhodope zu gelangen. Die Revanche findet damit in den Gemächern der Königin statt. Die Rollen sind getauscht, nun ist Gyges doch noch Zuschauer geworden, und der Kampfplatz ist Rhodopes Schlafzimmer. Dieses Mal siegt der lydische König; daran lässt der Dialog am nächsten Morgen keinen Zweifel:²⁸² Gyges Hier ist der Ring! […] Kandaules Du traust Dich nicht, ihn länger zu behalten? Gyges Warum nicht? Doch wozu? So nimm ihn hin! Kandaules Dieß sagt mir mehr noch, als Dein Seufzer mir Schon in der Nacht gesagt. Gyges Vergieb ihn, Herr! Kandaules Wie sprichst Du nur? Er war ja mein Triumph. Gyges Hast Du ihn denn allein gehört? Kandaules O nein! Sie fuhr empor, sie schrie – Ist Alles das Dir ganz entgangen? Nun, da braucht ich Dich Nicht erst zu fragen, ob ich Sieger bin!²⁸³
In einem späteren Dialog von Gyges und dem Sklaven Thoas wird noch deutlicher, dass Gyges’ Teilnahme an den Kämpfen als Replik auf die Idee zu verstehen ist, die kulturelle Überlegenheit der Griechen gehe mit ihrer physischen Unterlegenheit einher: „Ich wollte / Nur zeigen, daß man Knochen haben kann, / Und Mark in diesen Knochen, wenn man auch / Die Seiten einer Cither nicht zerreißt, / Sobald man sie berührt. / Dieß weiß nun Jeder, / Der es bisher vielleicht bezweifelt hat, / Und so ist’s gut.“ (Ebd., Vv. 579 – 584). Auch Tischel betont die „Konkurrenz“ (Tragödie der Geschlechter, S. 120) im Verhältnis von Gyges und Kandaules, deutet sie allerdings gendertheoretisch als homosoziales Bündnis, in dem die Beziehung der beiden Männer „zwischen einem homoerotischen und einem Vater-Sohn-Verhältnis“ (S. 106) changiere. Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 439. Zur Bedeutung des Sehens und des Voyeurismus in Gyges und sein Ring vgl. Claudia Öhlschläger: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text, Freiburg/ Brsg. 1996, S. 86 – 113 und Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 120 f. Hebbel: Gyges und sein Ring, Vv. 595 – 605, Hervorh. F.K.
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Aber Kandaules’ Triumph ist nur ein Etappensieg. Aus der zunächst spielerischen Rivalität wird durch Rhodope bitterer Ernst. Die dritte Runde Lydien gegen Griechenland wird mit echten Waffen geschlagen. Bühnenwirksam entlädt sich der Konflikt zwischen den beiden Männern schließlich in der Fechtszene, in der der „letzte Heraclide“²⁸⁴ durch das Schwert eines Griechen fällt. – In der Tat: „Es war kein guter Tag, an dem der König / Von Lydien den Griechen Gyges traf.“²⁸⁵ *** Was sich anhand des Gyges exemplarisch gezeigt hat, gilt ähnlich auch für Hebbels andere Tragödien. Auch hier sind die Figuren und ihre Handlungen maßgeblich über die ihnen zugeordneten Altertümer und deren Bedeutungshorizonte determiniert. Um einige Beispiele zu nennen: In Herodes und Mariamne ist Alexandras allererster Antrieb für ihre Intrigen gegen Herodes ihr Bewusstsein, dass die Reihe der Makkabäer zu enden droht.²⁸⁶ Zudem hat Hebbel, wie bereits gezeigt, in der gleichen Tragödie entgegen der josephischen Vorlage aus Soemus einen Galiläer gemacht, so dass die historisch dokumentierte politische Nähe von Judäa und Galiläa die besondere Nähe zwischen dem judäischen König und Soemus begründet. Das Prinzip greift auch in den Nibelungen, in denen Brunhilds Unvermögen, sich in die burgundische Welt einzureihen, wesentlich durch ihren nordisch-mythologischen Ursprung motiviert ist, der unvereinbar ist mit der burgundischen Welt, zumal da die gemeinsame Herkunft sie zur eigentlichen, aber verschmähten Braut Siegfrieds bestimmt.²⁸⁷ Im Moloch schließlich ist Karthagos Rom-Trauma Movens für Hierams germanisches Zivilisationsprojekt. Überdeutlich sichtbar geworden ist diese Funktion der Altertümer für die poetische Motivierung der Figuren und ihr Handeln in Gyges und sein Ring. Die Tragik des Dramas ergibt sich aus der Dynamik der miteinander konfligierenden Altertümer: Kandaules’ barbarisch-lydischer Hintergrund gibt einen Denkhorizont vor, in dem Frauen als Sache behandelt werden. Aber erst die Konkurrenz zwischen Lydien und Griechenland erzeugt Rivalität zwischen dem König und seinem jungen Günstling. Aus der Kombination von ‘lydischem Besitzerstolz’ und den gleichzeitigen Siegen von Gyges bei den heraklidischen Spielen resultiert die zwischen Befehl und Bitte oszillierende Aufforderung des Königs an Gyges, in Rhodopes Schlafzimmer zu gehen und Ebd., V. 1878. So Gyges im fünften Akt zu Kandaules kurz vor dem Zweikampf, vgl. ebd., V. 1716 f. Ihr Handeln ist zwar auch durch Rachegedanken geleitet, aber nur sekundär, nachdem Aristobolus tot ist. Zuvor hatte Alexandra keinen Grund, Rache zu üben, sondern ihr Streben, Aristobolus als König einzusetzen, erklärte sich aus ihrem Ehrgeiz, den eigenen Sohn und mit ihm die Makkabäer als Herrscherlinie wieder zu inthronisieren. Die Makkabäer werden in Herodes und Mariamne, wie bereits gesehen, als eigene Altertumskultur etabliert, insbesondere durch die zahlreichen genealogischen Verweise wie auch durch ihre stete Benennung als Makkabäer. Vgl. hierzu Claude D. Conter: Zwischen Geschlechterkampf und verweigerter Interkulturalität. Zur Brunhild-Figur in den Nibelungenbearbeitungen von Friedrich Hebbel und Emanuel Geibel, in: Germanistik. Fascicule XI. Publications Du Centre Universitaire de Luxembourg, Luxemburg 1997, S. 11– 49.
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sie anzuschauen. Auf diesen Frevel muss Rhodope mit blutiger Vergeltung an demjenigen reagieren, der das verantwortet hat, weil ihre indisch-griechische Herkunft sie auf das Ideal einer Keuschheit verpflichtet, deren Verletzung nur durch Blut gesühnt werden kann. Damit kommt es zu der tragischen Situation, die im diametralen Gegensatz zu Herodots Darstellung der Ereignisse steht: Während dort die lydische Königin Gyges zwingt, sich zwischen dem eigenen Tod und dem seines Herrn zu entscheiden (eine Wahl, die dieser widerwillig zugunsten des eigenen Lebens trifft, um Kandaules dann mithilfe der lydischen Gattin feige im Bett zu ermorden), bietet Hebbels Gyges sein Leben gleich zweimal zur Sühne an. Sowohl Kandaules, den er bittet, sein Leben als sakrales „Jünglingsopfer“²⁸⁸ zu akzeptieren, als auch Rhodope verweigern sein Ansinnen. Nachdem die Königin erfahren hat, dass Kandaules die Schuld an ihrer Befleckung trägt, ‘kann sie nicht anders’, als nach den kulturellen Regeln ihrer Heimat den Tod ihres eigenen Mannes zu verlangen. Weil sie ahnt, dass Gyges sich in sie verliebt hat, lässt sie ihn zwischen ihrem eigenen und dem Tod des Kandaules wählen. Entweder er tötet Kandaules und sie vermählt sich mit ihm, oder aber Gyges verweigert den notwendigen Mord und Rhodope begeht Suizid – so lautet die Wahl, die Gyges nicht endgültig zu treffen vermag: Gyges
[…] Du [Rhodope, F.K.] denkst doch nicht von mir, daß ich ihn morde? Ich fordre ihn auf Leben oder Tod. Rhodope Und wenn Du fällst? Gyges So fluche mir nicht nach, Ich kann nicht anders. ²⁸⁹
Auch der Grieche Gyges ‘kann nicht anders’: Obwohl seine Niederlage unmissverständlich Rhodopes Ende nach sich ziehen würde, muss er den Konflikt mit Kandaules, der über die Stationen der heraklidischen Spiele und Rhodopes Schlafzimmer geführt hat, von Angesicht zu Angesicht austragen. Die Konkurrenz zwischen Lydien und Griechenland entscheidet er in diesem Zweikampf für sich, aber sein Sieg wird nicht nur durch den Tod des verehrten Königs getrübt. Am Schluss der Tragödie kann vielmehr Rhodope ein letztes Mal ‘nicht anders’, als der Logik ihrer Heimat zu folgen, und durchstößt sich selbst. Die Trias der drei Altertümer Lydien, Griechenland und Indien mit ihren jeweiligen Handlungsrationalitäten ist es also, die jene kausale Ereigniskette des tragischen Verlaufs erzwingt, die zeitgenössisch unter dem Begriff der ‘notwendigen Motivierung’ diskutiert wurde.
Hebbel: Gyges und sein Ring, V. 671. Ebd., Vv. 1573 – 1576, Hervorh. F.K.
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5.3.2 Altertümer und Geschlecht – Judith (1840/41) Wenn die Untersuchung bisher gezeigt hat, dass die ‘notwendige Motivierung’ der Figuren in Hebbels Tragödien durch die Bindung an verschiedene Altertumskulturen gelingt, dann ist diese Beobachtung aber noch zu ergänzen. Denn der Konflikt in Gyges und sein Ring ist unbestreitbar auch motiviert durch die konfliktreich aufgeladene Konstellation der Geschlechter. So ist die Konkurrenz zwischen dem Lyder Kandaules und dem Griechen Gyges zugleich auch eine Konkurrenz zwischen dem reiferen Mann und dem Jüngling um die begehrte Frau. Hebbels Altertumsdramatik zeichnet sich grundsätzlich durch eine solche Mehrfachkodierung vor allem der Hauptfiguren aus: Die jungfräuliche Witwe Judith ist ‘Ebräerin’ und glaubt an den einen Gott, im Lager der Assyrer trifft sie auf Holofernes, einen polytheistisch gesinnten, sich selbst zum Gott aufschwingenden, überpotenten Mann, von dem sie zugleich abgestoßen und fasziniert ist. Mariamne entstammt dem stolzen religiösen Geschlecht der Makkabäer und liebt einen König, der als säkularisierender, außenpolitisch versierter Mann der Tat inszeniert wird. In den Nibelungen bilden die dem nordischen Altertum zugeordnete Brunhild und der dem gleichen Kulturraum entstammende Siegfried das sich verfehlende Paar, mitsamt den aus dieser Verfehlung resultierenden tragischen Konsequenzen.²⁹⁰ Die unterschiedlich akzentuierten Altertumskonkurrenzen, mit denen verschiedene Herrschafts-, Religions- und Geschichtskonzepte angesprochen werden, sind stets gekoppelt an die „Geschlechterpolarität“²⁹¹ der Hauptfiguren.
Der Moloch stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, nicht zuletzt weil es schwierig ist, in dem Fragment überhaupt Hauptfiguren zu identifizieren, vgl. auch Rolf-Peter Carl: „so ist der Poet ein Pfuscher“. Hebbels Moloch – Tragödie ohne Helden?, in: Hebbel-Jahrbuch 2011, S. 91– 104. Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 27. Die Bedeutung der Frauenfiguren und der Beziehungen zwischen den Geschlechtern beschäftigt die Hebbel-Forschung seit Beginn des vorigen Jahrhunderts. 1909 hat Hilde Engel-Mitscherlich in Hebbels Texten emanzipatives Potential gesehen und Hebbel als Dichter der Frau (Dresden 1909) nobilitiert, während Elise Dosenheimer 1925 stärker auf die Ambivalenzen in Hebbels Dramen fokussierte und auf den „Dualismus […] zwischen den Geschlechtern“ (Das zentrale Problem in der Tragödie Friedrich Hebbels, S. 5). Die Reihe der Publikationen zur Bedeutung der Kategorie ‘Geschlecht’ in Hebbels Dramen reißt seitdem nicht ab, allein in den letzten 15 Jahren erschienen hierzu mehrere Monographien, vgl. Hilmar Grundmann: Von „Weiber-Emancipation“ und „echten Weibern“ in Hebbels Tagebüchern und Tragödien: ein literaturwissenschaftlicher und literaturdidaktischer Beitrag zur Gender-Forschung, Frankfurt/Main 2006; Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“; Tischel: Tragödie der Geschlechter und Ester Saletta: Friedrich Hebbels und Hermann Brochs Frauengestalten in einer Gender-Studies Richtung, Berlin 2007 (Hebbel. Mensch und Dichter im Werk, Bd. 9). Vgl. auch den Sammelband von Ester Saletta und Christa Agnes Tuczay (Hg.): „Das Weib im Manne zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann.“ Geschlechterkampf oder Geschlechterdialog: Friedrich Hebbel aus der Perspektive der Genderforschung, Berlin 2008 (Hebbel. Mensch und Dichter im Werk, Bd. 10). Obwohl häufig ausdrücklich eine Genderperspektive angesprochen ist, stehen in den meisten der genannten Bände vornehmlich die Frauenfiguren im Mittelpunkt des Interesses. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht die Monographie von Barbara Hindinger: Tragische Helden mit verletzten Seelen. Männerbilder in den Dramen Friedrich Hebbels, München 2004.
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An diese Konzeption der Tragödien knüpfen sich zwei Probleme, die in der Forschungsdiskussion allerdings nicht immer voneinander getrennt werden. Erstens stellt sich die Frage, wie in den Tragödien das Verhältnis von ‘Geschlecht’ und ‘Altertum’ in Bezug auf die Motivierung des tragischen Konflikts zu bestimmen ist: Sind die beiden Kategorien untrennbar miteinander verflochten oder sind die Figuren und Konflikte doppelt motiviert? Wäre letzteres der Fall, so würden entweder die Inszenierungen der Geschlechterdifferenz oder die figurierten Altertumskonkurrenzen ausreichen, um die tragische Handlung in Gang zu setzen. Die Funktion der doppelt antipodischen Kodierung der Hauptfiguren wäre dann gleichsam der Versuch, bei der Motivierung mit doppeltem Boden zu arbeiten. Denkbar wäre aber auch, dass die Tragödien so konzipiert sind, dass die Mehrfachkodierung der Figuren ineinandergreift, der tragische Konflikt also gerade aus der Überlagerung von Geschlechter- und Altertumspolarität entsteht. Die Frage nach der Funktion der beiden Konfliktfelder für die Motivation ist so abermals eine Frage nach der dramaturgischen Technik in Hebbels Tragödien. Hieran knüpft sich zudem die Frage, welche Bedeutungsebenen in den Tragödien über die Mehrfachkodierung der Figuren etabliert werden. Die Mehrschichtigkeit von Hebbels Tragödien ist wiederholt beobachtet worden und hat seine InterpretInnen immer wieder herausgefordert. Dafür lassen sich schon in Fontanes eingangs des Kapitels zitierter Kritik von Herodes und Mariamne Belege finden. Wenn Fontane moniert, dass in der Tragödie bald „Klänge unser Ohr“ träfen, „die etwa der Empfindungsweise Lenaus“ entsprächen, ein „Dutzend abgeschlagener Köpfe“ das Publikum kurz darauf aber mehr schlecht als recht daran erinnere, „daß wir im Königspalast zu Jerusalem und nicht im Justinus-Kernerschen Äolsharfen-Turm zu Weinsberg“ seien, dann ist das zunächst als Urteil zu verstehen, dass Hebbels formale Konzeption der Tragödie nicht gelungen sei.²⁹² Wenn Fontane als Konsequenz daraus dem „Kulturhistorische[n]“ des Dramas aber jegliche Relevanz abspricht und es als bloße Staffage eines Liebesdramas versteht, dann ist damit eine Aussage darüber getroffen, um was es in der Tragödie geht: in Fontanes Augen darum, „der Welt zu zeigen, wie Hebbel sich die Liebe denkt.“²⁹³ Es gibt kaum einen Beitrag zu Hebbels Tragödien, in dem dieser von Fontane implizit vollzogene interpretatorische Ansatz – eine Ebene des Dramas als oberflächlich vom darunter liegenden ‘eigentlichen’ Thema des Textes zu unterscheiden – so programmatisch vertreten wird wie in Michael Posts Aufsatz zu Herodes und Mariamne aus dem Jahr 1987.²⁹⁴ Post argumentiert zwar genau umgekehrt, systematisch ist das Ergebnis aber vergleichbar mit Fontanes Position. Während letzterer die ‘eigentliche’ Tragödie in der tragischen Liebe von Herodes und Mariamne lokalisiert, wendet sich Post gegen die Konzentration der Forschung auf die Bedeutung des Geschlechterkonflikts, der in seinen verschiedenen Akzentuierungen – als Ehe- oder
Fontane: Hebbel: Herodes und Mariamne, S. 194. Ebd., S. 193. Post: Das Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie.
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Liebestragödie,²⁹⁵ als Reflexion biologistischer oder gesellschaftlich-patriarchaler Weltanschauungen²⁹⁶ – lange die Forschung zu der Tragödie dominiert hat. Auf-
Frühe Interpretationen haben das Drama häufig (wie schon Fontane) als Liebestragödie bestimmt, vgl. Helmut Kreuzer: Die Tragödien Friedrich Hebbels, S. 283 – 285; May: Hebbels „Herodes und Mariamne“ sowie Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, Hamburg 81973, S. 605. Demgegenüber akzentuiert Heinz Stolte die Bedeutung der Ehethematik und versteht Hebbels „Herodes und Mariamne“ als Bekenntnisdichtung (vgl. den so betitelten Aufsatz in: Hebbel-Jahrbuch 1961, S. 90 – 117). Bemerkenswerterweise versteht er die Auseinandersetzung mit Elise Lensing (und nicht etwa die Eheschließung mit Christine Enghaus) als entscheidende biographische Motivation für das Drama. So spiegle sich in der Tragödie neben der „Verzweiflung an der Existenz überhaupt“ (S. 95), die Hebbel in Italien ergriffen habe, die „tiefe Erfahrung der männlichen Schuld“ (S. 94) gegenüber Elise Lensing sowie „die Zerstörung seines Ideals, das er sich von Elise gemacht“ (S. 95) habe. Nicht biographisch, sondern vom Problem der Gattung Tragödie her argumentiert Schlaffer, dass Hebbel sich in Herodes und Mariamne auf das „factum brutum der Biologie“ zurückziehe, „und zwar in dem Augenblick, da die historischen Verfestigungen des ‘Geschlechterunterschieds’ immer mehr verfallen“ sei, und der Prozess der „Emanzipation“ begonnen habe (Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 129). Dieser angebliche Anachronismus ist Schlaffer ein weiterer Beleg für Hebbels formalistischen Willen zur Tragödie, weil dieser sich mit Herodes und Mariamne rückwärtsgewandt mit einem durch die Frauenemanzipation so gar nicht mehr vorhandenen Problem auseinandergesetzt habe. Symptomatisch sei deshalb auch, dass Hebbel die Ehe zentral gesetzt habe, also einen „soziale[n] Sachverhalt des bürgerlichen Lebens, der von jeglicher Aufklärung fast unberührt geblieben“ sei (S. 128). Ob man Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich davon sprechen kann, durch die einsetzende Frauenemanzipation habe sich die historische Grenzziehung zwischen den Geschlechtern schon so weit aufgehoben, dass das Aufgreifen dieser Problematik als überholt zu klassifizieren ist, wäre ebenso kritisch zu diskutieren wie die Frage, in welchem Zusammenhang eigentlich das „factum brutum der Biologie“ mit der sozialgesellschaftlichen Ehe zu denken ist. Einen weiteren Beleg für seine Annahme, dass „Inhalt“ in Hebbels Dramen „nur das Kostüm der Absicht“ sei, „die tragische Form zu legitimieren“ (S. 131), findet Schlaffer auch in Hebbels Tagebüchern und Briefen. Die dort artikulierte Ablehnung der „Emanzipation der Frauen“ stehe im Widerspruch dazu, dass Hebbel in seinen Dramen „das Verlassen (Judith) oder Zerstören (Rhodope) weiblicher Beschränkungen selbst wiederum zum tragischen Thema“ gemacht habe (S. 129). Schlaffers Argumentation dokumentiert auch hier die Konsequenzen einer Analyse, in der Hebbels Dramatik a priori auf dessen vermeintlichen ‘Gattungsformalismus’ beschränkt wird. Jeder Stoffwahl wird damit die Relevanz und den literarischen Texten jegliche Eigendynamik abgesprochen. Anders als Schlaffer sieht Reinhardt in der Eheproblematik ein gesellschaftlich-historisches wie auch literarästhetisch zeitgenössisch aktuelles Thema. Reinhardt versucht auch stärker als in der vorherigen Forschung zwischen der „Ehe als thematische[m] Zentrum“ (Apologie der Tragödie, S. 316) und dem Problem zu vermitteln, dass „das Geschehen um Herodes und Mariamne immer auch als ein geschichtliches verstanden sein“ (S. 347) wolle. Die Differenz zwischen den Lesarten des Dramas entweder als Liebes- oder als Ehetragödie löst Tischel in ihrer (ebenfalls nach Post erschienen) Monographie überzeugend auf, indem sie den tragischen Konflikt gerade in der widersprüchlichen Verflechtung von romantischem Liebesideal und dem Interaktionsfeld der Ehe lokalisiert (Tragödie der Geschlechter, S. 65 – 98). Alois Bönig liest das Drama als „Symbol für die archetypische Mann/Frau Problematik, wie sie in der frühen Geschichte durch die Entstehung des Patriarchats erzeugt“ worden sei und „sich bis in unsere Zeit fortgepflanzt“ habe (Vom Wechseln der Perspektive in „Herodes und Mariamne“, in: Hebbel-Jahrbuch 1979, S. 65 – 91, hier S. 89). Kritisch gegenüber der Relevanz der Kategorie ‘Geschlecht’ in Herodes und Mariamne äußern sich Kraft (Poesie der Idee, S. 175) und Carsten Kretschmann (Kampf der Geschlechter? Skeptische Überlegungen zu Herodes und Mariamne, in: „Das Weib im Manne zieht
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
schlussreich ist Posts Argumentationsgang: Zunächst interpretiert er Herodes und Mariamne als Liebestragödie ²⁹⁷ und resümiert im Anschluss daran, dass seine Analyse „schlüssig alle Personen und Auftritte“²⁹⁸ erfasse, mit Ausnahme allerdings der drei Könige. Diese Beobachtung dient ihm als „Zugang zum Geschichtsdrama“,²⁹⁹ so dass er einen zweiten Durchgang durch den Text unternimmt, um nunmehr Herodes und Mariamne als Geschichtsdrama ³⁰⁰ zu lesen. „[B]is auf die beiden Schlüsselszenen (Sameas im Kerker, Auftritt der drei Könige)“, so will Post zeigen, kenne „das Geschichtsdrama keine eigenen Bilder“, sondern sei „stimmig in der Ehetragödie enthalten“.³⁰¹ Die Struktur des Texts ist damit nach Post also wesentlich durch die Eheund Liebestragödie bestimmt, die sich zwischen Herodes und Mariamne entspinnt. Für den „Gehalt“³⁰² bzw. die Aussage der Tragödie folgert Post aus dieser dramentektonischen Beobachtung nun aber bemerkenswerterweise, dass die tragische Liebesgeschichte nur die Oberfläche des Dramas darstelle, unter der sich das „eigentliche[] Thema des Stücks“, nämlich „die Ablösung der Epoche des alttestamentalischen Judentums durch die jüdisch-römische Ära der Messiasherrschaft“ verberge.³⁰³ Darum wird ihm Herodes und Mariamne zum Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie. ³⁰⁴
ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann.“ Geschlechterkampf oder Geschlechterdialog: Friedrich Hebbel aus der Perspektive der Genderforschung, hg.v. Ester Saletta und Christa Agnes Tuczay, Berlin 2008 [Hebbel. Mensch und Dichter im Werk, Bd. 10], S. 233 – 243). In ihrem in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kretschmann publizierten Beitrag schätzt Ester Saletta dagegen die „Gender-StudiesPerspektive“ als „neue, sicher revolutionäre und unkonventionelle Forschungsdimension“ ein (Hebbels Tragödien „Judith“ und „Herodes und Mariamne“, in: „Das Weib im Manne zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann.“ Geschlechterkampf oder Geschlechterdialog: Friedrich Hebbel aus der Perspektive der Genderforschung, hg.v. ders. und Christa Agnes Tuczay, Berlin 2008 [Hebbel. Mensch und Dichter im Werk, Bd. 10], S. 179 – 194, hier S. 179 f.), mit der Herodes und Mariamne als „Tragödie der Geschlechterdifferenzierung“ (S. 193) lesbar werde. Mariamnes Tod wird Saletta zur „Wiedervereinigung des Weiblichen mit dem toten Mann bzw. mit der Männlichkeit“. „[K]onkreterweise“ meint sie damit, dass es sich um eine „Geschlechterverschiebung zwischen Sex und Gender“ handle (ebd.) – eine Argumentation, die mit den theoretischen Implikationen der Begrifflichkeiten kaum in Einklang zu bringen ist. So die Überschrift des II. Teils von Posts Aufsatz (Das Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie, S. 28). Ebd., S. 38. Ebd. So die Überschrift des III. Teils von Posts Aufsatz, ebd. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 51. So lautet der Titel von Posts Aufsatz. Der Begriff der Maske, der signalisiert, es gebe etwas Vorgeschobenes, hinter dem sich das Eigentliche verberge, ist auch schon in einem früheren Beitrag von Peter Schütze zentral für Titel und Argumentation. Im Anschluss an Fontanes bereits mehrfach zitierte Kritik zu Herodes und Mariamne argumentiert Schütze, dass das „Kulturhistorische“ in der Tragödie eine methodische „Selbstbehinderung“ des Autors darstelle, mit der die „Verschiebung des Wesentlichen ins Kolorit, des nah Bedrängenden ins Fremde, Uneuropäische“ angestrebt werde (Die maskierte
5.3 Tektonik der Altertümer
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Wenn Post nach seiner Analyse der Struktur der Tragödie eine Entscheidung trifft, was als der eigentliche „Gehalt“³⁰⁵ von Herodes und Mariamne zu verstehen sei, dann wählt er eine von zwei möglichen Lesarten, die Benno von Wiese in einer frühen Analyse der Judith auf zwei Schlagworte gebracht hat: Man könne die Tragödie entweder als eine „moderne[] psychologisierende[] Geschlechtertragödie“ oder als „symbolische[s] Geschichtsdrama“ verstehen.³⁰⁶ Diese Alternative ist für die Interpretationsgeschichte des Dramas signifikant, denn tatsächlich entscheiden sich die meisten InterpretInnen in ihren Analysen von Hebbels erster Tragödie für eine dieser beiden Perspektiven und verlieren die andere dabei aus dem Blick.³⁰⁷
Idee, S. 105). Schütze wie Post stimmen darin überein, dass in dem Drama Geschichte als eine „Kette von Zeitaltern“ (Post: Das Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie, S. 55) erscheine. Im Gegensatz zu Post, für den dieses Geschichtsbild die „Aussage des Stücks“ (ebd.) darstellt, ist es für Schütze aber nur Äußerlichkeit: „Es sind nicht die abstrakten Ideenverknüpfungen, die hier in historische Gewänder vermummt sind, sondern darinnen stecken Figuren mit dem Gedankenhorizont des Neunzehnten Jahrhunderts, die in ein allgemeines Epochen- (‘Zeitwende’‐)Modell gezwängt wurden, das wiederum im empirischen Bilde der angeblichen Herodes-Zeit erscheint. […] Die ‘kulturhistorische’ Verkleidung bildet […] einen Panzer, der den Gefühlskonflikt vor dem direkten Hineinsehen schützt. Hebbels ‘Idee’ der Epoche scheint ins Äußerliche verschoben; die Verschiebung aber erlaubt, das Wesen des eigenen Jahrhunderts ertragen und darstellen zu können. […] Die Verallgemeinerung im alten Stoff ist die Maske von Hebbels Gefühlen und bildet die Dramaturgie des Geschehens.“ (Schütze: Die maskierte Idee, S. 107 f.). Schützes Argumentation stellt in gewisser Hinsicht die Verschärfung von Fontanes Kritik und der Position von Post dar (dessen Aufsatz allerdings erst nach demjenigen Schützes erschien). Ihm erscheint letztlich alles als Staffage, die dazu dient, Hebbels kritische Diagnose seiner eigenen Gegenwart so einzukleiden, dass sie für dessen Zeitgenossen erträglich werde. Post: Das Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie, S. 39. Von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, S. 572. Dass sich die maßgeblichen Interpretationen nach den beiden von Benno von Wiese vorgegebenen Achsen ordnen lassen, hat Alexandra Tischel gezeigt (Tragödie der Geschlechter, S. 30, Anm. 11). Die erste Gruppe, die unter dem Zeichen der Religions- und Geschichtsreflexion steht, umfasst demnach die Interpretationen der Judith von Gerhard Fricke, Herbert Kraft, Hartmut Reinhardt und Wolfgang Wittkowski. Vgl. Gerhard Fricke: Gedanken zu Hebbels „Judith“, in: Hebbel-Jahrbuch 1953, S. 9 – 27; Herbert Kraft: Über Hebbels „Judith“, in: Hebbel-Jahrbuch 1970, S. 57– 84; Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 69 – 144 und Wolfgang Wittkowski: Das Tragische in Hebbels „Judith“, in: HebbelJahrbuch 1956, S. 7– 27 (überarbeitet als: Hebbels „Judith“, in: Hebbel in neuer Sicht, hg.v. Helmut Kreuzer, 2. durchges. Aufl., Stuttgart u. a. 1969, S. 164– 184). Für die zweite Gruppe, die stärker auf den Geschlechterkonflikt fokussiert, nennt Tischel die Analysen von Birgit Fenner (Hebbel zwischen Hegel und Freud, insbesondere S. 161) und Ludger Lütkehaus (Verdinglichung. Zu Hebbels „Judith“, in: Hebbel-Jahrbuch 1970, S. 85 – 97). Es ist auffällig, dass in jüngeren Studien vornehmlich dieser zweite Aspekt in den Vordergrund getreten ist. Zu nennen wäre neben Tischels eigener Studie (vgl. für die Analyse der Judith S. 27– 64) auch Wolfgang Müller-Funk: „Die Welt dreht sich um.“ Hebbels Judith – ein Drama zwischen Emanzipationsfurcht und feministischer Antizipation, in: „Das Weib im Manne zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann“. Geschlechterkampf oder Geschlechterdialog: Friedrich Hebbel aus der Perspektive der Genderforschung, hg.v. Ester Saletta und Christa Agnes Tuczay, Berlin 2008 (Hebbel. Mensch und Dichter im Werk, Bd. 10), S. 163 – 177 und jüngst Lanz: „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“, S. 238 – 256. Beide Perspektiven im Blick hat Ewa Aleksandra Tobiasz, die in der Judith „eine doppelte Tragik, die Tragik der sich selbst verlierenden Nationalheldin und die Tragik der mißbrauchten Frau“ erkennt (Das biblische Buch Judit und Friedrich Hebbels Judith.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Im Folgenden soll am Beispiel der Judith und an Herodes und Mariamne kurz skizziert werden, dass die hierarchische Unterscheidung zwischen einer oberflächlichen ‘Maske’ und einem darunter liegendem ‘eigentlichem Thema’ die Struktur der Tragödien verfehlt. Dabei wird sich auch zeigen, dass sich durch eine integrale Perspektive weitreichende Konsequenzen für die Interpretation von Hebbels Altertumsdramatik ergeben, die über ein technisch-dramaturgisches Problem hinausgehen. Beide Texte müssen, so der Vorschlag, zugleich als ‘Geschichtsdramen’ und als ‘Tragödien der Geschlechter’ gelesen werden.³⁰⁸ Beide Begriffe meinen hier keine dezidierten Gattungsbezeichnungen, sondern angesprochen sind mit ihnen die aus der Forschungsgeschichte abgeleiteten Fragen, welche Themen in den Tragödien verhandelt werden und wie diese Themen die tragische Struktur der Texte bestimmen. Für Herodes und Mariamne soll hier ein kurzer Blick auf die zentrale Auseinandersetzung zwischen Mariamne und ihrer Mutter Alexandra im zweiten Akt der Tragödie genügen. Alexandra macht Mariamne dort zum Vorwurf, dass sie die treue Ehefrau des Herodes bleibe, obwohl dieser ihren Bruder Aristobolus getötet habe. Mariamnes Einwand gegen Alexandras Vorhaltungen, sie selbst habe doch der Heirat zugestimmt, begegnet diese mit einer Rekapitulation der politischen Überlegungen, die sie zu diesem Votum bewegten: Alexandra Ich nicht, mein feiger Vater schloß den Bund. […] Ich sag’ nur, der Entschluß ging aus von ihm, Dem ersten Hohenpriester ohne Muth, Und ich bekämpfte bloß den Widerwillen, Mit dem ich Anfangs ihn vernahm. Allein Ich that es, denn ich fand des Feiglings Handel In Kurzem gut, und gab für Edoms Schwert Die Perle Zions, als er drängte, hin! […] Ich erwartete von Dir, Daß Du den Kaufpreis nicht vertändeln würdest, Und daß Du den Herodes – Mariamne O, ich weiß! Ich hätte mir von ihm für jeden Kuß Im Voraus einen Kopf, der Dir mißfiel, Bedingen und zuletzt, wenn keiner Dir Mehr trotzte, als sein eig’ner, ihn zum Selbstmord Bewegen, oder auch, wenn das nicht ging, An ihm in stiller Nacht die Katzenthat Der Judith listig wiederholen sollen,
Ein Versuch über die Judit(h)-Figuren und ihre Identität, in: Einheit versus Vielheit. Zum Problem der Identität in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Grażyna Barbara Szewczyk, Katowice 2002, S. 20 – 34, hier S. 33). Vgl. die Titel von Posts Aufsatz (Das Geschichtsdrama in der Maske der Liebestragödie) und von Tischels Studie (Tragödie der Geschlechter).
5.3 Tektonik der Altertümer
Dann hätt’st Du mich mit Stolz Dein Kind genannt! Alexandra Mit größerem, als jetzt, ich läugn’ es nicht. Mariamne Ich zog es vor, dem Mann ein Weib zu sein, Dem Du mich zugeführt, und über ihn Die Maccabäerin so zu vergessen, Wie er den König über mich vergaß.
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(Vv. – )
In der Opposition von „Edoms Schwert“ und der „Perle Zions“ steht der mächtige Idumäer Herodes der Makkabäerin Mariamne gegenüber. Mariamne kann entweder Vertreterin der Makkabäer sein oder „dem Mann ein Weib“. Obwohl sie sich nicht Alexandras Kampf für die Fortsetzung der Herrschaftslinie der Makkabäer anschließt, sondern sich im Gegenteil für die Ehe, die Liebe und ihren Mann Herodes entscheidet, missdeutet dieser ihre Zeichen und wähnt, dass seine Frau ihm den Mord am Hohepriester Aristobolus so sehr übelnehme, dass sie sich von ihm abgewendet habe.³⁰⁹ Aus dieser Unvereinbarkeit der Ehe- bzw. Liebesbeziehung mit den machtpolitischen Ansprüchen, die insbesondere Mariamnes Makkabäertum impliziert, resultiert zu einem guten Teil die Tragik des Dramas.³¹⁰ Mariamnes Hinweis auf die Figur der Judith im oben zitierten Dialog ist dabei aufschlussreich. Denn in dem gleichnamigen Drama hat Hebbel gleichsam den Prototypen dieses tragischen Verfehlens von kultureller Zugehörigkeit und geschlechtlicher Identität entwickelt. Auf den ersten Blick ist vor allem Letzteres überpräsent: Wohl in keinem von Hebbels Dramen wird die heteronormative Ordnung der Geschlechter von den Figuren so exzessiv thematisiert und beschworen wie in der Judith. Die Protagonistin wird eingeführt als Frau, der nach ihrer eigenen Aussage „vor
Zur Missdeutung der Zeichen vgl. Hugo Aust: Hebbel aus realistischer Sicht am Beispiel von Theodor Fontanes Kritik über ‘Herodes und Mariamne’, in: Hebbel-Jahrbuch 51 (1996), S. 49 – 63. Wie oben bereits ausgeführt, sind es vor allem die Makkabäer, die in der Tragödie als eigenes Altertum inszeniert werden, durch genealogische Verweise ebenso wie durch ihre stete Benennung als Makkabäer. Abgesehen vom oben zitierten ‘Schwert Edoms’ werden die Idumäer hingegen nicht als eigene Linie, geschweige denn als Altertum konturiert, vgl. auch Kapitel 5.2.3.1. Der Konflikt, der bei Mariamne zwischen ihrer makkabäischen Herkunft und der Liebesbeziehung hergestellt wird, ist bei Herodes in die Opposition von Herrschaft und seiner Liebe zu Mariamne verlagert.Vgl. hierzu das Zitat oben und Herodes’ Liebesbekenntnis in I/3: „O Mariamne, frage nicht! / Du kennst den Zauber, der mich an Dich knüpft, / Du weißt, daß jeder Tag ihn noch verstärkte, / Du mußt es ja empfinden, daß ich jetzt / Nicht für mich kämpfen kann, wenn Du mir nicht / Versicherst, daß Dein Herz noch für mich schlägt! / […] Ich fühl’ es wohl, / Daß dies Bekenntniß keinem König ziemt; / Er sollte nicht dem allgemeinen Loos / Der Menschheit unterworfen, sollte nicht / Im Innern an ein Wesen außer sich, / Er sollte nur an Gott gebunden sein! Ich bin es nicht! […]“ (Herodes und Mariamne, Vv. 392– 409). Am Schluss verkehrt sich die hierarchische Opposition von Liebe und Herrschaft zugunsten seines Amts als König. Analog zu Mariamne, die zunächst ‘die Makkabäerin über ihre Liebe zu Herodes vergisst’, sich aber kurz vor ihrem Tod von ihrem Mann abwendet, um sich in die genealogische Linie der Makkabäer einzufinden, ersetzt Herodes den Platz, den seine Frau zuvor eingenommen hatte, nach ihrer Hinrichtung durch seine Krone: „Darum [weil nichts Mariamne ins Leben zurück bringen kann, F.K] bleib’ ich [Herodes, F.K.] noch / Und halte fest, was ich noch hab’! Das ist / Nicht viel, doch eine Krone ist darunter, / Die jetzt an Weibes Statt [sic!] mir gelten soll […].“ (Vv. 3290 – 3294).
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Männern schaudert“,³¹¹ und die doch offensichtlich nach dem Mann sucht, der es mit ihr aufnehmen kann und im Gegensatz zu ihrem verstorbenen Gatten Manasse imstande ist, sie zu deflorieren. Neben der „Triebdynamik“,³¹² die diesem wiederholt artikulierten Begehren eingeschrieben ist, verbindet Judith mit dem unerfüllten Wunsch nach Beischlaf die Sehnsucht danach, einer klar umrissenen Bestimmung der Frau als Mutter zu entsprechen: Judith […] Ein Weib ist ein Nichts; nur durch den Mann kann sie Etwas werden; sie kann Mutter durch ihn werden. Das Kind, das sie gebiert, ist der einzige Dank, den sie der Natur für ihr Dasein darbringen kann. Unselig sind die Unfruchtbaren, doppelt unselig bin ich, die ich nicht Jungfrau bin und auch nicht Weib!³¹³
Erst Holofernes, der Assyrer und Übermann, macht sie schließlich vom „Nichts“ zum „Weib“, allerdings mit verhängnisvollen Folgen.³¹⁴ Bevor es aber dazu kommt, bietet Judith ihre Jungfräulichkeit in einer Art Tauschhandel innerhalb des eigenen Lagers an, nämlich dem ungeliebten, ihr aber im Moment seiner eigenen Erregung plötzlich männlich-attraktiv erscheinenden Ephraim.³¹⁵ „Geh hin und tödte den Holofernes! Dann – dann fordere von mir den Lohn, den Du willst!“,³¹⁶ lautet ihr Angebot. Schon hier sind die beiden Hauptmotive für Judiths Handeln untrennbar miteinander verflochten, denn würde Ephraim die Tat gelingen, dann würde zum einen das hebräische Volk befreit, zum anderen aber auch ihr Wunsch nach einem starken und in ihrer Logik wahrscheinlich potenten Mann erfüllt.³¹⁷ Ephraim aber schlägt das Angebot angsterfüllt aus, und erst durch sein Versagen, die von ihr bestimmte soziale Rolle eines Mannes auszufüllen, sieht Judith sich berechtigt, selbst tätig zu werden: Judith […] Und ist Deine [Ephraims, F.K.] Feigheit die Deines ganzen Geschlechts, sehen alle Männer in der Gefahr Nichts, als die Warnung, sie zu vermeiden – dann hat ein Weib das Recht erlangt auf eine große That, dann – ha, ich hab’ sie von Dir gefordert, ich muß beweisen, daß sie möglich ist!³¹⁸
Von Anfang an sind Judiths Gründe dafür, in das Lager der Assyrer zu gehen, ambivalent. Sie umfassen die Sorge um ihr Volk, den Wunsch, Holofernes leibhaftig zu
Hebbel: Judith, S. 15. Birgit Fenner: Judiths Unbedingtheitsspiel. Der Kampf von Anerkennung und Selbstfindung der Frau bei Hebbel, in: Friedrich Hebbel. Neue Studien zu Werk und Wirkung, hg.v. Hilmar Grundmann, Heide 1982, S. 31– 45, hier S. 42. Hebbel: Judith, S. 19. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass sich Judith nach ihrer gewaltsamen Defloration nur noch „Weib“ nennt, ihre Magd Mirza dagegen als „Mädchen“ anspricht (ebd., S. 67 ff.). Zuvor sorgte Judith sich, dass sie Ephraim einen ihrer „Röcke[] borgen müsse“. Erst als sein „Auge flammt“ und sich seine „Faust ballt“, interessiert sie sich für ihn (ebd., S. 22). Ebd., S. 23, Vv. 6 – 8. Ähnlich auch Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 49. Hebbel: Judith, S. 24.
5.3 Tektonik der Altertümer
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sehen,³¹⁹ und Judiths im Bild der jungfräulichen Witwe traumatisch gesteigerte sexuelle Frustration. Im Lager der Assyrer laufen diese verschiedenen Fäden zusammen. Schon mit dem Angebot an Ephraim wird eine Nähe von Beischlaf und Mord hergestellt.³²⁰ Durch Mirza wird diese Assoziation noch intensiviert, indem die Dienerin den gewaltsamen Akt von Judith und Holofernes mit einem Mord verwechselt: Mirza (allein). Still! Ja, still! Ich glaube, dort (Sie deutet auf das Schlafgemach.) wird Jemand ermordet; ich weiß nicht, ob Holofernes oder Judith! [….] O Judith! Judith! Als Du zum Holofernes kamst und ihm mit einer Verstellung, die ich nicht faßte, Dein Volk in die Hände zu liefern versprachst, da hielt ich Dich einen Augenblick für eine Verrätherin. Ich that Dir Unrecht, und ich fühlte es gleich. O, mögte ich Dir auch jetzt Unrecht thun! Mögten Deine halben Worte, Deine Blicke und Geberden mich auch jetzt täuschen,wie damals! Ich habe keinen Muth, ich fürchte mich sehr; aber nicht die Furcht spricht jetzt aus mir, nicht die Angst vor dem Mißlingen. Ein Weib soll Männer gebären, nimmermehr soll sie Männer tödten!³²¹
Dieser Ohrenzeugenbericht des Beischlafs von Holofernes und Judith nimmt zum einen den Mord an Holofernes vorweg, den Judith zwar nicht zu diesem Zeitpunkt begeht, aber kurz darauf verüben wird. Zum anderen werden hier bereits die Ambivalenzen artikuliert, an denen Judith später zerbrechen wird. Deutlich empfindet die Magd den Hiat zwischen der Verantwortung vor dem hebräischen Volk und den Verhaltensmaßstäben, die in ihrem und Judiths Regelsystem das eigene Geschlecht vorgibt. Anders als ihre Herrin ist sie aber in der Lage, diesen Konflikt eindeutig aufzulösen. Wichtiger als die politische und religiöse Verantwortung gegenüber dem hebräischen Volk wiegen in ihren Augen die sozialen Grenzen, die dem weiblichen Geschlecht gesteckt sind. Sah Judith sich ermächtigt, diese Grenzen zu überschreiten, weil die Männer in Bethulien ihrerseits nicht in der Lage waren, die andere Seite dieses polar verfassten Geschlechterentwurfs, nämlich das auf Stärke, Macht und Tatendrang bauende Männlichkeitskonzept zu erfüllen, so erinnert demgegenüber Mirza ungerührt an die von Judith eingangs eingeführte Bestimmung der Frau, Kinder zu gebären. All das wird Judith zum Verhängnis, nachdem sie Holofernes tatsächlich enthauptet hat und ihre Tat gegenüber der verstörten Mirza zu verteidigen sucht: Judith […] Es ist eine Heldenthat, denn Jener war Holofernes und ich – ich bin ein Ding, wie Du! Es ist mehr, als eine Heldenthat; ich mögte den Helden sehen, den seine größte That nur halb so viel gekostet hat, wie mich die meinige. Mirza Du sprachst von Rache. Eins muß ich Dich fragen. Warum kamst Du im Glanz Deiner Schönheit in dies Heidenlager? Hättest Du es nie betreten, Du hättest Nichts zu rächen gehabt!
So entgegnet Judith auf Ephraims Beschreibung des gewalttätigen Holofernes: „Ich mögt’ ihn sehen“, um sogleich über sich selbst erschrocken à part hinzufügen „Was sagt’ ich da!“ (ebd., S. 20). Vgl. Tischel: Tragödie der Geschlechter, S. 49. Hebbel: Judith, S. 67.
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Judith Warum ich kam? Das Elend meines Volks peitschte mich hierher, die dräuende Hungersnoth, der Gedanke an jene Mutter, die sich ihren Puls aufriß, um ihr verschmachtendes Kind tränken. O, nun bin ich wieder mit mir ausgesöhnt. Dies Alles hatt’ ich über mich selbst vergessen! Mirza Du hattest es vergessen. Das also war’s nicht, was Dich trieb, als Du Deine Hand in Blut tauchtest! Judith (langsam, vernichtet.) Nein, – nein, – Du hast Recht, – das war’s nicht, – Nichts trieb mich, als der Gedanke an mich selbst. O, hier ist ein Wirbel! Mein Volk ist erlös’t, doch wenn ein Stein den Holofernes zerschmettert hätte – es wäre dem Stein mehr Dank schuldig, als jetzt mir! Dank? Wer will den? Aber jetzt muß ich meine That allein tragen, und sie zermalmt mich! Mirza Holofernes hat Dich umarmt.Wenn Du ihm einen Sohn gebierst: was willst Du antworten, wenn er Dich nach seinem Vater fragt? Judith O, Mirza, ich muß sterben, und ich will’s.³²²
Judiths Tragik besteht darin, dass sie ihre wahren Beweggründe für den Mord erkennen muss.³²³ Sie hat nicht als Vertreterin und Verteidigerin ihres Volks und ihrer Religion den Kopf des assyrischen Anführers abgeschlagen, sondern als „Weib“,³²⁴ das in seiner Würde verletzt ist. Ihre Verfehlung ist dabei eine doppelte: Durch den Mord unterläuft sie die von ihr selbst eingangs exzessiv beschworene phallozentrische Ordnung, in der nur der Mann eine aktive Rolle einnehmen kann, die Frau sich dagegen passiv verhalten muss. Indem sie darüber hinaus im Moment der Tat, die ihrem Geschlecht ohnehin nicht zusteht, nur an ihre eigene Entehrung denkt, stellt sich diese als purer Racheakt dar und nicht als heroische Aufopferung für das eigene Volk. Der durch Mirza angestoßene Reflexionsprozess gipfelt in Judiths Reaktion auf die Frage danach, was sie tun werde, sollte sie einen Sohn gebären. Ausgerechnet die Möglichkeit, dass die so unglücklich Verwitwete nunmehr der eingangs sehnsüchtig vorgetragenen Aufgabe ihres Geschlechts nachkommen könnte, droht sie nun zu vernichten. Auch wenn Judith sich ihrer Magd zuliebe nicht sofort selbst richtet, weil letztere alleine nicht aus dem Lager der Assyrer entkommen könnte, perspektiviert das Tragödienende deutlich ihren Tod: Der erste Priester
Du [Judith, F.K.] hast Dich um Volk und Kirche hoch verdient gemacht. Nicht mehr auf die dunkle Vergangenheit, auf Dich darf ich von jetzt an deuten, wenn ich zeigen will, wie groß der Herr, unser Gott ist! Priester und Fordre Deinen Lohn! Aelteste
Ebd., S. 71 f. Vgl. auch Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 90. Hebbel: Judith, S. 68.
5.3 Tektonik der Altertümer
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Judith
Spottet Ihr mein? (zu den Aeltesten) Wenn’s nicht heilige Pflicht war, wenn ich’s lassen durfte, ist’s dann nicht Hochmuth und Frevel? (zu den Priestern) Wenn das Opfer verröchelnd am Altar niederstürzt, quält Ihr’s mit der Frage, welchen Preis es auf sein Blut und Leben setzt? (nach einer Pause, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt.) Und doch, ich fordre meinen Lohn! Gelobt mir zuvor, daß Ihr ihn nicht weigern wollt! Aelteste und Wir geloben’s! Im Namen von ganz Israel! Priester Judith So sollt Ihr mich tödten, wenn ich’s begehre! Alle (entsetzt). Dich tödten? Judith Ja, und ich hab’ Euer Wort. Alle (schaudernd). Du hast unser Wort! Mirza (ergreift Judith beim Arm und führt sie vorwärts, aus dem Kreis heraus.) Judith! Judith! Judith Ich will dem Holofernes keinen Sohn gebären! Bete zu Gott, daß mein Schooß unfruchtbar sei. Vielleicht ist er mir gnädig!³²⁵
In der Figur des Sohns von Judith und Holofernes kreuzen sich die Gegenstände, um die es in der Tragödie geht. Mirzas Frage danach, was sie einem Sohn antworten werde, wenn dieser wissen wolle, wer sein Vater sei, spricht erstens das Problem an, das aus der phallozentrischen Geschlechterordnung resultiert: Judith kann Holofernes kein Kind gebären, weil sie dessen Vater ermordet hat und damit ihrer geschlechtlichen Bestimmung so stark widersprochen hat, dass sie sich das Recht auf Mutterschaft verwirkt hat. Dass Judith und Mirza die potentielle Schwangerschaft stets auf die Geburt eines Sohnes – und nicht eines Kindes, das Sohn oder Tochter sein könnte – perspektivieren, unterstreicht nicht nur die patrilineare Logik ihres Denkens und die Angst davor, ein männlicher Nachkomme könne der alttestamentalischen Vergeltungsregel des „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut“ folgend zum „Muttermörder“ werden.³²⁶ Sondern mit dem potentiellen Sohn wird darüber hinaus zweitens das Problem der verschiedenen Religions- und Kulturkonzepte und der genealogischen Fortführung von Geschichte verhandelt:³²⁷ Mit einem Stammhalter würde der
Ebd., S. 80 f., Hervorh. i.O. Letzteres entspricht Hebbels eigener Deutung des Tragödienschlusses in Mein Wort über das Drama! (1843) (Zitate W XI, S. 14). Im Weiteren müsste natürlich präzisiert werden, um welche Religions-, Herrschafts- und Geschichtskonzepte es im Einzelnen geht. Da es mir darauf an dieser Stelle aber nicht ankommt, sondern ich vielmehr zeigen will, dass und wie diese verschiedenen Konfliktfelder mit dem der Geschlechterdifferenz poetologisch in Beziehung gesetzt werden, verweise ich hier lediglich auf die Studien von Kraft (Über Hebbels „Judith“) und Reinhardt (Apologie der Tragödie, S. 69 – 145), in denen die Geschichts- und Religionsbilder der Tragödie differenziert in den Blick genommen werden. Allerdings zeigt Reinhardts Deutung von Judiths Todeswunsch abermals das Problem einer Analyse, die Hebbels Tragödien unter die Annahme eines ‘Primats der Form’ zwingt. Weil es Reinhardt nicht gelingt, Judiths Todeswunsch in seine Interpretation der Tragödie schlüssig einzureihen, die er unter das Zeichen einer komplexen und kritischen Auseinandersetzung mit der „theokratischen Autorität“ (S. 131) stellt, wird dieser Wunsch ihm zur Bestätigung, dass am Ende Hebbels Formwille über seinen Willen zum Thema der Tragödie gesiegt habe: „Das Postulat der Form ist es, das am Schluß dominiert […]. Das Aufein-
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gewaltsame Sexualakt von Judith und Holofernes den Anfang einer genealogischen Linie begründen.³²⁸ Dieser Verbindung der verschiedenen Altertümer mit ihren radikal differenten Konnotierungen – auf der einen Seite das kleine, in den Bergen abgegrenzt lebende hebräische, dem monotheistischen Glauben zugewandten Volk der Bethulier, auf der anderen Seite die expansive assyrische, heidnisch-polytheistische Macht – kann im Tragödienschluss nur entgangen werden, indem Judith auf ihre Unfruchtbarkeit oder den eigenen Tod hofft.³²⁹ Wie in Herodes und Mariamne markiert der Todeswunsch auch hier ein Ende der Geschichte. Was bei der makkabäischen Königin in eine Negation der eigenen Geschichte mündet, entspricht bei der bethulischen Witwe der Beendigung einer assyrisch-hebräischen genealogischen Synthese, bevor diese eigentlich begonnen hat. *** In der Judith ebenso wie in Herodes und Mariamne gelingt die strukturelle Verflechtung der verschiedenen Problemfelder, indem die Hauptfiguren sowohl geschlechtlich als auch über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Altertümern einander polar entgegengesetzt sind. In beiden Texten lässt sich die Polarität zwischen den Figuren nicht einfach als doppelte Motivierung auflösen. Es ist im Gegenteil gerade die Verknüpfung beider semantischer Felder, mit der die Tragik des Geschehens in Gang gesetzt wird. Das lässt sich leicht durch eine Gegenprobe verifizieren: Nähme man Judith ihre (anfängliche) Sorge um ihr Volk, wäre ihr Mord an Holofernes nicht tragisch, weil die Hebräerin dann als Frau nie allein das Lager der Assyrer hätte betreten und sich Holofernes ausliefern dürfen. Würden hingegen die geschlechtlichen Kodierungen im
andertreffen von Hebbels Problembewußtsein mit dem Erfordernis der Gattung führt am Ende in eine Aporie. Es ging darum, die tragische Form in der religiösen Sphäre zu bewähren, durch sie den christlich-kirchlichen Autoritätsanspruch zu überprüfen oder, was dasselbe besagt, über sie zur Aufstellung religionsunabhängiger Normen zu kommen. Diese Tendenz bricht sich aber an einer gattungspoetisch diktierten Anerkennung der angefochtenen theokratischen Autorität.“ (S. 130 f.). Reinhardt argumentiert hier ähnlich wie im Zusammenhang mit dem Tragödienschluss von Herodes und Mariamne, den er ebenfalls als Tribut an die Gattung Tragödie versteht, der Hebbels eigenen Absichten und Überzeugungen zuwider laufe. Aufschlussreicher, als die Widerständigkeit des Tragödienschlusses unter Hebbels angeblich manische Verteidigung der Gattung Tragödie zu subsumieren, erschiene es, ihn in seiner grundsätzlichen Ambivalenz ernst zu nehmen. Dies gilt umso mehr, als das Ende die von Reinhardt identifizierte Problematisierung der theokratischen Autorität sehr wohl aufnimmt: Judiths Todesbegehren würde dann als Thematisierung des Konflikts sichtbar, in den das Individuum durch den Spagat zwischen Gottesglaube und Selbstermächtigung gestellt wird, und der (vermittelte) Suizidwunsch – denn nichts anderes ist Judiths Aufforderung, man möge sie töten – würde lesbar in seiner Spannung zwischen Gotteskritik und –ehrfurcht. Dass das nur bedingt der jüdischen Logik entspricht, in der zumindest die religiöse Zugehörigkeit der matriarchalen Linie folgt, kann hier vernachlässigt werden, weil in der Tragödie eine solche Logik nicht im Ansatz angesprochen, sondern im Gegenteil ein deutlich patriarchales gesellschaftliches System aufgerufen wird. Zwischen Unfruchtbarkeit und Tod besteht in Judiths Denken kein kategorialer Unterschied, ist „ein Weib“ doch „ein Nichts“ (Hebbel: Judith, S. 19), wenn es nicht gebären kann (s.o.).
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Text fehlen, die Markierung ihrer Tat als ‘unweiblich’, und die Konstellation, dass Judith in dem Moment, in dem sie das Schwert hebt, als ‘Weib’ und nicht als Vertreterin der Hebräer handelt, dann wäre ihr Mord als diejenige Heldentat für ihr Volk zu verstehen, als die ihn die apokryphen Texte ausweisen. Das Unvermögen der Figuren, ihren im Text geschlechtlich ausgewiesenen Bedürfnissen und Bestimmungen nachzukommen, kollidiert regelmäßig mit den Ansprüchen, die ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Altertum impliziert. In den Tragödien laufen daher keineswegs zwei Konfliktfelder unverbunden nebeneinander her, sondern es ist gerade ihr Ineinandergreifen, das die Tragik in Gang setzt. Das kann einerseits verstanden werden als Technik: nämlich als Technik der ‘notwendigen Motivierung’ des tragischen Konflikts. Aber diese Technik einer dramaturgischen Verknüpfung von Geschlecht und Altertumskulturen hat zugleich Konsequenzen für den ‘Gehalt der Tragödie’: Denn mit der Mehrfachkodierung der Figuren werden auch stets zwei Konfliktfelder zentral gesetzt. Die Unterscheidung zwischen einer oberflächlichen und einer darunter liegenden Sinnebene, auf der das eigentliche Thema lokalisiert ist, kann angesichts der dramentektonischen Beschaffenheit der Tragödien kaum befriedigen. Es ist nicht möglich, den einen Konflikt dem anderen unterzuordnen, wie es verschiedene Interpretationen wiederholt nahegelegt haben. Sondern das spezifische Ineinandergreifen von Geschlecht und Altertum in Hebbels Tragödien macht sie zu ‘Geschlechtertragödien’ und zugleich zu ‘Geschichtstragödien’.
5.3.3 Zur Wissensökonomie und Semiotik der Altertümer – Die drei Könige, Kandaules und Brunhild Die bisherigen Analysen haben gezeigt, dass die Semantik der Altertumskulturen maximal bedeutsam für Hebbels Tragödien ist. Allerdings entfalten die Altertumskulturen ihr Bedeutungspotential häufig erst nach komplexen Dechiffrierungsleistungen. Bemerkt worden ist das in der Forschung bisher nur für den Auftritt der drei Könige in Hebbels Herodes und Mariamne. ³³⁰ Prägnant formuliert findet sich die Beobachtung, dass der Auftritt der drei Könige allein durch das biblisch-christliche Wissen der RezipientInnen verständlich wird, schon bei Heinrich von Treitschke, der darin offensichtlich einen ästhetischen Mangel des Stücks sah: Die neue Welt, die aus der zerfallenden alten Ordnung sich erhebt, tritt nicht leibhaftig vor uns hin, sie wird uns lediglich angedeutet durch einen symbolischen Zug; und nur weil wir historische Schulbildung besitzen, errathen wir, was uns das Kunstwerk selber nicht sagt, daß die heiligen drei Könige, die am Schlusse von „Herodes und Mariamne“ plötzlich auftreten, den Anbruch der christlichen Gesittung vorstellen sollen.³³¹
Vgl. etwa Kraft: Poesie der Idee, S. 189 f. und Reinhardt: Apologie der Tragödie, S. 391. Heinrich von Treitschke: Zur Geschichte des deutschen Dramas, in: Ders.: Historische und Politische Aufsätze, Neue Folge, Zweiter Theil. Leipzig 1870, S. 634– 743, hier S. 725.
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Nun kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die „historische Schulbildung“ im 19. Jahrhundert in den allermeisten Fällen so ausgeprägt war, dass die heiligen drei Könige als Verkünder einer neuen, christlichen Epoche dechiffriert werden konnten. Trotzdem benennt Treitschkes Kritik einen wichtigen Punkt, denn ohne ein Minimum an biblischem oder volkstümlich-christlichem Wissen ist der Auftritt dreier fremd gekleideter Könige, die einen judäischen König nach einem neuen König fragen, tatsächlich vollkommen pointenlos und unverständlich. Zum Vergleich kann noch einmal Rückerts Herodes und Mariamne angeführt werden. Dort „tritt“, in Anlehnung an Treitschke formuliert, „[d]ie neue Welt“, das Christentum, wirklich „leibhaftig vor uns“ hin, denn das Geschehen auf der Bühne wird spätestens durch den Abschlussmonolog des Engels unmissverständlich in einem christlichen Heilsplan verortet. Bei Rückert ist die neue Botschaft des Christentums damit im Drama selbst explizit formuliert. Demgegenüber baut Hebbel auf die christliche Semiotik der Könige und damit letztlich tatsächlich auf die Bildung der RezipientInnen, denen es überlassen bleibt, die Zeichen richtig zu deuten. Diese semiotische Praxis gilt in Hebbels Dramen allerdings nicht nur für die Figuren der drei Könige, sondern sie betrifft im Gegenteil weite Teile seines ästhetischen Umgangs mit den Altertumskulturen. Das zeigt sich exemplarisch auch an anderen Stellen in Herodes und Mariamne: Nur wenn man um das Ende der relativen Autonomie Judäas nach Augustus’ Sieg weiß und zudem in Titus den späteren Eroberer Jerusalems vor Augen hat, erschließt sich, warum ausgerechnet der Römer den zusammenbrechenden Herodes auffängt. Nur diejenigen, denen die biblische Geschichte um die Rettung von Moses nicht unbekannt ist, können Joabs Kommentar auf Herodes’ Kindsmordbefehl („Ich weiß warum! Doch Moses ward gerettet, / Trotz Pharao“ [Vv. 3311 f.]) als Verweis auf die Flucht von Maria und Joseph mit Jesus nach Ägypten verstehen und damit als weiteren Hinweis auf das Christentum als neue kulturelle Macht im historischen Gefüge. Und nur wenn man das persische Altertum als altes Reich versteht – älter als Judäa – wird mit der Figur des Dieners Artaxerxes in die Tragödie ein historischer Umbruch vom altpersischen in den altjüdischen Kulturraum eingeschrieben. Das dramentechnische Verfahren, das Treitschke auf den Begriff des ‘symbolischen Zugs’ bringt, durchzieht die gesamte Tragödie. Gefordert ist also eine beständige Aktualisierung von Altertumswissen, das über die Einordnung der heiligen drei Könige als Verkünder einer neuen Epoche des Christentums weit hinausgeht. Dieses Verfahren ist in wirkungsästhetischer Hinsicht ein poetisch durchaus riskantes Unterfangen. Denn wenn die korrekte Dechiffrierung der Zeichen misslingt, bricht das Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ zusammen und ganze Sinnebenen der Tragödien gehen verloren. In diesem Zusammenhang ist der bereits zitierter Brief vom Mai 1856 an Karl Werner noch einmal aufschlussreich, in dem Hebbel die Befürchtung äußert, sein Gyges werde „einen schweren Stand haben“ haben, weil es „nicht leicht“ sei, „sich aus der modernen Welt heraus in eine Anschauung zu ver-
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setzen, wornach [sic!] das Weib bloß Sache war […].“³³² Wie gesehen, ist es für die Logik der Figur wichtig, dass Kandaules’ Besitzerstolz durch seine lydische Herkunft motiviert wird. Denn sein Verhalten gegenüber seiner Frau erschiene andernfalls als so moralisch falsch und zugleich als so kontingent, dass es ihn als tragische Figur disqualifizieren würde. Signifikant ist in diesem Zusammenhang der Unterschied, der zwischen den Konzeptionen von Rhodope und Kandaules besteht. Wenngleich die Einstellungen und das Verhalten der beiden Figuren durch die Zugehörigkeit zu je unterschiedlichen Kulturräumen des Altertums motiviert sind, so ist die Technik der Motivation doch verschieden. Zwar motiviert Rhodopes indisch-griechische Herkunft ihre unantastbare Keuschheit und ihren Drang, die Verletzung derselben unerbittlich zu sühnen, ähnlich wie Kandaules’ lydische Herkunft seinen Umgang mit Rhodope begründet. Aber bei Rhodope wird diese Verknüpfung von Herkunft und Keuschheit in der Tragödie explizit hergestellt. Immer wieder wird Bezug genommen auf ihre Herkunft und auf die Gesetze, die sie in ihrer Jugend verinnerlicht hat und derentwegen sie ‘nicht anders kann’. Kandaules’ Besitzerstolz wird demgegenüber als gegeben vorausgesetzt, seine lydische Herkunft soll ohne weitere Hinweise ausreichen, um seinen Umgang mit Rhodope zu begründen. Hebbel meint in seinem Brief an Werner, die Lektüre Homers müsse als „Vorbereitung“ genügen, um seinen Gyges und insbesondere die Figur des Kandaules zu verstehen. Diese Argumentation setzt nicht nur voraus, dass der Trojanische Krieg um Helena strukturell gelesen werden muss als Verdinglichung der Frau, sondern darüber hinaus verlangt sie auch eine komplexe Übertragungsleistung, wenn die Bedeutungsdimensionen des trojanisch-griechischen Krieges um eine Frau (in dem Lydien keine Rolle spielt) auf Kandaules’ Umgang mit Rhodope appliziert werden sollen. Wer nicht in der Lage ist, diese „Basis“ der Figur des Königs selbst herzustellen, die Hebbel in Referenz auf Homer als „historisch gegeben[]“ versteht, dem erschließt sich Kandaules’ Drang, die eigene Frau gegen ihren Willen einem ihr fremden Mann heimlich wie „den reinsten Diamant“ vorzuführen, im Zweifelsfall tatsächlich nicht als „natürlich“³³³ – mit der Konsequenz, dass Kandaules’ Handeln kritischer wahrgenommen wird, als es der tragischen Struktur des Geschehens gut tut. Hebbels Sorge, sein Gyges werde wegen der Figur des Kandaules „einen schweren Stand haben“, wird vor dem Hintergrund dieses zwar prinzipiell quellengestützten, aber durchaus eigenwilligen Assoziogramms einsichtig. Denn eine Semiotik der Altertumskulturen, die nicht im Horizont der RezipientInnen lag, gefährdete die Wirkung von Hebbels Tragödienprojekten. Hebbel war sich offensichtlich bewusst, dass seine poetologische Praxis des Umgangs mit den Altertumskulturen ein hermeneutisch riskantes Unterfangen darstellte. Davon zeugt auch ein Brief an Friedrich von Uechtritz vom November 1856. Hebbel berichtet dort von seiner Arbeit an den Nibelungen und beschreibt, wie er eine
Friedrich Hebbel an Karl Werner, 16. 5.1856, B III, Nr. 1616, S. 283. Ebd.
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Reihe von Problemen überwunden habe, die sich ihm in der Konzeption der Brunhild gestellt hätten: Die schwerste Aufgabe war die Brunhild, die in das Ganze, wie eine nur halb ausgeschriebene Hieroglyphe hineinragt; hier mußte ich auf eine Schöpfung rechnen und sie ist mir, zur Belohnung für meinen Muth, auch zur rechten Zeit gekommen. Dabei erlebte ich einen kleinen Triumph. In meinem Bilde flossen Walkyrie und Norne untrennbar zusammen, und das beängstigte mich, als sich nach dem Rausch die Reflexion wieder einstellte; da fand ich zu meiner Beruhigung in Grimms Deutscher Mythologie, daß man sich Nornen und Walkyrien auch wirklich in den ältesten Zeiten als vereinigt gedacht hat.³³⁴
Im Bild der nur ‘halb ausgeschriebenen Hieroglyphe’ wird die Walküre Brunhild des Nibelungenliedes zum korrupten Zeichen deklariert, das ergänzt werden muss, um entzifferbar zu sein. Hebbel inszeniert seine eigene Konzeption der Figur als genialischen Schöpfungsakt, in dem „Walkyrie und Norne untrennbar zusammen“ geflossen seien. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang sein euphorischer Verweis auf Jacob Grimms Deutsche Mythologie. Darin unternimmt Grimm im sechzehnten Kapitel über weise frauen einen ausführlichen Vergleich von „nornen“ und „valkyrien“ und kommt durch verschiedene etymologische und mythologische Vergleiche zu dem Ergebnis, man dürfe beide „nicht völlig voneinander trennen“.³³⁵ Wenn Hebbel die Lektüre der Deutsche[n] Mythologie in seinen eigenen Worten nicht nur ein „kleine[r] Triumph“, sondern darüber hinaus „Beruhigung“ gewesen sein soll, lässt das darauf schließen, dass es ihm bei der Brunhild um ein ähnliches Problem ging wie im Fall des Kandaules. Offensichtlich war ihm daran gelegen, die eigenen Schöpfungen von Figuren durch Referenzen auf ein historisches oder mythologisches Wissen von den Altertümern zu legitimieren. Die im literarischen Schöpfungsakt vervollständigte, nunmehr lesbare ‘Hieroglyphe’ Brunhild kann nach Hebbel offensichtlich nur dann als Zeichen funktionieren, wenn sie auf etwas verweist, das außerhalb seines eigenen Werks existiert. Hebbels Freude über seinen Fund bei Grimm entpuppt sich so als Ausdruck seines Bestrebens, die Konzeption der Figur Brunhild durch einen Bezug zu einem zeitgenössischen Wissen von der nordischen Mythologie zu stabilisieren. Darum wird ihm seine Lektüre der Deutsche[n] Mythologie zur „Beruhigung“, obgleich Grimm die Nähe von ‘Valkyrien’ und Nornen dort nur durch ausgesprochen aufwändige und nicht leicht zugängliche (Re‐)Konstruktionsakte herstellt, man also bei aller Popularität des Werks, das zu Hebbels Zeiten bereits in dritter Auflage erschienen war, kaum von einem diskursiv gefestigten Wissen sprechen konnte. Dies gilt zumal, da Hebbel selbst bis zur Lektüre von Grimms Deutsche[r] Mythologie der potentielle Zusammenhang zwischen den beiden mythologischen Gestalten nicht als aktives Wissen bewusst war. Friedrich Hebbel an Friedrich von Uechtritz, 21.11.1856, B III, Nr. 1677, S. 357. Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, 3. Ausgabe, Göttingen 1854, Bd. 1, S. 397, Hervorh. i.O. Für Grimms gesamte Diskussion der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Nornen und ‘Valkyrien’ vgl. ebd., S. 388 – 398.
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Ein letztes Beispiel mag Hebbels Problembewusstsein im Umgang mit den ästhetischen Potentialen der Altertümer noch einmal belegen. In einem Tagebuchnotat aus dem Jahr 1863 erinnert sich Hebbel gut sechs Jahre nach dem Brief an Uechtritz abermals an seine Konzeption der Figur der Brunhild und stellt dabei zugleich einen Zusammenhang mit den drei Königen aus Herodes und Mariamne her, zu einem Zeitpunkt also, als die Fertigstellung dieser Tragödie immerhin mehr als 14 Jahre zurückliegt: Gestern las ich zum ersten Mal in Simrocks Sammlung das alte Volksbuch von den heiligen drei Königen und war nicht wenig erstaunt, als ich daraus ersah, daß ich diese Figuren in Herodes und Mariamne gerade so angelegt habe, wie sie hier gefaßt sind; sie wissen Nichts von einander, sie wohnen in ganz verschiedenen Ländern und treffen erst in Jerusalem zusammen, ganz, wie in meinem Stück. Das war mir eine große Freude. Schon einmal, in den Nibelungen, bei der Conception der Brunhild, hatte ich eine ähnliche. Ich erschrack, als ich merkte, daß mir Norne und Valkyre zusammen rannen und konnte sie doch nicht aus einander halten, war und blieb aber höchst unzufrieden. Da ging ich einmal in Grimms Deutscher Mythologie spatzieren, denn so muß man’s wohl nennen, wenn man sich mit diesem confusen Buch beschäftigt, und entnahm daraus, daß Nornen und Valkyrien ursprünglich wirklich Eins sind.³³⁶
Die drei Könige und Brunhild gleichen sich in Hebbels Erinnerung darin, dass er sie in beiden Fällen zunächst frei konzipiert hatte, im Nachhinein aber historische Quellen fand, die die Figurenkonzeption legitimieren konnten – im Fall der drei Könige mehr als ein Jahrzehnt später. Hebbel inszeniert im Brief an Uechtritz ebenso wie in dem Tagebuchnotat die eigene Arbeit mit den Figuren des Altertums als schöpferischen Vorgang, der aber offensichtlich einer bestimmten Intuition folgt und schließlich Rückhalt in den Quellen findet. An diesem Rückhalt war ihm offenbar sehr gelegen. Das wird deutlich, wenn er im Brief an Uechtritz schreibt, er sei „höchst unzufrieden“ gewesen, bis er seine eigene Konzeption der Brunhild mit dem philologisch-mythologischen Wissen aus Grimms Deutscher Mythologie in Einklang bringen konnte. Offensichtlich war für seine Poetologie der Altertümer nicht entscheidend, dass diese Stabilisierung auf der Grundlage möglichst allgemein bekannter oder akzeptierter Quellen beruhte, auf einem diskursiv gefestigten Altertumswissen also. Es ging vielmehr allein darum, dass überhaupt eine Referenz auf ein externes historisches oder mythologisches Altertumswissen hergestellt werden konnte. Darum suchte er für den Fall, dass sein Gyges bei den Rezipientinnen einen „schweren Stand“³³⁷ haben würde, die Verantwortung nicht bei sich, sondern vielmehr in deren mangelnder Homer T IV, Nr. 6065, 23.1.1863, Hervorh. i.O. Die von Karl Simrock herausgegebenen Deutschen Volksbücher erfreuten sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit. Hebbel rekurriert hier auf das Buch von Johannes von Hildesheim, in dem der entsprechende Passus lautet: „Jeder der drei Könige war eines der drei Indien Herr, und als der Stern erschien, weilten sie nicht bei einander, sondern so fern geschieden, daß Keiner von dem Andern wuste.“ Karl Simrock (Hg.): Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt, Bd. 4, Frankfurt/Main 1846, dort Johannes von Hildesheim: „Die heiligen drei Könige“, S. 419 – 474, hier S. 430. Friedrich Hebbel an Karl Werner, 16. 5.1856, B III, Nr. 1616, S. 283.
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Lektüre. Hebbels Auseinandersetzung mit der Referenzstruktur seiner Figuren- und Altertumskonzeptionen ist daher allenfalls sekundär als wirkungsästhetisch begründet zu verstehen. Kandaules funktionierte als Figur in seinen Augen durch seine lydische Herkunft grundsätzlich auch dann, wenn er wusste, dass das zeitgenössische Publikum die Motivierung dieser Figur unter Umständen nicht entschlüsseln konnte. Primär musste die komplexe Semiotik der Altertümer in der Tektonik der Tragödie vor allem für Hebbel selbst und nach seinen eigenen Regeln funktionieren.
5.4 Epilog: Hebbels Poetologie der Altertümer und ihr Scheitern im Moloch-Projekt Im Verlauf der Untersuchung ist deutlich geworden, dass Hebbels vielfacher Rückgriff auf historische oder mythologische Altertumsstoffe zentrale poetologische Funktionen erfüllt. Diese Funktionen der verschiedenen Altertumskulturen konnten allerdings nur unter zwei Voraussetzungen in den Blick kommen: Zum einen musste die in der Forschung verbreitete Annahme entkräftet werden, Hebbels Tragödien gehorchten einem spezifischen ‘Formzwang’ und erschöpften sich darin, Exemplifikationen einer vorausgesetzten gattungstheoretischen Bestimmung der Tragödie zu sein. Zum anderen durften die Altertumskulturen nicht in ihrer Gesamtheit unter homogenisierende Schlagworte wie ‘Exotismus’, ‘Orient’ oder ‘Archaik’ rubriziert werden, sondern mussten in ihrer Pluralität und Differenz wahrgenommen werden. Zweifellos war Hebbel als Dramatiker ein Techniker, der seine Dramen im vollen Bewusstsein der Regeln des zeitgenössischen Gattungsdiskurses schrieb. Die tragische Gattung erfüllt sich in seiner Dramatik in der dramaturgischen Struktur. Versteht man Hebbel als gewieften Dramenkonstrukteur, dann müssen neben den eingelösten Gattungserwartungen allerdings auch die dramaturgischen Brüche in seinen Tragödien ernst genommen werden. Das hat sich in der ausführlichen Analyse von Herodes und Mariamne vielfach erwiesen, etwa am Auftritt der drei Könige, der bisher vor allem als technisch misslungen oder als eine dem geschichtsphilosophischen Horizont der Tragödie geschuldete Kompromisslösung verstanden wurde. Mit Blick auf die Bedeutung der Altertumskulturen ist im Gegenteil sichtbar geworden, dass dem dramentektonischen Bruch eine kritische Reflexion des hegelianischen Geschichtsmodells entspricht. Die Tektonik der Tragödie ist damit nicht zu trennen von der spannungsreichen Konstellation der Altertumskulturen. Dieses dramaturgische Verfahren lässt sich auch an den anderen Altertumsdramen verfolgen, so dass man ihm poetologische Qualitäten zuschreiben muss: Dass es die Konkurrenz verschiedener Altertümer ist, mit der die tragische Struktur gestaltet wird, hat sich in der Analyse des Gyges und seiner spezifisch triadischen Konstellation der Altertumskulturen bestätigt. Am Beispiel der Judith hat sich darüber hinaus gezeigt, dass die Tragödien neben der konfliktiven Konkurrenz der Altertümer regelmäßig das höchst spannungsreiche Verhältnis der
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Geschlechter in Szene setzen. Die tragische Dynamik des Geschehens entsteht hier wie auch in Herodes und Mariamne aus der Überlagerung der beiden Konfliktfelder. Hebbels Poetologie der Altertümer korrespondiert mit einer komplexen Semiotik der Altertumskulturen, die auf ein breites, höchst differenziertes mythologisches und altertumskundliches Wissen baut. Implizite Voraussetzung für die Entstehung von Hebbels Altertumsdramen um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist darum die Ausbildung der Epistemologie eines pluralen Altertumskonzepts. Die philologischen, altertumswissenschaftlichen und auch ästhetischen Differenzierungen verschiedener, voneinander divergierender Altertumskulturen waren die Basis für Hebbels komplexe Poetologie der Altertümer. Hebbels Altertumsdramatik war erst zu diesem Zeitpunkt möglich, als das Konzept ‘Altertum’ bereits plural geworden war. Die Aktualisierung dieses Altertumswissens ist die Voraussetzung dafür, dass das tragische Prinzip der ‘notwendigen Motivierung’ seine Wirkung entfalten kann. Hebbels Tragödien stellen darum aus rezeptions- und wirkungsästhetischer Perspektive außerordentlich riskante Unterfangen dar, weil ganze Sinnebenen der Tragödien wegbrechen, wenn die Aktualisierung dieses Wissens im Rezeptionsprozess nicht gelingt. Dass Hebbels virtuoses Spiel mit den pluralisierten Altertümern nicht nur wirkungsästhetisch, sondern auch in seiner eigenen Dramenpraxis an seine Grenzen stoßen konnte, lässt sich abschließend an jenem Projekt zeigen, mit dem Hebbel lange Zeit den Wunsch verband, es möge sein „Hauptwerk“³³⁸ werden. Die Rede ist von seinem Drama Moloch, das den Autor über zwei Jahrzehnte beschäftigte und am Ende doch Fragment geblieben ist. Erste Ideen zu seinem Großprojekt notierte er schon 1837 in sein Tagebuch,³³⁹ der erste Akt war vorläufig im Herbst 1845 fertig gestellt und wurde im Juni 1849 überarbeitet. Der zweite Akt war im Oktober 1850 abgeschlossen. Vom dritten und vierten Akt existieren teils ausgearbeitete Szenen und Notizen,vom fünften Akt nur noch die Skizze.³⁴⁰ Anfang der 1850er Jahre beschäftigten Hebbel dann Pläne, den Moloch musikalisch auf die Bühne zu bringen. Er nahm Kontakt zu Friedrich Wilhelm Kücken, Franz Lachner und Robert Schumann auf, allerdings ohne dass daraus konkrete Pläne gefolgt wären. 1852 schrieb er noch voller Zuversicht an Arnold
So Hebbel selbst wiederholt über den Moloch, vgl. etwa T II, Nr. 2464, 10. 2.1842 und Friedrich Hebbel an Arnold Ruge, 15.9.1852, B II, Nr. 1162, S. 552. Vgl. die Notiz: „Der Stifter einer Religion, Sujet für ein Trauerspiel.“ (T I, Nr. 586, 17.1.1837). Zur Entstehungsgeschichte des Moloch vgl. Kraft: Poesie der Idee, S. 140 – 146; Heinrich Saedler: Hebbels Moloch. Ein Kultur- und Religionsdrama,Weimar 1916, S. 2– 52 und Werner: Einleitung. „Moloch“,W V, S. XXX-XXXIII. Nachdem der Moloch lange Zeit kaum beachtet wurde, steht das Projekt im Fokus einiger jüngerer Untersuchungen, vgl. Carl: Hebbels Moloch – Tragödie ohne Helden; Monika Ritzer: Der funktionalisierte Moloch. Zu Hebbels Kulturbegriff am Beispiel eines Dramenprojekts, in: Schriften der Wiener Hebbel-Gesellschaft, Bd. 5,Wien 1995, S. 47– 66; Andrea Stumpf: Die Priesterherrschaft. Zur Frage ihrer Legitimation in Hebbels Moloch, in: Hebbel-Jahrbuch 1992, S. 53 – 76 und dies.: Literarische Genealogien. Untersuchungen zum Werk Friedrich Hebbels,Würzburg 1997 (Epistemata, Bd. 229), S. 128 – 145.
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Ruge, der Moloch sei „seinem Abschluß nah“.³⁴¹ Tatsächlich aber arbeitete er nur noch sporadisch an dem Stück und schrieb 1861 lakonisch in sein Tagebuch: „Moloch einmal wieder hervorgezogen; schon vergilbt.“³⁴² Das Scheitern dieses ambitionierten Tragödienprojekts verrät viel über die Grenzen von Hebbels Poetologie der Altertümer. Auffällig ist die eigenwillige Konstellation der Altertumskulturen. Entwickelt wird ein freies Assoziogramm verschiedener geschichtlicher Ereignisse und der Trias Karthago – Rom – Thule. Dabei werden in der Tragödie gleich zu Beginn alle Erwartungen gebrochen, die mit der Verwendung der karthagischen Moloch-Religion und der Konstellation Karthago–Rom potentiell verbunden sein könnten: Die Handlung des Stück setzt ein, nachdem Karthago durch die Römer zerstört wurde.³⁴³ Hieram, ein karthagischer Greis und illegitimer Halbbruder Hannibals, landet in Thule. Bei sich führt er die Statue des Gottes Moloch, die er aus „Karthagos Gluten“³⁴⁴ gerettet hat. Er selbst glaubt zwar nicht mehr an die transzendentale Macht des Molochs, aber er hofft, mit Hilfe des religiösen Kultus das in Thule ansässige rohe und zugleich starke Volk zu zivilisieren, mit dem dahinterliegenden Ziel, in diesem den Hass gegen Rom zu schüren. Denn mit den starken „Deutsche[n]“,³⁴⁵ so sein Kalkül, könnte er Rache an Rom üben. Das Volk der Teutonen schließt sich Hieram nach einem eindrucksvollen Kinderopfer im Schlund des Molochs tatsächlich an – allerdings gegen den Willen des bisherigen Königs Teut, der von seinem gleichnamigen Sohn im zweiten Akt niedergerungen wird, um fortan in einer Höhle sein Leben zu fristen, betreut von dem Mädchen Theoda. Die anfangs sittenlosen Teutonen sind tief beeindruckt von der grausamen Moloch-Religion und entwickeln unter der Anführung Hierams und des jungen Teut religiöse Riten – mit deutlich christlichen Zügen bis hin zur Feier des Abendmahls–, roden ihre Wälder, um Ackerbau zu betreiben, und erlernen die Kulturtechniken des Lesens und des Handwerks. Hieram verfolgt dabei weiter sein Ziel, in den Teutonen den Wunsch zu nähren, gegen Rom in den Kampf zu ziehen. Nach Hebbels Plan sollten aber umgekehrt die Römer selbst in Thule landen. Im dritten Akt wird ein römisches Schiff erwähnt, im vierten Akt sollte offenbar der Angriff der Römer auf die Teutonen erfolgen. Parallel zu diesen Ereignissen, die im Fragment kaum ausgeschrieben sind, wird Hieram der Lüge überführt. Es stellt sich heraus, dass der Hain, in dem der Moloch steht, trotz der Warnungen des Karthagers ohne Lebensgefahr betreten werden kann. Der Moloch verfügt also nicht über die tödliche Macht, die Hieram beschworen hatte, um die Teutonen zu bewegen, die Statue als Götzen zu verehren. Nachdem der junge Teut Hieram im vierten Akt zur Rede stellt, gibt dieser seine Unredlichkeit zu. Hieram selbst
Friedrich Hebbel an Arnold Ruge, 15.9.1852, B II, Nr. 1162, S. 553. T IV, Nr. 5940, 17.12.1861. Vgl. auch Ritzer: Der funktionalisierte Moloch, S. 48. Hebbel: Moloch, S. 199, V. 111. So bezeichnen Hieram und Rhamnit, der Oberpriester des Molochs, die in Thule ansässigen Menschen, vgl. etwa Moloch, S. 201, V. 141.
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beginnt nun aber, an den Moloch zu glauben, und verlangt, „vom Fels herab“³⁴⁶ gestürzt zu werden, nicht ohne noch einmal zum Kampf gegen Rom aufzurufen. Die Anlage des fünften Akts, den Hebbel nur noch skizziert hat, zeigt die Verselbstständigung der Moloch-Religion. Obwohl sie wissen, dass von der Gottesstatue nicht die ursprünglich angenommene Gefahr und Kraft ausgeht, folgen nun auch Theoda und der alte Teut der Moloch-Religion. Das Ende perspektiviert den Aufbruch der Teutonen – der Schlussvers lautet dem Fragment zufolge: „Jetzt nach Rom!“³⁴⁷ Trotz der eigenwilligen Handlung und Figurenkonstellation des Moloch unterscheidet sich die Tragödie im poetologischen Verfahren grundsätzlich nicht von Hebbels übriger Altertumsdramatik. Denn auch hier ist die vorgeführte triadische Konstellation Rom-Karthago-Thule nicht ohne jeden Rückhalt in der historischen Überlieferung. Das Tragödienfragment verbindet verschiedene mythologische und historische Überlieferungen miteinander. Zu nennen wären zunächst die drei augenfälligsten Referenzen, nämlich der Sieg Roms über Karthago (146 v.Chr.), die MolochReligion und natürlich Thule als Ort des Geschehens. Hebbels Thule entsteht aus einer Überblendung des mythischen Orts im Norden mit einer Darstellung der „Deutschen Urzustände“.³⁴⁸ Die kämpferische Begegnung von Römern und Teutonen/Deutschen im vierten Akt hat ebenso wie der Aufbruch nach Rom, der am Ende der Tragödie angesprochen ist, ein denkbares Vorbild im Zug der Kimbern, Teutonen und Ambronen nach Italien (113 – 101 v.Chr., Hebbel selbst verweist in einem Brief darauf ³⁴⁹) und in den germanischen Völkerwanderungen (ca. 375/376 – 568 n.Chr.).³⁵⁰ Und auch die vielleicht zunächst am eigensinnigsten erscheinende Konstellation der Altertumskulturen, die Verbindung des Mittelmeerraums mit dem nördlichen Thule, hat einen möglichen Rückhalt in der Reise des antiken Geographen Pytheas von Massilia.³⁵¹
Ebd., S. 263, Z. 7. Ebd., S. 264, Z. 24. So Hebbel im Brief an Gustav Kühne über den Moloch (28.1.1847, B I, Nr. 453, S. 859). Vgl. Friedrich Hebbel an Gustav Kühne, 28.1.1847, B I, Nr. 453, S. 859. Kraft sieht im Schlussruf „Jetzt nach Rom!“ (Hebbel: Moloch, S. 264, V. 24) eine noch weitere „historische Perspektive eröffnet“ und nennt neben der Zerstörung Karthagos, dem Zug der Kimbern und Teutonen und der germanischen Völkerwanderung auch noch „410 Einnahme Roms durch Alarich; 455 Einnahme Roms durch die Vandalen; 493 – 526 Regierung Theoderichs des Großen; 568 Eroberung Norditaliens durch die Langobarden; 800 Krönung Karls des Großen.“ (Poesie der Idee, S. 147 f.). Vgl. für die zeitgenössischen Diskussionen im 19. Jahrhundert exemplarisch Gustav Moritz Redslob: Die phönicischen Handelswege nach dem Norden insbesondere nach dem Bernsteinlande sowie Die Reise des Pytheas von Massilien, Leipzig 1855. Dass die dramatische Konstellation der Altertumskulturen abwegig erscheint, hat schon Heinz Stolte bemerkt: „Durch die semitischen Phöniker war der Molochkult auch nach Karthago gekommen. Das erste, was […] an Hebbels Konzeption als ein origineller Einfall verblüffen mag, ist die Paradoxie, daß wir, sobald sich der Vorhang zum ersten Akt hebt, dies orientalisch-afrikanische Götzenbild an der Nordseeküste in einem germanischen Eichenhain erblicken.“ Auch Stolte verweist auf den antiken Reisenden Pytheas, endet allerdings bei Spekulationen über die genaue geographische Situierung des Schauplatzes: „Welch ein ‘Thule’ hier gemeint ist, läßt sich übrigens nur vermuten, da die Beschreibung des Pytheas von Massilia, der es im
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Kapitel 5: Friedrich Hebbels Altertumsdramatik
Hebbels Tragödienprojekt erweist sich so als Resonanzraum verschiedener zeitgenössischer Wissensbestände, die unterschiedliche Konstellationen der Altertümer ermöglichen. Der Fragmentierung dieser Wissensbestände zum Trotz lässt sich hier eine ähnliche Semiotik der Altertumskulturen beobachten, wie sie sich auch anhand der Figuren der Brunhild, des Kandaules und der drei Könige gezeigt hat. Obgleich in dieser Verweisstruktur die poetologische Logik des Moloch Hebbels sonstiger Altertumsdramatik gleicht, besteht aber doch ein fundamentaler Unterschied zu den anderen Tragödien: Der Moloch ist der einzige Text, der nicht auf eine Hauptquelle oder eine Gruppe von wenigen konkret benennbaren literarischen oder historiographischen Quellen zurückzuführen ist. Hebbels Judith stützt sich auf das biblisch-apokryphe Buch Judit; Herodes und Mariamne fußt auf Flavius Josephus Jüdische[n] Altertümer[n] sowie dessen Jüdische[m] Krieg, wobei der Schluss die Ereignisse aufruft, die in den Evangelien geschildert werden;Vorlage für Gyges und sein Ring war vor allem die Überlieferung der Geschichte durch Herodot; und mit den Nibelungen dramatisierte Hebbel das Nibelungenlied. ³⁵² Diese Quellen unterschiedlicher Provenienz gaben den einzelnen Tragödien von Beginn an ein stoffliches und dramaturgisches Gerüst, innerhalb dessen er Altertumskulturen hinzufügen und in Konkurrenz zueinander setzen konnte. Nun mag es heikel erscheinen, für das Scheitern eines literarischen Projekts, das stets auch kontingenten Umständen ausgesetzt ist, einen konkreten Grund zu benennen. Verschiedene Mutmaßungen wurden in diesem Zusammenhang zum Moloch schon geäußert. So argumentiert Herbert Kraft, die geschichtsphilosophischen Anliegen, die Hebbel mit dem Moloch verbunden habe, seien vor Fertigstellung des Projekts durch andere Dramen eingelöst worden, weshalb der Moloch obsolet geworden sei; Monika Ritzer verortet das Scheitern in Hebbels Unvermögen, die in dem Text angelegte Individual- und Geschichtsperspektive miteinander zu vereinen; und
4. Jahrhundert v.Chr. auf einer Seefahrt entdeckt hat, offen läßt, ob es eine Insel (Shetlands?) oder die nördlichste Festlandküste (Norwegen?) gewesen ist. Hebbel aber hat ohne Zweifel an die West- oder Nordküste Jütlands gedacht, die Urheimat der Kimbern und Teutonen, und vielleicht dachte er sich den weiteren Umkreis der Dramenhandlung gar unter Einschluß seiner Wesselburener Heimat.“ (Das Molochfragment. Zugleich ein Beitrag zur Beurteilung der Italienreise Hebbels, in: Hebbel Jahrbuch 1962, S. 94– 113, hier S. 101 f.). Fragment geblieben ist auch Hebbels Christus-Drama, das auf die Ereignisse zurückgreifen sollte, die in den Evangelien geschildert sind. Es ist aber an Umfang und Gewicht mit dem Moloch-Projekt nicht zu vergleichen. Hebbel kam mit dem Christus-Projekt kaum über eine erste Ideen- und Szenenskizze hinaus, was für viele andere Dramenprojekte auch galt. Das Moloch-Fragment aber beschäftigte den Autor nachweislich über zwei Jahrzehnte und die ersten beiden Akte sind zumindest vorläufig abgeschlossen worden. Zudem verband er, wie gesehen, mit dem Projekt lange Zeit den Wunsch, es möge sein ‘Hauptwerk’ werden. Dass der Moloch Fragment geblieben ist, hat daher einen anderen Stellenwert als die fehlende Ausführung des Christus-Projekts, an dem Hebbel nie ernsthaft angefangen hatte zu arbeiten.
5.4 Epilog: Hebbels Poetologie der Altertümer und ihr Scheitern im Moloch-Projekt
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Rolf-Peter Carl macht das Fehlen eines eigentlichen dramatischen Helden für das Scheitern verantwortlich.³⁵³ Nach den bisherigen Ausführungen aber drängt sich noch ein ganz anderer Verdacht auf: Hebbel trieb im Moloch das poetologische Prinzip seiner Semiotik der Altertümer auf die Spitze. Auch in anderen Altertumsdramen entwarf er zwar Konstellationen von Altertumskulturen, die nicht durch Quellen belegt sind. Zu denken ist etwa an den Perser Artaxerxes in Herodes und Mariamne oder an die triadische Konstellation griechisch-lydisch-griechisch/indisch im Gyges. Aber anders als in diesen Tragödien wurde im Moloch Hebbels freies Spiel mit den Altertumskulturen durch kein stoffliches Gerüst mehr gehalten. Hebbels Poetologie der Altertümer brach daher während der Arbeit am Moloch zusammen, und das Manuskript wanderte in die Schublade, wo es langsam vergilbte.
Vgl. Kraft: Poesie der Idee, S. 144 f.; Ritzer: Der funktionalisierte Moloch und Carl: Hebbels Moloch – Tragödie ohne Helden.
Zum Schluss Im Februar des Jahres 1837, drei Jahre bevor sein erstes Drama Judith uraufgeführt wird, schreibt der von Rheuma geplagte und in ärmlichen Verhältnissen lebende 24-jährige Student Friedrich Hebbel aus München an Elise Lensing einen Brief, in dem er eine Idee zu einem Werk andeutet, das er für geeignet hält, um sich mit einem Schlag dauerhaft als literarischer Autor zu etablieren und finanziell zu sanieren. Es ist ein Alexanderdrama: Wenn ich 2 sorgenfreie Jahre hätte, so – glaub’ ich – würd’ ich mich darin für alle Zukunft, auch in pecuniairer Hinsicht, sicher stellen können. Es ist mir neulich ein hoher dramatischer Stoff, deß gleichen noch nie behandelt ist u den auch nur Wenige behandeln könnten, entgegen getreten, der Character Alexanders des Großen, dessen ganzes Leben (wie ich in einer Vorlesung von Görres, die ich zufällig hörte, zum ersten Mal erfuhr) unter dem Zweifel, ob er ein Sohn von König Philipp, oder von Jupiter Ammon sey, verstrich. Zustände der Art sind einzig u das Unermeßliche ist in ihrem Gefolge; aber der Dichter, der sie zur Anschauung bringen will, muß sie ganz u gar durch jene Zeit, durch ihre Denkweise, zu begründen suchen. Es sind mithin die umfassendsten Studien, namentlich in Bezug auf macedonische, persische u. egyptische Geschichte, erforderlich, und wie soll ich die in meinen jetzigen Verhältnissen möglich machen? Deutschland, theuerstes Vaterland, für 2 Mal 200 Thaler kann Du einen unvergänglichen Alexander erstehen – willst Du?¹
Für nur 400 Taler innerhalb von zwei Jahren ein innovatives Drama mit kanonischem Ewigkeitswert: Hebbels (mehr oder weniger augenzwinkernde) pathetische Behauptung der eigenen literaturgeschichtlichen Originalität und seine selbstbewusste Einschätzung der Erfolgsaussichten, die sein Alexanderdrama im Jahr 1837 bzw. 1839 im literarischen Feld gehabt hätte, entbehren nicht einer gewissen Ironie, wenn man an Clärobscürs nachdrückliches Insistieren auf seiner Originalität und an die hitzigen Auseinandersetzungen um Uechtritz’ Alexander und Darius denkt, die zehn Jahre zuvor kurzfristig die Berliner Theaterszene in Atem hielten.Vermutlich wusste Hebbel von all dem nichts, aber so oder so kam es schließlich auch nicht zur Umsetzung seiner hochfliegenden Pläne.² Vielleicht hätte das Drama tatsächlich Aussicht auf Erfolg gehabt, nicht zuletzt im Vergleich mit den vorangegangenen Alexanderdramen der 1820er Jahre, die weit davon entfernt sind, eine ähnlich komplexe Poetologie der pluralen Altertümer zu etablieren, wie sie Hebbel in seinem Brief mit dem Hinweis auf die Begründung der dargestellten Zustände „ganz u gar durch jene Zeit, durch ihre Denkweise“ und die Notwendigkeit der „umfassendsten Studien, namentlich in Bezug auf macedonische, persische u. egyptische Geschichte“ andeutet. Hebbels Verfahren, die semantischen Valenzen verschiedener Altertumskulturen so weit wie möglich zum Fundament seiner dramatischen Konstellationen zu machen,
Friedrich Hebbel an Elise Lensing, 21. 2.1837, B I, Nr. 89, S. 158, Hervorh. i.O. Hebbel selbst wusste, dass das „theuerste[] Vaterland“ ihm das nötige Geld nicht zukommen lassen würde, und fährt zynisch fort: „Willst du? Du schweigst, und Du hast Recht, denn für die nämliche Summe kannst Du 60 neue Triller der [Opernsängerin, F.K.] Demoiselle Faßmann […] haben.“ (Ebd.). DOI 10.1515/9783110473353-007
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wird wenig später tatsächlich im Zentrum der Poetologie seiner Altertumsdramen stehen. Dass diese komplexe Ästhetik überhaupt möglich wurde, ist die Folge der Entstehung einer pluralen Ordnung der Altertümer. Die Prozesse dieser Pluralisierung des Altertums, so hat sich im 1. Kapitel gezeigt, setzen im ausgehenden 18. Jahrhundert ein. Die terminologische Unterscheidung zwischen einem ‘klassischen Altertum’ auf der einen Seite, und einem in sich immer weiter diversifizierbaren Altertum auf der anderen Seite, die sich um 1800 verfestigt, bringt die epistemologische Verschiebung von einem synthetischen zu einem pluralen Konzept des ‘Altertums’ auf Begriffe. Ausgerechnet die Implementierung der klassischen Antike als normative Bezugsgröße erwies sich in diesem Kontext als pluralisierender Faktor: Durch interne Hierarchisierungen von Griechenland und Rom wurden früh Denkfiguren der Konkurrenz im Antikediskurs erprobt, und durch die (zunächst implizite, dann explizite) Unterscheidung zwischen einer ‘historischen’ Antike auf der einen Seite und einer ‘idealen’, normativ wirksamen Antike auf der anderen Seite wurden Möglichkeitsräume für ihre Relativierung eröffnet. Konkret zeitigten insbesondere der Entwurf der klassischen Philologie als einer umfassenden historischen Altertumswissenschaft und ihre nachhaltige Institutionalisierung pluralisierende Effekte, indem die neuen historischen und philologischen Methoden, die am paradigmatischen Gegenstand der klassischen Antike entwickelt worden waren, auf die Erforschung anderer alter Kulturen übertragen wurden. In der Konsequenz erweiterte sich das Spektrum der Altertumswissenschaften – und damit auch der Altertümer – entscheidend. Darüber hinaus waren es die spezifischen Diskurse des Nationalen im deutschsprachigen Raum zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die dazu führten, dass verschiedene Altertumskulturen als wichtige Referenzpunkte für nationale Selbstentwürfe profiliert wurden. Das galt vor allem für die Konstituierung des ‘eigenen’ vaterländischen Altertums, aber auch für das alte Indien und Persien, die durch verschiedene Konstruktionen insbesondere in Zusammenhängen der Mythenforschung und vergleichenden Sprachwissenschaft in ein genealogisches Verhältnis zur eigenen Nation und Kultur gebracht wurden. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bildete sich damit ein plurales Feld verschiedener Altertumskulturen aus, auf dem die normative Geltung der klassischen Antike brüchig werden konnte. Auch der Gattungsdiskurs des Dramas, so hat das 2. Kapitel gezeigt, blieb nicht unberührt von diesen epistemologischen Verschiebungen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war im deutschsprachigen Raum das griechische Theater des 5. Jahrhunderts v. Chr. als umfassende normative Bezugsgröße etabliert worden, während im Gegenzug das römische Theater im Vergleich dazu als epigonal disqualifiziert worden war. Die Geltung dieses griechisch-antiken Paradigmas zeichnet sich deutlich in Hegels Ästhetik ab, deren Dramentheorie sowohl systematisch als auch in historischer Perspektive um das Muster der attischen Tragödie zentriert ist. Die dramatische Literatur orientalischer Provenienz wird aus den dramentheoretischen Gattungsdiskussion durch entsprechende definitorische Setzungen a priori als vollständig undramatisch ausgeschlossen. In solchen idealistischen dramentheoretischen Diskursen konnte das Ende des 18. Jahrhunderts von dem Briten Jones übersetzte
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altindische Drama Sakuntala, das in Europa enormen Anteil an der neuen Indienbegeisterung hatte, keinen eigenen Ort beanspruchen. Die unerwartete Existenz eines Dramas aus einer alten Kultur jenseits des Horizonts der griechischen Antike eröffnete gleichwohl in anderen Kontexten Spielräume zum Angriff auf die normative Geltung klassizistischer Regeln. Als Mustertext, der eigenen poetologischen Regeln folgte, die mit der griechische Tragödie und Komödie nicht zur Deckung zu bringen waren, dem zugleich aber eine ähnliche Anciennität zugeschrieben wurde, wurde das altindische Drama neben den Dramen Shakespeares und Calderóns zu einem wichtigen Bestandteil in den Bemühungen um eine eigene Gattungstradition des romantischen Dramas. Weil sich die Traditionslinie nicht ähnlich bruchlos zeichnen ließ wie im Fall der klassizistischen Rückgriffe auf das Theater der griechischen Antike, behalf man sich mit Argumentationsfiguren, die Shakespeare und Calderón (und in der Folge auch ‘romantische Dramen’ jüngeren Datums) in ein enges geistiges Verwandtschaftsverhältnis zu den alten Indern rückten. Während die Analyse des dramentheoretischen Gattungsdiskurses eine Konstellation von zwei Altertumskulturen mit konkurrierender Geltung sichtbar gemacht hat, zeichnet sich die historische Ausstattungspraxis im Theater der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine breitere Pluralisierung verschiedener Altertumskulturen aus. Die Entwicklung auf diesem Feld war ebenfalls geeignet, die normative Geltung der klassischen Antike in Frage zu stellen. Das dritte Kapitel hat rekonstruiert, wie bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts maßgeblich am Paradigma des ‘antiken Kostüms’ eine neue historische Semiotik der Kostüme entwickelt wurde, die schon früh durch eine mehr oder weniger enge Orientierung an antiken Quellen bestimmt war. Nach einigen früheren Ansätzen waren es vor allem Goethes Weimarer Versuche, die (römisch‐)antike Aufführungssituation näherungsweise wieder herzustellen, die neue Spielräume für ein Theater eröffneten, das mit den zeitgenössischen Sehgewohnheiten brach und sich weitaus enger als bisher an alten Quellen orientierte. Goethes Interesse an einer solchen Neukonfiguration der historischen Semiotik des Kostüms blieb auf eine kleinere Zahl von antikisierenden Theaterexperimenten beschränkt. Demgegenüber sorgte sein begeisterter Anhänger Karl von Brühl dafür, dass nur wenig später in Berlin die historisierende Perspektive in der Bühnenpraxis zum ästhetischen Prinzip erhoben wurde. Brühls Ausstattungsreform, an der Schinkel im Dekorationswesen maßgeblich beteiligt war, beschleunigte den Prozess einer umfassenden Ausdifferenzierung des Altertums. Weil der Bruch mit der gewohnten Bühnenästhetik, den seine altertumswissenschaftlich informierte Orientierung an historischen Quellen zur Folge hatte, nun von den Zeitgenossen deutlich wahrgenommen wurde, war sein Projekt vielfach harscher Kritik ausgesetzt. Tatsächlich lag ihm ein grundlegend neues Verständnis des Theaters zu Grunde: Es wurde zur musealen ‘Kunstlehranstalt’, mit der Bühne als zentralem Reflexionsraum für Prozesse einer kunsthistorischen und archäologischen Wissenserweiterung. Nach dieser Neubestimmung der Funktion des Theaters kollidierte Brühls Ausstattungspraxis mit einem Verständnis von Theater, in dessen Zentrum die dramatischen Texte und die Schauspielkunst standen.
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Dieser Hiat zwischen dramatischem Text und einer als unangemessen empfundenen Ausstattungspraxis prägte auch, wie im 4. Kapitel im Kontext der Untersuchung von zeitgenössischen Alexanderdramen gezeigt wurde, die Diskussion um Friedrich von Uechtritz’ Alexander und Darius am Berliner Hoftheater im März 1826. Die beiden titelgebenden Helden aus verschiedenen Altertumskulturen boten sich paradigmatisch an für grundsätzliche dramentheoretische Auseinandersetzungen, die sich an den spezifischen Valenzen der Konfrontation von Persien und Griechenland für die Gattung des Dramas entzündeten. Indes folgt Uechtritz’ Drama selbst keiner eigenen Ästhetik und Poetik der Altertumskulturen. Brühls und Schinkels historische Ausstattungspraxis, mit der die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Repräsentation der beiden Altertümer gelenkt wurde, stand daher quer zum Dramentext. Die Gegenüberstellung der drei Alexanderdramen aus den 1820er Jahren mit denjenigen aus den 1870er Jahren hat anschließend gezeigt, dass sich im Verlauf von knapp fünfzig Jahren eine Bühnenästhetik der Altertumskulturen ausgebildet hatte, die auch in den dramatischen Texten Wirkung zeitigte. In den späten Alexanderdramen ist die Visualität der differenten Altertumskulturen Teil der dramaturgischen Konzeption. Mit der fest etablierten (ästhetischen) Pluralität der Altertumskulturen konnte zudem die alte Frage, ob Alexanders Eroberungszüge als aggressive Expansionspolitik oder Synthese von Orient und Okzident zu werten seien, in das Zentrum der Dramen rücken. Während in den Alexanderdramen Georgs von Preußen und Hans Herrigs aus den 1870er Jahren vor allem die visuellen Valenzen der Altertumskulturen für die dramaturgische Anlage der Dramen genutzt wurden, entwickelte Hebbel eine echte Poetologie der Altertümer, wie sich im fünften und letzten Kapitel gezeigt hat. Hebbels Figuren und ihre Handlungen sind über die ihnen zugeordneten Altertumskulturen und deren semantischen Horizonte determiniert. Die Dramaturgie seiner minutiös durchkonstruierten Tragödien ist gekoppelt an die spannungsreiche Konstellationen verschiedener, miteinander konkurrierender Altertümer. Seine Tragödien fußen damit auf einer komplexen Semiotik der Altertumskulturen, die ein differenziertes mythologisches und altertumskundliches Wissen voraussetzt. Erst in der Dechiffrierung dieser Semiotik der Altertümer entfalten die tektonischen Anlagen und Brüche seiner Tragödien ihre volle Bedeutung. Hebbels Poetologie der Altertümer lässt sich darum als volle Entfaltung des ästhetischen Potentials verstehen, das im 19. Jahrhundert mit der Pluralisierung des Altertums entstand. An die Zusammenschau der Ergebnisse der Untersuchung lassen sich zwei knappe Andeutungen anschließen, wo weitere Forschungsdiskussionen ansetzen könnten: Zunächst wäre in methodischer Hinsicht nach den weiteren Erkenntnispotentialen einer integralen Perspektive auf die zeitgenössische dramatische Gattungstheorie, die Ausstattungspraxis und die Dramentexte zu fragen. Die Untersuchung hat versucht zu zeigen, dass sich die Ausbildung einer Ästhetik der pluralen Altertümer tatsächlich an der Schnittstelle zwischen dem Gattungsdiskurs des Dramas, der neu entstehenden historischen Bühnenästhetik und der zeitgenössischen Altertumsdramen abspielt und dass sich ihre Dimensionen nur im gemeinsamen Blick auf alle drei Gegenstandsfelder erschließen. So hat sich etwa am Beispiel der Alexanderdramen, aber auch im Kontext
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der Diskussion von Hebbels Dramen erwiesen, dass die Gattungserwartungen und die neue Bühnenästhetik Rückkopplungseffekte auf die Ästhetik der Altertümer in den Dramentexten zeitigen. Und auch umgekehrt gilt, dass sowohl die Alexanderdramen als auch Hebbels Dramatik zu wichtigen Exempeln und Prüfsteinen insbesondere im hegelianisch geprägten Gattungsdiskurs werden. Die Reihe solcher Berührungspunkte ließe sich fortsetzen, auch über den Gegenstandsbereich der vorliegenden Studie hinaus. Darum kann man die vorliegende Untersuchung auch als Hinweis darauf lesen, dass eine noch ausstehende Integration von theater- und literaturwissenschaftlichen Perspektiven geeignet wäre, wichtige literatur- und theatergeschichtliche Prozesse komplexer zu beschreiben oder überhaupt erst sichtbar zu machen. Eine zweite, inhaltliche Überlegung gründet sich auf die Beobachtung, dass die Pluralisierungsprozesse auf dem Feld der Dramentheorie, Theaterpraxis und Dramatik immer wieder in der Spannung zwischen der Antike und den Altertümern ablaufen. Die Pluralisierung des Altertums im 19. Jahrhundert schließt häufig an Prozesse an, die paradigmatisch auch für die Antike gelten. Zugleich zeitigt die Pluralisierung des Altertums Effekte auf die Konzeption der Antike. Und so wäre vor diesem Hintergrund in literatur- und theatergeschichtlicher Perspektive zu fragen, ob sich die antiklassizistische Orientalisierung der Antike, die als neue Spielart der Antikentransformation im Diskurs der Altertümer am Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist, nicht auch als ein solcher Rückkopplungseffekt diskutieren ließe.³ Die orientalisierte Antike wäre dann zu verstehen als eine neue reintegrierende Synthetisierung nach einer Phase der Diversifizierung und Pluralisierung des Altertums auf den Feldern der dramatischen Gattungstheorie, der Theaterpraxis und den dramatischen Texten. Es wäre dann weniger eine neue Öffnung des Diskurses als vielmehr eine Schließung der weiten Spielräume der Alten Welt, die am Anfang des 19. Jahrhunderts eröffnet und in seinem Verlauf ausgemessen worden waren.
Vgl. zum Zusammenhang stellvertretend Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof (Hg.): Mehr Dionysos als Apoll. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt/Main 2002; anschließen ließe sich auch an die Arbeit von Christian Horn zum deutschsprachigen Antikendrama der klassischen Moderne, in der er vor allem auf die Archaisierung der Antike fokussiert (Remythisierung und Entmyhtisierung. Deutschsprachige Antikendramen der klassischen Moderne, Karlsruhe 2008).
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Gleimhaus Halberstadt, Grafiksammlung Leihgabe Antiquariat Harlinghausen, Osnabrück (http://www.museum-digital.de/ nat/index.php?t=objekt&oges=, . . ) in: Le pitture antiche d’Ercolano e contorni incise con qualche spiegazione, Bde., Neapel – , Bd. , Tav. XXXIII. in: Friedrich Hildebrandt von Einsiedel: Die Brüder. Ein Lustspiel nach Terenz in fünf Akten, in: Lustspiele des Terenz in freyer metrischer Uebersetzung, Leipzig (Bibliothek der komischen Dichter Roms in freyen metrischen Uebersetzungen, Bd. ). in: Carl August Böttiger: Die Furienmaske, im Trauerspiele und auf den Bildwerken der alten Griechen. Eine archäologische Untersuchung. Mit Kupfertafeln, Weimar . in: Karl von Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin unter der Generalintendantur des Herrn Grafen von Brühl, Berlin – . in: Erich F. Schmidt: Persepolis. I. Structures, Reliefs, Inscriptions, Chicago (= OIP LXVIII), Plate . in: Karl von Brühl: Neue Kostüme auf den beiden Königlichen Theatern in Berlin unter der Generalintendantur des Herrn Grafen von Brühl, Berlin – . bpk / Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin bpk / Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin / Jörg P. Anders in: Der Ring des Nibelungen. Figurinen erfunden und gezeichnet von Prof. Carl Emil Doepler, Berlin o. J. [], Reprint Leipzig .
DOI 10.1515/9783110473353-009
Personenverzeichnis Beil, Karl Theodor 156 f., 169, 171, 177 – 180 Boeckh, August 28, 63 Bohlen, Peter von 86 f. Böttiger, Carl August 103, 105 f., 108 – 110, 129 – 131, 133, 137 f., 140, 167 Brandes, Esther Charlotte 99 – 102, 106, 110, 122, 145 Breysig, Johann Adam 115 f., 119, 141 Brühl, Karl von 10, 94, 96, 101, 103, 114, 120 – 134, 136 – 146, 148, 155 f., 166 f., 169, 186, 302 f. Clärobscür, X. Y. Z. 154 – 159, 169 – 171, 176 f., 179 f., 186, 300 Conrad, G. → Georg Prinz von Preußen 157, 171 f., 181 – 185 Cornelius, Peter von 146 f. Doepler, Carl Emil
146 – 150
Ersch, Johann Samuel
1 f.
Fontane, Theodor 6 – 8, 189 f., 278 Forster, Johann Georg Adam 34, 69 – 74, 84, 89, 91, 267 Fortlage, Arnold Rudolf Carl 87 – 89 Fouqué, Friedrich de la Motte 159 Friedrich Wilhelm IV. 142 – 144 Georg II. von Sachsen-Meiningen 101, 145 f. Goethe, Johann Wolfgang von 13, 45, 48, 58 f., 61, 70 f., 88, 90, 98 f., 103 – 108, 111 f., 122 – 124, 145, 206 f., 264 f., 272, 302 Gottsched, Johann Christoph 25, 96 – 98, 102, 110, 122 Grimm, Jakob 30 f., 33 – 35, 143, 292 f. Hagen, Friedrich Heinrich von der 29 f. Hebbel, Friedrich 11, 59, 65, 153, 156, 187 – 301, 303 f. Hegel, Friedrich 10, 44 – 67, 72, 82 f., 91 – 93, 161, 163, 204 – 206, 218 – 227, 256, 301 Herder, Johann Gottfried 10, 30, 45, 52 f., 68 – 85, 87, 91, 267 Herrig, Hans 156 f., 172 – 177, 180 f., 303 Hettner, Hermann 58 – 60
Hotho, Heinrich Gustav Humboldt, Wilhelm von
47, 161 – 163, 167 26, 47 f., 142 f.
Iffland, August Wilhelm 120 – 122, 124, 140
96, 99, 101, 116 – 118,
Jones, William
20, 34, 69 f., 85 f., 89, 265, 301
Kālidāsa 34, 45, 54, 67 – 91 Klein, Julius Leopold 89 – 91 Kotzebue, August Friedrich Ferdinand von 103 f., 146 Kuithan, Johann Wilhelm 6, 8 – 10 Laube, Heinrich 101, 267 f. Lessing, Gotthold Ephraim 25, 76, 79, 108 Mannlich, Johann Christian von 125 Meil, Johann Wilhelm 99, 101, 112 Meyer, Johann Heinrich 103, 105 – 111 Müllner, Adolph 129, 138 – 140 Prutz, Robert
43, 58 f.
Rötscher, Heinrich Theodor 46, 57 – 60, 63 – 67, 161, 218 – 227, 236 – 239 Rückert, Friedrich 246 f., 250 – 253, 290 Schinkel, Karl Friedrich 10, 94, 114 – 122, 127, 129, 132 – 142, 145, 166 – 169, 185 f., 302 f. Schlegel, August Wilhelm 20, 28, 30, 48, 53, 70, 85 f., 106, 264 f. Schlegel, Friedrich 13, 34 f., 48, 264 f. Schnorr von Carolsfeld, Julius 146 f. Stüler, Friedrich August 142 – 144 Tieck, Ludwig
120, 139 f., 163 – 165, 230
Uechtritz, Friedrich von 127, 155 – 169, 171, 177, 179 f., 185 f., 291 – 293, 300, 303 Vischer, Friedrich Theodor
43, 58
Wagner, Cosima 148 – 150 Wagner, Richard 94, 145 – 150 Winckelmann, Johann Joachim 14, 24 – 26, 37 Wolf, Friedrich August 27 f.