Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem [3 ed.] 9783428422517, 9783428022519


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German Pages 378 Year 1970

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Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem [3 ed.]
 9783428422517, 9783428022519

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W E R N E R

WEBER

Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem

Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem

Von

Werner Weber ordentlichem Professor dee öffentlichen Redits in Göttingen

3. erweiterte Auflage

D U N C K E R

& H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1970 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1970 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

In memorìam fratris Professor

Dr. phil. Hans Weber

f 9. Juli 1942, El Alamein

Vorwort Die erste Auflage dieses Buches erschien, damals „als Frucht besorgten Nachdenkens über das innenpolitische Schicksal Deutschlands als Staat und als Demokratie" drei Kapitel umfassend, im Jahre 1951, die zweite 1958; sie war auf sechs Kapitel erweitert und ist seit längerem vergriffen. Diese sechs Kapitel erscheinen in der dritten Auflage unverändert. Für sie gilt das schon im Vorwort zur zweiten Auflage rückblickend Gesagte, dafi sie ihren Standort in der Verfassungsdiskussion der Nachkriegszeit haben und ihn auch behalten sollen. Ihnen sind nunmehr zehn weitere, das Grundthema des Buches variierende Beiträge hinzugefügt. Soweit sie schon an verstreuten Stellen veröffentlicht waren, ist die Quelle am Schluß des Buches nachgewiesen. Nachdem mir Friedrich Vorwerk, in dessen Verlag die beiden Vorauflagen erschienen waren, noch vor seinem Ableben die Verfügung über eine weitere Auflage freigegeben hatte, hat sich freundlicherweise der Verlag Duncker & Humblot bereiterklärt, für sie die Verlagsbetreuung zu übernehmen. Göttingen, im Juli 1970 Werner Weber

Inhalt I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz II. Der Einbruch politischer Stände in die Demokratie

9 36

III. Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus

57

IV. Das Richtertum in der deutschen Verfassungsordnung

84

V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

101

VI. Das politische Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie 121 VII. Die Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter VIII. Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem IX. Mittelbare und unmittelbare Demokratie X. Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung XI. Wandlungen und Formen des Staates

143 152 175 198 225

XII. Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen 249 XIII. Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus

288

XIV. Die Bundesrepublik Deutschland und die Wiedervereinigung

314

XV. Der deutsche Bürger und sein Staat

329

XVI. Die Bundesrepublik und ihre Verfassung im dritten Jahrzehnt · · 345 Namenverzeichnis

367

Sachverzeichnis

370

Quellennachweis

375

I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz I. Im Bonner Grundgesetz gelangt die Weimarer Verfassung zwiespältig zu neuer Wirkung. Nicht etwa im Sinne einer einfachen Restauration. Die Verfassungsschöpfer von Bonn würden das von sich weisen und sich auf zahlreiche Korrekturen und sogar Mafiregelungen berufen, mit denen sie dem Werk von Weimar gegenübergetreten sind. Die Beziehungen zwischen Bonn und Weimar sind vielmehr weit komplizierter. Gewiß ist der allgemeine Rahmen der Weimarer Verfassung übernommen, und wesentliche neue Verfassungskonzeptionen sind nicht hinzugetreten. Aber selbst wo der Parlamentarische Rat schlicht zu bewährten Einrichtungen und Strukturprinzipien der Weimarer Republik zurückzukehren glaubte, hat die Veränderung Deutschlands und der Welt in den 30 Jahren seither daraus etwas anderes entstehen lassen. Wieweit diese Problematik den Verfassungsschöpfern von Bonn bewußt geworden ist, findet in ihrem Werk keinen Niederschlag. Jedenfalls waren sie stärker von der Aufgabe erregt, in bestimmten Teilen eine kritische Auseinandersetzung mit der Weimarer Verfassung aufzunehmen, und gerade dadurch hat ihnen diese Verfassung, wenn auch in Widerspruch und Umkehrung, das Gesetz des Handelns diktiert. Wie die geisterhafte Erscheinung eines nach verfehltem Leben unglücklich Abgeschiedenen hat die Weimarer Verfassung die Bonner Beratungen erfüllt und bedrückt. Der Parlamentarische Rat hat seine Kraft wesentlich darin verbraucht, dieses Gespenst zu bannen, die Not seiner Unruhe zu erfahren und zu beheben. Ob es ihm gelungen ist, den von seinen Fehlschlägen getriebenen Geist zu erlösen, oder ob er ihn durch Versperren seiner Wanderwege in nodi größere Unruhe gedrängt hat, wird die Prüfung des Bonner Werkes und wird dessen Bewährung erschließen. Sicherlich aber war die Wirkung, die von Weimar nach Bonn ausstrahlte, tief, und sie äußerte sich offenbar weithin als eine beängstigende Last.

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I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

II. Vieles spricht für die Annahme, dafl sich der Parlamentarische Rat in einer ähnlichen Rolle wähnte wie die Deutsche Nationalversammlung von 1919. Aber die Geschichte bringt keine Wiederholungen. In dem Werk von Weimar witterte noch die liberal-demokratische Revolution des 19. Jahrhunderts. Was 1848 unzulänglich gescheitert und in den meisten Landesverfassungen, besonders in der preußischen Verfassungsurkunde von 1850, in eine verhaltene monarchische Konzession umgebogen war, hier kam es zu einem späten Durchbruch: der 1789 in Frankreich entfaltete Drang zu staatsbürgerlicher Selbstgestaltung des politischen Schicksals und zur Vollendung der demokratischen Machtergreifung in einem freiheitlichen Staat. Die Kriegsdiktatur des 1. Weltkrieges hatte die noch unverbrauchten liberalen und demokratischen Gegenkräfte neu herausgefordert und alle unerfüllten Forderungen der bürgerlichen und der sozialen Revolution schmerzlich wieder wachgerufen. Auf diesem Boden gewannen die alten Vorstellungen von verfassunggebender Gewalt des Volkes und von eigener demokratischer Schicksalsbestimmung wieder Überzeugungskraft. So belebte sich neu jenes optimistische Vertrauen in die Kraft und fortschrittliche Unfehlbarkeit des auf sich gestellten Volkswillens, das den Aufbruch des Dritten und Vierten Standes beflügelt hatte. Zudem hatte die Stunde zu einer wirklichen Entscheidung aufgerufen. Die konstitutionelle Monarchie war zerbrochen. Die neue politische Form aber ergab sich nicht von selbst, sondern sie stand — nicht anders als heute — im Spannungsfeld zwischen Ost und West, zwischen westlicher Liberaldemokratie und allem, was vom Abendland darin aufgegangen war, auf der einen und der Räteherrschaft des klassenkämpferischen Proletariats auf der anderen Seite1. Das war keine theoretische Entscheidung, sondern eine Schicksalsbestimmung von großer Dringlichkeit. Ihre Tragweite war in den damaligen Bürgerkriegswirren jedem gegenwärtig. Drei Möglichkeiten waren 1919 1

Am deutlidisten kam das in den gedankenreichen Ausführungen von Friedrich Naumann im Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung (S. 176 ff. der Protokolle dieses Ausschusses, Aktenstück Nr. 391 der Verfassunggebenden Nationalversammlung) zum Ausdruck. In ihrem Mittelpunkt steht der Satz (S. 180) : „Die politische Frage heißt für uns heute: Entweder wir werden hineingezogen in die russische Sowjeträte-Auffassung oder wir werden herangegliedert an die westeuropäisch-amerikanische Form."

I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

konkret zur Wahl gestellt: Konservatives Festhalten an der Überlieferung oder Vollendung der liberaldemokratischen Revolution in neuer sozialer Verantwortung oder Preisgabe an die dämonischen Kräfte der Diktatur des Proletariats nach dem nahen Vorbild der russischen Oktoberrevolution. In solcher Lage seine Zukunft zu bestimmen, erfüllte das Volk mit der echten politischen Leidenschaft einer existentiellen Dezision. Als deshalb im Januar 1919 die Wahl zur Nationalversammlung stattfand, da war die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Bewußtsein der zur Wahl Aufgerufenen eine lebendige Realität, und die Nationalversammlung empfing aus dieser Welt die volle demokratische Legitimation einer Konstituante. So spät Deutschland damit seine liberaldemokratische Revolution nachholte, so sehr gelang es ihm doch noch, in ihr mit dem überzeugenden Pathos demokratischer Selbstgestaltung des politischen Daseins das Vermächtnis der Französischen Revolution und des 19. Jahrhunderts zu erfüllen. Die Weimarer Verfassung selbst, obwohl sie gewifi ein epigonales Werk ist, hat ihrerseits von hier aus die Weihen einer echten Verfassungsschöpfung empfangen. Ihre frische Unbefangenheit, jedenfalls im 1. Hauptteil, ihre einfachen Entscheidungen, ihre Großzügigkeit gegenüber der juristischen Präzision, die Volkstümlichkeit ihrer Sprache, ja selbst ihre Irrtümer zeugen davon. Sicherlich besteht kein Anlafi, die Weimarer Verfassung nach ihrem Scheitern nachträglich zu glorifizieren. Aber über alle ihre Mängel schimmert versöhnlich der Glanz einer europäischen Verfassungsbewegung, zu der auch sie als letztes Glied noch gehörte. In Bonn stand keine der großen Fragen zur Entscheidung. Nicht als ob die Lage Deutschlands nicht bis an den Rand voll wäre von der Unruhe der Provisorien und von zerstörerischen Widersprüchen um seine politische Existenz. Aber für Bonn war alles Wesentliche bereits vorgezeichnet und abgesteckt. Man denkt hier zuerst an den ausdrücklichen Text des Dokumentes Nr. 1 der Londoner Empfehlungen und an die in den Gang der Arbeiten eingeschalteten Meinungsäußerungen der Militärgouverneure und ihrer Regierungen2. Aber sie sind. 2 Über deren Bedeutung für die Arbeiten am Grundgesetz Hans Berger , Zur Entstehung des Bonner Grundgesetzes, DtVerw. 1949 S. 309 ff.; ferner Wilhelm Grewe, DRZ 1949 S. 313 f.; Hermann v.Mangoldt in der Einleitung seines Kommentars zum Bonner Grundgesetz (1950) S. 1 ff. Über die starke Einflußnahme der Besatzungsmächte auf die Gestaltung der finanzreditlichen Bestimmungen des Grundgesetzes hat vor allem Hermann Höpker-

12

I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

ebenso wie das Besatzungsstatut3, nur ein Symptom breiterer verfassungsbestimmender Wirklichkeiten, nämlich des Besatzungsregimes der Westmächte überhaupt und darüber hinaus der Abwertung der deutschen Staatlichkeit zum — vorerst bloß passiven — Glied größerer politischer Ordnungen und Konstellationen. Das Dokument Nr. 1 redet in dieser Hinsicht eine klare Sprache: Auch wenn das Volk Westdeutschlands weniger Neigung gehabt hätte, als in ihm lebendig war, zum liberal-demokratischen Verfassungssystem im Sinne der westeuropäischen Tradition zurückzukehren, hätte es in dessen Bahnen einlenken müssen. In der Föderalisierung seines Staatsgefüges war ihm sogar mehr Zwang auferlegt, als seiner Mehrheit lieb war. Für eine aus eigener Macht und Verantwortung vollzogene, also souveräne Entscheidung des Volkes über Art und Form seiner politischen Existenz war hier kein Boden bereitet 4. Deshalb war es verhältnismäßig gleichgültig, in welchem Verfahren man das Grundgesetz zustande brachte, und auch die Frage nach der demokratischen Legitimation des Parlamentarischen Rates erscheint als nicht allzu dringlich. Immerhin ist festzustellen, daß der Rat nicht durch eine demokratische Urwahl, geschweige denn durch eine die verfassunggebende Gewalt des Volkes aufrufende Urwahl bestellt war. Vielmehr hatten die Fraktionen der Landtage in ihn ihre Delegierten entsandt5, und diese Fraktionen wiederum verdankten ihr parlamentarisches Gewicht einem Wahlvorgang, der längere Zeit vorher in den einzelnen Ländern ohne Bezug auf eine deutsche Bundesverfassung vonstatten gegangen war. Aschoff, Das Finanz- und Steuersystem des Bonner Grundgesetzes, AöR 75 (1949) S. 320 f., 323 ff., 328 ff. berichtet. 3 Zu ihm vom damaligen Standpunkt aus näher Wilhelm Greme, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland, DRZ 1949 S. 265 ff., ferner Ernst Friesenhahn, Grundgesetz und Besatzungsstatut (Recht, Staat, Wirtschaft Bd. 2, 1950, S. 145 ff.). 4

Der Verschlungenheit der Lage ist H.P.Ipsen, Uber das Grundgesetz (Hamburg 1950) S. 23 ff., 28 ff. in wohlabgewogenen Ausführungen nachgegangen. Vgl. auch Wolf gang Abendroth, Zwiespältiges Verfassungsrecht in Deutschland, AöR 76 (1950) S. 6 f. 5 Das geschah nach Gesetzen „über die Errichtung des Parlamentarischen Rates", die die westdeutschen Länder (außer Nordrhein-Westfalen) nach dem Musterentwurf des von den Ministerpräsidenten eingesetzten Verfassungsausschusses im August und September 1948 gleichlautend erließen. Näheres in der Einleitung des sog. „Bonner Kommentars" zum Grundgesetz (1950) S. 51 f.

I . Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

Aber auch wenn man das alles, wie gesagt, für sekundär erachtet, bleibt es doch auffällig, wie wenig die Bonner Beratungen selbst im Kontakt mit der öffentlichen Meinung standen und in welchem Grade sie den Charakter einer internen Angelegenheit der Ratsmitglieder, der Vorstände der maßgebenden Parteien und der Verhandlungen mit den Sprechern der Besatzungsmächte wahrten. Wohl selten ist eine europäisch-abendländische Verfassung unter so wenig Publizität zustande gekommen wie diese. Nur in vagen Umrissen haben die sonst so beweglichen modernen Nachrichtenmittel über den Gang der Verhandlungen, über die kritischen Verwicklungen und deren Entwirrung berichtet. Die Entwürfe, die Gegenvorschläge, die Ergebnisse — sie blieben der weiteren Öffentlichkeit unbekannt6. Als dann das vom Rat verabschiedete Grundgesetz erschien, kam die große Masse des Volkes zum ersten Male mit dem in Berührung, was in Bonn geschehen war. Die große demokratische Kraft der öffentlichen Meinung blieb hier unangesprochen und ungenutzt. Man kann nicht etwa, wie es gelegentlich anklingt, die Schuld hierfür beim Volk selbst suchen und sie durch den Vorwurf festlegen, daß es politisch teilnahmslos und unreif sei. Hier liegt eher ein Zeugnis dafür vor, wie stark in der heutigen politischen Struktur Deutschlands das Volk durch die Apparatur der politischen Parteien mediatisiert ist. Aber man darf annehmen, daß das Volk, daß die öffentliche Meinung sogar von sich aus den Schutzkordon um die esoterische Fach- und Parteiklugkeit der Bonner Rats Versammlung durchbrochen und am Geheimnis der Verhandlungen mit den Besatzungsmächten gerüttelt hätte, wenn es in Bonn wirklich um echte und große Entscheidungen gegangen wäre. Der eigentliche Grund für das fehlende Bemühen um eine legitimierende demokratische Resonanz zum Bonner Verfassungswerk und 6 Zur mangelnden Publizität der Bonner Verhandlungen auch kritisch Wilhelm Greme, Über Verfassungswesen in unserer Zeit, Merkur 1949, S. 430 f., ferner die Glosse „Bedenken zum Grundgesetz", AöR 75 (1949) S. 103 f. Den Tatbestand erkennt ferner Walt er Strauss in seinen kritischen Bemerkungen zur ersten Ausgabe dieser meiner Ausführungen an (Deutsche Verwaltung 1950 S. 31). Mit ihm bin ich der Auffassung, daß, von der Unzulänglichkeit der Presseberichterstattung abgesehen, die eigentlichen „Gründe für die mangelnde Publizitätswirkung tiefer liegen und nicht eines tragischen Hintergrundes entbehren". Sie stehen nämlich im Zusammenhang mit der Lage der Demokratie in Deutschland überhaupt. Davon wird im 2. Kapitel dieser Schrift noch die Rede sein. Das staatsrechtliche Schrifttum, das (bis zum 15. Mai 1949) die Bonner Verfassungsarbeiten vorbereitet und begleitet hat, ist in Heft 12 des Jahrgangs 1949 der „Deutschen Verwaltung" (S. 335 f.) nachgewiesen.

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I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

für deren Ausbleiben liegt also nicht so sehr i n Mängeln des Verfahrens, i n der Unzulänglichkeit des Parlamentarischen Rates oder gar i n der politischen Untauglichkeit des deutschen Volkes, als i n A r t und Enge der i n Bonn gestellten Aufgabe. Deshalb konnte es auch fast unbemerkt bleiben, daß man für die abschließende Ratifikation des Grundgesetzes statt der ursprünglich vorgesehenen Volksabstimmung die Beschlußfassung i n den Landtagen wählte 7 . Denn nachdem das Bonner Verfassungswerk i n schwierigen Kompromissen nach innen und außen fertiggestellt war, blieb von Volks wegen erst recht nichts mehr zu entscheiden, weder i n den großen Linien noch i n den juristischen Details, die einer Akklamation des Volkes ohnehin inadäquat sind. So hat man mit der Ablehnung der Urabstimmung wenigstens einen A k t politischer Wahrhaftigkeit vollzogen.

III. Die gleiche Anerkennung kann man i m Zusammenhang dieses Problembereichs dem Grundgesetz selbst nicht zollen. Seine Bestimmung als Provisorium ist — leider — bei i h m bloßes Lippenbekenntnis geblieben 8 ; darin liegt der eigentliche Kern seiner Schwäche. M i t dem 7

Das Dokument Nr. 1 der Londoner Empfehlungen hatte die Ratifizierung durch Referendum verlangt. Dagegen hatten sich die Ministerpräsidenten auf ihrer Koblenzer Konferenz vom 8. bis 10. Juli 1948 mit der Begründung gewandt, daß ein Volksentscheid dem Grundgesetz ein Gewicht verleihen würde, das nur einer endgültigen, vom gesamten deutschen Volk in freier Selbstbestimmung geschaffenen Verfassung zukommen sollte (vgl. die Mantelnote der Ministerpräsidenten an die Militärgouverneure). Art. 144 Abs. 1 des Grundgesetzes hat es dann bei einer Ratifizierung durch die Landtage der beteiligten Länder bewenden lassen. Mit Recht hat Η. P. Ipsen (Über das Grundgesetz S. 27) darauf hingewiesen, daß die nahezu 80prozentige Beteiligung an der Wahl zum 1. Bundestag am 14. August 1949 eine Art nachgeholten Plebiszits zugunsten der westdeutschen Bundesrepublik dargestellt habe. Immerhin wird man festhalten müssen, daß dieses positive Votum der Wiedererrichtung der deutschen Staatlichkeit und ihren Freiheitsprinzipien im ganzen, nicht aber dem Grundgesetz in seinen Einzelheiten galt. 8 Die Koblenzer Beschlüsse der Ministerpräsidenten vom 8. bis 10. Juli 1948 und die daraufhin ergangene Note an die Militärgouverneure hatten sich nodi mit großer Entschiedenheit gegen jede Verfestigung des Provisoriums ausgesprochen und für den Inhalt der Regelung, das Verfahren und die Terminologie entsprechende Forderungen formuliert, waren damit allerdings schon bei ihren alliierten Partnern auf Widerstand gestoßen (vgl. den Bericht in der Einl. des sog. „Bonner Kommentars" S. 48 ff.). Im Grundgesetz selbst weisen nur noch die Bezeichnung „Grundgesetz" statt „Verfassung", zwei Wendungen in der Präambel und der Schlußartikel (146) auf

I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

Umfang und der Universalität seiner Regelung, mit der Selbstverständlichkeit, aus der heraus Dauerentscheidungen gefällt und unter den Schutz nur schwer revidierbarer Verfassungsfestigkeit gestellt werden (Art. 79), gibt sich das Grundgesetz den Charakter einer perfekten Verfassung mit allen ihren Prätentionen 9. Im Anspruch auf demokratische Legitimität und geschichtliche Würde tritt es der Weimarer Verfassung an die Seite und will es teilhaben an dem großen Pathos einer aus souveräner Volksurgewalt erwachsenen Neubestimmung der staatlichen Existenz. Dafür zeugen — neben vielem anderen — repräsentativ die schweren Worte seiner Präambel, daß das deutsche Volk im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen kraft seiner verfassunggebenden Gewalt (sie!) dieses Grundgesetz beschlossen habe. Und nicht weniger anspruchsvoll klingt es, wenn Art. 5 Abs. 3 „Treue zur Verfassung" heischt. 1789, 1848 und noch 1919 hätte man das als überzeugend aufgenommen; aber das Bonner Grundgesetz verzeichnet damit seine Lage und überfordert zugleich weit seine Kraft. Mit dieser Feststellung sollen die großen Schwierigkeiten, denen sich der Parlamentarische Rat gegenüber sah, und die fast tragische Widersprüchlichkeit seiner Legitimation und seiner Aufgabe nicht beiseite geschoben werden. Es geht auch nicht darum, seinen Mitgliedern den ernsten und guten Willen streitig zu machen. Vor allem kein Wort, das den Gewinn wiedererrungener Aktionsfähigkeit in einem wesentlichen Teilgebiet des gesamtdeutschen Staates als Frucht der Bonner Arbeiten schmälern könnte. Dennoch bleibt, daß der Parlamentarische Rat nur zu einer engen, durch Auftrag und Umstände festgelegten Aufgabe berufen und ebenso eng in seiner Legitimation begrenzt war, aber von sich aus zu einer Verfassungsschöpfung großen Stils vorzudringen suchte und sich in Wortgepränge und Inhalt des Grundgesetzes auch dessen berühmte. Dieser excès de pouvoir hat dem Anschein nach ein volles Gegenstück zur Weimarer Verfassung entstehen lassen, dessen Ansprüche hat er jedoch nicht erfüllen können. den fragmentarischen und provisorischen Charakter der Verfassungsschöpfung hin. Kritisch abwägend zu der Frage auch H. P. Ipsen, Uber das Grundgesetz S. 8 ff. 9 Walter Menzel (DtVerw. 1949 S. 312) bezeugt hierzu: „Allerdings entstand im Laufe der Verhandlungen ein immer größerer Drang zum Perfektionalismus, der dem materiellen Inhalt des Grundgesetzes sehr stark den Charakter einer Verfassung in althergebrachtem Sinne gegeben hat." Menzel hatte sich hierzu schon in der 10. Sitzung des Parlamentarischen Rates (Sten.Ber. S. 203) bedauernd geäußert.

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I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

Der ganze Stil des Grundgesetzes verleugnet denn auch nicht, aus welcher Verlegenheit das Gesetz stammt. An ihm ist nichts von unbekümmerter Frische, vorwärtsgreifendem Wagnis und mutiger Entscheidung. Alles ist reflektiert, jeder Satz und jedes Wort gewendet und gefeilt, alles normiert und peinlich reguliert. Schon von vornherein durch starke auferlegte Rücksichten gebunden, haben seine Verfasser dann noch ihre dreißigjährigen Erfahrungen als Politiker und Juristen rückwärtsblickend hineingeflochten, vorsichtig abwägend und abstimmend und zu immer neuen Abzirkelungen fortschreitend. Ein Juristengesetz, kein Volksgesetz, und auch als Juristengesetz weithin von solcher Kompliziertheit, daß selbst der Fachjurist oft Mühe hat, das Gemeinte zu ermitteln und praktikabel zu machen. Man spürt an vielen Stellen, wie der Jurist die naiven Unbeholfenheiten der Weimarer Verfassung überlegen durch exaktere Formulierungen ersetzen, wie er überall aus besserem Wissen und rechtstechnischem Können korrigieren wollte. Aber politische Unmittelbarkeit und sprechende Sinnhaftigkeit hat er damit aus seinem Paragraphenwerk verbannt. Zu dieser reflektierten Haltung steht in auffallendem Gegensatz das unbefangene Vertrauen zu einem normativen Positivismus, mit dem die Schöpfer des Grundgesetzes die politische Zukunft Deutschlands in den Griff zu bekommen glaubten.

IV. Aber mit alledem ist noch nichts über den Text und den eigentlichen Inhalt des Grundgesetzes gesagt. Man könnte hier zunächst die unpolemischen Abweichungen von der Weimarer Verfassung nachzuweisen suchen und stößt dann alsbald auf die intrikaten Bemühungen um eine stärkere Föderalisierung des Staatsgefüges. Hier zeigt in der Tat manches ein anderes Gesicht als in der Weimarer Verfassung. Am wenigsten in der Aufteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern (Art. 70 bis 75. 105). Auch die starke Akzentuierung des föderalistischen Bundesrates unter den obersten Bundesorganen wird man nicht überbewerten dürfen. Denn in ihm treten mit gebundener Marschroute Delegierte der Landesregierungen auf, also — dank dem parlamentarischen Regierungssystem der Länder — Exponenten der politischen Parteien, in deren Politik mit wenigen Ausnahmen von vornherein die gesamtdeutsche Ausrichtung überwiegt. Wegen der Durch-

I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

schlagskraft der parteipolitischen Formierung im politischen Gegenr wartssystem Deutschlands ist zu erwarten, daß auch im Bundesrat stärker parteipolitische als föderative Kräfte zum Tragen gelangen, jedenfalls in den für die Bundespolitik entscheidenden Fragen. So hat das Grundgesetz der Form nach zwar einen föderalistischen Bundesrat, in der Sache aber mehr einen parteipolitisch orientierten Senat geschaffen. Daher beschränkt sich die Föderalisierung des deutschen Staatsgefüges im wesentlichen auf eine betonte Erweiterung der Länderverwaltung zu Lasten der Verwaltung des Bundes und auf die Beseitigung der finanziellen Abhängigkeit der Länder vom Gesamtstaat. Vor allem kann der Bund nicht mehr, wie früher das Reich nach Art. 14 WRV, seine Verwaltungsbereiche auf Kosten der Länder durch einfaches Gesetz erweitern (Art. 30, 83, 87). Trotzdem ist ein echter Bundesstaat nicht restauriert worden, wie überhaupt die Rückbildung eines Einheitsstaates in einen nach Entstehungsakt und Struktur vollgültigen Bund nicht möglich ist. Die Länder sind im Bonner Grundgesetz trotz aller föderalistischen Vorkehrungen nicht mehr als Staaten, sondern als Selbstverwaltungskörperschaften mit einer sehr ausgedehnten Autonomie begriffen 10 . Bezeichnend hierfür ist, daß man die kommunalrechtlichen Kategorien der eigenen und Auftragsangelegenheiten auf sie anwenden konnte (Art. 83 f., 85, 89 f., 108), und auch die Neugliederungsgrundsätze des Art. 29 Abs. 1 bewerten die Länder nicht nach ihrer historischen Staatlichkeit, sondern nach ihrer verwaltungspolitischen Zweckhaftigkeit. Für die weitere Entwicklung wird es wichtig sein, das vor Augen zu haben. In einem anderen Punkte, darin nämlich, daß vieles von dem Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung im Grundgesetz keine Wiederholung fand 11 , liegt eine sachliche Distanzierung in Wahrheit 10

Treffend spricht Karl Schmid (Die politische und staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1949 S. 204) in diesem Zusammenhang von „autonomen Gebietskörperschaften". Näheres hierüber und zur föderalistischen Problematik der Bundesrepublik überhaupt unten S. 57 ff., 288 ff. 11 Es handelt sich um die Weglassung der sog. „sozialen Lebensordnungen", mit deren Erfassung der Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung über die Grundrechte liberaler Überlieferung hinaus zu den Problemen des modernen Sozialstaats vorgedrungen war. Über die Einstellung des Parlamentarischen Rats zu dieser Frage vgl. Karl Schmid, a.a.O. S. 202 f.; Hermann v.Mangoldt, AöR 75 (1949) S. 275 f. und Walter Menzel, Dt Vèr w. 1949 S. 314. Infolge des Beiseitelassens dieser sozialen Lebensordnungen wird 2 Weber

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I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

nicht vor. Denn man hat im Grundgesetz gerade diejenigen früheren Grundrechtsartikel übergangen, bei denen man audi in Weimar über eine bloße Proklamation oder einen dilatorischen Formelkomp romiß 12 nicht hinausgediehen war, also eine verbindliche Festlegung schon damals nicht erzielt hatte. Diese unpolemischen Abweichungen von der Weimarer Verfassung sind also nicht bedeutend, und sie zerstören den Eindruck nicht, daß im ganzen dodi der Anschluß an das Werk von Weimar gesucht werden sollte. Aber hier brechen nun, ohne daß übrigens der Parlamentarische Rat dessen Herr gewesen wäre, die Veränderungen durch, die einen gleichbleibenden Verfassungstext von seinen ungeschriebenen Voraussetzungen her umwerten und umkehren können. Das ist ein sehr vielschichtiges Problem. Ein Staat, der seine Souveränität verloren hat und sie bestenfalls in den Grenzen gliedhafter Einordnung in größere föderalistische Gefüge oder Machtkonstellationen wiederherstellen kann, der auf eigene Wehrhoheit verzichten mußte, der zerschnitten und geteilt ist, der unter Besatzungs- und Ruhrstatut steht und dessen Wirtschafts- und Sozialstruktur sich von Grund auf gewandelt hat, lebt in einer gänzlich anderen Verfassung als vorher, auch wenn Text und Organisationsplan seiner Verfassung unverändert blieben. Das soll hier nicht im einzelnen verfolgt werden, zumal es in seinen vielfältigen Konsequenzen erst allmählich hervortritt. Aber zweierlei fällt davon in den engeren Kreis der Verfassungsstrukturfragen : Die Weimarer Republik verdankte ihre relative Stabilität und Funktionsfähigkeit wesentlich dem Umstand, daß sie die Exekutive der konstitutionellen Monarchie übernommen hatte, eine hochqualifizierte Beamtenaristokratie, eine verläßlich arbeitende Verwaltungsapparatur, ein von hohem Dienstethos erfülltes Berufsbeamtentum und in allem die Dritte Kraft eines parteipolitisch neutralisierenden allerdings an kaum einer Stelle des Grundgesetzes erkennbar, wie sich sein in den Artikeln 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 erhobener Anspruch verwirklichen soll, die Verfassung eines sozialen Staates zur Darstellung zu bringen. Hiermit setzt sich besonders auch Η. P. Ipsen, Über das Grundgesetz S. 14, 17 ff. auseinander. Vgl. ferner Wolf gang Abendroth, AöR 76 (1950) S.8f. und Wilhelm Greme in der Glosse „Streik als politisches Kampfmittel?", AöR 76 (1950) S. 491. 12

Zum Tatbestand der „dilatorischen Formelkompromisse" in der Weimarer Verfassung vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928, unveränderter Neudruck 1954) S. 31 ff.

I. Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz

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Wahrers staatlicher Konsistenz. Das alles ist zerschlagen und verstreut, und von ihm ist bestenfalls eine mit Verwaltungsfachleuten besetzte Behördenagglomeration iibriggeblieben, die keine eigene politische Potenz darstellt und keine überlegene Fähigkeit besitzt, den Staat zu halten und seine inneren Gegensätzlichkeiten zu überbrücken. Das Zweite hängt damit eng zusammen: Auch Preußen ist zerschlagen. Gerade seine intensive Staatlichkeit, sein Verwaltungssystem, seine Großzügigkeit und Selbstsicherheit hatten der deutschen Innenpolitik das Maß bestimmt und der ganzen Republik Halt gegeben. Es ist noch nicht abzuschätzen, zu welchen Auswirkungen der Wegfall dieser beiden Elemente staatlicher Geschlossenheit führen wird. Sicher aber hat er die Gewichte innerhalb der Verfassungskonstruktion entscheidend verschoben, gerade dort, wo das Grundgesetz die Fassade und vermeintlich auch die Struktur von Weimar übernahm.

V. Die eigentliche Gegenüberstellung des Weimarer und des Bonner Verfassungswerkes aber, wenn man auf den Text selbst zurückgeht, ergibt sich in den Punkten, in denen die Bonner Verfassungsschöpfer das in ihren Augen Gefährliche und sozusagen Dämonische an der Weimarer Verfassung zu bannen suchten. Ein vielfältiges Ringen und Mühen nach dieser Richtung läßt sich in drei Grundtatbeständen zusammenfassen: Mediatisierung des Volkes, Auflösung des Ausnahmezustandes, Entmachtung der Exekutive. In der Weimarer Verfassung war das Volk eine bedeutende Kraft. Seine plebiszitären Entscheidungen kamen vor allem bei der Wahl des Reichspräsidenten zum Tragen, sodann bei den Reichstagswahlen, besonders wenn sie nach Auflösung des Reichstages durch den Reichspräsidenten (Art. 25 WRV) stattfanden, und schließlich mit Abstand, mehr potentiell, in Volksbegehren und Volksentscheid. Hier wurde über die politischen Parteien und ihre Kontrollmöglichkeiten hinweg die ganze Unwiderstehlichkeit, aber auch die Unberechenbarkeit und das gefährlich Elementare der unmittelbaren Volkswillenskundgebung entbunden. Vor diesem Einbruch des Elementaren in das Verfassungsleben, vor diesem ständigen In fragestellen des Ubergewichts der Parteien sind die Schöpfer des Bonner Grundgesetzes zurückgeschreckt. Deshalb wird der Bundespräsident nicht mehr vom Volk ge2*

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wählt und nicht von ihm abberufen 13. Deshalb sind die an ein Plebiszit appellierenden Parlamentsauflösungen auf ein unwesentliches Minimum reduziert 14 und Volksbegehren wie Volksentscheid ganz beseitigt 15 . Es gibt nach dem Bonner Grundgesetz keine institutionelle Möglichkeit mehr, die öffentliche Meinung als Ganzes, unmittelbar und etwa in ihrem Bezug auf einen Staatsmann oder auf ein bestimmtes verfassungspolitisches Faktum zur Darstellung zu bringen. Das Volk hat nur noch eine Funktion: den Bundestag zu wählen. Diese Wahl aber hat wiederum nichts anderes zum Gegenstand, als zwischen den schon organisiert vorhandenen Parteien und den von ihnen präsentierten Mandatsbewerbern zu optieren und kraft dieser Option den Parteien ihr parlamentarisches Gewicht zuzuteilen. Damit ist offenbar: Das Volk ist vollständig und ausnahmslos durch die politischen Parteien mediatisiert. Sie sind es, die im Bundestag die Gesetzgebung und die großen politischen Entscheidungen bestimmen; ihren Exponenten begegnen wir mit gleichem Einfluß wieder als Mitgliedern der Landesregierungen, die den Bundesrat bilden oder instruieren (Art. 51). Sie erheben von der Plattform der Bundesversammlung aus den Bundespräsidenten in sein Amt (Art. 54) und ziehen ihn gegebenenfalls über Bundestag und Bundesrat zur Rechenschaft (Art. 61). Sie entscheiden über seine Immunität (Art. 60 Abs. 4). Sie wählen den Bundeskanzler (Art. 63) und können ihn mit seiner Regierung stürzen (Art. 67)1β. 18 Dazu kritisch der Bericht „Die Konstituierung der westdeutschen Bundesorgane", AöR 75 (1949) S. 338 f. 14 Eine Bundestagsauflösung durch den Bundespräsidenten kann nur in den äußerst verklausulierten und deshalb praktisch bedeutungslosen Fällen der Art. 63 Abs. 4 und 68 Abs. 1 des Grundgesetzes geschehen. Eine Selbstauflösung des Bundestags oder eine Auflösungserzwingung durch Volksbegehren und Volksentscheid sieht das Grundgesetz nicht vor. Vgl. auch Hermann Ό. Mangoldt, Die Auflösung des Bundestages, DÖV 1950 S. 697 ff. 15 Die Formen des Volksbegehrens, des Volksentscheids und der Volksbefragung, denen die Art. 29 und 118 des Grundgesetzes im Zusammenhang mit der Neugliederung der Länder Raum geben, haben mit den eigentlichen Plebisziten nichts gemein. Man würde hier besser von Bevölkerungseiiisdieid als von Volksentscheid o. dgl. sprechen. 16 Mit dieser Frage hat sich die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer auf ihrer Heidelberger Tagung im Herbst 1949 in Referaten von Walter Jellinek und Hans Schneider nach der positiv-rechtlichen Seite eingehend auseinandergesetzt. Die Referate und die Diskussion sind unter dem Titel „Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz" in Heft 8 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Berlin 1950) erschienen.

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Nicht zuletzt entscheiden sie über die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts (Art. 94), und auf dem Wege über Richterwahlausschüsse ist ihnen auch Einfluß bei der Berufung der sonstigen Richter eingeräumt (Art. 95 Abs. 3, 96 Abs. 2, 98 Abs. 4) 17 . Art. 98 Abs. 2 und 5 gibt ihnen überdies das Recht der Richteranklage vor dem von ihnen bestellten Bundesverfassungsgericht. Kurz, sie monopolisieren in allen Organen und Funktionen die politische Entscheidungsgewalt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß das Grundgesetz in der Behandlung der Parteien mit der festen Tradition der früheren Verfassungen bricht. Diese hatten die politischen Parteien als außerhalb des Verfassungsgefüges stehend, weil zum Volk und nicht zur staatlichen Herrschaftsorganisation gehörend, peinlich ignoriert und allenfalls einige abwehrende Aussagen über sie gemacht18. Das Grundgesetz bezieht sie expresses verbis in die Verfassungsordnung ein 19 . „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit", heißt es in Art. 21 Abs. 1. Das ist allerdings etwas verlegen und schief formuliert. Sie wirken nicht nur bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, sondern beherrschen sie. Und nicht Willensbildung des Volkes gegenüber dem Staat, sondern eher des Staates gegenüber dem Volke ist ihr Auftrag. Denn sie sind aus staatsfrei und locker organisierten Gruppierungen des Volkes gegenüber einem ehemals dem Volke transzendenten Staat zum wesentlichen Element des staatlichen Herrschaftsapparates selbst geworden. Das Bonner Grundgesetz macht sie übrigens nicht erst dazu; den Vorgang beobachten wir vielmehr als für die moderne Massendemokratie spezifisch schon seit der Weimarer Republik und auch außerhalb Deutschlands. Aber das Grundgesetz erkennt es bezeichnenderweise in aller Form an, daß die Parteien jetzt selbst im Regiment sitzen, während das Volk unab17 Die Artikel 95 Abs. 3 und 96 Abs. 2 des Grundgesetzes haben in dem Richterwahlgesetz vom 25. August 1950 (BGBl. S.368) ihre nähere Ausführung gefunden. Zu der Frage auch die Glosse „Die Zusammensetzung der Richterwahlausschüsse", AöR 76 (1950) S. 232 ff. 18 Die Weimarer Verfassung erwähnte die Parteien nur an einer Stelle, und zwar! in diesem absprechenden Sinne: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei" (Art* 130 Abs. 1 Satz 1). Uber diese Abwehrhaltung der früheren Verfassungen gegen die politischen Parteien und die Gründe hierfür vgl. auch Gerhard Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie, DVBl. 1951 S. 2. 19 Einen ersten Versuch nach dieser Richtung hatte schon die Verfassung Badens vom 22. Mai 1947 in den Artikeln 118 bis 121 unternommen.

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änderlich Volk bleibt und zu den Vorständen, Fraktionen und Führern des organisierten Parteienwesens nun wie Volk zu Regierenden Stellung nimmt. Das Grundgesetz macht dazu in Art. 21 Abs. 1 Satz 3 eine doppelsinnige Bemerkung: Die innere Ordnung der Parteien muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Darin liegt, ob gewollt oder nicht, das Eingeständnis, daß es sich bei den politischen Parteien um Organisationsgebilde handelt, die in sich einer demokratischen Legitimation bedürfen, die für sich, eine führende Gruppe zu „Volk" in Beziehung zu setzen haben, und damit wird gleichzeitig bestätigt, daß die frühere unmittelbare Gegenüberstellung von Volk und Staatsführung in eine solche von Volk und Parteiführung abgewandelt ist. Freilich wird dadurch die Mediatisierung des Volkes noch stärker offenbar. Denn den Aktivstatus eines Parteibürgers, aus dessen Wahl- und Abstimmungsakten die Parteivorstände gemäß dem Parteistatut ihre juristische Legitimation beziehen, besitzt nur eine kleine, ja verschwindende Minderheit, die jedenfalls den Kreis der eingeschriebenen Parteimitglieder nicht überschreitet 20. Die breite Masse des Volkes dagegen kann nur alle vier Jahre bei der Wahl des Bundestages und der Landesparlamente ein allgemeines Votum über die Parteien vollziehen, die sie fertig vorfindet und auf deren demokratische Selbstdarstellung sie sonst keinen Einfluß hat 21 . 20 Eine interessante gesetzliche Aktualisierung des Aktivstatus des Parteibürgers hat erstmalig § 17 des Wahlgesetzes zum ersten Bundestag vom 15. Juni 1949 (BGBl. S.21) zu vollziehen versucht. Danach sollte die Aufstellung der Kandidaten für Wahlkreise und Landesergänzungsvorschläge in geheimer Abstimmung in einer Versammlung der betreffenden politischen Partei geschehen, zu der eine der Mitgliederzahl oder den statutarischen Bestimmungen der Partei entsprechende Zahl von Delegierten ordnungsmäßig einzuladen war. Die Bundeswahlgesetze vom 8. Juli 1953 (§§ 27, 34) und 7. Mai 1956 (§§22, 28) haben diese Ansätze zu „primary elections" fortentwickelt. 21 Die zentrale und verfassungsrechtlich dominierende Rolle der politischen Parteien ist rasch in den Mittelpunkt der heutigen staatsrechtlichen Auseinandersetzungen getreten. Aus dem Schrifttum zur Gegenwartslage vgl. etwa Werner Matz, Die Vorschriften des Grundgesetzes über die politischen Parteien in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, DRZ 1950 S. 273 ff.; Gerhard Leibholz, Volk und Partei im neuen deutschen Verfassungsrecht, DtVerw. 1950 S. 194 ff.; Ernst Forsthoff, Zur verfassungsrechtlichen Stellung und inneren Ordnung der Parteien, DRZ 1950 S. 313 ff.; Wilhelm Greme t Zum Begriff der politischen Partei, Festgabe für Erich Kaufmann (Stuttgart und Köln 1950) S. 65 ff.; Günther Rabus. Die innere Ordnung der Parteien im gegenwärtigen deutschen Staatsrecht, AöR 78 (1952) S. 163 ff. Die „verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien" wurde auch in Referaten von Gerhard Leibholz und des Bundestags-

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Sieht man näher zu, so ergibt sich ferner, daß diese Mittlerrolle, diese Teilhabe am Staatsregiment, nicht den Parteien schlechthin, sondern bevorzugt einer Gruppe von Mittelparteien eingeräumt ist. Das zeigt sich am deutlichsten bei der Regierungsbildung. Deren Regelung durch das Grundgesetz ist darauf abgestellt, die permanente Kabinettskrise der Weimarer Republik, die Regierungssabotage von redits und links auszuschalten. Dieses Anliegen ist dringend; immerhin ist die gewählte Lösung so ausgefallen, daß sie gerade den Mittelparteien zugute kommt. Denn der Bundeskanzler wird vom Bundestag gewählt (Art. 63). Es sind notwendig die Parteien der Mitte, die ihn bestimmen, weil die Flügelparteien auf beiden Seiten, auch wenn sie von ansehnlicher Stärke sind, sich naturgemäß gegen die Mitte auf einen gemeinsamen Kandidaten nicht einigen können. Und auch nur die Mitte kann ihn wieder stürzen. Denn ein wirksames Mißtrauensvotum kann der Bundestag gegen ihn nur dadurch aussprechen, daß er einen neuen Bundeskanzler wählt (Art. 67). Das vermögen die Flügelparteien nicht. Ähnliches gilt für die Wahl des Bundespräsidenten und der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts. Daneben enthält das Grundgesetz noch weitere Vorkehrungen, Erschütterungen des legitimen Übergewichts der Mitte abzuwenden. Es verlangt, wie erwähnt, daß die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muß (Art. 21 Abs. 1 Satz 3). Das gibt die Möglichkeit zu Interventionen in die Parteien, die sich auf den Flügeln halten. Und ferner: Eine Partei, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen", kann durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden (Art. 21 Abs. 3). Damit ist sie aus dem politiabgeordneten Dr. Reif auf dem 38. Deutschen Juristentag (Herbst 1950) behandelt. Dazu die Berichte von Werner (DVB1.1950 S. 641 f.) und Otto Küster (DÖV 1950 S. 619 f.). Zeitlich schließt sich die Arbeit von Gerhard Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie (DVB1.1951 S. 1 ff.) an. Hier ist die „Entwicklung vom repräsentativen Parlamentarismus zur parteienstaatlichen Massendemokratie" in voller Klarheit dargelegt. Über die Richtigkeit der Analyse von Leibholz können Zweifel kaum bestehen. Ob auch, wie Leibholz (a.a.O. S. 5 f.) meint, die „Demokratisierung der Parteien" genügt „zu verhindern, daß die Parteien als die unentbehrlichen Instrumente und Träger dieser neuen Form der Demokratie deren potentielle Zerstörer werden", ist, wie mir scheint, ein offenes Problem. Dazu auch unten S. 52 ff. Über den heutigen Stand des Problems gibt umfassend Aufschluß der Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Parteienrechtskommission „Rechtliche Ordnung des Parteiwesens" (1957).

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sehen Spiel abgedrängt, und der Verlust der wesentlichen Grundrechte droht ihr wie ihren Anhängern obendrein (Art. 18). Es steht hier nicht zur Erörterung, ob diese Regelungen demokratisch konsequent und politisch zwingend sind. Es soll nur festgestellt werden, daß sie in ihrer Gesamtheit die institutionelle Einbeziehung der Mittelparteien in das verfassungsrechtliche Herrschaftssystem wesentlich verstärken. Von hier aus stößt man unmittelbar auf die Frage nach dem Schicksal der Gewaltenteilung. Das Grundgesetz bekennt sich zum Gewaltenteilungsprinzip und sieht darin die Erfüllung des Rechtsstaatsideals. Mit der Wendung, daß die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt werde (Art. 20 Abs. 2), belebt es das überlieferte Gewaltenteilungsschema. Aber das rechtsstaatliche Balancesystem kommt nicht schon durch dieses Schema an sich, sondern erst durch eine substantielle Teilung, nämlich dergestalt zustande, daß in jeder dieser drei Ordnungen eine wirkliche „Gewalt" beheimatet ist, die ihren beiden anderen Gegenspielern hemmend und balancierend gegenübertreten kann. Die „powers" Lockes 22 und die „pouvoirs" oder „puissances" Montesquieus 23 sind keine abstrakten Konstruktionen, sondern konkrete politische Mächte (Krone, Parlament, corps des nobles, corps du peuple), die sich in annähernd gleicher Stärke auf dem Felde der Politik begegnen. Die konstitutionelle Monarchie brachte diese Gegenüberstellung klassisch zum Ausdruck; auch in der Weimarer Republik war sie als Erbschaft der konstitutionellen Monarchie noch vorhanden. Allerdings bereitete es auf dem Kontinent (zum Unterschied von England und den Vereinigten Staaten, wo sie in eigener Autorität ruht) schon immer Schwierigkeiten, auch die Justiz als eine selbständige Gewalt darzustellen. Selbst Montesquieu befand sich hierbei in Verlegenheit, was in seinem verschieden gedeuteten Versuch zum Ausdruck kommt, sie als „en quelque façon nulle" hinzustellen24. Im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahr22

Vgl. das 2. Buch seiner „Two Treatises of Civil Government" (1690). Montesquieu, De l'esprit des lois (1748), hesonders Buch XI, Kap. 6. Dazu neuerdings Ernst Forsthoff in der Einführung (S. XXV ff.) der von ihm besorgten deutschen Ausgabe des Werkes von Montesquieu (Tübingen 1951); ferner Otto Küster, Das Gewaltenproblem im modernen Staat, AöR 75 (1949) S. 397 ff. 24 Montesquieu, De l'esprit des lois, Buch XI, Kap. 6 (an zwei Stellen). Dazu Carl Schmitt, Die Diktatur (2. Aufl. 1928) S. 109; Verfassungslehre 23

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hunderte bis in die Zeit der Weimarer Republik behalf man sich damit, die „dritte" Gewalt als solche durch paritätische Besetzung von den beiden andéren Gewalten her, d.h. in der Kombination von Berufsrichtern, die die (monarchische) Exekutive delegierte, und Bürgerrichtern (Geschworenen, Schöffen und anderen Laienbeisitzern) zu konstruieren. Davon blieb schließlich das Beamtenethos des Berufsrichters als das vorherrschende Element richterlicher Eigenständigkeit übrig. Heute versagt das alles. Hinter der Legislative und der Exekutive des Bonner Grundgesetzes stehen dieselben parteipolitischen Kräfte, erhebt sich also nur eine Gewalt. Hinter „den Richtern" andererseits, denen Art. 92 des Grundgesetzes „die rechtsp rechen de Gewalt anvertraut", befindet sich überhaupt ein Vakuum, in das auf Grund der neuen Modalitäten der Richterberufung und Richteranklage (Art. 94, 95 Abs. 3, 96 Abs. 2, 98 Abs. 2, 4 und 5) nun allmählich ebenfalls die parteipolitischen Kräfte eindringen. Was sich im Bonner Grundgesetz als Gewaltenteilung ausgibt, hat also von der rechtsstaatlichen Substanz dieses politischen Organisationsprinzips wenig bewahrt und ist zu einem bloßen Ordnungsschema der Aufgaben und Zuständigkeiten geworden, auf das, wie die Erfahrung lehrt, bezeichnenderweise auch Staaten mit konzentrierter Staatsmacht nicht zu verzichten brauchen 25. Und doch beruht auch das Grundgesetz auf einer echten und höchst wirksamen Gewaltenteilung, freilich ganz anderer Art. Die politischen Parteien selbst, soweit sie zu der unmittelbar in die staatliche Herrschaftsorganisation einbezogenen Mittelgruppe gehören, stellen in ihrem konkurrierenden und ausgleichenden Verhältnis zueinander das eigentliche Balancesystem der gegenwärtigen Verfassungsordnung dar. Auch die beiden großen Kirchen und die Gewerkschaften sind daran beteiligt 26 . Auf ihrer aller Gleichgewicht beruht, mit diesem Gleichgewicht steht und fällt (1928) S. 185; ferner Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) S. 99; Otto Küster a.a.O. S. 406. 25 Dieses Ordnungsschema der Aufgaben und Zuständigkeiten findet sich z.B. ebenso in der Verfassung der UdSSR (der Stalin-Verfassung) von 1936 wie in der Verfassung der „Deutschen Demokratischen Republik" vom 7. Oktober 1949. 26 In dem nach der ersten Veröffentlichung dieser Ausführungen erschienenen Vortrag von Otto Küster, Das Gewaltenproblem im modernen Staat, AöR 75 (1949) S. 397 ff., besonders S. 410 ff. finden sich Gedankengänge, die das hier Gesagte bestätigen. Die Frage wird später (S. 44 ff.) noch näher zur Sprache kommen.

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der freiheitliche Charakter der heutigen Verfassung, und von hier aus gewinnen auch die erwähnten Bemühungen, dieses Gleichgewichtssystem vor Störungen von extremistischen Parteien her zu schützen, einen spezifisch rechtsstaatlichen Sinn.

VI. Nach allen Anzeichen hat vor allem das Problem des Artikels 48, des Ausnahmezustandes, der sog. Diktaturgewalt des Reichspräsidenten wie ein Alpdruck auf den Bonner Beratungen gelegen. Die Weimarer Verfassung hatte mit ebensoviel Unbefangenheit wie politischem Sinn die Möglichkeit vorgesehen, in Zeiten hoher Gefahr und Not ihr gewaltenteilendes Balancesystem außer Funktion zu setzen, und hatte dabei zur Sicherung des Staates und zur Wiederherstellung von Frieden und Ordnung dem Reichspräsidenten die ganze Fülle vereinigter Staatsgewalt anvertraut. Das war ein Wagnis, das Segen und Gefahren in sich barg; aber die Weimarer Verfassung hatte vor ihm nicht zurückgeschreckt im Bewußtsein dessen, daß die Dynamik des politischen Lebens solche Wagnisse nicht erspart. Bei den Verfassungsschöpfern von Bonn überwog die Furcht vor so viel Kühnheit, die Ablehnung starker staatlicher Kraftentfaltung und die Sorge um den monopolistischen Einfluß der Parteiorganisationen. Sie haben zwar deshalb nicht die Notwendigkeit von Ausnahmebefugnissen gänzlich ignoriert, aber die kraftvolle Lösung des Artikels 48 WRV zu einem blassen Abbild verdünnt. Der Staatsnotstand führt jetzt keine Konzentration der Machtbefugnisse mehr herauf, sondern verteilt die außergewöhnlichen Vollmachten auf drei verschiedene Träger in jeder der drei „Gewalten", und er läßt nirgendwo mehr generell umschriebene Handlungsmöglichkeiten, sondern nur noch kontingentierte, nach Voraussetzungen, Art und Ausmaß eng begrenzte Zuständigkeiten entstehen. Die Suspension von Grundrechten (früher Art. 48 Abs. 2 Satz 2 WRV), die dem exekutivischen Notstandshandeln im Ausnahmezustand den Weg öffnet, behält das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht vor, abgewandelt in einen Tatbestand der „Verwirkung" dieser Grundrechte, und es läßt sie überdies nur zu gegen tätige Feinde der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Art. 18, 21 Abs. 2). Vom Einsatz staatlicher Machtmittel im Staatsnotstand redet das Grundgesetz (Art. 91 Abs. 2) nur in der Form, daß es der Bun-

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desregierung unter eng begrenzten Voraussetzungen gestattet, vorübergehend die Polizeikräfte einzelner oder mehrerer Länder ihren Weisungen zu unterstellen. Und das Phänomen des Notgesetzgebungsoder Notverordnungsrechts schließlich faßt das Grundgesetz (Art. 81) nur unter dem Gesichtspunkt ins Auge, daß Bundesregierung und Bundestagsmehrheit einmal nicht harmonieren und der Bundestag sich als nicht fähig oder gewillt erweist, eine von der Bundesregierung als dringlich bezeichnete Gesetzesvorlage zu verabschieden. Alsdann kann der Bundespräsident mit Zustimmung des Bundesrates, allerdings nur einmal in der Amtsperiode eines Bundeskanzlers, den „Gesetzgebungsnotstand" erklären. Das hat zur Wirkung, daß innerhalb einer Zeit von höchstens 6 Monaten dringende Gesetze über den Kopf des Bundestages hinweg durch übereinstimmenden Beschluß von Bundesregierung und Bundesrat verabschiedet werden können 27 . In diesen mühsamen Verklausulierungen ist von der ganzen Kraft der Ausnahmebefugnisse der Weimarer Verfassung nur noch eine Attrappe übriggeblieben, eine blecherne Rüstung in den dunklen Fährnissen, mit denen Deutschland auf seinem Wege redinen muß.

VII. Hier stehen wir nun schon beim Dritten, bei der Entmachtung der Exekutive. Sie ist allerdings nicht allein das Werk des Parlamentarischen Rates. Denn daß die Bundesrepublik über kein bewaffnetes Machtinstrument verfügt, daß das Berufsbeamtentum als geschlossenes Kraftzentrum aufgelöst und Preußen aufgegeben ist, auch daß ein posthumer und gequälter Föderalismus das Verfassungsgefüge brüchig macht28, beruht nicht auf seinem Willen. Aber im übrigen war es auch sein Anliegen, die Exekutive zu schwächen. Am deutlichsten zeigt sich dieses Vorhaben bei der Behandlung des Präsidentenamtes. In der Weimarer Republik war es die Kernposition einer starken Exekutive. Davon hat das Bonner Grundgesetz alle wirkliche Kraft abgezogen: die plebiszitäre Autorität der unmittelbaren 27

Hierzu die Referate von Walter Jellinek und Hans Schneider sowie die Diskussionen über „Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz" auf der Heidelberger Tagung (1949) der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 8 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Berlin 1950) S. 3 ff. Vgl. ferner Bodo Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, DÖV 1950 S. 237 ff. 28 Näheres darüber unten S. 57 ff., 288 ff.

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Volks wähl, die Stabilität der siebenjährigen Amtsperiode, die auf 5 Jahre reduziert wurde, die außergewöhnlichen Vollmachten des Ausnahmezustandes, die Reichsexekution gegen widerstrebende Länder, die Organisationsgewalt 29, die Befugnis, gegen die Parteien und das Parlament durch Reichstagsauflösung und Anordnung des Volksentscheids an das Volk selbst zu appellieren, und nicht zuletzt das Recht, den Reichskanzler zu bestimmen. Der Oberbefehl über die Wehrmacht ist ohnehin entfallen. In dem noch verbliebenen Umfang (Art. 63 Abs. 4, 68) ist die präsidentielle Parlamentsauflösung kaum zu rechnen. Soweit aber der Bundespräsident noch handeln darf, beschrankt ihn die auch über ihn gesetzte Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts (Art. 61, 93 Abs. 1 Nr. I) 3 0 . Das sind Einbußen, die auch durch eine gewisse Stabilisierung der Bundesregierung nicht annähernd wettgemacht werden 31 . Mit dem Präsidenten selbst ist die ganze Exekutive entmachtet, wodurch ihr die ausgleichende und stabilisierende Funktion im Parteienstaat und auch die Tauglichkeit, als Element der Gewaltenteilung zu wirken, genommen ist. Man hat demgegenüber beruhigend darauf hingewiesen, daß demi Bundespräsidenten immerhin die wichtige Funktion einer neutralen Gewalt, eines „pouvoir neutre" bleibe 32 . Daß im pouvoir neutre ein 29 Über die hierzu getroffenen Entscheidungen des Grundgesetzes vgl. Wilhelm Laforet, Verwaltung und Ausführung der Gesetze nach dem Bonner Grundgesetz, DÖV 1949 S. 223. 30 Es darf hier daran erinnert werden, daß die Weimarer Verfassung (Art. 19) den Staatsgerichtshof nicht zur Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten „innerhalb des Reiches" berufen und insoweit keine verfassungsgerichtliche Kontrolle über den Reichspräsidenten errichtet hatte. 31 Die größere Stabilität der Bundesregierung gegenüber dem Parlament ist dadurch erzielt worden, daß man den Sturz der Regierung von dem Vorliegen eines sog. „konstruktiven Mißtrauensvotums" abhängig machte und ein Mißtrauensvotum gegen einzelne Minister überhaupt nicht zuließ (Art. 67 GG). Dazu vor allem — neben Walter Jellinek und Hans Schneider in den oben S. 27 Anm. 27 zitierten Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer — Friedrich Glum, Das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland, Großbritannien und Frankreich (München u. Berlin 1950) S. 298 ff.; derselbe, Kritische Bemerkungen zu Art. 63, 67, 68, 81 des Bonner Grundgesetzes, Festgabe für Erich Kaufmann (Stuttgart und Köln 1950) S. 47 ff. Ein stärkerer Kanzler und ein stabileres Kabinett bedeuten, da beide Elemente des parteienstaatlichen Systems bleiben, keinen Ausgleich für die Abwertung der Position des Präsidenten. 32 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee S. 41; Karl Schmid, Die politische und staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1949 S.205; Praß, Die Bundesorgane, DtVerw. 1949 S.322;

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verfassungspolitisches Phänomen ersten Ranges liegt, wird niemand leugnen33. Audi bedarf es zur Erfüllung der ordnenden, schlichtenden und ausgleichenden Aufgaben einer solchen „neutralen Gewalt" keiner betonten Macht. Andererseits entsteht ein pouvoir neutre niemals aus Schwäche, und er schafft audi nicht Autorität, sondern setzt sie voraus34. Das Grundgesetz verleiht dem Bundespräsidenten jedoch von sich aus weder Macht noch Autorität, diese nicht, weil es auf seine plebiszitäre Einsetzung zugunsten der Bestimmung durch die Parteien verzichtet hat 35 . Der Vorgang der Schwächung der Exekutive ist von anderen Seiten her nodi vertieft und verbreitert worden. Auffallend ist in dieser Hinsicht etwa die ausgedehnte Bindung der Bundesregierung an die Zustimmung des Bundesrates 36. Noch mehr aber tritt in diesem Zusammenhang die unerhörte Ausbreitung justizstaatlicher Elemente im Verfassungsgefüge hervor 37 . Es gibt kaum einen wesentlichen Vorgang des Verfassungslebens, der nicht vor dem Bundesverfassungsgericht in einen Prozefi verwickelt werden, und keine Verwaltungsmaßnahme, um die man nicht vor den Verwaltungsgerichten oder subsidiär vor den ordentlichen Gerichten (Art. 19 Abs. 4) streiten könnte. Damit ist die doppelte Gefahr einer Juridifizierung der Politik und der Politisierung der Justiz „Bonner KommentarVorbem. vor Art. 54; Hermann v.Mangoldt, Das Verhältnis von Staatschef und Regierung, Deutsche Landesreferate zum III. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung (1950) S. 834 ff., 838 f. 33 Die Einsicht in diese Zusammenhänge hat Carl Schmitt (Der Hüter der Verfassung, 1931 S. 132 ff.) der heutigen Staatsrechtslehre wieder erschlossen. Über den Reichspräsidenten als neutrale Gewalt a.a.O. S. 156 ff. 34 Karl Schmid in dem zitierten Aufsatz (DÖV 1949 S. 205) meint, der Bundespräsident werde die Möglichkeit zu fruchtbarer Wirkung haben, wenn er begreife, daß auch ein pouvoir neutre echte Autorität zu verleihen vermöge. Hier sind Voraussetzung und Wirkung vertauscht. 35 Dazu der schön erwähnte Bericht „Die Konstituierung der westdeutschen Bundesorgane", AöR 75 (1949) S. 338 f. 36 Dazu Näheres unten S. 80 f. 37 Hierzu Wilhelm Greme, Die Bundesrepublik als Rechtsstaat, DRZ 1949 S. 392 ff.; H.P.Ipsen, Über das Grundgesetz S. 14 ff. und besonders Friedrich Klein, Bonner Grundgesetz und Rechtsstaat, Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss. 106 (1950) S. 390 ff. Einer Bemerkung in dieser Abhandlung (S. 408 oben) darf ich entgegenhalten, daß ich unter „justizstaatlichen Elementen'4 hier natürlich das Gesamtsystem der gerichtsförmigen Kontrollmöglichkeiten und nidit bloß die ordentliche Gerichtsbarkeit (Justiz im engeren Sinne) verstehe.

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trotz mancher Warnungen aus früherer Zeit und abschreckender Präzedenzfälle in aller Breite eingelassen. Es ist zwar aus den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit verständlich, daß man mit Leidenschaft das Recht gegen die Macht angerufen, daß man rechtsstaatlichen Schutz vor der Exekutive gesucht hat. In vielen, schon lange erprobten Fällen ist die richterliche Kontrolle auch hierzu geeignet und sogar unentbehrlich. Aber sie ist kein Allheilmittel, und sie wird nicht besser, je mehr man sie ausdehnt. Sie schlägt, ins Ungemessene erweitert, schließlich um in neue Unordnung und Not. Man muß sich hierbei erinnern, daß die Konzeption einer durchgängigen Kontrolle der Exekutive durch die Justiz einer Zeit entstammt, in der der Liberalismus seiner Höhe zustrebte. Man hat diese Kontrolle damals nicht etwa voll durchgeführt, aber doch ihr Prinzip entwickelt. Zu dem System des Liberalismus gehört nun als wesentliche Voraussetzung, daß sich der Staat aus der menschlichen Daseinsgestaltung zurückzieht, daß er sich innenpolitisch auf die bloß polizeiliche Aufgabe der Gefahrenabwehr beschränkt und im übrigen die wirtschaftliche und kulturelle Lebensentfaltung den Kräften der Individuen in der staatsfreien bürgerlichen Gesellschaft überläßt. In solcher Lage waren justizstaatliche Gedanken weder hemmend noch systemwidrig. Denn der Staat sollte hier auf wenige, mehr formale Ordnungsaufgaben reduziert werden, von denen man annehmen durfte, sie durch justiziable Tatbestände normativ abzirkeln zu können. Deutschland hat nie die ökonomische Fülle und die insulare Ruhe gehabt, den Liberalismus ökonomisch und politisch voll auszuleben. Deshalb hat es auch auf den liberalen Höhepunkten seiner Vergangenheit nicht daran denken können, sein politisches Schicksal nach den Idealen des Justizstaates zu formen, ebenso wie es übrigens in voller Konsequenz auch in keinem anderen Staat geschehen ist. Das aber in der heutigen Lage Deutschlands nachzuholen, noch dazu in einem Ausmaß, das die kühnen Vorstellungen der alt-liberalen Verfechter des Justizstaatsgedankens noch weit überbietet, bedeutet einen gefährlichen Anachronismus. Schon das Vertrauen, daß der gerichtliche Prozeß und das richterliche Urteil an sich auch in politischen Angelegenheiten die Garantie für untadelige Rechtsverwirklichung böten, ist erschüttert in einer Zeit, die schlimmstes Unrecht im Namen des Rechts und unter vorgeblicher Unabhängigkeit aus dem Munde politisierter Richter ver-

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nommen hat und in den erdumspannenden Bürgerkriegsgegensätzen immer noch vernimmt. Und selbst wo sie noch intakt zu sein scheint, ist die Justiz unmittelbar gefährdet, wenn man sie in politische Verantwortung hineinzieht. Dann nämlich ergibt sich eine Lage, in der sich liberale Vorstellungen (die dem Justizstaatsprinzip zugrunde liegen) und demokratischer Beherrschungswille nicht mehr kompromißhaft versöhnen lassen. Dann verlangen die politischen Kräfte auch Einflufi auf die Justiz und heischen sie von ihr Verantwortung, wodurch die Justiz alsbald in ihrem Wesen verletzend getroffen wird. Das ist keine phantasievolle Prophetie; vielmehr gibt das Bonner Grundgesetz selbst davon Rechenschaft. Die politische Einsetzung der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Art. 94), die Mitwirkung politischer Richterwahlausschüsse bei der Berufung der übrigen Richter (Art. 95 Abs. 3, 98 Abs. 4) und die politische Richteranklage (Art. 98 Abs. 2 und 5) 38 sind die Kehrseite der politischen Aufgaben, die das Grundgesetz mit der Juridifizierung des Verfassungs- und Verwaltungslebens den Richtern aufgebürdet hat. Man gelangt hier also bald in unslösbare Widersprüche. Von alledem abgesehen bleibt die alte Wahrheit, daß verantwortliches Handeln und politisches Wagnis, nicht richterliche Prozeßurteile die Geschicke der Völker bestimmen. Das gilt um so mehr, als der Staat unserer Zeit, ob er will oder nicht, Verwaltungsstaat ist. Diese Feststellung ist ebenfalls nicht neu; sie ist auch nicht abhängig vom parteipolitischen oder weltanschaulichen Bekenntnis. Sie gründet sich einfach auf das Faktum, daß der übervölkerte industrialisierte Massenstaat der Gegenwart ohne höchste wirtschaftspolitische, sozialpolitische und auch kulturpolitische Aktivität nicht in innenpolitischem Frieden und menschenwürdigem Ausgleich der Interessen existieren kann. Dieser Staat verfehlt sein Wesen und gefährdet 38 Dazu kritisch Herbert Ruschemeyh, Richteranklage und Richterwahl im Bonner Grundgesetzentwurf, MDR 1949 S. 258 ff., Hans Dahs, Die Stellung des Richters im Bonner Grundgesetz, NJW 1949 S. 688 ff.; Rotberg, Zur Stellung dei! Justiz im Grundgesetz, DRZ 1949 S. 387 ff.; ferner die Entschließungen der Rechtswissenschaftlichen Fakultäten (MDR 1949 S.352, SJZ 1949 S. 291 f., DtVerw. 1949 S. 179 f.) und des Deutschen Richterbundes (MDR 1949 S. 252, SJZ 1949 S.293). Grundlegend vor allem Eberhard Schmidt, Politische Rechtsbeugung und Richteranklage, in: Justiz und Verfassung (Hamburg 1948) S. 55 ff. Zur Frage der Richterwahl die Glosse „Die Zusammensetzung der Richter Wahlausschüsse", AöR 76 (1950) S. 232 ff. Eine zusammenfassende Würdigung des Problems unternimmt Hermann Jahrreiss, Demokratischer Rechts-Staat und Rechtswegstaat (Recht, Staat, Wirtschaft Bd. 2, 1950) S. 203 ff.

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seinen Bestand» wenn er nicht durch ungebrochenes Zupacken die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen für das Dasein seines Volkes schafft und erhält. In Mitteleuropa und in der b e s o n d e r ren Lage Deutschlands vollends steigert sich diese Notwendigkeit zu einem harten und keineswegs des Erfolges sicheren Kampf um das nackte Leben überhaupt. Hier kommt es entscheidend darauf an, das exekutivische Handeln des Staates zu entbinden und nicht zu schwächen, alle Kräfte zu gemeinsamem Tun zu sammeln und nicht aufzuspalten, sehr dringende und sehr elementare wirtschafte-, kultur- und sozialpolitische Leistungen zu erzielen und nicht sie zu blockieren. Natürlich ist damit nicht einer Entfesselung der Exekutive und einer Drosselung der Justiz, nicht einem Triumph der Macht das Wort geredet. Aber verantwortliches Handeln in Regierung und Verwaltung und nicht das Kontrollieren und richterliche Judizieren stehen im Zentrum der staatlichen Existenz. Die generöse Einführung richterlicher Kontrollen gegenüber der Verwaltung vor kurzer Frist zeigt schon jetzt, welch schwerer Ballast damit der verantwortungsbewufiten Handlungsbereitschaft der Verwaltung angehängt wurde, ohne daß auf der anderen Seite die erhoffte rechtsstaatliche Befreiung überzeugend sichtbar geworden wäre. Das vollendete justizstaatliche Idealsystem des Bonner Grundgesetzes aber droht Verwaltung, Regierung und Gesetzgebung ganz in die Umzingelung durch Verfassungs-, Verwaltungs- und Zivilgerichte zu verstricken. Und dodi ist es nicht der Richterspruch, der dem Volk Arbeit, Brot, Kleidung und Wohnung gibt und es vor dem Feinde schützt.

V f f l . Hier wie auch sonst greift das Grundgesetz nicht in die Zukunft des deutschen Volkes; es lebt von der Reaktion auf die unmittelbare Vergangenheit. Damit teilt es das Schicksal mancher, besonders der spätgeborenen Verfassungen, die wie es selbst nicht aus einem revolutionären Aufbruch hervorgegangen sind. Aber das Eigentümliche an ihm ist, daß es für den Irrweg des nationalsozialistischen Regimes, gegen den es sich unmittelbar wendet, gleichsam die Weimarer Verfassung verantwortlich macht. Es sieht den Ursprung des Übels in den Fehlern dieser Verfassung, spürt ihnen nach und merzt sie aus, um damit für die Zukunft alles zum Guten zu wenden. So wurde die Weimarer Verfassung zum Schuldigen und die Tilgung des Schwachen

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oder Bosen an ihr zum ängstlichen Hauptinhalt der Bonner Bemühungen. Mit einer Korrektur scheinbar leichtfertiger Großzügigkeit der Weimarer Verfassung beginnt schon Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes, der für alle „Grundrechte", ob dafür im einzelnen geeignet oder nicht, unmittelbar verbindliche Rechtswirkung anordnet. Voll Ressentiment tritt das Grundgesetz sodann der Freiheit der wissenschaftlichen Lehre entgegen, die unter der Weimarer Verfassung so viel Duldsamkeit gefunden hatte. Sie stellt die „Treue zur Verfassung" über das Grundrecht der Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3) 39 . Die Weimarer Verfassung hatte es nicht verhindern können, daß man sie in den Gesetzen vom 24. März 1933 und 30. Januar 1934 mit Hilfe ihres eigenen Verfassungsänderungsartikels (Art. 76 WRV) aus den Angeln hob; das Grundgesetz antwortet mit dem ausdrücklichen Verbot eines solchen Verfahrens (Art. 79). Sie hatte dem Volk zu einigen die Parteien störend beunruhigenden, eigenwilligen Plebisziten das Tor geöffnet. Deshalb mußte dieses Tor verschlossen und mußten die Parteien zu Wächtern bestellt werden. Die Weimarer Verfassung hatte es nicht verstanden, das Anwachsen der radikalen Flügelparteien niederzuhalten und ihnen gegenüber den Einfluß der parlamentarischen Mitte so zu sichern, daß sie arbeitsfähige Regierungen stellen und behaupten konnte. Das Grundgesetz trifft in den Artikeln 21, 63, 67 f. zeitig Vorkehrungen, einer Wiederholung soldier Fehler vorzubeugen. Die Verfassung von 1919 hatte sich dadurch eine selbstmörderische Blöße gegeben, daß ihr Reichstag aus den gleichen Gründen schließlich unfähig geworden war, dringend notwendige Gesetze zu beschließen. Dieser Gefahr will das Grundgesetz durch das kunstvolle Institut des Gesetzgebungsnotstandes abhelfen (Art. 81). Sie hatte ein Präsidentenamt, das sich als den politischen Parteien überlegen erwies. Obendrein hatte sein Inhaber im Jahre 1933 die Hand dazu geboten, das Regime an die Macht zu lassen, das zur Katastrophe führte. Die Folge: Das Präsidentenamt muß entmachtet werden. Das Institut des Ausnahmezustandes der Weimarer Verfassung (Art. 48) hatte dazu beigetragen, daß seit 1930 das System der parlamentarischen Parteiendemokratie 39 Dagegen wandte sich die Entschließung der Rechtswissenschaftlichen Fakultäten vom 14. März 1949 (DtVerw. 1949 S. 180, SJZ 1949 S.282 f.). Dazu auch AöR 75 (1949) S. 103 f. Die verfassungsrechtliche Tragweite dieser Entscheidung des Grundgesetzes hat Ernst Friesenhahn in seiner Bonner Rektoratsrede über „Staatsrechtslehrer und Verfassung" (1950) sorgfältig untersucht.

3 Weber

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durch ein autoritäres Präsidialregime ersetzt worden war, und diesem war dann in unmittelbarem Anschluß die Herrschaft Hitlers gefolgt. Welch weiteren Beweises sollte es noch bedürfen, daß ein solcher Ausnahmezustand an sich ein Verhängnis ist! Ganz Deutschland hat durch seine nationalsozialistischen Machthaber erfahren, an welche Abgründe entfesselte exekutivische Macht heranführen kann. Deshalb darf ein neu zu ordnender Staat eine Exekutive von Gewicht überhaupt nicht mehr besitzen, und es sollen die Gerichte bestellt werden, das verbliebene Minimum an exekutivischen Handlungsmöglichkeiten im Prozeßwege ab- und nachzumessen40. Uns will scheinen, daß hier zu vordergründig gedacht und zu viel Schuld an dem deutschen Verhängnis auf die Weimarer Verfassung abgewälzt ist 41 , und daß die bloße Wahl einer Gegenposition zu den Stellen, an denen diese Verfassung einer konkreten geschichtlichen Belastung wirklich oder vermeintlich nicht standhielt, eine zu leichte Entsühnung bedeutet. Das Bonner Grundgesetz entwirft uns dank dieser Entsühnung das Bild eines Verfassungslebens ohne ernstes Risiko, von beruhigender Sicherheit und einem beinahe bukolischen Frieden. Wir müssen nur fürchten, daß der tödlichen Bedrohung, unter der das deutsche Volk steht, dieser Friede nicht heilig ist. Die elastische Kraft, die noch in der Weimarer Verfassung wirkte, ist im Bonner Grundgesetz durch ein dünnwandiges Beziehungssystem von gläserner Sprödigkeit ersetzt. Gerade so hat der Parlamentarische Rat sein Werk in dem leichten Glauben geformt, daß sich dann an ihm das Schicksal der Weimarer Verfassung auch bei ähnlicher Belastung nicht wiederholen, daß es also sicherer standhalten und sich einer Gefahr womöglich gar nicht aussetzen werde. Gewiß, die unbändige vitale Kraft des Politischen, der man in Weimar nicht ausge40 Unter den Bestimmungen des Grundgesetzes, deren Zustandekommen in dieser Form und in dieser Eile ebenfalls mehr einer reflexartigen A.bwehrbewegung als einer festgegründeten Entscheidung zu entstammen scheint, wird man ferner etwa die problematische „Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film" (Art. 5 Abs. 1), das Verbot jeder Entziehung der Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 Satz 1) und die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102) zu nennen haben. 41 Sdion in der 3. Sitzung des Parlamentarischen Rates (Sten.Ber. S. 40) hatte der Abg. Dr. Heuss mahnend bemerkt: „Heute hat man die Angewohnheit, zu sagen: Weil der Hitler an die Macht gekommen ist und von den Paragraphen der Weimarer Verfassung nicht daran gehindert werden konnte, ist die Verfassung schlecht gewesen. So primitiv ist die Motivenreihe des Geschichtsprozesses nicht."

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wichen war, erscheint im Grundgesetz als überlistet. Sie wird trotzdem von innen und außen im Schicksal Deutschlands durchschlagen, aller Paragraphenlist spottend. Gerade wenn man den Frieden will, den das Bonner Grundgesetz verheißen möchte, ist es gut, das zu wissen.

II. Der Einbruch politischer Stände in die Demokratie L Wie ein politisches Gemeinwesen, ein Staat, verfafit ist, wie sich in ihm die politischen Kräfte verteilen und der politische Wille formt, hoffen wir in seiner geschriebenen Verfassung authentisch festgelegt zu finden. Schon sehr früh aber, 1862, hat Ferdinand Lassalle in seinem berühmten Vortrag „Uber Verfassungswesen" gegen dieses naive Vertrauen aufbegehrt 1. Nicht die geschriebene Verfassung, das „Blatt Papier" erscheint ihm als der wirkliche Ausdruck der politischen Ordnung; diese soll vielmehr in den realen Potenzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit verkörpert sein, und er nennt als solche Potenzen (für das damalige Preußen) das monarchische Staatsoberhaupt, die Armee, die monarchische Verwaltung und die Justiz, den Adel, die großen Industriellen, die Bankiers und die Börse, das „allgemeine Bewußtsein" und ganz entfernt noch die Kleinbürger und die Arbeiterschaft. Was damals als kühne und dem Positivismus der folgenden Jahrzehnte erst redit unbegreifbare Konzeption erschien, ist heute für die Verfassungslehre eine Selbstverständlichkeit. Das Auseinanderklaffen von geschriebener Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit ist ein geläufiges Phänomen des modernen Verfassungsdenkens geworden. Allerdings beschränkt sich diese Einsicht merkwürdigerweise auf die Verfassungstheorie. Man sollte meinen, die Praxis der Verfassungsschöpfer hätte sie übernommen und ihre Folgerungen daraus gezogen. Das ist nicht geschehen, und wenn man sich doch darum bemühte, dann mit wenig Erfolg und immer zu spät. Unsere geschriebenen Verfassungen bewegen sich immer noch, nadi 150 Jahren, als Variationen um dasselbe Thema, das die Französische 1 Ferdinand Lassalle, Uber Verfassungswesen. Ein Vortrag, gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein (Berlin 1862). Diesem, im Frühjahr 1862 mehrmals gehaltenen Vortrag folgte im Herbst des gleichen Jahres ein zweiter, der dasselbe Thema variierte und der unter dem Titel „Was nun? Zweiter Vortrag über Verfassungswesen" 1863 in Zürich erschienen ist.

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Revolution und die deutsche Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts intonierten. Es ist immer noch das gleiche Schema mit weithin identischen Institutionen und Konstruktionen, und alle Expeditionen in verfassungsrechtliches Neuland sind über die Randgebiete nicht hinausgedrungen. Wenn es noch eines Beweises für die geschichtliche Größe und Gestaltungskraft der bürgerlichen Revolution des 19. Jahrhunderts überhaupt bedürfte, so wäre er mit dieser drückenden Nachwirkung des Verfassungsdenkens jener Zeit geliefert. Freilich wird, indem wir das anerkennen, die Lage für uns nicht leichter. Wenn schon Lassalle aufwies, wie stark Verfassungsurkunde und politische Realität zu seiner Zeit auseinanderklafften, so gibt es für uns heute zwischen beidem weithin kaum noch Beziehungen. Man darf wohl Sagen, daß das Bonner Grundgesetz und die neuen deutschen Länderverfassungen die Kluft ihrerseits noch kräftig vertieft haben. Sie sind nicht nur den großen Umbildungsprozessen im Körper unseres politischen und sozialen Lebens nicht nachgeeilt, sondern haben sich eher restaurativ zurückgewandt. Es würde nicht weiterführen, in diesem Zusammenhang von Schuld zu sprechen. Wenn es schon schwer ist, sich über das eigene individuelle Menschsein Rechenschaft zu geben, so stehen wir bei unserer Existenz als Staat erst recht vor immer neuen Rätseln, die in zweieinhalb Jahrtausenden abendländischen Denkens nur in einzelnen Zügen aufgehellt wurden. Am wenigsten aber vermag der Mensch im Strom der ihn treibenden Kräfte seine jeweilige politische Gegenwart «situation ins Bewußtsein zu heben. Vor der Aufgabe, die konkrete Lage eines Staates transparent zu machen, steht selbst der forschende Geist in großer Verlegenheit. Um so weniger wird man ihre Lösung von dem sehr erdgebundenen Verfassungsgesetzgeber erwarten dürfen. Auch werden wir daran denken müssen, daß wir alle nach mehr als zwei Jahrzehnten tiefer Erschütterung Zuflucht in der Atempause einer Idylle bürgerlicher Sicherheit und bescheidener Wohlstandswärme gesucht haben. Nichts anderes haben auch unsere Verfassungsschöpfer getan, indem sie angesichts des Chaos einen Halt in altbewährten Formen zu finden glaubten. So ist es kein Wunder, daß wir ein System geschriebener Verfassungen vor uns sehen, das in überlieferten Formeln und Konstruktionen erstarrt ist und uns gegenüber dem wirklichen politischen Kräftespiel unserer Tage ratlos läßt.

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IL Das Bonner Grundgesetz und die neuen Länderverfassungen gestalten die politische Ordnung nach einem System von Abstraktionen. Es sei allerdings gleich vorausgeschickt, daß die wirklichen politischen Kräfte stark genug sind, diese Schale zu durchbrechen und sich mit jenen Abstraktionen zu ihrem Nutzen abzufinden. Aber das geschieht doch nur mit einer gewissen Gewaltsamkeit und in einer Weise, die neue Unübersichtlichkeit und Verwirrung entstehen läßt. Die abstrakten Elemente, aus denen das geschriebene Verfassungsrecht unserer Tage den Staat aufbaut, sind die drei sogenannten „Gewalten", also Exekutive, Legislative und Rechtsp rechen de Gewalt, sodann Volk und Länder. In allen Fällen handelt es sich um Gegebenheiten, die früher einmal eine hohe Realität besaßen. Exekutive, das war die konkrete monarchische Staatsapparatur des konstitutionellen Systems, Legislative die blutvolle Vertretung des dieser Apparatur in revolutionärem Aufbruch gegenübertretenden Dritten Standes, d.h. des Bürgertums. Nur die Rechtsprechende Gewalt (Justiz) war auf dem Kontinent von jeher viel blasser. Neben dem alle politische Kraft absorbierenden Gegensatz von monarchischem Staatsapparat ( = Exekutive) auf der einen und demokratisch durchbrechendem Bürgertum ( = Legislative) auf der anderen Seite blieb für sie keine eigentliche Substanz und Vitalität mehr, so daß sie sich mit der immer etwas künstlichen Rolle der „dritten Gewalt" begnügen mußte, die von den Gegensätzen der beiden anderen Gewalten lebte2. Wie soll man dem Volke klarmachen, daß seine Herrscher Exekutive, Legislative und Rechtsprechende Gewalt seien? In der Tat sind das nur noch Formeln und abstrakte Konstruktionen, Bezeichnungen für staatliche Funktionsbereiche, aber keine politischen „Gewalten", als welche die neuen Verfassungen sie uns vorstellen. Natürlich steht hinter der „Exekutive" das Funktionärkorps des Berufsbeamtentums. Doch hat dieses seine bis in die Weimarer Republik bewahrte tragende Rolle verloren. Es ist als politischer Stand zersprengt und verstreut worden, und ob diese Eigenschaft eines politischen Standes aus den Trümmern zurückgewonnen werden kann, muß als sehr zweifelhaft erscheinen. Die Fiihrungssdiidii der sog. Exekutive aber, die sich in Bundes- und Landesregierungen manifestiert, ist nichts der Exekutive Eigenes, wie es der konstitutionelle Monarch und noch der 2

Dazu schon oben S. 24 ff.

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Reichspräsident der Weimarer Verfassung waren. Bei ihr treten die Exponenten ganz anderer politischer Mächte, vornehmlich der politischen Parteien auf. Obwohl sie in der Regierung nach überlieferter Vorstellung in staatsmännische Verantwortung berufen sind, bleibt dodi die Bindung an die politischen Parteien das beherrschende Moment. Daraus wird deutlich, daß die Exekutive keine eigenständige „Gewalt" darstellt, sondern heute nur noch einen Funktionsbereich, ein Instrument bedeutet, dessen sich andere Gewalten bedienen, um ihren politischen Geltungsanspruch zu verwirklichen. Ähnlich imaginär ist es heute, die „Legislative" als eine der „Gewalten" des Staates zu verstehen. Legislative ist nur noch ein anderer Name für das Parlament, und das Parlament der Gegenwart ist keine geschlossene Repräsentation, die sich mit der politischen Potenz „Volk" identifizieren kann, ist nicht mehr der zusammengefaßte Ausdruck von Geist und Bildung der ganzen Nation, ist überhaupt keine Körperschaft, die ihre Autorität in sich selbst hat, sondern eine Konferenzgelegenheit, ein Forum und eine Apparatur, die wiederum die Exponenten der politischen Parteien zusammenführt, damit aus ihren Kompromissen und der Auszählung ihres Stimmengewichtes der jeweils bestimmende Wille der gerade maßgebenden Parteigruppierungen ermittelt werden kann 3 . Die Bedeutung dieser Funktion soll damit nicht verkleinert werden. Aber daß die „Legislative" im Sinne von Parlament eine in sich ruhende, ursprüngliche politische Macht wäre, die den Staat mit konstitutiert, kann niemand behaupten. In ihr sind andere, von außen kommende Kräfte, politische Stände neuer Art wirksam, die instrumental durch das Parlament hindurch tätig sind. Wenn man so weit mitgegangen ist, wird man sogleich die Absicht des Bonner Grundgesetzes als fragwürdig empfinden, aus den erwähnten drei „Gewalten" im Sinne der liberalen Gewaltenteilungsdoktrin ein Balancesystem zu errichten, das die Gefahr einer Gewaltherrschaft bannen und den freiheitlichen Charakter des Gemein3 Über den Funktionswandel der Parlamentsinstitution vor allem Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (2. Aufl. München u. Leipzig 1926) ; derselbe, Verfassungslehre (München u. Leipzig 1928, unveränderter Neudruck 1954) S. 303 ff.; neuerdings besonders Gerhard Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie, DVB1.1951 S. Iff.; derselbe, Demokratie und Rechtsstaat (1957) und Ernst Forsthoff, Zur verfassungsrechtlichen Stellung und inneren Ordnung der Parteien, DRZ 1950 S. 313 ff.

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wesens sichern soll. Natürlich ist auch in der modernen Verfassung gegen die Dreiteilung der Gewalten nichts einzuwenden, soweit man sie als ordnende Gliederung der drei wesentlichsten Staatsfunktionen versteht; und man kann in gewissen Grenzen aus ihnen audi ein balancierendes Kräftespiel formen. Aber wie wenig das allein schon für die politische Grundstruktur bedeutet, ist daraus zu ersehen, daß selbst die Sowjetverfassungen auf dieses dreiteilige Ordnungsschema nicht verzichten 4. Die heutigen deutschen Verfassungen, voran das Bonner Grundgesetz, wollen nun gerade durch die sog. Gewaltenteilung eine freiheitliche Gegenverfassung zum sowjetischen Gewaltregime errichten. Daß dieses Ziel nicht gesichert ist, wenn man statt echter politisch-sozialer Potenzen nur schemenhafte Konstruktionen und Apparaturen in den Griff bekommt, liegt auf der Hand. Immer wieder muß daran erinnert werden, daß die großen literarischen Urheber des Gewaltenteilungssystems John Locke und Montesquieu im

17. und 18. Jahrhundert nicht daran gedacht hatten, in ihren „powers" oder „puissances" ein abstraktes Konstruktionsschema zu errichten, sondern in ihnen die realen Potenzen ihrer Zeit: Monarch, hohe und niedere Aristokratie und ständisch verstandenes Bürgertum erfassen und balancierend einander gegenüberstellen wollten 5 . Davon ist heute nur noch die leere Hülle übriggeblieben. Es kommt noch ein weiteres hinzu: Zwischen Exekutive und Legislative funktioniert die gegenseitige Balance auch sonst nicht. Denn hinter der Legislative stehen als bewegende Kraft die politischen Parteien; hinter der aus dem Parlament geborenen Leitung der Exekutive stehen sie ebenfalls. Bei dieser Gewaltenvereinigung im Hintergrund bedeutet es nichts politisch Entscheidendes, wenn Parlament und Regierung im Vordergrund des Geschehens durch einige verfassungstechnische Konstruktionen in ein PolaritätsVerhältnis gebracht sind. Nun hat allerdings die dritte „Gewalt", die Justiz, so viel Eigenständigkeit behalten, daß ihre Kontrollfunktion innerhalb der Ge4

Das gilt sowohl für die Verfassung der UdSSR (die sog. Stalin-Verfassung) von 1936 als auch für die Verfassungen der Satellitenstaaten der Sowjetunion und das Verfassungssystem der sowjetischen Okkupationszone in Deutschland. 5 Vgl. die dazu oben S. 24 ff. angeführten Belege. In diesem Zusammenhang darf auf die interessante Analyse von Hermann Jahrreiss, Demokratischer Rechts-Staat und Rechtswegstaat (Recht, Staat, Wirtschaft Bd. 2, 1950) S. 203 ff. hingewiesen werden.

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waltenteilung nicht in gleichem Maße als illusionär erscheint. Denn hinter ihr steht ein konkretes deutsches Richtertum, das inmitten aller Auflösung der Ordnungen in unserem Volke noch eine gewisse ständische Geschlossenheit und das Bewußtsein einer eigenständigen Aufgabe bewahrt hat. Die Unabhängigkeit der deutschen Rechtspflege ist — bis heute wenigstens — keine bloße Illusion. Aber die Substanz dieser ständischen Geschlossenheit des Richtertums beruht nur auf den hier noch geretteten Tugenden und Elitevorstellungen der deutschen Beamtentradition. Wie lange das noch standhalten wird, ist eine offene Frage. Denn die Ereignisse zeigen deutlich genug, daß man die ständische Geschlossenheit der Justiz gerade nicht als Erfüllung des Gewaltenteilungsgedankens dankbar aufnimmt und weiter hegt, sondern daß man ihr mit Mißtrauen begegnet und sie im Prinzip negiert. Die Politisierung der Richterpersonalpolitik nimmt der Richterbestellung den Charakter der ständischen Kooptation. Dabei wird man unter Politisierung der Richterpersonalpolitik mehrere Momente zusammenfassen müssen: einmal das allgemeine Abhängigwerden der personalpolitischen Entscheidungen von parteipolitischen Rücksichten, die rein politische Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts6, das parlamentarisch beeinflußte Richterwahlverfahren 7, die Möglichkeit, den Richter im sog. Richteranklageverfahren auch hinsichtlich seiner Spruchtätigkeit zur Verantwortung zu ziehen8, und 6

Art. 94 Abs. 1 des Grundgesetzes und §§ 5 ff. des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) / 21. Juli 1956 (BGBl. I S. 662). Es ist allerdings hervorzuheben, daß die Gestaltung der Wahl nach dem Gesetz vom 12. März 1951 mit Hilfe einiger Vorkehrungen (indirekte Wahl durch den Bundestag, qualifizierte Mehrheit serf ordernisse) erfreulich dahin tendiert, die Bestellung der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts wieder etwas zu neutralisieren. Auch die Mitglieder der Verfassungsgerichtshöfe der Länder werden durchweg von politischen Körperschaften gewählt. 7 Art. 95 Abs. 3, 96 Abs. 2 und 98 Abs. 4 des Grundgesetzes, ferner das Richter Wahlgesetz vom 25. August 1950 (BGBl. S.368). Von den Ländern haben eine Richterwahl im Sinne von Art. 98 Abs. 4 des Grundgesetzes vorgesehen: Hamburg (Art. 63), Hessen (Art. 127 Abs. 3), Bremen (Art. 136 Abs. 1) ; ferner für die höchsten Richter Berlin (Art. 69 Abs. 2 der Verf. vom 1. September 1950). 8 Art. 98 Abs. 2 und 5 des Grundgesetzes; §§ 58 ff. des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243). In den Verfassungen der Länder kehrt die sog. Richteranklage in folgenden Fällen wieder: Baden-Württemberg (Art. 66), Bremen (Art. 136 Abs. 3), Hamburg (Art. 63), Hessen (Art. 127 Abs. 4), Nordrhein-Westfalen (Art. 73), Niedersachsen (Art. 40), Schleswig-Holstein (Art. 36 Abs. 2), Rheinland-Pfalz (Art. 132) und Berlin (Art. 72 Abs. 2), hier allerdings nur für die gewählten hödisten Richter.

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schließlich die zeitweilig verbreitete Umgehung der festen Richteranstellung durch Beschäftigung bloß beauftragter Richter in unsicherer Lage. Auch die Bestellung der beisitzenden Laienrichter scheint, mindestens in einigen Zweigen der Rechtsprechung, mehr und mehr in eine parteipolitische Aufschlüsselung hineinzugeraten. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang die alarmierende Reaktion gegen die richterliche Unabhängigkeit symptomatisch, die gelegentlich einige Urteile von der Tribüne des Parlaments und in den Erklärungen einflußreicher politischer Gruppen ausgelöst haben. Nimmt man alles zusammen, so ist leicht erkennbar, daß die vom Grundgesetz so stark profilierte Position der Rechtsprechenden Gewalt von demselben Grundgesetz und von dem politischen Regime, für das es den juristischen Mantel abgibt, doch gleich wieder in ihrer personellen Kernsubstanz der Auflösung ausgesetzt wird. Die politischen Kräfte, die sich Legislative und Exekutive gleichermaßen zugängig gemacht haben, drängen in der Dynamik der modernen Massendemokratie dahin, keinen Bereich auszulassen, auch den der Justiz nicht, und diesen um so weniger, je mehr den Gerichten spezifisch politische Kontrollaufgaben aufgebürdet werden. Gegen diese robuste Expansion hat das Grundgesetz mit dem abstrakten Gewaltenteilungsschema allein keine zureichende Garantie aufgeboten. Neben Legislative, Exekutive und Justiz wurden Volk und Länder als abstrakte Elemente im Gefüge des Grundgesetzes genannt. Nun ist sicher das Volk an sich kein Abstraktum. Jedoch im Grundgesetz ist es zwar oft genannt, aber nur blaß und wie in einer Vitrine gezeichnet9. Für die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts ist das Volk aus eigener Kraft der lebendige und höchst aktive Widerpart des Staates, durch den Gegensatz zur Staatsapparatur individualisiert und durch eine kämpferische Volksvertretung in den Strömungen seiner öffentlichen Meinung als Ganzes dem Staate gegenüber repräsentiert. Diese Situation des Dualismus von Staat und bürgerlicher Gesellschaft ist heute nicht mehr gegeben. Aber das Grundgesetz weiß auch das Volk in anderer Weise nicht zu fassen. Aus Furcht vor der elementaren Unberechenbarkeit unmittelbarer Volksabstimmungen und davor, daß das Volk sich der Kontrolle der Parteiführung 9 „Da traue ich dem aufgeklärten »Absolutismus* eines Parlaments mehr zu", konnte der Abg. Dr. Karl Schmid in der Bundestagsdebatte über die Frage der Todesstrafe vom 27. März 1950 der Berufung auf den Volkswillen gegenüber einwenden (Deutscher Bundestag, Sten.Ber. 1950 S. 1918).

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entziehen könnte, sieht das Grundgesetz an keiner Stelle die Möglichkeit vor, etwa in der Wahl des Staatspräsidenten oder einer sonstigen plebiszitären Entscheidung das Volk zu einem Gesamtvotum zu mobilisieren und es dadurch als Ganzes zu seiner Staatsführung oder zu schicksalsvollen Staatsführungsakten in Beziehung zu setzen. Nirgendwo gedenkt es ferner der Ordnungen, der berufsständischen, wirtschaftlichen, gewerkschaftlichen, kirchlichen Gruppierungen oder der Klassen, in denen das Volk gegliedert lebt, um ihm etwa von dort aus den Zugang zur politischen Willensbildung zu erschließen. Auch das Phänomen der öffentlichen Meinung klingt im Grundgesetz nicht an. Das Volk tritt nur an einer Stelle handelnd auf, nämlich, von den Landtags- und Kommunalwahlen abgesehen, in der von 4 zu 4 Jahren erneuerten Bundestagswahl. Aber auch diese Wahl ist weder echte Wahl noch überhaupt ein das Volk integrierender Gesamtakt, sondern ein von den politischen Parteien erhobener Appell über ihre Wahlgefolgschaft im Volke und über das Gewicht an Stimmen, das sie danach während der nächsten 4 Jahre in das politische Spiel einbringen können. Diese Gestaltung des Wahlvorgangs bringt es mit sich, daß das Volk den einzigen Fall, in dem es zu einer politischen Willenshandlung aufgerufen wird, mehr als itio in partes und als Entscheidung über das Trennende denn als Selbstbestätigung im Verbindenden erlebt. Hier wird primär über Macht und Gewicht der Parteien und nicht über den Staat und sein Schicksal im ganzen entschieden. So oft daher das Grundgesetz vom Volk spricht — und es versteht sich, daß es das Volk als den Souverän behandelt (Präambel und Art. 20 Abs. 2) —, stößt es in der verständlichen Verlegenheit des modernen Massenstaates nicht zu einer greifbaren Wirklichkeit vor, die sich als Volk verstehen ließe. Vielmehr bleibt es entweder bei einem vagen Hinweis auf das Volk als den „fernen Gott" der demokratischen Legitimation stehen, oder es meint in Wahrheit die politischen Parteien. Diese haben in der Tat das Volk völlig mediatisiert. Gerhard Leibholz hat das dahin formuliert, daß die Parteien hier der Intention nach „das" Volk „sind" 10 . Schließlich die Länder. Daß diese geographisch und als politische Gemeinwesen Realität, wenn auch nicht die echter Staaten besitzen, wird allerdings niemand leugnen. Es handelt sich nur um die Frage, ob es wirklich die Länder sind, deren Willenskundgebung nach den Normen des föderalistischen Grundgesetzes in Gesetzgebung und Re10

DVB1.1951 S. 4; ähnlich Demokratie und Rechtsstaat (1957) S. 17 ff.

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gierungspolitik das Schicksal des Gesamtstaates mitbestimmt. Die Antwort ergibt sich aus der Staatspraxis selbst. In allen entscheidenden Fragen bilden die Länderminister, die im Bundesrat auftreten, den Bundeswillen nach ihrer parteipolitischen Herkunft, sind also auch die Bundesratsvertreter mehr Sprecher der politischen Parteien als des Landes selbst. Wie später noch näher deutlich zu machen ist 11 , ist es die Hauptfunktion der heutigen Länder im Rahmen der Bundespolitik, Hausmacht der in ihnen dominierenden Parteien und sonstigen Machtgruppen zu sein. Das ist ein weiterer Beleg dafür, wie sehr in den aus der Überlieferung übernommenen Institutionen des Grundgesetzes immer andere, unmittelbarere Kräfte durchschlagen.

III. Von solchen Feststellungen aus gelangt man mit Ungeduld zu der Frage, worin denn die eigentlichen politischen Potenzen bestehen, die die wirkliche Verfassung Westdeutschlands ausmachen und seine Herrschaftsorganisation bestimmen. Die Antwort muß lauten: ein Pluralismus (d. h. eine ungeordnete Vielzahl) oligarchischer Herrschaftsgruppen. Das Gesamtbild dieser Oligarchien ist sehr bunt. An erster Stelle stehen die politischen Parteien, dann folgen die Gewerkschaften, dann Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände und die Kirchen, um aus einer ständig wachsenden Zahl von Verbänden, Gruppen und Organisationen nur diese „Großen" herauszugreifen. In ihnen allen verkörpert sich eine soziale Mächtigkeit, die bei den politischen Parteien von vornherein auf politische Herrschaft ausgerichtet ist, während sie bei den anderen aus primär sachbezogenen Aufgaben sonstiger Art in den politischen Bereich einflußheischend übergreift 1^. Daß die politischen Parteien in politischer Verantwortung stehen, bedarf keiner näheren Begründung. Der außerordentliche politische Einfluß der Gewerkschaften ist ebenfalls jedem evident. Bei den Unternehmerund Wirtschaftsverbänden dagegen verschwimmt die politische Wirkungskraft in einer schwer greifbaren Anonymität, während sich bei 11

Siehe unten S. 63 f., 290. Das von Rudolf Vogel und Albert Oeckl herausgegebene „Taschenbuch des öffentlichen Lebens" (8. Aufl. 1958) macht schon in den quantitativen Verhältnissen eindrucksvoll deutlich, wie stark das „öffentliche Leben" von dem nebenstaatlichen Organisationswesen beherrscht wird. In gleicher Weise instruktiv Rupert Breitling, Die Verbände in der Bundesrepublik (1955). 12

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den beiden großen Kirchen die alten Methoden der potestas indirecta immer häufiger mit akzentuiert politischem Hervortreten in der Öffentlichkeit verbinden. Jeder weiß oder ahnt es wenigstens, daß sich alle großen Entscheidungen in irgendeiner geheimnisvollen Art im Kreise dieser Oligarchien bilden, und wer zu politischem Einfluß gelangen will, muß den Weg über eine von ihnen suchen. Nun ist es an sich nichts Neues, daß neben den politischen Parteien soziale Machtkörper wie die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die wirtschaftlichen Interessengruppen und die Kirchen großen politischen Einfluß besitzen. Sie hatten diesen Einfluß schon in der Weimarer Republik, und im Hinblick darauf hat man schon das damalige Verfassungssystem als einen Pluralismus der Machtkomplexe gekennzeichnet13. Aber die politische Position aller dieser Gruppen ist seither wesentlich verfestigt worden, und sie ist jetzt sozusagen legitim 14 . Das hat verschiedene Gründe. Wesentlich ist, daß alle Gruppen früher da waren als die nach dem Zusammenbruch neu errichtete deutsche Staatlichkeit. Noch bevor sich die Länder und das Bonner System konstituierten, erstreckten sie bereits ihr Organisationssystem über das ganze Land. Außerdem haben sie außer in ihrem eigenen Kreis keine nennenswerte Machtkonkurrenz mehr. Die Weimarer Republik hatte sich aus der Tradition der konstitutionellen Monarchie noch viel an eigener staatlicher Substanz bewahrt. Sie hatte eine geschlossene Bürokratie, eine Wehrmacht, eine respektgebietende Staatsapparatur, gedeckt und abgeschirmt durch die neutrale Position des Reichspräsidenten. Mit diesem Machtkörper verbunden, gewann auch die Regierung an eigener Autorität, ihm gegenübergestellt auch das Parlament an Geschlossenheit, die auf das Staatsganze bezogen war. Von dieser Staatsrealität und dem daran sich bildenden Staatsbewußtsein her wurden alle Nebenmächte relativiert und — als politische Potenzen — in einem Status der Illegitimität gehalten. Heute ist von jener ganzen eigenständigen Staatlichkeit nicht viel mehr vorhanden als die Erinnerung und damit nichts, an dem sich die Macht der Gruppen brechen könnte. Im Gegenteil hat die Entwicklung nach dem Zusammen13

Hierzu muß besonders auf Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung (Tübingen 1931) S. 71 ff. verwiesen werden. 14 Wegen der besonderen Natur der Kirchen sei ergänzend auf Werner Weber, Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, VVDStRL 11 (1954) S. 153 ff. verwiesen.

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bruch ihnen eine besondere Legitimität verliehen. Die politischen Parteien, die sich nach dem Zusammenbruch bilden durften, die Gewerkschaften und die Kirchen, sie alle gingen aus dem Zusammenbruch sozusagen als die Entrechteten des überwundenen Regimes hervor. Daraus wuchs ihnen ein sehr starker politischer Geltungsanspruch zu, den ihnen keine andere Autorität streitig machte. Die Gewerkschaften konnten zudem an sehr reale Interessen anknüpfen, die Möglichkeiten einer wirkungsvollen Schlüsselposition ins Spiel bringen und sich bald wieder auch international abstützen. Die Kirchen hatten als einzige den Zusammenbruch mit einer intakten Organisation überdauert. Ihr Organisationsgefüge stellte lange Zeit die einzige gesamtdeutsche Organisation und Repräsentation dar. Das galt für die nationale Integration nach innen, innerhalb deren die Bischöfe sich über ihr Hirtenamt hinaus zu Sprechern und Helfern des Volkes in seiner Not erhoben, wie auch für die Öffnung der Tore nach außen. Als erste nach dem Zusammenbruch des Reiches haben die Kirchen wieder Brücken zu anderen Staaten und Völkern schlagen können und wieder die Einbeziehung Deutschlands in die Gemeinschaft der westlichen Staatenwelt angebahnt. Man wird auch nicht vergessen dürfen, daß die kirchliche Lebens- und Sittenordnung jahrelang stellvertretend das deutsche Sozialgefüge gehalten hat. Dieser ganze historische Zusammenhang hat die Lizenzparteien, die Gewerkschaften und die Kirchen in einen politischen Aktivstatus gebracht, der dichter und älter ist als die mühsam wiedererrichtete Staatlichkeit in Bund und Ländern. Nur die Unternehmer- und sonstigen wirtschaftlichen Interessenverbände haben an diesen Legitimierungen keinen Anteil. Sie haben sich vielmehr gegen einschränkende Maßnahmen der Besatzungsmächte und innerpolitische Gegnerschaft nur allmählich durchsetzen können. Sie sind dennoch vorhanden, und ihr Einfluß strebt zwangsläufig danach, den der Gewerkschaften und gegnerischer politischer Parteien aufzuwiegen. Die Frage ist freilich, ob man Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und wirtschaftliche Interessenverbände überhaupt in einem Atemzuge nennen darf, da doch offenbar die Methoden, mit denen sie ihren Willen im politischen Bereich zur Geltung bringen, sehr verschiedenartig sind. Am stärksten heben sich in dieser Hinsicht die Parteien ab. Doch gibt es vieles Gemeinsame. Vorab wird man hervorheben müssen, daß alle erwähnten Organisationsgebilde ungefähr paritätisch Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung haben. Ihnen, und nur ihnen, steht der Rundfunk zur Verfügung, dessen oft betonte Neutralität bekannt-

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lieh im wesentlichen dahin ausmündet, daß die genannten Gruppen in seiner Verwaltung paritätisch vertreten sind und in gleicher Parität auch seine Einrichtungen benutzen dürfen 15 . Praktisch monopolisieren sie weiterhin die Presse. Denn auch die wiedereröffnete Pressefreiheit läßt de facto, nämlich von der wirtschaftlichen Fundierung her, außerhalb der farblosen Generalanzeigerpresse die Aufrechterhaltung und Neugründung von Presseunternehmungen nur unter der Patronage eines dieser potenten Machtkörper zu. Ihnen allen steht außerdem eine breite Öffentlichkeit zur Meinungsbeeinflussung in Versammlungen, Kundgebungen und Proklamationen zur Verfügung. Ihre Stimme, und nur die ihrige, wird überall aufgenommen und verbreitet. Welch bereitwilliges Gehör ihre Vertreter bei allen Dienststellen und Behörden finden, ist jedem geläufig. Unübersehbar ist die Zahl der Fälle, in denen politische Parteien, Gewerkschaften, Unternehmerkörperschaften und Kirchen in offiziellen und offiziösen Ausschüssen, Verwaltungsräten und Beiräten herangezogen werden. Weite Bereiche der unmittelbaren und der mittelbaren Staatsverwaltung stehen auf diese Weise im Begriff, dem Staate entfremdet und Bestandteile eines nebenstaatlichen Ständeverwaltungssystems zu werden. Mit welcher Nachhaltigkeit die erwähnten Machtkörper ferner in Gemeinden, Kreisen, Ländern und im Bund auf die Ämterbesetzung einwirken, ist allbekannt. Ihre Ämterpatronage und die dazu nötige Aufschlüsselung der Stellen und der Quoten gehören bereits zu den festen Requisiten der heutigen Personalpolitik. Alles das summiert sich zu einem Einfluß von außerordentlicher Breite und Tiefe. Daneben haben einige der genannten oligarchischen Gebilde noch ihre spezifischen Ansatzmöglichkeiten. Wie stark die Gewerkschaften durch ihre Lohnpolitik, durch Streik und Streikdrohung in der Wirtschaftspolitik und in allgemeinpolitischen Fragen ihren Willen durchzusetzen vermögen, bedarf keines Nachweises. Es ist für unsere Frage höchst bezeichnend, daß die sog. Sozialpartner, d. h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nicht nur über Arbeitsbedingungen und Tarifvertragsabschlüsse verhandeln (obwohl auch darin schon über gesamtvolkswirtschaftliche Fragen entschieden wird), sondern unter mehr oder weniger bloß passiver Assistenz von Bundesregierung und Bundestag in der Frage des gewerkschaftlichen Mit15

Wegen der paritätischen Zulassung der politischen Parteien zur Wahlpropaganda im Rundfunk vgl. den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 3. September 1957 (DÖV 1957 S.780f.).

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Bestimmungsrechts ein Problem in ihre vereinbarliche Regelung gezogen haben, dessen Lösung so oder so die Wirtschafts- und Sozialstruktur und sogar den politischen Status des gesamten Volkes bestimmt. Die Stimme der Kirche anderseits hat sich in den letzten Jahren durch richtunggebende Worte ihrer Bischöfe beider Konfessionen in Ost und West oft im weltlichen Bereich zur Geltung gebracht. Die Unmittelbarkeit dieser Einflußnahme hat sich in jüngster Zeit unerhört gesteigert. Sie ist bis zu einem direkten Eingreifen in die politischen Entscheidungen von Bundesregierung und Bundestag durch autoritative Erklärungen der höchsten kirchlichen Organe, zu Ministerkrisen und zu demonstrativen Zweckverbindungen zwischen Gruppen der Kirche und politischen Parteien vorgedrungen. Unbestreitbar haben die politischen Parteien innerhalb der politischen Machtträger eine deutliche Sonderstellung. Aber diese beruht nicht auf stärkerer innerer Substanz; die Parteien sind vielleicht sogar labilere und künstlichere Gebilde als Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Kirchen usf. Aber sie haben als einzige den unmittelbaren Zugang zu dem politischen Clearingsystem, das die Verfassungen in Parlament und Regierung bereithalten, und zur zentralen Verfügung über die personellen und sachlichen Bereiche der Staatsapparatur. Das verleiht ihnen einen besonderen Kurswert und nötigt die anderen Machtgebilde, ihrerseits Einfluß auf die Parteien zu gewinnen, um durch sie ebenfalls an den Wirkungsmöglichkeiten teilzuhaben, die diesen von der Verfassung eröffnet sind. Hinter jede der großen Mittelparteien tritt auf diese Weise eines der anderen nichtparteilichen Machtgebilde oder deren mehrere, damit zugleich den eigenen Einfluß erhöhend und die dünne Substanz der Parteien anreichernd. Eine stärkere Durchschlagskraft wächst den Parteien auch dadurch zu, daß sie allein sich die Autorität offizieller und meßbarer Volkswahlergebnisse zuführen können. Auf solche Art rückt das Problem der politischen Parteien in den Mittelpunkt. Welche Herrschaftsfunktion den Mittelparteien von den deutschen Verfassungen der Gegenwart eingeräumt und neben den ausdrücklichen Normen der Verfassungen zu noch breiterer Wirkung gebracht ist, braucht nach dem soeben und schon früher (oben S. 20 ff.) Ausgeführten nicht noch einmal unterstrichen zu werden. Man kann mit Gerhard Leibholz die Situation als die des modernen „massendemokratischen Parteienstaates" bezeichnen16. Aber damit wäre die gegen16

Gerhard

Leibholz in dem schon zitierten Aufsatz „Parteienstaat und

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wärtige Lage in Deutschland nicht erschöpfend beschrieben. Denn auch Leibholz will die politischen Parteien im System des massendemokratischen Parteienstaates nicht in den unmittelbaren Herrschaftsbesitz eingewiesen, er will sie nicht in die Sphäre der Herrschaftsträger, sondern auf die Seite des Volkes gestellt wissen. Der Parteienstaat deutscher Gegenwartsprägung indessen tendiert dahin, die Parteiapparate der Mittelparteien unmittelbar ins staatliche Regiment zu bringen, sie also, wenn man so will, zum „Staat im Staate" werden zu lassen, übrigens nicht die Parteien allein, sondern mit ihnen zugleich die erwähnten Organisationsgebilde anderer Art.

IV. Nach alledem wird man vielleicht verstehen, warum vorhin von einem System der Oligarchien, von einem System also die Rede war, in dem geschlossene Einfluß- und Machtgruppen herrschen. Alle Machtträger, die hier genannt wurden, beruhen in einer auf „wenige" begrenzten Aktionsorganisation. Daß die Führungskreise und Manager der Wirtschafts- und Interessenverbände in diesem Sinne als oligarchisch zu qualifizieren sind, wird man am ehesten begreifen. Aber auch von den apparathaften Parteiorganisationen der modernen Massendemokratie in Deutschland weiß man, daß sie nicht mit dem Volke selbst mehr identisch sind. Man braucht das nicht einmal an der Tatsache darzutun, daß ihr Mitgliederbestand nur einen verschwindenden Teil der Staatsbürger umfaßt; denn selbst diese Mitglieder sind politisch kaum virulent. Die politischen Parteien sind als handelnde Größen nur existent in ihrem Funktionärkorps, ihren Vorständen und Führerschichten. Das ist jeweils ein esoterischer Kreis, der sich durch Kooptation ergänzt, in hierarchischer Gliederung den Parteiapparat beherrscht und den Willen der Partei nach innen und außen von sich aus bildet. Parteidisziplin, Fraktionszwang und die Bedingungen des Verhältniswahlsystems sind teils der Ausdruck, teils die Sicherung dieser Parteioligarchie. Die Entwicklung nach dem Zusammenbruch hat vieles dazu getan, das alles noch schärfer herauszuarbeiten. Denn alle politischen Parteien Deutschlands stehen nicht mehr in einer alten Tradition, die sie noch an ihr früheres freies Wachsen aus dem Volke binden könnte. Gerade die dominierenden Mittelparteien sind nach Réprâsentative Demokratie", DVB1.1951 S. 1 ff. Ähnlich Wilhelm Greroe, Zum Begriff der politischen Partei, Festgabe für Erich Kaufmann (Stuttgart und Köln 1950) S. 65 ff. mit weiteren Schrifttumsnachweisen. 4 Weber

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1945 durch Einsetzung von Vorständen und Führungsgruppen lizenziert worden und haben sich erst dann bemüht, eine Wahlgefolgschaft hinter sich zu bringen, wohlgemerkt: eine Wahlgei olgschaft, die ihnen alle vier Jahre ein bestimmtes Stimmengewicht im Parteienkonzert einbringt, aber im übrigen die Geschlossenheit der Funktionärskorps der Parteien nicht stören soll 17 . Auch die Gewerkschaften, die an sich gewifi eine echtere und dichtere Massenorganisation darstellen als die politischen Parteien, teilen deren Nachkriegsschicksal, von oben her und in Gestalt von Leitungsgremien und organisatorischen Apparaturen wieder belebt worden zu sein, der die Erfassung der Massen erst nachfolgte. Aber selbst wenn das nicht gewesen wäre, müßte trotzdem die innere Gesetzlichkeit einer derartigen Massenorganisation wiederum den Funktionärsschichten, der soziologischen Elite der Gewerkschaftsbürokratie die Herrschaft in die Hand geben. Niemand kann deshalb bezweifeln, daß der politische Wille der Gewerkschaften von ihrem Funktionärkorps repräsentiert wird. Die Bezeichnung als Oligarchie wird in der Anwendung auf die Kirchen am ehesten als fremdartig und sogar fragwürdig erscheinen. Hier muß deshalb vorausgeschickt werden, daß damit nichts über das kirchliche Wesen der Kirche ausgesagt sein soll, das in diesem Zusammenhang außer Diskussion bleibt. Aber soweit die Kirchen, wie angedeutet, als politische Machtträger hervortreten, müssen sie sich auch mit den Kategorien der weltlichen Staatslehre messen lassen. Von diesem Standpunkt aus nun kann nicht bestritten werden, daß weder die Hierarchie der katholischen Kirche noch die leitenden Män17 Der amerikanische Oberkommissar in Deutschland McCloy hat dazu in seinem 4. Vierteljahresbericht über Deutschland (S. 56 der deutschen Ausgabe) ausgeführt: „Die Wähler und selbst die weniger prominenten Mitglieder der Legislative haben nur geringen unmittelbaren Einfluß auf die Parteien, deren Struktur und Politik meistens äußerst starr sind. Die Spitzenorgane und Funktionäre der politischen Parteien legen die Parteipolitik häufig ohne Berücksichtigung der Ansichten der Parteimitglieder und noch weit weniger der öffentlichen Meinung fest. Entscheidungen in Fragen, die die Parteipolitik auf lokaler oder Landesebene bestimmen, müssen häufig erst von der obersten Parteileitung gebilligt werden." — Gerhard Leibholz (DVB1.1951 S. 5) spricht von den „sich immer wieder innerhalb des Parteiapparates und der Parteibürokratie bildenden oligarchischen Herrschaftstendenzen" und von dem Versuch der Parteiführungen, „mit Hilfe des Parteiapparates den Willen der Partei dem Willen der Wähler und Parteibürger entgegenzusetzen und den Willen der Parteioberen den letzteren aufzuerlegen", ferner von der „Geheimpolitik der Parteibürokratie und der oberen Parteihierarchie".

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ner der evangelischen Kirche und erst recht nicht die ihrer aktivistischen Minderheitsgruppen ein demokratisches Vollmandat besitzen. Ihr politisches Wirken ist, vom Volksganzen und von den anderen politischen Gruppen her betrachtet, Ausdruck des Willens einer sich als solche verstehenden Führungselite, insoweit also ebenfalls Manifestation einer Oligarchie. V·

Damit ist in einem wesentlichen Punkt die Problematik der gegenwärtigen Verfassungszustände Deutschlands aufgedeckt, vor allem die schwierige Lage berührt, die sich hier für die Demokratie auftut. Ein Positivum allerdings schließt dieser Pluralismus der Oligarchien in sich: Er stellt ein geradezu ideales System der Gewaltenteilung und Gewaltenbalance dar. Solange keiner dieser Machtkomplexe so stark wird, daß er die anderen überwältigt und verdrängt (eine Gefahr freilich, der man immer ins Auge sehen muß), halten sie einander im Gleichgewicht mit der Wirkung, daß die politische Macht durch Teilung und Balance niedergehalten wird. Was Locke und Montesquieu und ihre liberalen Nachfahren mit dem System der Gewaltendreiteilung erstrebten und die heutigen Verfassungen durch konstruktive Wiedererrichtung des gleichen, aber inzwischen weithin substanzlos gewordenen Dreiteilungsschemas (Exekutive, Legislative, Justiz) ebenfalls zu sichern glauben, nämlich Gewährleistung politischer Freiheit durch Vereitelung jedweder Machtkonzentration, das erreicht jener Pluralismus der Oligarchien in hohem Maße. Man behauptet kaum zuviel, wenn man der geschilderten Lage das wesentliche Verdienst an dem real freiheitlichen Charakter unserer heutigen Verfassungszustände zumißt. Freilich ist die so bewirkte „balance des pouvoirs" ungeordnet und ohne konstruktive Konzeption, so daß auch die durch sie gewonnene Freiheit chaotische Züge aufweist und erst recht die bei aller Teilung unverzichtbare überwölbende Einheit der staatlichen Herrschaftsordnung verfehlt wird. Weit kritischer aber ist in dieser Lage das Schicksal der Demokratie, wofür die weitverbreitete Skepsis des Volkes gegenüber der demokratischen Integrität der politischen Wirklichkeit ein Zeichen bietet. Daß wenige herrschen, steht zum Wesen der Demokratie nicht in Widerspruch, sondern liegt für jeden Staat, besonders für die moderne 4*

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Massendemokratie, in der Natur der Sache. Nur ist den wenigen, die herrschen, die Verantwortung der politischen Elitebildung auferlegt, und sie müssen in ihrer Elitefunktion durch sichtbare Vertrauenskundgebung vom Volke legitimiert, sie müssen von der öffentlichen Meinung getragen sein. Hier beginnen sogleich die Schwierigkeiten. Daß für die Manager von Unternehmer- und Wirtschaftsverbänden keine demokratische Legitimation zu schaffen ist, liegt auf der Hand. Aber für die Hierarchie der Kirche gilt das kaum weniger. Denn ihr Daseinsgrund ist geistliche Berufung oder Einsetzung für geistliche Dinge, der kein politisches Mandat parallel laufen kann. Der Arbeitergewerkschaft mag aus der Tradition des Klassenkampfes eher der Gedanke zugängig sein, in der Gefolgschaftsbereitschaft ihrer Mitglieder auch eine Legitimation der Gewerkschaftsführung zu politischem Handeln beschlossen zu sehen. In der Konkurrenz zu den politischen Parteien und darunter vor allem den Arbeiterparteien und angesichts dessen, was die Gewerkschaften zu sein vorgeben, geht ihr Auftrag indessen schwerlich über die Vertretung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen hinaus, die das Gewerkschaftsmitglied mit Hilfe seiner Organisation gewahrt wissen möchte. In allem, was diesen Bereich überschreitet, sind die Gewerkschaften nur Trabanten, Bundesgenossen oder Verdoppelungen der ihnen nahestehenden politischen Parteien. So begegnen uns unter den erwähnten Oligarchien schon drei Gruppen, für die eine breitere demokratische Fundierung nur partiell oder gar nicht darstellbar ist. Bleiben die politischen Parteien. Hier möchte man meinen, der Demokratie am nächsten zu sein. Aber die Tatsache, daß man die „Demokratisierung der Parteien" zur politischen Forderung erhebt, beweist, wie kritisch die Lage sein muß. Im 19. Jahrhundert und noch bis zum 1. Weltkrieg wäre diese Forderung unvorstellbar gewesen. Denn damals waren die Parteien das politische Volk selbst, mit ihm identisch. Daß Artikel 21 des Bonner Grundgesetzes die Beobachtung demokratischer Grundsätze für ihren Aufbau fordert und die Offenlegung ihrer Finanzierung vorschreibt, ist das richtige Eingeständnis dessen, daß die Parteiorganisationen selbst oligarchische Herrschafts* apparaturen geworden sind und nun ihrerseits einer besonderen demokratischen Legitimation bedürfen. Nun handelt es sich hier im Kerne nicht darum, den Parteien um ihrer selbst willen einen demokratischen Verfassungsaufbau zu sichern, so wie die Mitglieder eines beliebigen Vereins oder Verbandes erwarten, daß ihr Verband ihnen nach „demokratischen" Grundsätzen Mitgestaltungsrechte einräume.

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Das Problem ist vielmehr dahin gestellt, das Volk selbst durch das Medium der Parteien dem Staat im ganzen demokratisch zuzuordnen, und wenn Gerhard Leibholz die „Demokratisierung der Parteien" als das zentrale Anliegen des massendemokratischen Parteienstaates bezeichnet18, so meint er damit diese staatspolitische, nicht parteiinterne Aufgabe, den Parteien ein Mandat des Volkes zu verschaffen, das dann „von Parlament und Regierung auf parteienstaatlicher Grundlage zu erfüllen ist". Aber wie sollen die Parteien dieses Mandat, diese demokratische Legitimation überzeugend erlangen? Das zu Artikel 21 des Grundgesetzes in Vorbereitung befindliche Parteiengesetz schèint sie aus den Parteimitgliedern, den Parteibürgern also, gewinnen zu wollen, ebenso wie schon § 17 des Wahlgesetzes zum ersten Bundestag vom 15. Juni 1949 (BGBl. S. 21) nach dem Vorbild der amerikanischen „primary elections" einen bescheidenen Vorgriff darauf machte, indem er die Aufstellung der Bundestagskandidaten durch Mitglieder- und Delegiertenabstimmungen in den Parteien vorschrieb, um sie dadurch den Parteioligarchien zu entwinden 19 . Indessen bilden die Parteimitglieder in Deutschland unter den Staatsbürgern eine so verschwindende Minderheit, daß sie ihren Vorständen niemals im Namen des ganzen Volkes ein Mandat erteilen können. Der Gedanke, hierin etwa dadurch Abhilfe zu schaffen, daß man den Staatsbürger zwingt, zur Wahrung seiner staatsbürgerlichen Position Mitglied einer Partei („Parteibürger") zu werden, ist in einem freiheitlichen Staatswesen unvollziehbar. Wenn man das demokratische Mandat unserer politischen Parteien nach der Zahl ihrer Mitglieder beurteilen wollte, wäre der Fall schon entschieden, und zwar negativ. Daß auch sonstige Mittel, wie etwa Wahlrechtsänderungen in Richtung auf eine stärkere Betonung der Mehrheitswahl, Restituierung des „freien Mandats", geheime Parlamentsabstimmungen, Inkompatibilitäten zwischen Parteiamt und parlamentarischem Mandat u. ä. m., soweit sie überhaupt realisierbar sind, jedenfalls nur in geringem Grade zu einer „Demo18

In dem schön zitierten Aufsatz DVBl. 1951 S* 1 ff., S. 4 ff. Dazu Gerhard Leibholz, DVBl. 1951 S. 5; skeptisch in der Beurteilung solcher Vorwahlen auch Ernst Forsthoff, Zur verfassungsrechtlichen Stellung und inneren Ordnung der Parteien, DRZ 1950 S. 317. Am Gedanken der „Vorwahlen" haben gleichwohl die Bundeswahlgesetze vom 8. Juli 1953 (§§27, 34) und 7. Mai/23. Dezember 1956 (§§22, 28) festgehalten. Siehe auch oben S. 22 und den Bericht der Parteienrechtskommission „Rechtliche Ordnung des Parteiwesens" (1957) S. 61 ff. 10

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kratisierung der Parteien" beitragen können, ist leicht zu erkennen 20. Die bedeutende Möglichkeit aber, die Parteien durch Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung einem fruchtbaren demokratischen Risiko auszusetzen, hat das Bonner Grundgesetz selbst verriegelt. Immerhin könnte es sein, daß es in den Parlamentswahlen zu einem hinreichenden Mandat der Parteienvorstände kommt. Aber auch hier wird man in der Beurteilung vorsichtig sein müssen. Die große Masse der Wähler erteilt weniger den führenden Schichten der von ihnen gewählten Parteien, zu denen sie überdies kaum eine personale Beziehung hat und die weithin anonym bleiben, ein überzeugendes positives Mandat zu eigener Herrschaft, als daß sie unter dem Namen der gewählten Partei den politischen Kurs bezeichnet, den sie in den Gesamtstaatsgeschäften am ehesten verfolgt wissen möchte. Nur so ist es zu verstehen, daß sich der verbreitete Parteiüberdruß und die Bereitschaft, den Parteien auszuweichen, mit einer verhältnismäßig hohen und von starkem aktivem Interesse am nationalen Gesamtschicksal zeugenden Wahlbeteiligung paart. Man mag für die stumme Ablehnung des parteipolitischen Betriebes im deutschen Volke manche Gründe finden. Etwa, daß es den Parteien noch nicht gelungen sei, in ihrem Funktionärkorps eine echte Führungselite heranzubilden, daß schlechte Erfahrungen im Einparteisystem das Volk noch abschreckten, sich bei den politischen Parteien zu engagieren, u. a. m. Wie meist wirkt hier sicher mehreres zusammen Aber die eigentliche Verlegenheit beruht doch wohl darin, daß das Volk sich in dem ganzen politischen System einem unklaren, ungreifbaren, höchst geheimnisvoll ineinanderverschachtelten Pluralismus politischer Einflußträger gegenübersieht, den es ratlos und innerlich fremd geschehen läßt. Zwischen diesem Pluralismus der Oligarchien auf der einen und dem Volke auf der anderen Seite läßt sich eine demokratisch legitimierende Verbindung teils gar nicht, teils nur gebrochen herstellen. In diesem System ist dem Volke keine klare Frage gestellt, auf die es antworten, kein verantwortlich auf das Gesamtschicksal verpflichtetes Regime vorgeführt, zu dem es Stellung nehmen kann. Das esoterische Spiel der Einfluß- und Machtträger in einer fremden Sphäre, bei dem keiner der Beteiligten sich mit Staat und Volk zu identifizieren vermag, lockt das Volk nicht hervor aus kühler, abwehrender Distanz.

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Kritisch nach dieser Richtung auch Gerhard Leibholz, DVB1.1951 S. 6 ff.

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VI. Die Demokratie ist vieler Wandlungen und Gestaltungsmöglichkeiten fähig. Immer aber bedarf sie einer klaren Verantwortungsund Vertrauensbeziehung zwischen Regierenden und Regierten, immer einer aufrichtigen Kon fron tierung des Volkes mit denen, die seine Geschicke in offener Verantwortung wirklich bestimmen, und deshalb eines Regiments, das für den Staat im ganzen einzustehen hat. Schwerlich aber verträgt sie sich mit einem System letztinstanzlicher, im übrigen ungeordnet koordinierter Oligarchien, wie es hier dargestellt wurde 21 . Denn das Volk, wofern es politisch angesprochen wird, begreift sich — auch und gerade in der Massendemokratie — zu sehr als politische Einheit, als daß sein Staatsbewußtsein und sein Wille sich zugunsten einer Vielheit von Herren mit unübersehbaren und verhüllten Verantwortlichkeiten engagieren könnte. Zwar ist der Äußerungsdrang des Volkes in einem solchen Regime nicht ausgelöscht. Er manifestiert sich in Ablehnung oder sucht sich Nebenwege, für die sich ihm manche Hilfen bieten. Aber von der großen Gewalt demokratischer Autorität sickert hier doch nur wenig durch. Statt dessen verkehrt sich die demokratische Kraft in resignierte Ablehnung des politischen Tagesbetriebes, in politische Apathie, um so — anfällig gegenüber jeder neu scheinenden Verheißung — bis zum nächsten vulkanischen Ausbruch der Selbstbehauptung des Staates verlorenzugehen. Nirgendwo in der Geschichte hat sich die Demokratie mit dem ständestaatlichen System nebeneinanderstehender Oligarchien verbinden können. So ergibt sich für uns die Frage, ob es unser Schicksal ist, in die politische Rolle des ausgehenden Mittelalters hinabzusinken, dessen auseinanderstrebende politische Stände: Kurfürsten, weltliche und geistliche Fürsten und Städte in den erwähnten Oligarchien unserer Tage ihr Gegenstück haben. Sollen wir für uns das Zeitalter der Demokratie für beendet erklären und zugleich die gesammelte Kraft der politischen Selbstbehauptung gerade in einer Zeit schlimmster Not 21 Treffend hat Wilhelm Grewe (Festgabe für Erich Kaufmann S. 84) hervorgehoben, „daß ein Gemeinwesen, das nur noch aus parzellierten Gruppeninteressen und Gruppenwillen besteht und nicht mehr in der Lage ist, einen am Gemeinwohl orientierten Gesamtwillen zu produzieren, auch keine rationale und stetige, langfristig kalkulierte und sinnvoll geplante Politik zu treiben vermag und kaum noch den Namen eines Staates verdient". Man kann hinzufügen, daß es auch keine Demokratie zu sein vermag.

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und Gefahr aufgeben? Das ist die Yerfassungsfrage, die uns gestellt ist. Die totalitären Regime, von denen das große Gegenreich des Bolschewismus uns noch lebendig vor Augen steht, haben die Frage auf ihre Weise gelöst, indem eine der oligarchischen Mächte, die anderen entwaffnend oder vernichtend, die Alleinherrschaft usurpierte und sich mit dem Staat selbst identifizierte. Diesen Weg wollen wir nicht gehen, weil er in die Szylla der Gewaltherrschaft und des Terrors führt. Aber wir wollen auch nicht der Charybdis politischer Entkräftung und chaotischer Auflösung anheimfallen, die in unserer Lage das Ende bedeuten würde. Also gilt es, jenen Pluralismus der Oligarchien in einer überhöhenden Einheit aufzuheben. Das Bonner Grundgesetz will diese Einheit; aber es bedient sich dazu weithin der Mittel einer versunkenen politischen Welt, die heute nichts Durchschlagendes mehr ausrichten. Es führt nur die Machtgruppen zusammen und stellt ihnen eine Apparatur für ihre Herrschaft zur Verfügung, läßt diese Herrschaft aber unangetastet. Es schafft Gelegenheit für ihr Zusammenspiel nach Art einer Geschäftsordnung, fügt diese Machtgruppen aber nicht gliedhaft in eine Gesamtordnung ein, aus der sich ein verpflichtender Gesamtwille ergibt. Er konstituiert keinen Staat mit anerkannter Obrigkeit, sondern nur ein lockeres Gefüge mit einer Mehrheit ungeordnet rivalisierender Herrschaftsprätendenten. Nur der vordergründigen Betrachtung kann das durch Persönlichkeit und Amtsführung des ersten Kanzlers der Bundesrepublik als verdeckt erscheinen. Es wird freilich nicht leicht sein, die gegenwärtigen oligarchischen Machthaber dazu zu bringen, daß sie zugunsten einer sie überwölbenden Regierungsautorität ihre herrschende Rolle mit einer dienenden vertauschen. Nicht leicht ist es, gegen starke soziale Mächte aus dem Nichts heraus dem Staat wieder eine eigene Mitte zu geben, in der obrigkeitliche Autorität und demokratisches Vertrauen sich gegenseitig bestätigen. Die Aufgabe, so dringlich sie sein mag, ist auch nicht durch einen Handstreich zu lösen, sondern nur durch staatsmännische Kunst, die langen Atem hat. Unser Beiträg bestand darin, die Dinge beim Namen zu nennen und sie aus der Verschleierung hervorzurufen. Und ferner darzutun, daß hier das Schicksal des deutschen Staates zusammentrifft mit dem einer lebendigen Demokratie.

I I I . Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus I. 80 Jahre deutscher Reichsgeschichte trennen die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Bismarck-Reiches von der Errichtung der westdeutschen Bundesrepublik. Damals (1866 und 1870) schlossen sich die bis dahin souveränen deutschen Staatswesen, schlossen sich festgefügte staatliche Einheiten in einem Bund zusammen. Die Gründung des neuen Gesamtstaates geschah durch Bundesvertrag, und das Ergebnis dieser vertraglichen Gründung war ein Bundesstaat, wie es der Situation und dem historischen Gewicht der sich hier bindenden Einzelstaatlichkeiten entsprach. Aber der Name „Deutsches Reich", den sie dem neuen Gesamtstaat verliehen, wies schon über den bundesstaatlichen Ausgangspunkt und die bündische Begrenzung hinaus. Die Hegemonie Preußens und der Einheitswille des Volkes hielten das Ganze kraftvoll und doch leicht zusammen. Seither hat ein kontinuierlicher Prozeß die ursprünglich bündischen Prinzipien dieses Staatswesens durch einheitsstaatliche Züge ersetzt. Praktische Zweckmäßigkeit und wirtschaftliche Notwendigkeit, zwingende wirtschafts- und sozialpolitische Gesamtaufgaben und nicht zuletzt die Not außenpolitischer Katastrophen beriefen immer stärker das Reich als Ganzes in die Verantwortung. Vor allem: Je mehr in den Gliedstaaten mit der Fürstenherrlichkeit auch das Hauptmoment ihrer historischen Staatlichkeit verblaßte und das Volk in spätem Erwachen seines demokratischen Selbstbewußtseins in den Staat hineinwuchs, um so stärker suchte es kraft seines gesamtdeutschen Einheitswillens im Reiche selbst, nicht in den Gliedern, den eigentlichen Bezugspunkt seiner demokratischen Staatsträgerschaft. Als deshalb Deutschland 1919 vor der Aufgabe stand, eine Verfassung neu zu ordnen, dachte niemand daran, etwa den alten Bundesvertrag aufzufrischen oder sonst auf die Gliedstaaten als die Herren des Verfassungswerkes zurückzugreifen. Die Weimarer Verfassung wurde in einem einheitsstaatlichen Entstehungsakt aus dem verfassunggebenden Willen des gesamtdeutschen Volkes geschaffen, und es

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bedeutete keine bloße Floskel, wenn die Präambel der Verfassung das mit den Worten unterstrich, daß das „Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen" hier „sein Reich" erneuere und festige. In der Verfassung selbst wurden zwar bundesstaatliche Züge beibehalten, aber im Sinne organischer Gliederung eines primär einheitlichen Staatswesens. Die Verfassung formte den Bund um in einen betont dezentralisierten Einheitsstaat; sie achtete in den Ländern, die sie als Elemente der Dezentralisation übernahm, das historisch Gewordene, sie öffnete sich zugleich in der Festigung des Reiches dem unwiderstehlichen Gebot der Stunde. Unter der Herrschaft der Weimarer Verfassung nahm der Prozeß stärkerer Entwicklung einheitsstaatlicher Elemente ungeachtet einiger Rückschläge seinen Fortgang. Niemals forciert, entwickelte er sich im ganzen stetig fort, wie innere Notwendigkeit es ergab und erzwang. Weiterreichende Pläne der „Reichsreform" wurden vorbereitet 1, aber nicht mehr ausgeführt. Sie wertete dann das nationalsozialistische Regime mit ungeduldigerer Eile aus. Aber mindestens bis zum Neuaufbaugesetz vom 30. Januar 1934 (RGBl. I S. 75), dieses eingeschlossen, blieb der organische und folgerichtige Entwicklungszusammenhang eines dezentralisierten, elastisch gefügten Einheitsstaates gewahrt. II. Das Bonner Grundgesetz führt diesen historischen Prozeß um mehr als 30 Jahre zu der Verfassungsgestaltung einer „Bundesrepublik" zurück. Allerdings trägt nicht der Parlamentarische Rat selbst dafür die eigentliche Verantwortung; vielmehr haben die Besatzungsmächte, vor allem das selbst streng zentralistische Frankreich, uns von verschiedenartigen Vorstellungen aus die bündische Auflockerung unseres Staates auferlegt 2. Besonders der energische Widerspruch Frankreichs gegen die Wiedererrichtung eines geschlossenen deutschen Staates ist oft, mit Schärfe und in der machtpolitischen Motivation unverhüllt 1

Eine zusammenfassende Darstellung liefert Walther Vogel, Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform in Vergangenheit und Gegenwart (Leipzig und Berlin 1932). Über den Gegenstand berichtet ferner W. Miinchheimer in: Die Bundesländer. Beiträge zur Neugliederung der Bundesrepublik. Herausgegeben vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten (Frankfurt/M. 1950) S. 117 ff. 2 Dazu sei auf den Bericht von Hermann L. Brill in dem in der vorigen Anmerkung zitierten Sammelwerk „Die Bundesländer" (S. 6 f.) verwiesen.

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zum Ausdruck gelangt. Im Londoner Dokument Nr. 1 schlägt er sich in der bindenden Forderung nieder, daß „für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs" zu schaffen sei. Später haben die Militärgouverneure in ihrem Memorandum vom 22. November 1948, von dem Gang der Bonner Arbeiten insoweit offenbar enttäuscht, dem Parlamentarischen Rat ebenso konkrete wie entschiedene Anweisungen im einzelnen darüber erteilt, welche Grenze er in der Gewichtsverteilung zugunsten der deutschen Zentralgewalt nicht überschreiten dürfe. Noch dringlicher wurde dies in dem Memorandum der Militärgouverneure vom 2. März 1949 angemahnt, vielfältig unterstützt durch gleichlaufende Erklärungen der alliierten Verbindungsstäbe in den Ausschußberatungen und Routinebesprechungen. Schließlich kam, als sich infolge des Widerstandes maßgebender Gruppen des Parlamentarischen Rates die Dinge festgefahren hatten, eine gewisse Lockerung in der am 22. April 1949 übermittelten Entschließung der Washingtoner Außenministerkonferenz vom 8. April 1949. Sie ermöglichte es, die Bonner Arbeiten zu Ende zu bringen. Aber das Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zu dem beschlossenen Grundgesetz vom 12. Mai 1949 stellte in den Punkten 6 und 7 wieder einige betont föderalistische Vorbehalte heraus 3. Das dokumentarische Zeugnis dieser Folge von Memoranden und Erklärungen hält die Erinnerung daran wach, mit welcher Beharrlichkeit der Parlamentarische Rat gerade in dieser Frage gegenüber den Wünschen der Besatzungsmächte einen eigenen Weg einzuhalten suchte. Sein Bemühen erwirkte schließlich eine vielfach verschlungene Mittellösung. Der Kompromiß war zäh erkämpft, und es wäre ungerecht, aus seinen Halbheiten für den Parlamentarischen Rat einen Vorwurf herzuleiten. Um so mehr vernimmt man mit Überraschung den vielfältigen, wenn auch brüchigen Chor von Stimmen, der aus zahllosen Formulierungen des Grundgesetzes und aus seinen Einrichtungen immer wie3

Die verschiedenen alliierten Dokumente sind zugängig in der von Werner Matz besorgten Textausgabe des Bonner Grundgesetzes (Stuttgart und Köln 1949) S. 125 ff. und vor allem bei E. R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2 (1951) S. 197 ff., 208 ff. Über die Einwirkungen der Alliierten auf die Verfassungsberatungen allgemein Hermann v.Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz (Berlin u. Frankfurt 1950), S. 14 ff., ferner Hans Berger, DtVerw. 1949 S. 311 f.; Wilhelm Greme, DRZ 1949 S. 313 f.; zu den finanzrechtlichen Teilen des Grundgesetzes Hermann Höpker-Asdioff, AöR 75 (1949) S. 320 ff.

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Fiktionen und Gefahren d s westdeutschen Föderalismus

der das Wort „Bund" in die Weite trägt, als wolle er den Mahnruf des „Reiches" übertönen. Auch bedingte der sogenannte Perfektionismus der Bonner Verfassungsschöpfer, d. h. ihre schließlich dominierend gewordene Neigung, statt einer provisorischen Ordnung unter Anrufung der Volkssouveränität eine perfekte Verfassung im herkömmlichen Stile zu schaffen 4, daß sie die auferlegten föderalistischen Prinzipien sozusagen adoptieren muß ten. Und da stehen diese nun in ihrem Werk, als ob das deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt sie selbst zum Fundament seiner politischen Existenz erhoben hätte. Sie können deshalb auch nur im Wege erschwerter verfassungsändernder Gesetzgebung wieder beseitigt werden; ja, Art. 79 Abs. 3 GG will eine Änderung, die den Charakter der neuen Republik als Bundesstaat aufhebt, die Gliederung des Bundes in Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes beseitigt, sogar überhaupt verbieten, also die föderalistische Struktur des Staates zum unantastbaren Verfassungskern erheben5.

III. Das erweckt mithin den Anschein eines ursprünglichen und fundamentalen Föderalismus. Dieser Eindruck verflüchtigt sich aber wieder, sobald man den Blick auf andere Verfassungsgrundlagen und -entscheidungen lenkt. In der Tat, der Versuch, einen echten Bundesstaat zu begründen, mußte schon an den Voraussetzungen, nämlich am Fehlen wirklicher Staaten als des Substrats eines Bundes und an der Unteilbarkeit aller deutschen Schicksalsfragen scheitern. Die Verfassung der Bundesrepublik selbst, das Bonner Grundgesetz, ist durch einheitsstaatliche Verfassungsschöpfung zustande gekommen. Während etwa noch die Bayerische Verfassung von 1946 (Art. 178) und die Verfassung Badens von 1947 (Art. 50, 52) auf die Neuformung Deutschlands durch Bundesvertrag abzielten6, hat sich der Parlamentarische Rat als Mandatar des gesamten deutschen Volkes betrachten dürfen, und er hat sein Werk auf die verfassunggebende Gewalt des 4

Dazu siehe oben S. 14 f. Es unterliegt bei der Lage der Dinge kaum einem Zweifel, daß die Unantastbarkeit dieser föderalistischen Grundsätze an innerem Gewicht weit hinter der der Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes zurückbleibt. 6 Dazu neuestens Theodor Maunz, Das Bund-Länder-Verhältnis in der Bayerischen Verfassung, Festschrift für Hans Ehard (1957) S. 50 ff. 5

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deutschen Volkes, also eine gesamtstaatliche Legitimation gegründet, Das Bonner Grundgesetz ist damit im Entstehungsakt von bündischvertraglicher Fundierung nicht weniger weit entfernt als die Verfassung von Weimar 7 . Einmal nach solchem Gesetz angetreten, konnte das Grundgesetz auch in anderen Beziehungen den bloß fiktiven Charakter seines föderativen Aufbaus nicht verleugnen. Besonders deutlich wird das an dem Art. 29 über die Neugliederung des Bundesgebietes. Schon daß das Grundgesetz hier den Bestand der Länder disponibel macht, ja ihre Neugliederung sogar fordert, zeigt den unüberbrückbaren Ab^ stand zu einem echt bündischen System, für das gerade die Unverletzlichkeit seiner Glieder wesentlich ist 8 . Nicht weniger bezeichnend sind die Gesichtspunkte für die Neugliederung: Neben der landsmannschaftlichen Verbundenheit, den geschichtlichen und kulturellen Zusammenhängen sollen dafür die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und das soziale Gefüge maßgebend sein. Und als Ziel wird aufgestellt die Schaffung von Ländern, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können9. Die Länder sind hier also nicht nach ihrer historischen Staatlichkeit, auf die sich überdies nur sehr wenige von ihnen berufen könnten 10 , sondern nach ihrer verwaltungspolitischen Zweckhaftigkeit begriffen. Sie werden damit zum wandelbaren Element einer politischen Dezentralisation, sekundär gegenüber dem Gesamtstaat, der als maßgebende politische Einheit den Primat besitzt; sie sind nicht mehr tragendes Fundament, 7

Das hat auch Georg August Zinn, Der Bund und die Länder, AöR 75 (1949) S. 292 ff. mit aller Deutlichkeit betont. Ebenso Wilhelm Greme, DRZ 1949 S. 314 und Karl Schmid , DÖV 1949 S. 203. Ein wenig anders die Deutung von Willibalt Apelt, Zum Begriff Föderalismus, Festgabe für Erich Kaufmann S. 13 f. 8 Dazu Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928, unveränderter Neudruck 1954) S. 368. 9 Zu dieser Frage das umfassende, vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten herausgegebene Sammelwerk „Die Bundesländer. Beiträge zur Neugliederung der Bundesrepublik" (Frankfurt/M. 1950). 10 Der Abg. Dr. Heuss hat im Parlamentarischen Rat (Sten.Ber., 3. Sitzung S. 41) hierzu bemerkt: „Ich will niemand zu nahe treten, aber manche dieser Staaten sind weniger originär als originell in der Art, wie sie geworden sind. Nun den Status einer richtigen Staatlichkeit in diesen, bald hätte ich gesagt, Sauzustand der deutschen Länderverordnung hineinzulegen, bitte, das wollen wir uns eigentlich schenken. Wenn wir hier von den Landtagen gewählt worden sind, so sind die Landtage im Augenblick Behelfsheime der deutschen Existenz überhaupt." Das stenographische Protokoll verzeichnet hierzu: „Lebhafte Zurufe: Sehr gut! und Heiterkeit."

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auf dem der Gesamtstaat ruht, und nicht mehr Quelle der politischen Kräfte, von denen er lebt. Dieser Weg, den auch die Weimarer Republik eingeschlagen hatte, führt die Länder notwendig zum Status einer autonomen Selbstverwaltungs- oder Gebietskörperschaft, deren Autonomie beträchtlich sein kann, in jedem Falle aber variabel ist und unbeschadet der Verfahrenserschwerungen für Verfassungsänderungen (Art. 79 Abs. 1 und 2) zur Disposition des gesamtstaatlichen Gesetzgebers steht 11 . Das Grundgesetz entwickelt daraus weitere Konsequenzen, in denen sich das erwähnte Prinzip bestätigt. Es hat ein System der Auftragsverwaltung geschaffen, d. h. eine Verwaltungsform, bei der die Länder Verwaltungsaufgaben des Bundes in seinem Auftrage wahrnehmen (Art. 85, 87 b Abs. 2, 89 f., 108, 120 a). Hier haben die obersten Bundesbehörden eine unmittelbare und grundsätzlich unbegrenzte exekutivische Weisungsgewalt gegenüber den Ländern (Art. 85 Abs. 2 und 3, 108 Abs. 4). Darüber hinaus können sie die einheitliche Ausbildung des in diesem Bereich tätigen Personals der Länder regeln, und die Leiter der einschlägigen Landesmittelbehörden können nur mit ihrer Zustimmung bestellt werden (Art. 85 Abs. 2, 108 Abs. 3). Diese Konstruktion ist vom Kommunalrecht hierher übertragen, und in folgerichtiger Entwicklung kommunalrechtlicher Vorstellungen hat das Grundgesetz die Verwaltungsaufgaben der Länder demgemäß in eigene und Auftragsangelegenheiten gegliedert (Art. 84, 85). Ein weiterer Beleg dafür, wieweit das Grundgesetz die Länder dem Status eigener Staatlichkeit entrückt und dem einer Selbstverwaltungskörperschaft angenähert hat. Es ist in diesem Zusammenhang ferner bezeichnend, daß das Grundgesetz, soweit es sich um die Ausführung von Bundesgesetzen handelt, selbst in den eigenen Verwaltungsaufgaben der Länder den obersten Bundesinstanzen weitgehende exekutivische Einwirkungen auf die Länder einräumt. Diese Möglichkeiten reichen vom Erlaß allgemeiner Verwaltungsvorschriften (Art. 84 Abs. 2, 108 Abs. 6) über die Befugnis zu Einzel Weisungen in Sonderfällen (Art. 84 Abs. 5) bis zu einem unbegrenzten Weisungsrecht im Rahmen des Bundeszwanges (Art. 37 Abs. 2). Der prinzipielle Gehalt 11 Mit Recht hat das Gesetz über Reichsmarkverbindlichkeiten zwischen Gebietskörperschaften vom 15. August 1950 (BGBl. S. 365) nicht nur die Länder mit den Gemeinden und Gemeindeverbänden unter dem Oberbegriff „Gebietskörperschaften" zusammengefaßt, sondern sie audi in der Sache als derartige eingeordnete Teilglieder behandelt. Auch Karl Schmid (DÖV 1949 S. 204) bezeichnet die Länder als „autonome Gebietskörperschaften".

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aller dieser Vorkehrungen, auf den es hier allein ankommt, liegt darin, daß sie die Länder als gliedhaft eingeordnete Unterkörperschaften, nicht als politisch autarke Gemeinwesen von undurchdringlicher Staatlichkeit erscheinen lassen. Und zwar drängt sich die Funktion der Länder innerhalb des Ganzen, wie noch zu zeigen sein wird, auf die VerwaltungshoheU zusammen, während die Gesetzgebungs-, Regierungs- und auch die Justizhoheit ihren eigentlichen Sitz beim Bunde hat. Dadurch wird der Charakter der Länder als Elemente der Verwaltungsdezentralisation noch stärker offenbar. Insoweit ist also dem Bonner Grundgesetz nicht vorzuwerfen, daß es die Situation verkannt hätte. Sein Föderalismus ist nur fiktiv, und zwar in gleichem Grade, wie die Staatlichkeit der heutigen, überwiegend dem Besatzungszonenregime entstammenden Länder eine bloß fiktive Größe ist.

IV. Aber im Rahmen dieses Als-ob-Föderalismus durchdringt das Grundgesetz doch das ganze Verfassungssystem mit föderalistischen Elementen, wie es von den Besatzungsmächten gefordert war. In diese quasi-föderalistischen Machtpositionen und Einflußmöglichkeiten dringen nun nicht nur echt föderative Kräfte, sondern neben oder sogar vor ihnen auch andere Partner der politischen Einflußkonkurrenz ein. Manche Anhänger einer deutschen Föderativverfassung erachten das auch für durchaus legitim. Sie begrüßen die föderalistische Verfassungsstruktur nur als zusätzliches Mittel der Gewaltenteilung, während ihnen die eigentlich föderalistischen Anliegen weithin gleichgültig sind. Aus prinzipiellem Mißtrauen gegen den Staat an sich ist ihnen die föderalistische Aufspaltung wegen ihrer zernierenden Wirkung selbst gerade willkommen 12 . Im Effekt, wenn auch nicht in der Art ihrer Motivation, begegnen sie sich darin mit den außenpolitischen Fürsprechern des deutschen Föderalismus. Dieser gewaltenteilende Formalföderalismus läßt es also offen, wer die föderalistischen Machtpositionen für sich besetzt und ausnützt. Aber dazu findet sich sofort jede vorhandene politische Potenz bereit. Vor allem naturgemäß die politischen Parteien. Das Bild, das die Bundesrepublik in dieser Richtung bietet, hat schon ziemlich feste 12 Gedankengänge dieser Art klangen ζ. B. in der Rede des Abgeordneten Dr. Süsterhenn in der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates an (Sten.Ber. S. 21).

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Konturen gewonnen. Es weicht wenig von dem ab, sondern bringt es eher nodi stärker zur Darstellung, was in der Weimarer Republik als Erscheinung des Parteienbundesstaates bezeichnet wurde 13 . Auch Parteien mit unitarischem Programm verschmähen es nicht, die föderalistischen Positionen, die sie kraft ihrer Mehrheit in einzelnen Ländern haben, im Sinne ihrer politischen Ziele voll auszuschöpfen. Hier wird die Landesgewalt zur Hilfsmacht der in ihnen dominierenden Parteien selbst. Es ist leicht einzusehen, und die Erfahrungen der Weimarer Republik haben es bestätigt* daß von hier aus dem Föderalismus eine zwar illegitime, aber sehr nachhaltige Stärkung zuwächst, wie umgekehrt die politischen Parteien dadurch in die Lage versetzt werden, in den politischen Geschäften des Gesamtstaates ebenso als Partei wie auch im Gewände der von ihnen beherrschten Länder aufzutreten. In anderen Fällen ist es das Kollektiv eines seit langem eingespielten Koalitionskabinetts, das sich bereitwillig die föderalistische Kompetenzzuweisung zunutze macht, und nicht zuletzt weiß auch die Ministerialbürokratie der Länder die Lage zu ihren Gunsten auszuwerten. Die Länder geraten so, vom Bunde aus betrachtet, in die Funktion der Hausmacht anderer Kräfte, vornehmlich der politischen Parteien und ihrer Koalitionen und daneben ihrer Bürokratien 14 . Nachdem also die Verfassung einmal föderalistische Strukturprinzipien aufgenommen und föderalistische Positionen geschaffen hat, braucht man sich nicht darum zu sorgen, daß diese Positionen nicht auch okkupiert und sogar kräftig ausgebaut werden. Gerade wenn keine echten föderativen Kräfte mehr lebendig sind, dringen andere Machtgruppen um so leichter ein. Wie das Beispiel vor allem Sachsens und Thüringens in der Weimarer Republik gezeigt hat, kann diese Entwicklung im schlimmen Falle sogar dahin führen, daß der Verlauf der Fronten des Klassenkampfes und des latenten Bürgerkrieges durch die Ländergrenzen markiert wird. Die föderalistische Struktur der Bundesrepublik nach dem Bonner Grundgesetz kann 13

Den Begriff „Parteienbundesstaat" hat Karl Bil finger, Exekution, Diktatur und Föderalismus, DJZ 1932 Sp. 1018 geprägt. Zu diesem Phänomen auch Carl Schmitt in „Positionen und Begriffe" (1939) S. 197; ferner im „Hüter der Verfassung" (1931) S.94ff.; E.R. Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshóf (1932) S. 18 ff. 14 In feinsinnigen Bemerkungen hat das vorausschauend auch der Abg. Dr. Heuss in der 10. Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates angedeutet (Sten.Ber. S. 207). Vgl. dazu ferner den Bericht „Die Konstituierung der westdeutschen Bundesorgane", AöR 75 (1949) S. 335.

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also nicht etwa als eine Scheinkonzession gewertet werden, die sich in ihrem Übermaß von selbst korrigieren wird. Sie bietet ein Stellungssystem verfassungspolitischer Machtpositionen dar, das von Truppen verschiedenster Herkunft besetzt und als Stützpunkt benutzt werden kann. Es ist also in jedem Falle wichtig zu wissen, wie es im einzelnen angelegt ist.

V. In der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, auf die sich hierbei zunächst das Interesse richtet, verfährt das Grundgesetz wiederum formal ganz bundesstaatlich. Die Vermutung spricht nach Art. 30 hinsichtlich aller staatlichen Befugnisse zugunsten der Länder, und der Bund hat nur dort Aufgaben, wo das Grundgesetz sie ihm ausdrücklich zuweist. Die Realität unserer staatsrechtlichen Verhältnisse bietet ein anderes Bild. In den Aufgaben der eigentlichen Staatsführung jedenfalls, d. h. in Regierung und Gesetzgebung, ist das Übergewicht des Bundes offenbar. Seitdem sich die Bundesorgane in Bonn konstituiert haben, sind die Landeshauptstädte als politische Zentren mit einem Schlage verödet. Der unbestrittene Sitz aller großen politischen Entscheidungen ist Bonn geworden 15. Der Zusammenhang der Innenpolitik mit der Außenpolitik, für die der Bund allein zuständig ist, die Unteilbarkeit aller Existenzfragen haben alles, was im vollen Sinne des Wortes zur „Regierungshoheit" gehört, den Ländern entzogen und an den Bundessitz verwiesen. In der Gesetzgebung liegen die Dinge ähnlich. Das Grundgesetz behält zunächst eine Reihe wichtiger Materien von vornherein der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes vor (Art. 73, 105 Abs. 1). Ferner begründet es in zahlreichen Einzelfällen ebenfalls eine ausschließliche gesamtstaatliche Gesetzgebungszuständigkeit16. Ihnen reihen sich die Tatbestände an, in denen der Bundesgesetzgeber kraft ungeschrie15

Das ist so ausgeprägt, daß selbst die Landtagswahlen in den Bann der Bundespolitik geraten sind und von den Wählern wie von den Parteien unter die Gesichtspunkte der Bundespolitik gestellt werden. 16 Es handelt sich hier um die Fälle der Art. 4 Abs. 3, 21 Abs. 3, 24 Abs. 1. 26 Abs. 2, 29, 38 Abs. 3, 41 Abs. 3, 48 Abs. 3, 54 Abs. 7, 59 Abs. 2, 79 Abs. 1, 80 Abs. 1, 84 Abs. 5, 85 Abs. 1, 87 Abs. 1, 87 b, 94 Abs. 2, 95 Abs. 4, 96 Abs. 2, 98 Abs. 1 und 3, 106 Abs. 4 und 5, 107, 108 Abs. 1, 3 und 5, 110 Abs. 2, 114 Abs. 2, 115, 117 Abs. 2, 118, 119, 131, 134 Abs. 4, 135 Abs. 4, 5 und 6, 143 Abs. 6. 5 Weber

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bener Bundeszuständigkeit zur Tätigkeit berufen ist, weil es sich um „natürliche Bundesaufgaben" handelt oder ein notwendiger Zusammenhang mit sonstigen Bundesgesetzgebungskompetenzen besteht17. In 31 bedeutsamen Positionen stellen sodann die Artikel 74, 75 und 105 Abs. 2 die Gegenstände der sogenannten konkurrierenden Gesetzgebung zusammen. Hier sollen die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung haben, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht (Art. 72 Abs. 1). Dem Drängen der Besatzungsmächte gemäß hat der Parlamentarische Rat dazu in Art. 72 Abs. 2 GG eine Klausel geschaffen, wonach der Bund nur bei einer gewissen Dringlichkeit einheitlicher Regelung den Ländern diese Materien streitig machen soll 18 , und die Militärgouverneure haben in Nr. 7 ihres Bestätigungsschreibens zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 diesen Vorbehalt stark unterstrichen. Aber mit der eleganten Formel des Art. 125 ist der Parlamentarische Rat diesem Hindernis ausgewichen. Wo danach eine Materie dieses Katalogs konkurrierender Gesetzgebungszuständigkeiten am 8. Mai 1945 reichsrechtlich geordnet oder sonst im Mai 1949 innerhalb einer oder mehrerer Besatzungszonen einheitlich geregelt war, gilt das Gebiet jetzt als bundesrechtlich geordnet, ist es also unter Verdrängung der Länderzuständigkeit für den Bund in Anspruch genommen. Da praktisch auf allen Gebieten der heutigen konkurrierenden Gesetzgebung am 8. Mai 1945 der Reichsgesetzgeber bereits tätig geworden war, ist so die Konkurrenzfrage de jure und de facto in den meisten Fällen zugunsten des Bundes entschieden, so daß die umfangreichen Materien der konkurrierenden Gesetzgebung der Sache nach ebenfalls ausschließlich dem Bunde gebühren 19. Die Tragweite dieser Regelung ist groß. Sie bedeutet die Wahrung der deutschen Rechtseinheit, und sie sichert die überregionale Lösung aller zwingend einheitlichen Gestaltungs- und Ordnungsaufgaben. 17 Dazu Wilhelm Greroe in dem Bericht über die Weinheimer Tagung „Bundesrecht und Bundesgesetzgebung" (Frankfurt a. M. 1950) S. 39 ff., ferner die anschließende Diskussion (S. 77 ff.) und das formulierte Ergebnis der Tagung (S. 192 f.). Vgl. auch Theodor Maunz, Ungeschriebene Bundeszuständigkeit, DÖV 1950 S. 643 ff. 18 Daß es sich hier „ausschließlich" um eine Forderung der Besatzungsmächte handelte, hat Walter Strauss in der Diskussion der erwähnten Weinheimer Tagung (Bundesrecht und Bundesgesetzgebung S. 140) bezeugt. 19 In der Frage stecken begreiflicherweise noch manche Zweifelspunkte. Um ihre Klärung hat sich erfolgreich die Weinheimer Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten vom Oktober 1949 bemüht. Vgl. dazu den schon zitierten Bericht „Bundesrecht und Bundesgesetzgebung".

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Den Ländern sind somit de facto nur diejenigen Gesetzgebungsaufgaben geblieben, die das Grundgesetz stillschweigend ihrer ausschließlichen Kompetenz überlassen hat. Den Kern dieser Vorbehaltsmaterien bilden die Ausgestaltung der eigenen Verfassungs- und Verwaltungsorganisation einschließlich des Kommunalwesens, das Schulrecht, das Staatskirchenrecht und einige interne Verwaltungsrechtsgebiete. Es handelt sich bezeichnenderweise nur um Gegenstände aus dem Bereich der Verwaltung. Sie sind nach Umfang und Qualität so wenig bedeutend, daß es sich auch von hier aus nicht rechtfertigt, den Ländern noch das Prädikat der Staatlichkeit zuzuerkennen, und einen wirklichen Gesetzgeber füllen sie kaum aus. Mit wie wenig Gesetzen die Länder auskommen können, hat die Praxis etwa der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in den letzten Jahren deutlich gezeigt, und das Übergewicht der Bundesgesetzgebung wird bei einem Vergleich des Bundesgesetzblatts mit den Gesetzblättern der Länder ohne weiteres sichtbar. Andererseits möchte in manchem die Kompetenz der Länder doch noch als zu reichlich bemessen erscheinen. Die Tatsache etwa, daß man im Gegensatz zur Weimarer Verfassung darauf verzichtet hat, für das Schulwesen wenigstens einige gesamtdeutsche Rahmenvorschriften aufzustellen, läßt schon jetzt einen derartigen Partikularismus im Schulorganisationswesen entstehen, daß die Freizügigkeit in der Bundesrepublik ernsthaft behindert wird und eine vernünftige Schulausbildung in Frage gestellt ist. Im Hochschulwesen, das noch stärker auf einheitliche Formung in den Grundzügen angewiesen ist, bahnt sich eine ähnliche Aufsplitterung an 20 . In der Verwaltungsorganisation, im Polizeirecht und vor allem im KomAußerdem sind zu diesem Gegenstand noch folgende Beiträge erschienen: W.Hoepfner, Zur Auslegung von Art. 72, 125 GG, MDR 1949 S. 654 ff.; Ernst Kern, Zur Auslegung von Art. 72 u. 125 GG, MDR 1950 S. 68 ff.; Ernst Wolff, Wie weit gilt nach Artikel 123 bis 126 des Grundgesetzes bisheriges Recht fort? DRZ 1950 S. 1 ff.; Schäfer, Die Problematik des Art. 125 des Grundgesetzes, DRZ 1950 S. 26 ff.; K. A. Bett er mann, Zur Auslegung des Art. 125 des Grundgesetzes, dargestellt am Mieterschutzrecht, DRZ 1950 S. 529 ff.; H.P.Ipsen, Wochenend und Grundgesetz, DVBl. 1950 S. 385 ff.; Jakob Kratzer, Zu Art. 72 Abs. 2 und 125 des Grundgesetzes, DVBl. 1950 S. 396 ff.; Ludwig Fröhler, Reichsrecht und Grundgesetz, DVBl. 1950 S. 76 f.; derselbe, Wie verhält sich Art. 125 zu Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz? DVBl. 1950 S. 490 ff.; zusammenfassend der sog. Bonner Kommentar in den Erläuterungen zu Art. 125 GG. 20 Über Tendenzen nach dieser Richtung am Beispiel der theologischen Fakultäten und Hochschulen vgl. Werner Weber, Der gegenwärtige Status der theologischen Fakultäten und Hochschulen, in „Tymbos für Wilhelm Ahlmann" (1951) S. 309 ff. 5·

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munalwesen entfaltet sich gleichfalls eine üppige und oft rein spielerische Vielgestaltigkeit. Sie macht gerade dem akademischen Vertreter des öffentlichen Rechts schmerzhaft deutlich, wie sie die wissenschaftliche Erfaßbarkeit dieser Rechtsgebiete und den Gesichtskreis der akademischen Jugend und des Verwaltungsbeamtentums, ja die Ubersehbarkeit der Zusammenhänge des öffentlichen Lebens über' haupt auf die kantonale Enge zurückführt. Das Bewußtsein, hier vor schädlichen Entwicklungen zu stehen, ist auch bei den maßgebenden Länderinstanzen weit verbreitet. Sie suchen eine Abhilfe in freiwilliger Koordinierung. Aber das ist ein mühseliges Geschäft, und seine bisherigen Ergebnisse sind sehr enttäuschend. Die Koordinierungspraxis ist überdies selbst ein Eingeständnis dessen, daß nicht einmal im engen Bereich der verbliebenen Landesgesetzgebungshoheit die Substanz echter Autonomie wirksam ist. Denn hier taucht sofort die Frage auf, wo denn die Selbstbestimmung der Länder bleibt, wenn jedes von ihnen sich mit 9 oder 10 anderen zu einem von seinen Delegierten ausgehandelten Kompromiß verstehen muß. Und weiter erhebt sich das Bedenken, wie sich die Koordinierungskompromisse der internen Länderkonferenzen mit den Vorstellungen von demokratischer Willensbildung und öffentlicher demokratischer Verantwortung vertragen. Wirkliches Vorbehaltsgut der Landesgesetzgebung ist nur die religionspolitische Ausgestaltung des Schulwesens (Bekenntnisschule oder Gemeinschaftsschule) und vielleicht die Regelung einiger Sonderfragen des Staatskirchenrechts. Hier stehen sich in regionaler Abgrenzung Grundauffassungen von so dezidierter Entschiedenheit gegenüber, daß die Anerkennung der Länderautonomie auf diesen Gebieten mindestens politischer Klugheit entspricht.

VL Die These, daß auch die Justizhoheit beim Bunde, nicht bei den Ländern liege, wird manchen zunächst überraschen. Gehören doch alle Gerichte, bis auf die jeweils höchstinstanzlichen Gerichte des Bundes und die Bundesdisziplinargerichte, dem Organisationssystem der Länder an (Art. 92, 96 Abs. 3 GG). Aber entscheidend ist, daß die maßgebenden Grundsätze der Judikatur in der Rechtsprechung der höchstinstanzlichen Bundesgeiidiie entwickelt werden und den Ländern auf die Rechtsprechungstätigkeit ihrer Gerichte als solche kein Einfluß zu-

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steht. Außerdem entstammen die Gesetze, die von der Gerichtsverfassung, dem Verfahren und dem materiellen Redit her den Gang der Rechtspflege bestimmen, mit Ausnahme eines Teiles der verwaltungsrechtlichen Materien ebenfalls der Zuständigkeit des Bundes21. Von der Justizhoheit besitzen die Länder also in Wahrheit nur die Justizverwaltungshoheit. Das bedeutet immerhin, von der haushaltsrechtlichen Vorsorge abgesehen: Beherrschung der Personalien, der Staatsanwaltschaft und der Gnadenpraxis, und dies sind Gegenstände, deren Anfälligkeit gegenüber dem Zugriff politischer Interessenten wächst, je enger der Kreis ist, dem sie anvertraut sind. Nicht ohne Besorgnis nimmt man auf, daß Strafverfolgung und Begnadigungsrecht nun in die Enge der Länderpartei- oder -koalitionspolitik hineingezogen sind und daß vor allem die gesamtdeutsche Richterschaft sich wieder in gegenseitig abgeschlossene Richterkörper der Länder aufgespalten sieht, von denen jeder für sich der intimen Berührung mit den politischen Kräften seines Landes ausgesetzt ist. Wenn nicht alles trügt, sind die Folgen in der Richterpersonalpolitik mancher Länder schon zu erkennen. Freilich wird gesagt, die Dinge hätten vor der Überführung der Justiz auf das Reich in den Jahren 1934/35 doch auch funktioniert. Aber damals hatte nicht nur die Bürokratie und die Richterschaft eine weit festere Konsistenz, sondern in Preußen, in einem Gebiet also, das an Größe und nahezu auch an Bevölkerungszahl der ganzen heutigen Bundesrepublik entspricht, gab es diese Aufspaltung und innere Verengung der Justizverwaltungshoheit nicht, und die dadurch gewonnene Großlinigkeit wirkte sich hier wie auf allen anderen Gebieten auf das ganze Reich aus. Justizhoheit (des Bundes) und Justiz Verwaltungshoheit (der Länder) befinden sich so in einem ungelösten Widerstreit.

VIL Unbestrittenes Übergewicht haben die Länder in der Verwaltung, und zwar hier nicht nur dem Anschein, sondern auch der wirklichen Lage nach. Das Grundgesetz behält dem Gesamtstaat nur wenige bundeseigene Verwaltungen, d.h. geschlossene Verwaltungssysteme· vor: den Auswärtigen Dienst, die Bundesfinanzverwaltung, die Bundes21

Das ergibt sich wiederum aus Art. 73 und aus Art. 74 in Verbindung mit Art. 125 des Grundgesetzes.

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eisenbahnen, die Post und die Verwaltung der Bundeswasserstraßen und der Schiffahrt, schließlich die Aufgaben einer Währungs- und Notenbank (Art. 87, 88, 89). Später ist die Bundeswehrverwaltung hinzugekommen (Art. 87 b Abs. 1). Das Grundgesetz erlaubt ferner, Bundesgrenzschutzbehörden und verschiedene Zentralstellen, nämlich für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen, zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes (ohne Exekutivbefugnisse) und für die Kriminalpolizei einzurichten (Art. 87 Abs. I) 2 2 . Weiter werden die Sozialversicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, als bundesunmittelbare Körperschaften geführt (Art. 87 Abs. 2). Eine Ausdehnungsmöglichkeit eröffnet die Befugnis (Art. 87 Abs. 3), auf Gebieten der Bundesgesetzgebung wenigstens zentrale Bundesoberbehörden sowie bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten zu errichten. Davon wird notgedrungen recht nachhaltig Gebrauch gemacht23. Nur unter besonderen Erschwerungen können dagegen bei neu auftauchenden Aufgaben auch bundeseigene Mittel- und Unterbehörden geschaffen werden (Art. 87 Abs. 3 Satz 2, 87 b Abs. 2). Die Bundesverwaltungshoheit ist also in der Zentrale zusammengerafft und erstreckt kein nennenswertes eigenes Behördensystem in das Land hinein 24 . 22 Errichtet sind das Bundesamt für Verfassungsschutz (Gesetz vom 27. September 1950, BGBl. S. 682), das Bundeskriminalamt (Gesetz vom 8. März 1951, BGBl. I S. 165) und die Bundesgrenzschutzbehörden (Gesetz vom 16. März 1951, BGBl. I S. 201). 23 Mehrere solche Bundesoberbehörden sowie bundesunmittelbare Körperschaften und Anstalten sind gemäß Art. 130 GG aus der Erbschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets übernommen worden, andere sind neu- oder wiedererrichtet. Die große Fülle der vom Bund in der ersten Wahlperiode des Bundestags ins Leben gerufenen Organisationserscheinungen weist Arnold Röttgen, Der Einfluß des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigenen Verwaltung, JöR NF 3 (1954) S. 70 ff. nach. Der gegenwärtige Stand ist etwa aus dem Handbuch von Koehler und Jansen, Die Bundesrepublik Deutschland 1956/57 (65. Jahrg.) zu entnehmen. Zur Struktur der Bundesoberbehörden vgl. Jakob Kratzer, Die Bundesoberbehörde, DÖV 1950 S. 529 ff.; ferner Gustav Böhm, Zur Rechtsstellung der Bundesoberbehörde, DVBl. 1950 S. 746 f. 24 Daß sich der Bund in der Zentrale manchen, darunter auch kulturellen Verwaltungsaufgaben widmen darf, ist Hans Peters f Die Stellung des Bundes in der Kulturverwaltung nach dem Bonner Grundgesetz, Festgabe für Erich Kaufmann (1950) S. 281 ff. ohne weiteres einzuräumen. Von einer anderen Seite, nämlich vom „überregionalen Verwaltungsakt", den er in die Kompetenz der Bundesministerien stellt, hat Füßlein (DVBl. 1951 S. 33 ff.) die Frage beleuchtet. Gesetzliche Anerkennung hat der überregionale Verwaltungsakt in § 3 des Gesetzes für Sicherungsmaßnahmen auf einzelnen Gebieten der gewerblichen Wirtschaft vom 5. Mai 1951 (BGBl. I S. 299) ge-

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Unterhalb der Bundeszentrale werden vielmehr Organisation und Tätigkeit der Verwaltung heute wieder ganz von den Ländern monopolisiert. Einiges davon, leider zu wenig, gebührt ihnen freilich nur als Auftragsverwaltung des Bundes, so die Autobahnen und Fernverkehrsstraßen (Art. 90), ferner diejenigen Bundeswasserstraßen, die der Bund den Ländern zur auftragsweisen Verwaltung überläßt (Art. 89 Abs. 2), und ein variabler Teil der Finanz Verwaltung (Art. 108)25. Später hat man die Zulässigkeit von Bundesauftragsverwaltungen noch auf das Verteidigungswesen (Art. 87 b Abs. 2) und auf den Lastenausgleich (Art. 120 a) ausgedehnt. Insoweit ist der leitende und kontrollierende Verwaltungseinfluß des Bundes über sein eigenes Behördensystem hinaus wenigstens in einem unmittelbaren Weisungsrecht der Bundesregierung wirksam (Art. 85 GG). Aber diese Aufgaben treten zurück gegenüber dem großen und universellen Komplex der landeseigenen Verwaltung. Hier sind die Länder Träger des Verwaltungsapparates und Herren der Verwaltungstätigkeit zugleich. Ähnlich wie in der Verfassung Bismarcks füllen sie unterhalb der Bundeszentrale wieder den ganzen Bereich behördlicher Organisation und staatlichen Verwaltungswirkens aus, gleichviel ob die Grundlagen des Verwaltungshandelns der Bundesgesetzgebung und der Bundespolitik oder der Landesgesetzgebung entstammen. Das Grundgesetz kommt dabei den Ländern in der Gewährung administrativer Selbständigkeit und innenpolitischer Macht weit entgegen. Aber hier, in der Verwaltung, hat das audi unabhängig von einem forcierten Föderalismus einen vernünftigen Sinn. Die Erkenntnis, daß die Verwaltungsaufgaben wegen ihrer Unmittelbarkeit und Konkretheit in der Verantwortung engerer Lebenskreise weithin besser aufgehoben sind als unter zentralistischer Fremdbeeinflussung, hat sich oft befunden. In jedem Falle aber bleibt, daß diese Verwaltungstätigkeit des Bundes, abgesehen von den wenigen durchgeführten Bundesverwaltungen, sich nur in der Zentrale entfalten kann und von dorther in enge Grenzen gewiesen ist. 25 Die nähere Festlegung der Bundesauftragsangelegenheiten im Finanzwesen hat das Gesetz über die Finanzverwaltung vom 6. September 1950 (BGBl. S. 448) gebracht. Im übrigen bemüht sich dieses Gesetz schlecht und recht, den kompromißhaft in Art. 108 GG vorgesehenen Dualismus von Bundes- und Landesfinanzverwaltung mit der Aufrechterhaltung eines einigermaßen einheitlichen Finanzbehördensystems in Einklang zu bringen. Das Ergebnis ist ein monströses Organisationsgebilde, das die Ausweglosigkeit der föderalistischen Finanzbestimmungen des Grundgesetzes vollends aufdeckt. Sehr wohlwollend in der Beurteilung v. Kalm, Zum Gesetz über die Finanzverwaltung, DVBl. 1950 S. 740 ff.

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währt und den Prinzipien der Dezentralisation und der Selbstverwaltung einen guten Klang verliehen. Und so wenig wir den heutigen Ländern die hohen Prädikate des Staates zuerkennen, so sehr lieben wir doch in Landschaften und Stämmen, in geschichtlicher Prägung und gegenwärtiger Leistung den Reichtum mannigfaltigen Lebens, den sie einfassen. Wir wissen auch um die Kräfte, die von hier aus den Ländern für eine eigenverantwortliche Daseinsbewältigung zuwachsen. Das Grundgesetz vergreift sich deshalb im Prinzip nicht, wenn es den Ländern gerade die konkreten Gestaltungsaufgaben der Verwaltung großzügig anvertraut. Freilich gesellt sich zu den Vorzügen einer so weit getriebenen Verwaltungsdezentralisation auch die Gefahr eines partikularistischen Auseinanderfallens der Organisationssysteme, der Personalpolitik, des Verwaltungsstils und der innenpolitischen Ordnung überhaupt. Es kommt deshalb wesentlich darauf an, ob der Bund ausreichende Befugnisse hat, diese Gefahr niederzuhalten, ob also die sogenannte Bundesaufsicht kräftig genug ausgebildet ist.

VIII. Das Grundgesetz war bei der Ausgestaltung der Bundesaufsicht über die Länder in den Normierungen an sich nicht zaghaft, wenn auch die starke Einschaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 84 Abs. 4, 93) Maß und Schonung verbürgt. Soweit sich die Bundesaufsicht der landeseigenen Verwaltung zuwendet — und das ist ihr eigentlicher Gegenstand (Art. 84 Abs. 3) —, tritt bezeichnenderweise die Annäherung an die Kommunalaufsicht deutlich hervor. Auch auf den Gebieten der landeseigenen Verwaltung kann zur Durchführung von Bundesgesetzen die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren durch Bundesgesetz geregelt werden (Art. 84 Abs. 1, 108 Abs. 2 und 5); auch auf diesen Gebieten können allgemeine Verwaltungsvorschriften der Bundesregierung ergehen (Art. 84 Abs. 2, 108 Abs. 7) und kann gegebenenfalls sogar die Befugnis der Bundesregierung zu Einzelweisungen begründet werden (Art. 84 Abs. 5). In der landeseigenen Finanz Verwaltung wirkt die Bundesregierung sogar bei der Bestellung der Leiter der Mittelbehörden mit, ebenso wie sie hier die einheitliche Ausbildung der Beamten regeln kann (Art. 108 Abs. 2)^. 26

Die Mitwirkung bei der Bestellung der Leiter der Mittelbehörden hat

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Diese positiven Gestaltungsbefugnisse werden ergänzt durch die repressive Aufsicht der Bundesregierung darüber, „daß die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Rechte gemäß ausführen" (Art. 84 Abs. 3). Der Kenner allerdings weiß, daß diese bloße „Gesetzmäßigkeitskontrolle" wenig hergibt, und er sieht, daß sie von der „selbständigen" Reichsauf sieht gemäß Art. 15 Abs. 1 WRV zur „abhängigen" Bundesaufsicht abgewertet ist. Welche Aufsichtsmittel der Bundesregierung dabei zur Verfügung stehen, ist überdies mit den mehr symbolischen Institutionen der Entsendung eines Beauftragten (Art. 84 Abs. 3) und der sogenannten Mängelrüge (Art. 84 Abs. 4) nur angedeutet. Aber dahinter erheben sich doch, so könnte eingewendet werden, die konkreteren Befugnisse des Bundeszwanges, in dessen Rahmen das Grundgesetz (Art. 37) die Bundesregierung mit nahezu unbegrenzter Weisungs- und Disziplinargewalt gegenüber den Ländern ausstattet, die in bundespflichtwidrigem Verhalten verharren. Die Frage ist nur, ob die Bundesregierung wirklich die Macht und Autorität hat, im Ernstfalle ihre verfassungsgesetzlichen Möglichkeiten wirksam gegen ein Land anzuwenden. Sie braucht nämlich zu fast sämtlichen Maßnahmen der Bundesaufsicht die Zustimmung des Bundesrats 27, und dieses Vertretungsgremium der Länder kann im Konfliktsfalle leicht der Neigung erliegen, die Position des Landes gegen die Bundesregierung zu stützen. Dann ist die Bundesaufsicht kraftlos. Auch sonst ist sie gegenüber einem widerstrebenden Land sehr arm an realen Einwirkungsmöglichkeiten 28. Ob es gelingt, ihr wenigstens durch Ausbau der finanziellen Position des Bundes Nachdruck zu verleihen, ist eine dringende, aber bis heute noch durchaus offene Frage. Auf die exekutivische Bundesaufsicht wird man also keine sicheren Hoffnungen setzen dürfen; sie hat vielmehr im Maßstab und in den das Gesetz über die Finanzverwaltung vom 6. September 1950 (BGBl. S. 448) auf seine Weise geregelt. 27 Nämlich zu allgemeinen Verwaltungsvorschriften (Art. 84 Abs. 2, 108 Abs. 6 GG), zur Entsendung von Beauftragten zu nachgeordneten Landesbehörden, wenn die Landesregierung nicht zustimmt (Art. 84 Abs. 3), und zur Anwendung des Bundeszwangs (Art. 37 Abs. 1). Über die Berechtigung der sog. Mängelrüge entscheidet im Zweifelsfalle sogar der Bundesrat allein schiedsrichterlich (Art. 84 Abs. 4). Hinzu kommt, daß die Gesetze, die der Bundesregierung Einwirkungen auf die Länder erschließen, sämtlich der Zustimmung des Bundesrats bedürfen. 28 Das betont auch Walter Menzel, Die verfassungspolitischen Entscheidungen im Grundgesetz, DtVerw. 1949 S. 313.

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Mitteln ihre konstitutionelle Schwäche schon mehr als einmal bewiesen29. Allerdings gibt es neben ihr eine verläßlichere justizförmige Ergänzung. Die Tätigkeit der Landesgesetzgeber und der Landesverwaltungsstellen ist bekanntlich dank der justizstaatlichen Konzeption des Grundgesetzes von einem dichten Netz gerichtlicher Kontrollen umgeben. Die Prüfung der Verfassungs- und Bundesgesetzmäßigkeit der Landesgesetze (in der abstrakten Normenkontrolle auch der Landesverordnungen) durch das Bundesverfassungsgericht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 100 GG) und der Länderrechtsverordnungen durch die Gerichte überhaupt vereinigt sich mit dem universellen Rechtsschutz, den sämtliche fünf Gerichtsbarkeiten gegenüber der Verwaltung gewähren. Sie lassen weder dem Landesgesetzgeber noch der Landesverwaltung Gelegenheit zu Abweichungen und krassen Eigenmächtigkeiten. Und da jede dieser Gerichtsbarkeiten in einem letztinstanzlichen Bundesgericht kulminiert und selbst diese obersten Instanzen in einem Gemeinsamen Senat und im Bundesverfassungsgericht noch einmal zu zwei Koordinationsgruppen zusammengefaßt sind 30 , erstreckt sich von der Normenkontrolle und der Judikatur in Verwaltungssachen her ein starker koordinierender Einfluß auf die Landesgesetzgebung und auf das Gesamtgefüge der Bundes- und Landesverwaltung. Von der einheitsbildenden und einheitssichernden Kraft der Verwaltungsjudikatur vor allem darf man erhoffen, daß sie vieles beiträgt, die Föderalisierung der Verwaltung nicht in die Gefahr separatistischer Besonderung abgleiten zu lassen. Immerhin ist diese Wirkung begrenzt. Sie erschließt der Bundesregierung keine exekutivischen Handlungsmöglichkeiten und gibt ihr selbst gegenüber den geschlossenen Körpern der Länder keine größere Durchschlagskraft.

IX. Die Bundesaufsicht ist also allzu schwach bestückt, und sie ist als „abhängige" Aufsicht auf die Prüfung beschränkt, ob vom Bund erlassene Gesetze von den Ländern dem Rechte gemäß ausgeführt wer29 Skeptisch nach dieser Richtung auch Georg August Zinn, Die Bundesaufsicht nach dem Grundgesetz, DÖV 1950 S. 524. Interessant und sehr erwägenswert ist übrigens der von Zinn an der gleichen Stelle unternommene Versuch, aus dem Sinnzusammenhang des Grundgesetzes auch eine „selbständige" Bundesaufsicht zu entwickeln. 30 Diese koordinierende Zusammenfassung ergibt sich aus Art. 95 und 100 GG.

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den. Daß die föderalistische Dezentralisation der Exekutive außerdem zu einer aufwendigen Hypertrophie der Kabinette, Ministerien, Staatsgerichtshöfe, Rechnungshöfe usw. führt, ist bekannt. Als wichtiger jedoch erscheint es, einige weitere besonders neuralgische Punkte in ihrem Konstruktionssystem zu erkennen. 1. Der Wille der Besatzungsmächte hat der Bundeszentralgewalt zunächst jede innenpolitische Ordnungsbefugnis, d. h. jede Zuständigkeit vorenthalten, bei Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Bundesgebiet mit eigenen Machtmitteln einzuschreiten, ja die Bundeseinrichtungen selbst zu schützen. Die Besatzungsmächte haben sich nur in Art. 91 Abs. 2 GG die sehr gehemmte Ermächtigung der Bundesregierung abringen lassen, im Falle eines Staatsnotstandes gegebenenfalls die Polizeikräfte einzelner oder aller Länder ihrem Befehl zu unterstellen. Sie haben überdies die Ausübung dieser Befugnis an ihre ausdrückliche Genehmigung geknüpft 31 . Diese Einschränkung ist zwar zunächst gelockert worden und dann ganz entfallen, aber nun ist das Problem erst recht in den Bereich föderalistischer Verwicklungen eingetreten. Solange das Kontrollsystem der Besatzungsmächte das Eintreten eines Staatsnotstandes im hochpolitischen Sinne dieses Begriffs verhinderte, hatte jene Lücke in den Befugnissen der Bundesregierung keine Bedeutung. Inzwischen ist die Dringlichkeit der Frage schnell offenbar geworden. Wenn die Verhinderung des Chaos im Staate wichtiger ist als irgend eine föderalistische Doktrin, dann können der Bundeszentralgewalt nicht die Verantwortung und die Machtmittel dafür streitig gemacht werden, provozierten Aufruhr, Sabotage, Bürgerkrieg, kurz jeden Angriff gegen den Bestand des Staates und seiner Ordnung in aktiver Verteidigung niederzuwerfen. Für die Verfassungen Bismarcks und der Weimarer Republik war das eine Selbstverständlichkeit. Heute muß die Bundesregierung um den exekutivischen Schutz ihrer Einrichtungen bei den Ländern bitten und sich in qualvollen Verhandlungen über die sog. Bundespolizei bei den Ländern um die Einräumung eines Minimums an polizeilicher Kommandogewalt und polizeilicher Machtapparatur bemühen32. Die in Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages der Bundesrepublik nahegelegte 31

Nr. 3 des Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949. 32 Über die zwischen Bund und Ländern vereinbarte Regelung unterrichtet Ritter von Lex, Die Bereitschaftspolizeien der Länder, Festschrift für Ehard (1957) S. 123 ff.

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Regelung von Sonderbefugnissen im Falle eines inneren Notstandes33 ist nodi nicht getroffen und durch Einfügung des neuen Art. 143 in das Grundgesetz durch das Gesetz vom 19. März 1956 (BGBl. I S. 111) nicht unwesentlich erschwert. 2. Die föderalistische Dezentralisation der Verwaltung steht und fällt ferner mit dem gegenwärtigen mirtschaftspolitischen System, das sich in seinen Grundzügen zur Verkehrs- oder Marktwirtschaft bekennt. Die verfassungs- und verwaltungsorganisatorischen Auswirkungen dieses Systems bestehen darin, daß sich das Schwergewicht der wirtschafte- und sozialpolitischen Aktivität auf zentrale Maßnahmen konzentriert. Die Währungs-, Kredit-, Zoll-, Steuer-, Investitions- und Subventionspolitik, die Außenhandels- und Preispolitik, die Verwaltung der Marshallplanhilfe und alles, was sich an wirtschafte- und sozialpolitischen Maßnahmen darum gruppiert, ist ausgeprägtermaßen auf eine zentrale Lenkungsapparatur reduziert. Mehr wirkliche Wirtschaftspolitik als Wirtschaftsverwaltung, ist sie so angelegt, daß sie die beabsichtigten wirtschaftspolitischen Wirkungen bis in die Einzelbereiche des Wirtschaftslebens hinein äußert, ohne einer in die Länderverwaltung sich verzweigenden Durchführungstätigkeit mittlerer und unterer Behörden nennenswert zu bedürfen. Auf diese Weise ist die Bewältigung der Wirtschaftspolitik und der mit ihr verbundenen sozialpolitischen Fernwirkungen nahezu ausschließlich Aufgabe der Bundeszentrale. Dort hat sie ihren Sitz in den Wirtschaftsressorts der Bundesregierung und dem ihnen vom Grundgesetz beigegebenen Trabantenkreis oberer Bundesbehörden und bundesunmittelbarer Körperschaften und Anstalten. Damit ist auf diesem wichtigsten Gebiet politischen Wirkens die föderalistische Problematik vorerst umgangen. Es liegt aber auf der Hand, daß jede Änderung des Kurses bald zu schwierigen Kollisionen mit dem föderalistischen Verwaltungssystem der Bundesrepublik führen müßte. Eine Wirtschafte- und Sozialpolitik, die auf planende und gestaltende Durchführung auf der Mittel- und Unterstufe der Behördenorganisation angewiesen ist, würde an der Verwaltungsautonomie der Länder kraftlos werden oder müßte sie gewaltsam durchbrechen. Auf eine Formel gebracht: Ein unbeschadet zentraler Steuerung liberales Wirtschaftssystem läßt sich mit dem gegenwärtigen Föderalismus verbinden, ein irgendwie planwirtschaftliches dagegen nicht, nicht einmal in den Ansätzen, von einer 33

Zu dem Problem Konrad Hesse, Ausnahmezustand u. Grundgesetz, DÖV 1955 S. 741 ff.

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sozialistischen Wirtschaftsordnung ganz zu schweigen. So stellt das föderalistische Exekutivsystem die Bundesregierung vor die Alternative, entweder ihre wirtschaftspolitische Aktivität auf Methoden zentraler Fernsteuerung zu begrenzen oder eine irgendwie geartete Revision des Grundgesetzes anzupacken. 3. Bei dem dritten kritischen Punkt handelt es sich um die Aufteilung der Finanzmacht zwischen Bund und Ländern. In dieser Frage haben sich die Gegensätze zwischen dem Parlamentarischen Rat und den Besatzungsmächten besonders dramatisch zugespitzt, um sich schließlich in einen brüchigen Kompromiß aufzulösen 34. Die Finanzgesetzgebung liegt zwar überwiegend in der Hand des Bundes (Art. 105); die Finanzverwaltung ist mit weniger befriedigendem Ergebnis salomonisch zwischen Bund und Ländern geteilt (Art. 108)35. In der entscheidenden Frage, der Verteilung des Steueraufkommens, wurde nicht einmal ein voller Kompromiß, sondern nur eine Rahmenregelung erzielt, die erst spät, nämlich dadurch in ein (vorläufiges) Definitivum überführt werden konnte, daß die Art. 106 und 107 GG durdi das Gesetz vom 23. Dezember 1955 (BGBl. I S.817), Art. 106 dann noch einmal durch das Gesetz vom 24. Dezember 1956 (BGBl. I S. 1077) neu gefaßt wurden. Inzwischen konnten mit dem neuen föderalistischen Finanzsystem Erfahrungen gesammelt werden. Sie gehen dahin, daß das finanzielle Gleichgewicht zwischen dem Bund einerseits und den finanzstarken Ländern anderseits wohl einigermaßen hergestellt ist, nicht aber im Verhältnis der Länder untereinander und im Verhältnis der finanzschwachen Länder zum Bund. Hier greift korrigierend der horizontale Finanzausgleich zwischen den Ländern ein, der gegenwärtig in dem Länderfinanzausgleichsgesetz vom 27. April 1955 (BGBl. I S. 199) seine Ordnung gefunden hat. Aber er hat nicht vermocht, das finanzielle Gefälle zwischen den Ländern zu beseitigen. Die Neufassung des Art. 107 GG (Art. 107 Abs. 2 Satz 3) sieht freilich auch Möglichkeiten eines vertikalen Finanzausgleichs vor, indem nämlich durch Gesetz bestimmt werden kann, daß leistungsschwachen Ländern Ergän34

Vgl. dazu Hermann Höpker-Aschoff, Das Finanz- und Steuersystem des Bonner Grundgesetzes, AöR 75 (1949) S. 306 ff.; Gerhard Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik (1950), ferner im FinArchiv 12 (1951) S. 713 ff. 35 Siehe die problematische Ausführung in dem schon erwähnten Gesetz über die Finanzverwaltung vom 6. September 1950 (BGBl. S. 448) und Wacke im Fin Archiv (a.a.O.).

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zungszuweisungen aus Mitteln des Bundes gewährt werden. Indessen hat diese verfassungsrechtliche Möglichkeit nodi keine Effektivität. Das Funktionieren des deutschen Föderalismus hängt entscheidend davon ab, daß es gelingt, den Bund und alle Länder mit der gleichen Finanzkraft auszustatten. Bisher ist das in auffälliger Weise nicht erreicht, und zwar zu Lasten der von Art. 107 Abs. 2 Satz 3 selbst sogenannten „leistungsschwachen" Länder.

X. Ihren Höhepunkt erreicht die föderalistische Problematik der gegenwärtigen deutschen Verfassung aber in der Frage, in welcher Weise die Länder an der Bildung des Bundeswillens mitwirken. Das Organ, in dem sich dieser Wille formen soll, ist der Bundesrat. Er gehört zu den am meisten schillernden Schöpfungen des Grundgesetzes. Nach langem Schwanken hat sich der Parlamentarische Rat gegen die Senatslösung und für den Bundesrat, also dafür entschieden, die Länder bei der Bundeszentrale durch ihre Regierungen zur Geltung zu bringen 36 . Die erste Frage, die man dem Bundesrat entgegenbringt: Vertritt er wirklidi die Länder? Das ist in der Tat nicht zweifelsfrei. Seine 41 Mitglieder, zu denen vier zur Zeit nicht stimmberechtigte Mitglieder aus Berlin hinzutreten, sind Ministerpräsidenten und Minister der Länder. Sie entstammen also der jeweils in den Ländern herrschenden Mehrheitspartei oder Parteikoalition; die gerade nicht an der Landesregierung beteiligten politischen Gruppen sind mithin im Bundesrat abgefiltert. Diese Minister stehen überdies nicht nur in der Bindung gegenüber ihrem Land, sondern gleichzeitig und möglicherweise sogar primär in der Pflichtenordnung ihrer Partei. Es ist also die Frage, wieweit sie durch eigene Gesichtspunkte der Landespolitik oder durch ihre Parteilinie bestimmt sind 37 . Auf sie nimmt schließlidi 36 Über die Erörterungen zu dieser Frage im Parlamentarischen Rat Heinrich ό. Brentano, Der Bundestag und der Bundesrat, DÖV 1949 S. 270 f. Die Problematik der Konstruktion des Bundesrats tritt auch bei Ernst Kern, Zur Praxis der Bundesratsarbeit, DÖV 1951 S. 260 ff. hervor. 37 Über das Durchschlagen des parteipolitischen Elements auch der Bericht „Die Konstituierung der westdeutschen Bundesorgane" AöR 75 (1949) S. 335 f. Die dort angedeuteten Befürchtungen haben sich vollauf bestätigt (siehe auch Hans Schneider, Fünf Jahre Grundgesetz, NJW 1954 S. 940). Es ist von entscheidendem Gewicht für die Bundesgesetzgebung und die Bundespolitik geworden, ob und wieweit bei der Willensbildung im Bundesrat die parteipolitische Richtung der Regierungskoalition oder die der Opposition überwiegt.

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ihre eigene Ministerialbürokratie, die ihnen das Arbeitsmaterial des Bundesrats fachlich aufbereiten muß, starken Einfluß. So begegnen sich im Bundesrat sehr verschiedenartige politische Kräfte, vor allem die politischen Parteien, teils in reiner Form, teils in der Mischung der Länderparteikoalitionen, sodann die Länderbürokratien. Wieweit man darin die Länder selbst als demokratische Gefüge vertreten sehen will, ist eine Frage für sich. Sie kann sicher nicht für alle Länder und alle Parteien einheitlich beantwortet werden. Aus den Arbeitsbedingungen des Bundesrats und aus der vielfältigen Inanspruchnahme seiner Mitglieder ergibt sich von selbst, daß sich die Masse seiner Aufgaben in die Fachausschüsse verlagert 38. Hier ist die eigene Welt einer geschlossenen Bundesratsapparatur entstanden, in der das Element der ständigen und wechselnden Delegierten der Länderministerien sein eigentliches Feld hat, die Welt einer Bürokratie mit ihren eigenen Gesetzen. Darüber stehen wie ein vielköpfiges Koalitionskabinett die 41 (45) ministeriellen Bundesratsmitglieder. Sie wählen den Präsidenten des Bundesrats aus ihrer eigenen Mitte 39 . Gegenüber der Eigenständigkeit dieses Apparats tritt naturgemäß die Beziehung zu den Ländern weiter zurück. Die Zusammensetzung des Bundesrats führt zu einer eigentümlichen Zweispurigkeit der Bundespolitik. Im Bundestag und in der Bundesregierung hat sich die klare Gegenüberstellung einer herrschenden Parteienkoalition und einer Opposition herausgebildet. Im Bundesrat arbeitet die Opposition an den gleichen Aufgaben, auch an denen der Regierung, mit. Das kann zu einer völligen Lähmung des Bundestags und der Regierung führen, wenn die Opposition dank entsprechenden Wahlsystemen und Konstellationen in den Ländern im Bundesrat stärker wird als die Gruppe, die im Bundestag die Regierung trägt, kann freilich anderseits bei günstiger Lage die Schärfe der Gegensätze zwischen Regierung und Parlamentsopposition wohltätig überbrücken. Jedenfalls stehen sich in der Bundesregierung und im Bundesrat zwei Regierungen, im Bundestag und Bundesrat zwei Gesetzgeber 38

Nach Hans Schäfer, Der Bundesrat (1955), hat der Bundesrat 14 ständige Ausschüsse. 39 So bestimmt es § 5 der Gesdiäftsordnung des Bundesrats (BGBl. 1950 S. 768). Nötig wäre das nicht, und es spräche manches dafür, den Bundesratspräsidenten außerhalb des Kreises der Bundesratsmitglieder zu suchen. Dazu auch der Bericht „Die Konstituierung der westdeutschen Bundesorgane", AöR 75 (1949) S. 333 ff.; ferner Wilhelm Greme, Das bundesstaatliche System des Grundgesetzes, DRZ 1949 S. 352.

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gegenüber. Das ist im gewaltenteilenden System natürlich und sogar erwünscht. Aber die demokratische Inkonsequenz liegt darin, daß der Bundesrat anonym wirkt, ohne sichtbare Verantwortungsbeziehung zu einer demokratischen Instanz und zur öffentlichen Meinung. Bei ihm sind alle Verantwortlichkeiten verdeckt und verhüllt, zumal er kaum jemals als Träger einer Initiative hervorzutreten braucht, sondern im wesentlichen durch Einwendungen und Hemmungen wirkt. Das alles macht ihn zu einer dunkeln, von kühler Distanziertheit umgebenen Größe im politischen Kräftespiel, zum Träger einer im Schatten bleibenden potesias indirecta 40. Dabei ist sein Einfluß bedeutend. Art. 50 GG kennzeichnet seine Aufgaben als Mitwirkung bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes. In dieser Doppelseitigkeit liegt seine Stärke beschlossen. Das Grundgesetz, das sonst so betont dem Gewaltenteilungsgedanken anhängt, hat im Bundesrat legislatorische und exekutivische Befugnisse unbedenklich zusammengefaßt, und zwar Befugnisse von nicht nur nebensächlicher, sondern von zentraler Bedeutung. Die Tatsache, daß es sich hier überwiegend um Hemmungs- und Hinderungsmöglichkeiten handelt, behebt die Gefahr dieser Gewaltenkonzentration nicht. In der Tat hat der Bundesrat die Möglichkeit, über weite Bereiche von Gesetzgebung und Regierung eine Blockade zu verhängen und von dort aus einen anonymen Einfluß auch auf Vorgänge der Staatsführung auszuüben, die ihm sonst nicht zugängig sind. Weder mit dem demokratischen noch mit dem gewaltenteilenden Charakter der Bundesverfassung ist diese Gestaltung voll in Einklang zu bringen. In der Bundesgesetzgebung steht dem Bundesrat die Gesetzesinitiative, die Begutachtung von Regierungsvorlagen und ein suspensives Veto zu (Art. 76 bis 78 GG). Das bleibt im Rahmen der Konstruktion einer 2. Kammer und bietet nichts Auffälliges. Aber für eine stattliche Zahl besonders wichtiger Gesetze bedarf es der Zustimmung des Bun40

Die Tatsache, daß das Plenum des Bundesrats im allgemeinen öffentlich verhandelt und beschließt (Art. 52 Abs. 3 GG), ändert hieran nichts. Weit mehr noch als bei den Plenarsitzungen der modernen Parlamente sind die öffentlichen Sitzungen des Bundesrats nur Staffage. Für das Bewußtsein der Öffentlichkeit ist die Willensbildung im Bundesrat ungreifbar und sind seine Verhandlungen ein undurchdringliches Internum. Zur Problematik des Bundesrats vgl. auch Werner Weber, Die Verfassung der Bundesrepublik in der Bewährung (1957) S. 23 f. und das dort zitierte Schrifttum.

II

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desrats 41. Hier kann er seine Sperr Wirkung voll und unüberwindbar entfalten. Nicht weniger gewichtig sind die Fälle, in denen die Bundesregierung in ihrem Handeln an die Zustimmung des Bundesrats gebunden ist 42 . Das Grundgesetz rühmt als eine seiner besonderen Errungenschaften, daß es die einmal gebildete Regierung dem Parlament und seinen Parteien gegenüber freier gestellt und ihr Raum zu eigenverantwortlichem Handeln gewährt hat. Diesei· Gewinn ist durch ihre Unterwerfung unter die interne Mitregierung des Bundesrats, und zwar eines nach seiner parteipolitischen Konstellation möglicherweise oppositipnellen Bundesrats, bei w;eitem wieder wettgemacht, Dennoch könnte das Zusammenspiel zwischen dem Bundesrat einerseits und dem Bundestag sowie der Regierung anderseits allenfalls funktionieren, wenn die Verfassung — etwa im Bundespräsidenten — über diesen Partnern eine vermittelnde Instanz vorsähe, die im Konfliktsfall die gegenseitige Blockierung lösen könnte. Aber eine solche Instanz gibt es nicht. Das Grundgesetz hat sogar im Gegensatz zu den früheren Reichsverfassungen auf jede organisatorische Querverbindung zwischen Regierung und Bundesrat verzichtet. Vorsitz und Geschäftsleitung im Bundesrat der Reichsverfassung von 1871 hatte der Reichskanzler selbst (Art. 15 aRV), der als Bundesratsbevollmächtigter Preußens gleichzeitig die preußischen Bundesratsstimmen führte 43 . Den Vorsitz im Reichsrat der Weimarer Verfassung und in seinen Ausschüssen führte (ohne Stimmrecht) ein Mitglied der Reichsregierung, 41 Das Zustimmungserfordernis ist begründet in den Artikeln 29 Abs. 7, 59 Abs. 2, 79 Abs. 2, 81 Abs. 2, 84 Abs. 1 und 5, 85 Abs. 1, 87 Abs. 3, 87 b, 105 Abs. 3, 106 Abs. 4 und 5, 107, 108 Abs. 3, 120 a, 134 Abs. 4 und 135 Abs. 5. Zu beachten ist vor allem, daß es sich hier überwiegend um Gesetze von Schlüsselbedeutung handelt. Zur Bedeutung und ausdehnenden Anwendung dieses Zustimmungsrechts vgl. Hans Schneider, Die Zustimmung des Bundesrates zu Gesetzen, DVBl. 1953 S. 257 ff.; derselbe, Fünf Jahre Grundgesetz, NJW 1954 S. 940. 42 Das Grundgesetz sieht die Zustimmung des Bundesrats zu Akten der Regierung oder eine sonstige Form der Mitwirkung an ihnen in folgenden Artikeln vor: Art. 37 Abs. 1, 80 Abs. 2, 81 Abs. 1, 84 Abs. 2 und 3, 85 Abs. 2, 91 Abs. 2, 108 Abs. 6, 114, 119, 129 Abs. 1, 130 Abs. 1, 132 Abs. 4. Von größter Bedeutung ist vor allém das ausgedehnte Züstimmungserfordernis zum Erlaß von Rechtsverordnungen der Bundesregierung geimäß Art. 80 Abs. 2 GG. Die Erfahrung hat bestätigt, daß die Landesregierungen bei der Ausübung des Zustimmungsrechts des Bundesrats gegenüber Gesetzen und Regierungsmaßnahmen besonders dahin präokkupiert sind, die selbständige Verwaltungshoheit der Länder eher auszudehnen, als schmälern zu lassen. 43 Vgl. Meyer+Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919 S. 487 ff.

6 Weber

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regelmäßig der Reichsminister des Innern (Art. 65 WRY). Das war der Ausdruck des Willens zu enger Zusammenarbeit zwischen den beiden Organen, während das Grundgesetz umgekehrt ihr Polaritätsverhältnis unterstreicht. Einen wesentlichen Grund für diese Zwiespältigkeiten in der Situation des Bundesrats haben die Bonner Verfassungsschöpfer dadurch gelegt, daß sie in der Ausgestaltung des Bundesrats eine Annäherung an seinen beispielhaften Vorgänger im Reich Bismarcks suchten und dabei „noch bismärckischer" sein wollten 44 . Aber der Bundesrat Bismarcks war nicht eine Gesamtvertretung demokratisch verfaßter Länder, sondern ein Gesandtenkongreß solidarischer fürstlicher Regierungen. Zum anderen und vor allem waren im Bismarckreich Reichsführung und Bundesrat organisatorisch und durch die beherrschende Stellung Preußens in beiden eng verklammert. Das war eine andere Lage, ja sogar eine andere Welt. Es konnte keine klare Lösung versprechen, wenn man von dort herausgebrochene Verfassungsfragmente übernahm. Im ganzen ein verwirrendes Bild, das der konstruierte Föderalismus des Grundgesetzes bietet, verwirrend auch noch, wenn man es, wie hier, auf die Grundlinien reduziert. Das Grundgesetz schwankt zwischen Konzessionen an die Forderungen der Besatzungsmächte, eigener Anerkennung maßvoll föderalistischer Konstruktionsgedanken und der Einsicht, daß es im Grunde einen Atavismus bedeutet, das heutige, kleingewordene Deutschland als einen Bund von Staaten zu begreifen. Im Ergebnis hat es den Ländern die Rolle von Verwaltungseinheiten, von autonomen Selbstverwaltungskörperschaften höherer Ordnung zugewiesen. Dieser Dezentralisationsgedanke ist fruchtbar und entwicklungsfähig. Was das Grundgesetz sonst an wiederbelebten föderalistischen Einrichtungen aufweist, kommt weniger echt föderativen Kräften und Anliegen als dem Gewaltenteilungsprinzip an sich, den parteipolitischen Gruppen und ihren Kombinationsmöglichkeiten und der Verwaltungsbürokratie zugute. Schädlich ist ihre Wirkung insofern, als sie den Staatsaufbau unübersehbar kompliziert gestalten, über die Verantwortlichkeiten im Staate einen verhüllen44

Als „noch bismärckischer" hat der Abg. Dr. Heuss diese Lösung in der 10. Sitzung des Parlamentarischen Rates bezeichnet (Sten.Ber. S. 207). Er hat dabei mit wenigen treffenden Worten auch sonst das geschichtliche Mißverständnis der gewählten Konstruktion enthüllt. Vgl. außerdem Willibalt Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, NJW 1949 S. 483.

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den Schleier breiten und die Bundeszentralgewalt in entscheidenden Punkten mehr schwächen, als auf die Dauer erträglich sein kann. Aber mit der illusionsfreien Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge ist auch schon der Boden für eine Entspannung und für eine organische Verfassungsentwicklung bereitet. Wenn dieser die Aufgabe gestellt ist, die fiktiven und oktroyierten Elemente im Föderalismus der Bundesrepublik zu überwinden, so nicht aus Ablehnung des bündischen Verfassungsprinzips überhaupt. Aber die föderalistische Verfassung ist nicht mehr eine deutsche, sondern eine europäische Aufgabe.

IV. Das Richtertum in der deutschen Verfassungsordnung L Wer sich über die Stellung des Richtertums in der deutschen Ver· fassungsordriung Rechenschaft ablegen will, darf nicht allein die Aussagen des Bonner Grundgesetzes als Quelle nehmen. Dessen Sätze sind der Wirklichkeit nicht immer kongruent. Denn dem Grundgesetz war es nicht vergönnt, historisch Gewordenes in einer ununterbrochenen Tradition fortzuführen. Es sah sich vielmehr vor die tabula rasa aufgelöster politischer Ordnungen und vernichteter Staatlichkeit gestellt und versuchte, in das Vakuum hinein ein Verfassungssystem nach dem Bilde des 19. Jahrhunderts neu zu konstruieren. Bei diesem Vorgang erlangte zwangsläufig das abstrakte Schema der kontinentalen Verfassungsvorbilder ausschlaggebendes Gewicht. Es wurde weder durch das konkrete Vorhandensein gegebener verfassungspolitischer Kräfte und Ordnungen noch durch ein lebendiges Bewußtsein dessen korrigiert, was zur Formung eines Staates unter den Bedingungen der modernen Massendemokratie notwendig sei. Die Schöpfer des Bonner Verfassungswerks waren zudem ohnehin weit stärker als ihre insoweit naiveren Vorgänger in der Weimarer Nationalversammlung von verfassungstheoretischen Vorstellungen angefüllt. Sie hatten die Gedankengänge der in der Weimarer Republik breit entwickelten theoretischen Analysen der liberaldemokratischen Verfassung des bürgerlichen Zeitalters in sich aufgenommen. Infolgedessen handhabten sie die Elemente des politischen Ordnungsgefüges mehr unter den Gesichtspunkten theoretischer Systematik und nach den Reflexionen über eine Verfassungskonzeption der Vergangenheit als im Sinne einer Realisierung sich unmittelbar aus der Gegenwart aufdrängender politischer Notwendigkeiten. Die erwähnten theoretischen Analysen hatten vor allem die Stellen bloßgelegt, an denen das liberal-demokratische Weimarer Verfassungssystem sich als Unterwanderungen und Einbrüchen zugänglich erwiesen hatte. An diesen Punkten setzten die Experten des Parlamentarischen Rates in besonderem Maße mit Gegenwirkungen an, aber wiederum aus einer ausgesprochen theoretischen Konzeption. Das verständliche Bestreben endlich, vor dem Hinter-

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grund der Erfahrungen im nationalsozialistischen Regime das Individuum mit Rechtsschutzvorkehrungen zu umgeben und den Gebrauch politischer Macht zu binden, führte zu einem forcierten Ausbau gerichtlicher Institutionen und richterlicher Kontrollen, gleichfalls mehr als theoretisches Ideal ausgedacht denn aus den inneren Möglichkeiten richterlichen Judizierens entwickelt. Nur an wenigen Stellen deis Grundgesetzes kündigen sich die Förderungen und Realitäten der unmittelbaren Gegenwart an: in der Anrufung des sozialen Charakters des neu zu formenden Staatswesens (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1) und darin, daß die politischen Parteien jetzt ausdrücklich als verfassungspolitische Potenzen anerkannt sind (Art. 21). Das Ergebnis ist eine Verfassungsurkunde, die gleich mit ihrem Inkrafttreten in eine spannungsvolle Auseinandersetzung mit der Verfassungswirklichkeit, d. h. mit einem sich neben ihr formierenden Kräftesystem geriet, das sich mit dem konstruierten Schema nicht deckte. In manchen leeren Kammfern der abstrakten Positionen des Grundgesetzes siedelten sich neuartige Kräfte an; die Akzente und Frontbildungen der Normen des Grundgesetzes verschoben sich, und viele seiner traditionellen Formeln erwiesen sich entweder als wesenlos oder füllten sich mit einem ursprünglich nicht gemeinten Inhalt. Die gegenwärtige Verfassungsordnung der Bundesrepublik wird daher nicht durch den Wortlaut des Grundgesetzes repräsentiert, frei« lieh auch nicht durch ein davon völlig unabhängiges System konkreter politischer Kräftebildungen und Praktiken, sondern durch eine überaus verschlungene Wechselwirkung zwischen beiden. Nur wenn man das vor Augen hat, kann man die Stellung des Richtertums in der heutigen Verfassungsordnung verdeutlichen,

IL Das Richtertum wird vom Grundgesetz nicht neu geschaffen und nicht einmal neu formiert, sondern ist von ihm vorgefunden und wird von ihm übernommen. 1949, als das Grundgesetz in Kraft trat, hatte der beamtenstaatlich geprägte Körper der deutschen Richterschaft unter Fortführung seiner beamtenstaatlichen Tradition und im Bewußtsein seiner geschlossenen Standesverantwortung bereits seit längerem und in voller Selbstverständlichkeit seine nur künstlich unterbrochene überlieferte Rolle in der Ordnung des politischen Gemeinwesens wieder eingenommen. Er war sogar stark genug, der neuerrichteten Verwaltungsgerichtsbarkeit von seiner eigenen ideellen

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Substanz und von seiner Autorität so viel abzutreten, daß sich dort ein weiterer Zweig des Richtertums von gleichem Wuchs bilden konnte. Dieser Weiterbestand des konkreten deutschen Richtertums in seiner traditionellen beamtenstaatlichen Unabhängigkeit und Standesverantwortung ist — auch verfassungsrechtlich — der entscheidende Ausgangspunkt. Wieviel hiervon abhängt, wird bei einem Blick auf die Entwicklung im sowjetischen Machtbereich unmittelbar evident. Das Bonner Grundgesetz hat dieses deutsche Richtertum in seinem historisch gewordenen Bestände im Sinne einer institutionellen Garantie anerkannt, mehr beiläufig zwar, aber mit unbestreitbarer Deutlichkeit, indem es einerseits die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums übernahm (Art. 33 Abs. 4 und 5), an der in vollem Umfange auch die Richter partizipieren, und indem es den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit einschließlich der Garantien der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit erneut dem Verfassungsrecht einverleibte (Art. 97). In diesen beiden Punkten ist alles beschlossen, was die Stellung des Richtertums in der geltenden Verfassungsordnung konstituiert, nämlich seine Übernahme und Bestätigung, so wie es historisch geworden und in seinem konkreten Bestände vorhanden ist. Von hier aus erhält auch die Wendung des Art. 92 GG ihren rechten Sinn, daß die rechtsprechende Gewalt „den Richtern" anvertraut sei. „Die Richter", von denen diese Bestimmung spricht, sind nicht abstrakte und beliebig gestaltungsfähige Funktionäre, die man bloß als Richter etikettiert. Dem verfassungsrechtlichen Bilde des Richters wird vielmehr nur durch den lebendigen Körper einer Richterschaft von jener institutionellen Beschaffenheit entsprochen, wie sie im gegenwärtigen deutschen Richtertum verwirklicht ist, genauer gesagt: nur durch dieses konkret vorhandene Richtertum selbst, das die Verfassung in allen seinen entscheidenden, durch die deutsche Beamtenund Richtertradition herausgebildeten Wesenszügen kraft der erwähnten institutionellen Garantie zu ihrem integrierenden Bestandteil macht. Freilich wird, wer an die Neuerungen der Richteranklage und des Richterwahlverfahrens denkt, sogleich die Frage aufwerfen, ob denn das Grundgesetz in dieser Linie wirklich konsequent sei. In der Tat liegt hier ein Bruch vor, mindestens eine Unsicherheit. Beide Einrichtungen sind aus Bestrebungen hervorgegangen, überlieferte Wesenszüge des Richtertums durch andere Prinzipien zu ersetzen oder zu ergänzen: die ausschließliche ständische Selbstkontrolle im Straf- und

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Disziplinarverfahren durch eine politisch beeinflußte Maßregelung und den Grundsatz der Kooptation durch eine von außen eingreifende Personalpolitik. Das Institut der Richteranklage ist, so wie es konkret Gestalt gewonnen hat (Art. 98 Abs. 2 und 5 GG, §§58 ff. BVerfGG), durch eine List der Geschichte freilich eher zu einer gegenteiligen Wirkung gelangt. Da zu einer verurteilenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist (Art. 98 Abs. 2), ist der politische Druck, der von hier aus auf die Richterschaft ausgeht, nicht gerade drohend und der Anreiz für die Parlamente, durch ihre Anträge Richter vor dem Bundesverfassungsgericht zur Verantwortung zu ziehen, nicht groß. Einige Landesverfassungen verlangen überdies, daß der Antrag mit qualifizierter Mehrheit des Landesparlaments beschlossen werden muß1. Überhaupt wirkt die Notwendigkeit, einen sehr bedeutenden Apparat zu bemühen, hemmend. Im Ergebnis bestärkt also das Institut die richterliche Unabhängigkeit mehr, als es sie angreift, wenngleich dies seinen Urhebern nicht vorgeschwebt hat. Wenn man das Verfahren, Richter von politischen Einwendungen her zur Verantwortung zu ziehen, legalisiert, so schließt das nämlich aus, daß sich solche Einwendungen leichter, häufiger und peinlicher in ungeregelter Weise Luft machen und daß von dorther möglicherweise ein weit stärkerer Druck auf die Unabhängigkeit der Richter ausgeübt wird. Ernster ist die Lage beim Richterwahlverfahren. Bisher vollzog sich die Berufung der Richter de facto im Wege der Kooptation des Richterkorps. Zwar wurde die Ernennung vom Ressortminister oder vom Staatsoberhaupt vollzogen. Aber die personalpolitischen Entscheidungen fielen im Richterkorps selbst oder reiften doch in ihm heran, zunächst schon in den beiden Examina, sodann in den Vorschlägen der Präsidenten und Chefpräsidenten und innerhalb der Ministerialbürokratie. ϋμΓΛ wachsame Beobachtung und Meinungsbildung, deren Wirkung der Ressortminister sich nicht entziehen konnte — und auch heute auf die Dauer sich nur schwer entziehen kann —, war die ganze Juristenschaft daran beteiligt. Übrigens hat sich nicht anders auch das alte Berufsbeamtentum ergänzt und sich darin wie die Richterschaft als Stand bewährt. Natürlich sind auch früher unsachliche Begünstigungen vorgekommen. Aber Richterschaft und Beamtentum sind stan1

Baden-Württemberg Art. 66 Abs. 2, Berlin Art. 72 Abs. 2, Hamburg Art. 63 Abs. 3, Niedersachsen Art. 40 Abs. 1, Nordrhein-Westfalen Art. 73.

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desbewußt genug geblieben, Betätigungen einer sachfremden „politischen" Personalpolitik als Abirrung zu erkennen, sie innerlich zu verwerfen und ihre Urheber zu beschämen. Und im ganzen wird man sagen können, daß die erwähnte, durch einen Einschlag berufsständischer Kooptation bestimmte Praxis die charakterlich integren und tüchtigen Persönlichkeiten in die Ämter geführt hat, die ihnen gebührten. Das aber prägt einen ganzen Stand. Man wagt nicht zu viel mit der Behauptung, daß das Vertrauen des Richters, bei seinen personal· politischen Anliegen, besonders bei Berufung und Beförderung, von unbestechlichen Standesgenossen nach seinem menschlichen Wert und seinem fachlichen Können gerecht eingeschätzt zu werden, die wichtigste Voraussetzung für die innere Freiheit und Unabhängigkeit des Richters wie des Beamten überhaupt abgegeben hat. Es ist nun durchaus eine Gestaltung des Richterwahlverfahrens denkbar, die diese Zusammenhänge einer berufsständischen Kooptation gerade gegenüber der Personalpolitik der Parteienkabinette noch stärker institutionalisiert, statt sie aufzulösen, wenn man nämlich die Richterwahlausschüsse ausschließlich oder überwiegend „berufsständisch", d.h. aus Richtern, Anwälten und vielleicht auch Mitgliedern der juristischen Fakultäten zusammensetzt. Das ist wiederholt vorgeschlagen worden 2. Ob freilich damitEntscheidendes gewonnen wäre, muß als zweifelhaft erscheinen3. Immerhin ist hier im Grundgedan2

In diesem Sinne etwa Herbert Rusdieweyh, Die Berufung in das Richteramt, in: Justiz und Verfassung (1948) S. 11 ff.; abgewandelt Theodor Eschenbürg, Verfassung und Verwaltungsaufbau des Südweststaates (1952) S, 45, 73 ff.; derselbe. Der Beamte in Partei und Parlament (1952) S. 175 f.; Eberhard Schmidt, Richtertum, Justiz und Staat, JZ 1955 S. 325 f.; Karl Friedr. Frhr. v. Sdiominger, Selbstverwaltung der Gerichte und Personalpolitik, DÖV 1953 S. 534. Über ähnliche Versuche in Frankreich und Italien berichtet Paulus van Husen, Die Entfesselung der Dritten Gewalt, AöR 78 (1952/53) S.6Öf, Im einzelnen berichtet darüber auch die 1954 vom Bundesjustizministerium herausgegebene „Referenteü-Denksdirift zur Vorbereitung eines Richtergesetzes" S. 17 ff. 3

Ein völliger Ausschluß der in Regierung und Parlament vertretenen parteipolitischen Kräfte von der Richterpersonalpolitik, den übrigens auch die in der vorigen Anmerkung zitierten Autoren nicht befürworten, würde das Richtertum der kaum entbehrlichen Anerkennung durch die organisierten politischen Willensträger berauben. Es bestände dann die Gefahr, daß der institutionalisierte Kooptationsvorgang doch von außen unter parteipolitischen Druck genommen wird oder daß eine das Richtertum isolierende Kluft des Mißtrauens sich zwischen den Richtern und den organisierten Blöcken verfassungspolitischen Einflusses auftut. Außerdem wird man be-

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ken noch der Zusammenhang mit den bewährten Traditionen der Richterpersonalpolitik gesucht und hergestellt, den das Grundgesetz (Art. 95 Abs. 3, 96 Abs. 2) und das Richterwahlgesetz vom 25. August 1950 (BGBl. S. 368) in ihrer Gestaltung der Richterwahl nicht mehr erkennen lassen. Die Richter Wahlausschüsse des Bundes — nur diese sollen hier betrachtet werden —bestehen aus den für die betreffende Gerichtsbarkeit zuständigen Ressortministern der Länder und einer gleichen Zahl von Mitgliedern, die der Bundestag nach einem Verhältniswahlsystem dergestalt wählt, daß sie in ihrer Gesamtheit die parteipolitische Zusammensetzung des Bundestags widerspiegeln (§ 5 des Gesetzes). Man mufite von vornherein fürchten — denn es lag im Zweck der Einrichtung —, daß die Personalpolitik der hohen Richter des Bundes in den Wahlausschüssen merklichen parteipolitischen Einflüssen ausgesetzt sei und daß vor allem $uch die bekannte parteipolitische Aufschlüsselung der Ämter in sie eindringen würde. Die Erfahrung von drei Jahren hat diese Befürchtung nicht gänzlich zerstreut. Nicht immer — so scheinen die Ergebnisse der Richterwahl und gelegentliche Berichte über Zwischen fälle und Schwierigkeiten in den Ausschüssen zu belegen — bringt der Wahlakt oder bringen die ihm vorausgehenden internen Absprachen und Aufschlüsselungen Richtèr in das neue hohe Amt, die hierzu unbestreitbar und nur durch ihre Bewährung berufen sind. Auch scheint der Wahlausschuß für profilierte Persönlichkeiten schwerer passierbar zu sein als für andere, und die Anonymität der Wahlentscheidung wertet die personalpolitische Verantwortung in bedauerlicher Weise ab. Von einer Planmäßigkeit und Berechenbarkeit in der Besetzung der höchsten Richterstellen vollends kann offenbar nur noch eingeschränkt die Rede sein. Das alles ist auf die Dauer von außerordentlicher Tragweite, nicht nur für Rang, Leistungsfähigkeit und Autorität unserer höchsten Gerichte, sondern für die Struktur des Richtertums im ganzen. Wenn es richtig ist, daß die Integrität des deutschen Richtertums wesentlich auf dem Prinzip einer streng sachgebundenen Personalpolitik beruht denken müssen, daß die Kooptation ein aus sich wirkendes soziologisches Phänomen ist, das seinen eigentlichen Wert verliert, wenn es nur noch durch eine bewußte juristische Institutionalisierung künstlich gehalten werden kann. Nach ähnlicher Richtung gehen die Bedenken von Ulrich Scheuner, Die Selbständigkeit und Einheit der Rechtspflege, DÖV 1953 S. 522. Kritisch auch Paul Bockelmann, Zur Problematik der gerichtlichen Selbstverwaltung, DÖV 1953 S. 530 f. und die in der vorigen Anmerkung erwähnte Referenten-Denkschrift S. 17 f.

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und diese durch die kooptierende Mitwirkung der Richter gesichert war, so muß die Verleugnung dieses Prinzips an der wichtigsten Stelle allmählich den Bestand der Institution im ganzen zerstörend angreifen. Um so mehr ist es verwunderlich, daß die konkrete Praxis der Richterwahlausschüsse bisher von der Richterschaft selbst aus nodi wenig kritische Würdigung erfahren hat 4 . In potenzierter Form und für eine breite Öffentlichkeit sichtbar haben sich die Auswirkungen einer von außen bestimmten Personalpolitik auf das Erscheinungsbild des Richtertums beim Bundesverfassungsgericht gezeigt, das allein schon kraft dieser Zusammenhänge von allen anderen Gerichten durch eine breite Kluft geschieden ist. Ob sich hier im vorhin bezeichneten Sinne noch der Verfassungssatz verwirklicht, daß die rechtsp rechen de Gewalt „den Richtern" als den Gliedern jener historisch geprägten Institution anvertraut sei, ist eine offene Frage.

m. Das Bonner Grundgesetz nimmt auf die Rolle des Richtertums in der Verfassungsordnung weiter dadurch Einfluß, daß es bei scharfer Herausarbeitung des Gewaltenteilungssystems in aller Form die rechtsprechende Gewalt als „dritte" Gewalt zur verfassungspolitischen Größe ersten Ranges erhebt, also der Legislative und Exekutive koordiniert, ja sie über diese erhöht. In den Respekt vor dieser Entschlossenheit und systematischen Konsequenz des Verfassungsschöpfers hat sich bald die Enttäuschung darüber gemischt, daß die Gewaltenteilung, so verstanden, heute nur noch ein Scheingebilde ist. Legislative und Exekutive, genauer Parlament und Regierung, stellen schon deshalb keine gegensätzlichen Positionen mehr dar, weil in beiden die gleichen Kräfte, nämlich die jeweils dominierenden Parteigruppen, wirksam sind; die maßgebende Parlamentsmehrheit ist politisch identisch mit dem Regierungskollegium usf. Auch die beiderseitigen Funktionen lassen sich in Wahrheit nicht mehr scheiden. Die Einwirkungen der Ministerialbürokratie auf die rechts- und fachtechnisch hochspezialisierte Gesetzgebung unserer Zeit sind größer als die des „Gesetzgebers" Parlament selbst, besonders 4

Eine Ausnahme bildet Walter Breithaupt, DÖV 1954 S. 230; vgl. auch die Referenten-Denkschrift zum Richtergesetz S. 19.

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wenn sie sich mit dem Plazet des Kabinetts zugleich die grundsätzliche Zustimmung der Parlamentsmehrheit zu sichern weiß. Das Parlament andererseits ist durch die Kabinettsbildung, das Budgetrecht, die Praktiken des parlamentarischen Regierungssystems und, vor allem in den Ländern, durch ständig wachsende unmittelbare Einwirkungen auf die Verwaltung an der Exekutive aufs engste beteiligt. Die von ihr beschlossenen Gesetze haben heute ebenfalls nur noch zum geringeren Teile rechtsstiftenden Charakter, sondern stellen Planungen und Anregungen für exekutivische Dispositionen dar. Exekutive und Legislative gehen daher heute, unter den Bedingungen der parteienstaatlichen Massendemokratie und des Verwaltungsstaates, sowohl ihrem politischen Träger als auch ihren Funktionen nach ineinander über 5. Angesichts dieser Lage kann offenbar auch die Konstruktion einer „dritten" Gewalt kein klares verfassungsrechtliches Bild ergeben. Auch sonst ist die Konstruktion der „dritten" Gewalt zwiespältig. Sie ist in der Entwicklungsgeschichte des Gewaltenteilungssystems nicht von ungefähr realiter niemals zur vollen Ausbildung gelangt. Im klassischen Anwendungsfall der Gewaltenteilung, in der konstitutionellen Monarchie, standen sich als reale politische Größen der Monarch mit seinem Apparat und das Bürgertum gegenüber. Sie hatten sich durch Aufteilung der politischen Macht auf Exekutive einerseits und Legislative anderseits gegenseitig arrangiert. Die puissance de juger stand daneben, an dieser Machtkonkurrenz unbeteiligt, „en quelque façon nulle", wie Montesquieu sich ausdrückte 6. Natürlich gab es eine Justiz, aber sie hatte ihren eigenen, unpolitischen Bereich, der durch Zivil- und Strafrechtspflege abgesteckt war. Man kann das, wenn man im Bilde der pouvoirs oder puissances bleiben will, auch als eine „Gewalt", nämlich im Sinne einer eigenen Erscheinungsform hoheitlichen Waltens bezeichnen, muß sich jedoch, des Montesquieu scheu „en quelque façon nulle" eingedenk, gegenwärtig halten, daß die Justiz an 6

In diesem Sinne auch Karl Lömenstein, Konflikte zwischen Regierung und Justiz, AöR 78 (1952/53) S. 260 ff. Zum Gewaltenteilungsproblem im ganzen oben S. 24 ff., 38 ff. und unten S. 152 ff. 6 Montesquieu bezeichnet im Buch X I Kap. 6 seines „Esprit des lois" die puissance de juger einmal als „pour ainsi dire invisible et nulle", zum andern als „en quelque façon nulle". Mit der hintergründigen Wendung setzen sich auseinander Carl Schmitt, Die Diktatur (2. Aufl. 1928) S. 109 und Verfassungslehre (1928) S. 185; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) S. 99; Otto Küster, Das Gewaltenproblem im modernen Staat, AöR 75 (1949) S. 406.

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den Gegensätzen der großen Machthaber nicht beteiligt war und vom politischen Kräftespiel abgeschieden blieb 7 . Später erst entstand mit dem Erstarken des Bürgertums die Forderung, daß die Justiz gegen den Monarchen sozusagen in seinen (des Bürgertums) Dienst treten und die Akte der monarchischen Verwaltung auf ihre Gesetzmäßigkeit prüfen solle. Das ist nur unter starken Einschränkungen konzediert worden und hat auch in der Weimarer Republik nicht nennenswert an Boden gewonnen. Dann nahm jedoch 1925 das Reichsgericht ( R G Z l l l S. 320 ff.) in einem außergewöhnlichen Akt für die Justiz die (diffuse) richterliche Prüfungszuständigkeit für Gesetze in Anspruch. Damit sind die Marksteine einer langsam vortastenden Entwicklung bezeichnet, die nun das Grundgesetz mit einem Male zur äußersten Vollendung bringt. Der von ihm eingesetzten „rechtsprechenden Gewalt" bleibt auch weiterhin die Zivil- und Strafrechtsjpflege anvertraut. Sie hat aber darüber hinaus kraft der Generalklausel des Art. 19 Abs. 4 eine universelle und polemische Kontrollzuständigkeit gegenüber der Verwaltung, durch das Normenkontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100 Abs. 1 GG) Hoheitsgewalt gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber und in den weitgespannten Zuständigkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit Überlegenheit über die Verfassungsorgane und die Parteien. Sie ist also, wenn man sie mit dem Grundgesetz als Einheit nimmt, dritte Gewalt nicht mehr im Sinne eines abgesondert danebenstehenden, sondern des übergeordneten Dritten 8 . Man legt sich immer wieder die Frage vor, wie es zu dieser Hypertrophie der Justizstaatlichkeit gekommen ist. Es handelt sich einmal um den Vollzug eines rechtsstaatlichen Doktrinarismus, um die Erfüllung eines theoretischen Idealbildes vom Rechtsstaat, das sich in der scheinbar voraussetzungslosen Lage des Bonner Parlamentarischen Rates endlich rèin, d.h. ohne Gegenwirkung vorhandener politischer Ordnungen und Autoritäten verwirklichen ließ. Zum andern wirkte sich in Bonn der durch naheliegende Erfahrungen genährte Drang aus, die Dämonie politischen Machtgebrauchs zu bezwingen, und man meinte, daß das durch richterliche Kontrollen geschehen könne. Vor 7

Im gleichen Sinne U Iridi Scheuner, Die Selbständigkeit und Einheit der Rechtspflege, DÖV 1953 S. 520, Karl Löwenstein, AöR 78 (1952/53) S.262 und Ernst Forsthoff in der Einführung (S. XXXI) der von ihm besorgten deutschen Ausgabe des Esprit des lois (1951). 8 Das findet sich auch bei Karl Löwenstein, AöR 78 (1952/53) S.262 ff. in aller Klarheit entwickelt.

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allem hat der Rückgriff auf die rechtsprechende Gewalt als die entscheidende Instanz im politischen Gemeinwesen seinen Grund darin, daß keine andere Art obrigkeitlicher Autorität mehr überzeugend darstellbar erschien, weder die eines Staatsoberhaupts oder eines beamtenstaatlichen Behörden- und Ämterwesens, nodi die eines von dem Gedanken der Volkssouveränität getragenen Parlaments, aber auch nicht die sich neu formierender Machtgruppen: Parteien, Gewerkschaften usf. In dieser Situation totaler Neutralisierung der politischen Autorität schien die neutralste der Gegebenheiten des Systems öffentlicher Institutionen und Kräfte, die Justiz, am ehesten geeignet, die Hierarchie der Ordnung des politischen Gemeinwesens zu krönen, schien ihre konfliktentscheidende Rolle jedenfalls am ungefährlichsten. In der Verlegenheit des Fehlens anerkannter politischer Autoritäten sah man keinen anderen Weg, als eine gute, wenn auch auf einem ganz anderen Felde bewährte Erscheinung, nämlich traditionelle richterliche Autorität zu entleihen, damit sie die letzten Konflikte löse. Wieweit hierbei die Eigenständigkeit politischer und verwaltender Verantwortung verkannt und die Grenzen der Justitiabilität überschritten sind, kann hier dahingestellt bleiben. Wir fragen uns nur, welche Auswirkungen die Konzeption des Grundgesetzes auf das Schicksal des Richtertums hat. Mit Sorge muß man feststellen, daß sein Bestand in Gefahr gebracht ist. Diese Lage ist dadurch herbeigeführt, daß das Grundgesetz die rechtsprechende Gewalt ungeachtet ihrer wahren Struktur als eine Einheit auffaßt und damit den Anschein begünstigt, als ob sie als Ganzes zur übergeordneten Dritten Gewalt erhoben sei. Wir dürfen auch hier nicht mit abstrakten Größen spekulieren, sondern müssen wiederum davon ausgehen, daß wir ein konkretes Richtertum besitzen, das an der Zivil- und Strafrechtspflege seine heutige Gestalt gewonnen hat. Weil ihm hier ein von den großen politischen Auseinandersetzungen des vorigen und des 20. Jahrhunderts abgeschiedener Bereich anvertraut war, konnte es sich als selbstverantwortlicher Stand formieren und als solcher auch nach Wegfall des monarchischen Rückhalts bis heute erhalten. Seine intakte Sachbezogenheit, seine Unabhängigkeit und die fortdauernde Anerkennung seiner richterlichen Autorität hängen damit untrennbar zusammen. Wenn man es von diesem Boden löst, wenn man ihm mehr abverlangt als die gleichsam patriarchalische Wahrung des Rechtsfriedens

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und der Ordnung in der Welt des bürgerlichen Zusammenlebens, dann fällt das nicht sehr robuste Gefüge dieser Institution in sich zusammen. Politische Führungsverantwortung, auch wenn sie in richterliche Entscheidungen eingekleidet und auf wirkliche oder vermeintliche Rechtsfragen abgestellt ist, ist seinen Wesensgesetzen fremd und für seine Tragfähigkeit zu schwer. Wo Fragen der politischen Schicksalsgestaltung zur Lösung stehen und die Machtkonkurrenz der politischen Gruppen und Kräfte sich begegnet, mufi das Richtertum, d. h. die konkrete Richterschaft unserer Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte unsicher und hilflos werden. Dort wird man ihm sofort die Legitimation streitig machen und ihm die Anerkennung seiner Autorität verweigern. Dort wird es ferner bald spüren, daß es keine Macht mehr hat, einem eigenen Willen Geltung zu verschaffen. Dann wird es sogleich seine Personalpolitik — allen Sicherungen zum Trotz — zum Tummelplatz der Einwirkungen der politischen Machtprätendenten werden und sein richterliches Standesethos aufgelöst sehen. Dann wird es zum Werkzeug der jeweils herrschenden politischen Mächte und wird es unglaubwürdig und unfähig auch für seine traditionellen rechtswahrenden Aufgaben. Nur die Integrität seines Wirkens, die dienende Verantwortungstreue als sich selbst disziplinierender Stand, die patriarchalische Redlichkeit der Sorge für Frieden und Gerechtigkeit im Zusammenleben der Bürger und in allem gerade die Unberührtheit von dem Machtkampf der politischen Kräfte sind heute wie von jeher die Stützen der Autorität des Richtertums. Das alles aber läßt sich nur halten und pflegen in der sozialen Landschaft und in dem sozialen Klima des bürgerlichen Gemeinschaftslebens, das abseits von dem politischen Daseinskampf seine breite Ruhe und seine gemeinverbindliche Ordnung behalten hat, also in den traditionellen Grenzen der Zivil- und Strafrechtspflege. Nicht selten allerdings, oft peinlich genug, schlägt der politische Kampf in Strafprozessen auch in diesen Bereich hinein. Das ergibt gelegentlich Zerreißproben, die das Richtertum jedoch bisher bestanden hat, weil es von seinem breiten Wirken in der allgemeinen Zivil- und Strafrechtspflege her über einen genügenden Fundus an Autorität verfügt. Als die universelle Verwaltungsgerichtsbarkeit unserer Tage neu geschaffen wurde, konnte man zunächst zweifeln, ob sich auch hier legitime richterliche Autorität würde begründen lassen. Das Vorhaben ist gelungen, weil die Voraussetzungen sich von denen der Zivil- und Strafrechtspflege nicht wesentlich unterscheiden. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Gegenwart, ebenso übrigens wie die Zivilgerichtsbar-

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keit in Amtskaftungs- und Entschädigungssachen und öffentlich-rechtlichen Inzidentfragen, ist nicht in große politische Gegensätze hineingestellt. Sie ist nicht der früheren Polarität von monarchischer Exekutive und demokratischer Legislative ausgeliefert. Sie hat audi nicht zwischen den politischen Mächten unserer Zeit, den Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden usw. zu richten, jedenfalls in existentiellen Fragen nicht. Die vielfältigen Maßnahmen der Verwaltungsbürokratie, die ihrer Kontrolle unterstehen, der Lauf der Verwaltungsapparatur, der Schutz des Bürgers gegen Unverstand und Mangel an Rücksicht behördlicher Stellen, die Zurechtweisung unsachlich agierender Kommunalkörperschaften, die Ansprüche auf Gewährung amtlicher Gestattungen und Hilfen usw. — alles das kennzeichnet einen Bereich bürgerlichen Alltagslebens, in dem sich der Verwaltungsrichter weder Prozeßparteien von überlegener Macht und Entschlossenheit noch einer anderen Aufgabe gegenübersieht, als eine im ganzen unbestrittene Ordnung zu sichern. Gewiß läßt die Unbegrenztheit der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel gelegentlich kritische Grenzfälle ein, die jedoch eine verständige Selbstbeschränkung der Judikatur abschirmen kann. Dem Verwaltungsrichter wird also in der heutigen Lage nichts grundsätzlich anderes abverlangt als dem Zivil- oder Strafrichter. Auch dieser Zweig der Rechtspflege läßt einem Richtertum Raum, das dem älteren Körper des Justizrichtertums verwandt und sogar wesensgleich ist. Ein tiefer Graben aber trennt beide von der Verfassungsgerichtsbarkeit, die uns im Bundesverfassungsgericht entgegentritt. Die Gefahren und Folgen einer Einbeziehung der Richter in politische Führungsverantwortung, von denen vorhin die Rede war, enthüllen sich hier in voller Deutlichkeit. Die Lage soll auch in diesem Falle nur vom Bilde des Richtertums her betrachtet werden: Die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts hat bezeichnenderweise mit Kooptation des Richterstandes nichts mehr zu tun; sie ist eine Angelegenheit politischer, genauer parteipolitischer Instanzen, und die Praxis der Richterwahl hat diese Komponente, wie es scheint, noch stärker entwickelt, als es nach der gesetzlichen Regelung notwendig wäre. Ein wesentlicher Teil der Richter ist ferner nicht auf Lebenszeit, sondern nur auf Zeit gewählt. Nur ein kleiner Teil der Richter stammt aus dem berufsmäßigen Richtertum und aus dessen Lebenswelt, während die meisten von ihnen aus anderen Berufen kommen und nicht das richterliche Lebensgefühl und die Traditionen dieses Standes aus langer Zugehörigkeit in sich tragen. Nun bestimmt zwar § 4 BVerfGG, daß an-

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fänglich 4 von 12, künftig 3 von 8 Richtern jedes Senats aus der Zahl der Richter an den oberen Bundesgerichten für die Dauer ihres Amtes an diesen Gerichten gewählt werden. Damit wäre wenigstens durch einen Teil der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts der Zusammenhang mit dem Richtertum in dem hier gemeinten Sinne vermittelt Aber es ist bekannt, daß einige von diesen oberen Bundesrichtern ebenfalls in nichtrichterlichen Berufen standen und nur ad hoc in die oberen Bundesgerichte entsandt wurden, damit sie alsbald i n ihrer soeben erlangten Eigenschaft in das Bundesverfassungsgericht gewählt werden könnten. Wir registrieren diese Vorgänge nur als Zei^ chen dafür, wie schnell und offenbar zwangsläufig sich die Merkmale des überlieferten Richtertums auflösen, wenn richterliche Autorität in ein fremdes Klima, und zwar in den Bereich des Ringens um politische Machtbehauptung und politische Daseinsgestaltung transplantiert werden soll. Hier setzt das Mißbehagen darüber ein, daß das Grundgesetz die Konstruktion einer einheitlichen rechtsprechenden Gewalt unternimmt. In Wahrheit stellen die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes einerseits und die übrigen Gerichtsbarkeiten andèrseits verschiedene Welten dar, der Aufgabe nach und in der personellen Substanz. Der Trennungsstrich zwischen beiden darf nicht verwischt, sondern er muß gerade nachgezogen werden. Das Grundgesetz selbst verlangt, das zu tun. Denn es hat, wie vorhin dargestellt wurde, das deutsche Richtertum in seiner traditionellen Wesensart und seinem konkreten Bestände mit einer institutionellen Garantie umgeben. Die Lebenswelt dieses Richtertums ist aber auf die Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit begrenzt; seine institutionelle Integrität ist nur hier unanfechtbar. Deshalb ist es inkonsequent und gefährlich, das Bewußtsein dieser Begrenztheit und Besonderheit durch die Einheitskonstruktion einer ganz andere, heterogene Ordnungsbereiche mitumfassenden rechtsprechenden Gewalt aufzulösen, statt die Unterschiede deutlich sichtbar zu machen. Überhaupt hat die profilierte Herausstellung der rechtsprechenden Gewalt durch das Grundgesetz das Bild der verfassungsrechtlichen Gesamtlage verwirrt. In dem vulgären Gebrauch der Wendung „Dritte Gewalt" findet sich das bestätigt. Für das politische Interesse springt an der „rechtsprechenden Gewalt" des Grundgesetzes die Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts und die scharf polemisch gefaßte Aufgabenbestimmung des Art. 19 Abs. 4 GG so stark

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hervor, daß sich mit der „Dritten Gewalt" gemeinhin die Vorstellung einer alle anderen Organe und politischen Willensträger überragenden, letztinstanzlichen Potenz verbindet. Die „Dritte Gewalt" scheint danach der Sitz letzter und höchster Verantwortung zu sein. Das bringt das Richtertum in ein falsches und bedenkliches Licht. Über den politischen Mächten zu stehen, welchen Namen immer sie haben mögen, ob Regierung, Parlament, Parteien, organisierte Wirtschaftsund Weltanschauungsblöcke usf., liegt außerhalb seines Vermögens. Dem Bundesverfassungsgericht mag diese Stellung zukommen, dem Richtertum nicht, jedenfalls nicht dort, wo diese politischen Mächte sich in dem Ringen um die politische Daseinsgestaltung des Gemeinwesens begegnen. Das Richtertum hat seinen Bereich neben den politischen Mächten, dort allerdings ausschließlich und undurchdringlich. Seine „Gewalt" ist auch heute „en quelque façon nulle", weil sie nicht in der politischen Machtkonkurrenz auftritt, sondern gerade davon abgesondert ohne die Prätentionen des Kampfes und des aktiven Einflusses das gleichbleibende Leben des Volkes beschirmt. Nur in diesem Sinne darf man — außerhalb der Verfassungsgerichtsbarkeit — von rechtsprechender oder dritter Gewalt sprechen; man darf die diametral entgegengesetzten Konzeptionen einer Kontrolle der politischen Mächte und einer von diesen Mächten abgewandten autonomen Sorge für ein befriedetes Volksleben nicht zusammenwerfen. Sonst setzt man den Segen, der uns im rechtsprechen den Walten des Richtertums bewahrt ist, aufs Spiel. Wenn die Richterschaft der Zivil-, Straf- und Verwaltungsrechtspflege, wofür manche Stimmen zeugen, sich auf die „Erhöhung" zur Dritten Gewalt beruft, um daraus neue wirtschaftliche und politische Privilegien abzuleiten, stellt sie sich in mißverstandener Auslegung des Grundgesetzes selbst in Frage.

IV. Man darf nun nicht meinen, daß das Richtertum damit in ein unpolitisches Idyll verwiesen sei. Es befindet sich vielmehr in einer außerordentlich hohen staatspolitischen Verantwortung. Die moderne Massendemokratie, vor allem die Deutschlands, in der alle politischen Traditionen abgerissen sind, hat nur wenig mehr an überlieferter Staatlichkeit. Sie ist in der Verwaltung und im Wirtschafts- und Sozialleben bis in die Staatsführung hinein aufgespalten in rivalisierende und konkurrierende Teilmächte, in Parteien, soziale Machtgruppen, Interessentenschaften usw. Auch die Verwaltung, die früher dem 7 Weber

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Staat das Rückgrat gab, ist von dieser Auffaserung ergriffen. Nirgendwo ist eine über diesen Teilmächten stehende legitime Obrigkeit mehr erkennbar. Nur das hoheitliche Walten der Gerichte, und zwar der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichte gleichermaßen, erwächst noch aus ungebrochener Verantwortung für das ungeteilte Ganze der staatlichen Lebensgemeinschaft, nur von ihm aus wird die staatliche Ordnung zwanglos integriert. Im Richtertum haben wir — jedenfalls bislang noch — einen Stand, der keiner anderen Aufgabe und keinem anderen Geiste verpflichtet ist, als Ordnung und Frieden im Leben des Volkes um ihrer selbst willen zu sichern. Wenn man das Prädikat des Staates im hoheitlichen Walten sieht und darunter nicht eine Technik der Macht und des Herrschaftseinflusses, sondern eine Auswirkung dienender Gesamtverantwortung für das gemeine Wohl sieht, dann hat sich der Staat unserer Tage gleichsam auf einige Inseln des Berufsbeamtentums und vor allem auf die richterliche Gewalt zurückgezogen. Das Wort „justitia fundamentum regnorum" gewinnt in solcher Lage einen neuen und sehr prägnanten verfassungspolitischen Sinn. Das Richtertum ist, im Bunde mit den intakt gebliebenen Teilen des Beamtentums, Statthalter der staatlichen Obrigkeit, die überall sonst durch ein System pluralistischer Teilmächte aufgelöst ist. Diese Statthalterschaft hat nichts Aggressives und Herrschsüchtiges, aber sie ist der Hort staatlichen Zusammenhalts, und sie schließt die Möglichkeit in sich, den Gedanken einer echten staatlichen Obrigkeit wieder zu festigen und ihm weiteren Boden zu gewinnen. Sie ist zwar von den Schöpfern der rechtsprechenden Gewalt des Grundgesetzes primär so nicht gemeint und vielleicht nicht einmal erkannt, aber vom Wirken der Geschichte in ihnen zum Auftrag erhoben. Wir dürfen allerdings nicht der Frage ausweichen, woher diese im Richtertum verkörperte Obrigkeit ihre Legitimation bezieht. Früher, noch im 19. Jahrhundert, hatte der Richter teil an der Autorität des Monarchen. Allmählich ging diese über in das Ansehen des sachkundigen und um verantwortliche Gerechtigkeit besorgten Staatsbeamtentums, das sich im Richtertum besonders klar entwickelte und seine institutionelle Geschlossenheit begründen half 9 . Doch wäre es nicht genug, wenn das Richtertum unserer Tage nur von einer historischen Substanz zehrte. 9 Nur mit Bedauern wird man feststellen können, daß sich neuerdings in Richterkreisen die Neigung ausgebreitet hat, Verwandtschaft und Zusammenhang mit dem Beamtentum deutscher Tradition, wenn nicht überhaupt zu leugnen, so doch für die Gegenwart als überholt abzutun.

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Die Vollmacht der Richter als staatliche Obrigkeit rührt sicher nicht her von den politischen Parteien, auch nicht aus einem arithmetischen Mittel verschiedener Parteirichtungen, ferner nicht von irgendwelchen Parlaments- oder Regierungsinstanzen, in denen man wiederum nur wechselnden parteipolitischen Konstellationen begegnet. Die Mitwirkung politischer Regierungsorgane und von Parlamentsausschüssen bei der Richtereinsetzung vermittelt dem Richtertum weder ein autoritäres noch ein demokratisches Mandat. Die Bedeutung dieser Mitwirkung soll deshalb nicht verkleinert werden. Das Plazet der politischen Teilgewalten ist für die Anerkennung des richterlichen Wirkens im politischen Gesamtgeschehen schwer entbehrlich. Aber eine Begründung richterlicher Autorität durch diese Teilgewalten liegt darin nicht. Es ist auch nicht so, daß die Verfassungsurkunde als solche im Richtertum eine obrigkeitliche Autorität schaffen könnte, die nicht schon vorher in ihm verwirklicht wäre. Die Verfassung kann nur die institutionellen Voraussetzungen und Sicherungen vorsehen, ohne die eine richterliche Obrigkeit sich nicht zu entfalten oder zu erhalten vermag, sie kann eine institutionelle Garantie des Richtertums aussprechen, nicht mehr. Daß eine Obrigkeit vorhanden ist, ist eine Frage des politischen Seins und nicht der Setzung oder Konstruktion. In diesem Sinne stammt die Obrigkeit von Gott und nicht von den Menschen. Sie verwirklicht sich in jedem politischen Gemeinwesen, das sich als Staat auffaßt, und zwar immer dort, wo das Wohl des Ganzen aus übergeordneter Verantwortung sachgerecht und um seiner selbst willen besorgt wird. Ihre konstitutiven Elemente liegen in der Notwendigkeit, daß dem menschlichen Zusammenleben durch Herrschaft die Zucht gesichert und Ordnung gestiftet wird, und in der Anerkennung dieser Herrschaft durch das Volk. Indem das Richtertum seine obrigkeitliche Aufgabe mit einer vom Volk unmittelbar, wenn auch still bezeugten Autorität redlich erfüllt, trägt es seine Legitimation und seine hoheitliche Würde, stets erneuert, in sich selbst10. Wir sprechen dabei allerdings, wohlgemerkt, nicht von beliebigen Amtsträgern, die sich Richter nennen, und nicht von irgendwelchen Einrichtungen, die als Gerichte bezeichnet werden, sondern von der konkreten Institution des Richtertums, dem die deutsche Zivil-, Straf- und Verwaltungs10 In diesem Sinne verstehe ich auch die Ausführungen von Helmut K. J. Ridder, Empfiehlt es sich, die vollständige Selbstverwaltung aller Gerichte im Rahmen des Grundgesetzes gesetzlich einzuführen? Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentages, öffentlich-rechtl. Abtig. (1953) S. 117. i*

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rechtspflege anvertraut war und ist* An seine fortdauernde Integrität, an seine ungebrochene Standesverantwortung und auch an seine Bescheidung auf den traditionellen Bereich, in dem sich sein Wesen gebildet hat, sind diese Aussagen gebunden. Von hier aus ergibt sich, rechtspolitisch betrachtet, die Notwendigkeit, den konservierenden Charakter in der institutionellen Garantie des Richtertums, zu der sich das Grundgesetz bekannt hat, sehr ernst zu nehmen. Es handelt sich nicht etwa wie Paulus van Husen meint 11 , um die konstruktive „Gestaltung eines neuen Richtertums", vielmehr bedarf es in der heutigen Lage keiner anderen verfassungs- und gesetzespolitischen Maßnahmen als der Sicherung der Wesenszüge des Überkommenen. Auch die vom Grundgesetz (Art. 98 Abs. 1 und 3) ins Auge gefaßten Richtergesetze können und dürfen dem schon Vorhandenen keine neuen Elemente hinzufügen; und wenn das Grundgesetz sie nicht forderte, würden sie am besten auf sich beruhen bleiben, damit nicht der Eindruck entsteht, als ob hier mit Manipulationen und angeblichen Verbesserungen irgend etwas zu gewinnen sei12. Die weittragenden Vorschläge zur „Entfesselung der Dritten Gewalt", die den 40. Deutschen Juristentag (1953) beschäftigt haben, führen erst recht in ein gefährliches Wagnis 13 . Mit tiefem Recht sagt das Grundgesetz, daß die „rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut" sei (Art. 92). Sie haben nicht nur das Recht, sondern die richterliche Gewalt selbst in ihrer eigenen Verantwortung als rechtswahrender Stand zu hüten. Aber nur in der Begrenzung und in eben derselben Weise, in der es seit 100 Jahren geschehen ist, können sie diesen Dienst erfüllen. 11

Paulus van Husen, DVBl. 1953 S. 525. Den Grundbestand der Rechtsstellung der Richter wird auch in Zukunft das Beamtenrecht bilden müssen. Insoweit ist Eberhard Schmidt (JZ 1953 S. 324, DRiZ 1952 S. 37 ff.) nicht beizupflichten. Ein Richtergesetz kann nur den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit mit seinen traditionellen Garantien (Unversetzbarkeit, Ausschluß der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, disziplinarische Unverantwortlichkeit außer bei Rechtsbeugung) hinzufügen. Aber auch das alles ist im Grundgesetz, im Gerichtsverfassungsgesetz sowie in den Beamten- und Disziplinargesetzen iii voller Klarheit schon enthalten. 13 Mit Recht sind deshalb in den schon erwähnten Abhandlungen von Paul Bockelmann (DÖV 1953 S. 525 ff.), Ulridi Sdieuner (DÖV 1953 S. 517 ff.) und Helmut K.J. Ridder (Gutachten für den 40. Deutschen Juristentag S. 93 ff.) Bedenken gegen diese Vorschläge erhoben worden. Sie haben auch auf dem Juristentag selbst nur zurückhaltende Aufnahme gefunden (vgl. die Berichte von Fritz Werner, DVBl. 1953 S. 625 ff. und in DÖV 1953 S. 661 f.). 12

V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt I. Unsere Sorgen um die Bewahrung einer intakten Rechtspflege und um ihre sachgerechte Gestaltung suchen sich immer wieder an der Vorstellung von der Einheit der rechtspredlenden Gewalt zu klären. In der Einheit der rechtsp redi enden Gewalt begegnet uns allerdings nur ein sehr allgemeines Leitbild; beinahe bandelt es sich nur um ein Schlagwort. Man kann sich darauf berufen, um die verschiedensten, auch einander entgegengesetzten Forderungen zu legitimieren. Man denkt hierbei etwa, und zwar mit vollem Recht, daran, daß die Darstellung echter Gerichtsbarkeit ohne Anerkennung übereinstimmender konstituierender Wesenszüge richterlichen Waltens nicht darstellbar ist. Deshalb stellt man die Einheit des Gerichtswesens gerade an diesen konstituierenden Grundprinzipien heraus. Die Berufung auf die Einheit der rechtsprechenden Gewalt dient aber ferner auch dazu, die politische Kompaktheit der „Dritten Gewalt" im Gewaltenteilungssystem des Rechtsstaats als möglichst dicht und überzeugend erscheinen zu lassen. Erst wenn alle Gerichtsbarkeiten zusammengerafft werden, meint man den politischen Anspruch, neben den anderen politischen Gewalten ebenfalls ein „pouvoir" oder eine „puissance" zu sein, wirklich erfüllen zu können. Weiter liegt in der Behauptung der Einheit der rechtsp rechenden Gewalt ein Mittel, neuerrichteten Gerichtsbarkeiten die Teilhabe an der historisch erworbenen Autorität überlieferter Gerichtsbarkeiten zu erschließen. Von diesen mehr grundsätzlichen Tatbeständen und Forderungen ist der Weg nicht weit zu ganz realen Anliegen der Rechtsgestaltung, denen wir in der Tagesdiskussion begegnen. Die Einheitsvorstellung legitimiert uns etwa zu der Forderung, es möge die Auffächerung der Gerichtsbarkeiten zugunsten eines einheitlichen Gerichtssystems mit umfassenden Zuständigkeiten überwunden werden. Soweit das aus sachlichen oder verfassungsrechtlichen Gründen nicht realisierbar ist, möchte man wenigstens zur leichteren Handhabung Verfassung und Verfahren aller Gerichte möglichst vereinheitlicht, vielleicht sogar in einer einzigen Kodifikation uniformiert sehen. Neuerdings hat sich die Einheitsvorstel-

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V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

lung vor allem zu dem Wunsche verdichtet, die ressortmäßige Betreuung, die Gerichtsverwaltung also, für alle Gerichte in einem Ministerium zusammenzufassen und, weil man hierbei die traditionellen Justizministerien im Auge hat, die Justizministerien zu universellen Rechtsprechungs- oder Rechtspflegeministerien umzubilden. Das sind sehr verschiedene Dinge. Gewiß haben sie alle ihr eigenes Gewicht. Einiges davon gehört zum Bereich des Selbstverständlichen, das sich als unmittelbar evident erweist, auch wo die Erfüllung noch aussteht. Es ist zweckmäßig, sich darüber vorab Rechenschaft abzulegen. 1. Gerichtsbarkeit ist nach den rechtsstaatlichen Vorstellungen der Gegenwart nur vorhanden, wo bestimmte Prinzipien der Gerichtsverfassung und des gerichtlichen Verfahrens als unumstößlich anerkannt sind. Es sind das diejenigen Grundsätze, die auch das Grundgesetz in seinem Abschnitt „Die Rechtsprechung" (Art. 92 ff.) für alle Gerichtsbarkeiten gleichermaßen festlegt. Es handelt sich um das materiellrechtliche Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1) und die traditionellen Garantien dieser Unabhängigkeit, d. h. — kurz gesagt — um den durch Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit gekennzeichneten Status der Richter (Art. 97 Abs. 2). Hinzu tritt der Grundsatz des gesetzlichen Richters und das Verbot der Ausnahmegerichte (Art. 101). Das Dritte ist der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht (Art. 103 Abs. 1), besser wohl etwas allgemeiner gefaßt mit dem angelsächsischen Begriff des „due process of law". In diesen Grundtatbeständen bilden alle Gerichtsbarkeiten in der Tat eine Einheit, jedenfalls für die Verfassungslage Deutschlands in der Gegenwart. 2. Zum anderen ist eine wohlgefügte Ordnung des Rechtsprechungswesens für uns schwer vorstellbar ohne Vorkehrungen dahin, daß nicht widersprechende Entscheidungen höchstinstanzlicher Gerichte unvermittelt nebeneinander ergehen und bestehen können. Es handelt sich hier um die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Das Grundgesetz trifft dafür Vorsorge in seinem Artikel 95, der ein Oberstes Bundesgericht zur Entscheidung beruft in Fällen, „deren Entscheidung für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte von grundsätzlicher Bedeutung ist". Damit wäre für die Koordination der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesfinanzhofs sowie des Bundesarbeitsund des Bundessozialgerichts das Nötige geschehen. Aber das Oberste

V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

Bundesgericht ist nodi nicht ins Leben gerufen; kürzlich erst hat der Bundestag nach langem Warten eine entsprechende Regierungsvorlage angemahnt. Er hat dabei allerdings anerkannt, daß der in seiner jetzigen Fassung schwer praktikable Art. 95 GG u. U. geändert werden müsse1. Der koordinierenden Funktion des Obersten Bundesgerichts ist das Bundesverfassungsgericht entrückt. Zwischen der Judikatur des Bundesverfassungsgeridits und der der Oberen Bundesgerichte einschließlich des Obersten Gerichts kann sich also eine Kluft auftun, und in der Tat sind zwischen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der des Bundesgerichtshofs gelegentlich schon deutliche Gegensätze sichtbar geworden. Einen Teil von ihnen kann das Bundesverfassungsgericht durch seine eigene Entscheidung ausräumen, dort nämlich, wo das Grundgesetz ihm das letzte Wort gibt. Das ist der Fall bei der abstrakten Normenkontrolle des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, bei den Beispielen abhängiger Normenkontrolle des Art. 100 Abs. 1 und 2 GG und bei etwaigen Grundrechtsverletzungen, für die § 90 BVerfGG die Verfassungsbeschwerde auch gegen Erkenntnisse der Oberen Bundesgerichte gewährt, insoweit also dem Bundesverfassungsgericht die Rolle einer allerhöchsten Gerichtsinstanz zuweist und ihm überdies zugleich eine weitere Normenkontrollmöglichkeit erschließt (§ 95 Abs. 3 BVerfGG). Aber es bleiben dann immer noch zahlreiche Gelegenheiten, in denen Gegensätze in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts einerseits und aller übrigen Gerichtsbarkeiten anderseits unüberbrückt bleiben. Zu voller Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist mithin das Grundgesetz und erst recht die Staatspraxis nicht vorgedrungen. 3. Zum Dritten braucht man nicht lange bei dem Mißstand zu verweilen, daß die Gesetze, die Verfassung und Verfahren unserer verschiedenen Gerichtsbarkeiten regeln, sich weit mehr als notwendig in Varietäten ergehen. Daß es dem Bundesgesetzgeber noch nicht gelungen ist, die zahlreichen Verwaltungsgerichtsgesetze der Nachkriegszeit durch eine Verwaltungsgerichtsordnung des Bundes abzulösen und ferner eine Finanzgerichtsordnung des Bundes zu schaffen, ist ein echter Mangel. Daß das System der Rechtsmittel, ihre Bezeichnung sowie ihre Formen und Fristen, daß ferner die Verfahrensregelungen sich in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten viele unnötige Eigenwil1

Deutscher Bundestag, 2.Wahlp. Drucks. Nr. 2436,2796; Sten.Ber. S. 9633 f.

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ligkeiten erlauben, erschwert es für alle Beteiligten und Betroffenen in hohem Maße, sich des Beneficiums des gerichtlichen Rechtsschutzes zu bedienen2. Hier wäre eine Vereinheitlichung heilsam. Sie müßte sich bemühen, allenthalben bis zu der Grenze vorzudringen, von der ab die sachliche Eigenständigkeit der einzelnen Gerichtsbarkeiten die weitere Uniformierung verwehrt.

II. Von dem bisher Gesagten soll im folgenden nicht mehr die Rede sein, damit das Eindringen in die mehr problematischen Fragen nicht weiter den Ballast des Selbstverständlichen mitzuschleppen braucht. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt kann als sinnvolle Leitvorstellung nur dort gelten, wo sie sich der Substanz nach als überzeugend erweist. Daß alle Richter nur dem Gesetz unterworfen, daß sie mit Garantien ihrer Unabhängigkeit ausgestattet und daß sie mit der Aufgabe betraut sind, aus eigener Verantwortung in concreto zu entscheiden, was Rechtens ist, begründet für sich allein noch nicht so viel von einheitlichem Wesen, daß man schon deswegen die verschiedenen Gerichtsbarkeiten als geschlossene und immer mehr zu verdichtende Einheit begreifen könnte. Am wenigsten wird man sich durch die faszinierende, aber abstrakte Vorstellung der Einheit an sich dazu verleiten lassen, nun so oder so die Einheit des Gerichtswesens auch realiter immer weiter zu treiben. Der außerordentliche Wert richterlicher Rechtsfindung und Rechtsschöpfung beruht gerade darin, daß sie sich am konkreten Lebenssachverhalt, an der unmittelbaren Nähe zu den Menschen und Dingen zu bewähren hat. Auch wenn der Richter über sich selbst und über die Institution reflektiert, die das Feld seines Wirkens bezeichnet, sollte er diese Tugend richterlicher Konkretheit nicht vergessen. Nicht der „Dienst an der Gerechtigkeit" schließt das Richtertum exklusiv zusammen. Diesem Dienst sind auch andere verpflichtet. Nicht richterliche Unabhängigkeit und gerichtliche Verfahrensweisen formieren schon einen einheitlichen Körper des Gerichtswesens. Stärker und durchschlagender ist vielmehr der SWibezug der richterlichen Aufgabe. Von hier aus wird eine Gliederung gerichtlicher Institutionen bewirkt, die bei allem Verbindenden, das nicht 2 Dazu etwa Karl G. Lengler, Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt als prozeßrechtliches Problem, JZ 1957 S. 79 ff. und besonders Karl August Bettermann, Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen einer Angleichung der deutschen Verfahrensordnungen, ZZP 1957 S. 161 ff.

V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

geleugnet werden soll, doch eine itio in partes zwingend fordert. Damit ist keineswegs gesagt, daß die gegenwärtige Auffächerung der Gerichtsbarkeiten in der Bundesrepublik den hier gemeinten substanzhaften Unterschieden entspricht. Aber es würde einen ernsten Mangel an Sachbezogenheit und Konkretheit bezeichnen, wenn man leugnen wollte, daß die sachlichen Unterschiede etwa zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Zivil- und Straf Justiz, der Verwaltungs- und der Sozialgerichtsbarkeit es verbieten, den Gedanken der Herstellung einer Einheit zwischen ihnen zu überfordern. Jede dieser Gerichtsbarkeiten ist ein sehr individualisierter Teil des menschlichen Daseins, der Sozialvorgänge und der Staatsverwirklichung anvertraut, und es hieße nur den Prozeß der Vermassung und Mechanisierung begünstigen, wenn man diese konkreten Lebensbezogenheiten unter der formalen Vorstellung, daß den erwähnten Gerichtsbarkeiten gleichermaßen gerichtlich vollzogene Rechts- oder Gerechtigkeitsverwirklichung auf getragen sei, einebnen würde. Das feste Standesbewußtsein, das — je für sich — den Richtern der Zivil- und Strafjustiz, der Verwaltungsgerichtsbarkeit und jetzt auch der Sozialgerichtsbarkeit eignet, ist der durchaus adäquate Ausdruck einer von der Sache her gegebenen Besonderung. Daß sich die Funktion der Verfassungsrichter hiervon noch weit schärfer und beinahe schon unvergleichbar abhebt, ist schon an anderer Stelle (oben S. 95 f.) deutlich gemacht worden. Auch von den politischen Prätentionen des Redens von der „Dritten Gewalt" darf man sich hierin nicht überwältigen lassen. ..Dritte Gewalt", das erweist sich bei näherem Zusehen als ein sehr vieldeutiges Wort. Es bedeutet für die Verfassungsgerichtsbarkeit Beteiligung am Prozeß politischer Willensbildung und politischer Machtbegrenzung. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit einschließlich ihrer Nebenzweige bezeichnet es heute staatsbewahrende Integrität sachgebundenen Verwaltens inmitten einer Instrumentalisierung der Verwaltung zugunsten von Gruppeneinflüssen und gegenüber der Herrschaft des Apparates über die Menschen. In der Zivil- und Straf justiz ist es der Ausdruck dessen, daß das Leben der Bürger im Schutz der richterlichen Autorität seine eigene Entfaltung behalten, daß es menschliches Leben in Ordnung ohne den befehlenden Zugriff aktiver politischer Gewalten geben soll. Das sind so verschiedene Sinngebungen der „Dritten Gewalt", daß man jedenfalls aus der Existenz einer „Dritten Gewalt" an sich nicht die Forderung einer unterschiedslosen Verschmelzung der Gerichtsbarkeiten ableiten kann.

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V. Die Einheit der rechtsp rechenden Gewalt

Das alles ist gemeint, wenn hier die These vertreten wird, daß man den Dingen nahe bleiben muß, wenn man zu einer richtigen Einschätzung der Gegebenheiten gelangen w i l l Es handelt sich darum, nicht Konstruktionen, Schemata und juristische Abstraktionen zu sehen, sondern das Wesen der Sache, das sich von den Aufgaben der Lebensbewältigung anbietet. Denn der Ordnung des Lebens dient auch die Gerichtsbarkeit, und nur von dorther hat sie ihre Rechtfertigung.

ΠΙ. Wenn man zur rechten Fundierung der Einheit der rechtsp rechenden Gewalt gelangen will, wird man, wie schon betont wurde, auf der einen Seite die innere Sachgesetzlichkeit der verschiedenen Gerichtsbarkeiten vor Augen haben, anderseits sich die Aufgabe der Jurisprudenz und des rechtsp rechen den Waltens überhaupt vergegenwärtigen müssen. Diese Aufgabe besteht darin, das Individual- und Sozialleben als das Feld menschlicher Begegnungen und menschlichen Wirkens in einer befriedeten Ordnung zu halten, und zwar so, daß ihm die menschlichen Züge erhalten bleiben. Recht und Rechtswissenschaft sind dazu da, daß das Leben übersehbar und geistig beherrschbar bleibt. Nur dann kann das Sozialleben eine Ordnung behalten, die nicht die eines mechanisierten Großbetriebes unter der Leitung spezialisierter Betriebsingenieure ist, sondern die personenhafte Entfaltung, die sichere Überschau, die Überlegenheit menschlicher Maßstäbe über die Dämonie der arbeitsteiligen Massenorganisation und der wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsapparatur sichert. Die Jurisprudenz unserer Tage hat sich unter Vernachlässigung dieses elementaren Grundtatbestandes allzu stark in die Betrieblichkeit und Betriebsamkeit eines Perfektionismus der Spezialisierung mit hineinziehen lassen. Man spricht davon, daß das Leben so unerhört kompliziert geworden sei und daß Recht und Rechtswissenschaft dem folgen müßten. Jeder erachtet es für seine Pflicht, zu seinem Teile die Differenzierungen kräftig weiterzutreiben, während doch der eigentliche Dienst des Rechts darin bestände, der Auf faserung des Lebens entgegenzuwirken. Dieser Aufspaltung in die esoterischen Bereiche nur noch von Spezialisten übersehbarer Lebensteile begegnen wir heute überall, wo Schöpfer von Rechtssätzen und rechtsanwendende Juristen am Werke sind. Das beginnt in der Gesetzgebung. Hier ist nicht so sehr auffallend, daß die frühere Praxis der großen

V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

Kodifikationen durch Einzelgesetzgebung abgelöst worden ist. Das Bezeichnende liegt vielmehr darin, daß sich die Einzelgesetze unbekümmert um den Zusammenhang, die Einheit und notwendige Einfachheit der Rechtsordnung in einen spezialistischen, abgekapselten Perfektionismus geradezu verlieren. Dann setzt sich in der nächsten, der literarischen Stufe die Auf faserung fort. Wohl noch niemals in der deutschen Rechtsentwicklung haben so viel allgemeine und spezielle Fachzeitschriften die Leserwelt mit einer derartigen Fülle publizierter Gerichtsentscheidungen überschüttet, haben so viele Kommentatoren die Beherrschung der Einzelgesetze zu ihrer Geheimwissenschaft gemacht, haben auch die alten, klassischen Kommentare sich in Stoff anhäufung aufgelöst. Die emsige Tüchtigkeit unserer Juristen streut Woche für Woche in den Zeitschriften monographische Untersuchungen in großer Zahl aus, deren wesentliches Anliegen darin zu bestehen scheint, neue Differenzierungen und Komplizierungen zu entdecken. Kein Jurist kann das mehr ernsthaft verfolgen; nur wenige haben die Kraft, sich demgegenüber noch eine sichere Überlegenheit zu bewahren. Man könnte sich darauf berufen, dieser Prozeß der Differenzierung sei nur eine Teilerscheinung der außerordentlichen Spezialisierung und Verfeinerung, der alle Wissenschaften, am stärksten aber die Naturwissenschaften ergriffen habe. Die Jurisprudenz könne hier nicht zurückbleiben. Nun, die Jurisprudenz als Wissenschaft soll das auch nicht. Von ihr erwarten wir, daß sie alle Kraft des Erkennens aufwende, ihrem Gegenstand in seinen stets wechselnden Aspekten auf den Grund zu dringen. Immerhin ist zu bedenken, daß die Methoden der wissenschaftlichen Jurisprudenz, wenn überhaupt, so doch keineswegs in dem Maße revolutioniert worden sind wie die der Naturwissenschaften. Vor allem aber ist es durch nichts gerechtfertigt, die differenzierten Denkprozesse der wissenschaftlichen Rechtswissenschaft — wenn diese Wortverbindung gestattet ist — unmittelbar in die Praxis des Rechtslebens einzuführen. Nur ihre Ergebnisse vertragen und verdienen die Aktualisierung in der praktischen Leben sbe wältigung, und sie verdienen dies auch nur, sofern sie den Erfordernissen des Lebens durch kraftvolle Einfachheit, Klarheit und Handlichkeit adäquat sind. Denn wenn die Naturwissenschaften ihren Auftrag, die Natur der Beherrschung durch den Menschen zu erschließen, nur durch immer stärkere Verfeinerung ihrer Methoden erfüllen können, so gilt für das Recht und die Rechtslehre gerade die umgekehrte Forderung, die geistige Meisterung der menschlichen Existenz

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V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

und des Soziallebens durch die Einfachheit menschlichen Maßes offenzuhalten. Das bedeutet, daß auf diesem Felde nicht dem Strome der Differenzierung und Spezialisierung zu folgen, sondern ihm um des Menschen willen entgegenzuwirken ist. Die Gerichte in ihrer Spruchtätigkeit haben, auch hier den Dingen am nächsten, der Freude an den gedanklichen und fachlichen Spezialisierungen noch am stärksten widerstanden. Man sollte es ihnen nicht als intellektuellen Mangel, sondern als Tugend anrechnen, wenn sie sich in ihren Urteilen nicht in das Gestrüpp wissenschaftlicher oder pseudowissenschaftlicher Auseinandersetzungen begeben, sondern die Grenzen einer unmittelbar begreifbaren und das Leben in klaren Konturen formenden Rechtspflege wahren. Damit ist keiner rechtswissenschaftlichen Simplizität das Wort geredet. Auch der Richter soll die rechts wissenschaftlichen Probleme seiner Zeit kennen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Aber mehr noch als der professionelle Sachwalter der Rechtswissenschaft ist er auf die Aufgabe verwiesen, den Facettenreichtum rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse umzusetzen in die Elemente einer überschaubaren, das Leben klärend erleichternden Ordnung. Das schlichte Gerichtsurteil, dem dies gelingt, ist besser als die brillante wissenschaftliche Abhandlung im Gewände eines Gerichtsurteils, die nicht nur dem rechtsuchenden Laien unverständlich bleibt, sondern vor allem auch die praktische Ordnungsaufgabe des Rechts eher verfehlt als weiterbringt.

IV. Von diesen Gedanken aus kehren wir zurück zur Frage der Einheit der rechtsp rechenden Gewalt. Wir leiten aus ihnen die Folgerung ab, daß beim Aufbau der Gërichtsbarkeiten und der Gerichte jede nicht zwingend sachgebotene Differenzierung vermieden werden sollte. Gerade auch das Erscheinungsbild des Gerichtswesens muß überschaubar und einleuchtend bleiben. Die Einheit der Lebensordnung, die Interdependenzen in den menschlichen Beziehungen, die Würde des hoheitlichen Waltens müssen in ihm einen überzeugenden Ausdruck finden, ganz abgesehen von der einfachen Notwendigkeit, dem Rechtsuchenden einen klaren Weg für sein Rechtsschutzbegehren zu weisen. Auch meinen wir, daß die Organisation des Gerichtswesens der Tendenz zur Aufgliederung der staatlichen Gemeinschaft in den Pluralismus von Einflußgruppen und autonomen Lebensbereichen am wenigsten und am letzten folgen sollte.

V. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

So werden wir uns zwar damit abfinden müssen, daß der Prozeß der Loslösung der Kirche vom Staat audi in der evangelischen Kirche die Ausbildung einer eigenen kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit heraufgeführt hat 3 . Wir werden aber darüber zu wachen haben, daß etwa standeseigene Gerichtsbarkeiten nicht weiteren Boden finden. Mit der Disziplinargerichtsbarkeit der Beamten und der Angehörigen der Bundeswehr und der Berufsgerichtsbarkeit der in öffentlichen Körperschaften organisierten freien Berufe sollte das Kontingent der Standesgerichtsbarkeiten erschöpft sein, und es wäre darauf zu achten, daß die Kompetenz der Berufsgerichte der freien Berufe streng auf die Wahrung der Standesdisziplin beschränkt bleibt. Zwingend notwendig ist diese Berufsgerichtsbarkeit übrigens nicht. Es wäre durchaus möglich, sie durch korporative Maßnahmen der Standesdisziplin mit richterlicher Uberprüfung durch die allgemeinen Verwaltungsgerichte zu ersetzen. Allzu wenig Aufmerksamkeit hat man in der letzten Zeit der Entwicklung der Schiedsgerichtsbarkeit zugewendet, obwohl sie offenbar in zunehmendem Maße der Tendenz dienlich war, der Ziviljustiz auszuweichen und neben der staatlichen Gerichtsbarkeit für geschlossene Interessentenbereiche Privatgerichtsbarkeiten einzurichten. Aber bedrohlicher noch im Sinne einheitswidriger Aufgliederung des Gerichtswesens ist das Bestreben, in die bestehenden Gerichte Variationen von Spruchkörpern hineinzutragen. Ich meine etwa die Landwirtschaftsgerichte, die Flurbereinigungsgerichte, die Fachkammern und Fachsenate bei den Verwaltungsgerichten nach dem Personalvertretungsgesetz, die Kammern und Senate für Bauland Sachen u. ä. mA Schon wenige Jahre, nachdem Zivil- und Verwaltungsgerichte neu in Funktion gesetzt worden sind, beginnt man in diesen Fällen, die Gerichte zu spezialisieren. Die Kammern und Senate für Baulandsachen sind das Produkt eines Kompromisses in der Konkurrenz zwischen Zivil- und Verwaltungsgerichten. Einige der übrigen Beispiele liefern Belege dafür, daß man unter dem Vorgeben, den besonderen Sachverstand für die Rechtsprechungspraxis zu aktivieren und sozusagen den Sachverständigen in das Gericht hineinzuziehen, Beisitzern aus dem Kreise der Interessenten in die Gerichte Einlaß gewährte. 3 Dazu etwa Konrad Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich (1956) passim und Hartmut Maurer, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche (1958). 4 Besonders eindrucksvoll die Darstellung der verwirrenden Vielfalt bei Κ. A. Bettermann, ZZP 1957 S. 161 ff.

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Man muß fürchten, daß diese Entwicklung weitere Fortschritte macht. Wie sehr sie die Würde des Berufsrichtertums und die Integrität der Gerichte in Frage stellt, wird allzuwenig beachtet5. In der Arbeitsgerichtsbarkeit hat diese Entwicklung den Prozeß allmählicher Ablösung aus der Zivilgerichtsbarkeit inzwischen so weit fortgetrieben, daß hier eine komplette eigene Gerichtsbarkeit entstanden ist, in der sich der Staat und die Sozialpartner zur Ausübung einer Art kondominaler Gerichtshoheit vereinigt haben. In dieser politischen Absonderung liegt auch der eigentliche Grund für die Loslösung aus der Zivilgerichtsbarkeit, die allein von der Sache her nicht zu rechtfertigen wäre. Unter der Obhut dieser eigenen Gerichtsbarkeit entwickeln sich selbständige Grundsätze und Vorstellungen, die neben der allgemeinen Ordnung des menschlichen Lebens eine eigene Welt der Arbeitsordnung aufbauen. Damit legitimiert und vertieft die Arbeitsgerichtsbarkeit zugleich den beherrschenden Einfluß der Sozialpartner auf die Gestaltung der alle Bürger so oder so mit berührenden Sozialordnung. Sie hat sich im Gegensatz zu allen anderen Gerichtsbarkeiten von der Grundthese, daß sich in der Gerichtshoheit noch eine ausgesprochen staatliche Gemeinschaftsfunktion manifestiere, daß im richterlichen Walten noch Staatshoheit und nichts anderes zur Geltung gelange, entfernt. Diese Absetzung der Arbeitsgerichtsbarkeit ist wohl, staatspolitisch betrachtet, der charakteristischste Vorgang der Auflösung der Einheit der Gerichtsbarkeit, der übrigens der pluralistischen Auflösung des modernen Staates selbst parallel läuft, ja nichts weiter als ein Teil davon ist. Es ist nun bezeichnend, daß man gerade hier aus politischen Gründen geneigt zu sein scheint, sich mit dem status quo abzufinden. In der Sitzung des Bundestages vom 29. November 1956 teilte der Berichterstatter des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht mit, daß selbst die Befürworter der „Großen Lösung", d.h. die Anhänger einer Einheitsgerichtsbarkeit, gemeint hätten, die Arbeitsgerichte von der Vereinheitlichung der Gerichtsbarkeit ausnehmen zu müssen, „da man dort auf zu großen subjektiv oder geschichtlich bedingten Widerstand stoßen würde" 6 . Gegenüber dieser Kapitulation vor den gegebenen Macht Verhältnissen sollte betont werden, daß gerade in der Abspaltung der Arbeits-

5 Kritisch nach dieser Richtung auch Ulrich Scheuner, Die Selbständigkeit der Rechtspflege, DÖV 1953 S. 523. 6 Deutscher Bundestag, 2. Wahlp. Sten.Ber. S. 9633.

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gerichtsbarkeit ein echter Einbruch in die Einheit der Rechtspflege vorliegt, mit dem man sich am wenigsten abfinden sollte7.

V. Mit dem eben zitierten Bericht in der Bundestagssitzung vom 29. November 1956 gelangt man unmittelbar in die Gegenwartsdiskussion über das Problem der Einheit der rechtsprechenden Gewalt. Von der Tagung des Anwaltvereins 1954 bis zum Düsseldorfer Juristentag 1957 haben die Juristen der Justiz — die Justizminister und ihre Bürokratien, die Richter der Zivil- und Strafjustiz und die Rechtsanwälte — von Resolution zu Resolution fortschreitend die Forderung vorgetragen, daß auch die Verwaltungs- und die Sozialgerichtsbarkeit, die Finanz- und die Arbeitsgerichtsbarkeit verwaltungsmäßig, personalpolitisch und dienstaufsichtsrechtlich den Justizministern unterstellt werden müßten. Dieses Verlangen kann sich im Falle der Arbeitsgerichtsbarkeit immerhin darauf stützen, daß hier eine Abspaltung aus der Justiz vorliege, die erst nach 1945 vollendet worden ist; im übrigen aber steht es im Gegensatz zu aller Überlieferung. Audi kann es sich nicht auf die Verhältnisse im Ausland berufen, wo sich vielmehr eher gegenläufige Entwicklungen abzeichnen8. Es ist bezeichnend, daß die Richter der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit, auch soweit sie aus der Justiz hervorgegangen und darauf stolz sind, ziemlich geschlossen und mit großer Entschiedenheit den Ressortwechsel ablehnen. Auf dem Düsseldorfer Juristentag vom 12. bis 14. September 1957 begegneten sich die Fronten in peinlicher Verhärtung. Es scheint, als habe der aus einem merkwürdigen Missionierungsbewußtsein unternommene Vorstoß der Justizjuristen zwischen ihnen und den Richtern der anderen Gerichtsbarkeiten die Kluft eines Bruderzwistes aufgerissen, von der man fürchten muß, daß sie sich so bald nicht wieder schließt. Die breite Erörterung, die das Thema während der letzten Jahre im Schrifttum gefunden hat 9 , ist für den Düsseldorfer Juristentag 7

So auch U. Scheuner, DÖV 1953 S. 524. Den Nachweis hierfür hat Carl Hermann Vie in seinem Referat auf dem Düsseldorfer Juristentag am 13.9.1957 geführt. Vgl. den Bericht von Walter Tietgen, DVBl. 1957 S. 713 ff. 9 Zusammenfassend nach dem Stande von Ende März 1957 das von Fritz Baur für den 42. Juristentag erstattete Gutachten „Empfiehlt es sich, die verschiedenen Zweige der Rechtsprechung ganz oder teilweise zusammenzu8

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nicht nutzbar geworden. Dort hatten bald die Bekenntnisse und eine zweifelhafte Abstimmungstechnik den Vorrang vor den Argumenten. Auf den Vorwurf der „Hausgerichtsbarkeit" wollten die Sprecher der Justiz auch nicht verzichten, als er vielfältig, und zwar schon in seinem Ansatzpunkt, widerlegt war. Die Tatsache, daß die Verwaltungsgerichte in Vergangenheit und Gegenwart, daß der Reichsfinanzhof und der Bundesfinanzhof, die früheren Sozialversicherungsgerichte und heutigen Sozialgerichte an Qualität und Unabhängigkeit keineswegs durch die Justizgerichte beschämt werden, obwohl sie bisher nicht vom Justiz- oder Rechtsprechungsminister ressortierten, wurde mit beharrlicher Nichtbeachtung übergangen 10.

VI. Läßt man alle Ressentiments beiseite, die allerdings in der Frage wesentlich mitspielen, so verknüpfen sich mit der Forderung nach Unterstellung aller Gerichtsbarkeiten unter ein Rechtsprechungs-, Gerichts- und Rechtspflegeministerium in der Hauptsache die folgenden Erwartungen. Die einen meinen, man werde auf diesem Wege in absehbarer Zeit zu einem „Einheitsgericht" kommen, in welchem die verschiedenen Gerichtszweige allenfalls noch als Kammern, Senate, Abteilungen oder wie auch immer wiederkehrten. Hierzu kann man mit einiger Sicherheit sagen, daß unsere Generation und auch die nächste das Gelingen dieses undurchführbaren, weil extrem sachwidrigen Versuchs nicht mehr erleben wird. In zwei Generationen allerdings mag die Vermassung und Funktionalisierung des Soziallebens, wenn wir keine Gegenkräfte aufzubieten vermögen, soweit fortgeschritten, mag fassen?", Verhandlungen des 42. DJT I, 2 (1957). Seither sind insbesondere noch folgende Beiträge ersdiienen: Herbert Arndt, DRiZ 1957 S. 198 ff.; Κ. A. Bettermann, ZZP 1957 S. 161 ff.; Helmut Friedrichs, NJW 1957 S. 1344 ff.; Qalperin, ZSR 1957 S. 161 f.; Gerhard Müller, RdA 1957 S. 313 ff.; Hermann Reuß, JR 1957 S. 321 ff.; Harry Rohmer-Kahlmann, ZSR 1957 S. 163; Werner Weber, ZSR 1957 S. 109 ff. Die auf dem 42. DJT erstatteten Referate von Carl Hermann Ule und Herbert Arndt liegen noch nicht im Druck vor; doch stellt der eben zitierte Aufsatz von Arndt, DRiZ 1957 S. 198 ff. eine Art Vorabdruck seines Referates dar. 10 Die Spannung auf dem Düsseldorfer Juristentag 1957 kommt in deh Berichten von Reuß (DVBL 1957 S. 697 ff. und DÖV 1957 S. 772 ff.); Tietgen (DVBl. 1957 S. 713 ff.); Groß (DVBl. 1957 S. 711 f.); Horst Peters (ZfS 1957 S. 269 ff.) sowie der JZ 1957 S. 729 zu starkem Ausdruck.

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der Sinn für das Wesen, den Standort und die Individualität richterlichen Waltens so abgeflacht sein, daß den Zeitgenossen der Bezug der Gerichtsurteile im Gerichts-Warenhaus als unanstöfiig erscheint. Voraussichtlich würde dann aber dieses Einheitsgericht nur noch Verwaltungsgericht eines vollendeten Verwaltungsstaats sein. Andere setzen ihre Hoffnungen darauf, daß die Begründung der Ressortzuständigkeit des Justizministers für alle Gerichtsbarkeiten rascher zu einer Vereinheitlichung und Vereinfachung der Gerichtsverfassung und der Verfahrensarten führen werde. In diesem Bereich bieten sich in der Tat einige Aufgaben, die nach Lösung drängen. Immerhin handelt es sich dabei vorwiegend um rechtstechnische Ängleichungen, von denen nicht einzusehen ist, daß unsere Parlamente sie nicht auch so zustande bringen könnten. Insonderheit sollte doch die dringlichste Aufgabe erfüllbar sein, die Möglichkeit gegenseitiger Verweisungen zwischen den Gerichtsbarkeiten vorzusehen 11. Wie wenig in der Frage der Vereinfachung und Vereinheitlichung allein mit der Ressortzusammenfassung gewonnen ist, zeigt das Beispiel der Justiz selbst. 80 Jahre Justizverwaltung unter der Herrschaft der Reichsjustizgesetze haben nicht verhindert, daß uns die Justiz neben dem GVG mit den Verfahrensformen der ZPO, StPO, des FGG, der GBO, VerglO, KO, des Zwangsversteigerungsgesetzes usf., von den besonderen Verfahrensärteri des Entschädigungsrechts, Landwirtschaftsrechts usw. ganz zu schweigen, dodi ein redit buntes und vor allem unerhört kompliziertes Bild der Verfahrensformen, Rechtsmittel und Instanzenzüge darbietet 12 . Demgegenüber sind die zur Zeit geltenden Verwaltungsgerichtsgesetze geradezu von einer klassischen Einfachheit und Übersichtlichkeit. Gerade dieser Vergleich zeigt, daß bei einer Übernahme der Federführung in den Verfahrensarten aller Gerichtsbarkeiten durch die Justizverwaltung eher eine erhebliche Komplizierung und Differenzierung als eine Vereinfachung und Vereinheitlichung zu erwarten ist. — Die von manchen Anwälten als Motiv vorgebrachte Hoffnung aber, ihnen öffne sich mit dem einheitlichen Rechtsprechungsministerium wiêder die Möglichkeit, Universalisten des Zivil- und Strafrechts, des Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits-, Sozialrechts usw. in allen Verästelungen zu werden, stellt leider eine sehr vordergründige Selbsttäuschung dar. 11

So auch die Empfehlungen von C. H. Ule in seinem Referat auf dem 42. Juristentag (vgl. V, 5 seiner Thesen, DVBl. 1957 S. 715). 12 Vgl. die schon zitierte Darstellung von K.A. Bettermann, ZZP 1957 S. 161 ff.; 176 ff. 8 Weber

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VII. Nun soll nicht geleugnet werden, daß es vielen Juristen der Justiz ernst ist mit dem Wunsche, es möchten alle Gerichtsbarkeiten unter die Botmäßigkeit des Justiz- oder Rechtsprechungsministers gestellt werden, und daß sie diese Unterstellung als Selbstzweck fordern. Würden sie freilich die Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit näher kennen, so würden sie dabei wohl den anspruchsvollen Gedanken aufgeben, sie müßten diesen Gerichtsbarkeiten sozusagen erst zur Entfaltung ihres wahren Wesens als Trägern richterlichen Waltens verhelfen. Mit der einfachen Gleichung, die man auch auf dem Düsseldorfer Juristentag hörte: „Ein Redit — ein Gericht — ein Minister", ist hier jedenfalls nicht gedient. Die Formel ist sogar verführerisch falsch; der Minister ist bekanntlich nicht die hierarchische Spitze der Gerichte, und die Sozialordnung hat nicht ein einheitliches, sie hat ein gegliedertes Recht. Es ist nicht ein historischer Zufall, daß die Justizgerichte (Zivil- und Strafgerichte) bisher vom Justizminister, die Sozialgerichte vom Sozialminister, die Finanzgerichte vom Finanzminister, die Verwaltungsgerichte von einer Instanz mit übergeordneter Verwaltungsverantwortung (meist dem Ministerpräsidenten) ressortierten. Das hat seinen Grund in den Sachzusammenhängen und in der Sachverantwortung. Die Ressortgliederung der Regierungen, so wie sie in Deutschland seit den Stein-Hardenbergschen Reformen existiert, ist nicht an Formalfunktionen orientiert. Sie ordnet nicht etwa alle Rechtsprechungsfunktionen einem Rechtsprechungsminister, alle Verwaltungsakte einem Verwaltungsminister, alle technischen Verrichtungen einem Minister für Technik, alle Tatbestände der Auswertung wissenschaftlicher Ergebnisse einem Minister für Wissenschaft, alle Gebühren-, Kosten- und Geldstrafensachen zusammen mit den Steuerangelegenheiten dem Finanzminister, alle Fälle, in denen etwa an Beamte, Soldaten, Krankenschwestern, Polizisten, Feuerwehrleute usw. für ihren Dienst Unterricht erteilt wird, deswegen dem Unterrichtsminister zu. Sie begründet vielmehr Verantwortlichkeiten für Lebensbereiche, die von der Sache her eine Einheit bilden. In diesen Sachbereichen hat der Ressortminister ministerielle Zuständigkeiten für die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsp rechung gleichermaßen. Bei der Justiz ist das nicht anders. Der Justizminister ist seiner Bestimmung nach nicht Fachminister für alle Gerichtsbarkeiten und alle Rechtsprediungsfunktionen, sondern er ist Minister für den — im wesentlichen

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staatsinterventionsfreien — Bereich des gesellschaftlichen und individuellen Lebens, der im weitverzweigten Zivilrecht und im Strafrecht seine Ordnung hat. Dort ist er — und zwar primär — im Rahmen ministerieller Kompetenzen für die Gesetzgebungsaxilgaben zuständig 13 . Das bedeutet sogar eine außerordentlich hohe Verantwortung. Mit diesem Gebiet deckt sich gegenständlich genau der Bereich der Justizgerichte, und nur so weit reicht auch die Justizverwaltungshoheit des Justizministers. Soweit in diesem Bereich Verwaltungsfunktionen wahrzunehmen sind (Akte der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung, Dispenserteilungen, Justizverwaltung im engeren Sinne), fallen sie ihm gleichfalls zu. Für Sozialversicherung und Versorgung, für die Steuererhebung, für die allgemeine Verwaltung, die Wirtschafts-, Arbeits-, Verkehrs-, Sozial-, Kultusverwaltung usf. dagegen hat der Justizminister keine Sachverantwortung, weder in bezug auf die Gesetzgebung noch die Exekutive. Deshalb, nämlich weil er mit ihren Aufgaben keinen Sachzusammenhang hat, hat bisher begründetermaßen niemand daran gedacht, ihm einen legitimen Anspruch auf die Gerichtsbarkeiten in diesen Bereichen einzuräumen. Die Änderung, die hierin mit der Schaffung des einheitlichen Rechtsprechungsministeriums bewirkt werden würde, ist von außerordentlicher Tragweite, und zwar in verschiedener Hinsicht. Es sollen hier nur die Hauptpunkte herausgehoben werden: 1. Dem Rechtsprechungsminister würde mit der Aufgabe, außer seiner legitimen Justizgerichtsbarkeit auch für die anderen Gerichtsbarkeiten verantwortlich einzustehen, eine regierungspolitische Verantwortung auch für das Funktionieren der Sozial-, Finanz- und sonstigen Verwaltung zufallen, und zwar für die Gesetzgebung wie für die Exekutive in diesen Gebieten gleichermaßen. Denn materielles Recht und Verfahrensrecht lassen sich nicht säuberlich trennen; sie sind notwendig ineinander verzahnt. Auch sonst ist die ministerielle Zuständigkeit für einen Gerichtszweig nicht gegenüber den Gesetzgebungs- und Verwaltungsaufgaben im Aktionsbereich dieses Gerichtszweiges isolierbar und umgekehrt. Der Justizminister würde also, ob er will oder nicht, in die Rolle eines obersten Zensors und eines allbe13

Die föderalistische Zuständigkeitsverteilung der Bundesrepublik, die im Bundesjustizminister die Gesetzgebungsaufgaben, in den Länderjustizministern die Justiz Verwaltungsgeschäfte akzentuiert, ändert hieran im Prinzip nichts. Bundes- und Landesjustizminister muß man insoweit als Einheit sehen. 8*

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teiligten und allzuständigen Oberministers geraten. Mit dem Gleichgewicht innerhalb der Regierungen, mit dem Verfassungsprinzip der Ressortselbständigkeit aller Minister wäre es dann bald zu Ende. Dann sollte man den Rechtsprechungsminister gleich zu einem zweiteil Ministerpräsidenten machen, übrigens einem solchen, der nicht nur primus inter pares wäre. Daß dieses Vorgehen im übrigen statt Vereinfachung innerhalb der Kabinettsarbeit nur sachliche und personelle Komplikationen bringen würde, ist handgreiflich. 2. Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit haben heute ihre Bestimmung darin, daß sie — unter der eigenen Verantwortung ihrer richterlichen Unabhängigkeit — der Verwirklichung der vom Staate gestalteten und beeinflußten Sozialordnung dienen. Sie sprechen nicht Recht in abstracto, ebensowenig wie die Justizgerichte das tun. Sie schützen den einzelnen vor unberechtigtem Zugriff der hoheitlichen Gewalt, und sie sichern ihm seinen Anteil an den Leistungen des Sozialstaates. Aber das ist nur die eine Seite ihrer Aufgabe. Sie sind zugleich mitverantwortlich für die notwendige Daseinsverwirklichung des Staates, die sich in der Verwaltung manifestiert, für die Sicherung des staatlichen Finanzgefüges, für das rechte Funktionieren der in Sozialversicherung, Arbeitslosenversicherung und Versorgung repräsentierten Sozialapparatur. Sie haben dafür einzustehen, daß hierbei rechtsstaatliche Korrektheit waltet. Aber sie verwirklichen das Recht in den notwendigen Aufgaben der Verwaltung, im Finanzwesen des Staates, in der Sozialapparatur. Vielfach wird die Besonderung der verschiedenen Gerichtsbarkeiten aus der unerläßlichen fachlichen Spezialisierung gerechtfertigt. Dieses Moment darf jedoch nicht überbewertet werden; in ihm liegt jedenfalls nicht das eigentliche Problem. Man meint auch in Wahrheit etwas anderes, wenn man auf den Zwang zur Spezialisierung hinweist. Man versucht damit dem weniger Kundigen das Faktum deutlich zu machen, daß der Richter, der in der Verwaltungs-, Finanz- oder Sozialgerichtsbarkeit tätig ist, sich damit einer Lebensaufgabe verpflichtet, die nicht im „Rechtsprechen an sich" besteht, sondern die rechtswahrende Mitwirkung an einem bestimmten Sachbereich der Staats- und Sozialordnung bedeutet. Was die Verwaltungs-, Finanz- und Sozialrichter, auch wenn sie von der Justiz herkommen, so rasch in ihrer Aufgabe individualisiert, ist die Tatsache, daß sie in den Bann einer nicht vertretbaren Sachaufgabe, einer nun von ihnen mit zu verantwortenden Lebensordnung der staatlichen Gemeinschaft geraten. Man mag das als „Fortsetzung" der

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Verwaltung, der Steuererhebung, der Sozialfürsorge „mit anderen Mitteln", nämlich mit den Mitteln riditerlich-korrigierender Kognition bezeichnen. In der Tat handelt es sich der Substanz nach um Verwaltung, Steuergeschäft, Sozialversicherung, um die richterliche Krönung und Veredlung dieser Staatstätigkeiten. Diese Feststellung tut der richterlichen Integrität und Würde des verwaltungs- und sozialrichterlichen Wirkens keinen Abbruch, sondern kennzeichnet gerade seinen Rang. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit gehört der Sache nach zur Verwaltung, die Finanzgerichtsbarkeit zum Finanzwesen, die Sozialgerichtsbarkeit zum Sozialwesen. Diese Sachzusammenhänge sind, wie auch die Erfahrung bestätigt, weit stärker als die Verwandtschaft mit der Justiz, ohne daß übrigens mit einer solchen Feststellung von den Ansprüchen an die richterliche Unabhängigkeit und an das richterliche Ethos der Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeiten irgendein Abstrich gemacht würde. Die Unterstellung der Verwaltungsgerichtsbarkeiten unter den Justizminister leugnet und zerreißt den erwähnten Sachzusammenhang, Sie löst diese Gerichtsbarkeiten aus der Lebenswelt, für die sie verantwortlich sind, und läßt sie allenfalls noch in dem einen Teil ihrer Aufgabe, in der individualistischen Rechtsschutzfunktiöri nämlich, gelten, der sie aber in der Isolierung gleichfalls schwerlich in wirklich sachgerechter Weise würden genügen können. Sie entleert damit zugleich in verhängnisvoller Weise die Verwaltungstätigkeit aller Sparten, denen der krönende Teil damit genommen ist, während der zurückbleibende Rest in der suspekten Rolle rechtsstaatlicher Unzulänglichkeit zurückgelassen wird 1 4 .

VIII. Immer wieder muß betont werden, daß richterliche Spruchtätigkeit kein fungibles Geschäft ist, das austauschbar und beliebig auf die verschiedensten Lebenssituationen anwendbar ist. Man fragt sich, warum gerade viele Rechtsanwälte und die Richter der Justiz dieser Einsicht so schwer zugänglich sind. Bei den Rechtsanwälten mag das daran liegen, daß sie gewöhnt sind, die Probleme der Rechtsverwirklichung überwiegend unter den Aspekten der verfahrensrechtlichen Parteirolle derjenigen zu sehen, für die sie indivi14

Hierauf hat C. H. Ole in seinem Referat auf dem Düsseldorfer Juristentag (IV, 5 seiner Thesen, DVBl. 1957 S. 715) gleichfalls hingewiesen.

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duellen Rechtsschutz begehren. Für eine derartige Sicht der Dinge schieben sich die Konturen der verschiedenen Gerichtsbarkeiten in der Tat zusammen; aber damit lösen sich deren sachliche Besonderheiten nicht in Wirklichkeit auf. Die Richter der Zivil- und Strafjustiz stehen unter dem verständlichen Eindruck, daß sich ihre Spruchtätigkeit außerordentlich breit ausfächert, dabei überdies auch öffentlich-rechtliche Fragen, vor allem Vorfragen, einbeziehend, ohne daß die Bindung an einen bestimmten Kreis von Sachgegenständen sichtbar wird. Bei solcher scheinbaren Entmaterialisierung der Rechtswahrung bildet sich leicht die Vorstellung, man könnte die hier gewohnte Art richterlichen Waltens ohne Änderung der Substanz jedweder anderen Form richterlicher Spruchtätigkeit gleichsetzen und damit austauschen. So ist es indessen nicht. Die Besonderheit im Imperium des Zivil- und Strafrichters liegt darin, daß er dem — glücklicherweise noch recht großen — Bereich menschlicher Beziehungen zugeordnet ist, in dem die Lebensbewältigung der Verantwortung des einzelnen und seiner freien Assoziationen überlassen ist. In diesem Bereich tritt die hoheitliche Autorität des Staates den Menschen nicht mit gestaltenden, ausgleichenden und fürsorgenden Maßnahmen seiner Verwaltung, sondern nur in der Gerichtshoheit gegenüber. Dagegen haben Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit einen sekundären und akzessorischen Charakter, der der Zivil- und Strafjustiz nicht eignet. In dieser manifestiert sich hoheitliches Walten primär und ausschließlich; der einzelne sieht sich ihr unmittelbar konfrontiert. Aber Zivil- und Strafjustiz unternimmt dem Individuum und seinen gesellschaftlichen Beziehungen gegenüber auch keine aktive Lebensgestaltung nach eigenem Plan; sie ist nicht an Sach- und Leistungsaufgaben der handelnden Staatsgewalt mitverantwortlich beteiligt. Sie befriedet das gesellschaftliche Leben, in dem die einzelnen selbst agieren, dadurch, daß sie das Handeln der einzelnen vom Konfliktsfall her, der vor ihr Forum gebracht wird, eingrenzt. Sie zieht in ihrer Spruchtätigkeit sichtbar und mit konkreter Verbindlichkeit die Linien der rechtlichen Ordnung nach, in der die Menschen ihr Leben selbst einzurichten haben und aus der sich ihre Rechte und Pflichten im Verhältnis zueinander ergeben. Die Justizjuristen nennen das gern „Rechtsverwirklichung" oder „Dienst am Recht" oder „Verwirklichung der Rechtsidee". Diese abstrakten Wendungen sind nur aus der Lage der Justiz heraus voll verständlich. Sie umschreiben den eigentümlichen Vorgang, daß die Justizgerichte ohne Ausrichtung auf eine bestimmte Sadi auf gäbe oder einen von ihnen zu verwirklichenden

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Sachzweck innerhalb der bunten Fülle des gesellschaftlichen Lebens in spezifischer Weise die rechtliche Friedensordnung zu hegen, daß sie aus den Lebensvorgängen gleichsam die Rechtsbeziehungen und Rechtsfolgen als solche herauszupräparieren haben. Das ist eine ebenso weiträumige wie vielseitige und verantwortungsvolle Art richterlichen Walt ens. Man wird auch anerkennen müssen, daß das Richtertum historisch hierin seinen Ursprung hat. Aber deshalb ist noch nicht die Annahme gerechtfertigt, die Lage müsse in den höchst neuzeitlichen Erscheinungen der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit dieselbe sein. Es geht bei alledem nicht nur darum, die Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit vor der Einebnung zu schützen, auch nicht, obwohl das verfassungspolitisch schon recht vital ist, um die Sicherung der überlieferten Ordnungs- und Sachzusammenhänge im Regierungsbereich; mindestens ebenso wichtig ist es, die Justizgerichtsbarkeit davor zu bewahren, daß sie ihr sie auszeichnendes Wesen aufgibt. Die Justizgerichte täten um ihrer eigenen Integrität willen gut daran, den Trennungsstrich zwischen ihnen selbst und der sozialstaatlichen Verwaltungs·, Verteilungs- und Fürsorgeapparatur scharf zu ziehen und für sich zu bleiben. Die Befürworter der Einheitsgerichte und auch der Einheitsgerichtsverwaltung denken offenbar nicht daran, wieviel sie dazu beitragen, die Entwicklung zum funktionalisierten Massenstaat weiterzutreiben. So wichtig gerichtliche Kontrollen der verwaltenden Staatstätigkeit zur Sicherung der individuellen Freiheit auch sind, so beruht doch die Freiheitlichkeit eines Staatswesens im tieferen Grunde darauf, daß überhaupt das Prinzip eigenverantwortlicher Lebensführung und Daseinsgestaltung der Individuen den Vorrang behält. Juristisch betrachtet existiert diese Elementarsphäre bürgerlicher Freiheit darin, daß es einen unangefochtenen und genügend breiten Herrschaftsbereich des Zivilrechts gibt und daß vor allem die Aktualisierung des Zivilrechts und des Strafrechts ohne Dazwischentreten anderer staatlicher Gewalten allein richterlichem Walten anvertraut ist. Die Individualität der Justizgerichtsbarkeit beruht auf diesem Zusammenhang und auf dieser spezifischen Verantwortung. Hier und nirgendwo anders liegt auch das Feld des Justizministers in seiner doppelten Eigenschaft als Gesetzgebungs- und Justizverwaltungsminister. Es handelt sich um den Teil des Volkslebens, in dem das menschliche Dasein jenseits der aktiv ordnenden, zuteilenden, versor-

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. Die Einheit der rechtsprechenden Gewalt

genden, lenkenden und bindenden Apparatur des Verwaltungsstaates noch seine eigene Entfaltung hat und der obrigkeitlichen Autorität nur im Richter begegnet. Es wäre ein gefährlicher Weg, die Geschlossenheit und Dichte dieses Reservats durch Ausuferung in den Bereich der verwaltungsstaatlichen Gegenpositionen preiszugeben.

VI. Das politische Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie Die Gruppeninteressen und ihre Einfügung in die Ordnung des öffentlichen Lebens

L Bei dem Versuch, innerhalb der vielen möglichen Spielarten von Demokratie die besondere Situation der Bundesrepublik zu kennzeichnen, haben sich in den letzten Jahren mehrere, in Schlagworten eingefangene Deutungen ergeben. Man hat, längere Zeit schon, vom Parteienstaat, von der parteienstaatlichen Massendemokratie gesprochen. Daneben ist neuerdings das Reden von der Kanzler-Demokratie und der Verbands-Demokratie gebräuchlich geworden, Wieweit hier überall berechtigterweise das Wort „Demokratie" verwendet wird, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls scheint die verfassungspolitische Lage der Bundesrepublik nicht eindeutig zu sein; sie ist es in der Tat nicht. Ein merkwürdiges Nebeneinander und Ineinander von Verfassungskräften kommt in den erwähnten Schlagwortbezeichnungen zum Ausdruck. Das widerspricht sich teils, zum anderen Teile ergänzt es sich. Im Bonner Grundgesetz selbst sind unbestreitbar gewollte Ansätze von Kanzlerdemokratie einerseits und Parteiendemokratie andererseits enthalten. Aber in der Bundesrepublik wirklich von einer Kanzlerdemokratie zu sprechen, ist doch nur durch die besondere Art gerechtfertigt, in der Adenauer dieses Amt ausgefüllt hat. Deshalb wird das Phänomen der Kanzlerdemokratie auch schwerlich die Amtszeit dieses Kanzlers überdauern. Ebenso sind die parteienstaatlichen Elemente der Verfassung weit über das hinausgewachsen, was im Bonner Grundgesetz, etwa in seinem Art. 21, davon angelegt ist. Hier scheint es sich im übrigen um eine verfassungspolitische Gestaltung von größerer Dauerhaftigkeit zu handeln. Aber auch das politische EinflußmQnopol der Parteien ist nicht unbestritten, und das zeigt sich gerade darin, daß es möglich ist, die reale Verfassung der Bundesrepublik mit einigem Grund auch als die einer Verbandsdemokratie zu kenn-

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V I . Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie

zeichnen, von der das Grundgesetz allerdings gar nichts weiß. Auflösung und insoweit Gefahr, die hinter den Momenten des Parteienstaates und der Yerbandsdemokratie gleichermaßen stehen, werden für die Gegenwart durch die Kraft der Auswirkungen der Kanzlerdemokratie gebändigt und verdeckt. Von diesen drei konkurrierenden Prinzipien ist jedoch gerade das der Kanzlerdemokratie am vergänglichsten, das der Verbandsdemokratie das aggressivste. Vor einigen Jahren hat Thomas Dehler, damals noch Bundesminister der Justiz, in einer Rundfunkrede geradezu ausbrechend geklagt, es habe sich in Deutschland ein Jahrmarkt der Interessenten entwickelt. Die Souveränität des Staates sei bei uns durch außenpolitische, außerparlamentarische Kräfte, durch indirekt politische, ständische, berufsständische Gewalten gefährdet, die den Staat zu überwuchern drohten. Er sehe darin eine große Gefahr; denn es wage kaum jemand, gegen diese Fehlentscheidung seine Stimme zu erheben1. Inzwischen haben sich im gleichen Sinne viele Stimmen geregt. Im staats- und sozialwissenschaftlichen Schrifttum wird das Phänomen schon seit langem erörtert. Aber auch die politische Tagesdiskussion hat jetzt den Bann des Tabu gebrochen und sich des Gegenstandes bemächtigt. Besorgnisse und Warnungen werden von allen Seiten laut, nicht nur aus Deutschland. Der französische Abbé René de Naur ois, ein Professor in Toulouse, hat 1953 das aufhellende Schlagwort von der „Kolonisierung des Staates durch partikuläre Interessen" geprägt. In einer Untersuchung über den Erfolg der (kommunistischen) „Friedensbewegungen" in den verschiedenen I,ändern findet sich der bezeichnende Satz: „Succès enorme, au contraire, chez les nations mal gérées òu la colonisation de l'Etat par les intérêts particuliers décompose la chose publique, fausse le contrôle démocratique et décourage l'esprit d'entreprise 2." Ein führender österreichischer Jurist, der Wiener Gerichtspräsident Dr. Klang, klagte schon vor mehreren Jahren, der Nationalrat, das österreichische Parlament, werde nicht mehr als Träger der gesetzgebenden Gewalt, sondern als Vollzugsorgan der Interessenvertretungen angesehen. Werde dieser Weg weiter verfolgt, so trete an die Stelle der verfassungsmäßigen Demokratie eine Oligarchie der Kammer-, Gewerkschafts- und Parteisekretariate 3. Und die „Neue 1

FAZ vom 31. Januar 1952. Equivoques pacifistes et objection de conscience, in: Guerre et Paix, De la coexistence des blocs à une communité internationale, Semaines sociales de France, X I Session/Pau 1953 S. 265 ff./272 f. 3 Wiener Zeitung vom 7. Dezember 1951. 2

V I . Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie

Zürcher Zeitung" hat im Sommer 1954 in einer Serie von Artikeln aus verschiedenen Lagern ein Bild von dem Einfluß der Interessenverbände in der Schweiz entwickelt, das unsere Vorstellungen von der demokratischen Ursprünglichkeit der schweizerischen Verfassungszustände für die Gegenwart zu einigen Korrekturen zwingt. Über Arten und Wirkungsweise der Verbände in der Bundesrepublik ist in wenigen Jahren ein noch weiter rasch anwachsendes Schrifttum entstanden4. Die starke Wirksamkeit von Gruppeneinflüssen im deutschen Staatswesen charakterisiert Theodor Eschenburg in seiner Schrift „Herrschaft der Verbände?" (S. 87) mit der Feststellung: „Heute tendieren wir zu einem Zustand, der mehr einem Bund der vereinigten Verbände, Kirchen, Kreis- und Stadtrepubliken nahekommt, einem Gruppenbund als einem Bundesstaat." Interessant und gewiß nicht zufällig ist es, daß das Problem in den letzten Jahren gerade im Sinne einer Rivalität zwischen den politischen Parteien auf der einen und den Interessentenverbänden auf der anderen Seite sichtbar geworden ist. Denn die Parteien sind zwar nicht der Staat selbst, so doch in besonderer Nähe zu seiner Apparatur; sie haben die Klinke der Gesetzgebung und der Regierungsfunktionen in der Hand und müssen daher den Druck der Interessengruppen auf die Stellen politischen Einflusses am ehesten spüren. Dieser Druck ist, wenigstens im Zentralparlament (bei uns im Bundestag), wo die maßgebenden politischen, insbesondere wirtschaftspolitischen Entscheidungen anstehen, offenbar recht stark. Die Interessenorganisationen sind robuster und konstanter als die politischen Parteien, straffer organisiert und entschiedener in der Verfolgung ihrer jeweils begrenzten Ziele. Sie können Schwerpunkte des Vorgehens bilden und brauchen sich nur bis zu einem gewissen Grade des Wohlwollens der Öffentlichkeit zu versichern, weil sie die Publizität meiden können. Sie be4 Zu nennen sind vor allem: Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände? (1955); Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen (1956); Rupert Breitling, Die Verbände in der Bundesrepublik (1955); Ulrich Scheuner, Der Staat und die intermediären Kräfte, Zeitschr. f. evang. Ethik 1957, S. 30 ff.; Herbert Krüger, Die Stellung der Interessen verbände in der VerfassungsWirklichkeit, NJW 1956, S. 1217 ff.; Der Staat und die Verbände, herausg. von Beutler, Stein und Wagner (1957). Vgl. ferner oben S. 44 ff. Offene Kritik hat auch August Dresbadi in verschiedenen Leitartikeln beigesteuert, insbesondere in dem Aufsatz „Die Verbände und die Demokratie", Süddeutsche Zeitung vom 30./31. Oktober 1954. Zur politischen Situation der Kirchen im Staatssystem der Gegenwart Werner Weber und Hans Peters, Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, Veröffentl. d. Vereinigung d. Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 11 (1954), S. 153 ff., 177 ff.

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VI. Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie

drängen die politischen Parteien mit ihren Forderungen, soweit sie deren Erfüllung von Parlament und Regierung erwarten. Sie präsentieren den Parteien ihre Vertrauensleute als Kandidaten für die Abgeordnetenmandate. Sie treiben für ihren Bereich eine personalpolitische Auslese und Elitebildung, die der der Parteien überlegen ist, und pflegen eine spezialisierte Fachkunde, die von den Parteien nicht erreicht werden kann. Sie stehen hinter den Parteien als patronisierende Macht, auf sie angewiesen zwar, weil die Positionen in Gesetzgebung und Regierung von den Parteien kontrolliert werden, aber gerade deswegen willens, Einfluß auf die ihnen gemäßen Parteien zu gewinnen und zu behaupten. So fühlen die Parteien sich durch die Interessengruppen teils hart bedrängt, teils ausmanövriert oder überrundet. Nächst den Parteien und den aus ihrem Kreise stammenden Ministern spürt das Beamtentum, vor allem in der Ministerialbürokratie und in den sonstigen leitenden Positionen, den Druck der massierten und organisierten Interessen, der sich auf das beamtenpolitische Schicksal wie auf das Handeln der Beamten gleichermaßen auswirkt; man hört darüber manche resignierte Klage. Der Bereich der Gerichte dagegen scheint nodi unangefochten zu sein. Mit den vielen Parteigutachten, mit denen die Interessengruppen auf sie Einfluß zu nehmen suchen, werden die Gerichte wohl noch fertig. Immerhin ist zu bedenken, daß ganze Gruppen von Gerichten durch Ausstattung mit Interessentenbeisitzern einen neuartigen Charakter empfangen und daß die staatliche Gerichtsbarkeit durch ein vereinbartes Schiedsgerichtswesen weithin zurückgedrängt wird.

IL Zu wem sich die Waage unserer Sympathien neigen soll, ist nicht mit einem Wort zu beantworten. In der Unerbittlichkeit des Existenzkampfes, der das Feld des politischen Lebens beherrscht, sind Sentimentalitäten nicht am Platze. Wenn deshalb die Parteien feststellen sollten, daß die „außerparlamentarischen Kräfte", wie Dehler sie nennt, stärker werden als sie selbst, so braucht das nicht gegen die Interessengruppen zu sprechen. Man kann darin auch ein Zeichen dafür sehen, daß die Parteien zu schwach geworden sind, sich in ihrer geschichtlichen Rolle zu behaupten. . Es ist auch nicht so, daß die Gruppen und Organisationen des gesellschaftlichen Lebens den Parteien immer nur als lästige und for-

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dernde Pressure groups und als Rivalen gegenüberträten. Oft genug werden sie von den Parteien als potente Freunde angerufen, damit sie der Schwäche der Parteien aufhelfen, in ihrer parlamentarischen Position und außerhalb. Zwischen den Parteien und den Interessenorganisationen gibt es viele Bündnisse, Kartelle, Gruppenbildungen, oder wie man das nennen will. Und wenn innerhalb dieser Kartellbildungen der eine Partner den anderen mehr bedrängt, als diesem erträglich erscheint, so mag das zunächst als ein interner Vorgang innerhalb jener Bündnisse und Kartelle betrachtet werden, der die Unbeteiligten gleichgültig läßt. Der Klage der Parteien über den Druck der Interessengruppen wäre weiter entgegenzuhalten, daß die Parteien selbst in den Gesetzen, die aus ihrer parlamentarischen Arbeit hervorgegangen sind, den Gruppenmächten einen wesentlichen Teil ihrer Machtpositionen erst zugewiesen haben. Wo immer unsere neuen Gesetze sich der Neugestaltung der öffentlichen Ordnung zuwenden, von der Sozialversicherung über die Investitionshilfe, die Wirtschaftslenkungsorgane, die Arbeitsverwaltung, die Mitbestimmung, die Personalvertretungen, die Rundfunkträger usw. bis hin zur Bundesbahn und Post — überall räumen sie den Interessengruppen und ihren Exponenten Stück für Stück der öffentlichen Verwaltungs- und Wirtschaftsordnung zu Mitbesitz ein. Es ist auch kein Widerspruch laut geworden, als die Sozialpartner vereinbart haben, ihre das ganze Volk berührenden Auseinandersetzungen selbst auszutragen und dabei den „Staat" beton termaßen auszuschließen. Dazu erhebt sich die Frage, ob die Parteien ihrer Substanz und Struktur nach eine höhere Legitimität aufzubieten haben als die außerparlamentarischen Einflußgruppen, von denen wir hier sprechen. Anders ausgedrückt: Können sie behaupten, daß auf ihrer Seite der Staat oder das Volk ständen, während bei ihren Konkurrenten das nackte Interesse und der Gruppenegoismus herrsche? So eindeutig sind Licht und Schatten sicher nicht verteilt. Denn auch die Interessengruppen und erst recht politisch-soziale Einflußmächte vom Range etwa der Gewerkschaften und der Kirchen werden für sich in Anspruch nehmen, ihrerseits einer öffentlichen Verantwortung verpflichtet zu sein. Die politischen Parteien andererseits sind nicht mehr wie noch bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik hinein das Volk selbst. Auch sie stellen organisatorische Apparaturen dar, die von einer oligarchischen Hierarchie bedient werden. Hier steht also Oli-

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garchie gegen Oligarchie und nicht Volk gegen Interessenverband. Ihnen gemeinsam hat ein unverdächtiger Zeuge, Alfred Weber, Anfang Oktober 1954 auf der Hamburger Tagung der Vereinigung der Wissenschaft von der Politik zugerufen, daß unser demokratisches System „ent-oligarchisiert" werden müsse5.

III. Aber es geht hier im Kern nicht um das Verhältnis der Parteien und der außerparlamentarischen Mächte zueinander, sondern um beider Beziehung zum Staat. So hat es auch Dehler in der erwähnten Rundfunkrede gemeint: er dachte freilich nur an das Verhältnis der Interessengruppen zum Staat, weil er meinte, davon ausgehen zu können, daß die Parteien ohnehin ständig genötigt sind, sich vor der Öffentlichkeit am Gemeinwohl zu legitimieren. Der Berner Professor Hans Huber hat in der „Neuen Zürcher Zeitung" den politischen Aufstieg der Interessenverbände mit der „Verwirtschaftlichung der Politik" in Verbindung gebracht. Er versteht darunter die seit dem 1. Weltkrieg sichtbar gewordene „Wirklichkeit der ungeheuer vermehrten Staatsaufgaben und der intensivierten Staatsfunktion, des in weitem Umfang Daseinsvorsorge treibenden Staates, des Staatsinterventionismus, des Staates als gigantischer Ausgleichskasse, der zunehmenden Kollektivierung und Entpersönlichung menschlichen Lebens". Die Verbände, so meint er, seien selber Bestandteil zunehmender Kollektivierung menschlicher Beziehungen. Diese Beobachtung ist sicher richtig. In einer Betrachtung, die im Sommer 1955 die „Zeit" (Nr. 27 vom 7. Juli 1955) zu unserem Problem angestellt hat, werden als Gründe für den politischen Aufstieg der Verbände in unserem Staatswesen folgende Momente angeführt: 1. Die Verlorenheit des Individuums in der modernen Gesellschaft und seine daraus resultierende Anlehnungsbedürftigkeit an eine Organisation. 2. Der Interventionismus des Staates, der die organisierten Interessen in dem Sinne auf den Plan rufe, daß sie sich ihren Einfluß auf die Maßnahmen dieses Interventionismus verschaffen müßten. 3. Unübersichtlichkeit und Spezialisierung vor allem der wirtschaftlichen Lebensvorgänge, der die am Wirtschaftsprozeß Beteilig5 Nach dem Bericht von Christoph Wolff 4. Oktober 1954.

in „Die Welt" Nr. 230 vom

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ten nötige, sich zur Selbstbehauptung der Hilfe einer hochspezialisierten Verbandsbürokratie zu versichern. Unzweifelhaft sind das wichtige Gesichtspunkte; aber es sind nicht die einzigen. Die Gesamtheit der Erscheinungen, die wir als die des Sozialstaats oder Wohlfahrtsstaates auf der einen, vor allem aber als die der Massendemokratie auf der anderen Seite etikettieren, liefern den Grund für das Emporwachsen der sogenannten „Verbandsdemokratie", ebenso wie für das der „Parteiendemokratie".

IV. Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat, Staat der Daseinsvorsorge — das sind gleichbedeutende Bezeichnungen für ein und dasselbe Phänomen, nämlich für die Umprägung des politischen Gemeinwesens von einem Träger hoheitlichen Waltens zu einer gigantischen Ausgleichs-, Verteilungs-, Betreuungs-, Fürsorge- und Versorgungsapparatur. Die Gründe für diesen Vorgang sind bekannt. Sie liegen in der technischen Entwicklung, der Massierung der Bevölkerung, in innenund außenpolitischen Spannungen, in der Notwendigkeit, dem menschlichen Bedürfnis nach Lebenssicherheit statt wie einst durch Besitz und Einbeziehung in patriarchalische Ordnungen jetzt durch staatliche Vorsorge zu genügen, ferner in der Verantwortung für eine gerechte und menschenwürdige Sozialordnung. Diese Einsichten und Kräfte haben den Staat, wie vor allem Ernst Forsthoff oftmals gezeigt hat, längst vom bloß polizeilichen Wächter des laissez faire, vom Hüter der öffentlichen Ordnung und vom Träger der Gerichtshoheit zum „Leistungsträger" werden lassen, dem tätige Daseinsvorsorge für das Volk als Aufgabe gestellt ist. Man darf sich durch die wirtschaftlichen Reliberalisierungen der letzten Jahre nicht über die Bedeutung dieses Vorgangs täuschen lassen. Das Wesen des modernen Staates als eines Sozialstaates erfährt dadurch keine Einschränkung. Bis in die elementarsten Lebens Voraussetzungen hinein, die tägliche Lieferung von Wasser, Strom und Gas, die hygienischen Einrichtungen in den Städten und die Bereitstellung von Nachrichten- und Verkehrseinrichtungen, sind wir von den Leistungen der Verwaltung in einer extremen Weise abhängig. So wie sie uns in der Zivilisationsgebundenheit das Dasein überhaupt erst ermöglicht, „versorgt" sie uns durch die Leistungen des Rundfunks mit den uns zuträglichen Informationen, Meinungen und kulturellen Verbrauchsgütern. Sie stellt uns ferner

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Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie

Schulen, Hochschulen, Bibliotheken, Museen und Theater zur "VerfiU gung. Sie hält uns Kliniken und Heilstätten bereit. Sie sorgt, wo sie knapp oder zu teuer werden, für Beschaffung und Lenkung der benötigten industriellen Grundstoffe und der Ernährungsgüter. Sie ermöglicht und lenkt gewerbliches Schaffen durch Kredite, Präferenzen und Subventionen. Von ihr erwarten wir, daß sie dem Wohnungssuchenden ein Obdach, dem Arbeitslosen Arbeit zuteilt und ihn unterstützt. Sozialversicherung, Fürsorge und Versorgung sichern in ihrem weitgespannten Ausbau Leben und Gesundheit der Schwachen; Landesplanung, Wasserwirtschaft, Forst- und Bodenkultur suchen das Gleichgewicht der überforderten Landschaft des industrialisierten Massenstaates zu halten. So ließe sich die Aufzählung noch weiter fortsetzen. Den Anforderungen, die hierin beschlossen liegen, kann sich der moderne Staat nicht entziehen. Sie bilden eine Nötigung, die jeden Staat der Gegenwart zu einer großen Leistungs-, Ausgleichs- und Fürsorgegemeinschaft macht. Es gibt da, je nach der Gunst der Lage der einzelnen Gemeinwesen, noch Gradunterschiede, aber kein echtes Draußenbleiben. Der moderne Staat ist in dem geschilderten Sinne notwendigerweise Sozialstaat: Es wird von ihm erwartet, daß er für die gleichheitliche Lebenssicherheit aller einsteht. Das hat allerdings für die ganze Substanz des politischen Gemeinwesens weittragende Folgen. Der Sozialstaatscharakter mit seiner Tendenz zur Verplanung des Lebens nähert auch die Staatenwelt des Westens an die totalitären Regime an, in denen dieses Prinzip bis zur letzten Konsequenz entwickelt ist. Der Sozialstaat ist seiner Tendenz nach exekutivischer Staat, Verwaltungsstaat. Seine Haupttätigkeit konzentriert sich auf konkrete Gestaltungen und Dispositionen. Er ist dem liberalen Staatsverständnis entschieden entgegengesetzt. Für die Freiheit der Lebensentfaltung und Lebensverantwortung, die die Grundrechte sichern wollen, läßt er wenig Raum. Er ist ebensosehr Folge der Vermassung und Entpersönlichung, wie er sie weitertreibt. Er zwingt die einzelnen in Abhängigkeiten von Machthabern und Gruppenkollektiven der verschiedensten Art. Die Gewaltenteilung wird von ihm unmittelbar in Frage gestellt. Die entscheidenden Staatsfunktionen häufen sich bei ihm so sehr in der Exekutive an, daß das Gleichgewicht der überlieferten Gewaltenteilung verlorengeht. Gerade weil der Sozialstaat Verwaltungsstaat i§t, konzentriert sich alles politische Interesse im

VI. Kräftesystem in der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie

exekutivischen Bereich. Deshalb nehmen die Gesetze, die in dieser Lage ohnehin nur noch das Produkt von Interessentenkompromissen darstellen, den Charakter verwaltender Detaildispositionen an. Deshalb suchen die politischen Einflußgruppen, vornehmlich die Parteien und Interessengruppen, von den Parlamenten aus, durch Ämterpatronage, in den Kommunen, den öffentlichen Körperschaften und Anstalten so nachhaltig die Verfügung über die Exekutive zu gewinnen. Der soziale Verwaltungsstaat mit seinem inneren Zwang zur Totalität ist nicht darauf angelegt, sich mit der Lebenswelt individueller Daseinsverantwortung und gewaltenteilender Machtaufhebung versöhnlich zu verbinden. Nicht weniger stark sind die Auswirkungen des Sozialstaatscharakters auf die politische Herrschaftsstruktur, in specie also auf die Demokratie. Die Abhängigkeit der einzelnen von dem Versorgungs-, Ausgleichs- und Betreuungsapparat des Staates ist extrem geworden. Mit Hilfe dieser Abhängigkeit stellen sich allenthalben auch politische Abhängigkeitsverhältnisse her. Die Herrschaftsmethoden der totalitären Regime legen dafür das klarste Zeugnis ab. Es liegt in der sozialstaatlichen Struktur des politischen Gemeinwesens beschlossen, daß über die Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensvorgänge der organisierte politische Wille maßgeblich bestimmt. Schon im Ansatz bescheidene Maßnahmen der Kredit- und Diskontpolitik, der Preispolitik und der Einfuhrregelung, der Verkehrstarifund der Steuerpolitik können eine Kettenreaktion nachhaltiger wirtschaftlicher Auswirkungen auf die Existenz breiter Schichten hervorrufen. Jede registrierte Steigerung des Sozialprodukts löst die Forderung nach Maßnahmen aus, das erzielte Mehr alsbald an die verschiedensten Prätendenten zu verteilen. Man hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, daß sich das moderne politische Gemeinwesen zu einem Verteilungsstaat entwickelt habe (Ernst Forsthoff). In alledem liegt eine außerordentliche Anreicherung der politischen Macht, was wiederum zur Folge hat, daß der Kampf um die politischen Schlüsselpositionen an Schärfe zunimmt und das nackte Streben nach Macht und politischem Einfluß ohne Hemmung um sich greift. In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, daß der Aufstieg der Interessengruppen zu einem demokratisch illegitimen und dennoch höchst real vorhandenen politischen Machtbesitz durch die Sozialstaatlichkeit des Gemeinwesens hervorgerufen wird. Wenn der einzelne in seiner Lebensgestaltung nicht mehr auf sich steht, sondern darauf verwiesen ist, seine Existenz durch Eingliederung in ein Gruppenkollek9 Weber

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tiv zu sichern, und wenn die Menschen in ihrer Gruppenexistenz als Bergarbeiter, Metallarbeiter, Einzelhändler, Güterkraftverkehrsunternehmer, Landwirte, Industrielle, Versorgungsberechtigte u. s. f. zugleich von den Manipulationen des Staatsmechanismus abhängig sind, dann verlangen sie notwendig von der Führungsschicht ihrer Gruppe, daß sie auf jene Manipulationen des Staatsmechanismus in ihrem Sinne Einfluß nimmt. Dann werden aber die Interessentenkollektive stärker als anders strukturierte politische Einflußgruppen, etwa die Parteien, es sei denn, daß diese selbst den Charakter von Interessentenvertretungen annehmen. Jeder muß hier zusehen, daß er sich seinen Platz in der Versorgungs- und Fürsorgeapparatur des politischen Gemeinwesens verschafft und daß er ihn behält. Vielleicht gelingt es ihm, als Berufspolitiker, als Beamter oder sonst im öffentlichen Dienst selbst Funktionär dieses Apparates zu werden und in der Daseinsnotwendigkeit des Apparates auch seine eigene Existenzsicherung zu finden. Die Masse der Bevölkerung wird auf den Arbeitsplatz als unselbständiger Arbeitnehmer der sogenannten freien Wirtschaft verwiesen sein. Sie erwartet vom Wohlfahrtsstaat, daß er für die Sicherheit des Arbeitsplatzes, für angemessene Entlohnung und erträgliche Preise, also für den beanspruchten Anteil am Sozialprodukt, sorgt und für die Wechselfälle bei Verlust der Berufstätigkeit, im Alter und bei Krankheit Hilfen vorsieht. Der Anschluß an das machtvolle Kollektiv der Arbeitnehmerorganisation wird dafür Gewähr bieten, daß der Wohlfahrtsstaat sich dieser Aufgabe nicht entzieht. Der selbständige Unternehmer in Landwirtschaft, Handel und Gewerbe findet seine Interessenorganisation vor, die durch Massierung und politische Aktivierung der jeweils gleichgerichteten Interessen die notwendigen Subventionen, Steuervorteile, Preisstützen, öffentlichen Aufträge, Tariferleichterungen, Genehmigungen usw. verschafft. Die Zahl der Individuen, die sich ohne Eingliederung in die sozialstaatliche Apparatur oder die Unterordnung unter ein Interessenkollektiv, jedenfalls aber ohne Begründung von Abhängigkeiten und Bindungen aus eigenem behaupten können, ist gering geworden. Selbst der „freie Bauer auf freier Scholle" wird heute immer mehr zu einer illusionären Figur. Wenn er es nicht verstände, mit Hilfe seiner sehr machtvollen Verbandsorganisation durch Manipulationen der Wirtschaftspolitik Schutz für eine auskömmliche Existenz zu finden, würde er in der industriellen Gesellschaft leicht aufgerieben werden. Man darf das als Faktum nicht übersehen. Man darf es deshalb auch nicht anstößig finden, daß

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für die Masse aller Menschen nicht mehr die Freiheit der Betätigung, sondern der Konformismus das Prinzip abgibt, nach dem sie sich ihr Leben einrichten.

V. Die massendemokratische Komponente des modernen Staatswesens unterstützt und ergänzt diese Entwicklung. Die Lebenswirklichkeit der Massendemokratie unserer Tage ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß ihr nichts mehr an überlieferter Staatlichkeit eignet, daß sie keine institutionelle Obrigkeit mehr aufweist und auch nicht mehr eine aus der Tradition lebende Statthalterschaft einer solchen Obrigkeit, von der man in den Jahren der Weimarer Republik vielleicht noch sprechen konnte. Sie hat nur noch denUrstoff Volk oder Bevölkerung. Von diesem Stoff als „Masse" zu reden, ist nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil es sich hier um Flächenstaaten mit einer quantitativ massenhaften Bevölkerung handelt; wesentlicher ist, daß diese Bevölkerung sozial, wirtschaftlich, kulturell und nicht zuletzt hinsichtlich des politischen Status des einzelnen eingeebnet ist. Sie hat außer der Familie keine gewachsenen Ordnungen mehr, keine als solche anerkannten führenden Schichten, keine in ihren eigenen Lebensformen begründete politische Elitebildung. Ebensowenig wie sich ihr Reste traditioneller Obrigkeit als Halt anbieten, hat sie Ansätze zur Bildung einer Obrigkeit in sich selbst. Dieses Massen-Volk kann von sich aus — anders als der Dritte Stand des 19. Jahrhunderts, der eine führende Schicht des gebildeten und besitzenden Großbürgertums verkörperte und sich außerdem einer vorhandenen Obrigkeit gegenüber sah — keinen artikulierten politischen Willen äußern; es kann nur auf das politische Handeln anderer reagieren, durch Bildung öffentlicher Meinung und — potentiell — auch durch Massenreaktionen massiverer Art. Aber wenn dieses Volk in einem Staat lebt, ist Herrschafts- und Machtausübung unvermeidlich und bieten sich sofort die politischen Einflußpositionen verlockend an. Denn der Staat stirbt nicht ab; er hält die Möglichkeiten der Herrschaft stets bereit. Das Volk als ganzes kann nicht in sie eintreten; aber es finden sich alsbald andere, die dies für das Volk tun, die in das massendemokratische Autoritätsvakuum mit machtpolitischer Landnahme eindringen. Es bilden sich oligarchische, d. h. von engen Führungsschichten beherrschte Einfluß- und Führungstruppen, die um den politischen Machtbesitz konkurrieren. An erster Stelle treffen wir β*

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hier die politischen Parteien, die sich unter den Bedingungen der Massendemokratie längst aus lockeren Gruppierungen des Volkes gegen das monarchische Herrschaftssystem des 19. Jahrhunderts in fest geschlossene Apparaturen und Aktionsgemeinschaften verwandelt haben, bereit und entschlossen, sich ihren Anteil an den Einflußpositionen des Staates nicht entgehen zu lassen und selbst ins staatliche Regiment zu treten. Aber ihnen reihen sich mit ähnlichem Anspruch auf Teilhabe an politischem Einfluß und an Macht zahlreiche weitere Organisationen oligarchischen Charakters an: die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die weitverästelten Wirtschaftsverbände, berufsständische Organisationen sowie Blöcke von wirtschaftlichen Interessenten und weltanschaulich Verbundenen der verschiedensten Art. Daß auch die Kirchen, ob sie wollen oder nicht — aber sie wollen es sogar —, in solcher Lage zu Potenzen hohen politischen Ranges aufsteigen, ist bei Institutionen von derartiger Festigkeit und universeller Interessennahme nicht verwunderlich und neben den übrigen Machtprätendenten sogar legitim. In einem Prozeß, dessen Einzelheiten hier nicht ausgebreitet werden können, erhebt sich so über dem Volk der Massendemokratie ein System von Organisationen, jede oligarchischer Struktur, d.h. auf die Herrschaft geschlossener Führungskreise begrenzt, die sämtliche Macht- und Einflußpositionen eingenommen haben und darin konkurrieren und rivalisieren. Man hat diesen Zustand als den eines Pluralismus der Machtkomplexe6 oder der Oligarchien bezeichnet, man hat von ihm aus Vergleiche zum ständestaatlichen System des ausgehenden Mittelalters gezogen; für ihn ist charakteristisch eine außerordentliche Labilität, und seine notwendige Folge ist die durch Auffaserung und Gegensätzlichkeiten bedingte Schwäche des politischen Gemeinwesens nach innen und außen, so sehr auch Macht- und Einflußstreben in ihm forciert sind. Keine der beteiligten Machtgruppierungen kann für sich in Anspruch nehmen, staatliche Obrigkeit zu sein. Eine solche Obrigkeit ist aber auch außerhalb ihrer selbst nicht vorhanden, vor allem auch nicht in Parlament und Regierung, weil diese nicht eigenständige Potenzen, sondern nur Stätten der Entfaltung jener verschiedenen Teilmächte darstellen. Beim Volke der Massendemokratie andererseits sehen wir als Gegenstück jener Entwicklung das Umsichgreifen politischer Teilnahmslosigkeit und nationaler Gleichgültigkeit. 6 So/ früh schon Carl Sdimitt, 73 ff., 141 ff.

Der Hüter der Verfassung (1931) S. 60 ff.,

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Denn es ist durch die oligarchische Selbstgenügsamkeit der erwähnten politischen Machtorganisationen mediatisiert, von der unmittelbaren Einbeziehung in das politische Geschehen abgeschüttet, und von einer staatlichen Obrigkeit, die für das Ganze steht, wird es nicht angesprochen, weil sie nicht existiert. In dieser Lage der Massendemokratie hat der einzelne nur eine sehr bemessene politische und individuelle Freiheit. Das wird dadurch belegt, daß das lebhafte Gewoge öffentlicher Meinungsauseinandersetzungen über das ganze 19. Jahrhundert hinweg bis zum Ende der Weimarer Republik mit dem vielfältigen Hervortreten profilierter Einzelpersönlichkeiten einem wohlberechneten, ziemlich eintönigen Schachspiel von Kollektivmeinungen den Platz eingeräumt hat. Die CDU, die SPD, die FDP usw., die Gewerkschaften, Unternehmerverbände, die Kirchen und Interessentengruppen, sie geben im Stile diplomatischer Kommuniques wohldosiert und kanalisiert ihre Erklärungen zu den Problemen der Zeit ab. Damit ist es genug. Wo sich ein einzelner in Presse, Rundfunk, in Kundgebungen und Versammlungen oder wo immer zu Worte meldet, kann man in aller Regel sicher sein, daß er nur das Sprachrohr einer dieser Kollektivmeinungen ist oder daß er, wenn er abweicht, dementiert und zurückgerufen wird. Die Ursache hierfür darf man nicht in einer Änderung der psychophysischen Substanz der Menschen, in einem allgemeinen Persönlichkeitsverlust suchen; sie liegt in der politisch-sozialen Gesamtstruktur. Die politisch relevanten Gruppenmächte unserer Zeit haben sich auf der Grundlage gegenseitig arrangiert, daß sie, nach Quoten und Sachbereichen untereinander abgeschichtet, die Verfügung über die öffentliche Meinung und über die Einflußmöglichkeiten der wohlfahrtsstaatlichen Apparatur monopolisieren. Der einzelne kann sich noch in den Zwischenräumen zwischen den Gruppen ansiedeln, muß dann aber auf eine eigenständige aktive Teilnahme am öffentlichen Leben verzichten und sich in den unauffälligen Formen einer privaten Durchschnittsexistenz einrichten. Ganz verschont ihn der Einfluß der Gruppenmächte aber auch hier nicht. Sie bieten sich ihm als Patron an für die Sicherung seiner Existenz. Wer als Beamter höher aufsteigen, als Arbeitnehmer in einer Krisenlage Schutz finden, als Unternehmer zu öffentlichen Aufträgen gelangen, als Entrechteter wieder Rechte erwerben will, muß sich an solche Patrone anlehnen. Die bloße Zurückhaltung im Getriebe der Gruppenmächte, die reine Neutralität ihnen gegenüber allein genügt also für den Anspruchsvolleren nicht. Er muß

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sich einer von ihnen, der gerade für ihn passenden, als Gefolgsmann verschreiben oder wenigstens den Anschein wecken und aufrechterhalten, als ob er sich zu ihr bekenne. Er tut allerdings gut daran, das nicht zu auffällig zu machen; denn er weiß nicht, ob es seinem Fortkommen nützlich ist, sich allzu fest auf einen Patron feistzulegen und sich den Ubergang auf einen anderen abzuschneiden. Das ergibt, vor allem für das Verhältnis des einzelnen zu den politischen Parteien, eine Mischung von Konformismus und Zurückhaltung, die dem oberflächlichen Betrachter das Bild verbreiteter Gleichgültigkeit und beinahe der Charakterlosigkeit vorspiegelt und doch nichts weiter bedeutet als selbstverständliches Sich-Einrichten in den gegebenen Verhältnissen. Wen es anderseits dazu drängt, im öffentlichen Leben tätig vorzudringen und dort eine Rolle zu erhalten, der wird zwar auf die eben beschriebene unanstößige Zurückgezogenheit verzichten müssen. Er wird aber als einzelner nur unter Berufung auf die freiheitliche Kraft seiner Persönlichkeit nicht weit kommen. Er muß vielmehr alsbald den Anschluß an eine der Aktionsgemeinschaften, mögen sie Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Interessengruppen oder wie auch immer heißen, suchen und in ihrem Kollektiv aufgehen. Er wird die einschmelzende und entpersönlichende Kraft der Einflußgruppe, für die er optiert hat, dann bald spüren. Für einen Politiker ohne die Hausmacht einer Partei oder einer anderen Einflußgruppe besteht heute keine Wirkungsmöglichkeit. Aber es darf hier kein Mißverständnis entstehen. Die geschilderte Lage enthält in jedem Falle noch weit mehr an Freiheitssubstanz, als im totalitären Regime bewahrt bleibt. Solange die Massendemokratie noch einen Pluralismus der Machtkomplexe aufweist und solange nicht eine der rivalisierenden Teilmächte, ihre Konkurrenten überwindend, sich den alleinigen Machtbesitz verschafft hat, stellt sich hier der Schwebezustand einer Gewaltenbalance her, der der Verdichtung der Machtmöglichkeiten zugunsten der individuellen Freiheit Grenzen setzt. In diesem Stadium bleiben auch die erwähnten Zwischenräume erhalten, in denen der einzelne ein Asyl des Ungestörtseins finden kann, während das totalitäre Regime ihn auch in den Winkeln der Zurückgezogenheit aufspürt und ihn mit seinen politischen Bindungen überzieht. Vor allem hat der einzelne gegenüber einer Mehrheit von Gruppenmächten noch bis zu einem gewissen Grade die Chance, den Patron zu wechseln und vom Schutzverhältnis der einen Partei oder Interessengruppe in das einer anderen überzugehen. Das Grund-

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redit der negativen Koalitionsfreiheit (entwickelt aus Art. 9 Abs. 3 GG) und das oft kritisierte Festhalten am Grundsatz des freien Mandats (Art. 38 GG) sind beispielhafte Positionen für die Offenhaltung dieses Patronswechsels. Jede Organisation anderseits, die die Verfolgung vitaler wirtschaftlicher oder weltanschaulicher Interessen ihrer Mitglieder mit Zwangsmitgliedschaft verbindet, bedeutet hier eine Gefahr. Solange der Wechsel des Patrons möglich ist, findet der latente Totalitätsanspruch, den jede der Gruppenmächte gegenüber ihrer Gefolgschaft erhebt, eine natürliche Grenze.

VI. Das ist allerdings nur ein schwacher Trost, und die Lage, die sich aus dem Dargestellten ergibt, ist doch wohl alles andere als glücklich oder auch nur erträglich. Der soziologische Tatbestand der Massendemokratie und des Sozialstaates freilich kann nicht ohne weiteres weggewischt oder umgebildet werden. Auch ist gegen Gruppierungen nach Interessen und gegen die Geltendmachung von Gruppeninteressen an sich nichts zu sagen. Man kann nur feststellen, daß sich aus dem ungezügelten Rivalisieren der Macht- und Interessengruppen, soweit deren Einfluß unmittelbar bis in die Staatsapparatur vordringt, kein Staat aufbauen läßt. So viel demokratisches Selbst- und Staatsbewufitsein ist auch im deutschen Volke noch vorhanden, daß es die Integration seines politischen Gemeinwesens in der unkontrollierbaren Konkurrenz von Interessentenblöcken nicht als erfüllt ansieht und dann lieber für die politischen Parteien optiert, ohne damit freilich das Problem gelöst zu sehen. Was also ist zu tun? Es gibt mehrere Wege. Den kürzesten sind die totalitären Regime gegangen, in denen eine der rivalisierenden Gruppen sich den Alleinbesitz der politischen Macht verschafft und alle anderen Konkurrenten, die übrigen Parteien ebenso wie die Interessentenschaften entmachtet, vernichtet oder sich unterworfen hat. Die Konsequenzen dieses Vorgehens sind zur Genüge bekannt. Einen anderen, weitaus bescheideneren Ausweg finden wir in dem Versuch bezeichnet, die Interessentenblöcke durch Aufnahme etwa in einen Bundeswirtschaftsrat öffentlich an der Verantwortung für das Staatsganze zu beteiligen und ihren politischen Einfluß dadurch zu institutionalisieren und zu begrenzen7. Das wäre jedoch eine Domestizierung 7

Über Versuche, die nach dieser Richtung im Ausland unternommen

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am untauglichen Objekt und mit unzulänglichen Mitteln. Wenn wir mit dem Berner Professor Hans Huber „im Aufkommen des modernen Verbandswesens eine säkulare, soziale und politische Entwicklung von größter Tragweite" sehen müssen, dann ist diese Problematik nicht damit abgetan, daß man die großen Interessenformationen mit ein wenig legalisierter nebengeordneter Mitwirkung bei einigen Gesetz gebungs- und Regierungsmaßnahmen abspeist. Sie werden das eine nehmen und von dem anderen nichts aufgeben. Es wird sich also nichts ändern. Auch das Ende 1954 von dem damaligen Bundesfinanzminister Schäffer beiläufig vorgetragene Projekt, die Finanzierung der politischen Parteien auf den Staatshaushalt zu übernehmen, damit die Parteien von den Einflüssen der Interessenverbände frei würden und der Staatshaushalt durch den Wegfall der Pressionen der Interessengruppen auf das Parlament eine Entlastung erführe 8, bietet doch wohl kaum eine durchschlagende Lösung. Man muß vielmehr das Ganze des Staatswesens im Auge haben. Man wird dabei auf der einen Seite bei den Exaltierungen des Wohlfahrtsstaates ansetzen müssen. Gewiß dürfen die Zwangsläufigkeiten des Sozialstaats, wie sie vorhin geschildert wurden, nicht übersehen werden. Die Rückkehr zu einem klassischen Liberalismus bedeutet für uns keine reale Chance. Aber es wäre falsch, aus der Not des Sozialstaates eine Tugend und ihn selbst dadurch sozusagen unwiderstehlich zu machen. Da die Segnungen des Sozialstaats von den breiten Massen in vordergründiger Verkennung der Konsequenzen gern aufgenommen werden, wetteifern die Interessengruppen darin, ihre ständige Erweiterung zu fordern, und die politischen Machthaber beeilen sich, ihren Einfluß, ihren guten Willen und ihre Unentbehrlichkeit durch die Erfüllung dieser Forderungen zu beweisen. Weit erblick ende politische Verantwortung muß sich dieser Entwicklung entgegenstemmen, weil nicht viel Phantasie dazu gehört, mit ihrem Fortschreiten die innere Verarmung des Lebens, die Vollendung der Vermassung und die totale Abhängigkeit in einer planwirtschaftlichen Arbeitsund Versorgungsapparatur herannahen zu sehen. Nach der massendemokratischen Seite unseres Staatswesens können hier nur wenige thesenhafte Andeutungen gemacht werden: Es handelt sich nicht darum, Parteien, Gewerkschaften, Interessentenworden sind, vgl. den Bericht von Karl Josef Uthmann in der schon zitierten Schrift „Der Staat und die Verbände" (1957) S. 56 ff. 8 FAZ Nr. 261 vom 9. November 1954.

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blocke, pressure groups usw. zu bekämpfen und ihrer Funktionen, dort wo sie legitim sind, zu entheben. Auch soll der vergebliche Versuch, sie durch irgendwelche Konstruktionen in den Staat „hineinzuintegrieren", nicht empfohlen werden. Es muß vielmehr daran angesetzt werden, dem Staat wieder mehr Autorität und institutionelle Festigkeit zu geben, um dadurch im Reflex die rivalisierenden Machthaber unserer Zeit, die sämtlich den Zugriff auf den staatlichen Machtapparat suchen, wieder auf ihre gliedhafte und dienende Rolle zu verweisen, auf diejenige Rolle, in der ihre dynamische Kraft fruchtbar sein kann. Die Aufgabe, wieder staatliche Autorität zu begründen, ist unter den Bedingungen der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie sicher nicht leicht. Die quantitative Ausweitung des Staatsapparats und eine Forcierung der machtpolitisch anfälligen Wohlfahrtsstaatlichkeit ist dazu auf keinen Fall dienlich. Ein quantitatives Mehr an Staat zu fordern, würde die Lage nur weiter verschlimmern. Aber es gibt, im großen wie im kleinen. Möglichkeiten, dem Volke ein Regiment zuzuordnen, das für das Ganze einsteht und den einzelnen als Bürger aus seiner Scheu vor der Verantwortung des öffentlichen Gemeinwesens, als Menschen aus der passiven Eingliederung in die Abhängigkeit der Massenversorgungsapparatur hervorlockt. Es kommt freilich darauf an, sich aus dem Fatalismus unkritisch ertragener Zwangsläufigkeiten zu lösen. Dabei handelt es sich darum, das für die Gesamtheit des Staatswesens einstehende Regiment so zu kräftigen, daß es die Anliegen der Interessentenschaften in Unabhängigkeit hören und wägen und über sie nach dem Maß des Gemeinwohls entscheiden kann. Können wir das, ohne uns in die Gefahr der Diktatur einerseits oder in den Bann irrealer Utopien anderseits zu begeben? Nun, es steht beispielsweise durchaus in unserem Willen, die Verfassung der Gemeinden und Kreise so zu formen, daß in ihnen die Sachaufgaben der nachbarschaftlichen Raumgemeinschaft mehr gekräftigt werden als bisher und der der kommunalen Selbstverwaltung wesensfremde Einlaß politischer Gruppenherrschaft wieder zurückgedrängt wird. Es liegt ferner in unserer Macht, die öffentlichrechtliche Organisation der Wirtschaft, deren Aufgabe es von jeher war, die legitimen Interessen der Wirtschaft auf das politische Ganze hin zu ordnen, gerade nach dieser Richtung hin wieder zu verlebendigen. Damit ist gemeint, daß Ansehen, Einfluß und öffentlich-recht-

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licher Charakter der regionalen Industrie- und Handelskammern gegenüber der Vielheit überregionaler Interessengruppen der Wirtschaft wieder gefestigt und die Landwirtschafts- und Handwerkskammern mit einer Verfassung ausgestattet werden müssen, die wieder ihre staatsbezogene Verantwortung deutlich herauskehrt als ihrer Neigung nachgibt, sich als Interessenvertretung zu fühlen. Ferner zwingt uns nichts, die zahlreichen Körperschaften und Anstalten des früher so genannten Bereichs der mittelbaren Staatsverwaltung, mögen sie der Wasserwirtschaft und Bodenkultur, der Sozialverwaltung, der Wirtschaftslenkung oder dem Bildungswesen dienen, so weit, wie es jetzt geschieht, den Interessen- und Gruppenkollektiven zu überlassen. Nicht nötig ist es, die früher selbstverständliche Staatsaufsicht gegenüber diesen Körperschaften und Anstalten, die ihre Verantwortung gegenüber dem Staatsganzen ständig sichtbar machen sollte, unter fälschlicher Berufung auf Selbstverwaltung und Autonomie zu verflüchtigen. Wir sollten uns vor allem mit Verständnis und Pflege dem zuwenden, was uns noch an Resten neu entwicklungsfähiger Staatlichkeit überliefert ist. Vieles an staatsbewahrender Substanz ist dem deutschen Staatswesen im schlichten Richtertum der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit erhalten geblieben. In diesen Gerichtsbarkeiten des bürgerlichen Alltags ist wie auf einer Insel noch obrigkeitliche Autorität wirksam, die aus der Verantwortung für das allgemeine Wohl bezeugt und von den Auseinandersetzungen der Macht- und Interessengruppen unberührt ist. Hier ist wirklich noch Staat im überlieferten Sinne legitimer Obrigkeit vorhanden. Allerdings sind deren Möglichkeiten begrenzt. Sie kann sich nur entfalten und unverfälscht erhalten im Bereich patriarchalischer Sorge für den Rechtsfrieden im Gemeinschaftsleben des Volkes außerhalb der großen politischen Auseinandersetzungen und ist nicht übertragbar in die Entscheidungen über das politische Gesamtschicksal. Man hat gerade in den letzten Jahren — und nicht nur beim Bundesverfassungsgericht — versucht, die richterliche Autorität unter dem Namen einer „Dritten Gewalt" zur tragenden politischen Kraft im Staatswesen zu erheben. Wir erkennen darin den Notbehelf eines Rückgriffs auf altbewährte richterliche Autorität in einer Lage, in der keine andere staatsbildende Autorität mehr vorhanden zu sein scheint. Eine solche Mobilisierung der richterlichen Gewalt zu einer aktiven Herrschaftsfunktion kann

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aber nur gegen den Preis einer Politisierung der Justiz geschehen, und sofort würde man dann feststellen, daß das Richtertum auch in den Bereichen, in denen es heute noch anerkannt ist, seine Überzeugungskraft verlöre. Allen staatsbildenden Wert, den das Richtertum heute noch verkörpert, kann es nur gerade in der Abgeschiedenheit vom politischen Getriebe erfüllen, in der es in Deutschland seit jeher gewirkt hat. Bleibt das Beamtentum. Seine staatstragende Funktion hat sich in der konstitutionellen Monarchie bis über die Weimarer Republik bewährt. Gerade die parteienstaatliche Massendemokratie, in der alle staatlichen Traditionen abgerissen und alle überlieferten Institutionen beseitigt sind, kann ohne das Gerüst eines auf das Ganze verpflichteten Beamtentums nicht bestehen. Selbst die Vereinigten Staaten und England, die keine beamtenstaatliche Überlieferung haben, sahen sich aus dieser Erkenntnis genötigt, ein parteipolitisch streng neutralisiertes Beamtentum neu zu schaffen. Es handelt sich nun nicht darum, das Beamtentum an die Macht zu bringen, geschweige denn eine Diktatur der Bürokratie zu errichten. Die Aufgabe ist vielmehr dahin gestellt, dem Staat in einem ausschließlich auf den Dienst am Gemeinwohl verpflichteten Beamtentum einen festen Rückhalt zu verleihen, ihm sozusagen eine von allen Macht-, Interessen- und Weltanschauungsgegensätzen unberührte Hausmacht zu geben. Nur von diesem Boden aus kann es gelingen, den Interessen- und Machtkampf der politischen Gruppen in einen auf das Wohl des Ganzen bezogenen fruchtbaren Prozeß überzuleiten. Die Frage ist, ob das heutige Beamtentum in der Lage ist, ohne Prätention eigener Herrschaft diese stabilisierende, integrierende, obrigkeitsstützende Funktion zu erfüllen. Zweifellos ist es in seiner großen Masse wieder konsolidiert und hat es zu den alten Tugenden selbstgehegter Standeszucht zurückgefunden. Aber die staatspolitische Funktion des Beamtentums entscheidet sich daran, wieweit es imstande ist, dem Ausleseprozeß der politischen Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Kirchen usf. eine eigene Elitebildung gegenüberzustellen, die aus sich selbst heraus überzeugt. Konkret ausgedrückt: Ist es in der Lage, in Bund und Ländern eine Ministerialbürokratie und ein Korps leitender Amtsträger darzustellen, die den Namen einer Beamtenaristokratie verdienen und den soziologischen Eliten der politischen Machtgruppen gegenüber eine eigenständige staatstragende Kraft verkörpern? Diese Frage kann leider nicht ohne

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Vorbehalt bejaht werden. Das Beamtentum ist gerade dort, wo sich seine verfassungspolitische Funktion entscheidet, nämlich in seinen höchsten Schichten, schwach und umstritten. Seine Kraft kann sich mit der Bedeutung der Ministerialbiirokratie in der Monarchie und in der Weimarer Republik nicht auch nur im entferntesten messen. Seine Personalpolitik ist durch parteipolitische, interessenpolitische und konfessionspolitische Ämterpatronage verzerrt, seine Geschlossenheit, sein Selbstvertrauen und seine Standesverantwortung sind gering. So groß der Fleiß und die Tüchtigkeit seiner einzelnen Glieder sein mögen, so wenig vermag es den partei- und interessenpolitischen Einflußgruppen als selbständiger Träger einer eigenen staatspolitischen Aufgabe gegenüberzutreten. Nicht das Beamtentum im ganzen, wohl aber seine oberste Schicht ist im gegenwärtigen Deutschland mehr abhängiges Instrument als verantwortungsvoller Gegenspieler und Partner der politischen Gruppenmächte. Hier gilt es anzusetzen. Man darf in dem Kampf gegen die Ämterpatronage und gegen die Deklassierung der hohen Bürokratie durch die partei- und interessenpolitischen Machtprätendenten nicht erlahmen, darf im Bemühen um ein hohes, parteipolitisch neutrales und aus eigener Würde den Staat repräsentierendes Staatsdienertum nicht müde werden. Für sich allein freilich hat das Beamtentum in dieser Konkurrenz der Führungseliten und gegenüber dem Andringen massierten Gruppeneinflußstrebens einen ziemlich hoffnungslosen Stand. Es bedarf eines Patrons, so wie ihn das englische Beamtentum in der Krone, das amerikanische im Präsidenten hat, das frühere deutsche ihn im Monarchen und im Reichspräsidenten besaß. Das Bonner Grundgesetz hat dem Beamtentum diesen Patron versagt. Er kann, wie die Dinge liegen, nur durch Verstärkung der Eigenständigkeit der staatlichen Exekutive, durch Begründung einer eigenständigen Regierungsgewalt und vor allem durch den Ausbau der Position des Bundespräsidenten zurückgewonnen werden. Der Bundespräsident braucht dazu mehr Befugnisse, damit er mit höherem Einfluß zugleich mehr Autorität erwirbt. Und vor allem muß seine Stellung dadurch zu der eines wahren Staatsoberhaupts erweitert werden, daß seine Bestellung aus den Kompromissen der politischen Parteien gelöst wird. Ohne Entscheidung für die unmittelbare Volkswahl des Präsidenten wird das kaum möglich sein. Nur unter diesen Voraussetzungen kann er zu einer über die politischen Parteien hinweg demokratisch bezeugten

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„neutralen Gewalt" im Staate werden und zusammen mit einem von ihm geschützten Beamtentum zu einem Kristallisationskern ausgleichender, stabilisierender Staatlichkeit. Wieweit wir freilich von der Bereitschaft, solche Vorstellungen zu verwirklichen, noch entfernt sind, bezeugen die Erörterungen über den militärischen Oberbefehl, die in dem Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 (BGBl. I S. 111) ihren gesetzgeberischen Ausdruck gefunden haben. Schon daß man den Begriff des Oberbefehls nicht mehr anerkennen und gebrauchen will, ist bezeichnend genug. Von dem aber, was an Hoheitsbefugnissen in ihm steckt, hat man dem Bundespräsidenten nur den rein formal-repräsentativen Teil zugestanden; das übrige gliedert sich in komplizierter Weise auf mehrere Instanzen der Regierung und des Parlaments, also auf die Einflußpositionen der politischen Gruppenmächte auf. Schließlich darf hier noch mit einem Wort des Gewaltenteilungsprinzips gedacht werden. Wir wissen, daß sich das Bonner Grundgesetz mit besonderem Nachdruck auf dieses Prinzip verpflichtet hat. Aber nur in der Besonderung der richterlichen Gewalt war es dabei einigermaßen konsequent, während es Exekutive und Legislative denselben politischen Kräften anvertraut hat. Das Schicksal der Gewaltenteilung entscheidet sich indessen am gegenseitigen Verhältnis von Legislative und Exekutive. Solange den politischen und wirtschaftlichen Einflußgruppen neben der Legislative auch der unmittelbare Zugriff auf die Exekutive offensteht, bleibt die von der Verfassung so ernst geforderte Gewaltenteilung eine bloße Fassade. Wir haben in Verkennung unserer historischen Lage seit vielen Jahrzehnten dem Glauben gelebt, wir müßten den Staat und seine Würde demontieren, um dem einzelnen Freiheit und politische Selbstbestimmung zu sichern. Aber wir haben uns wohl der staatlichen Autorität entäußert, um indessen den Staatsapparat um so mehr wuchern zu sehen. Wir haben die Obrigkeit entthront und finden nun, daß unkontrollierbare Kräfte den Besitz der politischen Macht an sich gebracht haben. Je mehr gute und selbstsichere Obrigkeit vorhanden ist, die in öffentlicher Verantwortung tätig wird, um so größer ist die Chance für das Volk, in Freiheit und unmittelbar demokratischer Teilhabe am Gemeinwesen zu leben; um so größer ist auch die Aussicht, ein Leben in Gleichheit und Sicherheit zu führen, ohne daß diese elementaren Lebensgüter durch Abhängigkeit und Unterwerfung ererkauft werden. Es kommt deshalb gerade um der individuellen und

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politischen Freiheit und der Demokratie willen darauf an, die staatliche Substanz wieder zu verdichten. Das ist die Voraussetzung dafür, daß der Staat wieder die Stätte hoheitlichen Waltens wird und nicht Kampfplatz der Machtgruppen bleibt, daß er mehr ist als eine immer weiter auswuchernde Verteilungs- und Versorgungsapparatur und als das Kolonisationsgebiet partikulärer Interessen.

VII. Die Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter I. Von einer Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter zu sprechen, klingt in unseren Tagen paradox. Daß die Exekutive und die Legislative des Staates, der Verwaltungsapparat, das Parlament und die politischen Macht- und Einflußgruppen die Freiheit des Menschen und Bürgers bedrängen können, erscheint uns unmittelbar einleuchtend und finden wir durch eine Reihe von Erfahrungen belegt. Aber daß der Freiheit auch durch die Macht des Richters Gefahr drohe, werden nicht viele ohne weiteres wahrhaben wollen. Denn die Richter und die Gerichtsbarkeit hat man schon seit hundert Jahren und seit dem Zusammenbruch des Jahres 1945 sogar in bisher nicht gekanntem Ausmaß gerade in die Aufgabe berufen, die menschliche Freiheit zu schützen. Jedwede Entziehung der körperlichen Freiheit steht jetzt unter richterlicher Kontrolle. Gegen Beeinträchtigungen durch die Verwaltung findet der Einzelne Schutz bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit, z. T. auch vor den Zivilgerichten. Zivil- und Arbeitsgerichte erfüllen eine wesentliche Funktion darin, Abhängigkeit und Unterwerfung auch aus den zwischenmenschlichen Beziehungen der Gesellschaftsordnung fernzuhalten. Die Sozialgerichte sichern den gerechten Anteil an den Gewährungen des Sozialstaatssystems, und die Verfassungsgerichtsbarkeit vollends schirmt den Einzelnen in vielfältiger Weise vor Ausuferungen der politischen Macht. Sie wehrt insbesondere in der Normenkontrolle verfassungswidrige Ubergriffe des Gesetzgebers in Freiheit und Eigentum der Individuen ab. Das alles spricht nicht dafür, daß von den Richtern Gefahr für die Freiheit drohe; eher sollte man meinen, die Freiheit sei bei den Richtern und nur bei ihnen in bester Hut. Auf der anderen Seite erinnern wir uns dessen, daß der literarische Wegbereiter des freiheitlichen Rechtsstaates, Montesquieu, in dem berühmten Kapitel V I des XI. Buches seines „De l'Esprit des lois" von der „puissance de juger", also von der richterlichen Gewalt, gesagt hat, sie sei „si terrible parmi les hommes": so furchtbar unter den Menschen. Deshalb empfiehlt er, für die richterliche Gewalt keinen

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festen Träger vorzusehen, d.h. sie weder einem bestimmten Stande noch einem Berufsrichtertum anzuvertrauen, sondern nur von Zeit zu Zeit Persönlichkeiten aus dem Volke zu Gerichtsgremien zusammenzusetzen, die sich wieder auflösen, wenn die Aufgaben ihrer Gerichtsperiode erledigt sind. Man erkennt in diesen 1748 geäußerten Gedanken das Urbild der späteren Geschworenengerichte, die den Vorkämpfern der bürgerlichen Freiheit im 19. Jahrhundert so wichtig schienen. Wie dem auch sei, das Wort eines Realisten wie Montesquieu von der Furchtbarkeit der richterlichen Gewalt ist nicht bloß leerer Schall. Auch in unserer Zeit hat sich seine traurige Wahrheit bestätigt. Wir denken an das Grauen der politischen Schauprozesse, an die Blutjustiz der Standgerichte, an die fanatisierten Tribunale des inneren und äußeren Bürgerkrieges und an die Gerichtstage, die die Sieger über die Besiegten abgehalten haben. Gewiß wird man darauf verweisen, daß es sich hierbei meist um Exaltationen der totalitären Systeme handele. Das ist richtig. Aber keineswegs bei ihnen allein hat sich die Justiz als furchtbar unter den Menschen erwiesen.

II. Weil man diese Gefahr kennt, hat man sich in der freiheitlichen Staatenwelt bemüht, dem Gerichtswesen eine solche Gestalt zu geben, daß das richterliche Walten Segen bringt und nicht Schrecken verbreitet. Nach diesem Leitbild hat besonders die Bundesrepublik die rechtsprechende Gewalt geformt. Man war allenthalben darum besorgt, die Richter streng auf ihre richterliche Aufgabe zu beschränken und sie nicht zugleich in anderen Funktionen zu engagieren, von denen aus sie zu einem Mißbrauch ihrer richterlichen Machtvollkommenheiten verleitet werden könnten. Der Richter ist nur dem Gesetz unterworfen und ist frei von jeder konkreten Weisungsgewalt. Er ist also unabhängig von Exekutive und Legislative, von Parlamenten ebenso wie von Regierungen und Verwaltungsbehörden und natürlich von politischen Machthabern jedweder Art. Nur die allgemeinen Rechtsnormen der Gesetze sind ihm vorgegeben, und auch diese nur insoweit, als sie mit den Verfassungsgrundsätzen in Einklang stehen. In dieser Unabhängigkeit stützt ihn die feste Berufung in ein dauerhaftes Richteramt, in dem er weder einer Amtsenthebung noch einer Versetzung ausgesetzt ist. Eine vielgliedrige Zuständigkeitsaufteilung auf die ver-

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schiedensten Gerichtsbarkeiten und Gerichtszweige verhindert, daß sich an bestimmten Punkten zu viel an richterlicher Gewalt konzentriert. Eine mehrstufige, meist dreistufige Instanzenpyramide öffnet weitreichende Kontrollmöglichkeiten innerhalb des Gerichtswesens selbst. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters und das Verbot der Ausnahmegerichte verhindern, daß die Zuständigkeit und die Zusammensetzung der Gerichte im Hinblick auf bestimmte Fälle manipuliert werden können. Demselben Ziele dienen die Grundsätze für die Geschäftsverteilung bei den Gerichten mit mehreren Abteilungen, Kammern und Senaten. Mit wenigen begründeten Ausnahmen amtieren die Gerichte in öffentlicher Sitzung, also im vollen Lichte der Öffentlichkeit. Die Prozeßordnungen aller Gerichtsbarkeiten sind auf der Grundlage der Erfahrungen von Jahrhunderten so differenziert entwickelt, daß die Prozeßbeteiligten sich aller realisierbaren Garantien für ein korrektes und gerechtes Verfahren erfreuen dürfen. Zu beachten ist weiter, daß die Richter, wiederum mit nur unwesentlichen Ausnahmen, niemals eine Sache von sich aus aufgreifen und eine Entscheidung an sich ziehen können, sondern warten müssen, bis im Strafprozeß der Staatsanwalt oder ein durch ein Delikt Verletzter, sonst ein Kläger oder Antragsteller sie um ihre Tätigkeit anruft. Es versteht sich, daß die Auslese der Richter und die Pflege des richterlichen Standesethos in unserer Zeit ebenfalls der Tendenz nach den Abirrungen eines Machtmißbrauchs abgewendet ist. Ein übriges bewirkt die Vorkehrung, daß man bei vielen Gerichten Berufs- und Laienrichter zu einem Gerichtsgremium zusammenfügt und überhaupt die Gerichte meist als Kollegien fungieren läßt. Schließlich wird man das vom Bonner Grundgesetz ausgesprochene Verbot der Verhängung der Todesstrafe auch durch den Gedanken motiviert sehen dürfen, man könne dem menschlichen Richter nicht mehr die Gewalt über Leben und Tod anvertrauen. Wenn man das alles überschaut und überdenkt, so wird man geneigt sein, das Thema: Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter als überholt abzutun. In der Tat ist offenbar alles Menschenmögliche geschehen, die in dem Thema gekennzeichnete Gefahr zu bannen. Natürlich bleiben die Fälle menschlichen Versagens auch bei den Richtern. Aber mit ihm muß man bei allem menschlichen Tun rechnen, und bei den Richtern ist überdies vorgesorgt, daß diese Fälle nach Zahl und Wirkung gering bleiben.

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VII. Die Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter N.

III. Indessen ist das Problem damit noch nicht erledigt. Die Erfahrung hat gelehrt, daß die eben angeführten Sicherungen und Begrenzungen des richterlichen Walt ens in einem überaus feinen Gleichgewichts ver·: hältnis zueinander stehen. Bricht man auch nur ein Element heraus, so funktionieren die anderen gleichfalls nicht mehr recht. Vor allem erfordert das Ganze eine vollkommene Redlichkeit in der Einschätzung und Handhabung. Man kann die Formen eines intakt erscheinenden Gerichtswesens beibehalten und doch versteckt Willkür und Mißbrauch walten lassen. Dann erfährt das richterliche Walten eine besonders traurige Entartung, weil hier der Macht- und Beherrschungswille, in der Robe des Richters versteckt, sich die Würde austeilender Gerechtigkeit täuschend anmaßt und damit die Ordnung des politischen Gemeinwesens in den Fundamenten selbst zerstört. Mancher während der letzten Jahrzehnte in den Formen peinlich korrekt durchgeführte Schauprpzeß — übrigens nicht in der Bundesrepublik — hat dafür beklemmende Belege geliefert. Allgemein wird man gegenüber einem allzu naiven Vertrauen in die Effektivität der konstruktiven Vorkehrungen für ein rechtsstaatlich intaktes Gerichtssystem folgendes feststellen müssen: Die Integrität richterlichen Waltens im gewaltenteilenden Verfassungssystem setzt wie die gewaltenteilende Struktur des Rechtsstaates selbst eine innen- und außenpolitische Ruhelage voraus. Der außenpolitische Konflikt kann die Notwendigkeiten der „Staatsräson" in einem Maße entfesseln, innenpolitische Spannungen und Bürgerkriegsgegensätze können die von allen anerkannte Friedensordnung, auf der das unbestrittene Funktionieren des Gerichtswesens beruht, in einem Grade zerstören, daß sich die gekennzeichneten kunstvollen Hegungen und Eingrenzungen der richterlichen Gewalt als zu fein und spröde erweisen. Sie werden dann leicht, wenn nicht überhaupt zerstört, so doch von den robusteren Kräften politischer Aktionen beiseitegeschoben. Es soll natürlich der Teufel einer solchen Entwicklung hier nicht an die Wand gemalt werden. Aber es wäre unklug, außer acht zu lassen, daß der vollendet rechtsstaatliche und freiheitsichernde Aufbau der rechtsprechenden Gewalt nach dem Bonner Grundgesetz nur solange einen sicheren Besitz darstellt, als es gelingt, den außen- und innenpolitischen Ruhezustand in der Lage der Bundesrepublik zu wahren.

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IV. Von diesen Ausblicken auf Ausnahmesituationen, die gewiß nicht alltäglich sind, mit denen aber jeder verantwortlich Denkende rechnen muß, wenden wir ups wieder den Alltagsgegebenheiten in der ungestörten Ruhelage des politischen Gemeinwesens zu. Auch hier bedeutet der Hinweis* daß alles Menschenmögliche geschehen sei, die richterliche Gewalt mit den Eigenschaften eines Hüters und nicht eines bedrohenden Elements der menschlichen Freiheit auszustatten, noch nicht das letzte Wort. Denn der großartige Ausbau, den der moderne Rechtswegstaat nach der Konzeption etwa des Bonner Grundgesetzes der richterlichen Gewalt hat angedeihen lassen, und die besonderen Sicherungen der richterlichen Unabhängigkeit haben auch ihre Kehrseite. Die richterliche Gewalt ist wesentlich vertieft und verbreitert worden. Schon der äußere Bestand bezeugt das. Neben der traditionellen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit haben wir heute eine Arbeitsgerichtsbarkeit, eine Sozialgerichtsbarkeit, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit und eine Finanzgerichtsbarkeit, sodann feine Verfassungsgerichtsbarkeit, denen sich weiter noch Disziplinar- und Berufsgerichte zugesellen. Schon hieran wird deutlich, daß ganz entscheidende Teile der sozialen und politischen Lebensvorgänge sich in die Bestimmungsgewalt von Richtern verlagert haben, was dazu Anlaß gegeben hat, das Staatswesen der Bundesrepublik als einën „Rechtswegstaat" zu charakterisieren. Damit ist die Verantwortung, aber auch die Macht der Richter außerordentlich gestiegen. Das Schicksal des politischen Gemeinwesens und der Individuen ist infolgedessen in einem früher ungeahnten Maße den Richtern anvertraùt. Es wäre falsch, schon deswegen von einer Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter zu sprechen. Aber unbestreitbar hat sich der Anteil der Richter am Imperium, also an den Herrschaftsfunktionen des politischen Gemeinwesens, außerordentlich erweitert. Am deutlichsten tritt das bei der Verfassungsgerichtsbarkeit hervor! Erst in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über Verfassungsbeschwerden und in Normenkontrollsachen findet das, was der Grundrechtsschutz der menschlichen Freiheit konkret bedeutet, verbindliche Gestalt. In allen seinen Zuständigkeiten kann das Gericht die politische Gewalt nicht nur begrenzen, sondern ihr auch Handlungsmöglichkeiten freigeben. Am unmittelbarsten wird der Betroffene die Herrschaft über das menschliche Schicksal in der Straf gerichtsbarkeit spüren. Doch wäre es zu 10»

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vordergründig gedacht, nur diese handgreiflichen Dinge im Auge zu haben. Alle Gerichte, auch die Zivil-, Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichte, umspannen mit dem feinmaschigen Netz ihrer Entscheidungsbefugnisse das ganze menschliche Leben und Tun. Der Rechtswegstaat der Gegenwart hat dazu geführt, daß die Rechtsprechung der Gerichte für die Formung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung mit der staatlichen Exekutive und Legislative in eine echte Konkurrenz getreten ist und ihnen in manchen Beziehungen den Rang abgelaufen hat. Das wäre nicht weiter beunruhigend, wenn sich nicht mit dieser Erweiterung des richterlichen Imperiums gelegentlich eine allzu anspruchsvolle Berufung auf die Erhöhung der „Dritten Gewalt" verbände. Das Reden von der Verantwortung und Würde der „Dritten Gewalt" hat manche Richter mit einem betonten Selbstbewußtsein erfüllt, das im extremen Fall bis zum Glauben an die eigene Unfehlbarkeit verleiten kann. In solcher Verschätzung der Funktion des Richters ist die Tendenz angelegt, das richterliche Walten als Herrschaft um ihrer selbst willen mißzuverstehen. Nach dieser Richtung begegnet der Richter ohnehin einigen Versuchungen. Da er — mit vollem Grunde — unter dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit steht, sind seine Entscheidungen außer durch den Spruch einer höheren Instanz unangreifbar und unterliegt er selbst keiner Zurechtweisung. Je mehr die richterliche Unabhängigkeit ernst genommen wird, desto entschiedener wird man verlangen, daß in Parlamenten und Behörden, aber auch in den Manifestationen der öffentlichen Meinung mit der Kritik an den Entscheidungen des Richters Zurückhaltung geübt wird. Diese Unangreifbarkeit des richterlichen Wirkens begründet auf ihre Weise ebenfalls eine Sonderstellung, die zur Überdehnung verleiten kann. Die richterliche Unabhängigkeit ist ein Beneficium, dessen Sinn nicht in jedem Falle voll ausgeschöpft wird. Im Widerstreit zwischen entsagungsvoller Verantwortung und dem Bewußtsein souveräner Bestimmungsgewalt behält gelegentlich diese letztere den Vorrang. Das Bestürzende an den richterlichen Entscheidungen ist vor allem ihre Endgültigkeit. Die Urteile der Richter erwachsen, soweit sie nicht mehr vor einer höheren Instanz angefochten werden können, in Rechtskraft, manche Urteile der Verfassungsgerichte sogar in Gesetzeskraft. Das bedeutet, daß damit die von dem Urteil betroffene Sache oder das zur Entscheidung stehende Menschenschicksal endgültig so bestimmt ist, wie das Urteil es aussagt. Bei Straf urteilen gibt

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es dann freilich noch eine Korrektur durch Begnadigung. Aber sie kann die Folgen eines Urteils beseitigen oder mildern, nicht jedoch den Urteilsspruch selbst aufheben. Nun soll hier keineswegs dafür plädiert werden, das Institut der Rechtskraft der Gerichtsurteile aufzuheben oder aufzulockern. Denn es ist für eine geordnete Rechtspflege unverzichtbar. Gleichwohl bleibt in der Endgültigkeit richterlicher Entscheidungen etwas Anstößiges. Daß Menschen über Schicksale von Menschen oder doch über Lebensbeziehungen, die ihnen wichtig und die manchmal sogar für ihre Existenz ausschlaggebend sind, unwiederbringlich entscheiden, werden die Betroffenen oft genug als schockierend empfinden. Es wird hier in die Sphäre menschlichen Tuns eine Bestimmungsgewalt über andere Menschen hineingenommen, die ihrem Wesen nach über menschliches Entscheidungsvermögen hinausweist. Der Kern dieser Problematik ist in dem Bibel wort wirksam: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet." Aber auch abgesehen hiervon liegt in der Endgültigkeit und Unumstößlichkeit richterlicher Urteile ein Element der Erstarrung und Verfestigung. Was einmal durch Urteil entschieden ist, hat für immer so zu bleiben. Diese Endgültigkeit tritt oft genug zu den Abläufen des Lebens in Widerspruch. Zunächst schon ist es dem Richter im Zeitpunkt seiner Entscheidung selbst verwehrt, Dinge und Entwicklungen in der Schwebe zu lassen, die das Leben unauflöslich angelegt hat und die unbegreifbare Keime weiterer Entfaltungsmöglichkeiten in sich bergen. Der Richter muß entscheiden, so oder so. Gemessen an der Dynamik des Lebens empfangen die richterlichen Urteile von hier aus vielfach eine lebenbeengende Gewaltsamkeit. Und diese wirkt sich dann, auf der Grundlage der Rechtskraft des Urteils, auch in alle Zukunft hin aus. Der Widerspruch zwischen dem, was lebensgemäß wäre, und dem, was einmal entschieden wurde, kann sich dann im Laufe der Zeit merklich vertiefen. Es ist wenig beachtet worden, daß die außerordentliche Erweiterung richterlicher Zuständigkeiten in der Ordnung des perfektionierten Rechtswegstaates der Bundesrepublik gerade die hier beschriebene Erstarrung des Soziallebens wesentlich begünstigt hat. Besonders zeigt sich das an der Ausdehnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Dort, wo früher die Bestimmung über Lebensabläufe in Verwaltungsentscheidungen oder in Akten der politischen Verfassungsorgane endete, die jederzeit einer anderen und womöglich besseren Beurteilung und Handlung Platz machen konnten, die also stets der Anpassung an das flutende Leben offen blieben, tritt jetzt vielfach die richterliche Ent-

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Scheidung mit ihren abschließenden Festlegungen. Sie setzt der freien Gestaltung der Lebensvorgänge auf dieser Trasse ein Ende. Man wird fragen, was das mit dem Verhältnis des Richters zur menschlichen Freiheit zu tun hat. Nun, es steht damit insofern in Zusammenhang, als nicht nur bei der Verhängung von Freiheitsstrafen durch den Strafrichter, bei der Anordnung der Untersuchungshaft und etwa der zwangsweisen Anstaltsunterbringung, sondern in allen richterlichen Entscheidungen das menschliche Tun des bürgerlichen Alltags ebenso wie die Gestaltung des sozialen Gemeinschaftslebens und des politischen Schicksals seine Bestimmung und Begrenzung erfährt. Daran sind alle Gerichtsbarkeiten beteiligt, manche, wie die Strafgerichtsbarkeit, unmittelbarer, andere entfernter. Überall manifestiert sich Herrschaft über die Menschen, und daran ändert sich auch nichts dadurch, daß diese Herrschaft im Richterspruch als Austeilung des von Rechts wegen Gebotenen auftritt. Denn die Bindung des Richters an das Gesetz begrenzt den Entscheidungsspielraum des Richters weniger, als der Laie denkt.

V. Aber diese Erwägungen sollen nicht in dem Sinne verstanden werden, als ob sich die Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter in irgendeiner spezifischen Weise in der Welt der Bundesrepublik verwirkliche, in der wir leben. Es ist im Gegenteil so, daß im Aufbau der rechtsprechenden Gewalt nach dem Bonner Grundgesetz nach der organisatorischen, personellen und verfahrensrechtlichen Seite alles ge^ tan ist, im richterlichen Walten einen Hüter der menschlichen Freiheit und nicht ihre Gefährdung zu finden. Daß sich dabei auch Verzeichnungen und Verzerrungen einstellen können, liegt in der Unzulänglichkeit aller menschlichen Einrichtungen und in der Schwäche der menschlichen Natur begründet. Die kritischen Punkte wurden hier hervorgehoben, damit ni cht ein allzu naives Vertrauen die problematische Tiefe der Zusammenhänge verdecke und die Wachsamkeit, auch der Richter selbst, gegenüber den Möglichkeiten einer Abirrung oder Entartung einschläfere. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, sei besonders betont, daß gerade in den ungeordneten und unübersichtlichen Autoritätsverhältnissen des gegenwärtigen Staatssystems die richterliche Gewalt in hervorragender Weise ein Element obrigkeit^ lieber Ordnung verkörpert, das den einzelnen davor schützt, in der

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Konkurrenz der Macht- und Einflußgruppen und im Kollektivierungstrend der industriellen Massengesellschaft zerrieben zu werden. Die eigentliche Bedrohung der menschlichen Freiheit durch die Macht der Richter liegt dort, wo man sich der Formen des Gerichtswesens und richterlicher Entscheidungen bedient, um in Wahrheit politische Macht auszuüben, Klassenkampf auszufechten, dem Bürgerkrieg Chancen abzugewinnen und Gruppenherrschaft aufzuzwingen. Die Erfahrung hat gelehrt, daß dies möglich ist und daß dazu sogar verhältnismäßig leicht sich anbietende Umschaltungen genügen. In der gegenwärtigen Lage der Bundesrepublik zeichnet sich diese Gefahr nicht unmittelbar ab. Aber sie wird hier wie überall nur so lange fernbleiben, als der Staat im ganzen den Charakter einer unbestrittenen inneren Friedensordnung bewahrt. Ein intaktes Gerichtswesen setzt die Ausgeglichenheit dieser Friedensordnung und eiii im ganzen wohlgefügtes Staatswesen voraus; es wirkt zugleich an deren Erhaltung mit. Beide bedingen sich gegenseitig.

V i l i . Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem I. Die Teilung der Gewalten im Staate gehört zu den wichtigsten Anliegen der Verfassungsgestaltung in der Gegenwart. Läßt man antike Vorbilder außer acht, so setzt das neuzeitliche Bewußtwerden dieses Prinzips ein mit John Lodces „Two Treatises of civil Government" (1690). Es vertieft sich in Montesquieus „Esprit de lois" (1748) und gewinnt für den europäischen Kontinent in der Französischen Revolution beherrschende Geltung. Artikel 16 der „Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" von 1789 sprach jedem politischen Gemeinwesen den Charakter eines Verfassungsstaates ab, das neben der Garantie der Menschenrechte nicht auch die Gewaltenteilung verwirklichte1. Dieses revolutionäre Verdikt am Anfang der modernen kontinentaleuropäischen Verfassungsbewegung hat bis zu den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts kanonischen Rang behalten. Nach der Uberwindung des totalitären Systems diesseits der Grenzen des Ostblocks hat man den Gewaltenteilungsgrundsatz neu belebt, am bewußtesten im Bonner Grundgesetz. Echt ist daran die Furcht vor den von den Zeitgenossen selbst neu erlittenen und andernorts beobachteten Gefahren einer Konzentration der politischen Macht in unberufener Hand und das Bestreben, diesen Gefahren in Zukunft für immer zu entgehen, mißverstanden jedoch die unreflektierte Übernahme eines Gewaltenteilungsschemas, dem die Entwicklung der politischen Kräfte seinen ursprünglichen Geltungsgrund streitig gemacht hat. Das Gewaltenteilungsschema, das von Locke bis zum Bonner Grundgesetz, bei allen kunstvollen Variationen im einzelnen, unverändert proklamiert wird 2 , ist im Kern durch die Gegenüberstellung von 1 „Toute société, dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution." 2 Die umfassendste Monographie stellt das Buch von Oskar Werner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes, Zürich (1937), dar. Sie hat durch das Buch von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt (1958), eine wesentliche Ergänzung ge-

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Legislative, Exekutive und Justiz gekennzeichnet. Es stammt von der politischen Struktur des Ständestaates und der konstitutionellen Monarchie. Das Gleichgewicht von Monarch und Ständen, das die Revolution von 1688 in England herbeigeführt hatte, begrüßte und legitimierte Locke 1690 mit seiner Lehre. Montesquieu, in dem sich der freiheitliche Geist der Aufklärung und die Zugehörigkeit zum Adel, also zu den alten Ständen Frankreichs, mit dem Schicksal verbanden, unter den Königen des französischen Absolutismus zu leben, war gleichfalls vom ständestaatlichen Gleichgewicht Englands fasziniert. Unter seiner Hand wurde die Beschreibung der Verfassung Englands5 zur Verherrlichung eines freiheitlichen Verfassungssystems, das deshalb freiheitlich ist, weil in ihm die politische Macht aufgegliedert ist und insbesondere der Monarch sie mit den Ständen (einem corps des nobles und einem corps du peuple) teilen muß. Bei ihm sind die beiden Momente der Gewaltenteilungsforderung schon klar entwickelt, das liberale und das politische: Liberal war die These, die politische Gewalt im Staate müsse durch Aufteilung und Balance gebändigt sein, damit das Individuum Freiheit habe. Vorstellungen einer positiven politischen Machtgruppierung andererseits lagen in der Feststellung beschlossen, daß ein anderer das gute Recht habe, die Macht im Staate mit dem Monarchen zu teilen. Dieser andere waren zunächst die Stände, später der Dritte Stand, das Volk. In Artikel 16 der Menschen· und Bürgerrechte von 1789 klingt beides noch deutlicher durch: das Bekenntnis zur individuellen Freiheit, die durch „balance des pouvoirs" gesichert wird, und der Anspruch auf politische Machtergreifung, auf politische Mitbestimmung, den im Zeichen der Demokratie der Dritte Stand erhebt. Von hier ab beginnt die historisch einzigartige Verbindung von Liberalismus und Demokratie, die die konstitutionelle Monarchie des europäischen Kontinents im 19. Jahrhundert — für Deutschland bis zum Ende des ersten Weltkrieges — in ihrem Gewaltenteilungssystem verwirklicht hat. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sich die demokratischen Prätendenten auf die politische Macht neben dem Monarchen und Resten der Aristokratie mit einer zunächst noch bescheideneren, dann paritätischen Mitbestimmung begnügten. Hierfür hatte sich, wenigstens ganz im Groben, die funktionelle Abschichtung nach funden. Das Schrifttum zum Gewaltenteilungsprinzip ist begreiflicherweise sehr ausgedehnt. Eine Übersicht bietet Hugo J. Hahn, Über die Gewaltenteilung in der Wertwelt des Grundgesetzes, JöR NF 14 (1965), S. 15 ff. 3 Buch XI, Kap. 6 des Esprit des lois.

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Legislative und Exekutive als angemessen ergeben. Die beiden politischen Mächte des 19. Jahrhunderts, Monarch und Volk ( = Bürgertum), verwirklichten so Gewaltenteilung ganz ähnlich, wie sie in der vorabsolutistischen Zeit und in England das ständestaatliche System realisiert hatte. Dieses Balancesystem funktionierte, solange die Parität zwischen den beiden Mächten gewahrt blieb, und solange bewährte es sich auch im Sinne der Sicherung der bürgerlichen Freiheit. Gerade darin lag der liberaldemokrätische Kompromiß. Den demokratischen Vorkämpfern des 19. Jahrhunderts konnte die Voreiithaltung voller demokratischer Machtergreifung an sich wohl kaum behagen Aber sie wurden außer durch die Widerstandskraft des monarchischen Herrschaftssystems und seiner aristokratischen Beigaben dadurch in Grenzen gehalten, daß der liberale Zeitgeist um der individuellen Freiheit willen die Balance der Gewalten für gut befand und die totale demokratische Machtergreifung ebenso verwarf wie das Verharren in der absoluten monarchischen Herrschaftsgewalt. Die Teilung der Gewalten im Staate ist nun sicher ein überzeitliches Phänomen. Die Staatstheorie der Griechen, insbesondere des Aristoteles, hat davon gewußt, und die Staatskunst der Römer hat sie klassisch verwirklicht. Aber uns ist die Gewaltenteilung überkommen, die im Ständestaat und in der konstitutionellen Monarchie, in dieser vor allem, ihre Ausprägung fand. Für sie ist kennzeichnend die erwähnte Doppelwertigkeit. Das Aufkommen des liberalen Individualismus und die Argumentation Montesquieus hatten allerdings das freiheitliche Moment in ihr besonders betont. Gewaltenteilung muß sein, auf daß, „par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir" 4 , damit sich ein „system of checks and balancés"5 realisiere, damit sich die Ausübung politischer Gewalt kraft ihrer Teilung zugunsten ungestörter individueller Freiheit aufhebe. Konkret gesehen bedeutet sie die Bindung des Handelns der Exekutive an die von der Legislative gesetzten Normen. Das ist die liberale* dieindividualistisch-freiheitliche Komponente, die im 19. Jahrhundert dominierte und auch in unseren rechtsstaatlichen Gegenwartsvorstellungen herrschend ist. Die moderne Theorie der Gewaltenteilungslehre ist ganz in der Dogmatisierung dieser Seite des Problems aufgegangen; als solche wurde sie beispielhaft in Carl Schmitts Verfassungslehre (1928)e analysiert. 4

Montesquieu, De l'Esprit des lois XI, 4. Vgl. 'kägi, a.a.O. S. 41 ff. 6 Unveränderte Neudrucke 1954 und 1957, in allén Ausgaben S. 125 ff., 182 ff. 5

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Aber in einer tieferen Schicht ist Gewaltenteilung ein politisches Phänomen, ein Problem der Teilhabe an der politischen Macht, der Machtergreifung und der Machtverteidigung. Diese Seite unserer Frage enthält das eigentlich Bedrängende und Hintergründige des politischen Schicksals, gerade auch in unserer Zeit. Hier liegt auch die Schwierigkeit der Behandlung des Problems in der Gegenwart. Wo heute von Gewaltenteilung die Rede ist, meint man damit durchweg nur Aufhebung der politischen Gewalt durch Teilung. Man denkt also an Gewaltenteilung nur im Sinne ihrer liberalen Komponente. Man vergißt darüber, daß in der Gewaltenteilung zugleich eine Entscheidung über höchst reale Machtansprüche und über die Legitimation zur politischen Herrschaft wirksam ist. Dieses Vergessen kann dazu führen, daß man von Verfassungs wegen „Gewalten" teilt, die keine mehr sind, aus deren leergewordenem Gehäuse sich die eigentlichen Machtauseinandersetzungen in parakonstitutionelle Räume zurückgezogen haben. Es kann auch geschehen lassen, daß ehemals getrennte Gewalten eben um der Machtbeteiligung willen in komplizierter Weise wieder miteinander verklammert werden 7. Das 19. Jahrhundert indessen hatte in dieser Hinsicht noch klare Verhältnisse. Hier standen sich zwei echte politische Potenzen gegenüber. Sie hatten sich in Legislative und Exekutive den politischen Machtbesitz geteilt und sich auf diese Weise arrangiert. Man konnte von Legislative und Exekutive sprechen und meinte damit den demokratischen und den monarchischen Machtanteil, ebenso wie man umgekehrt Exekutive und Legislative gleich mitdachte, wenn man die monarchischen und die demokratischen Kräfte im Staate ins Auge faßte. Das Ursprüngliche und Entscheidende daran ist das vor der Verfassung gegebene Gleichgewicht zweier Mächte, das durch die Verfassung nicht konstituiert, aber für einen Schwebezustand von rund 100 Jahren institutionalisiert wurde. Der fundamentale Dualismus von Monarchie und Demokratie^ von Staat und Gesellschaft, von Staat und Volk, der das 19. Jahrhundert beherrscht, ist auch das Prinzip

7

Über den Zusammenhang des Problems der Teilhabe an der politischen Macht mit der Gewaltenteilung findet man einiges bei Martin Drath, Die Gewaltenteilung im heutigen Staatsrecht, in: Faktoren der Machtbildung (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft Bd. 2/1952) S. 99 ff., auch bei Hermann L. Brill, Gewaltenteilung im modernen Staat, Gewerkschaftliche Monatshefte 7 (1956) S. 385 ff., und bei Otto Küster, Das Gewaltenproblem im modernen Staat, AöR 75 (1949) S. 397 ff.

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seiner verfassungsmäßigen Gewaltenteilung. Es handelte sich übrigens um eine Teilung von zwei, nicht von drei Gewalten. Das Zusammenspiel von Exekutive und Legislative war der Angelpunkt des Ganzen. Die Legislative (als Volksvertretung) beschloß die Gesetze im Sinne generell-abstrakter Normen; die monarchische Exekutive, an diese Gesetze prinzipiell gebunden, handelte konkret, aber nur so, daß sie die Gesetze der Legislative ausführte. Der pouvoir judiciaire, die richterliche Gewalt, stand abseits. Das dunkle und vieldeutige Wort Montesquieus, der meinte, die richterliche Gewalt sei „pour ainsi dire en quelque façon invisible et nulle", ist der Ausdruck der Verlegenheit, die richterliche Gewalt neben den höchst realen Potenzen des Monarchen ( = Exekutive) und der Stände- oder Volksrepräsentation ( = Legislative) überhaupt zu nennen. Das kontinentale Europa des 18. und 19. Jahrhunderts hatte nämlich für die richterliche Gewalt keinen eigentlichen Prätendenten. Neben dem Monarchen und dem Volk gab es keinen Dritten, der gleichfalls zum Imperium gedrängt und sich etwa um den Besitz der richterlichen Gewalt beworben hätte. Die richterliche Gewalt war also, politisch betrachtet, sozusagen vakant 8 . Sie war auch von ihrem Wesen her nicht geeignet, mit der monarchischen Exekutive und der demokratischen Legislative zu konkurrieren. Die Aufgaben des Richters waren der Strafrechtspflege und der Wahrung des Rechtsfriedens in der prinzipiell staatsfreien bürgerlichen Gesellschaft zugekehrt. Das war ein Bereich, der von den politischen Machtauseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts abgeschieden war. Die Aufgaben der vorwärtsweisenden Gestaltung maß sich auf diesem Gebiet die demokratische Legislative, d.h. die Volksrepräsentation als die Verkörperung des gesellschaftlichen Fortschritts bei. Der Richter hatte nur, so schien es jedenfalls, in einem bloß rationalen und intellektuellen Prozeß konkret sichtbar zu machen, was in den Gesetzen der Legislative schon vorgegeben war. Nun ist allerdings auch die Aufgabe der Richter eine Funktion hoheitlichen Waltens, und sie ist sogar hoheitliches Walten in seinem reinsten Sinne. Auch in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts war die Ausübung richterlicher Funktionen unverzichtbar, 8 Nur deshalb konnte Montesquieu empfehlen, sie nichtständigen, jeweils neu zu berufenden Laiengremien anzuvertrauen und sie damit vor der Verdichtung zu einer festen Machtposition zu bewahren. Zu diesem Gedanken Montesquieus vor allem Kägi, a.a.O. S. 57 ff., Drath, a.a.O. S. 107 ff., Otto Küster, a.a.O. S. 406.

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und ihr Nichtvorhandensein im Montesquieu'schen Sinne kann nicht etwa dahin verstanden werden, daß die richterliche Gewalt brachgelegen hätte. Sie stand nur außerhalb der Begegnung der beiden großen politischen Kräfte; sie blieb — sehr zu ihrem Heile — außerhalb der beherrschenden politischen Gestaltungsaufgaben 9. Weder dem Staat nodi der Gesellschaft eindeutig zugeordnet, hatte sie ihr Dasein für sich im Schatten der politischen Geschehnisse und konnte dort Formen einer eigenverantwortlichen, patriarchalischen Sorge für den Rechtsfrieden der bürgerlichen Gesellschaft entfalten. Ihre Selbständigkeit war mehr negativ, und zwar dadurch individualisiert, daß sie gegenüber den beiden eigentlichen Gewalten neutralisiert war. Monarch und Volksrepräsentation bestritten sich gegenseitig den Einfluß auf die richterlichen Funktionen. Deshalb war der Richter zwar an das Gesetz, also an normative Entscheidungen gebunden, die von der Volksvertretung kamen. Aber der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff verhinderte, daß das Parlamentsgesetz etwas anderes unternahm, als generell-abstrakte Rechtsprinzipien zu stiften, und er ließ so den Richter von jeder konkreten Einflußnahme des Parlaments frei. Gegenüber etwaigen Einwirkungen der monarchischen Exekutive anderseits schirmte die richterliche Unabhängigkeit mit ihren Garantien das rechtsp rechende Walten ab. In der Aufgabe, für die richterliche Gewalt einen konkreten Träger zu finden, griff man zu einem Kompromiß, der auch in der personellen Substanz der Gerichtsbarkeit die Neutralität im Verhältnis zu den beiden politischen Gewalten sichern sollte. Man nahm eine Art paritätischer Besetzung vor; die Gerichte wurden — vor allem in der Strafrechtspflege, sodann aber auch in der Kaufmanns-, der Gewerbe- und der Verwaltungsgerichtsbarkeit — aus rechtsgelehrten Beamtenrichtern, die die monarchische Exekutive bestellte, und aus Laien, besser Repräsentanten des Bürgertums oder Volkes, gemischt. Der Kampf um die Schwurgerichte zeigt mit bei9 Zu dieser anderen Seite des von Montesquieu mit dem „en quelque façon nulle" Gemeinten vgl. Ernst Forsthoff in der Einführung (Bd. I S. XXXI) der von ihm besorgten deutschen Ausgabe des Esprit des lois (1951); Ulrich Scheuner, Die Selbständigkeit und Einheit der Rechtspflege, DÖV 1953 S. 520; ferner die Ausführungen des Verfassers oben S. 91 f. und vor allem Günther Krauss, Die Gewaltengliederung bei Montesquieu, in: Festschrift für Carl Schmitt (1959) S. 103 ff. (110 ff.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Krauss (S. 112) auf Maurice Hauriou, der in seinen „Principes de Droit public" (2. Aufl. 1916 S. 38) die zweite Bedeutung mit dem Satz besonders hervorgekehrt hat: „c'est à dire qu'elle est terrible comme pouvoir sur le justiciable, mais elle est nulle comme efficacité vis-à-vis des pouvoirs politiques de l'état, parce qu'elle n'a pas la puissance d'empêcher leur action."

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spielhafter Deutlichkeit, wie ernst diese Neutralisierung durch eine paritätische Personalausstattung des Richtertums genommen wurde 10 ; Diese Formierung der richterlichen Gewalt hatte etwas Konstruiertes und Künstliches, und sie hätte es auch keineswegs gerechtfertigt, von der Justiz als der „dritten Gewalt" in dem überhöhenden Sinne zu sprechen, in dem heute die rechtsprechende Gewalt als „dritte Gewalt" vorgestellt wird. Aber gerade die aus den politischen Bedingungen der Zeit resultierende Neutralisierung der Justiz bot günstige Voraussetzungen dafür, daß sich unter dem Schutz dieser Neutralisierung ein nach den inneren Sachgesetzlichkeiten richterlicher Gewalt bestimmtes Ric&tertum einrichtete, dessen Tradition heilsam bis in unsere Tage weiterlebt 11 . Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschoben sich die Dinge ein wenig. Es bedeutet ein Indiz für den Abstieg der monarchischen Gewalt, daß man versuchte, mit justizstaatlichen Forderungen auch die Akte der Exekutive auf ihre unbestrittene Bindung an die von der Legislative gesetzten Normen hin unter richterliche Kontrolle zu bringen und dadurch die Justiz gegen den monarchischen Staat mehr auf die Seite der Gesellschaft herüberzuziehen. Aber diese Bewegung blieb in solchen Grenzen, daß es für die Justiz zu dem Dilemma einer Parteinahme zwischen den politischen Kräften des Jahrhunderts nicht kam. Den großen Wendepunkt bezeichnet der Ubergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie am 28. Oktober 1918 und der Sturz der Monarchie wenige Wochen danach. Damit brach in Deutschland das Balanceverhältnis von Exekutive und Legislative, d.h. des monarchischen Herrschaftsapparates einerseits und der im Namen des Volkes andrängenden politischen Kräfte anderseits zusammen. Die Volksvertretung sollte von nun an Herr auch der Exekutive sein. Staat und Gesellschaft näherten sich der Identität. Indessen wurde in der Weimarer Verfassung restaurativ vieles wieder gekittet, und von dem überlieferten Staatsgefüge erwies sich Wesentliches als beharrend. Die konstitutionelle Monarchie lebte in der Wei10 VgL Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts (1954) S. 55 ff., 71 ff. Allerdings bietet das von Kern angeführte Schrifttum zur Frage der Geschworenengerichte und der Laienbeteiligung an der Rechtspflege mehr Aufschlüsse als sein eigener Beitrag. 11 Ich darf hier auf die Kapitel „Das Richtertum in der deutschen Verfassungsordnung" (oben S. 84 ff.) und „Die Bedrohung der Freiheit durch die Macht der Richter" (oben S. 143 ff.) verweisen.

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marer Republik fort, und zwar im Beamtentum, in der Reichswehr und im Reichspräsidenten, dem die Verfassung die Rolle eines demokratischen Statthalters des konstitutionellen Monarchen zugewiesen hatte. Obwohl die Ministerposten nunmehr durchweg vom Parlament her besetzt wurden und insoweit die Exekutive von der Volksvertretung in Abhängigkeit geriet, blieb der Exekutive im Reichspräsidenten, im Beamtentum und in der Wehrmacht genügend traditionelle Eigenständigkeit, daß sich die überlieferte Gewaltenteilungsstruktur nach Art der konstitutionellen Monarchie im wesentlichen erhielt. Unter den Wandlungsprozessen, die sich in den weiteren Jahren der Weimarer Republik gleichwohl anbahnten, ist der politische Aufstieg der richterlichen Gewalt besonders bemerkenswert. Das Reichsgericht nahm von 1925 an für die Gerichte die Befugnis in Anspruch, auch Gesetze des Parlamentsgesetzgebers auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung zu prüfen 12 . Es legte zugleich die wichtigsten Grundrechte der Verfassung im Sinne auch für den parlamentarischen Gesetzgeber bindender und von den Gerichten mit Vorrang zu beachtender Rechtssätze aus13. Darin folgte ihm der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Dieser scheute vor allem auch davor nicht zurück, in Konflikten der hohen Reichspolitik zu judizieren 14 . Kraft richterlicher Rechtsschöpfung wuchs so die Gerichtsbarkeit in die Rolle eines Richters über Akte der parlamentarischen Gesetzgebung und über Handlungen der Verfassungsorgane hinein. Das war gewiß eine bedeutsame Wendung. Nicht die Gefahr einer Politisierung der Justiz soll in diesem Zusammenhang als daran wesentlich bezeichnet werden. Wir registrieren zunächst nur den Autoritätsverlust, den offenbar die Träger der Legislative und der Exekutive inzwischen erfahren hatten, und den Rückzug obrigkeitlicher Autorität auf die Justiz. Diese* vor allem repräsentiert durch das Reichsgericht und den Staatsgerichtshof, konnte es wagen, sich gegenüber der Schwäche der beiden Haiiptgewalten aus ihrer unpolitischen Tradition zu einer ord12

RGZ.111 S. 320 ff. Dazu vor allem Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben Bd. I (1929) S. 154 ff.; Ernst ο. Hippel, Das richterliche Prüfungsrecht, in: AnsdiützThoma, HdbDStR I I (1932) S. 546 ff. 14 Dies geschah vor allem in dem Prozeß über die Einsetzung eines Reichskommissars für Preußen, der durch das Urteil vom 25. Oktober 1932 beendet wurde. Vgl; den dokumentarischen Stenogrammbericht über diesen Prozeß „Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof" (1933) und E.R. Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof (1932). 13

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nenden Kraft audi in politischen Gestaltungsfragen zu erheben. Die Legitimität dieses Vordringens der richterlichen Gewalt war allerdings noch umstritten, als die nationalsozialistische Machtergreifung das überlieferte Gewaltenteilungsdenken überhaupt über Bord warf.

II. Die Reaktion auf die Erfahrungen des totalitären Regimes hat die deutschen Verfassungsschöpfer nach dem zweiten Weltkrieg veranlaßt, ihre Zuflucht wieder bei dem Gewaltenteilungsgedanken zu suchen, und zwar gerade bei dem Gewaltenteilungssystem, das in der Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts klassische Züge gewonnen hatte. Aber nun konnte, anders als in der Weimarer Republik, von einem Fortleben der Verfassungsstruktur der konstitutionellen Monarchie nicht mehr die Rede sein. Vielmehr zeigte sich bald, daß man sich jetzt mit der Realität der parteienstaatlichen Massendemokratie abzufinden hatte. Ihr gegenüber erwies sich die besonders auch vom Bonner Grundgesetz so forciert betonte Strukturierung des staatlichen Organisationssystems nach Legislative, Exekutive und Justiz als unwirklich und fassadenhaft. Nur die Justiz besteht in unveränderter Besonderung und noch im Schutze ihrer traditionellen Autorität fort. Aber das Schicksal der traditionellen Gewaltenteilung entscheidet sich am gegenseitigen Verhältnis von Legislatioe und Exekutive, und hier ist alles Wesentliche anders geworden 15. Weder nach ihren Funktionen noch nach den in 15

Mit den Wandlungen des Gewaltenteilungsprinzips in der Gegenwart haben sich mehrere Autoren auseinandergesetzt, freilich unter ganz verschiedenen Aspekten. Neben den schon zitierten Beiträgen von Hermann L. Brill, Martin Drath und Otto Küster sind vor allem zu nennen: Theodor Esdienburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland (1956) S. 220 ff.; Ernst d. Hippel, Gewaltenteilung im modernen Staate (1949); Hans Huber, Demokratie und Bürokratie, Schweizer Monatshefte 1957, S. 130 ff.; Hermann Jahrreiss, Mensch und Staat (1957) Kap. V und V I I (S. 115 ff., 175 ff.); Hans Peters, Die Stellung des Bundes in der Kulturverwaltung nach dem Bonner Grundgesetz, Festschrift für Erich Kaufmann (1950) S. 283 ff.; derselbe, Die Gewaltentrennung in moderner Sicht (1954); Werner Weber, Die Verfassung der Bundesrepublik in der Bewährung (1957) S. 40 ff.; derselbe, Art. Gewaltenteilung im HDSW Bd. 4 (1965) S. 497 ff. und in diesem Buche oben S. 24 ff., 38 ff.; Peter Schneider, Zur Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Gegenwart, AöR 82 (1957) S. 1 ff.; Hugo J.Hahn, Über die Gewaltenteilung in der Wertwelt des Grundgesetzes, JöR NF 14 (1965) S. 15ff.; Oskar Werner Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Festschrift für Hans Huber (1961) S. 151 ff.; Max Imboden, Mon-

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ihnen verkörperten politischen Mächten sind Exekutive und Legislative noch realiter unterscheidbar. Dazu nur einige Hinweise: 1. Wenn wir uns fragen, welche realen politischen Kräfte das Autoritätsvakuum der Massendemokratie ausgefüllt haben und heute als Prätendenten politischer Macht hinter der Legislative und der Exekutive stehen, so muß die Antwort lauten: eine Vielheit oligardiisdier Aktionsgemeinschaften und Einflußgrup pen. Unter ihnen sind primo loco zu nennen die politischen Parteien. Aber hinter diesen reihen sich andere Einflußgruppen und Machtträger an, die Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und Interessenorganisationen sonstiger Art; auch die Kirchen begegnen uns unter den Einflußmächten der politisch-sozialen Wirklichkeit. Ihnen allen bietet sich der Zugriff auf die staatliche Herrschaftsapparatur an, den Parteien unmittelbar, den anderen Einflußgruppen mehr indirekt; aber auch sie suchen und finden auf die Staatsapparatur Einfluß, sei es auf dem Wege über die politischen Parteien, sei es zwischen ihnen hindurch. Vom Gesichtspunkt der Gewaltenteilung aus ist hieran wesentlich, daß der Einfluß dieser Machtträger ziemlich unterschiedslos Legislative und Exekutive gleichermaßen ergreift. In dem Pluralismus der Macht- und Einflußträger unserer Zeit ist ein Dualismus oder eine Polarität von Exekutive und Legislative anders als in der ständi* sehen und in der konstitutionellen Monarchie nicht mehr angelegt. Konkret zeigt sich das — am Beispiel der politischen Parteien — etwa in folgendem: Die Parteien beherrschen die Willensbildung im Parlament. Die Mehrheitsparteien des Parlaments bilden aus ihren Führern aber gleichzeitig die Regierung. Sie haben darüber hinaus die Herrschaft über die Verwaltung angetreten. Die Ressortcheffunktion der Minister, die Parteiführer sind, hat diese Herrschaft schon in der Weimarer Republik begründet. Inzwischen ist sie dadurch ausgedehnt worden, daß die Beamtenpersonalpolitik die leitenden Beamtenpositionen auf breiter Front unter parteipolitische Einflüsse gebracht und das Beamtentum im ganzen instrumentalisiert hat. Die weiten Bereiche der Verwaltung, die sich in der kommunalen Selbstverwaltung präsentieren, werden noch unmittelbarer von den politischen Parteien als den maßgebenden Willensbildungsfaktoren her betesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung (1959). Zu den rechtsstaatlichen Zusammenhängen vor allem Ulrich Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben Bd. I I (1960) S. 229 ff. i l Weber

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stimmt. In den zahlreichen Körperschaften und Anstalten der Wirtschaf ts-, Sozial- und Kulturverwaltung haben die Exponenten der Parteien und sonstigen Einflußgruppen ebenfalls das beamtenstaatliche Element aus der bestimmenden Rolle verdrängt. Die Landtage unserer Länder befinden sich in einem raschen Prozeß der Umbildung zu Gremien, in denen die politischen Parteien ähnlich wie in den Räten der Städte und Kreise unmittelbare Verwaltungsherrschaft üben. Die Entscheidungen über Aufgaben der Gesetzgebung, der Regierung und der Verwaltung fallen unterschiedslos in denselben Parteivorständen und Koalitionsausschüssen. Es kann — alles in allem genommen — keine Rede mehr davon sein, daß sich in der Gegenüberstellung von Exekutive und Legislative zwei maßgebende politische Machtkörper begegneten. Beide bezeichnen vielmehr nur noch Instrumentarien der Herrschaftsausübung, die sich die oligarchischen Träger der politischen Gewalt unterschiedslos dienstbar zu machen suchen. 2. Aber auch andere Vorgänge haben das ihrige zur Verwischung der Grenzen zwischen Legislative und Exekutive beigetragen. In dem durch expansive Verwaltungstätigkeit gekennzeichneten Wohlfahrtsstaat, in dem wir leben, fließen Verwaltung und Gesetzgebung auch als Funktionen weithin zusammen. Die Gesetze des verwaltenden Sozialstaates haben sich aus gestifteten oder bestätigten Ordnungen in Aktions- und Verteilungspläne verwandelt, nach denen Aufgaben der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Daseins Vorsorge ins Werk gesetzt, das Sozialprodukt verteilt und in der großen Fürsorge-, Ausgleichs* und Versorgungsapparatur des industrialisierten Massenstaates die Voraussetzungen einer gleichheitlichen Lebenssicherheit aller aufbereitet werden. Bei dem Zustandekommen dieser Gesetze müssen Exekutive und Legislative aufs engste zusammenwirken. Ohne den esoterischen Sachverstand der ministeriellen Fachbürokratie läßt sich die hochspezialisierte Technik der hier zu lösenden Aufgaben nicht mehr bewältigen. Das Parlament anderseits drängt immer mehr dazu, daß bei den Gesetzen ins Detail gegangen wird. Das von den Parteien beanspruchte politische Einflußmonopol verwehrt es ihnen, einem anderen, etwa einem eigenverantwortlich handelnden Beamtentum, Raum zu freier Gestaltung zu lassen. Die Gesetze des Sozialstaats greifen überdies außerordentlich empfindlich in die Interessenlagè jedes einzelnen ein. Deshalb geht der Druck der hinter den Parteien stehenden organisierten Interessen dahin, schon in den Gesetzen für die Schonung und Förderung der berührten Interessen alle

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Einzelheiten vorzusehen. Hinzu kommt ein weiteres: Alle wirtschaftlich, sozialpolitisch und kulturell relevanten Gesetze kommen heute zustande als Vertragsschlüsse und Kompromisse der politischen Gruppenmächte. Solche Vertragsfestlegungen stehen, besonders wenn vitale Interessen daran beteiligt sind, unter dem unausweichlichen Zwang zum Perfekiionismus. Der Kompromiß wird bis in die letzten Einzelheiten ausgekämpft; er darf nichts mehr offenlassen. Da er aber in dem Gesetz selbst abschließend zum Ausdruck kommen soll, muß eben das Gesetz den ins Auge gefaßten Lebensbereich seinerseits vollständig in den Griff bekommen. Für die Verwaltung, die das Gesetz auszuführen hat, bleibt dann nur nodi ein zwar mühseliger, aber subalterner Vollzug ohne eigene exekutivische Verwaltungsverantwortung. Das Parlament verwaltet selbst, indem es seine Gesetze mit dem Charakter perfekter Verwaltungspläne und direkter Anweisungen ausstattet.

IQ. Mit diesen beschreibenden Andeutungen soll hier abgebrochen werden. Denn uns bedrängt die Frage, welchen Sinn es wohl haben soll, daß unsere Verfassungen, das Bonner Grundgesetz voran, gleichwohl so streng darauf beharren, daß die Dreiteilung der Gewalten verpflichtend sei. Man kann dieser Frage nicht etwa mit der Erklärung ausweichen, daß der Bonner Verfassungsschöpfer eben in der Erfassung der Zeitlage fehlgegriffen habe. Denn in seinem Irrtum kann er der ungewollte Förderer eines neuen Sinnes geworden sein. Sicher ist die Unterscheidung von Legislative und Exekutive im Bonner Grundgesetz nicht mehr dahin zu verstehen, daß hier die tragenden politischen Kräfte der Gegenwart in ihrem Miteinander und in ihrer Polarität erfaßt und dem Staatswesen integriert würden. In ihr gelangt nicht zum Ausdruck, wer im Staate konkret die Verantwortung der Herrschaft hat. Gleichwohl hat die Beibehaltung der Gewaltendreiteilung wichtige Effekte. 1. Auf das ungeordnete Rivalisieren und Konkurrieren politischer Gruppenmächte kann sich niemals ein funktionsfähiger Staat gründen, Ein solches chaotisches Nebeneinander würde bald im Zerfall des Staates oder in der Diktatur enden. Das Gewaltendreiteilungsschema hält nun die allen bekannten Funktionsweisen eines in der Geschichte bewährten Staates bereit. Es zwingt die herrschenden Gruppenmächte, ihre Willensbildung so umzusetzen, daß sie sich in die Formen trading

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tioneller Herrschaftsausübung einkleidet, so wenigstens einigermaßen auf die staatliche Einheit bezogen und im Funktionsmodus der staatlichen Apparatur praktikabel wird. Insoweit hat das Dreiteilungsschema gerade auch in der heutigen Lage dodi noch einen gewissen staatshaltenden und disziplinierenden Wert. 2. Nach wie vor bietet es ferner Schutz gegen den Mißbrauch der politischen Macht und enthält es Garantien der indwiduellen Freiheit, wenn auch in anderer Weise als ehedem. Die Machtträger unserer Zeit, d. h. die politischen Parteien, die organisierten Interessentengruppen usf., können ihren politischen Geltungs- und Einflußwillen nur dadurch zu verbindlicher Kraft erheben, sie können ihren Machtbesitz nur dadurch aktualisieren, daß sie ihn durch das Medium der Staatsapparatur, also durch Gesetze und an diese strikt gebundene Regierungs- und Verwaltungshandlungen wirksam machen. Die Verfassung stellt ihnen aber das Instrument der Staatsapparatur nicht als schlagkräftige Waffe, sondern nur in der komplizierten, überall auf Brechung ungehinderter Machtbetätigung bedachten Form zur Verfügung, wie sie das Gewaltenteilungssystem mit einem beträchtlichen Arsenal juristischer Mittel im Sinne rechtsstaatlicher Vorstellungen kunstvoll ausgebildet hat. Darin bewährt sich das traditionelle Schema der Gewaltenteilung auch in der völlig veränderten Machtlage der Gegenwart als ein „system of checks and balances". Und obwohl der politische Gruppeneinfluß, wie eben in Beispielen geschildert wurde, viele der Barrieren zwischen Exekutive und Legislative überrannt oder umgangen hat, sind andere noch geblieben, manche auch neu errichtet. 3. Vor allem hat die Heraushebung der richterlichen Gewalt den Verlust an hemmender Scheidung zwischen Exekutive und Legislative durch eine neue Schwerpunktbildung z. T. wieder wettgemacht. Nur so ist überhaupt der Aufstieg der „dritten Gewalt" in unseren Tagen zu erklären und zu rechtfertigen. Neben der monarchischen Gewalt und neben den jung aufstrebenden Kräften der Demokratie des 19. Jahrhunderts hatte die Justiz keine eigene politische Funktion. Die Versuche, sie als Kontrollinstanz über die monarchische Exekutive zu bestellen, blieben im Ansatz stecken, und an ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen dachte sowieso niemand. Heute erkennen wir die rechtsprechende Gewalt gerade in ihrer umfassenden Kontrollfunktion gegenüber der Verwaltung und in ihrem Recht, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, als „dritte Gewalt" an. Dafür sind mancherlei Momente bestimmend und unter ihnen nidit

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zuletzt die Erkenntnis, daß die Abhängigkeit des einzelnen von den Manipulationen des Wohlfahrtsstaates das Rechtsschutzbedürfnis gegenüber Verwaltungshandlungen und Gesetzen außerordentlich hat wachsen lassen. Aber der tiefere, wenn auch unbeabsichtigt verwirklichte Sinn der Erhöhung der richterlichen Gewalt liegt darin, daß in der rechtsprechenden Gewalt ein Wächter über den rechten Gebrauch der staatlichen Herrschaftsapparatur eingesetzt, daß der Bereitstellung dieser staatlichen Herrschaftsapparatur gleich eine Kontrollinstanz mitgegeben werden sollte. Die oligarchischen Machtträger (Parteien, Interessentengruppen usw.) sind nicht der Staat selbst; sie selbst sind auch nicht Obrigkeit. Ihr robustes Konkurrieren um die politische Macht trägt ferner in sich keine Garantien für den rechten Gebrauch des ihnen offenstehenden Instruments der Gesetzgebungs- und Verwaltungsapparatur. Die machthindernden Schranken zwischen Exekutive und Legislative haben sie sowieso schon weithin eingeebnet. Hier ist um so wichtiger, daß ein anderer da ist, der aus eigener, nicht machtbeteiligter Verantwortung die Kontrolle darüber ausübt, ob sich die politischen Machthaber der Handlungsmöglichkeiten der Staatsapparatur korrekt bedienen, und der den illegitimen Gebrauch des Instruments der Legislative oder der Exekutive unwirksam macht. Auf diese Weise ist die rechtsprechende Gewalt stellvertretend in eine staatsbewahrende Verantwortung von außerordentlichem Range hineingewachsen. Das setzt allerdings zugleich das Richtertum einer ernsten Belastung aus und lenkt mehr als erträglich das aktive Interesse der Gruppenmächte auch auf die Richterpersonalpolitik hin. IV. So betrachtet, hat das Gewaltenteilungssystem unserer Verfassungen nur die Funktion, die Machtprätendenten und Machthaber unserer Zeit im Gebrauch der staatlichen Herrschaftsapparatur zu disziplinieren und zu begrenzen. Es wird ihrer aber nicht selbst habhaft; es führt sie nicht selbst in die Verfassung ein. Auch dem Art. 21 GG, der die politischen Parteien zu institutionalisieren sucht, gelingt dies nicht. Statt dessen hat sich unter ihnen neben der Verfassung ein eigenes Gewaltenteilungssystem hergestellt, das Balancesystem des Pluralismus der oligarchischen Machtträger. Diese Machtträger, mögen sie nun Parteien, Sozialpartner, Wirtschaftsverbände oder wie auch immer heißen, stehen nebeneinander, keiner des anderen Herr; sie halten sich

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gegenseitig im Gleichgewicht. In diesem Gleichgewicht liegt der handfeste, der eigentlich reale Grund der Freiheit in unserer Zeit. Solange sie einander die Waage halten, ist jeder in seinem Machtstreben durch den anderen begrenzt. Solange kann sich das Individuum in den Zwischenräumen zwischen den Gruppenmächten ein Asyl einer ungestörten Durchschnittsexistenz einrichten und der Gefahr entgehen, in die Gefolgschaft einer von ihnen gezwungen zu werden. Solange kann es sich auch durch die Möglichkeit des Patronswechsels zwischen ihnen eine gewisse Bewegungsfreiheit sichern. Durchbricht aber eine der Gruppenmächte dieses System der Balance, verschafft sie sich den Vorrang, und gelingt es ihr gar, im Zugriff auf die Staatsapparatur die konkurrierenden Mächte auszuschließen, dann geht diese Form politischer Gewaltenteilung rasch zu Ende, und dann können übrigens auch die Gewaltenteilungsbeschwörungen des Verfassungstextes und die Wächterrolle der rechtsprechenden Gewalt die totalitäre Machtergreifung, die sich hier offen oder insgeheim durchsetzt, nicht hindern. Das Problem liegt also wohl darin, wie sich, wenn wir schon mit einem Pluralismus der politischen Machtträger zu rechnen haben, wenigstens das gewaltenteilende Gleichgewicht innerhalb dieses Pluralismus halten läßt. Der optimistische Beurteiler wird auf Art. 21 Abs. 2 GG verweisen, der es aber nur ermöglicht, das Aufkommen extremistischer Parteien, solange sie noch schwach sind, im Keime zu ersticken oder sie im Stadium des Verfalls vollends zu liquidieren. Oder er wird sich darauf berufen, daß die Verfassung alle hier gemeinten Gruppenmächte gleichermaßen in den Genuß der grundrechtlichen Freiheiten, der Gleichheit und der Parität setze und keinem die Überwältigung der anderen gestatte. Aber der Schutz der Grundrechte wirkt nicht aus sich selbst. Tatsächlich besteht die Balance der Parität innerhalb des Systems pluralistischer Gruppenmächte nur solange, wie sie von allen Beteiligten aus Einsicht oder Schwäche in einer Art Burgfrieden gewahrt wird. Besser wäre sie durch eine kraftvolle Obrigkeit gesichert; aber der politische Pluralismus kennt eine solche Obrigkeit nicht. So ist das gewaltenteilende Gleichgewicht, in dem sich der Pluralismus der — nicht totalitären — modernen Massendemokratie präsentiert, außerordentlich labil und prekär. Niemand kann sich wirklich auf seinen dauernden Bestand verlassen. Es besteht deshalb auch kein Grund für die Annahme, die Segnungen der gewaltenteilenden Staatsverfassung seien für uns ein sicherer Besitz.

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V. Das Vorwalten der Gruppenherrschaft im Staate der Gegenwart ist auf dem sicheren Wege, die repräsentative Demokratie aufzulösen und sie durch ein gruppenbündisches System zu ersetzen, in dem der maßgebende politische Wille in der Gruppenübereinstimmung gesucht wird 1 6 . Dieser gruppenbündische Charakter der politischen Willensbildung ist audi in die offizielle Verfassungspraxis hinein im Vordringen. Das zeigt sich vor allem daran, daß das demokratische Prinzip der Mehrheitsentscheidung immer mehr durch das der Übereinstimmung unter den Gruppenmächten und jedenfalls durch ein bündisches Vetorecht überstimmter Gruppen verdrängt wird. Dadurch haben sich neue Aspekte des Gewaltenteilungssystems, nun aber primär nicht im Sinne der Machtaufhebung, sondern der Sicherung der Teilhabe an der politischen Macht ergeben. Diese Entwicklung hat mit einer sehr strikten Auslegung des Grundgesetzes und damit begonnen, in das Grundgesetz eine Fülle verfassungsrechtlicher Festlegungen hineinzuinterpretieren, die, wenn überhaupt, so nur mit verfassungsändernden Mehrheiten modifiziert werden können. Besonderen Nachdruck hierauf hat die SPD seit dem Augenblick gelegt, als ihr deutlich geworden war, daß sie in der Bundespolitik vorerst in die Rolle der oppositionellen Minderheit verwiesen sei. Aber alle Interessenten des status quo tendieren, wenn auch aus anderen Gründen, in die gleiche Richtung. Aus diesen Zusammenhängen hat sich die Praxis ergeben, in einer sehr großen Zahl von Fällen den Mehrheitsgesetzgeber als durch das Grundgesetz für blockiert anzusehen und für überraschend viele gesetzgeberische Vorhaben die Form des verfassungsändernden Gesetzes für notwendig zu erklären. Der politische Sinn dieses Vorgehens liegt darin, mit Hilfe der qualifizierten Mehrheitserfordernisse bei der verfassungsändernden Gesetzgebung den mitbestimmenden Einfluß aller großen Parteien, auch wenn sie sich zeitweise in der oppositionellen Minderheit befinden, zu sichern, d. h. eben die Mehrheitsentscheidung durch gruppenbündische Übereinkommen und ein gruppenbündisches Vetorecht abzulösen. Das war auch der Grundgedanke des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 16 Auf den gruppenbündischen Charakter des politischen Gemeinwesens der Gegenwart hat vor allem Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände? (1955) S. 87, hingewiesen.

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195617. Es hat in das Grundgesetz einen neuen Art. 143 eingefügt, nach dem eine gesetzliche Regelung über den Einsatz von Streitkräften im Falle eines inneren Notstandes eines verfassungsändernden Gesetzes bedarf. In ähnlicher Weise hat schon das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (§ 6) für die Wahl von Bundesverfassungsrichtern derart qualifizierte Mehrheiten verlangt, daß über den Willen keiner der großen Parteien, auch nicht der zur Opposition gehörenden, hinweggegangen werden kann. Gegenüber der Absicht der Bundesregierung, hierin eine Änderung eintreten zu lassen, hat die SPD aufs schärfste ihr bisheriges Beteiligungsrecht verteidigt. So ist bei der Novellierung der §§6, 7 a BVerfGG durch Art. 1 des Gesetzes vom 21. Juli 195618 im wesentlichen der bisherige Rechtsstand aufrechterhalten worden. Die kennzeichnendsten Beispiele für neue MadituerteilungsDorgänge im Sinne der Realisierung von Machtbeteiligungsansprüchen innerhalb eines gruppenbündischen Systems aber liefert die Wehrgesetzgebung. Den ersten Akt setzte hier das inzwischen ausgelaufene Gesetz über den Personalgutachterausschuß vom 23. Juli 195519. Durch dieses Gesetz wurde die Bestimmung über die Auswahl der hohen Offiziere der exekutivischen Instanz des Bundesverteidigungsministeriums und dem alleinigen politischen Einfluß der Regierungskoalition entwunden und auf ein Gremium überführt, in dem die Vertrauensleute aller politischen Richtungen beteiligt waren. Die Entwicklung wurde weitergeführt durch das zwischen den Fraktionsführern der großen Parteien vereinbarte und dann vom Bundestag ratifizierte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 195620, das mit einer seiner Vorschriften (Schaffung eines neuen Art. 143 GG) eben schon erwähnt wurde. Das Gesetz fügt in das Grundgesetz Gewaltenteilungselemente verschiedener Art neu ein. Es löst den Begriff des militärischen Oberbefehls auf und verteilt die in ihm beschlossenen Befugnisse auf Bundespräsident, Bundeskanzler, Verteidigungsminister und Bundestag (Art. 59 a, 60, 65 a GG). Hier ist die Teilung um ihrer selbst und um der Sicherung des Gruppeneinflusses willen am wenig geeigneten Ort sehr weit getrieben. Das Gesetz bringt aber in ähnlicher Richtung noch ein zweites: Es bindet die Bestimmung der Stärke der Streitkräfte sowie die Grundzüge ihrer Organisation an die Festsetzung im 17 18 19 20

BGBl. 19561 S. 111. BGBl. 19561 S. 662. BGBl. 1955 1 S. 451. BGBl. 19561 S. 111.

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Haushaltsplan, also an den Willen der Parteien im Parlament (Art. 87 b GG). Es setzt sodann einen Bundestagsausschuß für Verteidigung mit den weitgehenden Rechten eines Untersuchungsausschusses und einen Wehrbeauftragten des Bundestages „zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle" ein (Art. 45 a, 45 b GG). Beide haben unbestimmte Kompetenzen, und das gerade spricht dafür, daß alle Möglichkeiten einer Ausdehnung offenbleiben sollten21. Wie wir wissen, steht hinter diesen Regelungen audi die Einsicht, daß ein Militärsystem mit allgemeiner Wehrpflicht nur auf den allgemeinen Konsens des Volkes und aller bedeutenden politischen Gruppen gegründet werden kann. Das soll hier nicht in Zweifel gezogen, vielmehr soll der Vorgang nur im Lichte der Gewaltenteilung gewürdigt werden. Wer die Scheidung von Exekutive und Legislative für das Maßgebliche hält, wird hier lediglich einen neuen Fall des Ubergreifens der Legislative in die Exekutive, eine Aufhebung der Gewaltenteilung also, verwirklicht sehen. In Wahrheit ist nicht dies, sondern im Gegenteil eine neue Form der Teilung zur Herstellung einer Beteiligung das ausschlaggebende Moment. Auf dem Wege über die neuen wehrpolitischen Parlamentseinrichtungen soll gesichert werden, daß nicht die Regierungskoalition, die im Besitz der Exekutive ist, die wehrpolitischen Entscheidungen monopolisiert, sondern alle maßgeblichen Gruppen daran teilhaben. Sehr ähnlich ist die Lage bei den politischen Erörterungen über die Notstandsverfassung, worauf noch zurückzukommen ist. Auch der Föderalismus und die Institution der Selbstverwaltung, insbesondere in Gestalt der Aufgliederung des politischen Gemeinwesens in selbständige kommunale Gebietskörperschaften, haben eine zusätzliche und recht nachhaltige Rechtfertigung unter den Gesichtspunkten der Gewaltenteilung erfahren, und zwar sowohl im Sinne der darin enthaltenen Machtteilung an sich als auch unter der politischen Zielsetzung, daß man mit beider Hilfe wenigstens im Lande Macht haben kann, wo sie einem im Bunde, oder in Stadt und Kreis, wo sie einem im Lande versagt ist. Auch hierauf ist später noch einzugehen22. 21

Die Stellung des Wehrbeauftragten des Bundestages ist durch das Gesetz vom 26. Juni 1957 (BGBl. I S. 652) ein wenig konkretisiert worden. 22

Unten S. 294 ff.

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VI. Das alles sind nur Beispiele aus einer größeren Fülle von Erscheinungen. Sie müssen hier genügen. Es kommt noch darauf an, ein Gesamturteil zu gewinnen. 1. Gewaltenteilung ist heute vielfältig realisiert; sie hat die verschiedenartigsten Aspekte. Gewaltenteilung im Sinne einer machthemmenden Aufgliederung des staatlichen Befehlsmechanismus von Legislative, Exekutive und Justiz steht neben dem paritätischen Balancesystem der politischen Gruppenmächte; dazu gesellen sich die gewaltenteilenden Effekte des Föderalismus und des Selbstverwaltungsprinzips und die beschriebene Verdrängung der parlamentarischen Majoritätsentscheidung durch eine gruppenbündische Willensübereinstimmung. Das meiste davon ist von vornherein nur Teilung, nur Negation politischer Gewalt. Aber auch dort, wo neue Gewaltenteilungen durch das Streben nach Teilhabe am Machtbesitz veranlaßt sind, liegt der Effekt in der Verflüchtigung der obrigkeitlichen Gewalt. Mit der Befugnis zu hoheitlichem Walten wird aber auch die Verantwortung und wird leicht die Würde des Staates wegdividiert. In der klassischen Gewaltenteilung des 19. Jahrhunderts geschah dies nicht. Sie ging von realen Potenzen des politischen Lebens aus und kehrte die spezifische Verantwortung des monarchischen Sachwalters des Staates ebenso wie die der noch als Einheit begriffenen Volksrepräsentation aufs deutlichste hervor. Beide waren sichtbar dem Staatswesen als ganzem zugeordnet und standen in der Zucht einer klar umrissenen öffentlichen Aufgabe. Dieser Zeit war auch in ihrer konkreten Existenz vorgegeben und in ihrer Theorie gegenwärtig, daß eine Gewaltenteilung, die den Staat nicht auflösen soll, immer zu einer „constitution mixte" führen muß, in der sich demokratische, aristokratische und monokratische Elemente stabilisierend verbinden 28. Die Gewaltenteilung unserer Tage, obwohl sie sich am Beispiel des 19. Jahrhunderts legitimiert, weiß davon wenig oder nichts. Sie erschöpft sich in der Teilung, Aufhebung und Anonymisierung der Herrschaftsordnung und mit ihr der politischen Verantwortung. Es ist demgegenüber durchaus systemwidrig und vor allem vom Zufall des Schicksals abhängig, wenn gleichwohl bisweilen ein Staatsmann dank 23 Zur Lehre von der „constitution mixte" oder vom „status mixtus" besonders Carl Sdimitt, Verfassungslehre S. 74, 216, 305; ferner Oskar Werner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips S. 13 ff. und passim.

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der Kraft seiner Persönlichkeit einen Teil der verflüchtigten Verantwortung wieder zusammenrafft. Nun mag gerade dieser Zustand der Herrschaftsaufhebung manchem als reife, jetzt glücklich erreichte Spätform der Staatsgestaltung erscheinen, ausgezeichnet vor allem dadurch, daß in ihr das Individuum die meiste Freiheit hat. Aber die geschichtliche Erfahrung bestätigt diese Annähme nicht, und man darf sich durch die der Bundesrepublik lange Jahre hindurch geschenkte wirtschaftliche Prosperität und durch das temporäre Ver-halten in den weltpolitischen Begegnungen der großen Mächte nicht darüber täuschen lassen, daß Unordnung und Unruhe der heutigen Welt sich wesentlich im Schicksal Deutschlands zusammenziehen. Hier gilt die geschichtliche Erfahrung erst recht, daß es kein Leben eines Volkes im Staat ohne Ordnung und Zucht gibt und daß es eine Illusion ist zu meinen, ein Volk könne seine Existenz bewahren und seinen Gliedern ein Dasein in Freiheit und innerem Frieden sichern, ohne daß es sich in einer handlungsfähigen Herrschaftsordnung diszipliniert. 2. Damit ist der Sinn der Gewaltenteilung nicht bezweifelt und ihr Segen nicht zurückgewiesen. Aber ihr höchster Perfektionsgrad liegt nicht darin, daß keine obrigkeitliche Gewalt mehr übrigbleibt. Der extreme Bewährungsfall hierfür ist der Ausnahmezustand. Die klassische Gewaltenteilungslehre wußte, daß das Funktionieren der Gewaltenteilung an die Normallage ungestörter innerer und äußerer Ruhe gebunden ist. Sie wußte zugleich, daß Not, Gefahr, Katastrophen, Krieg und Funktionsunfähigwerden der Verfassungsorgane über ihre Möglichkeiten hinauswachsen. In solchen Lagen muß sich zeigen, ob der Staat noch zur Selbstbehauptung imstande ist und ob er die Kraft hat, ungebrochen obrigkeitliche Schutz- und Ordnungsgewalt zu betätigen, gerade auch um mit ihrer Hilfe die politische Gemeinschaft zur befriedeten Ruhesituation zurückzuführen. Der verfassungsrechtliche Ausdruck dieser Einsicht sind die Notstands- oder Ausnahmezustandsartikel, die in allen überlieferten gewaltenteilenden Verfassungen enthalten sind. Sie sehen vor, daß bei schwerer Störung der Ruhe und Ordnung im Staate und bei äußerer Bedrohung das Gewaltenteilungssystem suspendiert wird und die ungeteilte Verantwortung für das Schicksal des Staates an ein bestimmtes Organ, meist das Staatsoberhaupt, temporär zurückfällt. Im Bonner Grundgesetz gab es nichts dergleichen. Zunächst hatten die Besatzungsmächte die Ausklammerung des Staatsnotstandes aus

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dem Grundgesetz verlangt und sich im Besatzungsstatut vom 12. Mai 1949 (Art. 3) die entsprechenden Souveränitätsrechte selbst vorbehalten. Dieser Notstandsvorbehalt der Westalliierten wurde dann durch Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages vom 26. Mai 1952 / 23. Oktober 1954 über den Zeitpunkt (5. Mai 1955) hinaus verlängert, zu dem das Besatzungsregime sein Ende fand. Die Vertragsklausel stellte das Erlöschen der westalliierten Notstandsbefugnisse in Aussicht, sobald die Bundesrepublik selbst sich eine Notstandsverfassung gegeben haben würde. Aber die entsprechenden Vorlagen zu einer Grundgesetzänderung und -ergänzung haben sich über drei Bundestagswahlerioden hingeschleppt mit einer progressiven Verwässerung der Entwürfe 24 . Besonders charakteristisch war hierbei die Tendenz, die Notstandsbefugnisse zeitlich und gegenständlich außerordentlich zu limitieren und vor allem hohe qualifizierte Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat vor ihr Wirksamwerden vorzuschalten. Erneut erweist sich an diesem Beispiel die gruppenbündische Aufteilung der politischen Gewalt als so verfestigt, daß auch für den Ausnahmezustand keiner mehr seinen Anteil preisgibt und lieber das Phänomen des Ausnahmezustandes überhaupt negiert. Immerhin ist die Notstandsverfassung durch das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 709) doch noch zustande gekommen. Im übrigen war sich auch der Bonner Verfassungsschöpfer durchaus der Aufgabe bewußt, auch bei aller Teilung der Gewalt eine übergeordnete, höchste Instanz vorzusehen, die über den divergierenden Teilmächten letzte, verbindliche Entscheidungen trifft. Aber er wählte hierzu bezeichnenderweise ein Gericht, das Bundesverfassungsgericht. Dieser Gerichtshof kann zwar innerhalb des Gewaltenteilungssystems und innerhalb eines gruppenbündischen Gleichgewichts Konflikte schiedsrichterlich lösen, indessen nicht Aufgaben verantwortlicher gestaltender Herrschaft erfüllen, wie sie der Ausnahmezustand stellt. 94 Es sind dies folgende Entwürfe: Schröder - Entwurf vom 5. Februar 1960 (Bundestagsdrucks. 111/1800; Höcherl - Entwurf vom 11. Januar 1963 (Bundestagsdrucks. IV/891); Benda - Entwurf vom Mai 1965 (Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages, Bundestagsdrucks. IV/3494 und zu IV/3494); Lücke - Entwurf vom 13. Juni 1967 (Bundestagsdrucks. V/1879). Ein eindrucksvolles Bild von der Verworrenheit der Lage haben die ausgedehnten Anhörungen geliefert, die der Rechtsausschuß und der Innenausschuß des Bundestages im November und Dezember 1967 in fünf Informationssitzungen durchgeführt haben. Die stenographischen Berichte hierüber liegen in den Protokollen 55/71, 57/73, 59/75, 60/76 und 62/77 der beiden Ausschüsse gedruckt vor.

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m Yon diesem verwirrenden Bilde wendet sich der Blick auf Möglichkeiten, ein abschließendes Urteil zu gewinnen. Gewaltenteilung um ihrer selbst willen bis ans Ende zu treiben, so daß keine schützende und haltende staatliche Autorität mehr erkennbar wird, bietet offenbar keinen Ausweg und bietet auch keine Sicherung für die individuelle Freiheit. Denn man entledigt sich dann in Wahrheit nicht der politischen Macht, sondern nur ihrer kontrollierbaren Verantwortlichkeit. Es kommt deshalb vielmehr darauf an, Gewaltenteilung so zu verstehen, daß in ihr mit den Segnungen einer Diszipliniarung des Machtgebrauchs auch eine wirkliche Ordnung der tragenden Kräfte des Staates und ihre Erhebung zu verantwortlicher Sachwalterschaft wirksam wird. Der gruppenbündische Pluralismus der parteienstaatlichen Massendemokratie hat die überlieferte Dreigliederungsvorstellung ihres alten Sinnes entleert. Gewiß kommt es nun nicht darauf an, die Situation der konstitutionellen Monarchie zu restaurieren. Aber nicht von ungefähr hat die Verfassungsentwicklung der Neuzeit die Gliederung der Staatsfunktionen in Exekutive, Legislative und Justiz so stark herausgekehrt, daß sie uns allen selbstverständlich ist. In ihnen manifestieren sich elementare Grundpositionen herrschaftlichen Waltens, ohne die es — jedenfalls in der zeitgenössischen Lage — einen geordneten Staat mit dem Anspruch auf Dauer nicht gibt. Es fragt sich nur, ob sich auf der soziologischen Realität der parteienstaatlichen Massendemokratie ein Verfassungssystem errichten läßt, in dem Exekutive, Legislative und Justiz nicht nur ein verfassungsrechtliches Instrumentarium des Machtgebrauchs für parakonstitutionelle Kräfte bezeichnen, sondern Verkörperungen wirklicher Träger hoheitlichen Waltens darstellen. Für den Bereich der rechtsp rechen den Gewalt kann man hierauf auch aus den gegebenen westdeutschen Verhältnissen noch eine positive Antwort entnehmen25. Die ganze Schwierigkeit liegt in der Exekutive, und zwar vor allem dort, wo es nicht mehr, wie etwa in England, unter dem Schutz der Krone möglich ist, ein verantwortungsbewußtes Staatsdienertum exklusiv mit den staatsbewahrenden Auf-

25

Ich bin dieser Frage vor allem in dem Abschnitt „Das Richtertum in der deutschen Verfassungsordnung" (oben S. 84 ff.) nachgegangen.

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gaben der Exekutive zu identifizieren. Immerhin zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten, daß Ähnliches auch unter einem republikanischen Staatspräsidenten erreichbar ist. Was Amerika und England in einer jetzt hundert Jahre währenden bedeutenden Kraftanstrengung fertiggebracht haben, sollte dem staatsgewohnten Volke der Deutschen nicht unzugänglich sein. Die innere Sachgesetzlichkeit der Dinge ist hierbei ein starker Helfer. Ihr verdanken wir es, daß auch der deutsche Staat der Gegenwart seine wesentlichen Leistungen in seinem exekutivischen Behörden- und Ämterwesen hervorbringt und immer noch seinen Halt in einem Korps verantwortungsbewußter Staatsmänner und Staatsdiener hat. Auch andere benachbarte Staaten geben hierin ein Beispiel, vor allem Frankreich. Die so bezeichnete „Exekutive" des Staates ist innerhalb der politischen Erscheinungen der Gegenwart zwar unauffällig, was aber ihrem Wirken nicht schädlich ist. Ihre sachlichen Leistungen werden heute oft verkleinert, und erst recht wird ihre politische, d. h. stabilisierende Funktion gern nur gering eingeschätzt. Indessen gibt sie hinter dem Vordergrund des fluktuierenden politischen Getriebes dem politischen Gemeinwesen das eigentliche institutionelle Gerüst. Ohne sie kann gerade die parteienstaatliche Massendemokratie als Staat und als freiheitliches Gemeinwesen nicht bestehen. Von dieser Feststellung aus kann die Entfaltung der Gruppenmächte innerhalb des Bereichs, den wir traditionell als den des Parlaments oder der Legislative bezeichnen, um so unbefangener als legitim, notwendig und sogar fruchtbar anerkannt werden. Das innere Gesetz des Staates fordert auch unserer Zeit ab, die Autorität seines hoheitlichen Waltens überzeugend zu begründen und die öffentlichen Verantwortungsbereiche in ihren spezifischen Aufgaben und Verpflichtungen sichtbar zu machen. Auf diese Notwendigkeit bezogen, stellt sich als Ziel der Gewaltenteilung nicht die negative Verflüchtigung, sondern die positiv und konkretisierend ordnende Zuteilung der politischen Gestaltungsverantwortung im Staate dar.

IX. Mittelbare und unmittelbare Demokratie I. Der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis stellt sich uns, wohl am auffallendsten bei den Naturwissenschaften, als ein kontinuierlicher Prozeß dar, der bisweilen schneller und sprunghaft, manchmal verhaltener verläuft, bei dem es jedoch keinen Verlust inzwischen gewonnener Einsichten und kein Zurückgeworfenwerden auf frühere Erkenntnisstufen oder gar auf die ursprünglichsten Anfänge gibt. Das gilt auch für weite Bereiche der Geisteswissenschaften, etwa die Historie, die Philologie, die Kunstwissenschaft und die Wirtschaftswissenschaft. Es gilt nicht für die Lehre vom Staat und von seinen Lebensformen. Hier stehen wir immer wieder an einem neuen Anfang, bei dem alles vorher Bedachte und Erfahrene vergessen oder vergeblich zu sein scheint. Was uns die Antike an staatstheoretischen und politischen Einsichten überliefert hat, was Mittelalter und Neuzeit und selbst die letzten beiden Jahrhunderte an Wissen um den Staat angesammelt haben, ist uns zwar intellektuell gegenwärtig und literarisch zugänglich. Wir werten es aber nicht oder jedenfalls nicht wirksam aus für unser politisches Urteilen und Tun in unserer jeweiligen politischen Gegenwart, sondern kehren immer wieder zu der Ratlosigkeit und Einfalt des Anfangs zurück. So hatte das demokratische Zeitalter im Augenblick der deutschen Staatsumwälzung von 1918/19 schon eine mehr als hundertjährige Erprobung hinter sich; aber man bewegte sich 1919 in Weimar und weithin auch in den wissenschaftlichen Erörterungen, die das Entstehen des Weimarer Verfassungswerks begleiteten, gegenüber den Problemen der Demokratie in Gedankengängen, die uns heute naiv anmuten. Inzwischen haben wir bis zur Schaffung des Bonner Grundgesetzes 30 und bis heute mehr als 50 Jahre eindringlichster Erfahrungen durchlebt, in denen es auch an klugen und teilweise brillanten theoretischen Analysen der verfassungspolitischen Lage nicht gefehlt hat. Dennoch fühlten wir uns 1949 und fühlen wir uns heute in ähnlicher Weise wie 1919 auf sehr bescheidene Anfänge im Nachdenken über unsere eigene politische Situation und im Urteil über sie zurückgeworfen.

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Diese Schwäche theoretischer Analysen und Einsichten, dieser Mangel an Effektivität gewonnenen Wissens für die politische Lebensbewältigung und der daraus resultierende Anschein der Diskontinuität im Entwicklungsgang der staatsrechtlichen und politischen Theorie haben offenbar ihren Grund darin, daß der elementare Charakter der politischen Existenz immer wieder die im Intellekt bewahrte Einsicht und Erfahrung beiseiteschiebt und daß die Dynamik des Machtbesitzes und des Machtgebrauchs für das Bewußtsein der Beteiligten stets eine neue Art politischen Urzustandes entstehen läßt.

Π. Wer mittelbare und unmittelbare Demokratie einander gegenüberstellt, scheint damit schon ein Werturteil vorwegzunehmen. Die Demokratie erfüllt ihren Sinn als Herrschaft des Volkes oder Herrschaft durch das Volk offenbar dann am besten, wenn der Einfluß des Volkswillens auf die Gestaltung der Staatsgeschicke möglichst dicht entfaltet wird und hemmende oder verzerrende Zwischenschaltungen ferngehalten werden, also als unmittelbare Demokratie. In diesem einfachen, wenngleich nicht unbestrittenen Gedankengang1 bewegten sich auch die Schöpfer der Weimarer Verfassung. Sie konnten natürlich den von ihnen zu reorganisierenden Flächenstaat mit seiner komplizierten politischen und Gesellschaftsstruktur nicht im ganzen auf unmittelbare Demokratie gründen, sondern mußten sich auf eine repräsentative Demokratie einrichten, bei der das Volk auf die Wahl repräsentierender Sachwalter, vor allem des Parlaments und dazu noch des Staatsoberhauptes, beschränkt blieb. Aber sie fügten dem Verfassungsbau Elemente einer unmittelbaren, einer plebiszitären Demokratie ein. Das geschah, von dem „perfekten Proporz" (Willms S. 8) des Wahlsystems abgesehen, mit einem anerkennenden Seitenblick auf das Beispiel der Schweizer Referenden in der Weise, daß in einigen Fällen das Volk selbst dazu aufgerufen werden oder sich dazu drängen konnte, mit dem Stimmzettel über Sachfragen des politischen Schicksals zu entscheiden. Das Volk konnte u. U. selbst Gesetze be-

1

Zu seiner Problematik etwa Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat (1958); Wilhelm Hennis , Meinungsforschung und repräsentative Demokratie (1958) passim; Günther Willms, Aufgabe und Verantwortung der politischen Parteien (1958) S. 8 ff.

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schließen2. Das erschien als ein Rückgriff auf ursprünglichere demokratische Legitimationen und sollte von dort aus einen stärkeren demokratischen Geltungsgrund beziehen. Das Ergebnis war enttäuschend3. Der Reichspräsident, der an sich jedes vom Parlament beschlossene Gesetz zum Volksentscheid stellen konnte und damit sozusagen die Befugnis hatte, vom Parlament an das Volk zu appellieren, hat von dieser Befugnis niemals Gebrauch gemacht. Für solche Appelle an das Volk bot sich ihm der überzeugendere Weg, den Reichstag aufzulösen und in der Neuwahl die bezweifelte Vertrauensbeziehung zwischen Volk und Volksvertretung sich neu herstellen zu lassen. Dagegen ist im ganzen achtmal versucht worden, einen Volksentscheid durch Volksbegehren, also vom Volke selbst her, zustande zu bringen. Drei dieser Volksbegehren wurden als unzulässig abgewiesen, weil sie Finanzfragen betrafen, die einem Volksbegehren verschlossen waren (Art. 73 Abs. 4 WRV). Ein viertes an sich zugelassenes Begehren wurde von seinen Initiatoren nicht weiterverfolgt, ein fünftes erledigte sich durch einen gleichlautenden Reichstagsbeschluß. Nur in drei Fällen wurde ein Volksbegehren durchgeführt. Das von den Kommunisten betriebene Volksbegehren gegen den Panzerkreuzerbau (1928) blieb erfolglos, so daß man nur zweimal vom Volksbegehren zu einem eigentlichen Volksentscheid durchstieß; am 26. Juni 1926 fand auf Betreiben der SPD und KPD ein Volksentscheid statt, dem ein Gesetz über die entschädigungslose Abfindung der früheren Fürstenhäuser zugrunde lag; am 22. Dezember 1929 folgte ein Volksentscheid über ein „Gesetz gegen die Versklavung des Deutschen Volkes", mit dem die Deutschnationale Volkspartei und der „Stahlhelm" das Kriegsschuldanerkenntnis im Versailler Vertrag und den Young-Plan attackieren wollten. Beide Volksentscheide scheiterten ziemlich kläglich an der viel zu geringen Zahl der Abstimmenden. Die Gegner des Begehrens konnten in Bundesgenossenschaft mit den ohnehin Gleichgültigen durch Nichtbeteiligung an der Volks-

2

Die Regelung war in den Artikeln 73 bis 76 WRV und in dem Gesetz über den Volksentscheid vom 27. Juni 1921 (RGBl. S. 790) enthalten. Die Zusammenhänge sind dargestellt und kritisch gewürdigt von Carl Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren (1927). 3

Über die Erfahrungen mit der Volksgesetzgebung während der Weimarer Republik hat Hans Schneider, Volksabstimmungen in der rechtsstaatlichen Demokratie, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek (1955) S. 155 ff., 157 f. zusammenfassend berichtet. 1

eber

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abstimmung die Erreichung der für einen gültigen Volksentscheid erforderlichen Mindestzahl verhindern 4. Gewiß wäre es nach diesen Erfahrungen nicht berechtigt, die Regelung der Weimarer Verfassung über Volksbegehren und Volksentscheide völlig zu verwerfen. Es ist sicher, daß der Reichstag bei manchen Gesetzgebungswerken dadurch zur Besonnenheit gemahnt wurde, daß er bei allzu extravaganten Gesetzesvorhaben mit einem vom Reichspräsidenten angeordneten Volksentscheid hätte rechnen müssen. Das präsidentielle Recht, gegen den Reichstag einen Volksentscheid anzuordnen, gehörte mit zu der mäßigenden Gewaltenbalance zwischen den Positionen des Reichspräsidenten und des Reichstags, und es wirkte in diesem Sinne, auch wenn von ihm nicht Gebrauch gemacht wurde. Aber wenn man von dieser mehr mittelbaren Wirkung des Volksentscheidsinstituts absieht, führten die Erfahrungen der Weimarer Republik mit Volksabstimmungen doch zu einer starken Ernüchterung. Nur Gesetze konnten den Gegenstand von Volksbegehren und Volksentscheiden bilden. Daß indessen die Masse der Stimmberechtigten in der Lage gewesen wäre, über die möglicherweise höchst komplizierten und in ihrer Tragweite unabsehbaren Regelungen eines Gesetzes ein fundiertes Urteil abzugeben, war für niemanden überzeugend. Weiter ist zu bedenken, daß eine Volksabstimmung immer auf eine Frage bezogen sein muß, die mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden kann. Es kommt also wesentlich auf die Fragestellung und darauf an, daß die Frage von einem mit Führungsverantwortung ausgestatteten Staatsregiment, und zwar so gestellt wird, daß in der antwortenden Volksabstimmung gleichzeitig und sogar vornehmlich ein Votum über die Träger des Staatsregiments und die von ihnen eingenommene politische Grundhaltung zum Ausdruck gelangt. Das brachten die Volksabstimmungen der Weimarer Verfassung nicht zustande. Schließlich gehört es zu den wesentlichen Anliegen der Demokratie, die politische Einheit des im Staate geformten Volkes immer wieder neu zu konstituieren und zu manifestieren. Die Volksbegehren und Volksentscheide der Weimarer Staatspraxis hatten gerade das Gegenteil bewirkt; sie hatten das Volk aufgewühlt, zerrissen und in einem Trümmerfeld der Entzweiungen zurückgelassen5. Sie hatten insofern ihren demokratischen 4 Wegen der Daten im einzelnen kann auf die zitierte Abhandlung von Hans Schneider verwiesen werden.

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S. 15

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Zweck gerade verfehlt. Auf der Grundlage einer politisch inhomogenen Gesellschaftsstruktur — in dieser mangelnden Homogenität liegt einer der Unterschiede gegenüber den Verhältnissen in der Schweiz — brachten sie statt einer einenden Integration das Trennende und Gegensätzliche heraus. Sie blieben insofern weit hinter den Wahlen zum Reichstag und zum Reichspräsidentenamte zurück, aus denen bei allen Vorbehalten immerhin Organe hervorgingen, in denen die Einheit des Staatswesens doch überzeugender ihren Ausdruck fand. Das nationalsozialistische Regime ist in der Praxis seiner Plebiszite diesen Fehlern ausgewichen. Es hat die Volksabstimmung nach dem Gesetz über Volksabstimmungen vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 479) als Akklamationen des Volkes auf Fragen der Regierung ausgestaltet. Es hat sie von der Beschlußfassung über Gesetze gelöst und einfache Grundtatbestände des politischen Geschehens zu ihrem Gegenstand gemacht. Es hat in seiner Volksabstimmungspraxis ferner dem Volke keine offenen Fragen vorgelegt, sondern nur schon getroffene Regierungsentscheidungen zur plebiszitären Akklamation gestellt und damit zugleich den Plebisziten eine entschieden persönliche, auf den führenden Staatsmann bezogene Wendung verliehen, was der Äußerungsbereitschaft des Volkes besonders stark entgegenkommt6. Der legitimierende Erfolg oder Scheinerfolg der Plebiszite des nationalsozialistischen Regimes beruht nicht zuletzt auf dieser Ausgestaltungsweise. Indessen sind bei den hier gemeinten Volksabstimmungen andere Gefahren ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden: vor allem die irrationale und emotionale Unberechenbarkeit der Volkswillensäußerungen, die Anfälligkeit gegenüber einer demagogischen Verzauberung und die Bereitschaft der Massen der Abstimmenden, aus einer bestimmten, vom Fragesteller wohlüberlegt und womöglich täuschend manipulierten Situation heraus durch Akklamation ein demokratisches Mandat zu erteilen, das dann von einem entschlossenen Mandatar leicht zur Uberwindung aller Gewaltenteilungshemmungen des Rechtsstaats und schließlich zu unumschränkter Machthaberschaft ausgeufert werden kann.

12. März 1950 in Belgien durchgeführte „Consultation populaire" über die Königsfrage fest. β Zu den Plebisziten Hitlers näher Hans Schneider, a.a.O. S. 160 ff. 12·

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1IL 1. Das Bonner Grundgesetz kennt nichts anderes mehr als mittelbare Demokratie. Man hatte im Parlamentarischen Rat auch erwogen, die Möglichkeit von Volksentscheiden in der Verfassung der Bundesrepublik vorzusehen, hat aber den Gedanken nach kurzer Diskussion verworfen 7. Für diese Entscheidung der Verfassungsschöpfer waren mehrere Gründe bestimmend: Man hatte an die Volksbegehren und Volksentscheide der Weimarer Republik eine fatale Erinnerung, weil sie ins Leere gestoßen und statt einer Integrierungswirkung Entzweiungen hinterlassen hatten. Für manche war der Volkswille audi deshalb diskreditiert, weil er nach ihrer Meinung mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 eine politisch falsche Entscheidung getroffen hatte. Erst recht konnte aber mit dem Hinweis auf die von Hitler veranlaßten Plebiszite dargetan werden, daß auf den in unmittelbaren Volksabstimmungen aktualisierten Volkswillen kein Verlaß sei8. Vor allem auch war der Prozeß der Umbildung der politischen Parteien zu festen Apparaturen und politischen Herrschaftsträgern inzwischen so weit fortgeschritten, daß sie ihr politisches Entscheidungsmonopol im Namen des Volkes nicht mehr durch Rückgriffe auf das Volk als höhere demokratische Instanz in Frage gestellt wissen wollten. Das Bonner Grundgesetz ist klar darauf abgestellt, nur das als demokratisch maßgeblich gelten zu lassen, was von den politischen Parteien sanktioniert worden ist. Es ist keineswegs ein Zufall, daß das Volk nach dem Grundgesetz nur noch die Befugnis hat, den Bundestag und die Landesparlamente zu wählen, d. h. über das spezifische politische Gewicht der Parteien in ihrem gegenseitigen Verhältnis eine Entscheidung zu treffen und die Parteien selbst als die Repräsentanten des Volkswillens zu bestätigen. Aus dieser Absicht ist es zu erklären, daß das Grundgesetz nicht nur jedwede Form unmittelbarer Volksabstimmung negiert 9, sondern auch die Auswahl des Bundespräsidenten den Parteien in die Hand gibt und ferner jedwede Form der Parlamentsauflösung im Sinne eines Rekurrierens vom Parlament an das Volk während der Wahlperiode des Bundestags ver7

Vgl. den Bericht über die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes im Jahrb. d. öff. R. NF 1 S. 620 f. und Hans Schneider a.a.O. S. 155 f. 8 Näher zu den Motivierungen ό. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz (1953) S. 136 f. θ Die „Bevölkerungsabstimmungen" der Artikel 29, 118 GG können hier als in eine andere Rubrik gehörig außer Betracht bleiben.

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wirft. Die Bestimmungen über die Zusammensetzung des Bundesrates zielen in die gleiche Richtung. Nach dem Bonner Grundgesetz wird der politische Volkswille, von den Parlamentswahlen abgesehen, ausschließlich durch die politischen Parteien ausgeformt; der Wille der durch die Wahlen legitimierten Parteien steht für den Volkswillen. Es ist zwar bekannt, daß auf die Willensbildung der Staatsführungsstellen auch andere Gruppenorganisationen — Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Interessengruppen usf. — einen recht nachhaltigen Einfluß haben; aber das Grundgesetz selbst weiß davon nichts, und überdies gelangt der Volkswille hier gleichfalls nur höchst mittelbar zur Geltung. 2. Die ganze Problematik ist durch die Volksentscheidsaktionen zur Atombewaffnung der Bundeswehr im Jahre 1958 erneut aufgerührt worden. Die hierbei entfachte Leidenschaft entzündete sich freilich nicht aii der Gegenüberstellung von mittelbarer und unmittelbarer Demokratie. Es ging nicht darum, der unmittelbaren Demokratie um ihrer selbst willen wieder Terrain zurückzugewinnen. Infolgedessen wurden in die Auseinandersetzungen auch wenig Erörterungen über die innere Legitimität unmittelbarer Volkswillenskundgebungen im Verhältnis zur Parteiendemokratie der Bundesrepublik eingeführt. Vielmehr handelte es sich betontermaßen um eine parteipolitisch initiierte und determinierte Aktion, bei der die Anrufung des Volkswillens nur ein situationsbedingtes Mittel zu dem Zweck darstellte, in der Frage der Atombewaffnung eine bestimmte Entscheidung durchzusetzen und in den parteipolitischen Kräfteverhältnissen eine Änderung herbeizuführen. Hiermit verband sich der weitere Zweck, zugleich ein im Parlament nicht erreichbares negatives Votum über die Politik und die Führungsrolle des Bundeskanzlers herbeizuführen 10. Die Oppositionsparteien des Bundestags hatten unter der Führung der SPD zunächst vergeblich versucht, einen Beschluß des Bundestages zu erwirken, der die Bundesregierung ersuchte, ailf die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu verzichten und die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik abzuwehren 11. 10

Hans Schneider (Gedächtnisschrift für Walter Jellinek S. 156) hat diesen Fall (1955) richtig vorausgesagt mit der Bemerkung: „Man kann sich unschwer Lagen vorstellen, in denen es einer politischen Partei, insbesondere einer nicht in der Regierung vertretenen Partei, sehr erwünscht wäre, an Stellè einer ohnmächtigen Oppositionsrolle im Parlament der aktive Initiator eines Volksbegehrens zu sein." 11

Vgl. Sten.Ber. über die 21. Sitzung des Bundestags v. 25.3.58, S. 1152 C.

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Darauf brachte die Fraktion der SPD im Bundestag eine Gesetzes* Vorlage (Drucks. Nr. 303 des Bundestags, 3. Wahlp.) ein, wonach eine Volksabstimmung stattfinden sollte, in der den Wahlberechtigten der Bundesrepublik folgende Fragen zur Beantwortung vorgelegt werden sollten: „1. Sind Sie damit einverstanden, daß deutsche Streitkräfte mit atomaren Sprengkörpern ausgerüstet werden? 2. Sind Sie damit einverstanden, daß in Deutschland Abschußvorrichtungen für atomare Sprengkörper angelegt werden?"

Die Gesetzesvorlage wurde abgelehnt. Darauf ergingen auf Betreiben der SPD im Mai 1958 in den Ländern Hamburg und Bremen Landesgesetze, die Volksabstimmungen mit ähnlicher Fragestellung in diesen Ländern vorsahen. Nachdem ein entsprechender Versuch im Hessischen Landtag keinen Fortschritt nahm, faßten die Vertretungen einiger hessischer Gemeinden, darunter der Städte Frankfurt/Main, Darmstadt, Kassel und Offenbach, den Beschluß, gleichlaufende Volksabstimmungen in ihren Gemeindegebieten stattfinden zu lassen. Die Bundesregierung setzte sich hiergegen durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zur Wehr. Am 30. Juni 1958 erklärte dieses Gericht in zwei Urteilen alle erwähnten Gesetzes- und Gemeindevertretungsbeschlüsse für verfassungswidrig (BVerfGE8, 104 ff.; 122 ff.) 12. Die Volksbefragungsaktion war damit erledigt. Das Bundesverfassungsgericht hat für seine Entscheidung keine erschöpfende Begründung geliefert, sondern sich, und zwar mit gutem Recht, damit begnügt, einige nächstliegende Gründe nachzuweisen, die schon für sich allein die Entscheidung tragen. Ohne ausdrücklich darauf einzugehen, aber zwischen den Zeilen deutlich genug, verwirft das Bundesverfassungsgericht die Annahme, ein Rückgriff auf den unmittelbaren Volkswillen sei in jedem Falle eine legitime Darstellungsweise der Demokratie, auch wenn die geltende Verfassung eine solche Anrufung des unmittelbaren Volkswillens nicht kennt. Man findet m. a. W. in den Urteilen die schon der Verfassungslehre der Weimarer Republik geläufige Erkenntnis bestätigt, daß das Volk in der rechtsstaatlichen Demokratie nicht über der Verfassung steht und 12 Durch Urteil vom 27. Mai 1958 (BVerfGE 7, 367 ff.) hatte das Bundesverfassungsgericht schon im Wege einstweiliger Anordnung die Durchführung der Volksbefragung in Hamburg, durch Beschluß vom 10. Juni 1958 (BVerfGE 7, 374 ff.) sie auch in Bremen untersagt. Ein weiterer Beschluß vom 23. Juni 1958 (BVerfGE 8, 42 ff.) hatte die Aussetzung aller gemeindlichen Volksbefragungen in Hessen angeordnet.

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nicht Herr der Verfassung ist, sondern sich nur nach Mafigabe der Verfassungsbestimmungen zur Geltung bringen k a n n 1 3 . Daß es sich i n Zeiten eines politischen Umbruchs zum Träger der verfassunggebenden Gewalt erheben kann, steht auf einem anderen Blatt und tut hier nichts zur Sache 14 . Das Bundesverfassungsgericht arbeitet sodann heraus, daß es die große Bedeutung der öffentlichen Meinung für den Gang der politischen Geschehnisse nicht verkennt. Es heißt dazu i n dem entscheidenden Passus des Urteils über die Fälle Bremen und Hamburg (BVerfG E 8, 113 f.): „Die in der »öffentlichen Meinung* zum Ausdruck kommenden Tendenzen und Stellungnahmen zu politischen Fragen mag man als »Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes* bezeichnen, öffentliche Meinungsbildung und Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes erfahren aber keine Schmälerung und keine Minderung ihrer Bedeutung und ihres Gewichts in der Demokratie, wenn sie ihrem Wesen entsprechend als eine Erscheinung des gesellschaftlich-politischen und nicht des staatsorganschaftlichen Bereichs begriffen werden. In sie gehen ein — ohne daß damit eine erschöpfende Darstellung des Integrationsprozesses gegeben würde, der zur öffentlichen Meinung und politischen Willensbildung des Volkes führt — die vielfältigen, sich möglicherweise widersprechenden, ergänzenden, gegenseitig beeinflussenden Wertungen, Auffassungen und Äußerungen des Einzelnen, der Gruppen, der politischen Parteien, Verbände und sonstigen gesellschaftlichen Gebilde, die ihrerseits von einer Vielzahl von (politisch relevanten) Tatsachen, zu denen auch Entscheidungen des Staates und Äußerungen und Maßnahmen staatlicher Organe gehören, beeinflußt sind, öffentliche Meinung und politische Willensbildung des Volkes kann aber nicht identifiziert werden mit staatlicher Willensbildung, d. h. der Äußerung der Meinung oder des Willens eines Staatsorgans in amtlicher Form. Auch das Grundgesetz geht von dieser Unterscheidung aus: Einerseits handelt Art. 21 Abs. 1 GG von der politischen Willensbildung des Volkes, andererseits handelt Art. 20 Abs. 2 GG von der Bildung des Staatswillens, und zwar von der Ausübung der vom Volk ausgehenden und unter Umständen auch vom Volk selbst als Staatsorgan wahrgenommenen Staatsgewalt. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob das Ergebnis der in den beiden Gesetzen angeordneten Volksbefragungen einen Faktor im Prozeß der Bildung der öffentlichen Meinung oder der politischen Willensbildung des Volkes darstellt — eine Frage, die natürlich zu bejahen ist —, sondern die, ob sich die Volksbefra13

Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928) S. 98 f., 239 ff. Zur Problematik der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, Wilhelm Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes (1957); derselbe, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes in Lehre und Wirklichkeit, Der Staat 1968 S. 165 ff.; Udo Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes (1966); Klaus O.Bey me, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes (1968). 14

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gung darin erschöpft, und nodi genauer die, ob sie eine Veranstaltung dies gesellschaftlich-politischen oder des staatsorganschaftlichen Bereichs ist oder — anders ausgedrückt — in welcher Eigenschaft der Befragte angesprochen und zur Beantwortung aufgerufen wird."

Danach hatte das Urteil zu untersuchen, ob es sich bei den angeordneten „Volksbefragungen" um eine im gesellschaftlich-politischen Raum erfolgende Bildung der öffentlichen Meinung und die Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes handelte, die „sich ungeregelt und durch alle verfassungsrechtlich begrenzten Kompetenzräume hindurch unter Mitbeteiligung aller lebendigen Kräfte nach dem Maße ihres tatsächlichen Gewichts und Einflusses vollziehen" (BVerfGE 8, 115), oder ob es darum ging, „die Rechtsgrundlage für eine Betätigung des Bürgers im status activus, für eine Teilnahme des Bürgers als Glied des Staats Volkes bei der Ausübung von Staatsgewalt (zu schaffen), . . . ob also das Volk als Verfassungsorgan des demokratischen Staates an der Bildung des Staatswillens teilhaben" solle (a.a.O. S. 114). Wie die Dinge lagen, mußte das Bundesverfassungsgericht hier einen Fall förmlicher, organschaftlicher Staatswillensbildung als gegeben annehmen. Damit aber stand fest, daß die Normen des Grundgesetzes über die Ausübung der Staatsgewalt anzuwenden waren. Von dieser Grundlage aus brauchte das Bundesverfassungsgericht seine Begründung nur noch wenige Schritte weiterzuführen. Mit einer Argumentation, die hier im einzelnen nicht interessiert, konnte es verhältnismäßig leicht dartun, daß die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern es Bremen und Hamburg und daß die verfassungsmäßige Ordnung des Kommunalwesens es den erwähnten hessischen Gemeinden verwehrte, in ihrem Bereich eine Staatswillensbildung in Bundesangelegenheiten und gegen die verfassungsmäßigen Bundesorgane zu mobilisieren 15. Dem Bundesverfassungsgericht ist kein Vorwurf daraus zu machen, daß es hier abbricht und die Feststellung einer Zuständigkeitsverletzung durch die Volksbefragungsgesetze und -beschlüsse als Grund dafür, diese Akte für nichtig zu erklären, genügen läßt. Das Interesse des als Staatsbürger beteiligten Zeitgenossen und des wissenschaftlichen Betrachters wendet sich natürlich auch der Problematik 15

Die beiden Urteile vom 30. Juli 1958 sind von Theodor Maunz, Grundgesetz und Volksbefragungsgesetze (DÖV 1959 S. 1 ff.) und von Ernst-Werner Fuß, Dië Nichtigerklärung der Volksbefragungsgesetze von Hamburg und Bremen (AöR 83/1958 S. 383 ff.) gewürdigt worden. Ob diese Stellungnahmen in allen Teilen Beifall verdienen, kann hier dahingestellt bleiben.

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jener Volksbefragungsaktionen im übrigen zu. Gegen die Volksbefragungsaktion ist vor allem eingewendet worden, sie verstoße deshalb gegen das Grundgesetz, weil die Schöpfer des Grundgesetzes es bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates ausdrücklich abgelehnt hätten — wie dies im Text des Grundgesetzes auch genügend deutlich zum Ausdruck gebracht worden sei —, plebiszitäre Elemente in dié Verfassung der Bundesrepublik aufzunehmen. Gegen die Schlüssigkeit dieser Argumentation ist wenig zu sagen. Aber ein wenig tiefer reicht doch wohl das Bedenken, daß mit den beabsichtigten Volksabstimmungen versucht werden sollte, in den Verantwortungsbereich der Exekutive, genauer der Regierung, einzubrechen und diese zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. Die Verwirklichung dieses Planes hätte bedeutet, daß die angerufene demokratische Urgewalt sich über das vom Grundgesetz mit besonderem Nachdruck statuierte Gewaltenteilungsprinzip hinweggesetzt hätte. Die Weimarer Verfassung hatte Volksbegehren und Volksentscheid vor dieser Konsequenz dadurch bewahren wollen, daß es nur Gesetze als ihren Gegenstand zuließ. Sie wollte also auch im Bereich der Volksabstimmungen die Teilung der Gewalten wahren und das Volk nur als zweiten Gesetzgeber neben dem Reichstag, also nur innerhalb der Legislative tätig werden lassen. Die Volksabstimmungsprojekte in Bremen, Hamburg und den hessischen Gemeinden kannten diese Beschränkung nicht; sie gründeten sich auf die Annahme einer demokratischen Einheitsgewalt. Sie gerieten dadurch in der Tat mit den Gewaltenteilungsforderungen des Grundgesetzes in Kollision, und zwar in dem doppelten Sinne, daß sie sowohl die politischen Verantwortlichkeiten als auch das rechtsstaatliche Balancesystem der Verfassungsordnung ignorierten. Nicht weniger gewichtig aber ist die folgende Überlegung: Eine Volksabstimmung ist immer eine Antwort auf eine Frage. Der Inhalt dieser Antwort ist entscheidend davon abhängig, unter welchen Umständen, zu welchem Zeitpunkt, über welchen Gegenstand und mit welcher Formulierung dem Votum des Volkes eine Frage unterbreitet wird 1 6 . Daraus ergibt sich, daß die Entscheidung über die Veranstaltung einer Volksabstimmung, über ihren Zeitpunkt, ihren Gegenstand und ihre Formulierung im einzelnen zu den höchsten Verfassungsfunktionen gehört. Diese Verfassungsfunktion kann niemand usurpieren, weder der Bundestag noch Länderparlamente und Gemeindever16

Dazu Hans Schneider, a.a.O. S. 169 ff. und schon Carl Schmitt, Volksbegehren und Volksentscheid (1927) S. 31 ff.

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tretungen nodi eine politische Partei oder das „Volk" selbst. Sie stellt nur dem zu, den die Verfassung selbst in sie einweist. Das Bonner Grundgesetz sieht niemanden dafür vor, zu einer Volksabstimmung überhaupt und nodi weniger in der erwähnten Konkretisierung aufzurufen. Es schließt damit jedwede Volksabstimmung jedenfalls solange als verfassungsrechtlich unzulässig aus, als nicht durch eine Verfassungsänderung diejenige Verfassungsinstanz bezeichnet ist, die über die Anordnung und die Modalitäten eines Volksentscheids zu bestimmen hat, solange nicht die staatliche Herrschaftsordnung in diesem Sinne ergänzt ist. Alles in allem stand die hier erörterte Volksbefragungsaktion auf einem verlorenen Posten, wenn sie in Anspruch nehmen wollte, die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen zu wahren. Hätte sie sich durchgesetzt, so nur im Sinne eines Staatsstreichs oder eines revolutionären Akts. Nun könnte man meinen, die Initiatoren der Volksbefragung hätten aus ihren Erfahrungen die Folgerung gezogen, jetzt als nächstes eine Ergänzung des Grundgesetzes anzustreben, die künftig die Veranstaltung von Volksabstimmungen ermöglichen würde. Aber davon ist nichts bekanntgeworden. Offenbar hat das Problem der Aktualisierung einer unmittelbaren Demokratie durch Volksabstimmungen über den im vorliegenden Falle gegebenen besonderen Anlaß hinaus heute keine Zeugungskraft. Auf die Gründe hierfür wird noch zurückzukommen sein.

IV. An sich wäre es verständlich, wenn man die Forderung dringend erhoben sähe, die demokratischen Züge unseres Staatswesens zu verlebendigen und der Teilhabe des Volkes an seinem politischen Schicksal mehr Unmittelbarkeit zu geben. Selbst einem gewaltsamen Durchbruch demokratischer Ursprünglichkeit könnte man eine gewisse Sympathie nicht versagen. Denn in der gegenwärtigen politischen und staatsrechtlichen Situation scheint alles darauf angelegt, den Zusammenhang zwischen dem Volk und den politischen Lenkern der Staaten oder Staatensysteme zu lockern und zu mediatisieren. Nach Art. 20 Abs. 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Das ist die geläufige demokratische Formel. Aber die Staatsgewalt wird vom Volk nur in den Bundestags- und Landtagswahlen ausgeübt. Der Sinn dieser Wahlen erschöpft sich darin, den politischen Parteien als

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solchen ein Mandat für die Teilhabe an den staatlichen Herrschaftsmöglichkeiten zu erteilen und ihnen im politischen Kräftespiel ein bestimmtes spezifisches Gewicht zu verleihen. Das ist nicht eigentlich eine Wahl, sondern ein plebiszitärer Vorgang, und in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Gerhard Leibholz die moderne parteienstaatliche Massendemokratie als eine plebiszitäre, d.h. auf Volksabstimmungen beruhende Demokratie bezeichnet hat 17 . Die Funktion, die in anderen Ländern, etwa in England, die Nachwahlen haben, wird in der Bundesrepublik dadurch ausgefüllt, daß neben den im Vierjahresabstand sich wiederholenden Bundestagswahlen in der Zwischenzeit auch Landtagswahlen stattfinden. In beiden Wahlen, also etwa in Abständen von 2 Jahren, wird das Volk zu einem Plebiszit darüber aufgerufen, mit welchem Gewicht und Einfluß die einzelnen politischen Parteien in der Folgezeit von den im Staatswesen beschlossen liegenden Herrschaftsmöglichkeiten sollen Gebrauch machen können. Das ist alles. Aber es ist nicht wenig. Mit seinen Wahlplebisziten, mit denen es zwischen den vorhandenen Parteien optierte, hat das Volk der Bundesrepublik, wie jeder leicht feststellen kann, den politischen Stil der Bundesrepublik, seine Wirtschafts-, Sozial-, Kulturpolitik und bis zu einem gewissen Grade auch die Außenpolitik in den vergangenen Jahren ausschlaggebend bestimmt. Zugleich wird noch etwas anderes bewirkt: Das Risiko, das in den periodisch erneuerten Wahlplebisziten für die politischen Parteien liegt, zwingt die Parteien dazu, stets in wachsamem Kontakt mit der öffentlichen Meinung zu bleiben. Sie müssen sich den Erwartungen der öffentlichen Meinung anpassen, wenn sie nicht Fehlschläge erleiden wollen. In der öffentlichen Meinung aber gelangt die Haltung und der Wille des politischen Volkes am echtesten zur Geltung. So entfaltet das System der Parlamentswahlen, so sehr es auch entpersönlicht und zu einem Plebiszit über der Parteien Macht und Einfluß abgewandelt worden ist, doch eine starke Wirkung auf den Gang der staatlichen Geschicke, und zwar eine Wirkung, die ihre Ausstrahlung wirklich vom Volke her bezieht. Alles Weitere freilich ist dann dem Volkseinfluß entzogen und der Bestimmungsgewalt der Parteien überlassen. Das demokratisch Bedenkliche hieran ist nicht so sehr, daß ein anderer für das Volk handelt, sondern daß die politische Willensbildung in den Parteiführungsgremien, die zugleich Staatswillensbildung zu sein beansprucht, 37

Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie (1958) S. 93 ff. Kritisch dazu Wilhelm Hennis , Meinungsforschung und repräsentative Demokratie S. 48 f.

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sich weithin anonym und außerhalb sichtbarer staatsmännischer Verantwortung vollzieht. Anonym getroffene politische Entscheidungen aber, mögen sie aus den Führungsgremien einer Mehrheitspartei hervorgehen oder durch die Vereinbarungen und Kompromisse mehrerer Parteien zustande kommen, entziehen sich der Kontrolle der öffentlichen Meinung und nehmen auch den erwähnten Wahlplebisziten einen Teil ihrer Überzeugungskraft, weil der reagierenden Stellungnahme des Volkes nur profiliertes Tun in öffentlicher Verantwortung begreifbar ist. Die Anonymisierung der politischen Entscheidungen durch die ihres politischen Monopols sicheren Parteien ist in der ersten Hälfte des Jahres 1959 an den Erwägungen um die Neubesetzung des ßundespräsidentenamtes besonders deutlich geworden. Nur schwer konnte der Staatsbürger verfolgen, unter welchen Gesichtspunkten in einem sehr verhüllten Hintergrund die Bestellung des Staatsoberhaupts beurteilt und ausgehandelt wurde. Während das Volk gerade dieser Stelle symbolhafter Verkörperung der politischen Einheit und der nationalen Existenz sein besonderes Interesse zuwendet, wird von ihm erwartet, daß es das Produkt interner parteitaktischer Überlegungen schließlich als Entscheidung über die Präsidentenfrage hinnimmt. Das Beispiel steht für viele andere, an denen gleichfalls deutlich wird, wie stark das Volk im Zuge seiner Mediatisierung durch die politischen Parteien von der Bestimmung über sein politisches Schicksal abgeschüttet ist. Nun könnte man meinen, daß es sich dafür auf andere Weise schadlos halte, indem es sich durch ein weitverzweigtes System nebenparteilicher Einflußgruppen, durch Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Interessenorganisationen, kommunale Spitzenverbände und andere Dachorganisationen, kraft des Einflusses der Kirchen und in welchen Institutionen und Organisationen der öffentlichen Ordnung und des gesellschaftlichen Bereichs auch immer, wieder in die Mitgestaltung des politischen Geschehens hineindränge. Diese Überlegungen sind nicht ganz von der Hand i u weisen. In allen diesen Organisationen und Institutionen ist Volk wirksam, und daß von den genannten Gruppenmächten ein starker Einfluß auf das politische Geschehen ausgeübt wird, ist uns allen gegenwärtig 18. Aber der Aufmarsch der verschiedenen, oft sehr partikulären Organisationen und Interessen repräsentiert nicht das Volk in seiner politischen Einheit und bringt keine politische Gesamtordnung zustande. Das Ergebnis ist vielmehr, 18

Dazu die Darlegungen oben S. 36 ff., 121 ff. und unten S. 198 ff.

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daß das politische Gemeinwesen, das wir Staat nennen und in dem wir die Lebensform des Volkes und seiner nationalen und politischen Einheit begreifen möchten, sich auflöst in eine Vielheit von Machtund Einflußträgern (Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Interessengruppen sonstiger Art usf.), in einen Gruppenbund, wie Theodor Eschenburg es genannt hat 19 , und damit in eine Art von Ständestaat, vergleichbar der Lage im 16. und 17. Jahrhundert. Zu der komplizierten und ganz ins Anonyme zurückweichenden Willensbildung dieses Gruppenbundes hat das Volk, audi in Gestalt der öffentlichen Meinung, keinen erkennenden und beeinflussenden Zugang. So ist die Lage in der Bundesrepublik selbst. Man muß sich aber ferner vor Augen halten, daß ein wesentlicher Teil der politischen Schicksalsbestimmung aus der Bundesrepublik überhaupt abgewandert ist und sich in die Verwaltungszentren der Europäischen Gemeinschaften und in die Nordatlantikorganisation verlagert hat. Die Bundesrepublik hat kein jus belli, keine eigene Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden; sie ist vielmehr abhängiges Glied eines der großen Machtblöcke der Welt, und über die Nordatlantikpaktorganisation ist sie auch förmlich in das Sicherheitssystem dieses Machtblockes hineingezogen, wobei ihr natürlicherweise nur eine bescheidene Mitbestimmungsquote eingeräumt ist. Die großen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen aber nehmen immer stärker ihren Sitz in den supra-nationalen Europäischen Gemeinschaften, der Montanunion, der Europäischen Gemeinschaft des Gemeinsamen Marktes und in der Europäischen Atomgemeinschaft. Es soll an dieser Entwicklung, deren Zwangsläufigkeit uns gegenwärtig ist, hier nicht Kritik geübt werden. Es handelt sich nur darum zu ermitteln, welche Rückwirkungen sich daraus auf das Problem der Demokratie ergeben. Die erste Folge nach dieser Richtung ist, daß sich die Substanz der eigenen, der nationalen politischen Entscheidungsgewalt entleert. Von Souveränität und damit auch von Volkssouveränität kann nicht mehr die Rede sein, wenn die Grundtatbestände der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht mehr im nationalen Bereich bestimmt werden, sondern außerhalb oder oberhalb dieses Bereichs ihre Formung empfangen. Wenn einem Staat vor allem auch die Entscheidungen über Krieg und Frieden, über Freund- und Feindschaften innerhalb des Systems der Mächte, über die militärische Selbstbehauptung und den militärischen 19

Theodor

Esdienburg,

Herrschaft der Verbände? (1955) S.87.

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Einsatz vorgegeben sind, dann bleibt an eigener nationaler Bestimmungsgewalt nicht allzuviel übrig; denn hier handelt es sich nicht nur um die letzten und höchsten Entscheidungen nationaler Selbstbestimmung, sondern zugleich um solche, von denen aus unter den Bedingungen der Gegenwart auch die Formung des Wirtschafts- und Soziallebens im übrigen in einfacher Folgewirkung umfaßt wird. Anders ausgedrückt: Die Eingliederung in die Europäischen Gemeinschaften und in das außenpolitisch-militärische Machtsystem, dessen organisatorischer Ausdruck die Nordatlantikpaktorganisation ist, überführt die daran beteiligten Staaten, soweit sie in den neuen Gruppen- und Gemeinschaftsbildungen nicht die hegemoniale Führung haben, zwangsläufig allmählich in den Status eines Selbstverwaltungskörpers unter Preisgabe ihrer Souveränität und damit ihrer Staatlichkeit. Im Bewußtsein der Zeitgenossen setzt sich diese Erkenntnis nur zögernd durch. Die beteiligten Staaten gerieren sich in ihrem eigenen politischen Betrieb noch sehr nach einem Stile, als ob sie über souveräne Staatlichkeit verfügten, während sie schon längst auf dem Wege zu großen Provinzen und Selbstverwaltungskörpern sind und die früher für den nationalen Staat als begriffswesentlich in Anspruch genommene Souveränität auf übergreifende politische Ördnungssysteme übergegangen ist. Für die Demokratie ergibt sich hieraus notwendig eine Entleerung und Abflachung. Die Demokratie, die antike wie die neuzeitliche, hat sich entfaltet auf der Grundlage des politischen Selbstbewußtseins geschlossener Völker, die aus der Dichte ihrer historisch-politischen Homogenität die Fähigkeit und die Kraft empfingen, ihr politisches Dasein nach innen und außen selbst zu formen. Und ihr Selbstbehauptungswille entzündete sich daran, daß ihnen die ganze Verantwortung für ihre Existenz, gerade auch unter Einschluß der vitalen Grundentscheidungen zukam. Die Demokratie beruft sich auf Volkssouveränität; die Souveränität der politischen Selbstbestimmung ist in der Tat von ihr nicht zu trennen. Auch dafür freilich, sich unter bereits vorgegebenen Grundentscheidungen in einem öffentlichen Gemeinwesen nach Art von Selbstverwaltung einzurichten, kann man die tätige Mitwirkung der beteiligten Bevölkerung gewinnen. Aber das hat mit der demokratischen Urkraft der Staatsformung aus dem Volkswillen keinen Zusammenhang. Wenn man die Dinge so sieht, könnte man in den Volksbefragungsaktionen des Jahres 1958 vielleicht insofern Anzeichen eines echt

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demokratischen Vorhabens erblicken, als dabei das Ziel hätte vor Augen stehen können, dem deutschen Volke wieder die souveräne Entscheidungsgewalt zurückzugewinnen. Dann aber hätte man die Eingliederung der Bundesrepublik in die politischen, wirtschaftlichen und militärpolitischen Verflechtungen des Westens im ganzen in Frage stellen müssen. Das wollten die Initiatoren der Volksbefragung nicht und konnten sie auch schwerlich wollen. Unter dieser Voraussetzung indessen bewegten sich die Volksbefragungspläne in Entscheidungsbereichen, die der demokratischen Selbstbestimmung des deutschen Volkes bereits entglitten sind; nicht zuletzt auch deshalb fehlte ihnen die elementare Uberzeugungskraft. Nun könnte man meinen, angesichts der veränderten Konstellationen im westeuropäischen und nordatlantischen Staatengefüge müßten eben die neuen politischen Führungszentren, d. h. die Europäischen Gemeinschaften und das Nordatlantikpaktsystem Bezugspunkte einer demokratischen Verfassungsordnung werden, müßten sie auf eine demokratische Legitimation gestützt werden. Jedoch würde das voraussetzen, daß den Europäischen Gemeinschaften und ebenso dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis ein in seinem politischen Bewußtsein geschlossenes und politisch aktionsfähiges Volk zugeordnet wäre. Davon kann bei der Nordatlantikpaktorganisation und dem sie tragenden politischen Gefüge der westlichen Welt keine Rede sein. Selbst für die Europäischen Gemeinschaften liegt bei aller Entschlossenheit, die Einheit zurückzugewinnen, die im frühen Mittelalter schon einmal ihre Glieder umspannte, die Gestaltwerdung einer europäischen Staatsnation noch in weiter Ferne. Solche politischen Ordnungssysteme, die verschiedene, in ihrer Geschichte, ihrer Kultur und in ihrem politischen Selbstverständnis noch stark individualisierte Völker zu einer übergreifenden Einheit zusammenfassen wollen, haben dafür die staatsbildende Kraft der Demokratie nicht zur Verfügung. Sie müssen herrschaftlich, d. h. unter der hegemonialen Führung eines der beteiligten Staaten, oder als genossenschaftlicher Zusammenschluß der Gliedstaatsgebilde organisiert sein. Für unseren Fall überwiegen im Nordatlantikpaktsystem — nicht von ungefähr — die herrschaftlichen, in den europäischen Gemeinschaften die genossenschaftlichen Züge; Demokratie im Sinne einer Legitimierung von einem, mit dem politischen Ordnungssystem identischen Volke her entfaltet sich hier nicht. Was in diesem Zusammenhang an demokratischen Legitimationsmöglichkeiten bleibt, muß aus dem Raum der beteiligten Gliedstaaten

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selbst kommen. Dabei ergeben sich allerdings nur sehr verdünnte Beziehungen, in denen Demokratie nur noch in höchster Mittelbarkeit wirksam ist. In den Europäischen Gemeinschaften ist dominierend ein Korps europäischer Funktionsträger, die sich aus Beamten, Politikern und sonstigen Sachwaltern der an der Stellenbesetzung paritätisch beteiligten Gliedstaaten rekrutieren. Sie bilden unter der Leitung einer seit dem Vertrag vom 8. April 1965 (BGBl. 1965 I I S. 1453) für die drei Gemeinschaften gemeinsamen „Kommission" eine in sich geschlossene große Verwaltungsapparatur. Die Gemeinschaften haben sodann als politisches Bestimmungsorgan einen seit dem Vertrag vom 8. April 1965 ebenfalls gemeinsamen „Rat", genauer einen Ministerrat, in den jedes der beteiligten 6 Länder ein Regierungsmitglied entsendet. Der einzelne deutsche Bundesfachminister, der jeweils hier auftritt, vermittelt ein wenig an demokratischem Einfluß aus seinem Lande. Schließlich haben die drei Gemeinschaften (seit dem Abkommen vom 25. März 1957, BGBl. 1957 I I S. 1165) eine gemeinsame parlamentsähnliche „Versammlung" mit verhältnismäßig bescheidenen Kontrollbefugnissen. In ihr ist jeder Staat mit Abgeordneten seines Parlaments vertreten, die Bundesrepublik mit 36 Bundestagsabgeordneten, die vom Bundestag nach dem Verhältnis seiner Parteizusammensetzung dorthin entsandt werden. Der Einfluß dieser Versammlung ist begrenzt, und die Verantwortungsbeziehung der dort tätigen Abgeordneten reicht allenfalls noch bis zu den politischen Parteien zurück, die sie bestellt haben, nicht aber bis zum Volke selbst. Hier bieten sich also für eine demokratische Teilhabe des Volkes der Bundesrepublik nur sehr bescheidene Ansatzpunkte, und nicht einmal diese sind in einem echten Sinne nutzbar. Denn die Ordnungs-, Planungs- und Gestaltungstätigkeit der Europäischen Gemeinschaften vollzieht sich in einer höchst esoterischen Einkapselung. Das ist ζ. T. durch die Unübersehbarkeit der Materie und der Aktionsräume, ζ. T. aber auch durch den introvertierten Charakter der organisatorischen Apparaturen der Gemeinschaften bedingt. Wir überschauen nicht, wir wissen und begreifen nicht, was dort geschieht. Es kann sich infolgedessen in bezug auf Stil, Bewährung und Leistung der Gemeinschaftsorgane keine konturierte öffentliche Meinung bilden. Wo diese aber fehlt, entfällt auch die Möglichkeit reagierender demokratischer Stellungnahmen.

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Ähnlich ist die Lage im Verhältnis zur Nordatlantikpaktorganisation. Dort ergibt sich aus dem vorherrschenden Regime der Militärs, aus der Weiträumigkeit des Aktionsbereichs, aus dem Zwang zur Geheimhaltung und aus der undurchdringlichen Kompliziertheit der militärpolitischen und militärtechnischen Zusammenhänge eine noch stärkere Abschottung nach außen, d. h. auch gegenüber den Völkern, die das Paktsystem unter seinen Schutz genommen hat. Auf der anderen Seite zeigt sich hier die öffentliche Meinung nicht so zur Resignation bereit wie gegenüber dem Wirken in den europäischen Gemeinschaften. Wo die Existenz der Völker und der Menschen so unmittelbar betroffen ist, klopft die öffentliche Meinung stets Verantwortung heischend auch an die abgedichteten Türen und gibt sie ihre Erwartungen jedenfalls hinsichtlich der Grundentscheidungen unüberhörbar kund. Hier gibt es auch eine öffentliche Meinung, die die in ihrer Existenz gemeinsam betroffenen Völker als eine Einheit umgreift.

V. Alles in allem kann man die These wagen, daß mit der Entwicklung der modernen Massendemokratie, die die Mediatisierung des Volkes durch politische Parteien und Gruppensysteme heraufgeführt hat, und mit der Auflösung der Nationalstaatlichkeit zugunsten integrierter, bündischer Staatengemeinschaften und herrschaftlich strukturierter Staatengefolgschaftssysteme ein deutlicher Verlust an demokratischer Staatserfüllung eingetreten ist. Die Demokratie ist hier in einen neuen Stand der Mittelbarkeit gerückt, der anders geartet ist als das, was sich die Schöpfer der Weimarer Verfassung und auch die des Bonner Grundgesetzes unter mittelbarer (repräsentativer) Demokratie im Gegensatz zur unmittelbaren Demokratie vorstellten. Sie verstanden unter mittelbarer Demokratie eine Darstellung der Staatswillensbildung durch gewählte Repräsentanten des Volkes, während sie die unmittelbare Demokratie in direkten Abstimmungen des Volkes über Sachfragen, meist Gesetzentwürfe, verwirklicht sahen. Da^ bei konnte man durchaus die Meinung vertreten, daß die mittelbare, d. h. die repräsentative Demokratie den Volkswillen überzeugender zur Geltung brächte als die unmittelbare Demokratie in dem eben bezeichneten Sinne. Wenn wir dagègen heute in der beschriebenen Weise eine Einbuße an demokratischer Unmittelbarkeit ins Auge fassen müssen, so wissen wir, daß damit ein Verlust an demokratischer Substanz überhaupt verbunden ist. Das Bedauern darüber wird durch 13 Weber

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die Feststellung gemildert, daß dieser Schwund nicht auch die freiheitlichen Elemente unserer Staats- und Sozialordnung ergreift. In der vulgären Vorstellungswelt werden freiheitliche und demokratische Ordnung vielfach gleichgesetzt. Doch sie sind nicht identisch und keineswegs zwingend voneinander abhängig. Im Gegenteil hat die Berufung auf den Volkswillen und die Mobilisierung des Volkswillens leicht die Tendenz, gerade die Interessen der Individuen und die Sicherung der individuellen Freiheit, auch die hierfür wesentliche Teilung der Gewalten im Staat beiseite zu räumen. So macht uns die Einbuße an demokratischer Ursprünglichkeit in unseren politischen Lebensformen die Segnungen der individuellen Freiheit nicht streitig, sondern begünstigt eher deren Bewahrung 20. Trotzdem sollte man sich mit dieser beruhigenden Feststellung nicht in apolitischer Resignation bescheiden und die Verflüchtigung der demokratischen Substanz unseres politischen Gemeinwesens nicht untätig hinnehmen. Mancherlei Versuche zu Gegenwirkungen sind schon unternommen. Das Wahlsystem der Bundesrepublik nach dem Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 (BGBl. I S. 383) ist von der reinen Verhältniswahl der Weimarer Republik zu einem Mischsystem zurückgekehrt, bei dem die Hälfte der Abgeordneten in Persönlichkeitswahl in das Mandat berufen wird. Wenn diese Vorkehrung auch die Monopolstellung der Parteien nicht erschüttert hat, so übt sie auf die Parteien wenigstens einen gewissen Zwang aus, bei ihrer Kandidatenauslese sorgfältiger zu verfahren und darauf Bedacht zu nehmen, daß zwischen ihren Mandatsbewerbern und den Wählern noch Reste personaler Beziehungen bleiben. Ein gutgemeintes, wenngleich das Vorbild der amerikanischen „primary elections" keineswegs erreichendes Experiment finden wir in den Bestimmungen unserer Wahlgesetze (z. B. §§ 22 Abs. 1, 28 Abs. 5 BWahlG), daß die Mandatsbewerber von den Parteimitgliedern im Wahlkreis oder von einer von ihnen gewählten Vertreterversämmlung in geheimer Abstimmung aufgestellt werden müssen21. Man will damit eine autoritative Verteilung der Abgeordnetensitze durch die Parteiführungsgremien verhindern. Das Parteiengesetz vom 24. Juli 1967 (BGBl. I S. 773) ist gemäß dem in 20

Nach dieser Richtung ist dem von Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Festgabe für Giacometti 1953 S. 107 ff.) Ausgeführten wenig hinzuzufügen. In ähnlichem Sinne Hans Schneider, Gedächtnisschrift für Jellinek S. 164 ff. 21 Dazu der Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Parteienrechtskommission „Rechtliche Ordnung des Partei wesens" (1957) S. 167 ff.

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Art. 2ii Abs. 1 GG enthaltenen Auftrag um eine weitere „Demokratisierung" der Parteien bemüht 22 . Das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom 25. März 1957 (BGBl. I I S. 1165) beauftragt in Art. 2 Abs. 3 die parlamentarische Versammlung der Gemeinschaften, Entwürfe auszuarbeiten* wonach die Abgeordneten der Versammlung künftig durch unmittelbare Wahlen in den Gliedstaaten bestellt werden sollen. Das alles ist jedoch im Ergebnis wenig und beinahe nichts. Eine weit größere Hilfe wächst uns daraus zu, daß der freiheitliche Charakter unseres Staatswesens eine Vielheit von Partei- und Gruppenbildungen offenhält und die grundrechtlichen Freiheiten, vor allem Freiheit des Gewissens, der Meinungsäußerung, der Presse, des Rundfunkwesens und des Vereins- und Versammlungswesens sichert. Darin liegen nämlich die Voraussetzungen dafür, daß sich öffentliche Meinungsbildung entfalten und zur Geltung bringen kann. Man sollte sich vergegenwärtigen, daß selbst ärgerliche und schockierende Mißstände, die sich bisweilen aus der Freiheit der Meinungsäußerung ergeben, angesichts des Wertes einer lebendigen Demokratie gering wiegen gegenüber der tödlichen Kälte einer unterdrückten oder manipulierten Meinungsbildung. Die Publizistik der Bundesrepublik zeigt ohnehin einen viel zu starken Konformismus, der nur von wenigen Stellen aus durchbrochen und beunruhigt wird. Auch das Schrumpfen und Sterben der kleineren Parteien wird man unter diesem Aspekt nicht ohne weiteres begrüßen können, obwohl viele meinen, die Reduktion des Parteiensystems auf zwei Parteien sei als Bereinigung zu begrüßen und durch mancherlei Mittel, etwa die 5 % - K l a u s e l n der Wahlgesetze, noch zu fördern. Die Existenz kleiner Parteien neben den beiden großen hat, wenn keinen anderen, so doch jedenfalls den Sinn, daß Chancen und Impulse für öffentliche Kritik und Meinungsbildung bleiben, die im Zweiparteiensystem entfallen, am stärksten, wenn beide Parteien, wie lange Zeit in Österreich, auf der Grundlage des Proporzes eine permanente Koalition eingehen, aber auch wenn sie sich in der massendemokratischen Schwarzweißtechnik von Regierungspartei und Opposition gegenübertreten. Die Frage ist auch offen, ob man nicht doch wieder zum Institut unmittelbarer Volksabstimmungen zurückkehren sollte. Nach allen 22

Programmatische Hinweise bietet der in der vorigen Anmerkung erwähnte Bericht S. 154 ff.; näher gewürdigt ist das Gesetz von Gerhard Leibholz, Zum Parteiengesetz von 1967, in: Festschr. f. Adolf Arndt (1969) S. 179 ff. 13·

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Erfahrungen ist darin jedoch große Vorsicht anzuraten 23. Volksentscheide, die nach dem Vorbild der Weimarer Verfassung Gesetze zum Gegenstand haben, sind mangels begründeter Sachkunde und Verantwortlichkeit der Abstimmenden unnütz und verleiten nur zum demagogischen Mißbrauch, besonders wenn sie durch Volksbegehren veranlaßt werden können. Volksabstimmungen, zu denen ein Organ der Exekutive (Bundespräsident, Bundesregierung) aus beliebigem Anlaß aufrufen kann, tragen stets die Gefahr in sich, daß sie dem Wunsche dienen, extraordinäre Vollmachten zu erlangen und das gewaltenteilende Verfassungssystem aus dem Sattel zu heben. Daß die Flucht in die Demoskopie keine Hilfe bedeutet, hat Wilhelm Hennis überzeugend dargetan 24. Die dem politischen Volke gemäße Äußerungsform besteht darin, innerhalb der gegebenen Verfassungsordr nung dazu Stellung zu nehmen, von wem und wie es regiert wird. Es ist stets bereit und auch fähig, ein Vertrauens- oder Mißtrauensvotum über diejenigen zu fällen, die als Staatsmänner persönliche und öffentliche Verantwortung für das Gesamtschicksal des politischen Gemeinwesens tragen. Beweise dafür lassen sich in großer Zahl aus der Geschichte und aus dem Gegenwartsgeschehen der westlichen Staatenwelt beibringen. In der Bundesrepublik ist hierfür bezeich* nend, wie stark die Person und die staatsmännische Funktion des ersten Bundeskanzlers zum beherrschenden Moment der Bundestagsund der Landtagswahlen geworden war. Die Parlamentswahlen in der Bundesrepublik haben auf diese Weise, wie in England, weithin den Charakter eines Plebiszits über den Regierungschef und den Regierungsstil gewonnen. Wieweit das bleiben oder sich wiederherstellen wird, ist offen. Aber man sollte die in diesem Tatbestand offenbar werdende demokratische Kraft jedenfalls für die Besetzung des Bundespräsidentenamts nicht ungenutzt lassen, die jetzt Sache eines Handels der politischen Parteien oder des Diktats einer von ihnen ist. Man sollte auch nicht zögern, das Recht des Staatsoberhaupts zur Par23

Hans Schneider (Gedächtnisschrift für W. Jellinek) S. 164 ff. hat die Bedenken — gegen Hans Namiasky, Von der unmittelbaren Demokratie, die Bereitschaft der Schweiz — die Zurückhaltung in Deutschland (Festgabe für Giacometti, 1953 S. 197 ff.) — noch einmal zusammengefaßt. Carl Schmitt hatte die Problematik schon früher entwickelt: Volksentscheid und Volksbegehren (1927) S. 31 ff.; Verfassungslehre (1928) S. 258 ff., 276 ff. 24 Wilhelm Hennis , Meinungsforschung und repräsentative Demokratie (1957); auch Hans Schneider, a.a.O. S. 167 ff.; Ernst Fraenkel, Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstäat, S. 56.

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lamentsauflösung wiederherzustellen, damit wieder die Möglichkeit eröffnet wird, bei einem gegebenen Anlaß von hinreichender Wichtigkeit das Volk in der Neuwahl des Parlaments sein Mandat an die Träger des Staatsregiments auch außerhalb der Reihe erneuern zu lassen. Entscheidend ist bei allem, daß die politischen Herrschaftsfunktionen vor der Anonymisierung bewahrt bleiben und sich stets in öffentlicher Verantwortung vollziehen. Darauf sind zwar unsere geschriebenen Verfassungen angelegt, aber sie erreichen infolge der parteienstaatlichen und gruppenbündischen Uberlagerung das Ziel nicht mehr. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich eine artikulierte öffentliche Meinung bilden und kann das Volk auch verfassungsrechtlich geordnete Wege finden, die in dér Verantwortung des Regierens und Herrschens Stehenden mit demokratischer Legitimation auszustatten25. Demokratische Unmittelbarkeit kann sich im egalisierten Flächenstaat und in der industriellen Massengesellschaft nicht darin äußern, daß sich das Volk selbst regiert. Die Zwischenschaltung von Parteien und politischen Einflußgruppen mag in der Massendemokratie unserer Tage unabwendbar sein. Aber eine demokratische Rechtfertigung hat diese Zwischenschaltung hur dann, wenn sie es zuwege bringt oder neben sich zuläßt, daß ein in öffentlicher Verantwortung stehendes Staatsregiment zustande kommt und dieses überzeugend und sichtbar von der Zustimmung des Volkes getragen ist. Auch in der Begrenztheit der heutigen Möglichkeiten ist das ein unaufgebbares und nicht unerfüllbares Anliegen.

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Auch insoweit kann auf die wiederholt zitierte Schrift von Wilhelm Hennis (passim) hingewiesen werden.

X. Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung

L Die Frage nach der Stellung der Sozialpartner in der Verfassungsordnung stößt tief hinein in die staatsrechtliche Problematik der Gegenwart. Wer sich mit ihr beschäftigt, sieht sich alsbald der Zwiespältigkeit unserer Verfassungszustände gegenübergestellt, die vielfach als Ausdruck der Spannung von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit begriffen wird. Gerade bei der Analyse der Rolle der Sozialpartner wird deutlich, daß es für das Staatsrecht der Gegenwart eine zweifache Betrachtungsweise gibt: die vom geschriebenen Verfassungsrecht, für Deutschland also vom Grundgesetz her, und eine andere, die den real vorhandenen Aufbau des politischen Kräftesystems ins Auge faßt. Daß beide Betrachtungsweisen ein verschiedenes Bild der politischen Ordnung liefern, ist eine geläufige Wahrheit. Aber wie beides sich zueinander fügt, ist aufreizend ungeklärt 1. Die normierte und die wirkliche Verfassung allerdings in zwei unverbundene Teile, in einen Dualismus also auseinanderfallen zu sehen, ist wohl wenig angebracht angesichts der Tatsache, daß unser Staatswesen seine funktionierende Ordnung und Einheit nicht verloren hat. Manche suchen — mindestens gedanklich — die Doppelbodigkeit der Verfassungslage in der Weise zu überwinden, daß sie je nach Temperament und politischem Standort entweder nur das geschriebene Verfassungsrecht anerkennen und jede davon abweichende politische Kräftebil1 Einen neueren Versuch zur theoretischen Aufhellung hat Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, geliefert. Seine Schrift geht in Auswahl auch auf frühere Deutungsversuche ein. Das Problem wird ferner berührt von Hans Huber, Staat und Verbände, 1958, besonders S. 12 ff. Wenn man der Frage weiter nachgeht, öffnet sich die ganze Problematik des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, wie von staatsrechtlicher Seite Ernst Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 14 ff., ferner in dem Aufsatz „Die Bundesrepublik Deutschland, Umrisse einer Realanalyse", Rechtsstaat im Wandel (1964) S. 197 ff. und Helmut Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1960, S. 14 ff. deutlich gemacht haben. Aus dem neuesten Schrifttum ist Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem (1968) nachzutragen.

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dung in den zu überwindenden Stand der Illegalität verweisen, oder daß sie sich mit Lassalle2 ganz an die real herrschenden Mächte halten und die geschriebene Verfassung, soweit sie damit nicht harmoniert, auf den Aussterbeetat überholter Überlieferungen setzen. Keines soldier Extreme gelangt indessen zur Erfassung der politischen Wirklichkeit unserer Tage. Diese läßt sich vielmehr eher als die einer Polarität, eines SpannungsVerhältnisses oder einer Wechselwirkung beschreiben. Freilich sind das nur Worte für einen sehr komplexen und komplizierten Tatbestand, zu dem etwa folgendes erklärend zu sagen ist: Sinn und Bedeutung der Sätze der geschriebenen Verfassung lassen sich nur erkennen und erfüllen, wenn man weiß und würdigt, welcher politisch-sozialen Lebenswelt sie zugeordnet sind. Insofern wirkt die politisch-soziale Lebenswelt ständig auf die geschriebene Verfassung inhaltgebend und sinnvariierend ein. Auf der anderen Seite ist die bloße Faktizität erworbener Macht- und Einflußpositionen noch keine anerkannte Verfassungsordnung, und sie begründet nodi keine staatliche Herrschaftslegitimation. In unserem Falle macht sich jedenfalls die geschriebene Verfassung, also das Grundgesetz, noch anheischig, durch die in ihm enthaltene politische Grundentscheidung zu bestimmen, wie der politische Wille wirksam und für das Staatswesen verbindlich wird, wer also die Verantwortung der Herrschaft hat; und von hier aus versucht es auch, die Grenze immer wieder nachzuziehen zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Kräftebildung. Die Verfassung hat noch die Kraft — und das Grundgesetz hat während seines Bestehens darin eher gewonnen als eingebüßt —, die Maßstäbe dafür zu liefern, wann politischer Wille und Einfluß staatliche und wann er nur gesellschaftliche Legitimität hat. Daraus ergibt sich auch für den Fall der Konkurrenz oder Kollision, daß den verfaßten Staatsorganen das Recht zur ausschlaggebenden Entscheidung zusteht. Freilich ist das nur eine erste und noch dazu sehr abstrakte Orientierung. Wie vielschichtig diese Problematik ist, gelangt gerade auch in der Doppeldeutigkeit unseres Themas zum Ausdruck. „Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung" — das kann etwas sehr Verschiedenes zum Inhalt haben. Es kann bezeichnen, daß die geschriebene Verfassungsordnung etwas über die Sozialpartner aussagt, ihnen aber einen Platz außerhalb des Systems verfaßter Staatlichkeit anweist. Und es kann ferner die Anerkennung in sich schließen, daß die Sozial2

Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen. Ein Vortrag, gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein, Berlin 1862; derselbe, Was nun? Zweiter Vortrag über Verfassungswesen, Zürich 1863.

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partner Teile des Verfassungsgefüges selbst sind, wenn nicht vom Verfassungsrecht sanktioniert, dann jedenfalls kraft ihrer politischen Mächtigkeit, und zwar möglicherweise auch entgegen dem geschrieber nen Verfassungsrecht. Ob sich diese Alternative auflösen läfit, wird zu prüfen sein. Dabei muß zunächst das Grundgesetz selbst befragt werden. Π. Das Grundgesetz erwähnt und berührt die Sozialpartner nur in seinem Grundrechtsteil; im Aufbau der Staatsorgane — Bundespräsident, Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungen gericht — haben sie keinen Platz. Diese Bundesorgane haben ihr eigenes traditionell-demokratisches Bestellungs- und Funktionssystem, das nirgendwo auf die Sozialpartner zurückgreift. „Wirtschaftsdemokratische" Organbildungen, oder wie man sie sonst nennen will, kennt das Grundgesetz zum Unterschied von der Weimarer Verfassung (Art. 165) nicht. Auch das Selbstbekenntnis des Grundgesetzes als der Verfassung eines „sozialen Bundesstaates" (Art. 20 Abs. 1) oder eines „sozialen Rechtsstaats" (Art. 28 Abs. 1) besagt dazu nichts. Man mag in diese Sozialstaatsklausel weniger oder, wie es in Gerichtsentscheidungen und vor allem in staatsrechtswissenschaftlichen Beiträgen und politischen Äußerungen oft verwirrend geschieht, mehr hineinlegen8 — 3 Entwicklung und Stand der Meinungen spiegeln sich vor allem in den Beiträgen, die unten S. 260 Anm. 9 nachgewiesen sind. Eine starke Aktualisierung der Sozialstaatsklausel in Verbindung mit der Bestimmung des Status der Gewerkschaften findet sich in dem Rechtsgutachten von Andreas Hamann, „Gewerkschaften und Sozialstaatsprinzip", 1959, und bei Helmut Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz, 1960, S. 3 ff. Ridder erörtert hier vor allem eine „dritte Dimension" der Sozialstaatsklausel, mit der, wie er sagt (S. 16 f.), „zum erstfen Male in der deutschen Verfassungsgeschichte eine staatliche Verfassung mit dem rechtsverbindlichen Anspruch hervorgetreten (sei), auch die Verfassung gesellschaftlicher Organisationen auf bestimmte Grundprinzipien festzulegen". In diesem Zusammenhang wird weiter von der „Normativwirkung der Sozialstaatsklausel als Homogenisierungsbestimmung zwischen Staat und Gesellschaft" (S. 18) und von dem „gesellschaftsdemokratisierenden Effekt des Sozialstaatsgebots" (S. 24) gesprochen. So wird die Sozialstaatsklausel in ihren verschiedenen „Dimensionen" mit immer neuen Inhalten gefüllt, wird aber auch immer unglaubwürdiger, daß alles, was die Sozialstaatsklausel hergeben soll, schon in ihr mit verfassungsnormativer Rechtsverbindlichkeit enthalten sei. In diesem Sinne begründetermaßen einschränkend und warnend besonders Gerhard Leibholz, Verfassungsrecht und Arbeitsrecht, in: Hueck-Leibholz, Zwei Vorträge zum Arbeitsrecht, 1960. Fer-

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sicher ist anzunehmen, daß audi die Aufgaben der Sozialpartner darin anvisiert sind; daraus aber eine staatliche Organqualität der Sozialpartner abzuleiten, steht außer Diskussion4. Danach bleibt der Grundrechtsteil der alleinige Sitz der Aussagen über die verfassungsrechtliche Rolle der Sozialpartner. Das ist in hohem Grade bezeichnend. Die Grundrechtsverbürgungen wenden sich der Sphäre des Individuums und der Gesellschaft zu; sie umschreiben und sichern primär den staats- und staatsinterventionsfreien Raum5. Damit wäre also bereits den Sozialpartnern der Platz außerhalb der eigentlichen Verfassungsordnung vorgezeichnet. Indessen bedarf das noch näherer Prüfung. Daß die Sozialpartner, also die Gewerkschaften auf der einen, die Unternehmer und ihre Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite den Schutz der grundrechtlichen Freiheiten genießen, steht außer Zweifel. Wiewert einzelne Freiheitsverbürgungen des Grundrechtsteils als auf Kollektivgebilde nicht anwendbar (Art. 19 Abs. 3 GG) für sie nicht in Betracht kommen, kann offenbleiben; jedenfalls ist anerkannt, daß ihnen die Berufung auf Freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und Gleichheit (Art. 3 GG) zu Gebote steht6. Entscheidend kommt es hier auf ein anderes Grundrecht an, das eigens auf sie zugeschnitten ist, auf die Vereinigungs- oder Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG. Dieses Grundrecht war ursprünglich nur den Individuen, genauer den Arbeitern, zugedacht. Sie sollten sich zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ungehindert zu Gewerkschaften zusammenschließen dürfen. Schon die Weimarer Verfassung (Art. 159) gewährte das gleiche Recht paritätisch auch den Partnern der Gewerkschaften, den Unternehmern. Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber besteht dieses Individualrecht auch heute, positiv und negativ, und es bedeutet nur eine interessante Variante, die dem Kollektivierungssog der industriellen Massengesellschaft zuzuschreiben ist, daß die „negative" Vereinigungsfreiheit, d. h. das Recht, einer Verner ist auf den Beitrag des Verfassers, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen (unten S. 249 ff.) zu verweisen. 4 Auch Bidder, a.a.O., S. 29 spricht den Gewerkschaften den Charakter gesellschaftlicher, nicht staatlicher Vereinigungen zu. ß BVerfGE 8, S. 198 ff. (204 f.). 6 Das ist in dem Beschluß des Großen Senats des Bundesärbeitsgerichts vom 28. Januar 1955 (BAG 1, 291 ff.) und in der weiteren Rechtsprechung des Gerichtshofs (etwa auch BAG 6, 321 ff.) eindeutig belegt.

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einigung zur Wahrung der Arbeits- und WTirtschaftsbedingungen fernzubleiben, heute eine größere praktische Bedeutung erlangt hat als das gänzlich unbezweifelte positive Vereinigungsrecht 7. Aber die verfassungsrechtliche Koalitionsfreiheit geht in ihrer Bedeutung heute über die Einräumung einer individuellen Freiheit, sich mit anderen zu Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden zu vereinigen oder solchen Zusammenschlüssen fernzubleiben, erheblich hinaus. Sie enthält eine Garantie des Bestandes und der Funktionen der Koalitionen, also der Sozialpartner selbst8. Die Begründung hierfür ergibt sich schon daraus, daß es offenbar keinen Sinn hat, von Verfassungs wegen Koalitionsfreiheit einzuräumen, wenn man nicht zugleich die Zwecke und Ziele bejaht, denen die Koalitionsfreiheit dienen soll. Außerdem ist die Gewährung der Vereinigungsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG in einen historisch-politischen Zusammenhang hineinprojiziert, der vom Vorhandensein der Sozialpartner und von ihren traditionell gefestigten Funktionen ausgeht. Man beruft sich hierfür gern darauf, daß schon die Weimarer Verfassung in den Artikeln 159 und 165 die uns heute geläufigen Aufgaben der Sozialpartner sanktioniert hatte und die Schöpfer des Grundgesetzes ähnliche Regelungen in den vor dem Grundgesetz geschaffenen Länderverfassungen vorfanden. Aber es bedarf nicht einmal dieses Rückgriffs auf geschriebene Normen der früheren Reichsverfassung und des zeitgenössischen Landesverfassungsrechts. Denn es ist ohnehin evident, daß mit der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG ein System partnerschaftlicher (oder antagonistischer) Aushandlung der Arbeits- und Lohnbedingungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und die dazu vorausgesetzten organisatorischen Zusammenschlüsse beider verfassungsrechtlich ebenso anerkannt wie geschützt werden sollten9. 7 Zur negativen Koalitionsfreiheit Rolf Dietz, in: Die Grundrechte I I I / l , 1958, S. 453 ff.; Arthur Nikisch, Arbeitsrecht 2. Aufl. Bd. 2, 1959, S. 28 ff.; Huedc-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. 2, 1957, S. 114 ff.; Kurt H. Biedenkopf, Zum Problem der negativen Koalitionsfreiheit, JZ 1961, 346 ff. 8 Ob sie sich damit, wie Scheuner (in: Weber, Scheuner, Dietz, Koalitionsfreiheit, 1961, S. 39) bemerkt hat, den Institutionalisierungen der politischen Parteien und der Gemeinden in den Artikeln 21 und 28 Abs. 2 GG nähert, ist eine offene Frage, deren Beantwortung hier nodi nicht antizipiert werden kann. 0 Dazu Rolf Dietz, in: Die Grundrechte I I I / l , S. 458 ff. mit weiteren Nachweisen; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 54 ff.; Werner Weber, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem (1965) ; Franz-Jürgen

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Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Frage in einem Urteil vom 18. November 1954 (BVerfGE 4, S. 96 ff.) nachgegangen. Aus dieser Entscheidung interessieren hier einige Kernsätze. Sie lauten: „Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch die Koalition als solche" (Leitsatz 1). „Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet . . . die Institution eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems, dessen Partner frei gebildete Koalitionen sein müssen" (Leitsatz 2 Satz 2). In der Begründung seines Urteils führt das Bundesverfassungsgericht aus, daß das Grundgesetz unter Berücksichtigung des bestehenden verfassungs- und arbeitsrechtlichen Zustandes in den Ländern von der rechtlichen Anerkennung der Sozialpartner als selbstverständlich ausgehen konnte (S. 102). Es argumentiert weiter: „Wenn also die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit nicht ihres historisch gewordenen Sinnes beraubt werden soll, so muß im Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG ein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich auch in der Richtung liegen, daß ein Tarif Vertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen ist und daß Partner dieser Tarifverträge notwendig frei gebildete Koalitionen sind" (S. 106). Die Darlegung des Gerichtshofs setzt sich später variierend mit folgenden Sätzen fort: „Geht man nämlich davon aus, daß einer der Zwecke des Tarifvertragssystems eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere der Lohngestaltung, unter Mitwirkung der Sozialpartner sein soll, so müssen die sich aus diesem Ordnungszweck ergebenden Grenzen der Tariffähigkeit auch im Rahmen der Koalitionsfreiheit wirksam werden. Diese Grenzen der Tarif fähigkeit zu ziehen, ist an sich eine Aufgabe des gesetzgeberischen Ermessens. Da der Tarifvertrag das Gebiet des privaten Vertragsrechts verläßt und als unabdingbarer Kollektivvertrag normative Wirkung äußert, kann es dem Gesetzgeber nicht gleichgültig sein, zu wessen Gunsten er sich durch die Verleihung der Tarif fähigkeit seines Normsetzungsrechts begibt. In der Gestaltung des Tarifsystems, insbesondere in seiner sachgemäßen Fortbildung, ist der Gesetzgeber nur dadurch beschränkt, daß mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit zugleich die Institution eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarif Vertragssystems verfassungsrechtlich gewährleistet ist, dessen Partner Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit (1969), der vor allem auch den neuesten Quellenstand vermittelt, Franz Gämillsdieg, Koalitionsfreiheit und soziale Selbstverwaltung (1968) und Hans Galperin, Die Stellung der Gewerkschaften im Staatsgefüge (1970).

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frei gebildete Vereinigungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG sëin müssen" (S. 107 f.). Am Schlufi des Urteils erwähnt das Bundesverfassungsgericht noch einmal den mit dem Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG „zugleich verfassungsmäßig geschützten Kernbereich verbandsmäßiger Lohngestaltung" (S. 110). Diesen vorsichtig abwägenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts wird wenig entgegenzusetzen sein. Nipperdey faßt das Ergebnis in seinem Lehrbuch 10 dahin zusammen, daß auch die Koalitionen in allen wesentlichen Ausstrahlungen verfassungsrechtlich geschützt sind. Das gelte sowohl hinsichtlich ihres Bestandes als auch hinsichtlich ihrer Autonomie als auch für ihre Betätigungsfreiheit innerhalb ihres durch Art. 9 Abs. 3 GG abgesteckten funktionellen Aufgabenbereichs 11. Insoweit lassen sich also einigermaßen gesicherte Feststellungen treffen: Das Grundgesetz bekennt sich zum Prinzip verbandsmäßiger Lohngestaltung. Dazu gehört zwingend die Institution eines gesetzr lieh geregelten und geschützten Tarifvertragssystems einschließlich der Rechtssatzwirkung der normativen Teile der Tarifverträge. Die Partner dieses Tarifvertragssystems müssen frei gebildete und in ihren Funktionen autonome Vereinigungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sein. Soweit diese durch das gesetzlich geregelte Tarifvertragssystem eine begrenzte Normensetzungsbefugnis erhalten, mag man sie als „beliehene Verbände" bezeichnen12. Alles dies wird über die individuelle — positive und negative — Vereinigungsfreiheit hinaus von der grundrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 3 GG mit umschlossen. Hinzuzufügen wäre, was das Bundesverfassungsgericht nach dem Tatbestand seines Urteils vom 18. November 1954 nicht zu erörtern brauchte, daß in die Garantie auch die Zulässigkeit eines kraft der Autonomie der Sozialpartner zwischen ihnen zu vereinbarenden Schlichtungswesens einbezogen ist 13 . Die Kampfmittel des Streiks und 10

Huedc-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., Bd. 2, 1957, S. 110. So die allgemeine Meinung; vgl. etwa Viridi Scheuner, in: Weber, Scheuner, Dietz, Koalitionsfreiheit, 1961, S. 36 ff.; Bernd Rüthers, Streik und Verfassung, 1960, S. 19 ff.; ferner E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, 1954, S. 381 ff.; BAG 6, 321 ff. 12 E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 379 ff., 431; Sdieuner, a.a.O., S. 62; Nikisdi, Arbeitsrecht, Bd. 2, S.68f., 71; Huedc-Nipperdey, Lehrbuch, Bd. 2, S. 143 ff. 13 BAG 6, 321 ff. 11

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der Aussperrung hingegen werden nach der heute wohl herrschenden Auffassung nicht der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) zugeordnet, sondern als Ausfluß der allgemeinen Freiheitsgewährleistung (Art. 2 Abs. 1 GG) angesehen14.

m. Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen dort, wo die Frage gestellt wird, welche Geltung?- und Entscheidungsansprüche der Sozialpartner nicht mehr durch das Grundgesetz gedeckt sind und wieweit ihnen der staatliche Gesetzgeber begrenzend entgegentreten kann. Daß Bestands- und Funktionsgarantie der Sozialpartner nicht unter Berufung auf die Verfassung beliebig ausgeufert werden können, ge* langt in der erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit genügender Deutlichkeit zum Ausdruck. 1. Daß sich der politische Streik nicht durch Bezugnahme auf Art. 9 Abs. 3 GG oder auf eine andere Verfassungsvorschrift als verfassungsrechtlich anerkannte Institution legitimieren läßt, dürfte schwerlich zu bestreiten sein. Die Verfassung verbietet ihn nicht ausdrücklich; aber sie verwirft ihn, sofern er, was in der Regel der Fall ist, zu einer Störung der Funktionen der legitimen Verfassuhgsorgane führt 15 . Ebenso läßt sich die Forderung nach Mitbestimmung der Gewerkschaften, mag sie für die Grundindustrien oder die Wirtschaft überhaupt oder auch für den öffentlichen Dienst erhoben werden, nicht auf die Verfassung gründen. Mitbestimmung kann, soweit nicht die Freiheits- und Eigentumsgarantie des Grundgesetzes und nicht die verfassungsmäßige Behördenorganisation verletzt werden 16 , nach Art des Mitbestimmungsgesetzes, des Betriebsverfassungsgesetzes und der 14 Zusammenfassend hierzu Rolf Dietz, in: Weber, Scheuner, Dietz, Koalitionsfreiheit, 1961, S.99ff. sowie in: Die Grundrechte I I I / l , S. 462 ff. und Bernd Rüthers;Streik und Verfassung, 1960, S. 19 ff., der selbst die Minderheitsmeinung vertritt; ferner Sdieuner, a.a.O., S. 69 f.; Hueck-Nipperdey, Bd. 2, S. 101 f.; Nikisdi, Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 24 ff.; Fritz Siebredit, Das Recht im Arbeitskampf, 2. Aufl., 1956, S.22ff.; E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 392 ff.; BAG 1, 291 ff.; 6, 321 ff. Ich selbst habe in meiner Schrift „Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem" (1965) S. 35 ff., eine andere Auffassung als die hier noch als herrschend bezeichnete éntwickelt, der neuerdings auch Säcker in der in Anm. 9 zitierten Schrift folgt. 15 Dazu Joseph H. Kaiser, Der politische Streik, 2. Aufl., 1960; Werner Niese, Streik und Strafrecht, 1954; Bernd Rüthers, Streik und Verfassung,

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Personalvertretungsgesetze gesetzlich zugestanden und geregelt werden. Einen Anspruch darauf gewährt das Grundgesetz nicht. Mit vollem Recht hat das Bundesverfassungsgericht den verfassungsrechtlichen Aktionsbereich der Sozialpartner dahin bestimmt und begrenzt, die Lohn- undi Arbeitsbedingungen kollektiv vertraglich festzulegen. Alle etwa darüber hinausgehenden Ansprüche der Sozialpartner, mag man sie in der Sache für berechtigt halten oder nicht, finden im Grundgesetz selbst keine Stütze17. 2. Eine andere Frage ist, ob den Sozialpartnern Bestand, innere Autonomie und Betätigungsfreiheit innerhalb des Tarifvertragssystems durch Art. 9 Abs. 3 GG absolut gesichert sind oder ob der Gesetzgeber ihnen insoweit Bindungen auferlegen kann. Hierzu ergibt sich aus dem erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts so viel, daß Bestand und Autonomie insofern verfassungsrechtlich geschützt sind, als in die freie Bildung und in die inneren Verhältnisse der Koalitionen nicht eingegriffen werden kann 18 . Anders ist es mit der Betätigungsfreiheit innerhalb des Tarifvertragssystems bestellt. Nach dieser Richtung beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht auf die vorsichtige Feststellung, „daß ein Tarif Vertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen ist" (S. 106) und daß es einen „verfassungsmäßig geschützten Kernbereich verbandsmäßiger Lohngestaltung" gibt (S. 110). Danach bleibt dem Gesetzgeber in diesem Bereich ein nicht geringer Entscheidungsspielraum. Die Entscheidung der Verfassung dafür, eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, insbesondere des Lohnsystems, unter Mitwirkung der Sozialpartner durch verbandsmäßige Lohngestaltung zu gewin1960; Wolf gang Tillmann, Politischer Streik und Verfassung, 1958; Ridiard Ossmald, Der Streik und die ihm durch das Strafrecht gezogenen Grenzen, 1954; Hermann Ηohenester, Die Grenzen der Streikfreiheit, 1956; E.Ä. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 406 ff.; Fritz Siebrecht, Das Recht im Arbeitskampf, 2. Aufl., 1956, S. 36 ff., der mit weiterem Schrifttum auch die Gegenmeinungen von Hinkel, Abendroth, Bauer, R. Schmid und Grote nachweist. 16 Verfassungsrechtliche Grenzen der Mitbestimmung im staatlichen Personalbereich hat das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil vom 27. April 1959 (BVerfGE 9, S. 268) aufgezeigt. 17 So auch Rolf Dietz, in: Die Grundrechte I I I / l , S. 460 ff.; Sdieuner, a.a.O., S. 43 f.; Nikisdi, Arbeitsrecht, Bd. 2, S.58. 18 Dazu Rolf Dietz, Koalitionsfreiheit, in: Die Grundrechte I I I / l , 1958, S. 435 f.

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nen, steht unter mehreren Voraussetzungen, die unaufgebbar sind. Zunächst ist Parität und gleiche Verhandlungschance der Sozialpartner vorausgesetzt, weil nur so ein wirkliches Aushandeln und ein angemessener Ausgleich gewährleistet ist. Zum andern ist Vorbedingung ein hohes Maß gesamtstaatlicher, man kann auch sagen: politischer Verantwortung der Sozialpartner. Denn in den tarif vertraglichen Vereinbarungen über Arbeits- und Lohnbedingungen treffen die Sozialpartner bei den heute bestehenden Interdependenzen Entscheidungen, die sich auf die Verteilung des Sozialprodukts, die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft auf den Märkten, den Bestand der Währung, den Lebensstandard der Volksgesamtheit und den Stil des Soziallebens maßgebend auswirken 19 . Die Sozialpartner und ihre jeweils kontrahierenden Sektionen verhandeln und entscheiden hierbei nicht nur über ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen, sondern auch über den Anteil anderer Volkskreise — auch der Angehörigen anderer Unternehmenszweige und Gewerkschaften — am Sozialprodukt sowie über das wirtschaftliche und politische Schicksal der Gesamtnation unter Einschluß integrierter Wirtschaftskörper wie der Europäischen Gemeinschaften. Die Verfassung kann den Sozialpartnern tarifvertragliche Gestaltungsfreiheit nur insoweit einräumen, als dieser Verantwortung Genüge geschieht. Weder beide Sozialpartner gemeinsam noch erst recht der eine von ihnen, der etwa übermächtig geworden ist, können den Schutz der Verfassung dafür in Anspruch nehmen, ihren Willen und ihr Interesse zü Lasten des dem Staate anvertrauten Gemeinwohls durchzusetzen. Auch kann der Staat der Gegenwart nicht wieder aufgeben, was sich im Deutschen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts durchgesetzt hat, daß nämlich der Landfrieden über dem Fehderecht steht. Weder beide Sozialpartner gemeinsam noch einer von ihnen können ihren Willen gegen die Ordnung der Gesamtnation durchsetzen. Sie würden dadurch eine Macht usurpieren, die die Verfassung nur den von ihr bestellten — demokratisch bestellten — Staatsorganen (Parlament, Regierung, Staatsoberhaupt) zuerkennt. Sie dürfen auch Ordnung und Frieden des politischen Gemeinwesens nicht durch ruinöse Arbeitskämpfe in Gefahr bringen, und schließlich wäre es unter den Gesichtspunkten des Sozialstaates unvertretbar, wenn sie sich im Verhältnis zu anderen, schwächeren Bevölkerungsgruppen dank ihrer mächtigeAuch Sdieuner, a.a.O., S. 67 f. unterstreicht wortung.

diese Auf gaben Verant-

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ren Stellung einen höheren Anteil am Sozialprodukt sichern würden, als ihnen gebührt. Wo sich Gefahren dieser Art auftun, verlieren nicht die Vereinigungsfreiheit als solche und nicht die Vereinsautoriomie der Sozialpartner, wohl aber ihre tarif vertragliche Betätigungsfreiheit ihre verfassungsrechtliche Legitimationsgrundlage. Die verbandsmäßige Gestaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen durch die Sozialpartner findet nach der grundrechtlichen, demokratischen und sozialstaatlichen Ordnung des Verfassungssystems ihre Grenzen dort, wo sie in der angedeuteten Weise nicht mehr zu einer „sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens" und zu einem vom Standpunkt des politischen Gemeinwesens im ganzen als gerecht und befriedet zu verantwortenden Gemeinschaftsleben führt. Das bedeutet praktisch das Folgende: Der Gesetzgeber könnte das gesetzlich normierte Tarifvertragssystem erforderlichenfalls durchaus mit Sicherungen dahin ausstatten, daß die Chancengleichheit unter den Sozialpartnern gewahrt bleibt. Ja er müßte gegebenenfalls sogar Vorsorge nach dieser Richtung treffen. Er könnte ferner, wenn das öffentliche Interesse es erfordert, bisher der tarifvertraglichen Regelung überlassene Materien durch Erlaß zwingender gesetzlicher Rege* lungen wieder in seine Verantwortung ziehen20. Der Gesetzgeber dürfte schließlich das geltende Tarifvertragssystem dahin ergänzen, daß nach dem Vorbild des Rechtszustandes unter der Weimarer Verfassung eine nicht bloß fakultative, vom Staat eingerichtete Schlichtungsordnung hinzutritt mit Schiedssprüchen einer vom Staat autori^ sierten Schlichtungsstelle und gegebenenfalls mit der vom Staat angeordneten Verbindlichkeit des Schiedsspruchs21. Natürlich ist dieses Schlichtungsverfahren nicht so zu denken, daß es die verbandsmäßige Gestaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen verdrängen dürfte; es könnte vielmehr, wie schon in der Weimarer Republik, nur subsidiären Charakter haben. Aber für den Fall, daß die Sozialpartner etwas vereinbarten, was vom Standpunkt der Wirtschafts- und Sozialordnung des Staates im ganzen unvertretbar ist, oder daß sie sich in Arbeitskämpfen verzehrten, die die Staats- und Wirtschaftsordnung ruinieren, wäre das Eingreifen eines staatlich autorisierten Schlichtungs20

Das wäre eine Betätigung des staatlichen „jus evocandi", wie / . H. Kaiser, Der politische Streik, S. 32 f., es nennt. 21 Hierzu und zum Vorhergehenden ebenso Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 23 f., 57; ferner E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S.454,

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systems mit einer notfalls verbindlichen Festsetzung der Arbeits- und Lohnbedingungen statthaft. Daß die Bundesrepublik bisher von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht hat, mag man in verschiedener Hinsicht deuten. Man kann darin ein Zeichen der Schwäche des gegenwärtigen deutschen Staatswesens gegenüber den Kräften des Verbändewesens oder den Ausdruck einer zu starren Befolgung der vom Staat gegenüber den Arbeitskämpfen eingenommenen — „passiven" — Neutralität sehen. Man kann aber auch der Meinung sein, daß die Sozialpartner von ihren verfassungsrechtlichen Möglichkeiten bisher nur einen verantwortungsvollen Gebrauch gemacht und zu einem Tätigwerden des Staates somit keinen Anlaß geboten hätten, und darin mit Forsthoff eine „gesellschaftliche Daseinsstabilisierung" erkennen, die sich unter den Bedingungen der modernen industriellen Gesellschaft von selbst herstellt 22 . Das steht hier nicht zur Erörterung 23 . Hier handelt es sich vielmehr um die Frage, ob dem Kräftespiel der Sozialpartner grundsätzlich vom Gesetzgeber in der gekennzeichneten Weise Grenzen gesetzt werden können, ohne daß die Verfassung verletzt wird. Die Frage ist zu bejahen, und zwar sogar in der Zuspitzung, daß der Gesetzgeber möglicherweise seinen Auftrag, den demokratischen, den freiheitlichen und den sozialstaatlichen Charak-

22

Ernst Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 14 ff., 19 fi.; derselbe, Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 197 ff. passim. 23 Die FDP-Fraktion des Bundestages hat mit einem Initiativantrag vom 20. Januar 1960 (BT-Drucks. Nr. 1563, 3.Wahlp.) den Entwurf eines Änderungsgesetzes zum Tarifvertragsgesetz eingebracht, der den Sozialpartnern die Vereinbarung eines tariflichen Schlichtungsverfahrens und die Durchführung eines solchen Verfahrens vor der Einleitung oder Durchführung von Kampfmaßnahmen zur Pflicht machen will. Für den Fall, daß eine Schlichtungsvereinbarung nicht geschlossen wird, sieht der Entwurf ein gesetzliches Schlichtungsverfahren vor, mit dem Ziel, eine Einigung der Parteien herbeizuführen. Der Antrag ist am 29. September 1960 im BT begründet worden (Sten.Ber. S. 7270 ff.). Der Ausschuß für Arbeit des Bundestages beschloß am 19. Januar 1961, die Ablehnung des Gesetzentwurfs vorzuschlagen. Dazu wurde folgender Entschließungsantrag gefaßt: „Der Ausschuß für Arbeit hält eine bundesgesetzliche Regelung des Schlichtungswesens, wie sie der Antrag der FDP vorsieht, nicht für geboten. Er richtet vielmehr einen Appell an die Tarifvertragsparteien, das freiwillige Schlichtungswesen zur Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen im Rahmen ihrer Autonomie weiter auszubauen. Gleichzeitig erinnert der Ausschuß die Sozialpartner an ihre Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit, die es erforderlich macht, Arbeitskämpfe nur als letztes Mittel der Auseinandersetzung in Betracht zu ziehen und in jedem Falle ein Schlichtungsverfahren vorausgehen zu lassen." 14 Weber

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ter der Verfassung der Bundesrepublik zu wahren, verfehlen würde, wenn er auch einer mißbräuchlichen Betätigung der Sozialpartner untätig freien Lauf ließe. Weder die verfassungsrechtliche Anerkennung der Existenz und der Aufgaben der Sozialpartner in Art. 9 Abs. 3 GG noch die allgemeine Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 1 GG können gegen dieses Ergebnis ins Feld geführt werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vor allem in der zitierten Entscheidung vom 18. November 1954 (BVerfGE 4, 96 ff.) und in der Judikatur zu Art. 2 Abs. 1 GG (BVerfGE 6, 32 ff.; 8, 328; 9, 11; 10, 99), bietet hierfür eine sichere Stütze. Nicht weniger beachtlich ist, daß die Staatspraxis der Weimarer Republik ebenfalls die Tarifvertragsfreiheit der Sozialpartner und den Aktionsbereich ihrer Arbeitskämpfe ohne Widerspruch gesetzlich begrenzte, obwohl die Weimarer Verfassung den Sozialpartnern jedenfalls keine geringeren Rechte eingeräumt hatte als das Bonner Grundgesetz. 3. Wer diesen Deduktionen gefolgt ist, wird folgende verfassungsrechtlichen Feststellungen billigen müssen, die ich in meiner 1965 erschienenen Schrift „Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem" noch näher entwickelt und belegt habe: a) Die Sozialpartner haben nach dem Bonner Grundgesetz nicht die Stellung von Verfassungsorganen. Das Grundgesetz weist ihnen vielmehr einen Platz in der gesellschaftlichen Sphäre zu. Art. 9 Abs. 3 GG im Zusammenhang mit den sonstigen grundrechtlichen Freiheitsgarantien gewährleistet ihnen freie Bildung und eine freie, besonders von Staatskontrolle freie, aber auch „gegnerfreie" Ausgestaltung ihres inneren Verbandslebens, immer auf der Grundlage der Parität. b) Ihre verfassungsrechtlich anerkannten Aufgaben sind durch Art. 9 Abs. 3 GG bestimmt. Sie bestehen darin, durch verbandsmäßige Gestaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen, also mit Hilfe tarifvertraglicher Vereinbarungen, eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens herbeizuführen. c) Diese Aufgabe findet ihre Grenzen darin, daß durch die tarifvertraglichen Vereinbarungen die gerechte Verteilung des Sozialprodukts und das Gedeihen der Volkswirtschaft nicht beeinträchtigt, durch Auswuchern der Arbeitskämpfe die staatliche Friedensordnung nicht gestört und durch Massierung des Einflusses beider Sozialpartner oder eines von ihnen die politische Handlungsverantwortung der verfassungsmäßigen Staatsorgane nicht verdrängt werden darf.

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d) Der staatliche Gesetzgeber hat die Befugnis und gegebenenfalls die Pflicht, diese Grenzen der Betätigungsmöglichkeit der Sozialpartner verbindlich abzustecken. Auch ein staatsgesetzlich angeordnetes Schlichtungsverfahren, das nach dem Vorbild der Staatspraxis der Weimarer Republik Hilfe zum Abschluß von Kollektivvereinbarungen anbietet und den übergeordneten Erfordernissen des Gemeinwohls gegebenenfalls durch Schiedsspruch und Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruchs zur Anerkennung verhilft, ist mit dem Grundgesetz vereinbar und u. U. von ihm sogar nahegelegt. e) Weitere Aussagen über Aufgaben und Befugnisse der Sozialpartner, erst recht weitere Garantien für sie, lassen sich aus dem Gründgesetz der Bundesrepublik nicht ableiten.

IV. Aber hier schließt alsbald die weitere Feststellung an, daß die Sozialpartner offenbar im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine über das ihnen durch die Verfassung Garantierte weit hinausreichende Einflußposition erlangt haben. Denn wir begegnen ihrer Mitwirkung allenthalben in den Bereichen der Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Kulturverwaltung. Dabei ist bemerkenswert, daß die Beteiligung der Gewerkschaften — im ganzen gesehen — dichter zu sein scheint als die der Unternehmer und ihrer Organisationen. Das hängt vor allem mit der Entwicklung nach 1945 zusammen, die den Gewerkschaften schon sehr bald und noch vor der Reorganisation des Staatswesens selbst eine einflußreiche Stellung eingeräumt hatte; es hat seinen Grund aber ferner darin, daß den Gewerkschaften auch in besonderem Maße eine demokratische Legitimation und gelegentlich die Rolle einer Repräsentation der Verbraucherschaft zugesprochen wurde. Wo im engeren Sinne die Bereiche des Arbeits- und Soziallebens in Frage stehen, ist die sozialpartnerschaftliche Parität ziemlich streng durchgeführt; darüber hinaus jedoch scheint die Berücksichtigung der Gewerkschaften bereitwilliger zu sein. Die Einbeziehung der Sozialpartner in die Verwaltungsordnung des Staates kann hier nur an den wichtigsten Beispielen verdeutlicht werden. Das Material hierzu ist vor allem in Untersuchungen von Günter Drewes, Winfrid Masberg und Friedrich-Wilhelm Müller zusammengetragen24. Aus diesen Arbeiten schöpft die folgende, aufs äußerste geraffte Darstellung. 24

14·

Günter Drewes, Die Gewerkschaften in der Verwaltungsordnung, 1958;

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1. Am stärksten sind die Sozialpartner bei der Bundesanstalt für Arbeit und bei den anstaltlichen und körperschaftlichen Sozialversicherungsträgern in die öffentliche Verwaltungsordnung einbezogen. Das große, vom Staat geschaffene System dieser Verwaltungs- und Versicherungsträger ist selbst in die Hand der Sozialpartner gegeben. Sie müssen sich in den bestimmenden Einfluß bei der Bundesanstalt für Arbeit nach dem Gesetz über die Errichtung der Bundesanstalt vom 10. März 1952 (BGBl. I S. 123) zwar noch mit einem dritten Partner, den „öffentlichen Körperschaften", teilen, aber in der Sparte der Arbeitslosen Versicherung sind die Sozialpartner auch hier die allein bestimmenden Faktoren. Sie sind es nach dem Gesetz über die Selbstverwaltung usw. auf dem Gebiete der Sozialversicherung vom 22. Februar 1951 (BGBl. I S. 124) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. August 1952 (BGBl. I S. 427) ebenso ausschließlich bei allen Sozialversicherungsträgern. Die „Selbstverwaltung" der Sozialversicherung ist danach in Wahrheit ein sozialpartnerschaftliches Kondominat. Man kann hier hinzufügen, daß auch die Organe der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder zum Teil nach den Vorschlägen der Gewerkschaften zusammengesetzt werden 25 . 2. Mit der Tarifmacht der Sozialpartner steht es in engem Sachzusammenhang, daß sie auch an den staatlichen Funktionen auf den Gebieten der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen und des Arbeitsschutzes kraft Gesetzes beteiligt sind. Das gilt vor allem für ihre maßgebliche Mitwirkung beim Zustandekommen von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen der Tarifverträge einschließlich ihrer Vertretung in den Tarifausschüssen. Ferner werden die staatsgesetzlich vorgesehenen Schlichtungsausschüsse aus Vertretern der Sozialpartner zusammengesetzt, ihre Vorsitzenden und die Schlichter nach den Vorschlägen der Sozialpartner berufen. Die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen geschieht unter Mitwirkung eines Hauptausschusses und von Fachausschüssen, die wiederum aus Vertretern der Winfrid Masberg, Die Unternehmerverbände in der öffentlichen Verwaltung (Göttinger jur. Dissertation 1959, Maschinenschrift); Friedrich-Wilhelm Müller, Selbstverwaltung und Interessenteneinfluß bei den Anstalten des öffentlichen Rechts (Göttinger jur. Dissertation 1959, Maschinenschrift). Auch Andreas Hamann liefert dazu in seinem Rechtsgutachten „Gewerkschaften und Sozialstaatsprinzip" (1959) einen Beitrag; ferner Hueck-Nipperdey, Lehrbuch, Bd. 2, S. 144 ff. 25 Im einzelnen Dremes, S.30ff., 58 ff.; Masberg, S. 150 ff., 165 ff.; Müller, S. 45 ff.

X. Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung

Sozialpartner gebildet werden. Nach § 3 der Arbeitszeitordnung vom 30. April 1938 (RGBl. I S. 447) liegt es jetzt in der Hand der Sozialpartner, durch Tarifvertrag, aber mit allgemeiner Rechtswirkung die tägliche Arbeitszeit von 8 bis zu 10 Stunden zu verlängern. In einem Ausschuß des Landesarbeitsamts entscheiden sie mit über die Wirksamkeit von Massenentlassungen (§ 15 KSchG). Am Erlaß der Unfallverhütungsvorschriften sind sie durch ihre bestimmende Funktion in den Berufsgenossenschaften, an der technischen Überwachung durch ihre Mitgliedschaft in den technischen Ausschüssen nach § 24 Abs. 4 GewO beteiligt. Weitgehende Einflüsse haben die Sozialpartner bei der Ausgestaltung des Jugendarbeitsschutzes und des Heimarbeitsschutzes, hier wiederum vor allem, aber nicht allein, durch ihre Mitgliedschaft in den Jugendarbeitsschutzausschüssen, Heimarbeitsausschüssen und Entgeltausschüssen. Ähnliches gilt für die Durchführung der besonderen Arbeitsschutzbestimmungen für Schwerbeschädigte. Auch im Beirat des Bundesinstituts für Arbeitsschutz sind die Sozialpartner vertreten 26. 3. Im Aufbau der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit gelangen die Sozialpartner gleichfalls zur Geltung. Die allgemeinen Bestimmungen über die Organisation, die innere Gliederung und die Dienstaufsicht ergehen für die Arbeits- und Landesarbeitsgerichte nach Anhörung der Sozialpartner. Die Vorsitzenden der Arbeitsgerichte werden vom Land berufen, nachdem die Vorschläge vorher unter Beteiligung der Sozialpartner in einem beratenden Ausschuß erörtert worden sind. Bei der Bestellung der Präsidenten und Kammervorsitzenden der Landesarbeitsgerichte haben die Sozialpartner ein Anhörungsrecht. Die nichtberuflichen Beisitzer der Arbeitsgerichte, d.h. die Arbeits-, Landesarbeits- und Bundesarbeitsrichter entstammen den Reihen der Sozialpartner selbst. Sie werden aus Vorschlagslisten der Sozialpartner ausgewählt. In den Arbeits- und Landesarbeitsgerichten bestellen die Arbeits- und Landesarbeitsrichter außerdem einen Ausschuß, der das Gerichtspräsidium in den Fragen der gerichtsorganisatorischen Selbstverwaltung berät. Ähnlich ist die Beteiligung in der Sozialgerichtsbarkeit; einige Nuancen gegenüber der Arbeitsgerichtsbarkeit können hier dahingestellt bleiben?7. Im ganzen kann die Lage in der Arbeitsverwaltung und Sozialversicherung unter Einschluß der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit da26 27

Drewes, S.36ff., 43 ff.; Masberg, S. 143 ff., 157 ff. Drewes, S.54ff., 73 f.; Masberg, S. 175 ff.

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X. Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung

hin charakterisiert werden, daß man sich hier auf ein Kondominium eingerichtet hat, innerhalb dessen sich der Staat und die beiden Sozialpartner mit von Fall zu Fall wechselnden Schwerpunkten zu gemeinschaftlichem Herrschaftsbesitz und zu gemeinsamer Verantwortung für die öffentliche Lebensordnung vereinigen. Hamann hat die vieldeutige und präjudizierende Formel von der „Inkorporierung der Gewerkschaften in die staatliche Organisation" geprägt 28 . Diese Wendung kann sicher nicht ohne Vorbehalt hingenommen werden. Aber in der Arbeitsverwaltung und Sozialversicherung könnte sie, auf beide Sozialpartner bezogen, am ehesten rechtfertigende Momente finden. Diesen Bereich als den einer „sozialen Selbstverwaltung" zu bezeichnen, ist denn auch durchaus gebräuchlich 29.

V. Wendet man sich von hier aus der Rolle der Sozialpartner in den übrigen Bereichen des Staats- und Soziallebens zu, so muß man die Verwendung der Bezeichnung „Sozialpartner" abstreifen. Denn dort handelt es sich nicht mehr um ihre sozialpartnerschaftliche Funktion, sondern schlechthin um ihr Wirken als Gewerkschaften einerseits und als Wirtschafts- oder Unternehmerorganisationen andererseits. Für die gesellschaftliche und politische Mächtigkeit dieser beiden Verbandssysteme bedeutet das jedoch kaum einen Unterschied und jedenfalls keine Abschwächung. 1. Die meisten der wirtschaftlich und sozialpolitisch bedeutsamen Bundesministerien — Arbeits-, Wirtschafte-, Ernährungs-, Verkehrs-, Wohnungsbau-, Finanzministerium — und manche Ministerien der Länder haben sich in nicht geringer Zahl Ausschüsse und Beiräte zugeordnet, in denen die Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände als solche vertreten sind. Beim Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft und beim Bundesamt für das Versicherungs- und Bausparwesen sind auch Bundesoberbehörden in dieses System der Ausschüsse und Beiräte einbezogen. Der Erlaß ministerieller Rechtsverordnungen über Handelsklassen für Erzeugnisse der Landwirtschaft und Fischerei, 29 Andreas Hamann, Gewerkschaften und Sozialstaatsprinzip, S. 5 und passim. 29 Dazu — mit berechtigter Vorsicht — Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. 2, S. 43 ff.; ferner Hueck-Nipperdey, Lehrbuch, Bd. 2, S. 144.

X. Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung

über Verkehrstarife und über die Verteilung von Fracht- und Schleppgut im Binnenschiffsverkehr setzt die vorherige Anhörung der Gewerkschaften voraus, wobei diese in erster Linie als repräsentative Verbraucherorganisation herangezogen werden 30 . 2. Vertretern der Wirtschaftsorganisationen und der Gewerkschaften begegnen wir weiter in den Beiräten bei den Landeszentralbanken (Hauptverwaltungen der Deutschen Bundesbank), in den Verwaltungsräten der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen landwirtschaftlichen Rentenbank und verschiedenen öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten der Länder, ferner in den Verwaltungsräten der landwirtschaftlichen Einfuhr- und Vorratsstellen und der Mühlenstelle. Der Bauernverband hat seine Delegierten im Verwaltungsrat der Deutschen Genossenschaftskasse. Als Vertreter der Verbraucher sind Gewerkschafter in den landwirtschaftlichen Marktverbänden vertreten. Unternehmerorganisationen und Gewerkschaften treffen sich sodann in dem Verwaltungsrat und der Tarifkommission der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr sowie in den Verwaltungsräten der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Bundespost, weiter im Verwaltungsbeirat des Technischen Hilfswerks, in den Landesplanungsgemeinschaften und -ausschüssen, im Beirat des Statistischen Bundesamtes und an vielen anderen Stellen mehr 31 . 3. I n der Kulturpflege hat die Vertretung der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften in den Landesschul- oder Landeserziehungsbeiräten und in den Beiräten der örtlichen Berufsschulen und Berufsfachschulen mit den Kernaufgaben der Sozialpartner noch den engsten Zusammenhang. Durch ihre Jugendorganisationen sind sie neben der konfessionell organisierten und der Sportjugend auch an allen wesentlichen Einrichtungen der Jugendpflege beteiligt. Solche Einrichtungen sind etwa die Bundesprüfstelle, die über die Aufnahme von Schriften in die Verbotsliste nach dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften entscheidet, ferner das Kuratorium für Jugendfragen und der Aktionsausschuß dieses Kuratoriums, denen die Beratung bei den Aufgaben des Bundesjugendplans, den Grundsatzfragen der Jugendgesetzgebung und der Überwindung besonderer Notstände der Jugend aufgetragen ist. Außer durch ihre Jugend30 Dremes, S. 75 ff., 98 ff., 111 ff., 122 ff., 128 ff., 131 ff.; Masberg, S. 53 ff., 92 ff., 181 ff., 199, 205 ff., 213 ff., 222, 232. 31 Dremes, S.88ff., 101 ff., 112 ff., 122 ff., 133 ff.; Masberg, S.65ff., 100 ff., 109 ff., 133 ff., 185 f., 187 ff., 194 ff., 199, 209 ff., 213 ff.; Müller, S.22ff., 67 ff., 127 ff.

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organisation sind die Gewerkschaften ebenso wie die Vertretungen der Unternehmerwirtschaft hier noch durch besondere Delegierte beteiligt; Jugendwohlfahrtsausschüsse der verschiedensten Art finden sich auch in den Ländern, und zwar regelmäßig unter Zuziehung von Vertretern der Gewerkschaften. Die durch die Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz verbindlich gemachten Jugendwohlfahrtsausschüsse der Kreise und kreisfreien Städte nehmen ebenfalls in aller Regel Vertreter der Gewerkschaften in sich auf 32 . In den Rundfunkräten der deutschen Rundfunkanstalten mit Ausnahme des WDR und des NDR bilden die Gewerkschaften neben Vertretern der Wirtschaft eine der Verbändsgewalten, deren Kollektiv gleichsam als Träger der Rundfunkeinrichtung gilt 3 3 . Im NDR und WDR dagegen sind die Verbandsinteressen seit der Neuorganisation von 1954/55 auf die Programmbeiräte verwiesen. 4. Die Aufzählung, die hier geboten wurde, ließe sich in näherer Detaillierung noch eine Weile fortsetzen; auch manche Fälle bloß mittelbarer Beteiligung der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften an den Aufgaben der öffentlichen Verwaltungsordnung könnten noch nachgewiesen werden. Indessen muß es bei der Erwähnung dieser repräsentativen Beispiele bewenden, während im übrigen auf die erwähnten Arbeiten von Drewes, Masberg und Müller zu verweisen ist. Es wäre nur hinzuzufügen, daß das Personalvertretungsrecht in Bund und Ländern den Gewerkschaften auch mancherlei Einflüsse auf die Personalverhältnisse im unmittelbaren und mittelbaren Staatsdienst eingeräumt hat. Schließlich ist zu erwähnen, daß ähnliche Entwicklungen auch bei den Europäischen Gemeinschaften im Gange sind. Die Montanunion hat einen Beratenden Ausschuß (Art. 18 f. des Montanunion-Vertrages), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom haben einen gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialausschuß (Art. 193 ff. des EWG-Vertrages, Art. 165 ff. des Euratom-Vertrages), in denen insbesondere die Gruppen der wirtschaftlichen Un-, ternehmer und der Arbeitnehmer vertreten sein müssen.

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Drewes, S. 135 ff., 145 ff.; Masberg, S. 208, 255 ff. Drewes, S. 155 ff.; Masberg, S. 200 ff.; Müller, S. 113 ff. Zum Rundfunkrat des „Deutschlandfunks" vgl. § 7 des Gesetzes über Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts vom 29. November 1960 (BGBl. I S.862). 33

X. Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung

VI. Die Vertretungs-, Mitwirkungs-, Entscheidungs- und Beteiligungsrechte der Sozialpartner, die hier in groben Strichen angedeutet worden sind, gehören nicht zu demjenigen, eingangs erörterten Status der Sozialpartner, der ihnen von der Verfassung der Bundesrepublik zugemessen worden ist. Alle diese Mitwirkungspositionen der Sozialpartner haben sich neben der Verfassung entwickelt, nicht von ihr gefordert, freilich auch nicht von ihr verboten. Aber es handelt sich in allen Fällen um eine Verzahnung mit der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik, teils durch Gesetze förmlich bewirkt, teils im gesetzesfreien Raum zulässigerweise durch Organisationsakte und sonstige Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen entwickelt. Angesichts dieser Sachlage ist es schwer möglich, daran festzuhalten, daß die Sozialpartner ihren Platz ausschließlich im gesellschaftlichen Bereich hätten; ihnen ist Einlaß auch in den „Staat" gewährt 34 . Alle erwähnten Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte lassen sich allerdings noch im Bereich der staatlichen Verwaltungs- und Gerichtsordnung lokalisieren. Nur ist ihre Quantität sehr groß, und wenn man die außerordentliche Bestimmungsgewalt hinzunimmt, die den Sozialpartnern als Inhabern der Tarifmacht eignet, so fragt sich doch, ob darin — im ganzen gesehen — nicht schon der Umschlag in die Anerkennung der Sozialpartner als einer verfassungsrechtlichen Potenz beschlossen liegt. Indessen ist damit der Gedankengang wieder auf das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit zurückgeführt, von dem wir im Anfang sprachen. Man kann dieses Thema auch nicht zu Ende führen, wenn man es auf die Sozialpartner isoliert. Vielmehr handelt es sich nun um einen weiteren Zusammenhang, für den das Stichwort durch die Bezeichnung der Bundesrepublik als einer „Verbandsdemokratie" gefallen ist. Verbandsdemokratie, das ist ein Terminus der politischen Zeitkritik und nicht der exakten Staatsrechtswissenschaft. Er will besagen, daß im politischen Herrschaftssystem der Bundesrepublik 34 Deshalb wird auch weithin anerkannt, daß die Sozialpartner, obwohl im gesellschaftlich-privatreditlidien Bereich beheimatet, „als Träger öffentlicher Funktionen im Bereich des öffentlichen, jenem Zwischenbereich zwischen der staatlichen Organisation und der gesellschaftlichen und privaten Freiheit anzusehen" seien; Sdieuner, a.a.O., S. 68; ähnlich E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 356, 376 ff,, 380.

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neben den verfassungsmäßig berufenen Organen: Staatsoberhaupt, Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat und den entsprechenden Organen der Länder, ferner den politischen Parteien — oder sogar noch vor ihnen — andere Kräfte bestimmend wirksam sind, die man, vielleicht allzu summarisch, als „Verbände" bezeichnet. Dazu gehören sicher auch, und zwar in vorderer Linie, die Sozialpartner, also die Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände, diese im vorliegenden Zusammenhang nicht nur als Arbeitgeberorganisationen, sondern als wirtschaftliche Interessenverbände schlechthin betrachtet. Dazu rechnet man aber auch andere „Verbandsmächte", etwa die kommunalen Fach- und Spitzenverbände, die Kirchen mit ihren Trabantenverbänden, die Zusammenschlüsse der Landwirtschaft, Vertriebenenverbände, Kriegsgeschädigtenorganisationen, Jugendorganisationen, Sportverbände und viele andere mehr. Sie alle entwickeln auf das politische Geschehen einen Einfluß, der den der verfassungsmäßig berufenen Staatsorgane oft stark bedrängt und manchmal verdrängt. Die Frage ist, wie dieser Einfluß zustande kommt. Für die Sozialpartner wurde das Wesentliche davon schon mitgeteilt: Indem sie die Löhne und Arbeitsbedingungen unter betonter Ausschließung einer Ingerenz des „Staates" unter sich selbst aushandeln, bestimmen sie maßgebend die Entwicklung der Volkswirtschaft und die Verteilung des Sozialprodukts. Nimmt man hinzu, daß sie auch die Sozialversicherung und die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung weitgehend unter ihrer Kontrolle haben und daß beide überdies eine große wirtschaftliche Macht einsetzen können, so rundet sich das Bild ab. Die geschilderte Beteiligung an den Beiräten, Ausschüssen und Anstalten der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturordnung ist gleichfalls nicht unbedeutend, kommt aber in ähnlicher Weise auch den anderen Verbänden zugute. Das nächste ist der Einfluß auf die öffentliche Meinung. Wer sich der Presse, des Films, des Rundfunks, des Fernsehens, der Reklame, des Versammlungs- und Kundgebungswesens bedienen kann, vermag auch die öffentliche Meinung zu lenken, und den Grundtendenzen, die in der öffentlichen Meinung wirksam sind, werden sich Parlament, Regierung und Verwaltungsbehörden nicht leicht entziehen. Den „Verbänden" stehen die Mittel der Meinungsbildung weithin offen. Dabei muß man die Doppelbodigkeit der sogen, öffentlichen Meinung beachten. Was deren wirkliche Inhalte sind, ist für den erstrebten Zweck vielfach nicht so wichtig wie das, was als öffentliche Meinung erscheint.

X. Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung

Um Parlamentarier, Regierungen und Behörden zu einem bestimmten Handeln zu veranlassen, genügt es oft, daß Meinungen in der Presse, im Rundfunk, in Kundgebungen usw. lanciert werden. Sie gelten dann als Ausdruck dessen, was das Volk denkt und was deshalb für politisches Handeln verpflichtend ist. Es ist daher zur schon bewährten Praxis geworden, mit Regierung, Parlament und Behörden in der Weise zu verkehren, daß man Meinungen durch Presse, Rundfunk, Versammlungen, Unterschriftenaktionen und in ähnlicher Weise verbreitet und das dann als angeblichen Ausdruck der öffentlichen Meinung seine Wirkung tun läßt. Es ist schwer abzuschätzen, wieviel von dem Einfluß der Verbände auf dieser Form der Einwirkung beruht. Der Anteil ist jedenfalls nicht gering. Bleibt der Einfluß auf die politischen Parteien, mit denen die Verbände Dauerverbindungen oder vorübergehende Zweckvereinbarungen schließen. Da die Parteien die Klinke der Gesetzgebung und der Regierungsfunktionen, weithin auch die Bestimmung über die Verwaltungsfunktionen in der Hand haben, ist diese Einwirkung für die Verbände sehr wichtig. Sie äußert sich in Personalunionen, in der Präsentation der Kandidaten für Abgeordnetenmandate, in der Bereithaltung von Stellen und Auffangpositionen für Berufspolitiker, in sonstiger finanzieller Hilfe, in der Zuführung von Wahlgefolgschaft und anderem mehr. Man kann sich auf das Zeugnis vieler Klagen aus den Reihen der Parteien berufen, um zu ermessen, wie stark der Druck ist, der von hier aus auf ihnen lastet. Neben dem Druck auf die Parteien steht die Einflußnahme auf das Parlament selbst. Hier handelt es sich um die von Fall zu Fall einsetzenden Einwirkungen vom gewöhnlichen Lobbyismus an bis hin zu massiveren Vorstellungen und schließlich dem extremsten Mittel der Drohung mit dem politischen Streik. Wieweit die Verwaltung der Mitbestimmung der Verbände ausgesetzt ist, wurde am Beispiel der Sozialpartner schon erwähnt. Hier haben die Gesetze selbst die Voraussetzung für eine weitreichende Mitbestimmung geschaffen. In der Sphäre der Regierung handelt es sich vor allem um drei Punkte: einmal um den Interessentenansturm auf die Ministerien und Referate, die Fonds zu verwalten haben, zum anderen um das wiederholt bekanntgewordene Begehren, daß bestimmte Beamtenposten in den Ministerien und hohen Behörden mit Vertrauensleuten der betroffenen Interessentengruppen besetzt werden müßten oder jedenfalls nicht gegen ihr Veto besetzt werden dürf-

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ten 35 . Zum dritten weiß man, daß der Kampf um die Gesetz- und Verordnungsentwürfe meist schon im Stadium der Aufstellung der Referentenentwürfe im Schoß der Ministerien beginnt und dort sogar seine entscheidende Phase hat. Hier fließen sachliche Beratung durch die Verbände und Geltendmachung ihres Interessentenstandpünktes ineinander 86. Von der Einflußnahme der Gruppenmächte und Interessentenverbände auf die rechtsprechende Gewalt braucht hier nicht näher gehandelt zu werden. Sie ist sicher am schwächsten entwickelt, bis auf die schon erörterten Fälle, in denen die Zusammensetzung einiger Spezialgerichtsbarkeiten unter Heranziehung der beteiligten Gruppenorganisationen geschieht.

VII. Neben einigem anderen, wozu auch die konstitutionelle Schwäche eines allzu forcierten Föderalismus gehört, die zur Kompensation durch ein unitarisches Verbandswesen nötigt, liegen die Hauptursachen für das Auswuchern des Verbändestaats in einer doppelten Erscheinung: einmal in der „Verwirtschaftlichung der Politik", die man mit der Sozialstaatlichkeit des modernen politischen Gemeinwesens ungefähr gleichsetzen kann, zum andern in der Tatsache, daß die Massendemokratie der Gegenwart durch ein Autoritätsvakuum gekennzeichnet ist und dadurch die machtpolitische Landnahme der Verbände hervorlockt. Die Sozialstaatlichkeit ist stärker für die Ausbreitung des Interessenverbandswesens verantwortlich, während der Mangel an obrigkeitlicher Autorität die Machtgruppen überhaupt, auch die nicht so deutlich als Interessenvertretungen abgestempelten — und gerade zu ihnen sind die Sozialpartner in ihrer Gesamtheit zu rechnen —, zu politischen Potenzen ersten Ranges hat hervorwachsen lassen87. 35

Hierzu kann auf Theodor Eschenburgs Schrift „Ämterpatronage", 1961, besonders S. 66 ff. verwiesen werden. 36 Dazu hat Hans Huber, Staat und Verbände, S. 19 ff., besonders aus der Schweiz, einige Beobachtungen mitgeteilt. Berechtigte Kritik übt in diesem Zusammenhang, auch an der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGOI §§ 94 f., GGO I I §§23 f.), ferner Wilhelm Hennis , Meinungsforschung und repräsentative Demokratie (1957) S. 61 Anm. 120. Zu dem Problem im ganzen derselbe, Verwaltungsordnung und Verbandseinfluß, PVS 2 (1961) S. 23 ff. 37 Auf diese Frage bin ich oben S. 36 ff. und S. 121 ff. näher eingegangen.

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Der den liberalen Vorstellungen entsprechende Modellstaat, dem das Staatswesen des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkriege nahezukommen suchte, beschränkte sich in seinen Betätigungen auf die außenpolitische Selbstbehauptung, auf die innenpolitische Ordnungswahrung im Sinne des Polizeirechts und auf die Darstellung von Gerichtshoheit. Als Gesetzgeber bemühte er sich, Ordnungen zu kodifizieren oder neu zu stiften, nach denen die Menschen ihr Leben in Freiheit und Selbstverantwortung einzurichten hätten. Auch hier gab es Zusammenschlüsse, in denen gemeinsame Interessen gepflegt wurden, aber nicht im Sinne einer ständigen planmäßigen Einflußnahme auf die Gewährungen des Staates und die Manipulationen der Staatsapparatur. Heute bringt der Staatsapparat einen außerordentlich hohen Teil des Sozialprodukts durch Steuererhebung und in sonstiger Weise in seine Hand. Er unterhält damit eine Sozialapparatur, deren wirtschaftliche und kulturelle Leistungen die Existenzgrundlage für die Bevölkerung der arbeitsteiligen industriellen Massengesellschaft abgeben. Mit Hilfe seiner Steuer-, Diskont- und Verkehrstarifpolitik, mit Präferenzen und Subventionen, mit preisregulierenden Maßnahmen, mit gezielten Sanierungsaktionen und allgemeinen distribuierenden Dispositionen sorgt er für die Verteilung des Sozialprodukts. Dies geschieht nach „sozialstaatlichen" Konzeptionen, in denen der politische Wille ausschlaggebend wirksam ist. Der Staat ist Versorgungsapparatur und Ausgleichskasse geworden. Mit den öffentlichen Einrichtungen der Energie- und Verkehrsversorgung, die er bereithält, des Bildungswesens, der Gesundheitsfürsorge und der Sozialversicherung, mit seinen Fondsausschüttungen und allgemein mit den Verwaltungsplänen seiner Gesetze determiniert er Lebensstandard und Lebensgestaltung des gesamten Volkes. Die natürliche Folge ist, daß man auf die Manipulationen des Staatsapparates Einfluß gewinnen muß, wenn man bei diesem vielverzweigten Prozeß des Nehmens, Ausgleichens und Gewährens möglichst wenig in die Rolle des Opfernden geraten und tunlichst breit die Gunst des Geschonten oder sogar Bedachten genießen will. Der einzelne in seiner Verlorenheit kann da nichts ausrichten; nur durch Ballung gleichgerichteter Interessen in einer wachsamen und aktionsfähigen Organisation hat er Aussicht, sich zu behaupten. So reihen sich die Fachverbände der Wirtschaftsunternehmungen, die Gewerkschaften, die Organisationen der selbständigen Berufe, der Steuer-

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zahler und der wirklich oder vermeintlich Entrechteten, die Zusammenschlüsse der Träger kultureller und wohlfahrtspflegerischer Aufgaben in langen Kolonnen aneinander. Gewiß ist es meist auch ihr Ziel, ihren Gliedern, die allein mit der Lebensbewältigung nicht fertig werden würden, mit Rat und Tat zu helfen und ihnen einen Halt zu geben. Sicher auch erfüllen sie eine wesentliche Funktion darin, dem Gesetzgeber und den Behörden mit spezialisierter Sachkunde ratend beizustehen. Immer aber wird sich die Geltendmachung der in ihnen verkörperten Interessen, die nicht bloß wirtschaftlicher Art zu sein brauchen, entscheidend durchsetzen. In der Rivalität mit konkurrierenden und kollidierenden Interessen wird daraus ein Wettlauf um den Zugriff auf die politischen Entscheidungen, dessen zunehmende Rücksichtslosigkeit sich schwer übersehen läßt. Wenn hier weiter vom Autoritätsvakuum der Massendemokratie die Rede war, so ist damit die Tatsache gemeint, daß die Massendemokratie unserer Tage sich aller traditionellen Elemente obrigkeitlicher Autorität entledigt hat. Infolgedessen stehen die Kammern, in denen die Machtmöglichkeiten der staatlichen Herrschaftsapparatur bereitgehalten werden, leer; oder vielmehr: sie standen leer. Denn sie sind bald von oligarchisch organisierten Gruppenmächten besetzt worden. In Parlament und Regierung und auch in den Schlüsselpositionen der Verwaltung dominieren die Machtapparate der Parteien. Aber zwischen sie haben sich andere Gruppenmächte eingezwängt, und zwar besonders diejenigen, die über die bloße Vertretung von Interessen, obwohl sie ihnen gleichfalls nicht fremd ist, hinaus in die Rolle einer politischen Macht und in das Bewußtsein verantwortlicher Teilhabe an den politischen Entscheidungen hineingewachsen sind. Nennen wir wieder als Beispiele die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die Spitzenorganisationen der Industrie, der Banken, Versicherungen und des Handels, der Bauernschaft und der Kommunen, weiter auch die Kirchen. Sie sind neben einigen anderen, die hier übergangen werden können, vor allem aber zusammen mit den politischen Parteien die fest organisierten Einflußträger des heutigen politischen Gemeinwesens. An sie wird in der Hauptsache gedacht, wenn man in unseren Tagen von „Verbandsdemokratie" spricht. Sie prägen durch ihre Existenz und ihr Wirken unserem Staatswesen den Stempel eines Gruppenbundes 38 auf. 38 Die Formulierung stammt von Theodor Verbände?, 1955, S.87.

Eschenburg,

Herrschaft der

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VIII. Von hier aus kehren wir zu der Eingangsbetrachtung zurück und erneuern die Frage, ob wir uns primär an der geschriebenen Verfassung, dem Grundgesetz, oder an dem real vorgefundenen gruppenbündischen Kräftesystem des Verbändestaates zu orientieren haben, um die Stellung der Sozialpartner in der Verfassungsordnung zu bestimmen. Die Antwort ist nach dem Abtasten der Lage nicht leichter geworden. Eher könnte man sagen, daß die Gebrochenheit der konkreten deutschen Verfassungssituation noch deutlicher sichtbar geworden ist. Es wäre vermessen, einfache Formeln für die Auflösung des Dilemmas anzubieten. So billig sind die Hilfen nicht zur Hand. Schon in der Vorstufe vor dem staatsrechtlichen Urteil, in der Analyse des politisch-sozialen Tatbestandes, zeigen sich erst Ansätze zu einer Klärung. Welche Schwierigkeiten sich hier auf tun, wird durch die literarischen Beiträge zu diesem Thema eindrucksvoll bezeugt39. Ernst Forsthoff faßt weiter ausgreifende Darlegungen dahin zusammen, daß zwischen Staat und Gesellschaft ein Zustand unauffälliger Osmose bestehe, der bei der Verflechtung zwischen den Parteien und den Verbänden beginne und bei der engen Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Kräften und den Ministerien und Regierungen ende40. Er spricht davon, daß die Ordnung des sozialen Ganzen heute durch eine ständige Kooperation zwischen dem Staat und den formierten Kräften der Gesellschaft aufrechterhalten und fortgebildet werde, wobei die moderne Gesellschaft und ihre organisierten Kräfte in hohem Maße die Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung und Selbststabilisierung bewiesen hätten 41 . Helmut Ridder meint das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der freiheitlichen Demokratie als „ein Verhältnis der Zuordnung, der gegenseitigen Annäherung, BeeinflusVon staatsrechtlichen Untersuchungen seien erwähnt Ernst Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 14 ff.; derselbe, Rechtsstaat im Wandel, 1964 S. 197 ff.; Hans Huber, Staat und Verbände, 1958; Horst Hausen, Die Stellung der Gewerkschaften im Bonner Grundgesetz — ein Teilproblem der Wirtschaftsverfassung, Festgabe für Kraft, 1955, S. 170 ff.; Joseph H.Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen; derselbe, Der politische Streik, 2. Aufl., 1959; Helmut Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften, 1960; Gerhard W. Wittkämper, Grundgesetz und Interessenverbände, 1963. 40 Ernst Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 18. 41 Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, S. 200 ff. und passim.

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sung und Durchdringung bei gleichwohl jederzeitiger klarer Unterscheidbarkeit, die durch die Dichotomie von öffentlichem und privatem Recht indiziert wird", verstehen zu sollen42. Natürlich sind das nur herausgegriffene Thesen aus breiter angelegten ernsten Überlegungen. Aber was sich in der politisch-sozialen Wirklichkeit an Entwicklungen anbahnt und vollzieht, ist noch nicht handliche Entscheidung und Norm für die Daseinsbewältigung im verfafiten Staatswesen. Auf sie richten stärker ihr Augenmerk Joseph H. Kaiser und Horst Hausen, indem sie die verfaßte Staatlichkeit und die „Repräsentation organisierter Interessen" gegenüber dem Staat deutlich trennen 48 . Wie sich das, was heute als Prozeß der Wandlung und des Ubergangs erscheint, den Verfassungsschöpfern und -revisoren etwa nach einem Menschenalter darstellen wird, wissen wir nicht. Der Staatsrechtslehre obliegt aber, deutlich zu machen, daß wir hic et nunc unser politisches Gemeinwesen in Ordnung zu halten haben. Das entbindet zwar nicht von der Verpflichtung, offen zu sein gegenüber dem politischen Strukturwandel, dem wir in offensichtlich rasch fortschreitender Entwicklung ausgesetzt sind; doch gestattet es uns ebensowenig, uns den bloßen Faktizitäten neuer Machtformierungen auszuliefern, die noch nicht verfassungskräftig zu öffentlicher Verantwortung legitimiert und darin gebunden sind. Bestand, Verläßlichkeit und Praktikabilität der Ordnung der Bundesrepublik beruhen auf der im Grundgesetz des Staates getroffenen Entscheidung. Sie weist den Sozialpartnern und mehr noch den sonstigen „Verbandsmächten" ihren Platz außerhalb der verfaßten Staatsordnung im gesellschaftlichen Bereich an. Daß darin wohl eine Warnung vor vielfach bemerkbaren Ausuferungen, jedoch keine Degradierung der Sozialpartner und keine Einengung ihrer legitimen Aufgaben liegt, ist selbstverständlich. Aber die Staatspraxis der Bundesrepublik fußt allenthalben, anscheinend doch aus begründeter Notwendigkeit, in einer gegenüber früheren Verfassungen nicht gekannten Strenge auf der Beachtung des Grundgesetzes. Es wäre ein merkwürdiger Widerspruch, wenn diese Verbindlichkeit nichts gelten sollte, wo es um die eigentliche verfassungsmäßige Herrschaftsverantwortung, also den Kern der Verfassung geht.

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Helmut Ridder, a.a.O., S. 14. Joseph H.Kaiser und Horst Hausen a.a.O.

XI. Wandlungen und Formen des Staates Es gibt einen festen Bestand klassischer Charakterisierungen des Staates, die an altüberlieferten Strukturen des Staates, meist an seinen Herrschaftsformen, orientiert sind. Von Monarchie, Aristokratie und Demokratie zu sprechen, ist jedem geläufig. A&ch die neuzeitliche Entwicklungsfolge der Verfassungen von der ständestaatlichen über die absolute und die konstitutionelle zur parlamentarischen Monarchie, die in Wahrheit schon Demokratie ist, und dann zur demokratischen Republik gilt als bekanntes historisches Faktum. Staatslehre und Staatspraxis behandeln ferner Erscheinungen wie Staatenbund, Bundesstaat und Einheitsstaat als klar abgegrenzte Begriffe, für die sie Belege aus Vergangenheit und Gegenwart bereit haben. Die Gegenwartsproblematik des Staates gelangt in diesen Begriffen und Etikettierungen des Staates und seiner historisch verwirklichten Strukturen indessen nicht zum Ausdruck, so sehr auch etwa die Bundesrepublik Deutschland sich in den Grundsatzfragen und Tagesaufgaben ihres Föderalismus verzehren mag und die föderalistische Problematik einer integrierten europäischen Staatengemeinschaft noch zu bewältigen ist. Für das Bemühen um die im Staat der Gegenwart beschlossenen Probleme stehen andere Kennworte im Vordergrund. Man hantiert mit Programmen und Vorstellungen, die in Begriffen wie Rechtsstaat, Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat, Parteien- und Verbändestaat, Kulturstaat u. ä. eingefangen sind. Die Herrschaftsformen stehen dabei offensichtlich weniger im Vordergrund; daß der Staat sich als demokratisch legitimiert ausweisen muß, ist undiskutierte Voraussetzung aller Überlegungen. Dann ist man bald bei der Fragestellung: Parteienstaat oder was sonst?, mit der sich die Alternativen des Verbändestaates oder der autoritären Demokratie leicht in den Status der Illegitimität verweisen lassen, ohne freilich dadurch an Realität zu verlieren. Weil hier strittige Dinge im Spiele sind, wird dieser Komplex gern ausgeklammert und dafür um so eindringlicher das Verhältnis des Individuums zum Staat verfolgt, für das die Begriffe Rechtsstaat und Sozialstaat repräsentativ sind. Im Bekenntnis zum Rechtsstaat 15 Weber

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und zum Sozialstaat herrscht — prinzipiell betrachtet — in der westlichen Welt weitgehend Übereinstimmung, wenngleich in der Beurteilung der daraus im einzelnen zu ziehenden Folgerungen begreiflicherweise die Meinungen divergieren. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Bonner Grundgesetz, ist dadurch charakterisiert, daß sie auf einer tabula rasa vernichteter Staatlichkeit neu geschaffen wurde und dadurch in besonderem Maße zu einer teils klar erkannten, teils unbewußt gespürten Auseinandersetzung mit einer Standortsbestimmung des Staates aus den aktuellen Gegenwartsbedingungen heraus veranlaßt war. Die Anerkennung parteienstaatlicher Züge und die Verpflichtung auf Rechtsstaats- und Sozialstaatsforderungen sind deshalb ausdrücklich in sie aufgenommen. Aber es handelt sich hierbei um die Bekundung eines Selbstverständnisses, das — mit einigen Nuancen — in den übrigen Staaten der westlichen Welt und besonders des europäischen Kontinents gleichfalls tragende Bedeutung erlangt hat. Im ganzen gelangt in den erwähnten Charakterisierungen der den Staat der Gegenwart vornehmlich bestimmenden Momente unverkennbar zum Ausdruck, daß eine Gegenposition zu der andersartigen Staatsgestaltung der kommunistischen Staatenwelt bezogen wird, der gegenüber man sich um eine Individualisierung der eigenen politischen Existenz bemüht. Geschichtlich herangereifte Entwicklungsergebnisse verschränken sich hierbei mit den Zielsetzungen einer bewußt verfolgten Staatsgestaltung. In einer solchen Lage tritt die Analyse der bestehenden staatlichen Ordnungszusammenhänge gegenüber den Leitbildern der praktisch und oft sogar polemisch betriebenen politischen Daseinsgestaltung zurück. Die Ausformung der Leitbilder in schlagwortähnlichen Abbreviaturen hat begreiflicherweise Vereinfachungen zur Folge, die das Wesen der Dinge oft verschleiern. Immerhin bezeichnen Begriffe wie Parteienstaat, Rechtsstaat, Sozialstäat, Verwaltungsstaat usf. Markierüngspunkte, an denen sich eine Veranschaulichung der Struktur- und Zweckwandlüngen des Staates der Gegenwart orientieren kann und an die sie sich sogar halten muß.

1. Der Rechtsstaat Soweit sich der Staat der Gegenwart als Rechtsstaat begreift, kommt darin nicht eine neugefundene Wesensbestimmung zum Ausdruck; vielmehr reicht die rechtsstaatliche Tradition bis in die Spät^ zeit des fürstlichen Absolutismus zurück, deren naturrechtliche Bin-

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dungsvorstellungen scion den Ansatz der später positivierten Grundrechte und deren Justizreformen, etwa in Preußen, den Anfang einer Gewaltenteilung erkennen lassen. Aber die Rechtsstaatsforderung hat vor dem Hintergrund jüngst vergangener und noch bestehender totalitärer Regime eine Neubelebung und Bewußtmachung von außerordentlicher Nachhaltigkeit erfahren, und sie hat weiter ihre Verwirklichungsformen nicht nur verfeinert und anders akzentuiert, sondern sie auch der veränderten Staatsstruktur angepaßt. Der Rechtsstaatsgedanke ist ursprünglich der Ausfluß eines staatsabgewandten liberalen Individualismus. So ist er in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (Art. 16) mit der Förderung angelegt, daß jeder Staat Teilung der Gewalten und die Anerkennung von Grundrechten des Individuums verwirklichen müsse, und so hat ihn das 19. Jahrhundert auf dem europäischen Kontinent und in einer parallel verlaufenden Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika fortgeführt. Das Hauptanliegen ist die Sicherung der Freiheitssphäre des Individuums und die Herstellung einer Balance der politischen Gewalten, diese gleichfalls als Mittel der Begrenzung staatlicher Macht gegenüber dem Individuum verstanden. Im praktischen Funktionieren sind beide Erscheinungen, Grundrechtssystem und Gewaltenteilungsprinzip, zunächst ganz auf die Uberwindung des fürstlichen Absolutismus ausgerichtet, und sie verbinden sich hierbei mit den demokratischen Machtergreifungsbestrebungen der Zeit. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Grundrechte verbot es der staatlichen (monarchischen) Exekutive fürderhin, aus eigenem Recht in die Individualsphäre der einzelnen und in die Lebensvorgänge der autonomen bürgerlichen Gesellschaft einzugreifen. Sie wurde gebunden an die Ausnahmen vom Grundrechtsschutz, die die demokratische Legislative in den generell-abstrakten Normen ihrer Gesetze ausformte. Das politische Gleichgewicht von Monarch und bürgerlicher Volksvertretung und die Unterwerfung der monarchischen Exekutive unter die Herrschaft des Gesetzes, d.h. unter die begrenzend abgesteckten Handlungsermächtigungen, die die demokratische Legislative ihr einräumte, sind die beiden entscheidenden Ausprägungen des Rechtsstaatsgedankens im Zeitalter des Konstitutionalismus. Später, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, drängte die Entwicklung dahin fort, eine Kontrollinstanz zu finden, die die beschriebene Bindung der Exekutive an die Gesetze im Sinne weiterer Begrenzung der monarchischen Gewalt und einer stärkeren Sicherung der individuellen Freiheiten überwachte. 15*

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Man rief zu diesem Zweck eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ins Leben und baute audi in der ordentlichen Gerichtsbarkeit Kontrollzuständigkeiten gegenüber der Verwaltung aus. Auf diese Weise trat neben die beiden bisher allein ausschlaggebenden politischen Potenzen — Monarch und Volksvertretung — zum ersten Male die Justiz als eine politisch relevante „dritte" Gewalt. Der rechtsstaatliche Effekt dieses Vorgangs bestand zugleich darin, daß die gesetzlichen Handlungsermächtigungen an die Exekutive nun stärker den Charakter von Begrenzungsnormen annahmen, daß die tatbestandsmäßige Vorherbestimmung und die Berechenbarkeit allen staatlichen Handelns, die rechtliche Bindung auch in den Details und die juristische Nachprüfbarkeit in den Vordergrund traten. Das Netz rechtlicher Normierungen, in das die Betätigung staatlichen Handelns eingefangen wurde, zog sich so immer enger zusammen, allerdings wurde davon zunächst nur die Exekutive betroffen. Mit dem Ubergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie und mit der gänzlichen Beseitigung der Monarchie durch die parlamentarische Republik entfiel der Dualismus von monarchischer Exekutive und demokratischer Legislative, der bis dahin der Angelpunkt der Gewaltenteilung gewesen war; in Parlament und Regierung war nun ein und dieselbe politische Kraft bestimmend. Aber das Schema der Dreiteilung der Gewalten wurde beibehalten und der Rechtsstaatsgedanke in der sich selbst konstitutionell beschränkenden Demokratie nicht aufgegeben. Die Rechtsstaatsforderungen fächerten jetzt sogar weiter aus. Sie tendierten dahin, auch die Gestaltungsvorgänge im Verfassungsbereich und die Tätigkeit des Gesetzgebers einer gerichtlichen Kontrolle zugängig zu machen, wofür sich einige Anknüpfungspunkte in der Rechtsprechung des Supreme Court der Vereinigten Staaten boten. Die Entwicklung in diese Richtung vollzog sich nach dem ersten Weltkriege schrittweise, aber beharrlich. Ihr sichtbarer Ausdruck ist der Ausbau einer Verfassungsgerichtsbarkeit und die Anerkennung einer richterlichen Normenkontrolle, d.h. der Überprüfung der Gesetze durch die Gerichte dahin, ob sie mit der Verfassung, besonders ihrem Grundrechtskodex, übereinstimmen. Hieran ist nicht nur die Ausdehnung der gerichtlichen Kontrollen bemerkenswert, sondern ebenso die damit einhergehende Umbildung der Verfassung selbst. Dazu bestimmt, einer richterlichen Kontrolle als Grundlage und Maßstab zu dienen, und in den Händen einer richterlichen Subsumtionspraxis wird die Verfassung zu einem Paragraphenwerk, das weniger die politischen Kräfte zu einem Han-

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dein in Ordnung entbindet und entfaltet als sie festlegt, anbindet und die verfassungsrechtlichen Positionen in einem Gitterwerk von Vornormierungen erstarren läfit. Den Rechtsstaat in diesem Sinne hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Vollendung gebracht. Die in ihm enthaltene besondere Wendung wird vielfach durch den Begriff „Rechtswegstaat" gekennzeichnet. In der Tat ist die Perfektion, mit der das Grundgesetz gegen jeden Akt obrigkeitlicher Gewalt einen Gerichtsweg eröffnet, für die Verfassungsstreitigkeiten zwischen den Staatsorganen, zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet und gleich mehrere Arten von Normenkontrollverfahren, d. h. verfassungsgerichtlicher Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vorgesehen hat, höchst bemerkenswert. Sie ist bezeichnend auch unter dem Gesichtspunkt, daß die rechtsprechende Gewalt im System der Gewaltendreiteilung eine früher nie gekannte Erhöhung gefunden hat, damit gleichsam den Verlust an Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative kompensierend und auch die „Souveränität" des gleichfalls kontrollierten parlamentarischen Gesetzgebers relativierend. Aber dieser Ausbau der gerichtlichen Rechtsschutz- und Kontrollmöglichkeiten ist nur die eine Seite des rechtsstaatlichen Idealmodells. Zu ihm gehört ebenso eine starke Aufwertung und juristische Aktualisierung des Grundrechtsschutzes und vor allem das Folgende: In der Verfassung ist das ganze staatliche Leben in Normen vorgeformt, die als justitiabel verstanden werden. Insonderheit die Grundrechte fangen das Verhältnis des Individuums zum Staat in festen Rechtssätzen ein. Diese gelten unmittelbar für die vollziehende, die rechtsprechende und auch die gesetzgebende Gewalt. Der Spielraum, den der Gesetzgeber zur authentischen Interpretation der Grundrechte hat, ist gering. Überschreitet er diesen Spielraum, so wird die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle das verfassungswidrige Gesetz verwerfen. Die Exekutive (Verwaltung) wiederum unterliegt wie bisher der Bindung an das Gesetz. Aber diese Bindung ist strenger und starrer geworden. Der weitreichende Individualschutz der Grundrechte einerseits mit der Nötigung für den Gesetzgeber, die zulässigen Beeinträchtigungen der Rechtssphäre des Individuums mit peinlicher Genauigkeit abzuzirkeln, und der universelle Gerichtsschutz gegen Akte der Verwaltung anderseits wirken dahin zusammen, das Handlungsermessen der Verwaltung zum Schrumpfen zu bringen. Das bedeutet im

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Ergebnis: Die Betätigungen des politischen Gemeinwesens sind in höchstmöglichem Grade verrechtlicht, im voraus durch die Verfassung und die Gesetze festgelegt, berechenbar und kontrollierbar gemacht. Anders ausgedrückt: Der status quo gegebener Rechtspositionen und erworbener Rechte genießt die Gunst der Verfassungsordnung in höherem Grade als die zur gestaltenden Meisterung des politischen Schicksals berufene Verantwortung. Den Schutz der Freiheiten des Individuums, um den sich diese Ausprägung des Rechtsstaats bemüht, wird niemand gering einschätzen. Es fragt sich nur, ob das Individuum im Schutz seiner Freiheiten allein sein Genüge findet oder ob sein Wohl nicht auch davon abhänr gig ist, daß der Staat den status quo überlieferter Rechtslagen gestaltend überwinden kann. Vor allem darf nicht verkannt werden, daß die der modernen Rechtsstaat s Verwirklichung immanente Passivität staatlichen Handelns, verbunden mit der Verlagerung der obrigkeitlichen Autorität auf die kontrollierenden und distributiven Entscheidungen. der rechtsprechenden Gewalt, sich in hohem Grade dem Schwebezustand des Pluralismus der modernen Gesellschaft adaptiert, wenn er nicht sogar von dorther im tieferen Grunde legitimiert ist. Der Schutz der Grundrechte kommt neben den Individuen oder sogar noch vor ihnen den Assoziationen der Individuen, d. h. den großen Einflußorganisationen des Soziallebens zugute. Andere Institutionen des öffentlichen Lebens, wie die politischen Parteien, die Kirchen und die Sozialpartner haben ihre eigenen verfassungsrechtlichen Sicherungen. Das politische Gemeinwesen, nicht nur in Deutschland, besteht in einem gegenseitigen Arrangement dieser im gesellschaft^ liehen Bereich verwurzelten Teilgewalten auf der Grundlage der Parität und der Balance; durch Selbstdisziplinierung der Gesellschaft, um mit Ernst Forsthoff zu reden, sucht dieser Pluralismus der Einflußmächte die obrigkeitliche Autorität des Staates überflüssig zu mächen. Immerhin braucht er den Staat als Garanten des status quo der beanspruchten Rechtspositionen, und zur Wahrung des Gleich^ gewichte auf der Grundlage des status quo dient ihm die richterliche Entscheidung, die ihm deshalb als einzige übergeordnete Autorität willkommen ist und in deren Gewände ihm der Staat noch als legitim erscheint.

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2. Der Sozialstaat Mit dem Begriff des Sozialstaats ist eine andere Wesensbestimmung gekennzeichnet, der der Staat der Gegenwart nachstrebt. Die westliche Welt verbindet in ihren Staatszielvorstellungen die Forderung nach dem Rechtsstaat mit der nach dem Sozialstaat, und zwar mit solcher Selbstverständlichkeit* daß das Bonner Grundgesetz (Art. 28 Abs. 1) die inzwischen geläufig gewordene kombinierende Formel „sozialer Rechtsstaat" verwenden konnte. In der Tat besteht zwischen dem Rechtsstaat und dem Sozialstaat insofern ein innerer Zusammenhang, als in beiden das Individuum die zentrale Vorstellung bildet. Ist der Rechtsstaat um die Freiheit und den rechtlichen Schutz des Individuums besorgt, so der Sozialstaat darum, ihm nach anderen Richtungen eine menschenwürdige Existenz zu sichern. Diç Wahrung der Menschenwürde und die Beseitigung von Lebensangst und Not sind in beiden Fällen motivierend wirksam. Der Sozialstaat findet hierzu allerdings einen wesentlich anders gearteten Ansatz, und er gerät von dorther wie in seinen Methoden zum Rechtsstaat weithin in spannungsvolle Gegensätze. In Deutschland sind in die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes verschiedentlich Verfassungsaussagen hineingedeutet worden, die hier nicht aufgegriffen werden können, weil sie nicht mit dem allgemeinen Verständnis des Sozialstaats übereinstimmen. So hat man versucht* unter Bezugnahme auf die Sozialstaatsklausel etwa für die Gewerkschaften einen politischen Mitbestimmungsstatus in Anspruch zu nehmen und, diesen Gedanken erweiternd, sogar das ganze faktische Kräftesystem des gesellschaftlichen Bereichs mit den Sozialpartnern an der Spitze gleichsam in die normative Verfassungsordnung einzubeziehen. Diese — übrigens singulären — politischen Vorstöße bleiben hier beiseite. Der moderne Sozialstaat hat in den wohlfahrtstiftenden Bemühungen des späten Absolutismus einen Vorläufer, und auch in der Zeit eines extremen Liberalismus hat der Staat, jedenfalls auf dem europäischen Kontinent, seine aktive Sorge für „Land und Leute" nie·: mais aufgegeben. Er mußte sie schon im Ausgang des 19. Jahrhunderts verstârkën, als mit der kapitalistischen Industrialisierung Proletarierelend, Klassenkampf lagen und innere Unruhen heraufzögen. Heute kann sich kein zivilisierter Staat der Aufgabe einer umfassenden Lebensvorsorge für seine Bevölkerung entziehen. Er kann es im wesentlichen aus doppeltem Grunde nicht. Der eine liegt in der Not-

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wendigkeit der staatlichen Selbstbehauptung. Ein in seinem inneren Frieden bedrohter Staat, in dem Elend und Unzufriedenheit der Massen ständig den Willen zu gewaltsamem Umsturz nähren, kann auf die Dauer nicht bestehen. Er kann vor allem, dies von der westlichen Welt her gesehen, der Überwältigung durch den Kommunismus schließlich nicht widerstehen. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob das Elend der Massen und das soziale Gefälle als Folge des Treibenlassens im Industrialisierungsprozeß hochentwickelter Staaten auftritt oder ob es als Faktum in neuerdings zu eigener Staatlichkeit emanzipierten Entwicklungsländern vorgefunden wird. Die andere Hauptmotivierung des Sozialstaats liegt in den Vorstellungen vom Menschenbild und einer ihm entsprechenden wohlgefügten Sozialordnung. Um die Zentralvorstellung eines menschenwürdigen Daseins, das allen Gliedern der staatlichen Gemeinschaft gewährleistet sein soll, gruppieren sich Forderungen der verschiedensten Art. Sie alle münden dahin aus, jedem Menschen ein Leben nach angemessenem, d. h. stark egalisiertem Standard und Lebenssicherheit („soziale Sicherung") zuteil werden zu lassen. Das erfordert in der hocharbeitsteiligen Industriegesellschaft allerdings eine Fülle staatlicher Vorkehrungen und ein hohes Maß staatlicher Gestaltungsaktivität. In der Industriegesellschaft bildet die Arbeitskraft die einzige Existenzgrundlage der Masse aller Menschen. So muß der Staat in seiner Wirtschafte- und Arbeitsmarktpolitik darauf Bedacht nehmen, daß möglichst alle ihren Arbeitsplatz finden und angemessen entlohnt werden. Parallel dazu muß er korrespondierende Preise der Grundnahrungsmittel sichern und für gesunde Wohnungen bei geringem Erwerbs- oder Mietaufwand sorgen. Er muß das unabweisbare Bedürfnis nach differenzierter Energie- und Wasserversorgung, nach Verkehrsmittelbedienung, nach Nachrichten- und Transportmitteln, nach Sport- und Erholungsmöglichkeiten befriedigen. Besonders die städtische Existenz, die zunehmend die Lebensform der Mehrheit der Bevölkerung wird, läßt sich ohne ein ebenso weit ausgreifendes wie kunstvolles System von öffentlichen Einrichtungen der Daseinsvorsorge überhaupt nicht mehr führen. Jeder erwartet ferner, daß die öffentliche Hand ein hochentwickeltes System der Gesundheitsfürsorge bereithält mit ärztlicher Versorgung, Kliniken, Krankenhäusern und Genesungsstätten, Impfschutz und hygienischer Vorbeugung. Jugendpflege und Jugendwohlfahrt bemühen sich, der Jugend auch der minder begüterten Schichten reiche Entfaltungsmöglichkeiten zu

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bereiten, während sich den Alternden von der öffentlichen Hand unterhaltene Heime und Pflegestätten für einen gedeihlichen Lebensabend anbieten. Immer deutlicher orientiert sich auch die Kulturpflege sozialstaatlich, weshalb es gerechtfertigt ist, den Sozialstaat dieser Seite seines Wesens wegen als Kulturstaai zu bezeichnen. Ohne die öffentliche Hand als Träger oder als Subventionsgeber würde die Masse der Bevölkerung nicht an den Kulturgütern teilhaben, die durch Theater, Musikpflege, Museen, Ausstellungen, Volksbildungsstätten und Kunstförderung vermittelt werden. Rundfunk und Fernsehen haben den Charakter öffentlicher Kulturversorgungs- und Zerstreuungsanstalten angenommen. Das Schulwesen von der Grundschule bis zur Universität und Forschungsanstalt wird entsprechend seiner fundamentalen Bedeutung für die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten des einzelnen wie für die nationale Leistungsfähigkeit von Staats wegen zu immer größerer Freiheit entwickelt und zugleich durch Ausbildungsförderung, Einrichtungen des „Zweiten Bildungswegs" und ähnliche Hilfen für alle unter gleichen Chancen zugängig gemacht. Das Arbeitsrecht hat zur Behebung der Schwäche der Position des abhängigen Arbeitnehmers eine Fülle sozialer Rücksichten in sich aufgenommen. Im weitgespannten System der Sozialversicherung findet eben dieser Arbeitnehmer Lebenssicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Invalidität und für sein Alter. Wer sonst in Not gerät, ohne daß er an anderen Stellen des sozialen Vorsorgesystems eine Stütze hat, wird an der Sozialhilfe einen Rückhalt finden. Sozialstaatlich konzipiert oder wenigstens mitbestimmt sind ferner die großen Ausgleichsmaßnahmen: die angestrebte Egalisierung der Lebensverhältnisse durch Schonung der kleineren Einkommen und Abschöpfung der großen mit Hilfe der Steuerprogression, der regionale Finanzausgleich, die Subventionierung der Landwirtschaft zur Sicherung ihrer Parität mit der Produktivität der Gewerbe, die Förderung von Gebieten mit dürftigem Lebensstandard und benachteiligter Berufs- und Wirtschaftszweige aus Mitteln des Staatshaushalts u. ä. m. Das Ausmaß des ganzen sozialstaatlichen Umschichtungsvorgangs wird daran deutlich, daß in der Bundesrepublik Deutschland schon nahezu die Hälfte des Sozialprodukts über Steuern und sonstige öffentliche Abgaben in die öffentlichen Kassen geleitet wird. Diese Finanzmasse fließt in neuer Distribution zurück; zu einem wesentlichen Teile wird mit ihr die sozialstaatliche Leistungsapparatur vorgehalten und werden die sozialstaatlichen Hilfen bewirkt, von denen

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hier ein Aufrifi geliefert wurde. Der Staat ist zu einem großen Versorgungs- und Ausgleichsapparat geworden. Die heilsamen Wirkungen der sozialstaatlichen Praxis bedürfen keines Rühmens; sie sind evident. Aber in dieser Entwicklung liegen audi Gefahren. Die eine besteht darin, daß sich die Vorsorge des Staates für seine Glieder, deren Initiative und Eigenverantwortlichkeit lähmend und das Nehmen und Fordern zu Lasten der Tüchtigen begünstigend, überschlägt. Man hat für diese Entartung des Sozialstaats den Begriff des Wohlfahrtsstaates geprägt. Es ist begreiflich, daß sich die Bereitschaft der Nutznießer der sozialstaatlichen Leistungen, davon immer mehr entgegenzunehmen, nicht leicht begrenzen läßt und daß die Anforderungen an ihren Standard ständig steigen. Da anderseits die politischen Parteien in der Parteiendemokratie darauf angewiesen sind, um die Gunst der Wählermassen zu werben, und sie sich dabei wesentliche Chancen gerade durch das Eintreten für die sozialstaatlichen Erwartungen ihrer Wähler zumessen, bieten die Parlamente vielfach das Bild eines Wettlaufs, in dem sich die politischen Parteien hinsichtlich ihrer sozialstaatlichen Gebefreudigkeit den Rang ablaufen. Die bedenklichen Auswirkungen einer solchen Praxis der gunstheischenden Geschenke liegen auf der Hand; sie können schließlich das Durchhalten im wirtschaftlichen Wettbewerb gefährden und die parlamentarische Demokratie selbst funktionsunfähig machen. Der Sozialstaat hat ferner eine enge Wechselbeziehung zum Ver bändestaat. Die Tatsache, daß der Staat aus dem von ihm mit Beschlag belegten Teil des Sozialprodukts Leistungen erbringt, ruft den Ansturm der Interessenten auf einen möglichst großen Anteil an der Verteilungsmasse und auf ein möglichst sie begünstigendes Verteilungssystem hervor. Eine Aussicht, die politischen Entscheidungen in diesem Sinne zu beeinflussen, besteht aber nur dann, wenn die gleichgerichteten Interessen sich zu respektgebietenden Interessenkollek^ tiven zusammenschließen, die ihre Forderungen den Parlamentsparteien und den fondsverwaltenden Ministerien präsentieren. So werden Interessen Verbandsbildung und Verbandseinfluß auf die Politik geradezu zur Begleiterscheinung des Sozialstaates. Einmal formiert und in ihrem politischen Einfluß gefestigt, treiben die rivalisierenden Interessengruppen den Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Züge des politischen Gemeinwesens naturgemäß weiter; Wohlfahrtsstaatlichkeit und Interessenverbandsmacht steigern sich gegenseitig, wobei der Ausbau der Verbandsmächte nicht nur das verfassungsrechtliche Kräfte-

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system in Unordnung bringt und die politische Verantwortung durch die Forcierung materieller Interessen denaturiert, sondern auch die Individuen in die Abhängigkeit von ihren Interessenkollektiven hineinzwingt. Keine bewertende, sondern eine schlicht erkennende Feststellung liegt darin, daß der Sozialstaat V ermaltungssiaai ist. Er führt dazu, daß die Lebens weit des Bürgers im Sozialstaat eine „verwaltete Welt" ist. Für den Bürger wird in einer unübersehbaren Fülle von Anstalten, Einrichtungen, Leistungen, Ausgleichs- und Zuteilungsvorgängen wirtschaftliche, kulturelle und soziale Lebensvorsorge erbracht. Von ihnen ist er abhängig; ohne sie könnte er nicht existieren. Der Verwaltungsapparat des Staates und der ihm eingegliederten Gebietskörperschaften, Anstalten, Kammern usw. schwillt an und hat die Verantwortung für die wesentlichsten Funktionen der Gesellschaft in seiner Hand, und zwar, worin gerade das verwaltungsstaatliche Moment liegt, in konkreter, handgreiflicher Handhabung und Förderung dieser Funktionen. Auch die Gesetze verlieren in solcher Lage ihren rechtsstiftenden Charakter und nehmen insofern verwaltungsstaatliche Züge an, als sie sich in Aktionsprogramme, Vollzugspläne und Abwicklungsrichtlinien exekutivischer Gestaltungsvorgänge verwandeln. Die weitere Folge ist, daß die Verfügung über die Exekutive an politischer Attraktionskraft unerhört gewinnt und die politischen Parteien dazu drängt, auch auf die Verwaltung unmittelbaren Zugriff zu nehmen, den das rechtsstaatliche Gewaltenteilungsprinzip ihnen verwehrt. Damit ist einer der Punkte berührt, in dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip zueinander in Gegensatz treten. Der Rechtsstaat hat mit der Gewaltenteilungsforderung seinen Ausgang genommen und setzt sie auch heute voraus. Der Sozialstaat ist dem Gewaltenteilungssystem gegenüber gleichgültig und tendiert dahin, die Grenzen von Legislative Und Exekutive zu verwischen. Der (liberal determinierte) Rechtsstaat will die staatliche Tätigkeit begrenzen und tunlichst reduzieren, der Sozialstaat ruft im Gegenteil zu hoher staatlicher Aktivität auf, allerdings zu einer Aktivität, die das Individuum nicht so sehr beanspruchen als es mit Leistungen fördern will. Der Rechtsstaat ist um die freie Entfaltung der Individuen besorgt, während der Sozialstaat seine Leistungen nur erbringen kann, wenn er zugleich die Individuen in Pflicht nimmt und ihnen Lasten aufbürdet. Der Rechtsstaat gründet sich auf die Anerkennung der „Autonomie" und der Eigenverantwortlichkeit der Individuen in ihrer Lebensgestaltung, der So-

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zialstaat nimmt den Individuen diese Eigenverantwortung ab und fügt sie in ein System kollektiver Bedürfnisbefriedigung durch seine Leistungen ein. Der Rechtsstaat hat sein Zentrum in der Freiheit der Individuen von der Bevormundung des Staates und anderer Kollektivismen, worin Freiheit der Wirtschaft, der Bildung, der Wissenschaft und Kunst neben der der individuellen Lebensgestaltung beschlossen liegen, während der Sozialstaat der Egalisierung in der Gewährleistung von Lebensstandard und Lebenssicherheit den Vorzug gibt und dabei die Normierung der Lebensverhältnisse, die Abhängigkeit von der Leistungs- und Ausgleichsapparatur des Staates, die Bindung in Interessenkollektiven und ein hohes Maß notwendiger dirigistischer Verplanung des Wirtschafts- und Soziallebens in Kauf nimmt. Im selben Grade, in dem sich die Vorstellungen des Rechtsstaats um den Begriff der individuellen Freiheit gruppieren, haben diejenigen des Sozialstaats ihr Zentrum in der Forderung nach tätiger Herstellung einer möglichst gleichheitlichen Teilhabe aller an den materiellen und kulturellen Gütern, die in der politischen Gemeinschaft nach ihrem Leistungsstande und nach dem Volumen des Sozialprodukts nur irgend darstellbar sind. Sieht man die Dinge so, so könnte es scheinen, als verwickle sich der „soziale Rechtsstaat" der Gegenwart in unlösliche Widersprüche und Unentschiedenheiten, aus denen schließlich vermöge seiner Modernität und seiner größeren Massensuggestion doch der reine Sozialstaat als Sieger hervorgehen, dann allerdings sich bedenklich dem planwirtschaftlichen Kollektivismus der kommunistischen Staatsgestaltung annähern werde. In der Tat sind die Polarität und die Gegensätzlichkeit in der Grundanlage des rechtsstaatlichen und des sozialstaatlichen Staatsverständnisses unverkennbar. Aber schon die Realität der politischen Praxis in den entwickelten Staaten der westlichen Welt zeigt, daß beide Elemente nicht unvereinbar und unversöhnlich sind. Gerade in ihrer Vereinigung bilden sie den Ausdruck der komplexen Problematik, deren Bewältigung die Staatenwelt des Westens als Aufgabe ihrer Selbstverwirklichung in der Gegenwart empfindet. Es handelt sich darum, die uralte Spannung von Individuum und Gemeinschaft unter den Bedingungen des industriellen Massenzeitalters recht zu verstehen, sie so zu begreifen, daß sie nicht von Ideologien und nackten Machtansprüchen überwältigt wird, sondern als immerwährend aufgegeben erkannt bleibt. Man kann nicht etwa vereinfachend sagen, daß das Rechtsstaatsprinzip die individualistische, das Sozialstaatsprinzip die kollektivistische oder gemeinschaftsbetonte

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Seite dieser Polarität repräsentiere. Auch der Rechtsstaatsforderung schwebt das Ziel der geordneten staatlichen Gemeinschaft, dem Sozialstaatsgedanken die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins der Individuen vor. Man darf den Abbreviaturen des Sprachgebrauchs, auch soweit sie in die Verfassung Eingang gefunden haben, überhaupt nicht die Bedeutung verabsolutierender Klischees beimessen, sondern muß sie als Orientierungspunkte in einer sehr vielschichtigen politischen Gestaltungsproblematik verstehen. Auch die Unsicherheit und scheinbare Widersprüchlichkeit der in ihnen enthaltenen Aussagen ist in diesem Sinne fruchtbar. Sie hält nämlich die jeweils notwendigen Entscheidungen aus der Konfrontation mit dem hic et nunc offen, allerdings unter Bindung sowohl an die rechtsstaatliche Überlieferung als auch an das sozialstaatliche Leitbild, beide in komplementärer Zuordnung und als Einheit begriffen.

3. Der Parteienstaat In der Entwicklung der Herrschaftsstruktur des modernen Staates ist der Zug zum Parteienstaat besonders auffällig. Für die moderne Demokratie scheint es eine andere Verwirklichungsweise als die der Parteiendemokratie kaum zu geben. Allerdings hat sich die Hinwendung zum Parteienstaat nicht überall mit der gleichen Nachhaltigkeit vollzogen, und vor allem hat sie nicht allerorts den ganzen Staat ergriffen. Die parteienstaatlichen Züge haben sich bezeichnenderweise dort am wenigsten ausgebildet, wo die staatsleitende Autorität sich auf ein nicht lediglich durch die politischen Parteien vermitteltes, demokratisch-unmittelbares Mandat stützen kann wie in den Vereinigten Staaten von Amerika — womit regelmäßig die Bewahrung einer parteiunabhängigen, institutionell gesicherten Exekutive einhergeht —, oder wo durch die Beibehaltung der konstitutionellen oder parlamentarischen Monarchie in anderer Weise perennierende Bereiche in sich ruhender institutioneller Staatlichkeit eingehegt geblieben sind. Der Parteienstaat feiert seine eigentlichen Triumphe in den Staaten, die, aus welchen Gründen auch immer, sich von ihren überlieferten staatlichen Institutionen und Autoritäten abgewendet und gemeint haben, künftig überhaupt ohne einen nennenswerten Bestand an festgefügter Herrschaftsautorität auskommen zu können, etwa im Vertrauen darauf, der Staat werde sich allein schon aus dem Zusammenspiel der politischen Gruppen hinreichend integrieren. Was hierbei dem Staat an institutioneller Festigkeit vorenthalten geblieben ist,

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haben die politischen Parteien inzwischen ersatzweise bei sich selbst ausgebildet. Vielfach wird der Aufstieg dés Parteienstaates mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaft in Verbindung gebracht. Indessen ist diese Formel allenfalls geeignet, die Anfälligkeit des modernen Staatswesens für den Einfluß der Interessenverbandsmächte verständlich zu machen; für die Rechtfertigung des Parteienstaates ist sie allzu billig. Sie könnte Überzeugungskraft nur dann für sich beanspruchen, wenn die Art der Formierung der politischen Parteien wirklich dem Pluralismus der Gesellschaft entspräche und ihn in sich zu politischer Gestalt brächte. So ist es indessen nicht. Im Nebeneinander der Demokratischen und der Republikanischen Partei in den Vereinigten Staaten von Amerika beispielsweise läßt sich eine Spiegelung der Gesellschaftsstruktur Nordamerikas nicht verifizieren. In den Kàdrès der kommunistischen Parteien der westlichen Staaten wird niemand so leicht den extrem politischen Charakter von Kampf Organisationen des bolschewistischen oder Weltkommunismus verkennen. In Europa — mit Ausnahme Frankreichs — konzentriert sich das Parteienwesen im übrigen immer deutlicher auf zwei Parteiblöcke, einen christlichdemokratischen und einen sozialdemokratischen, die weder nach den erklärten und praktizierten Zielen ihrer Politik noch nach den Bevölkerungsschichten, unter denen sie ihre Anhänger suchen, mehr als Ausdruck eines gesellschaftlichen Pluralismus verstanden werden wollen und kônnën. Jedenfalls bietet die neuere Entwicklung der Parteien für die angebliche Kongruenz von gesellschaftlichem und Parteienpluralismus keinen auch nur prima vista einleuchtenden Beleg, es sei denn, man verstehe im Reden vom gesellschaftlichen Pluralismus nicht eine Bezugnahme auf reale Strukturen der Gesellschaft, sondern einfach die Behauptung des Prinzips vorherrschender Vielgliedrigkeit in allen menschlichen Assoziationen, das demgemäß auch dem demokratischen Staat vorgegeben sei. Es versteht sich, daß ein moderner Flächen- und Massenstaat, der Demokratie im Sinne der Offenhaltung des Wechsels der Regierung und der politischen Grundentscheidungen nach Maßgabe der jeweiligen Willensbildung des Volkes sein will, der politischen Parteien, und zwar einer Mehrzahl von ihnen, nicht entraten kann. Das Vorhandensein politischer Parteien allein, auch solcher mit großem politischen Einfluß, macht einen Staat noch nicht zum Parteienstaat. Dessen charakteristische Wesenszüge liegen vielmehr in folgendem: Negativ

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gesehen, gibt es im Parteienstaat keine staatsleitende Autorität und keine politische Bestimmungsgewalt, die nicht von den Parteien eingesetzt oder kontrolliert wird. Die Erbmonarchie, sei es auch nur in der Rolle eines pouvoir neutre, ein Staatspräsidentenamt, das seine Autorität auf ein demokratisches Mandat ohne Vermittlung der Parteien stützen kann, eine Regierung, die nicht von den Parteien abhängig ist, auch ein Beamtentum, dem wichtige Bereiche der Staatsordnung zu eigener Sachverantwortung anvertraut sind, sind mit dem Parteienstaat unverträglich. Wo der Parteienstaat sich durchgesetzt hat, wird man deshalb von alledem nichts finden. Im Parteienstaat verwandelt sich der „Staat" in ein Instrumentarium von Regelungs-, Befehls- und Zwangsbefugnissen ohne eigene Substanz, im äußeren Bilde der Herrschaftsordnung früherer Verfassungszustände ähnlich oder gleich* aber eben diese Herrschaftsordnung nicht mehr verkörpernd, sondern nur noch die von ihm entwickelte technische Machtapparatur weiterführend. Dieses Instrumentarium steht den politischen Parteien —den Regierungsparteien vornehmlich, den regierungsfähigen Oppositionsparteien in abgestuftem Grade — offen, und sie bedienen sich seiner zum politischen Machtgebrauch. Das wirkt sich in vielfältigen Beziehungen aus. Natürlich wird vor allem der politische Wille des Parlaments (gegebenenfalls zweier Kammern) von den Parteien gebildet, meist in der Weise, daß die Entscheidungen nicht erst im Parlament fallen, sondern schon in den Entscheidungsgremien der Parteien getröffen und im Parlament bloß mit Staatsverbindlichkeit registriert werden. Sodann werden die Ämter des Staatspräsidenten sowie des Regierungschefs und der Regierungsmitglieder von den Parteien mit Politikern aus ihren Führungsgremien besetzt. Nach Einsetzung der Regierung beschränkt sich der Einfluß nicht etwa auf eine reagierende Kontrolle der Regierungstätigkeit; vielmehr wirken die Parteien mit ihren Entscheidungen ständig in die Regierungspolitik hinein, die auf diese Weise in Wahrheit die Politik der Regierungsparteien ist. Vor allem ist charakteristisch, daß die Bestimmungsgewalt der Parteien in voller Breite auch in die Verwaltung eindringt. Das geschieht zunächst in der Weise, daß die Gesetze des Parteienparlaments den Charakter verwaltender Detailpläne annehmen, denen gegenüber die eigentliche Verwaltungstätigkeit nur noch Sache eines subalternen Vollzugs ist. Sodann werden die Regionalverwaltungen und die Kommunalverfassung derart umgebildet, daß auch auf den Zwischen- und Unterstufen der Verwaltung parteipolitisch besetzte Gremien die maßgebende Entscheidungsgewalt erhalten und

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das Beamtentum aus der Bestimmungsbefugnis verdrängen. Die Fachverwaltungen und Anstaltsverwaltungen werden mit einem System von Verwaltungsräten, Ausschüssen und Beiräten durchsetzt, in denen ebenfalls die Delegierten der politischen Parteien das maßgebliche Wort sprechen. Das Berufsbeamtentum schließlich sieht sich einer Praxis parteipolitischer Ämterpatronage ausgesetzt, bei der ein wesentlicher Teil auch der weniger wichtigen Amtsstellen unter dem Gesichtspunkt der Pflege und Belohnung parteipolitischer Gefolgschaftstreue verteilt wird, die leitenden Positionen in den Zentral-, Mittel- und Unterbehörden aber kaum mehr anders als mit verläßlichen Vertrauensleuten der Parteien besetzt werden. Besteht die regierende Parlamentsmehrheit in einer Koalition, so spielt der Proporz der Ämterzuteilung eine entscheidende Rolle. Der Rest an staatlicher Substanz, der sich bis dahin vielleicht noch in einem intakten Berufsbeamtentum erhalten hatte, löst sich unter solchen Umständen bald auf. Der Tendenz nach ist auch die Personalpolitik der Richter nicht vom Einflußstreben der Parteien frei. Doch sind hier parteipolitische Einwirkungen im allgemeinen weit weniger aufdringlich, weil die rechtsstaatlichen Sicherungen der Verfassungen Grenzen setzen und wohl auch die Einsicht herrscht, ein Übergreifen des Parteieneinflusses auf die Gerichtsbarkeiten werde die parteienstaatliche Demokratie vollends unglaubwürdig machen. Daß der Parteienstaat dagegen die Unterscheidung von Legislative und Exekutive nur noch im Sinne einer technischen Funktionsteilung bestehen läßt, während er sie als Prinzip der politischen Balance aufhebt, erscheint kaum mehr als auffallend. Freilich kann der Parteienstaat nicht mit jeder Art von politischer Partei funktionieren. Mit Parteien, die bloß lockere Organisationen zur Aufstellung von Wahlvorschlägen und zur Durchführung von Wahlkampagnen darstellen, läßt sich ein Parteienstaat nicht führen. Was der Parteienstaat dem Staat an institutioneller Eigenständigkeit abzieht oder vorenthält, muß er ersatzweise in den Parteien selbst entwickeln. Die Parteien des Parteienstaates sind selbst festgeschlossene Herrschaftskörper, die zwar keinen erheblichen Mitgliederbestand zu haben brauchen und auch meist nicht haben, dafür aber eine ausgeprägte Führungsordnung mit politischer Aktionsfähigkeit entwickeln müssen. Sie müssen in der Lage sein, einen Ausleseprozeß politischer Führungskräfte durchzuführen, aus dem sie die Persönlichkeiten gewinnen, die in kommunalen Räten, in Ausschüssen, Parlamenten, Regierungen und höheren Beamtenstellen bestimmende

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Funktionen übernehmen können. Sie müssen einen Apparat unterhalten, der alle diese Führungskräfte im Sinne der von der Partei verfolgten politischen Linie zusammenhält. Weiter ist das Vorhandensein von Parteigremien erforderlich, die die in die Staatsapparatur einzuführenden politischen Entscheidungen kontinuierlich beraten und formulieren, die, soweit es sich um die Regierungspartei oder eine Koalition von solchen handelt, in Wahrheit das Programm der Gesetzgebungs- und Regierungspolitik fortlaufend in ihrem Kreise behandeln und beschließen und sie dann an das Parlament nur noch zur förmlichen Verabschiedung, an die Staatsregierung zur Durchführung weiterleiten. Um dieser weitreichenden Verantwortung zu genügen, ist ferner die Unterhaltung hochspezialisierter Fachreferate, von Materialaufbereitungs- und Informationsstellen und eines Publikationswesens erforderlich, das sich keineswegs bloß auf Öffentlichkeitspflege und politische Propaganda beschränken kann. Nimmt man hinzu, daß den politischen Parteien aus der geschilderten Lage auch die Aufgabe zuwächst, gleichsam stellvertretend für den Staat in sich schon eine Vielheit divergierender gesellschaftlicher Interessen zum Ausgleich zu bringen und in eine politische Grundlinie einzuschmelzen, so ist es nicht abwegig, ihre Rolle als die eines „Staates im Staate" zu kennzeichnen. Wie selbstverständlich kommt der Parteienstaat dann auch dazu, die politischen Parteien aus ihrem früher rein gesellschaftlichen Status immer stärker an die institutionalisierte Staatlichkeit heranzuheben und sie als Teile der Verfassungsordnung zu begreifen. Das Bonner Grundgesetz bietet in seinem Art. 21 dazu einige Handhaben, und das Bundesverfassungsgericht hat sich dadurch legitimiert gefühlt, den politischen Parteien, mindestens partiell, die Rolle eines „Verfassungsorgans" zuzuerkennen. Die Führer der politischen Parteien werden in vielen Ländern schon wie Staatswürdenträger behandelt, die Fraktionsführer werden in zunehmendem Maße zu Kabinettssitzungen zugezogen und die Parteitage wie Staatsakte ausgestaltet. Unter diesen Umständen nimmt es nicht wunder, daß Koalitionsverträge mit dem unüberhörbaren Anspruch auftreten, als eine Art ergänzenden Verfassungsrechts anerkannt zu werden, am deutlichsten wohl in der Koalitionspraxis Österreichs. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich nach einigen zaghaften Ansätzen neuerdings unbekümmert die Praxis durchgesetzt, daß sich die politischen Parteien, jedenfalls soweit sie in den Parlamenten vertreten sind, durch 16 Weber

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von ihnen beschlossene Zuwendungen aus den Haushalten des Bundes und der Länder finanzieren. Obwohl auf diese Weise dem Staat gleichsam neue Institutionalisierungen nachwachsen, bleibt das Ergebnis unbefriedigend. Es sei hier dahingestellt, ob es den politischen Parteien wirklich gelungen ist und ob es allen überhaupt gelingen kann, eine überzeugende Führungsauslese für die Verantwortung in staatlichen Ämtern zustande zu bringen. Auch mag die Frage offenbleiben, ob die für sie lebenswichtige Rücksichtnahme auf die Wählergunst ihnen nicht doch zuviel Kompromisse gegenüber ihrer staatspolitischen Gradlinigkeit abfordert. Das eigentliche Dilemma des Parteienstaates zeigt sich, wenn man sich folgende Alternativen vergegenwärtigt: Es kann sein, daß, obwohl das im Parteienstaat vorausgesetzte Mehrparteiensystem herrscht, eine Partei lange Zeit hindurch und im Ende unabsehbar die Parlamentsmehrheit und deshalb auch die Regierungsgewalt innehat. Dann wird sich eine erhebliche Stabilität der Staatsführung ergeben und allmählich eine Identifikation von herrschender Partei und Staatsführung herstellen. Es wird sich aber auch, je länger je mehr, das unbehagliche Gefühl einstellen, man unterscheide sich eigentlich nicht mehr wesentlich von denjenigen politischen Systemen, in denen eine einzige „staatstragende Partei" dem politischen Gemeinwesen ihre autoritäre Gewalt aufzwingt, und der Parteienstaat funktioniere deshalb nicht, weil sich der bei ihm vorausgesetzte Wechsel in der RegierungsVerantwortung in Wahrheit nicht mehr realisiere. Wenn anderseits zwei annähernd gleich große Parteien einander gegenüberstehen, die im — meist unregelmäßigen — Wechsel zur Staatsführungsverantwortung gelangen, dann wird schon der Wechsel selbst ein hohes Maß an Instabilität des Staatswesens zur Folge haben, weil er jeweils den Staat in toto ergreift. Es wird aber auch der permanente Kampf um die Wählermehrheit und um die durch sie vermittelte Macht mit seiner unvermeidlichen Robustheit und demagogisch forcierten Unsachlichkeit immer wieder das Trennende stärker hervorkehren als das Bewußtsein der politischen Einheit festigen und das Volk in tiefer Resignation darüber halten, ob sein politisches Schicksal wirklich staatsmännischer Führungsverantwörtung anvertraut sei. Die dritte Möglichkeit ist die des Vorhandenseins von drei oder mehr Parteien, von denen keine den änderen gegenüber die Mehrheit hat. Dann potenziert sich die Instabilität schon allein durch die Vielzahl von Parteien, von denen keine echte

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und volle Verantwortung zu prästieren hat. Sie greift weiter um sich durch die Notwendigkeit von Koalitionskompromissen, die die Verantwortung noch mehr verschleiern und oft kleinen Koalitionspartr nern, die man zur Mehrheitsbildung braucht, zu einem anstößig höheren Einfluß verhelfen, als er durch das von ihnen in der Wahl empfangene Mandat gerechtfertigt ist. Der Parteienstaat ist also schwach, und zwar nach innen und außen, worin man sich nicht durch die Feststellung täuschen lassen darf, daß er in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität und außenpolitischer Ruhelagen für eine längere Dauer durchaus funktionieren kann. In Krisen ist er überaus anfällig. Ihm droht dann entweder der wirtschaftliche und politische Verfall oder der kommunistische Machtzugriff oder die Ablösung durch autoritäre — nicht notwendig undemokratische — Regime, wofür die letzten Jahrzehnte europäischer Geschichte und die Gegenwart einige Beispiele bieten. Eine andere Art der Überwindung des Parteienstaates zeichnet sich in neuerer Zeit darin ab, daß die ausschlaggebenden politischen Entscheidungen den nationalstaatlichen Bereichen, auf die die Wirksamkeit der politischen Parteien bisher begrenzt ist, überhaupt entzogen und auf Befehlsstellen anderer Struktur konzentriert werden. Davon wird noch die Rede sein. 4. Der Verbändestaat Daß das sozialstaatliche Selbstverständnis des modernen Staates in Richtung auf die politischen Strukturen den Verbändestaat in hohem Maße begünstigt, wurde schon hervorgehoben. Der Verbändestaat hat aber eine weitere Triebkraft darin, daß die industrielle Massengesellschaft sich nach Interessengruppen organisiert und in organisierten Interessen zur politischen Geltung drängt. Das dritte, den Verbändestaat begünstigende Moment liegt in der Schwäche des Parteienstaates. Die politischen Parteien sind nicht stark genug, ihren Anspruch auf Monopolisierung der politischen Willensbildung wirklich durchzuhalten. Sie sind auf die Hilfe der Verbandsmächte angewiesen und müssen sich deshalb weithin deren Forderungen anbequemen. Sie müssen es weiter geschehen lassen, daß die Verbände an ihnen vorbei auch unmittelbar auf die wohlfahrtsstaatliche Staatsapparatur Zugriff nehmen. Am deutlichsten zeigt sich das an der Stellung der Sozialpartner, d. h. der Gewerkschaften einerseits und der Arbeitgeber- und Unter1

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nehmerverbände auf der anderen Seite. Hier wiederum ist es besonders bezeichnend, daß der Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, in dem die Gewerkschaften und Unternehmensverbände vertreten sind, für die Politik der beiden Gemeinschaften einen wesentlich höheren Einfluß erlangt hat als die Europäische Versammlung, in der sich Parteidelegierte aus den Gliedstaaten der Gemeinschaften zusammenfinden. Im innerstaatlichen Bereich beruht die starke Position der Sozialpartner vor allem auf ihrer verfassungsrechtlich anerkannten Organisierungsfreiheit und auf ihrer Tarif autonomie. Mit der letzteren haben sie nicht nur die Bestimmungsgewalt über Lohn- und Arbeitsbedingungen in ihrer Hand, sondern in deren Folgewirkung auch weitreichende Entscheidungen über die Wirtschafts- und Währungspolitik und die Verteilung des Sozialprodukts. Die Forderung, daß diese Tarifautonomie nicht angetastet werden dürfe, beeilen sich die politischen Parteien immer wieder mit der Feststellung anzuerkennen, daß dem „Staat", d. h. ihnen selbst, eine Intervention in diesen Bereich nicht gestattet sei. Liegt in der Aufrechterhaltung des Tarifvertragssystems die Grundfunktion der Sozialpartner, so sind ihnen inzwischen in großer Zahl Mitwirkungsrechte im staatlichen Organisationsgefüge eingeräumt worden. Ihnen ist das ganze System der Sozialversicherungsträger zur sozialpartnerschaftlichen „Selbstverwaltung" anvertraut. Für eine Anzahl von Behörden- und Laienrichterstellen haben sie Präsentationsrechte. In einer kaum übersehbaren Zahl ministerieller Beiräte, von Verwaltungsausschüssen, Anstaltsorganen usf. sind sie durch Vertreter beteiligt. Die Gewerkschaften können außerdem über die Personalvertretungen auf die Behördenpersonalpolitik Einfluß nehmen. Kurz, man begegnet den Sozialpartnern kraft gesetzlich oder behördenamtlich eingeräumter offizieller Mitwirkungsrechte überall im staatlichen Organisationssystem, besonders dicht begreiflicherweise in der eigentlichen Arbeits- und Sozialordnung, aber auch darüber hinaus in den Bereichen der Wirtschaftsund Kulturpolitik. Hier, im Wirtschafts- und Kulturbereich, gesellen sich mit gleichen Mitwirkungsrechten zu ihnen die Delegierten anderer Institutionen und Verbandsgruppen. Als repräsentatives Beispiel statt vieler mag hier das Hauptorgan des „Zweiten Deutschen Fernsehens", der Fernsehrat, angeführt werden, wie er sich nach dem Staatsvertrar der deutschen Bundesländer vom 6. Juni 1%1 zusammensetzt. Neben einigen Vertretern der Länder, des Bundes und der politischen Parteien findet man in diesem Fernsehrat je zwei Vertreter der evangeli-

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sehen und der katholischen Kirche und einen des Zentralrates der Juden in Deutschland, weiter drei Vertreter der Gewerkschaften und zwei der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände. Der Zentralausschuß der Deutschen Landwirtschaft und der Zentralverband des Deutschen Handwerks entsenden je einen Vertreter, der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger und der Deutsche Journalistenverband je zwei. Auf die Freien Wohlfahrtsverbände entfallen vier Sitze, und zwar je einer auf die Innere Mission und das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, den Deutschen Caritasverband, das Deutsche Rote Kreuz und den Hauptausschuß der Deutschen Arbeiterwohlfahrt; in vier Sitze teilen sich ferner die Kommunalen Spitzenverbände (Städtetag, Städtebund, Landkreistag und Gemeindetag). Ihnen folgen je ein Vertreter des Deutschen Sportbundes und des Bundes der Vertriebenen. Weiter werden zehn Mitglieder aus den Bereichen des Erziehungs- und Bildungswesens, der Wissenschaft und der Kunst und je ein Vertreter der freien Berufe, der Familienarbeit, der Frauenarbeit und der Jugendarbeit berufen, und zwar, wie mit Sicherheit anzunehmen ist, ebenfalls auf Grund von Vorschlägen der einschlägigen Verbandsorganisationen. Das ist nur ein Beispiel, dem viele andere zur Seite gestellt werden könnten, manchmal mit anderen Schwerpunkten in der Zusammensetzung. Natürlich erschöpfen sich die Erscheinungen des Verbändestaates in den hier angedeuteten Zusammenhängen nicht; sie reichen vielmehr weit darüber hinaus. Indessen muß diese Auswahl an Charakterisierungen genügen. Schon die Tatsache, daß die innerhalb des Staates existierenden Institutionen und Verbände sich selbst und mit ihrem Einfluß auf den Staat in der geschilderten Weise gesetzlich bestätigt sehen, läßt den hierbei obwaltenden Zug zur organisatorischen Verfestigung erkennen. Neben dem eigentlichen Staatsorganisationssystem, wie es von den Verfassungen meist in einer sehr traditionsgebundenen Weise errichtet wird, entsteht so ein parakonstitutioneller Teil der öffentlichen Ordnung, in dem die im gesellschaftlichen Bereich beheimateten Hierarchien, Gruppen und Verbände nach gesetzlicher Bestätigung drängen und ihre Hoffnung sogar auf Einbeziehung in die — insoweit ungeschriebene — Verfassungsordnung richten, ohne allerdings ein entsprechendes Maß öffentlicher Verantwortung zu übernehmen. Einige von ihnen, die Kirchen, können sich darauf berufen, daß ihnen ohnehin ein auszeichnender, durch die Verfassung und Verträge zu-

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erkannter öffentlicher Status eigne. Andere, die Sozialpartner, fassen gewisse Grundrechtsbestimmungen und ein Bündel schon vorhandener „Legalisierungen" zur Ableitung ihrer Öffentlichkeitsstellung im Staat zusammen. Die übrigen Verbandsgruppen haben neben ähnlichen Legalisierungen immerhin die grundrechtlichen Freiheiten zur Verfügung, die sie unantastbar machen. Alle berufen sich a u f ihre faktische politische Einflufiposition, die im wesentlichen das Gegenstück der Schwäche des Parteienstaates ist. Der perfekte Rechtsstaat trägt mit seiner Tendenz, den vorgefundenen status quo zu garantieren, das Seinige dazu bei, das Ganze in einem System erworbener Rechtspositionen und von Beteiligungs- und Mitwirkungsrechten erstarren zu lassen, wie es in ähnlicher Immobilität vom Ständestaat her bekannt ist. In diesem Ineinandergreifen von Rechtsstaat, Sozialstaat, Parteienstaat und Verbändestaat gelangen nur die rechtsstaatlichen Elemente zur vollen Entfaltung, weil die Lage ihr Funktionieren am meisten begünstigt. 5. Neue großräumige Ordnungen Alles Geschilderte betrifft die herkömmlichen Nationalstaaten in ihrer Besonderung. Inzwischen aber wachsen über ihnen großräumige politische Ordnungen heran, die einen anderen Stil entwickeln. Diesen schreiben die Notwendigkeiten der Verteidigung, der militärischen Technik, der Integration wirtschaftlicher Großräume und der Sicherung politischer Interessensphären über den ganzen Erdball hin die Strukturbedingungen vor. Auf die neuen Lenkungs- und Befehlszentren, die in diesem Zusammenhang entstehen, haben jedenfalls die nationalstaatlichen politischen Parteien nur einen geringen und höchst mittelbaren Einfluß. Soweit es sich um übersehbare Bereiche handelt, wie bei den Europäischen Gemeinschaften, scheinen sich den Gewerkschaften, den Verbänden der Unternehmerwirtschaft und den wirtschaftlichen Interessengruppen überhaupt noch bessere Einwirkungsmöglichkeiten zu bieten. Im ganzen ist der Eindruck unabweisbar, daß die eigentliche Bestimmungsgewalt sich in esoterischen Stäben von Fachleuten der Militärtechnik und der Wirtschaftsstrategie vereinigt, wobei beide Bereiche übrigens in enger Abhängigkeit voneinander stehen. Wieweit sich in diesen Stäben und ihren „Kartellen", oder wie man sie nennen will, mit der Sachverantwortung auch das Imperium eigener politischer Entscheidungsgewalt herausbildet oder wieweit sie insoweit doch in der Abhängigkeit von anderen, im engeren Sinne

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„politischen" Befehlsstellen verharren, ist bei dem gegenwärtigen Stande der Entwicklung schwer zu erkennen und jedenfalls mit überlieferten Vorstellungen wie staatenbündischer oder bundesstaatlicher Kooperation, Satellitensystem, Hegemonie o. ä. und den bisher be-^ kannten Methoden demokratischer Willensbildung nicht zu erfassen. Sicher ist, daß die das politische Schicksal der Völker ausschlaggebend bestimmenden Entscheidungen nur noch an wenigen Stellen der Welt fallen und daß sie in den Formen einer Willensbildung getroffen werden, für die die knapp zweihundertjährige Geschichte der modernen Demokratie kein Modell vorzeichnet. Damit erledigen sich die Probleme des Rechtsstaates und des Sozialstaates allerdings nicht; denn darin liegen Aufgaben beschlossen, die auch in der Zukunft und allenthalben bewältigt werden müssen. Aber auch den Phänomenen des Parteienstaates und des Verbändestaates ist damit noch kein Ende vorausgesagt. Gerade weil den einzelnen nationalen Staaten keine „souveräne" Schicksalsbestimmung mehr abverlangt wird, sondern sie sich in ihnen vorbestimmte Kräfteentwicklungen einzuordnen haben, ergreift sie die Frage nach ihrer eigenen Verfassungsordnung nicht mehr in der Tiefe ihrer Existenz. Deshalb ist ihre Kraft und Bereitschaft zu einer durchgreifenden Verfassungserneuerung gering. Ausgewählte Literatur H.Billdc, Der Strukturwandel der internationalen Verwaltung, Tübingen 1962. — G. Burdeau, Traité de Science politique, 7 Bde., Paris 1949/57. — G. Drewes, Die Gewerkschaften in der Verwaltungsordnung, Heidelberg 1958. — M. Duverger, Die politischen Parteien, dt. Ausgabe, Tübingen 1959. — Th. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart 51962. — H. Finer, Der moderne Staat. Theorie und Praxis, 3 Bde., StuttgartDüsseldorf 1957/58. — E. Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, Stuttgart 1959. — Derselbe, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, Münster 1954. — Derselbe, Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964. — C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1953. — F. A. Hayek, The Constitution of Liberty, London 1960. — H. Heller, Staatslehre, Leiden 1934. — W. Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, Tübingen 1957. — J. H. Herz und G. M. Carter, Regierungsformen des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1962. — E. R. Huber, Zur Problematik des Kulturstaats, Tübingen 1958. — H. Huber, Staat und Verbände, Tübingen 1958. — M. Imboden, Die Staatsformen. Versuch einer psychologischen Deutung staatsrechtlicher Dogmen, Basel-Stuttgart 1959. — H. Jahrreiss, Mensch und Staat, Köln-Berlin 1957. — W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945. — Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956. — G. Leibholz, Das

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X I I . Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen L Wenn im folgenden von sozialstaatlichen Forderungen und ihren verfassungsrechtlichen Grenzen die Rede sein soll, so ist sogleich klarstellend zu bemerken, daß damit diejenigen politischen Zielsetzungen, Gesetzgebungsprogramme und Auslegungsgrundsätze — und nur sie — gemeint sind, die sich legitimierend auf die Sozialstaatsklausel des Bonner Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) berufen. Es handelt sich also lediglich darum zu untersuchen, wieweit die Sozialstaatsklausel als Rechtsquelle verfassungspolitischer Forderungen und Maximen bemüht wird, was sie insoweit wirklich hergibt und wieweit sie von anderen Yerfassungssätzen und -grundsätzen her begrenzt wird. Das wünschbare Ausmaß sozialer und sozialpolitischer Gestaltungen ist mithin nicht der Gegenstand dieser Erörterung, sondern nur das im engeren Sinne verfassungsrechtliche Problem, welche Maximen die Sozialstaatsklausel positiv mit Yerfassungsrang ausstattet und wie sich die Klausel insoweit innerhalb der Gesamtheit der Verfassungsnormierungen zu bescheiden hat. In dem Selbstbekenntnis, das das Bonner Grundgesetz in den Artikeln 20 und 28 über die von ihm gewollte Eigenart des neu in Form gebrachten Staatswesens abgelegt hat, wird die Bundesrepublik Deutschland als Demokratie, als Bundesstaat, als Rechtsstaat und als Sozialstaat definiert. Wie sich diese Wesensbestimmungen im einzelnen auf Artikel 20 und 28 verteilen und wieweit etwa Art. 20 primären und Art. 28 nur sekundären Aussagecharakter hat, ist eine müßige F'rage. Auch die Tatsache, daß das Sozialstaatselement in Art. 20 Abs. 1 in der Wortverbindung „sozialer Bundesstaat" hervorgekehrt wird, während Art. 28 Abs. 1 vom „sozialen Rechtsstaat" spricht, führt heute keine Auslegungsschwierigkeiten mehr herauf oder sollte es wenigstens nicht tun. Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat, das sind die vier maßgeblichen Bekundungen des Verfassungsselbstverständnisses der Bundesrepublik. In diesem Neben- oder Zueinander sind sie auch der Verfassungspraxis ständig gegenwärtig.

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Das Eigentümliche ist nun, daß das Bonner Grundgesetz im einzelnen genau normiert, wie sich das Staatswesen in Organisation und Funktionieren als Demokratie verwirklicht, wie im Grundrechtssystem, im Gewaltenteilungsmechanismus und im Ausbau der rechtsprechenden Gewalt sein hochdifferenziertes Rechtsstaatsprinzip zur Darstellung kommt und wie das Verfassungsgefüge durch bundesstaatliche Strukturen bestimmt ist, während bei der Sozialstaatsklausel jede entsprechende Substantiierung und ausführende Präzisierung fehlt. Hier ist nur der Begriff „Sozialstaat" vorhanden, als Generalklausel, Blankettnorm oder wie man es nennen will. Freilich findet man beim Durchmustern des Grundgesetzes einige Bestimmungen, die sich mit dem Sozialstaatsprinzip in eine gedankliche Verbindung bringen lassen. Dazu gehören etwa die Gesetzes vorbehalte bei verschiedenen Grundrechten, die dem Gesetzgeber die Einschränkung individueller Grundrechtspositionen anheimgeben, wenn und soweit die Wahrung staatlicher Gemeinschaftsbelange es erfordert. Aber nur dort, wo diese Gesetzesvorbehalte allgemeinen Charakters sind (Art. 2, 5 Abs. 2, 8 Abs. 2, 10, 12 Abs. 1 Satz 2), kann hierbei etwa von einer „sozialstaatlichen Öffnung" die Rede sein, während bei den beschränkten Gesetzesvorbehalten (Art. 6 Abs. 3,9 Abs. 2, 11 Abs. 3,12 Abs. 2, 3 und 4,13 Abs. 2 und 3,104) im Gegenteil die Sicherung des individuellen Grundrechts deutlich überwiegt. Auch zwischen dem Sozialstaatsprinzip einerseits und anderseits dem Gebot, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1), dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1), dem Schutz der Mütter (Art. 6 Abs. 4), dem Gebot nichtdiskriminierender Behandlung der unehelichen Kinder (Art. 6 Abs. 5) und der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3) sind Verbindungen herstellbar und werden sie hergestellt. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG hat die Sozialbindung des Eigentums sogar in ihre eigene Normierung aufgenommen (Abs. 2). Wenn man ferner in den Gesetzgebungszuständigkeitskatalogen der Art. 74 und 75 GG Materien findet wie die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen (Art. 74 Nr. 6), die öffentliche Fürsorge (Nr. 7), die Versorgung der Kriegsopfer (Nr. 10), Arbeitsrecht, Betriebsverfassung, Arbeitsschutz, Arbeitsvermittlung und Sozialversicherung (Nr. 12), Wohnungswesen, Siedlungs- und Heimstättenwesen (Nr. 18) und etwa Bodenverteilung und Raumordnung (Art. 75 Nr. 4), so sind diese Anführungen sicher nicht nur unter dem Gesichtspunkt der gesetzgeberischen Zuständigkeitsverteilung zu sehen, sondern auch als

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

das Bekenntnis zu bestimmten gesetzgeberischen Aufgaben zu begreifen, die unter geläufigen Titeln und mit verwirklichten sozialen Institutionen schon durch frühere Gesetzgebungswerke konkretisiert sind. Daß die erwähnten Materien in einem unbefangenen Sinne zum Bereich sozialstaatlicher Vorstellungen gehören, ist schwerlich zu bestreiten. Im ganzen weist also sowohl der Grundrechtskodex als auch der Katalog der Gesetzgebungszuständigkeiten eine Anzahl sozialstaatlicher Prinzipien und Aufgabenhinweise auf, und man könnte anzunehmen geneigt sein, daß sich das Grundgesetz gerade und nur ihretwegen als sozialstaatliche Verfassung begreife, so wie es sich wegen seiner ins einzelne ausgeführten demokratischen, föderalistischen und rechtsstaatlichen Normierungen, über sich selbst reflektierend, noch einmal ausdrücklich als Verfassung einer Demokratie, eines Bundesstaates und eines Rechtsstaates bekennt. Dann aber hätte die Sozialstaatsklausel nur die Bedeutung einer resümierenden Deklaration ohne eigene konstituierende Kraft, und man dürfte sie deshalb gegenüber den erwähnten Spezialisierungen in Art. 1, 3, 6, 9 Abs. 3, 14 sowie 74 und 75 GG nicht im Sinne einer zusätzlich legitimierenden Verfassungsaussage bemühen. So aber haben sich die Schöpfer der Sozialstaatsklausel deren Sinngebung nicht gedacht, und erst recht ist die Staatspraxis unter dem Grundgesetz nicht in dieser Weise mit ihr umgegangen.

II. Die Sozialstaatsklausel hat bei den Beratungen über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat nur eine sehr beiläufige Rolle gespielt. Der heutige Art. 20 GG hatte in dem Entwurf von Herrenchiemsee kein Vorbild. Sein Text taucht zum ersten Mal auf in einem Vorschlag des Abg. Ό. Mangoldt an den Grundsatzausschuß vom 14. Okiober 1948. Darin lautete der Abs. 1, möglicherweise i n Anlehnung an Formulierungen wie „sozialer Freistaat" (Baden), „Sozialstaat" (Bayern), „sozialer Gliedstaat Deutschlands" (Rheinland-Pfalz) und „sozialer Volksstaat" (Württemberg-Baden) in einigen damals schon verabschiedeten Länderverfassungen 1 : 1 Verfassung Badens (1947) Art. 50; Bayerns (1946) Art. 3; von RheinlandPfalz (1947) Art. 74; von Württemberg-Baden (1946) Art. 43. v. Mangoldt selbst gibt in seinem Kommentar zum Grundgesetz (1953) über die Beweggründe zu seiner Formulierung keinen Aufschluß.

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„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat mit parlamentarischer Regierungsform und bundesstaatlichem Aufbau."

Dieser Text und der der übrigen Absätze des späteren Art. 20 GG wurde dann in den weiteren Beratungen der Ausschüsse hin- und hergewendet; das Beiwort „sozial" blieb jedoch in allen Entwürfen ohne jede Diskussion unverändert erhalten. Es wurde nur abwechselnd mit den Hauptwörtern Rechtsstaat, Republik, Bundesrepublik und Bundesstaat verbunden, ohne daß hierbei jedoch andere als rein redaktionelle Gründe eine Rolle gespielt hätten. Aus den Beratungen des Grundsatzausschusses ging Art. 20 Abs. 1 nach mehreren Lesungen am 10. November 1948 in folgender Fassung hervor: „Deutschland ist eine demokratische und soziale Republik bundesstaatlichen Aufbaus, deren Regierung der Volksvertretung verantwortlich ist."

Der Allgemeine Redaktionsausschuß kürzte diese Fassung am ló. November 1948 auf den Satz: „Deutschland ist eine demokratische und soziale Bundesrepublik."

Diese Fassung wurde auch in der 1. Lesung durch den Hauptausschuß am 17. November 1948 beibehalten. In seiner 2. Lesung am 15. Dezember 1948 folgte der Hauptausschuß jedoch einem Vorschlag des Abg. Dr. Heuß, den Namen des neuen Staatsgebildes an den Anfang zu stellen. So kam es zu der Formulierung: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat."

Dieses war die Endfassung, die in den weiteren Beratungen des Hauptausschusses und des Allgemeinen Redaktionsausschusses nicht mehr diskutiert und verändert wurde und ebenso undiskutiert die Billigung des Plenums des Parlamentarischen Rates fand 2. Auch die Wiederholung der Sozialstaatsklausel in Art. 28 Abs. 1 GG rief im Parlamentarischen Rat keine Erörterung hervor 3. Niemand wird sagen können, daß diese Entstehungsgeschichte der Sozialstaatsklausel über den reinen Wortlaut der Klausel hinaus irgendwelche Aufschlüsse hinsichtlich des ihr von ihren Schöpfern beigelegten Sinnes lieferte. Aber es ergeben sich einige Aufschlüsse, wenn man die parallel verlaufenden Grundrechtsberatungen des Parlamentarischen Rates mit 2 Zu dieser Entstehungsgeschichte im einzelnen der Bericht im JöR NF 1 (1951), S. 195 ff.; ferner in detm Kommentar von Hermann v.Mangoldt (1953), S. 131 f. 3 Dazu der Bericht im JöR NF 1 (1951), S. 244 ff.

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

heranzieht. Hier bildete den Hintergrund die Erinnerung an den unter dem Einfluß von Friedrich Naumann in der Weimarer Verfassung unternommenen Versuch, in den „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen" unter Ergänzung des klassischen Katalogs grundrechtlicher Freiheiten durch Bezeichnung einiger sozialer Grundsachverhalte zu bezeugen, daß und wieweit das Deutsche Volk seiner besonderen sozialen Zukunftsaufgaben in der Mittellage zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten inne sei4. Der Versuch ist bekanntlich an der Unlösbarkeit des Vorhabens und am alsbald einsetzenden Aufmarsch divergierender Interessen, die die Weimarer Koalition der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Demokratischen Partei in sich nicht zum Ausgleich bringen konnte, gescheitert und in „dilatorischen Formalkompromissen" 5 versandet. Diesen entmutigenden Vorgang hatte man schon im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und anschließend im Parlamentarischen Rat vor Augen. Deshalb entschied sich der Konvent von Herrenchiemsee dahin, in seinen Verfassungsentwurf als Grundrechte nur die klassischen Freiheitsrechte der einzelnen aufzunehmen. In dem Darstellenden Teil seines Berichts (S. 21) heißt es dazu, es sei erwogen worden, daneben auch Grundrechte der korporativen Ordnungen aufzunehmen. Dies sei jedoch im Ergebnis verneint worden, „insbesondere mit Rücksicht auf die vorläufige Natur des Grundgesetzes". Daran knüpften die Abgeordneten Dr. Carlo Schmid und Dr. Heuß bei der ersten Lesung des Grundgesetzes in der 2. Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates vom 8. September 1948 an. Carlo Schmid (Sten. Ber. S. 14) warf die Frage auf, ob neben den Rechten der Individualperson auch die Rechtsbestimmungen über die sog. Lebensordnungen: Wirtschaft, Kultur, Familie usw. aufgenommen werden sollten, und antwortete sogleich darauf, daß es sich vielleicht bei einem Provisorium empfehle, keine endgültige Gestaltung der Lebensordnungen zu versuchen und sich statt dessen damit zu begnügen, einen recht klaren und wirksamen Katalog von Individualgrundrechten aufzustellen. In derselben 4 Der Vorgang ist geschildert und gewürdigt von Carl Schmitt , Verfassungslehre (31957), S. 161 ff., ferner in seinen „Verfassungsrechtlichen Aufsätzen" (1958), S. 191 ff. = Hdb. d. Dt. Staatsrechts (hrsg. von Anschütz und Thoma) Bd. 2/1932, S. 580 ff. 5 Den Ausdruck verwendet Carl Schmitt erstmals in der Verfassungslehre (1928), S. 32.

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Sitzung (Sten. Ber. S. 44) äußerte sich der Abg. Dr. Heuß wörtlich wie folgt: „Und dann nodi zu dem Katalog: Verzicht auf den Gedanken der sozialwirtschaftlichen Ordnung. Damit bin ich sehr einverstanden. Die Landtage haben zum Teil die Vermessenheit oder den Mut besessen, in ihre Verfassungen hineinzuschreiben, wie die sozialwirtschaftliche Struktur der kommenden Zeit sein wird. Sie wird nicht so sein, wie sie in den Paragraphen drinsteht. Es ist leichtfertig, es ist hoffärtig, es ist ich weiß nicht was, zu glauben, daß aus der gegenwärtigen undurchsichtigen Situation überhaupt ein Mensch sagen könne: so wird die sozialwirtschaftliche Struktur der kommenden Zeit sein. Das schaffen wir nicht. Wir begnügen uns, in diesen Dingen die Bundeskompetenz auszusprechen."

In der Sitzung des Grundsatzausschusses vom 21. September 1948 erwog audi der Abg. Zinn (SPD) kurz eine Neuschöpfung der Grundrechte im Sinne Friedrich Naumanns, der zu Grundrechten gelangt sei, die einen anderen Charakter trügen als die klassischen Grundrechte, weil sie den Menschen nicht nur als Individuum, sondern auch als ein Wesen sähen, das der Gemeinschaft angehört. Zinn riet jedoch gleichfalls von einem solchen Versuch ab, da die Zeit dafür ebensowenig reif sei wie 1918; er könne leicht dazu führen, „daß die Grundrechte einen höchst heterogenen Niederschlag verschiedener Parteiprogramme darstellen, ohne daß sich eine einheitliche Auffassung über die Substanz des neuen Staates oder der neuen Gesellschaft herausbildet"«. Als der Abg. Carlo Schmid am 6. Mai 1949 vor dem Plenum (2. Lesung) über den in den Ausschüssen erarbeiteten Entwurf eines Grundgesetzes berichtete, führte er aus, daß man sich auf die sog. klassischen Grundrechte beschränkt und bewußt darauf verzichtet habe, die sog. Lebensordnungen zu regeln. Hätte man dies hier versucht, so wäre man, wenigstens nach der Meinung der Mehrheit des Hauses, über die durch den Auftrag gezogenen Grenzen, nur ein Provisorium zu schaffen, hinausgegangen (Sten. Ber. S. 172)7. Er fügte aber gleich an, daß ein Gemeinwesen bundesstaatlichen Charakters geschaffen werden solle, dessen Wesensgehalt das demokratische und soziale Pathos der republikanischen Tradition bestimme: nämlich einmal der Satz, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe, weiter die Be6

JöR NF (1) 1951, S. 44. v.Mangoldt hat in seinem Kommentar (1953), S. 35, demgegenüber hervorgehoben, daß der provisorische Charakter des Grundgesetzes gegenüber der Ungewißheit über alle künftige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ganz zurückgetreten sei. 7

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grenzung der Staatsgewalt durch die verfassungsmäßig festgelegten Rechte der Einzelperson, die Gleichheit aller vor dem Gesetz und der Mut zu den sozialen Konsequenzen, die sich aus den Postulaten der Demokratie ergeben. An dieser Stelle wird deutlich, daß die Sozialstaatsklausel in Art. 20 Abs. 1 GG sozusagen das Surrogat für das Beiseitelassen sozialwirtschaftlicher Grundsätze oder sozialer Lebensordnungen sein sollte. Übrigens haben in der dritten Lesung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 die Abgeordnete Wessel (Z) und der Abg. Dr. Seebohm (DP) ihr Bedauern über das Weglassen „sozialer Grundrechte" (Wessel) und von „notwendigen Bestimmungen über die soziale Ordnung" (Seebohm) zum Ausdruck gebracht (Sten. Ber. S. 215, 219), Dr. Seebohm ohne nähere Begründung, Frau Wessel unter Hinweis auf „unsere Treue zum Naturrecht". Nachdem schon der Grundrechtsabschnitt, so wie er heute in Geltung ist, in der 2. Lesung verabschiedet war, fand der Abg. Renner (KPD) Gelegenheit, einen Antrag der KPD-Fraktion (Drucks. Nr. 759) zu begründen, der die Aufnahme „sozialer und wirtschaftlicher Grundrechte in das Grundgesetz" forderte. Seine Ausführungen (Sten. Ber. S. 180) verdienen in doppelter Hinsicht Interesse. Einmal zeigen sie, was man sich damals von der radikalsten Seite aus unter sozialen Grundrechtsforderungen vorstellte; zum anderen werfen sie, allerdings sehr polemisch, ein Schlaglicht auf dokumentarisch sonst nicht belegte Zusammenhänge. Als die wichtigsten sozialen Forderungen der KPD brachte Renner vor: die verfassungsmäßige Verankerung eines einheitlichen Arbeitsrechts, der Arbeitsschutzorgane, der 40-Stunden-Woche, des Rechts auf gleichen Lohn für Männer, Frauen und Jugendliche bei gleicher Arbeit, des Jugend- und Mutterschutzes, des Rechts auf bezahlten Urlaub, die Anerkennung des Streikrechts auch für Beamte des öffentlichen Dienstes, die entschädigungslose Enteignung der Kriegsverbrecher, die gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften in Wirtschaft und Industrie, die Uberführung der Bodenschätze und der Grundstoffe in Volkseigentum und den Schutz gegen Mißbrauch des Eigentums. Zu den Gründen, warum die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte nicht im Grundgesetz enthalten seien, führte Renner aus: Es sei immerhin erstaunlich, daß nicht einmal die Gewerkschaftsmitglieder im Parlamentarischen Rat es sich zur Pflicht gemacht hätten, diese Grundrechte im Grundgesetz zu verankern. Das habe eine Geschichte, und er sei der Öffentlichkeit die Wiedergabe dieser Geschichte schuldig. Zu Beginn der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates habe man zwischen SPD und CDU/CSU ein

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XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

Gentlemen agreement abgeschlossen, das darauf hinausgelaufen sei, daß die SPD auf die Verankerung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte und die CDU/CSU auf die Verankerung der weltanschaulichen und kirchenpolitischen Rechte verzichtet habe. Dank ihrer größeren taktischen Kunst sei es den Herren von der CDU gelungen, durch die Maschen dieses Abkommens hindurch ihre Grundforderungen in kirchenpolitischen und allgemein weltanschaulichen Fragen dodi ins Gesetz hineinzubringen. Die Sozialdemokraten hätten zwar gelegentlich, als sie diese Entwicklung gesehen hätten, aufgemuckt und gedroht: Wenn ihr euch das nicht abgewöhnt, nehmen wir die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte wieder auf. Das habe man sogar noch erwogen auf der berühmten Sitzung des sozialdemokratischen Parteivorstandes auf der Godesburg. Aber es sei dabei geblieben: Das, was der CDU/CSU interessant erschienen sei, sei in das Gesetz aufgenommen worden, und was den werktätigen Massen not tue, sei durch das Versagen der SPD nicht in das Gesetz hineingekommen. Nun sage der Abgeordnete Schmid, der Staat, den wir bauten, solle ein sozialer Staat sein, aber der Staat, den der Parlamentarische Rat gebaut habe — das beweise eindeutig das Fehlen der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte —, werde ein Staat der Reaktion werden. Der Antrag der KPD wurde dann ohne weitere Diskussion abgelehnt. Nach alledem ist das Folgende deutlich: Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes enthält ihrem Wortlaut und ihrem Sinnzusammenhang nach kein bestimmtes Verfassungsprogramm für konkrete Forderungen an die künftige Sozialordnung. Niemand ist in der Lage, bestimmte Gestaltungen und Entscheidungen, seien sie dem Gesetzgeber, der Exekutive oder der richterlichen Gewalt aufgetragen, aus dem Bekenntnis zum Sozialstaat abzuleiten. Die Entstehungsgeschichte der Klausel belegt, daß ihr gerade das von ihren Schöpfern aus auch nicht mitgegeben werden sollte. Die Klausel sollte es in die eigenverantwortliche Entscheidung des künftig tätig werdenden Gesetzgebers stellen, wie er mit dem „Mut zu den sozialen Konsequenzen, die sich aus den Postulaten der Demokratie ergeben" (Carlo Schmid), die Sozialordnung in dem reorganisierten deutschen Staatswesen gestalten zu sollen meinte. Dafür wurden ihm von Verfassungs wegen keine anderen konkretisierenden Richtlinien mit auf den Weg gegeben als der Auftrag zur eigenverantwortlichen Bewältigung der Aufgabe in

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rechtem Verständnis für die sozialen Bedingungen und Erwartungen der Zeit. Damit ist eine erste, und zwar eine immanente verfassungsrechtliche Grenze sozialstaatlicher Forderungen bezeichnet. Soweit solche Forderungen in Gesetzen konkrete Gestalt gewinnen, ist es nur die Autorität des einfachen Gesetzgebers, die sie trägt; die Sozialstaatsklausel verleiht diesen Ausformungen nicht etwa Verfassungsrang. Der im Sinne der Sozialstaatsklausel tätig werdende Gesetzgeber individualisiert und konkretisiert also nicht vorgegebenes Verfassungsrecht, sondern setzt einfaches Gesetzesrecht, das demgemäß wie alles Gesetzesrecht an die Normen der Verfassung gebunden und durch die Berufung auf die Sozialstaatsklausel nicht dazu legitimiert ist, sich über das geltende Verfassungsrecht hinwegzusetzen oder auch nur „großzügig" mit ihm umzugehen. Erst recht ist es der Exekutive und den Gerichten verwehrt, ihre konkreten Ableitungen aus der Sozialstaatsklausel im Einzelfall als Verfassungsgrundsätze mit den sich daraus ergebenden Rangansprüchen auszugeben. Exekutive und Gerichte würden sich sonst zum Verfassungsschöpfer erheben, eine Funktion, die ihnen gewiß nicht zukommt. Damit soll der Ernst des sozialstaatlichen Anrufs des Grundgesetzes nicht verkleinert werden. Aber alles, was sich in Erfüllung des Sozialstaatsgebots in gesetzgeberischem Wirken und in der Rechtsschöpfung durch Behörden- und Gerichtsgebrauch vollzieht, hat Rang und Geltung nur unterhalb des Verfassungsrechts; es gehört in der Hierarchie der Rechtsquellen zur schlichten, nicht verfassungskräftigen und deswegen dem Maßstab der Verfassungsnormen unterworfenen Rechtsordnung. Darin ist allerdings mit Rohmer-Kahlmann s durchaus einzuschließen, daß das überlieferte System der sozialen Sicherheit in seiner Grundstruktur und in seiner Ausprägung als Versorgung, Versicherung und Fürsorge (Sozialhilfe) durch die Entscheidung des Grundgesetzgebers für den Sozialstaat institutionell gewährleistet sein soll. in. Aber nicht nur Bücher, sondern auch Verfassungsartikel haben ihre Schicksale, und die heutige rechtliche Bedeutung der Sozialstaats8

Harry Rohmer-Kahlmann, Zur Rechtsnatur der Rentenversicherung der Arbeiter, Festschr. f. Fr. Lenz (1961), S. 339 ff. (363, 366). 17 Weber

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klausel kann nicht ohne weiteres mit dem Sinn gleichgesetzt werden, den etwa ihre Schöpfer selbst ihr beilegten oder ein objektiv urteilendes Forum ihr im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens vor 20 Jahren zuerkannt hätte. Seither ist über diese Klausel nachgedacht, ist über sie gestritten und ist sie praktiziert worden. Sie hat dadurch festere Konturen gewonnen, obwohl diese durch einen diffusen Gebrauch immer wieder verwischt werden. Mit ihr vordergründig zu arbeiten, erfreut sich großer Beliebtheit. Wegen ihrer Vieldeutigkeit läßt sie sich leicht dafür verwenden, die verschiedenartigsten Forderungen und Interessen zu rechtfertigen oder zu bemänteln. Da sich niemand gern dem Vorwurf aussetzt, im Denken und Handeln „unsozial" zu sein, kann man sie wie einen Schutzschild oder ein Räumgerät vor sich herschieben und die Widerstände gegen die als sozialstaatlich ausgegebenen Postulate dadurch bequemer überwinden. Wer die politische Macht hat, seine Definition des Sozialstaatlichen zur Anerkennung zu bringen, vermag damit seinem durch diese Definition gedeckten Geltungsanspruch sogar den Nachdruck der Verfassungsentscheidung zuzuführen. Es ist auch nicht zu verkennen, daß die politischen Parteien und die von ihnen beherrschten Regierungen und Parlamente gegen als sozialstaatlich ausgegebene Forderungen und Erwartungen anfällig sind. Denn diese Forderungen und Erwartungen sind in aller Regel auf Leistungen und Begünstigungen zu Lasten der öffentlichen Haushalte gerichtet, und sie werden von den großen Massen vorgebracht, die zugleich die Wählermassen sind. Dahinter steht als mächtig bewegende Kraft das, was man als die sozialstaatliche Wirklichkeit der Gegenwart bezeichnen könnte. Das ist die Wirklichkeit des hocharbeitsteiligen industrialisierten Massenstaates mit einer immer mehr in einer städtischen Zivilisation aufgehenden Bevölkerung, die in ihrer Lebensführung in eine progressiv sich verdichtende Abhängigkeit von einer umfassenden Lebensvorsorge durch das politische Gemeinwesen gerät und diese Abhängigkeit durch ihr Begehren nach einem egalisierten Wohlfahrtsstandard weitertreibt. Das Verlangen nach sozialer Sicherung ist hierbei in einem sehr umfassenden und begreiflicherweise nicht nur auf Minimalstandards gerichteten Sinne zu verstehen. Auch im juristischen Alltagsgebrauch, wie er sich etwa in den den Tagesfragen gewidmeten Zeitschriftenbeiträgen, in einer allgemeinpolitischen und sozialpolitischen Vulgärliteratur und öfter auch in den Entscheidungen der Gerichte unterer Instanzen bezeugt, ist man mit

X I I . Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

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der Verwendung der Sozialstaatsklausel leicht zur Hand. Da im Sozialstaatsbegriff allzu wenig normativ Vorgeformtes enthalten ist, bietet sich hier die Möglichkeit, daß jeder sein eigener authentischer Verfassungsinterpret wird und dort, wo ihm ein bestimmtes Ziel oder eine bestimmte Lösung vorschwebt, sie mit einem Kurzschluß aus der verfassungsrechtlich festgelegten Sozialstaatlichkeit rechtfertigt. Nicht im Einzelfalle, aber in der Masse der Erscheinungen ist das bedenklich. Es löst nämlich die verantwortliche Exaktheit rechtlicher Ordnungsbewahrung auf. Denn bei allen sonstigen Generalklauseln, die wir kennen — etwa denen des bürgerlichen Rechts, des Polizeirechts und des Disziplinarrechts —, ist die Generalklausel entweder in einigermaßen festgefügte und übersehbare Ordnungsbeziehungen eingebettet oder durch eine lang herangereifte Judikatur in ihren Aktionsmöglichkeiten markiert. Für die Sozialstaatsklausel gilt das nicht, und sie ist noch dazu deshalb besonders verführerisch, weil sie eine Verfassungsnorm ist, durch deren Anrufung man glauben könnte, sich über das Gesetzesrecht erheben zu dürfen. Gerade auch den Gerichten ist entgegenzuhalten, daß die Sozialstaatsklausel als Auslegungsmaxime nur mit großer Behutsamkeit behandelt werden darf und daß sie nicht dazu dienlich sein kann, der nachdenklichen Ermittlung der Sinnzusammenhänge des anzuwendenden Gesetzesrechts in eine vorschnelle richterliche Rechtsschöpfung auszuweichen, die unmittelbar auf ihre allzu vieldeutige Aussage zurückgreift. Übrigens ist auffällig, daß dort, wo schlicht von den Bindungen des Individuums in der staatlichen Gemeinschaft die Rede sein könnte, heute vielfach die Verpflichtungen des Sozialstaates bemüht werden. Offensichtlich sind der Staat und die Bindungen, die das gemeine Wesen natürlicherweise immer und überall den Individuen auferlegt, in Deutschland noch so diskreditiert, daß man von ihnen nicht gern spricht. Statt dessen werden den individuellen Freiheitsregungen die Sozialstaatsforderungen konfrontiert, und in dieser Einkleidung erscheinen die verlangten Begrenzungen der Individualsphäre dann als legitim. Das hat freilich seinen Grund nicht nur in der Abwertung des Staates und seiner selbstverständlichen Einordnungsansprüche und nicht nur in der Werbekraft des Sozialstaatsbegriffs, sondern auch darin, daß die heutige Rechtspraxis weithin sich dann nicht hinreichend legitimiert fühlt, wenn sie sich nicht auf eine ausdrückliche Verfassungsvorschrift berufen kann. Von der jedem Staat immanenten Bindung der Individuen an die Erfordernisse des Gemeinen Wohles ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich die Rede. So zieht man die 17

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XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

Sozialstaatsklausel ersatzweise heran und fügt dergestalt ihren vielen Ausdeutungsmöglichkeiten eine weitere Variante hinzu.

IV. Indessen ist es nötig, nach diesem Exkurs in die Alltagswelt der Sozialstaatsklauselpraxis, bei dem die Beiträge und Kontroversen des wissenschaftlichen Schrifttums nicht einmal berührt worden sind 9 , 9

Als monographische Beiträge des Schrifttums zum Sozialstaatsprinzip sind vor allem zu nennen: Wolf gang Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, in: Festschr. für L. Bergsträsser (1954), S. 279 ff. = Sultan-Abendroth, Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie (1955), S. 81 ff.; Hans Achinger, Der soziale Rechtsstaat und die sich wandelnde! Gesellschaft, in: Sozialer Rechtsstaat — Weg oder Irrweg? Heft 31 der Schriftenreihe des Deutschen Beamtenbundes (1963), S. 67 ff.; Otto Badiof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954), S. 34 ff.; Peter Badura, Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1968, 446 ff.; zu diesem Aufsatz Hans Barion, Vorbesinnung über den Wohlfahrtsstaat, DÖV 1970, 15 ff.; Emst Benda, Notstandsverfassung und Arbeitskampf (1963); Hans Berger, Aufgaben und Grenzen des Sozialstaates, in: Priester und Arbeiter, 1963, Heft 1 und 2; Walter Bogs, Das Problem der Freiheit im sozialen Rechtsstaat, Festschr. f. Fr. Lenz (1961), S. 367 ff.; der s., Der soziale Rechtsstaat im deutschen Verfassungsrecht, in: Sozialer Rechtsstaat — Weg oder Irrweg? Heft 31 der Schriftenreihe des Deutschen Beamtenbundes (1963), S. 44 ff.; ders., Die Einwirkung verfassungsrechtlicher Normen auf das Recht der sozialen Sicherheit, Verhandlungen des 43. Dt. Juristentages (1960), Sitzungsberichte Bd. I I Teil G; Karl Erich Born, Idee und Gestalt des sozialen Reditsstaats in der deutschen Geschichte, inr Sozialer Rechtsstaat — Weg oder Irrweg? Heft 31 der Schriftenreihe des Deutschen Beamtenbundes (1963), S. 81 ff.; Hermann Dersdi, Der Verfassungsgrundsatz der Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit in der Praxis der Sozialversicherung, in: Festschr. für W. Bogs (1959), S. 59 ff.; Erich Fediner, Freiheit und Zwang im sozialen Rechtsstaat (1953); ders., Sozialer Rechtsstaat und Arbeitsrecht, RdA 1955, S. 161 ff. ; Ernst Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff.; ders., Verfassungsprobleme des Sozialstaats (1954), Hans Gerber, Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes, AöR 81 (1956), S. 1 ff.; W. G. Greme, Der Begriff des sozialen Staates in der deutschen Verfassungsentwicklung, Der Arbeitgeber 1950/51, S. 39 ff.; Werner Groß, Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung im sozialen Rechtsstaat, in: Sozialer Rechtsstaat — Weg oder Irrweg? Heft 31 der Schriftenreihe des Deutschen Beamtenbundes (1963), S. 106 ff.; Andreas Hamann, Gewerkschaften und Sozialstaatsprinzip (1959) ; E. R. Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat in der modernen Industriegesellschaft (1962); Hermann Jahrreiß, Freiheit und Sozialstaat (1957); Arnold Köttgen, Der soziale Bundesstaat, in: Festschrift für Hans Muthesius (1960), S. 19 ff.; Gerhard Leibholz, Verfassungsrecht und Arbeitsrecht, in: Hueck-Leibholz, Zwei Vorträge zum Arbeitsrecht (1960); Chr.-Fr. Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaats im Bonner Grundgesetz (1953); Gerhard Müller, Drittwirkung von Grundrechten und Sozialstaatsprinzip, RdA 1964, 121 ff.; Reuß-Jantz, Sozialstaatsprinzip und soziale Sicherheit

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen wieder zu den eigentlichen Problemen zurückzukehren. Insoweit bietet die höchstrichterliche Rechtsprechung einen festeren Boden. Soweit das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht daran beteiligt sind, liegen zusammenfassende W ü r d i gungen bereits vor 1 0 . F ü r die einschlägige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gilt das nicht 1 1 ; sie ist aber hier von ausschlaggebendem Interesse. Deshalb soll i n der chronologischen Folge der Entscheidungen nachgezeichnet werden, wie sich Begriff und Forderung des Sozialstaats in der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts darstellen. (1) Ende 1951 (BVerfGE 1, 105) setzt diese Rechtsprechung m i t folgender Erwägung ein: Wenn auch die Wendung vom „sozialen Bundesstaat" nicht i n den Grundrechten, sondern i n A r t . 20 G G stehe, so enthalte sie doch ein Bekenntnis zum Sozialstaat, das bei der Auslegung des Grundgesetzes wie anderer Gesetze von entscheidender Bedeutung sein könne. Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber könne nur der Gesetzgeber tun. Er sei gewiß verfassungsrechtlich zu sozialer A k t i v i t ä t , insbesondere dazu verpflichtet, (1960); Helmut Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz (I960), S. 3 ff.; Harry RohroerKahlmann, Die Einwirkung verfassungsrechtlicher Normen auf das Recht der sozialen Sicherheit, NJW 1960, 1641 ff.; ders., Zur Rechtsnatur der Rentenversicherung der Arbeiter, Festschr. f. Fr. Lenz (1961), S. 339 ff., 363 ff.: Bernd Rüthers, Streik und Verfassung (1960), S. 54 ff.; Werner Thieme t Liberalismus und Grundgesetz, ZgesStW 113 (1957), S. 294 ff.; Werner Weber, oben S. 198 (Die Sozialpartner in der Verfassungsordnung) ; ders., Organisationsprobleme des sozialen Bundesstaates, Deutsche Rentenversicherung 1969, 121 ff.; Hans F. lädier, Soziale Gleichheit. Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Gleichheitssatz und Sozialstaatsprinzip, AöR 93 (1968), 341 ff. Mehrere der hier erwähnten und einige weitere Beiträge hat Ernst Forsthoff in dem Sammelbande „Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit" (1968) herausgegeben. Eine zusammenfassende Würdigung unternimmt Dieter Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Der Staat 1970 S.67ff. 10 Fritz Werner, Sozialstaatliche Tendenzen in der Rechtsprechung, AöR 81 (1956), S. 84 ff.; Alfred Hueck, Der Sozialstaatsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in: Festschrift für Willibalt Apelt (1958), S. 57 ff.; Gerhard Müller, Der Gedanke des sozialen Staates in der bisherigen Rechtsprechung des BAG, Üer Betrieb 1956, S. 524 ff., 549 ff.; derselbe, Der Sozialstaatsgedanke unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, BArbBl. 1964, S. 723 ff.; derselbe, DrittWirkung von Grundrechten und Sozialstaatsprinzip, RdA 1964, S. 121 ff.; Walter Bogs, Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Grundgesetz, JöR NF 9 (1960), S. 169 f. 11 Inzwischen ist der am Ende von Anm. 9 zitierte Bericht von Hans F. Zacher erschienen.

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sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und — dies war der konkrete Anlafi — um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle die zu bemühen, die durch die Folgen des Hitlerregimes in Not geraten seien. (2) Ende 1953 hieß es in der bekannten Beamtenentscheidung (BVerfGE 3, 134), das Gesetz zu Art. 131 GG sei mit Recht als soziale Tat gewertet worden. Die Bundesrepublik habe sich hier — ihrer Verfassung (Art. 20, 28 GG) gemäß — als sozialer Rechtsstaat bewährt. (3) 1954 (BVerfGE 3, 381) wird erkannt, daß eine Behörde an das Prinzip der Sozialstaatlichkeit als Teil der „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" gebunden sei. (4) Im Sommer desselben Jahres erging die Entscheidung zum Investitionshilfegesetz (BVerfGE 4, 7), in der (S. 15 ff.) ausgeführt ist, daß das Menschenbild des Grundgesetzes nicht das eines isolierten souveränen Individuums sei, das Grundgesetz vielmehr die Spannung Individuum — Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden habe, ohne aber dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergebe sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Dies heiße aber: Der einzelne müsse sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren ziehe, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibe. Das Urteil führt (S. 18) weiter aus, der Verfassunggeber habe sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden. Der Gesetzgeber könne die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachte. Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung sei zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruhe auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt und durchbrochen werden könne. (5) Gegen Ende des Jahres 1954 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Koalitionsfreiheit zu beschäftigen (BVerfGE 4, 96). Es entschied dahin, daß Art. 9 Abs. 3 GG auch die Koalition als solche schütze, und bezeichnete hierfür (S. 102) das ausdrückliche Bekenntnis des Grundgesetzes zum sozialen Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) als maßgeblich. Diese Entscheidung des Verfassunggebers schließe es aus, ein Grundrecht, dessen Ausdehnung auf soziale Gemeinschaften sich bereits in der Weimarer Zeit angebahnt habe, nunmehr ohne

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

zwingenden Grund in seiner Wirksamkeit auf Einzelpersonen zu beschränken. (6) Mitte 1955 (BVerfGE4, 235) sucht das Bundesverfassungsgericht die Junktimklausel in Art. 14 Abs. 3 GG damit zu rechtfertigen, daß der Grundgesetzgeber hierbei im Sinne des Sozialstaatsgedankens die Interessen der Allgemeinheit stärker in den Vordergrund gerückt habe. (7) Ein Beschluß zum Baulandbeschaffungsgesetz vom 23. Februar 1956 (BVerfGE4, 387) spricht von der Ausprägung der Sozialstaatlichkeit in Art. 14 Abs. 2 GG und billigt von hier aus eine in den Voraussetzungen und im Verfahren besonders zielstrebige Enteignungsregelung für die Baulandbeschaffung (S. 389). (8) Eine Sonderstellung nimmt in den Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zum Sozialstaatsprinzip das Urteil über das KPDVerbot ein (BVerfGE 5, 85). Hier hat das Gericht die Sozialstaatsklausel nicht zur unmittelbaren richterlichen Fallentscheidung herangezogen, sondern über sie in lehrhaft-theoretisierenden Betrachtungen reflektiert. Das beginnt (S. 198) mit der Aussage: Wenn als ein leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen der Fortschritt zu „sozialer Gerechtigkeit" aufgestellt werde, eine Forderung, die im Grundgesetz mit seiner starken Betonung des „Sozialstaats" noch einen besonderen Akzent erhalten habe, so sei auch das ein der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähiges und bedürftiges Prinzip. Was jeweils praktisch zu geschehen habe, werde also in ständiger Auseinandersetzung aller an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligten Menschen und Gruppen ermittelt. Dieses Ringen spitze sich zu einem Kampf um die politische Macht im Staate zu, erschöpfe sich darin aber nicht. Im Ringen um die Macht spiele sich gleichzeitig ein Prozeß der Klärung und Wandlung dieser Vorstellungen ab. Die schließlich erreichten Entscheidungen würden gewiß stets mehr den Wünschen und Interessen der einen oder anderen Gruppe oder sozialen Schicht entsprechen. Die Tendenz der Ordnung und die in ihr angelegten Möglichkeiten der freien Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften wirke aber in Richtung auf Ausgleich und Schonung der Interessen aller. Das Gesamtwohl werde eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse; grundsätzlich werde annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und Verteilung der Lasten erstrebt. Es bestehe das Ideal der „sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaats". Die staatliche Ordnung der freiheitlichen Demokratie müsse demgemäß systematisch auf die Aufgabe der Anpassung und Verbesserung des sozialen Kompromisses angelegt sein; sie müsse insbeson-

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dere Mißbräuche der Macht hemmen. Ihre Aufgabe bestehe wesentlich darin, die Wege für alle denkbaren Lösungen offenzuhalten, und zwar jeweils dem Willen der tatsächlichen Mehrheit des Volkes für die einzelnen Entscheidungen Geltung zu verschaffen, aber diese Mehrheit auch zur Rechtfertigung ihrer Entscheidungen vor dem ganzen Volke, auch vor der Minderheit, zu zwingen. Die Entscheidung fährt später (S. 206) fort: Allerdings lehne die freiheitliche Demokratie es ab, den wirtschaftlichen Tatbestand der Lohnarbeit im Dienste privater Unternehmer als solchen allgemein als Ausbeutung zu kennzeichnen. Sie sehe es aber als ihre Aufgabe an, wirkliche Ausbeutung, nämlich Ausnützung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingungen und unzureichendem Lohn, zu unterbinden. Vorzüglich darum sei das Sozialstaatsprinzip zum Verfassungsgrundsatz erhoben worden; es solle schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maße verwirklichen. Die freiheitliche Demokratie sei von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern. Einige Seiten später (S. 229) findet sich die Bemerkung, daß das parlamentarische System gerade im Sozialstaat dem Ausgleich auch der „Klassengegensätze" dienen solle, und nach etwa 100 weiteren Seiten dieses umfangreichen Urteils (S. 336) heißt es: Das Eintreten einer politischen Partei für einen weiteren Ausbau des Sozialstaates und für Sozialisierungen sei durch das in Art. 21 Abs. 2 GG enthaltene Verbot, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, keineswegs gehindert. Beides sei im Grundgesetz selbst vorgesehen oder zugelassen. Das zeige, daß Art. 21 Abs. 2 GG keine konkreten sozialen und politischen Verhältnisse — auch nicht die heute bestehenden —, insbesondere nicht die bestehende soziale Gliederung und ihre Auswirkungen in der Politik einschließlich der etwa auf ihnen beruhenden politischen Machtverhältnisse schütze, sondern nur bestimmte Wert- und Gestaltungsprinzipien. Gegen Ende des Urteils (S. 379) beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht mit der Legitimität der Ordnung in der Bundesrepublik. Diese Legitimität sei vor allem darin gegeben, daß sie — nicht notwendig in allen Einzelheiten, aber dem Grundsatze nach — Ausdruck der politischen und sozialen Gedankenwelt sei, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deut-

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sehen Volkes entspreche. Sie beruhe auf einer ungebrochenen Tradition, die — aus älteren Quellen gespeist — von den großen Staatsphilosophen der Aufklärung über die bürgerliche Revolution zu der liberalrechtsstaatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt und der sie selbst das Prinzip des Sozialstaates, d. h. das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt habe. (9) Aus dem Elfes-Urteil vom 16. Januar 1957 (BVerfGE 6, 32) erfährt man sodann, daß das Bundesverfassungsgericht das Sozialstaatsprinzip neben dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zu den Grundentscheidungen des Grundgesetzes rechnet, die zur „verfassungsmäßigen Ordnung" im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG gehören (S. 41). (10) Im gleichen Monat stellt eine weitere Entscheidung (BVerfGE 6, 55) — Zusammenveranlagung von Eheleuten — fest, daß nur eine Deutung, die den Art. 6 Abs. 1 GG als Grundsatznorm für das gesamte Ehe und Familie betreffende Recht auffasse, dem leitenden Prinzip des sozialen Rechtsstaats gerecht werde (S.72), und erwägt weiter, wie bei der Ehegattenbesteuerung verfahren werden könne, wenn man aus dem Gesichtspunkt der Sozialstaatlichkeit und des Schutzes von Ehe und Familie der besonderen Lage des Ehemannes und Familienvaters, der für mehrere Personen aufzukommen habe, Rechnung tragen wolle (S. 80). (11) Mitte des Jahres 1958 hat das Gericht in einem Beschluß (BVerfGE 8, 1) den Beamten die Befugnis zugesprochen, mit der Verfassungsbeschwerde die Vorenthaltung eines angemessenen Lebensunterhalts zu rügen, und es führt dazu aus (S. 17): Der Beamte sei auf die besoldungsrechtliche Regelung angewiesen, die sein Dienstherr als Gesetzgeber getroffen habe. Wenn daher das Grundgesetz in Art. 33 Abs. 5 unmittelbar die Gewähr dafür bieten wolle, daß die beamtenrechtliche Gesetzgebung bestimmten eng begrenzten verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen entspreche, dann liege die Annahme nahe, daß den hauptsächlich und unmittelbar Betroffenen ein entsprechendes Individualrecht eingeräumt werden solle, damit sie insoweit in Ubereinstimmung mit den rechts- und sozialstaatlichen Grundprinzipien ihre verfassungsmäßige Stellung auch rechtlich wahren könnten. (12) Im gleichen Jahre erwähnt das Gericht an anderer Stelle (BVerfGE 8, 167) im Vorbeigehen, daß sich gegenüber der Staatsauffassung des liberalen Bürgertums „eine Hinwendung zu einer egalitär-sozialstaatlichen Denkweise" und damit eine wesentliche Veränderung der Auffassungen über die Stellung des einzelnen zu

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der im Staat verkörperten Gemeinschaft vollzogen habe. (13) In dem Ende 1958 ergangenen Beschluß zu § 2 des Preisgesetzes (BVerfGE 8, 274) findet sich (S. 329) der Satz: Eine gesetzliche Regelung, die es möglich mache, aus gesamtwirtschaftlichen und sozialen Gründen die zum Nutze des allgemeinen Wohls gebotenen preisrechtlichen Maßnahmen zu treffen, entspreche dem Sozialstaatsprinzip, das auch die Vertragsfreiheit inhaltlich bestimme und begrenze und dessen Ausgestaltung im wesentlichen dem Gesetzgeber obliege. (14) Anfang 1959 hatte sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 9, 73) mit der Frage zu befassen, ob das Apothekenmonopol für den Vertrieb von Heilmitteln verfassungsrechtlich haltbar sei. Es erwägt in diesem Zusammenhang, gesetzliche Monopole möchten unter besonderen Umständen gegen das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG verstoßen können. Ein solcher Fall liege aber nicht vor, weil es genüge, daß das „Apothekenmonopol" sowohl der Intention des Gesetzgebers als auch der effektiven Wirkung nach unmittelbar und mittelbar dem Gesundheitsschutz diene und damit dem Sozialstaatsprinzip eher entspreche als widerstreite. (15) In einem weiteren Fall aus derselben Zeit (BVerfGE 9, 124) hatte ein Beschwerdeführer — vergeblich — die Beiordnung eines Armenanwalts für sein Verfahren vor dem Landessozialgericht erwirken wollen. Das Bundesverfassungsgericht bemerkt dazu (S. 131), daß eine weitgehende Angleichung — nicht völlige Gleichstellung — der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes ausreichend, anderseits eine solche Angleichung zugleich durch den Gleichheitssatz in Verbindung mit der Sozialpflicht des Staates (Art. 20 Abs. 1 GG) geboten sei. (16) Diese Auffassung wurde Anfang 1960 in einem etwas anderen Zusammenhang schlicht bestätigt (BVerfGE 10, 264 [270]). (17) In der Entscheidung vom 25. Februar 1960 (BVerfGE 10, 354), in der das Bundesverfassungsgericht die Pflichtmitgliedschaft der in Bayern tätigen Ärzte bei der Bayerischen Ärzteversorgung als verfassungsrechtlich zulässig erkannt hat, war von der Frage auszugehen, ob der Zwangscharakter der Versorgung als Bestandteil der die Individualfreiheit zulässigerweise begrenzenden verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG angesehen werden könne. Die Entscheidung (S. 363) bejaht dies, weil die Bestimmung keinem Satz der geschriebenen Verfassung, „aber auch keinem der sie übergreifenden und durchdringenden allgemeinen Rechtsgrundsätze, namentlich nicht dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und dem Sozialstaats-

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prinzip" widerspreche 12. Die hiergegen erhobenen Einwände, insbesondere den, der Sozialstaatsgedanke sei hier überspannt, hält das Gericht nicht für durchschlagend (S. 371): Denn in der unaufhebbaren und grundsätzlichen Spannungslage zwischen dem Schutz der Freiheit des einzelnen und den Anforderungen einer sozialstaatlichen Ordnung verbleibe dem Gesetzgeber ein weiter Raum für freie Gestaltung, innerhalb dessen er Art und Maß der im Interesse des Gemeinwohls notwendigen oder doch vertretbaren Eingriffe in die Freiheit zu bestimmen habe. Die bezeichneten Erwägungen könnten dazu dienen, die Entschließungen des Gesetzgebers im Bereich dieses Ermessens zu beeinflussen; sie seien in diesem Sinne rechts- und wirtsthaiispolitischer Natur. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung genüge die Feststellung, daß der Gesetzgeber nicht aus dem Bereich des ihm eingeräumten Ermessens herausgetreten sei und daß er Verfassungsgrundsätze nicht verletzt habe. (18) In dem Kindergeldurteil vom 10. Mai I960 (BVerfGE 11, 105) referiert das Bundesverfassungsgericht kurz über die historische Entwicklung der Sozialversicherung. In diesem Zusammenhang findet sich die Feststellung, die durch den ersten Weltkrieg und die Inflation bedingten gesellschaftlichen Umwälzungen hätten dazu geführt, den Kreis der von der Sozialversicherung Betreuten immer mehr auszuweiten „im Sinne der von der Weimarer Verfassung (Art. 151) geforderten Entwicklung zum sozialen Rechtsstaat, die den Ausgleich der durch die moderne gesellschaftliche Entwicklung entstehenden Belastungen anstrebt" 13 . (19) Bekanntlich ist das Gesetz über die Privatisierung des Volkswagenwerks von 1960 mit Verfassungsbeschwerden angegriffen worden, weil es in seinen §§ 6 und 7 unzulässige Bevorzugungen bestimmter Personengruppen beim Erwerb von VW-Aktien geschaffen habe. Hierzu räumt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Mai 1961 (BVerfGE 12, 354 [367]) ein, daß das Sozialstaatsprinzip nicht zu beliebiger Sozialgestaltung ermächtige, die das Gebot der Gleichheit auflösen würde. 12

Die gleiche Wendung kehrt später in BVerfGE 14, 306, wieder. Der hier als „Sozialstaatsklausel" der Weimarer Verfassung angerufene Art. 151 Abs. 1 hat folgenden Wortlaut: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern." 13

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(20) Ähnlich kurz leuchtet das Sozialstaatsprinzip in einem Urteil zum Bundesentschädigungsgesetz (BVerfGE 13, 248) auf, wo (S. 259) die Möglichkeit gestreift wird, daß dieses Prinzip bei der Erhöhung staatlicher Leistungen eine Differenzierung nach dem Grade der sozialen Schutzbedürftigkeit der Empfänger rechtfertigen könne. (21) Den Gegenstand des Urteils vom 24. Januar 1962 (BVerfGE 13, 331) bildet die Benachteiligung der personenbezogenen Kapitalgesellschaften gegenüber den anonymen Kapitalgesellschaften durch § 8 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes. Dazu wird u. a. erwogen, eine Zielsetzung, die darauf hinausliefe, die Verbindung von Arbeitseinsatz und Kapitalbeteiligung zu erschweren, würde unvereinbar mit der Wirtschaftspolitik des sozialen Rechtsstaats im Verständnis der Gegenwart sein, die gerade auf eine Förderung dieser Kombination insbesondere auch bei der Kapitalgesellschaft hinauslaufe, wie ζ. B. die Begünstigung der Mitarbeiter beim Bezug von Volksaktien zeige (S. 346). Weiter heißt es (S. 347), mit dem Gebot sozialer Steuerpolitik (Art. 20 GG) wie mit der in Art. 6 GG verwurzelten Tendenz, auch den wirtschaftlichen Zusammenhalt der Familie zu fördern, sei die objektive Wirkung des § 8 Nr. 6 GewStG — nämlich die gegenüber der im allgemeinen kapitalstärkeren anonymen Kapitalgesellschaft verschärfte Besteuerung — schwerlich vereinbar, eine Feststellung, die am Schluß des Urteils (S. 355) noch einmal wiederholt wird. (22) In dem Beschluß vom 4. April 1962 (BVerfGE 14, 42) war zu prüfen, ob § 27 Abs. 4 KgfEG, der die Kosten einer Vertretung, soweit nicht Anwaltszwang besteht, stets vom Antragsteller tragen läßt, dem Grundgesetz und u. a. auch dem Sozialstaatsprinzip widerspreche. Dazu führt das Bundesverfassungsgericht (S. 51) aus: Sowohl § 27 Abs. 4 KgfEG als auch die allgemeine Regel über die Erstattung der Vertretungskosten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren fänden auf sozial Schwache gleichermaßen Anwendung wie auf sozial Starke, wenn auch nicht zu verkennen sei, daß unter den Antragstellern im Kriegsgefangenenentschädigungsverfahren die sozial Schwachen überwögen. Die Gültigkeit der Bestimmung könne also nicht davon abhängen, ob der Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip verletzt habe, sondern ob die getroffene Regelung dem allgemeinen Gleichheitssatz widerspreche. (23) In dem problematischen Feldmühleurteil (BVerfGE 14, 263) wurde das Sozialstaatsprinzip gleichfalls in mehrfacher Hinsicht bemüht. Es heißt darin zunächst (S. 275), das Grundgesetz enthalte entsprechend seiner weitgehenden Zurückhaltung in Fragen der Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsgestaltung für die vielfältige und

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umstrittene Problematik der Willensbildung in den Aktiengesellschaften unmittelbar keine Regelungen. Für eine Nachprüfung aktienrechtlicher Normen sei auf allgemeine Verfassungsprinzipien (Rechts- und Sozialstaatlichkeit) und auf Grundrechte (Gewährleistung des Privateigentums, allgemeine wirtschaftliche Handlungsfreiheit, Gleichheitsgebot) zurückzugreifen. Die Entscheidung wendet sich später (S. 277 f.) dem Eigentumsbegriff zu: Das Eigentum sei ebenso wie die Freiheit ein elementares Grundrecht. Das Bekenntnis zu ihm sei eine Wertentscheidung des Grundgesetzes von besonderer Bedeutung für den sozialen Rechtsstaat. Das Eigentum sei das wichtigste Rechtsinstitut zur Abgrenzung privater Vermögensbereiche. Es bedürfe deshalb besonders der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung. Demzufolge enthalte Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die Ermächtigung an den Gesetzgeber, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen. Dieser Regelungsbefugnis des Gesetzgebers schienen nach dem Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG keine Schranken gesetzt zu sein, Es sei jedoch selbstverständlich, daß jede gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung sowohl die grundlegende Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten des Privateigentums im herkömmlichen Sinne zu beachten habe als auch mit allen übrigen Verfassungsnormen in Einklang stehen müsse, also insbesondere dem Gleichheitssatz, dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und den Prinzipien der Rechtsund Sozialstaatlichkeit. Dem Einwand, die Mehrheitsumwandlung sei mit dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar, weil sie im Widerspruch zu dem Bestreben nach breiter Streuung des Eigentums an industriellen Unternehmen und nach Vermögensbildung in bisher der Aktie fernstehenden Kreisen stehe, wie es vor allem anlaßlich der Privatisierung bundeseigener Unternehmen in Erscheinung getreten sei, hält das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf seine Entscheidung über die VW-Privatisierung das Folgende entgegen (S. 286) : Die in diesen Fällen anerkannte soziale Schutzwürdigkeit bestimmter Gruppen von Aktionären beruhe auf besonderen gesetzgeberischen Erwägungeji. Sache des Gesetzgebers sei es, wieweit er eine besondere soziale Schutzwürdigkeit des Aktionärs allgemein anerkennen wolle; das gelte auch für die Kleinaktionäre, die keine sozial klar abgrenzbare Gruppe bildeten. Es lasse sich daher nicht feststellen, daß die Mehrheitsumwandlung dem Sozialstaatsprinzip widerspreche. (24) Der Beschluß vom 23. Juli 1963 (BVerfGE 16, 286) hatte sich mit der Gültigkeit von § 568 a Abs. 8 Satz 1 RVO im Hinblick auf die darin nur eingeschränkt vorgesehene Beteiligung der leitenden Kran-

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kenhausärzte an der kassenärztlichen Versorgung zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht meint (S. 304), daß diese Regelung auch einer Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Sozialstaatsprinzips standhalte. Denn der Gesetzgeber müsse abwägen: Auf der einen Seite solle den Sozialversicherten eine möglichst gute ärztliche Versorgung zuteil werden; auf der anderen Seite dürften die Beiträge nicht übermäßig hoch werden. Es liege in der Natur der Sache, daß der Patient, der die Wohltaten der sozialen Krankenversicherung genieße, auch sachgemäße Beschränkungen in Kauf nehmen müsse. Der Gesetzgeber habe sich bemüht, den Versicherten einen möglichst großen Kreis von Ärzten zur Auswahl zu stellen, und zwar gerade auch durch den beanstandeten §368 a Abs. 8 RVO. Indem dieser den Versicherten auch die besonderen Kenntnisse und Erfahrungen der beteiligten Chefärzte im Rahmen des für eine sachgemäße ärztliche Versorgung Erforderlichen zugänglich mache, wäge er die Interessen aller Beteiligten sorgfältig gegeneinander ab und verstoße er deshalb nicht gegen das Sozialstaatsprinzip. (25) In dem Urteil vom 24. Juli 1963 über die Witwerrente (BVerfGE 17, 1) streift das Bundesverfassungsgericht das Sozialstaatsprinzip an mehreren Stellen. Dort heißt es zunächst (S. 11), der Sozialstaatlichkeit möge es am ehesten entsprechen, soziale Ausgleichsleistungen nur dorthin zu lenken, wo im Einzelfalle ein Bedarf festgestellt werde. Das Bemühen des Gesetzgebers, wenigstens die typischen Fälle des Bedarfs abzugrenzen, entspreche dieser Tendenz. Weiter legt die Entscheidung (S. 23) dar, bei aller grundsätzlichen Freiheit des Gesetzgebers, darüber zu entscheiden, ob bestimmte soziale Leistungen gewährt werden sollen, sei er doch in ihrer Ausgestaltung ebenso wie bei Eingriffen an das Grundgesetz, besonders an den allgemeinen Gleichheitssatz und seine Konkretisierungen gebunden. Das sei im sozialen Rechtsstaat angesichts der außerordentlichen Bedeutung der darreichenden Verwaltung für die Existenz des einzelnen selbstverständlich. Und schließlich erklärt das Gericht (S. 25) die gänzliche Herausnahme der Mutter, Hausfrau und Mithelfenden aus der Sozialversicherung „nach sozialstaatlichem Maßstab" für erträglich, weil sie in den hier betroffenen Schichten durch die unbedingte Witwenrente an der sozialen Sicherung teilhabe, die ihr Ehemann genieße. (26) Eine Entscheidung vom 21. April 1964 (BVerfGE 17, 337) überrascht durch den Satz (S. 355), daß für den Bereich des Beamten- und Beamtenbesoldungsrechts die Garantie der hergebrachten Grundsätze

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

des Berufsbeamtentums eine spezielle Konkretisierung der Sozialstaatsklausel darstelle. Diese Grundsätze des Berufsbeamtentums sicherten, daß die Besoldung und Versorgung der Beamten den Mindestanforderungen genügten, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip der Verfassung ergäben. Etwas vorsichtiger ist das Thema in dem Beschluß über die Witwerpension vom 11. April 1967 (BVerfGE 21, 329) wieder aufgegriffen (S. 346). (27) Die Entscheidung vom 26. November 1964 (BVerfGE 18, 257) hatte die Frage zu prüfen, ob der Ausschluß eines Ehegatten-Arbeitnehmers von der Kranken- und Rentenversicherung mit oder ohne Möglichkeit der freiwilligen Versicherung mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das Gericht greift hierzu (S. 267) auf seine schon früher gebrauchte Wendung von „der unaufhebbaren und grundsätzlichen Spannungslage zwischen dem Schutz der Freiheit des einzelnen und den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung" zurück und legt dar: Dem Sozialstaatsprinzip würde es zwar eher entsprechen, dali diejenigen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Schwäche zur eigenen Lebensvorsorge nicht fähig seien und die deshalb einer Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens bedürften, in die Zwangsversicherung einbezogen würden. Eine solche Vorsorge des Staates würde jedoch die Freiheit der persönlichen Entfaltung des einzelnen einschränken, indem sie ihn der Versicherungspflicht unterwerfe und damit zugleich zur Beitragszahlung verpflichte. Bei einer Entscheidung zwischen diesen beiden Geboten müsse dem Gesetzgeber ein gewisser Spielraum bleiben. Seine Entscheidung zugunsten der Freiheit der persönlichen Entfaltung sei jedenfalls dann nicht zu beanstanden, wenn eine andere Lösung durch das Sozialstaatsprinzip nicht unbedingt geboten sei. Das sei hier nicht der Fall, da der sozialen Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer-Ehegatten durch die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung Rechnung getragen sei. Am Schlüsse der Entscheidung (S. 273 f.) wird noch einmal gesagt, bei der Entscheidung zwischen den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung und dem Schutz der Freiheit des einzelnen habe der Gesetzgeber einen weiten Raum zu freier Gestaltung, innerhalb dessen er Art und Ausmaß der gebotenen oder mindestens vertretbaren Eingriffe in die wirtschaftliche Entschließungsfreiheit des einzelnen bestimmen könne. (28) In dem Beschluß vom 30. November 1965 (BVerfGE 19, 303) führt das Bundesverfassungsgericht (S. 319) aus, in den durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Bereich müsse auch die Tätigkeit der Koali-

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tionen im Personalvertretungswesen einbezogen werden, und zwar vor allem deshalb, weil sich das Grundgesetz zum sozialen Rechtsstaat bekenne. Diese Entscheidung des Verfassunggebers schließe es aus, die Koalitionsbetätigung in diesem Bereich, die bis 1933 und nach 1945 dienstrechtlich und verfassungsrechtlich anerkannt gewesen sei, von der Anerkennung durch Art. 9 Abs. 3 GG auszunehmen. Das Sozialstaatsprinzip sei in den entsprechenden Vorschriften bereits konkret ausgeformt gewesen. (29) In seiner Entscheidung vom 17. November 1966 (BVerfGE 20, 351) rechtfertigt der Gerichtshof den gesetzlichen Ausschluß der Entschädigung für die Tötung tollwütiger Hunde mit dem Hinweis (S. 361), hier liege eine dem Sacheigentum immanente Sozialbindung vor, die sich auch ohne spezialgesetzliche Regelung unmittelbar aus Art. 14 Abs. 2 GG ergeben würde, der im grundgesetzlichen System — vor allem im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip — dem Eigentümer größere Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber und damit stärkere Beschränkung seiner freien Verfügungsmacht auferlege als früher. Angesichts der grundsätzlichen Wertentscheidung des Grundgesetzes für das Privateigentum, so fährt die Entscheidung fort, dürfe eine Einschränkung im öffentlichen Interesse aber nur so weit gehen, als es der Schutz des Gemeinwohls zwingend erfordere; der Eingriff stehe unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit und dem Ubermaßverbot· (30) Der Beschluß vom 12. Januar 1967 (BVerfGE 21, 87) hatte sich mit Angriffen gegen die Verfassungsmäßigkeit des Genehmigungserfordernisses für Grundstücksverkäufe nach dem Grundstücksverkehrsgesetz zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht entschied dahin (S. 91), eine solche aus gesamtwirtschaftlichen und sozialen Gründen erlassene Vorschrift verletze nicht das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit öder der Vertragsfreiheit. Die Regelung entspreche allgemein dem Soziais taatspTinzip, das auch die Vertragsfreiheit inhaltlich bestimme und begrenze, und der besonderen Sozialbindung des Eigentums. (31) In dem Beschluß vom 17. Januar 1967 (BVerfGE 21, 117) bringt das Gericht (S. 130) die bevorzugte Förderung unterstützungswürdiger und bedürftiger Personen nach den Wohnungsbaugesetzen mit dem Gebot der Sozialstaatlichkeit in Verbindung. (32) Auch für das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit im Regelfall findet das Urteil vom 4. April 1967 (BVerfGE 21, 245) im Sozialstaatsprinzip die Rechtfertigung. Die Aufgabe der Arbeitsvermittlung ge-

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höre su der dem Staat obliegenden, ihm durch das Gebot der Sozialstaatlichkeit vom Grundgesetz auch besonders aufgegebenen Daseinsvorsorge (S. 251). In demselben Urteil (S. 254) wird die Arbeitslosen^ Versicherung als für einen sozialen Staat unentbehrlich bezeichnet, und ähnlich heißt es in dem Beschluß vom 2. Mai 1967 (BVerfGE 21, 362), daß die Arbeiterrentenversicherung einer typischen Aufgabe des Sozialstaats diene, nämlich der zu den Fundamenten unserer sozialen, Ordnung gehörenden Daseinsvorsorge in den Fällen der Erwerbs^ und Berufsunfähigkeit des Versicherten oder des Todes des Ernährers der Familie (S. 375)· (33) Der Beschluß vom 6. Juni 1967 (BVerfGE 22, 83) entwickelt den Gedanken, daß es gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verstoße, im Zivilprozeß einer armen Partei, die nach Bewilligung des Armenrechts die Frist für den Wiedereinsetzungsantrag versäumt habe, keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil die genannten Prinzipien geböten, die prozessuale Stellung von Bemittelten und Unbemittelten weitgehend anzugleichen (Leits. und S. 86, 88). (34) In dem Urteil vom 18. Juli 1967 (BVerfGE 22, 180) über die Verfassungsrügen gegen das Jugend wohlfahrtsgesetz und das Bundessozialhilfegesetz führt das BundesVerfassungsgericht (Leits. 1 und S. 204) aus: Aus dem Sozialstaatsprinzip folge nur, daß der Staat die Pflicht habe, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit" für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. Dieses Ziel werde er in erster Linie im Wege der Gesetzgebung zu erreichen suchen. Keineswegs folge aus dem Sozialstaatsprinzip, daß der Gesetzgeber für die Verwirklichung dieses Ziels nur behördliche Maßnahmen vorsehen dürfe. Art. 20 Abs. 1 GG bestimme nur das „Was", das Ziel, die gerechte Sozialordnung; er lasse aber für das „Wie", d. h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege offen. Deshalb stehe es dem Gesetzgeber frei, zur Erreichung des Ziels auch die Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorzusehen. (35) Der Beschluß vom 6. März 1968 (BVerfGE 23, 135) sieht keinen Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip darin, daß eine Waise nach Auslaufen ihrer Waisenrente kein Recht zur freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung hat (Leits,). Denn ähnlich wie bei der Erhöhung staatlicher Leistungen müsse auch bei der Frage, während welcher Dauer die davon erfaßten Personen in eine begünstigende Regelung einbezogen bleiben müßten, eine Differen1

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zierung nach dem Grad der sozialen Schutzbedürftigkeit zulässig sein (S. 144 f.). (36) Um das Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zu rechtfertigen, räumt der Beschluß vom 29. Juli 1968 (BVerfGE 24, 119) der Respektierung der eigenen Menschenwürde des Kindes und seinem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit den Vorrang vor dem legitimen Interesse der staatlichen Gemeinschaft an der Erziehung des Nachwuchses, allgemeinen Gesichtspunkten der öffentlichen Ordnung oder sozialstaatlichen Erwägungen ein (S. 144). (37) Der Beschluß vom 1. Oktober 1968 (BVerfGE 24, 155) sieht in der Zusammenlegung von Gerichtsbezirken mit der Folge, daß sich dabei der Weg zum Gerichtsort für manche Verfahrensbeteiligte verlängere, angesichts der Entwicklung des modernen Verkehrswesens keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Sozialstaatlichkeit (S. 170). (38) Weiter fand das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluß vom 16. Oktober 1968 (BVerfGE 24, 220) gegen Art. 2 δ 5 Abs. 1 Satz 1 AnVNG, durch den bestimmte Personengruppen von der Fortführung der Weiterversicherung ausgeschlossen wurden, vom Sozialstaatsprinzip her nichts zu erinnern. Gerade die Versicherten, die aus der Pflichtversicherung wegen der Höhe ihres Einkommens oder, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, wegen einer anderweitigen Versorgung ausgeschieden seien, gehörten im Regelfall nicht zu den schutzbedürftigen Personen. (39) In seinem Beschluß vom 13. Mai 1969 (BVerfGE 26, 1) über die Hinzurechnung von Dauerschulden und Dauerschuldzinsen nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 und § 8 Nr. 1 des Gewerbesteuergesetzes sieht der Gerichtshof (S. 7) im Sozialstaatsprinzip kein Verbot, Steuern zu erheben, die von der Leistungsfähigkeit des Inhabers der zu besteuernden Wirtschaftseinheit abstrahieren, zumal wenn eine solche Objektsteuer im Rahmen eines Steuersystems erhoben werde, das der persönlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen in vielfältiger Weise Rechnung trage. Die Regelung, so heißt es in der Entscheidung weiter (S. 10) verstoße auch dann nicht gegen das Sozialstaatsprinzip, wenn man aus diesem die Folgerung ableiten wollte, der Gesetzgeber müsse die kapitalschwächeren Unternehmen steuerlich besser stellen als diejenigen, die über ausreichendes Eigenkapital verfügten; denn das Abzugsverbot für Dauerschuldzinsen stelle keineswegs eine solche Maßnahme dar. (40) Dem Beschluß vom 14. Mai 1969 (BVerfGE 26, 16) lag eine Rüge dahin zugrunde, daß § 6 Abs. 1 der Durchführungs-

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Verordnung zu § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes die zugrunde zu legenden Durchschnittseinkommen zu Unrecht durch die Gehaltssätze von Beamten mit vergleichbarer Berufsausbildung begrenze. Ein Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip, so sagt das Bundesverfassungsgericht (S. 37) liege hierin nicht. Grundsätzlich möge es diesem Prinzip am ehesten entsprechen, bei der Gewährung staatlicher Leistungen den Besonderheiten jedes Einzelfalles und den individuellen Verhältnissen jedes Anspruchsberechtigten Rechnung zu tragen. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen des sozialen Lebens, zu denen auch die Kriegsop ferver sorgung gehöre, sei dies jedoch notwendigerweise nur in einem beschränkten Umfang möglich. Gerade in diesem Bereich seien zugunsten einer vom Sozialstaatsprinzip her zumindest in gleicher Weise gebotenen Praktikabilität und Übersichtlichkeit typisierende und generalisierende Regelungen selbst auf die Gefahr einer Vernachlässigung der Besonderheiten jedes einzelnen Falles hin unumgänglich. Im übrigen werde die Regelung dem Sozialstaatsprinzip gerade dadurch gerecht, daß sie die Interessen der sozial Schwächeren besonders berücksichtige. (41) Schließlich hatte das Bundesverfassungsgericht in dem Beschluß vom 3. Juni 1969 (BVerfGE 26, 44) zu prüfen, ob § 1708 Abs. 1 Satz 1 BGB verfassungsrechtlich insoweit haltbar sei, als er dem unehelichen Kind bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres gegen seinen Vater einen Unterhaltsanspruch gewährt, der in seiner Höhe von der Leistungsfähigkeit des Vaters unabhängig ist. Den Maßstab für seine Beurteilung entnimmt das Gericht dem Art. 6 Abs. 5 GG als Grundnorm für den gesamten Bereich der Stellung des unehelichen Kindes, die insoweit eine besondere Ausprägung der allgemeineren Grundrechtsvorschriften des Art. 3 Abs. 1 und 3 und des Art. 6 Abs. 1 GG wie auch des Sozialstaatsprinzips sei (S. 60). Wenn Art. 6 Abs. 5 GG eine Regelung rechtfertige, die das uneheliche Kind gegenüber dem ehelichen in gewissen Beziehungen begünstige, so sei nicht ersichtlich, wie die Ordnung von Beziehungen, die in erster Linie der Sicherung der Existenz der unehelichen Kinder, d.h. einer sozial schutzbedürftigen Personengruppe diene, dem Sozialstaatsprinzip widersprechen könne. Dieser Verfassungsgrundsatz dürfe nicht dahin ausgelegt werden, daß mit seiner Hilfe jede Einzelregelung, deren Anwendung in bestimmten Fällen zu Härten oder Unbilligkeiten führe, modifiziert werden könnte (S. 61 f.).

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V. Das damit erreichte Ende des Berichts über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Sozialstaatsprinzip wird der Leser mit Erleichterung begrüßen. Aber dieser Bericht mußte gegeben werden, und er mußte vollständig sein. Denn nur so kann das Verständnis dafür erschlossen werden, was das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich wirklich hergibt. Was das Schrifttum hierzu beigetragen hat 14 , bleibt, von gelegentlicher handfester politischer Interessenverfolgung abgesehen, so sehr im Unbestimmten und in subjektiven Betrachtungen über das variationsreiche Thema des Begriffs des Sozialen, daß eine Diskussion in seinem Bereich nicht weniger ermüdend, aber viel weniger fruchtbar sein und weit unverbindlicher enden würde. Wir halten uns statt dessen an das Bundesverfassungsgericht, und zwar nicht nur wegen seiner Autorität und der praktischen Effizienz seiner Auffassungen, sondern vor allem auch deshalb, weil es auf eine nüchterne und sachnahe Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssachverhalten angewiesen war. Da es wirklich keine Gelegenheit versäumt hat, das Sozialstaatsprinzip in Betracht zu ziehen, ist seine während 18 Jahren in vielen Entscheidungen entwickelte Rechtsprechung zugleich repräsentativ für den Kreis der möglichen verfassungsrechtlichen Anwendungsfälle des Sozialstaatsprinzips überhaupt. Das Ergebnis dieser Rechtsprechung allerdings ist bescheiden, was indessen weniger dem Bundesverfassungsgericht anzulasten ist, als in der Sache begründet liegt. Zunächst hat das Bundesverfassungsgericht einige Feststellungen über die juristische Qualität der Sozialstaatsklausel getroffen. Es hält diese Klausel für unmittelbar geltendes Recht und weist ihr die Rolle eines der die Verfassung übergreifenden und durchdringenden allgemeinen Rechtsgrundsätze zu. Sie habe vor allem für die Auslegung des Grundgesetzes wie anderer Gesetze eine wesentliche Bedeutung. Sie bilde einen Teil der „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" und binde insoweit die eingreifende und darreichende Verwaltung. Sie gehöre ferner zur „verfassungsmäßigen Ordnung" im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG, in deren Rahmen sich alle die Freiheit beschränkenden Regelungen halten müssen, von der her diese aber auch legitimiert sind. In diesem Rahmen nun wendet das Bundesverfassüngsgericht das Sozialstaatsprinzip selbst an. In einer bemerkenswert großen Zahl von 1

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Fällen geschieht dies in der schon gekennzeichneten Weise, daß die Sozialstaatlichkeit einfach mit den allgemeinen Erfordernissen des Gemeinwohls gleichgestellt wird, ohne daß hierbei in irgendeiner individualisierenden Weise auf spezifische Momente der „sozialen" Ordnung abgestellt wird. Wo anderseits „soziale" Momente ins Feld geführt werden, werden diese etwa als Berücksichtigung der Schutzbedürftigkeit der Schwachen und Unbemittelten und von Bevölkerungsteilen konkretisiert, die in Bedrängnis geraten sind (heimatvertriebene und amtsverdrängte Beamte, von den Folgen des Hitlerregimes Geschädigte, Beamte bei der Verfolgung ihrer Ansprüche auf standesgemäßen Unterhalt gegen dën Dienstherrn als Gesetzgeber). Es ist sodann davon die Rede, daß es eine sozialstaatliche Aufgabe sei, die Ausnützung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingungen und zu unzulänglichem Lohn zu unterbinden, erträgliche Lebensbedingungen herzustellen oder einen erträglichen Ausgleich widerstreitender Interessen, einen Ausgleich der durch die moderne gesellschaftliche Entwicklung entstehenden Belastungen herbeizuführen, dabei auch auf einen Ausgleich der Klassengegensätze hinzuwirken. Soziale Ausgleichsleistungen sind in erster Linie dorthin zu leiten, wo ein Bedarf festgestellt wird. Der Schutz von Ehe und Familie wird durch die Sozialstaatsklausel in einen besonderen Rang gehoben, die Begünstigung der Kombination von Arbeitseinsatz und Kapitalbeteiligung und das Verbot der Diskriminierung personenbezogener Unternehmungen als im Sozialstaatsprinzip beschlossen erkannt. Den herkömmlichen institutionellen Bestand der Koalitionen und ihrer Funktionen sowie die traditionellen Formen sozialer Sicherung, besonders der Sozialversicherung, hält das Bundesverfassungsgericht durch die Sozialstaatsklausel für verfassungsrechtlich rezipiert. Daß die sozialstaatliche Denkweise egalitäre Züge hat, wird nicht verschwiegen. Etwas weiter ins Grundsätzliche greift das theoretisch reflektierende KPD-Urteil aus: Dem Staat ist der Fortschritt zu „sozialer Gerechtigkeit" aufgegeben. Die staatliche Ordnung muß systematisch auf die Aufgaben der Anpassung und Verbesserung des sozialen Kompromisses angelegt sein, insbesondere Mißbräuche der Macht hemmen; sie muß sich grundsätzlich eine annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und Verteilung der Lasten angelegen sein lassen. Sie muß schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maße verwirklichen.

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Ein kritischer Betrachter könnte geneigt sein, in den dargelegten Urteilssentenzen mehr oder weniger nur Selbstverständlichkeiten ausgedrückt zu finden, zumal sich unschwer feststellen läßt, daß das Bundesverfassungsgericht in keinem der angeführten Fälle aus dem Sozialstaatsprinzip positive oder negative Folgerungen gezogen hat, zu denen es nicht ohnehin gelangt wäre; und doch sind die zitierten Sentenzen nur der Ausdruck dessen, daß sich mehr zur Sache nicht sagen läßt. Mit Recht hat Gerhard Leibholz 15 zu dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erklärend bemerkt, den Richter könne das Bekenntnis zum sozialen Rechtsstaat jedenfalls nur insoweit binden, als dieses jeweils durch eine weitere inhaltliche Präzisierung durch den Gesetzgeber justitiabel gemacht worden sei. Für sich allein enthalte es keinen rational verläßlichen Maßstab, an dem eine rechtliche Entscheidung orientiert werden könne. Das Bundesverfassungsgericht selbst ist sich dessen auch durchaus bewußt und betont deshalb immer wieder, das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates könne nur der Gesetzgeber tun, und zwar in eigenverantwortlicher, nicht vorgeformter Entscheidung. Nur in ständiger Auseinandersetzung aller an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligten Menschen und Gruppen und im Kampf um die Macht im Staate, kurz im verfassungsrechtlich geordneten Prozeß legitimer staatlicher Willensbildung könne ermittelt und bestimmt werden, was jeweils praktisch zu geschehen habe. Genau das hatten auch die Schöpfer des Grundgesetzes vor Augen, und sie wußten es besser als manche, die hinterher versucht haben, die Sozialstaatsklausel als ein deduktiv konkretisierbares Normensystem und als verfassungskräftige Legitimation für ganz bestimmte politische Forderungen und Geltungsansprüche auszuwerten. In diesem Sinne hat die Entwicklung seit der Bonner Staatsrechtslehrertagung von 1953 auch die damals von Ernst Forsthoff vorgetragenen Thesen16 bestätigt: Die Formel „sozialer Rechtsstaat" sei kein Rechtsbegriff in dem Sinne, daß sie einen besonderen Rechtsstaatsbegriff von eigener, institutioneller Prägung und spezifischem materiellem Gehalt bezeichne. Allein aus dieser Formel ließen sich weder Rechte noch Pflichten begründen, noch Institutionen ableiten. Das Bekenntnis zum Sozialstaat sei nur eine Staatszielbestimmung mit programmatischer Bedeutung für den Gesetzgeber, allerdings auch bindender Wirkung für die Rechtsanwendung in Verwal15

Gerhard Leibholz, Verfassungsrecht und Arbeitsrecht, in: Hueck-Leibliolz, Zwei Vorträge zum Arbeitsrecht (1960), S. 37. 16 VVDStRL 12 (1954), S.27ff. = Rechtsstaat im Wandel (1964), S.47ff.

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

tung und Rechtsprechung. Für das Grundgesetz habe es insofern eine besondere Bedeutung, als es eine extrem individualistische Ausdeutung der Grundrechte verwehre. Im übrigen sei dieses Bekenntnis schwerlich als eine wirkliche Entscheidung des Verfassunggebers zu werten, da es nur die Bekräftigung einer Anforderung an staatliches Verhalten bedeute, die auch ohne diese Bekräftigung bestehen würde. Im ganzen schlägt sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialstaatsklausel ebenso wie in deren Entstehungsgeschichte eine zwar ernste, aber auch durchaus schlichte und verhaltene Beurteilung dieser Klausel nieder.

VL Dieses Ergebnis braucht den um die Sozialstaatlichkeit des politischen Gemeinwesens Besorgten allerdings um so weniger zu beunruhigen, als die Kräfte, die die sozialstaatliche Entwicklung weitertreiben, aus sich selbst einen weit stärkeren Schwung entwickeln, als eine als Verfassungsrechtsnorm wirkende Formel jemals vermöchte. Die Bereitschaft der politischen Parteien in Regierungen und Parlamenten, sozialstaatliche Vorkehrungen zu treffen, und die auf solche Vorkehrungen und Leistungen gerichteten Erwartungen der Bevölkerung und der als ihre Sachwalter auftretenden Verbandsmächte begünstigen und steigern sich gegenseitig. Die ständige Beobachtung sozialethischen Verantwortungsbewußtseins steht unter der Kontrolle einer mächtigen öffentlichen Meinung. Die Sorge um die Erhaltung des sozialen Friedens öffnet allen Egalisierungstendenzen weit die Tore. Die objektiven Daseinsbedingungen der industriellen Massengesellschaft endlich, die schon gekennzeichnet wurden, fügen dem allen noch das Moment einer nahezu automatischen Zwangsläufigkeit hinzu. Unter diesen Umständen konzentriert sich das verfassungsrechtliche Interesse um so stärker auf die Frage, ob nicht die sozialstaatlichen Tendenzen überwuchern könnten und wo die Verfassung ihnen Grenzen setzt. Von diesen Grenzen war implizit schon bisher die Rede. Es bedarf aber insoweit noch eines zusammenfassenden Überblicks. 1. Als erstes — mehr in einem negativen Sinne — ist zu nennen, daß keine der konkret erhobenen sozialen Forderungen und angebotenen sozialen Leistungen sich auch nur mittelbar vom Grundgesetz selbst her legitimieren und sich dadurch in irgendeiner Weise Verfassungs-

X I I . Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

rang zuführen kaiin: Ob es sich um Programmpunkte wie Verbesserungen der Sozialversicherung, die Altersversorgung der Landwirte, die Einbeziehung der freien Berufe in eine Zwangsversorgung, die Einführung einfer allgemeinen Volksversicherung, um den weiten Komplex immer mehr fortschreitender Verbesserung der Einrichtungen der darreichenden Verwaltung, um die Mitbestimmungsforderung, um die sog. Vermögens- oder Eigentumsbildung in welcher Form auch immer, um Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmungen, um Ausbau der Sozialpartnerbefugnisse, insbesondere um die Ausdehnung des Bereichs der Tarifautonomie, um Umverteilung der Einkommen und Vermögen, um Ausbildungsbeihilfen und Studentengehalt, um Verwirklichung der in der katholisch-kirchlichen Soziallehre beschlossenen Forderungen oder um was auch sonst handelt —, so ist doch in keinem Falle die Entscheidung hierüber verfassungsrechtlich vorgeformt, sondern ausschließlich dem Befinden der von der demokratischen Verfassung eingesetzten Organe, meist des Gesetzgebers anheimgegeben. 2. Dem Gesetzgeber selbst steht so zwar die Gestaltung der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturordnung ohne Bindung an konkrete Richtlinién hinsichtlich des Zieles offen, aber er wird, wie selbstverständlich ist und wie überdies das Bundesverfassungsgericht wiederholt unterstrichen hat, durch die Normen der Verfassung begrenzt. Solche begrenzenden Normen bieten zunächst die organisationsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes dar. Der Aufbau der Staatsorgane und die politisch-staatliche Willensbildung sind im Grundgesetz abschließend geregelt. Es ist deshalb unstatthaft, das System politisch einflußreicher Verbandsmächte des gesellschaftlichen Bereichs in die Rolle einer Art offizieller oder offiziöser „sozialstaatlicher" Gegenverfassung hineinwachsen zu lassen. Ferner wäre ein gesetzlicher Ausbau der Sozialordnung dahin unzulässig, daß die gesellschaftlichen Verbandsgewalten in die institutionalisierte Staatlichkeit hineingezogen und ihnen entgegen der Verfassung Teile staatsorganschaftlicher oder staatsbehördlicher Aufgabenverantwortung abgetreten würden. Das könnte — um bei naheliegenden Beispielen zu bleiben etwa in der Weise geschehen, daß ein Bundeswirtschaftsrat als Repräsentation der Verbandsmächte maßgeblich in die Entscheidungen der Gesetzgebung oder Regierung eingeschaltet würde, oder dergestalt, daß zu den schon vorhandenen 17 neue Bereiche 17

Zu ihrer institutionellen Gewährleistung durch die Sozialstaatsklaüsel

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

„sozialer" öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltung eingerichtet würden, bei denen es sich in Wahrheit nicht nur um eigene Angelegenheiten körperschaftlich verfaßter sozialer Selbstverwaltungsträger, sondern um allgemeine Aufgaben des Gemeinschaftslebens, also solche des Staates selbst handelt. Mit der Beteiligung der Gewerkschaften im Persönalvertretungsrecht ist ohnehin schon hart die Grenze der Auflösung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung erreicht und gelegentlich wohl sogar überschritten 18. Wieweit es verfassungsrecht- ( lieh zulässig war, unter dem Stichwort Subsidiaritätsprinzip durch das Sozialhilfegesetz und die Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz die verfassungsrechtlich verbriefte kommunale Allzuständigkeit einzuschränken und überhaupt legitime Aufgaben der öffentlichen Verwaltungaus der Hand zu geben, war bis zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1967 (BVerfGE 22, 180) lebhaft umstritten 19 . Kontrovers ist ferner die Frage, ob der Gesetzgeber es geschehen lassen oder gar ausdrücklich begünstigen kann, daß in die Tarifverträge Regelungen über Vermögensbildung oder Mitbestimmung Aufnahme finden. Läßt man das 312 DM-Gesetz dahingestellt sein20, so ist das in aller Regel nicht der Fall. Denn solche Regelungen nehmen sehr leicht den Charakter grundsätzlicher Maßnahmen der „Eigentumspolitik" im Sinne einer planvollen Umverteilung an, bedürfen zudem, um vernünftig und gerecht zu sein, ihrer Anlage nach einer gleichheitlich generalisierenden Ein- und Durchführung und können nur schwer Bindungen individueller Rechtspositionen vermeiden, die durch Tarifvertrag und Allgemeinverbindlichkeitserklärung nicht statuiert werden können. In diesem Falle gehören sie, soweit Rohmer-K ahlmann, Festschr. f. Fr. Lenz (1961), S. 363, 366, und einige der oben unter IV aufgeführten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 18 Nur ein Beispielsfall aus diesem Bereich betrifft BVerfGE 9, 268. 19 Hierzu statt vieler Hans Barion, Die sozialethische Gleichschaltung der Länder und Gemeinden durch den Bund, Der Staat 3 (1964), S. 1 ff. 20 Zu ihm etwa Werner Flume , Die rechtliche Problematik breiter Vermögensbildung, Der Betrieb, 1965, 405 ff.; Ernst Forsthoff, Der Entwurf eines Zweiten Vermögensbildungsgesetzes, BB 1965, 381 ff.; Winfried Haase, Das Zweite Vermögensbildungsgesetz, BB 1965, 797 ff.; Wilhelm H er schei, Zu einer Kritik am Regierungsentwurf des Zweiten Vermögensbildungsgesetzes, Sozialer Fortschritt, 1965, 125 ff.; Werner Weber, Unzulässige Einschränkungen der Tariffreiheit, BB 1964, 764 ff. Zu dem Problem im ganzen vor allem die Beiträge von Walter Bogs, Arnold Röttgen, Wilhelm Reuß und Georg Wannagat, in: Georg Leber, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Wissenschaftliche Beiträge, Dokumentation 3 (1965); ferner Georg Leber, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Ein Programm und sein Echo (1964).

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überhaupt zulässig, in den Bereich der Staatsgesetzgebung und nicht der Tarifautonomie. Sollte man aber versuchen, die Tarifautonomie ad hoc durch gesetzliche Ermächtigung zu erweitern, so würde dem sofort die Delegationsregelung des Art. 80 Abs. 1 GG eine Schranke setzen. Der Bereich der Tarifautonomie in seinem kollektiv-institutionellen Verständnis ist durch Art. 9 Abs. 3 GG abgesteckt und auf die Vereinbarung von Lohn- und Arbeitsbedingungen beschränkt. Er kann auch unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip weder aus eigenem Entschlufi der Tarifpartner noch durch den Gesetzgeber erweitert werden. Schon eine Betätigung der Tarifautonomie, die in ihren faktischen Konsequenzen die vom Staat zu verantwörtende allgemeine Wirtschafts- und Sozialordnung evident den Zielen der Staatspolitik entgegen in Mitleidenschaft zöge, wäre verfassungsrechtlich illegitim. 3. Wenn man verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Fordederungen und Entwicklungstendenzen ermittelt, wird man aber nicht nur an die organisationsrechtlichen Bestimmungen der Verfassung 21, sondern vornehmlich an die Grundrechte denken. Einige Grundrechte sind allerdings, wenn man es so ausdrücken darf, rechts- und sozialstaatlich ambivalent. Auf die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) kann der Apologet der individuellen Freiheit sich mit gleich guten Gründen berufen wie der um eine leistende Fürsorge für die Hilfsbedürftigen Besorgte. Der Gleichheitssatz ist in der Auslegung, die heute herrschend geworden ist 22 , je nach den politischen Vorentscheidungen sowohl für eine egalisierende wie sachlich differenzierende Handhabung offen, ohne von sich aus diese Alternative nennenswert zu beeinflussen. Wesentlicher ist für unseren Zusammenhang die Freiheitsgarantie (Art. 2 Abs. 1 GG). Bei flüchtiger Betrachtung scheint allerdings auch sie gegenüber sozialstaatlichen Forderungen nicht viel herzugeben. Denn wenn die freie Entfaltung der Persönlichkeit darin nur nach Maßgabe der „verfassungsmäßigen Ordnung" gewährleistet ist, zu dieser aber das Sozialstaatsprinzip als integrierender Bestandteil gehört, dann würde die individuelle Freiheit leicht den Kürzeren ziehen. Indessen ist in Erinnerung zu rufen, daß die menschliche Freiheit in Art. 2 Abs. i GG garantiert ist, um respektiert und nicht um 21 Zu ihnen auch Arnold Köttgen, Der soziale Bundesstaat, in: Festschr. f. Muthesius (1960) S. 19 ff.; Werner Weber, Organisationsprobleme des sozialen Bundesstaates, Deutsche Rentenversicherung 1969, 121 ff. 22 Vgl. als repräsentativ den Bericht von H.~J. Rinck über die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gleichheitssatz, in: JöR 10 (1961), S. 271 ff.

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eingeschränkt zu werden und daß sie auch und gerade im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung nur nach Maßgabe des aus Gründen des übergeordneten gemeinen Wohles Erforderlichen und nach dem rechten Verhältnismaß begrenzt werden kann. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht zwar im Prinzip anerkannt (BVerfGE 6, 32; 8, 328; 9,11; 10, 89; 11, 163), indessen ohne daraus im Einzelfall nennenswerte Konsequenzen zu ziehen. Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) haben in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom Sozialstaatsprinzip her interessanterweise gerade eine wesentliche Rangsicherung erfahren, so daß insoweit das Sozialstaatsprinzip einer eher konservativen Tendenz dienstbar geworden ist. Die freiheitlichen Elemente der Koalitionsfreiheit konnten bisher in ausgewogener Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG gegenüber den Versuchen, sie unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip durch einen Koalitionszwangskollektivismus zu verdrängen, im Kerne bewahrt werden. Die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) ist seit dem Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 7, 377) betontermaßen im Bewußtsein ihrer besonderen Bedeutung in einer sozialstaatlich determinierten Welt derart ausgeformt worden, daß sie gerade nach dieser Richtung mit einer spezifischen freiheitssichernden Wirkungskraft ausgestattet ist. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG hingegen befindet sich in einer zwiespältigen Rolle. Einerseits erfreut sie sich in der eigentumsordnenden Gesetzgebung einer durchaus pfleglichen Behandlung derart, daß ihre eigene, die des Art. 20 verdrängende „Sozialstaatsklausel" (Abs. 2) keineswegs zu einer Uberdehnung der zulässigen Eigentumsbindungen geführt hat und insoweit die Gefahr einer Auflösung des Eigentumsinstituts als solchen nicht erkennen läßt. Anderseits verharrt die Handhabung der Eigentumsgarantie bislang so sehr beim bloßen Schutz individueller Rechtspositionen, daß sie gegen ihre sozialstaatliche Unterwanderung nichts Durchschlagendes ausrichtet, worauf gleich noch zurückzukommen ist. 4. Im ganzen nützt der Rückhalt an den einzelnen Grundrechten gegenüber dem in der sozialen Wirklichkeit und in der Staatspraxis herrschenden sozialstaatlichen Trend nur wenig. Denn der traditionsgebundene Schutz dieser Grundrechte richtet sich — nicht allein bei der Eigentumsgarantie — allzu sehr nur gegen individuelle Beeinträchtigungen, vornehmlich der Eingriff s Verwaltung, und funktioniert auch nur in diesem Bereich. Gegenüber der Expansion sozialstaatlicher Tendenzen ist er im wesentlichen machtlos. Wie wenig gegenüber wirtschafts- und sozialordnenden Regelungen mit der Berufung

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XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

auf einzelne Grundrechte auszurichten ist, zeigt das unergiebige Hantieren mit solchen Grundrechten etwa in der Investitionshilfeentscheidung (BVerfGE 4, 7), dem Feldmühlenurteil (BVerfGE 14, 263), dem Erftverbandurteil (BVerfGE 18, 89) und den Urteilen über das Kindergeld (BVerfGE 11, 105) und das Fremdrentengesetz (BVerfGE 14, 221) mit voller Deutlichkeit. Auch die formalen Sicherungen des Rechtsstaatsprinzips balancieren den sozialstaatlichen Trend nicht aus, weil sie auf dessen Methoden nicht zugeschnitten sind. Zu diesen Methoden gehören vor allem ein großer, permanenter und höchst vielgestaltiger Vermögens- und Einkommensumverteilungsprozeß und die Unterhaltung einer verzweigten sozialstaatlichen Apparatur mit dem Effekt, daß die wirtschaftliche und kulturelle Lebensgestaltung immer mehr der freien Verantwortung und Initiative des einzelnen entzogen und in eine kollektive Bedürfnisbefriedigung und Lebenssicherung abgewandelt wird. Dieser Vorgang aber wird, von der Abschöpfungswirkung einer schleichenden Inflation abgesehen, finanziert aus dem erheblichen Anteil an dem Sozialprodukt, den sich der Staat — dieser im weitesten Sinne verstanden — durch Abgabenerhebung (Steuern, und vor allem Ausgleichsabgaben sowie Interessenten- und Solidaritätsbeiträge der verschiedensten Art) sichert, worauf schon Forsthoff 23 hingewiesen hat. Gegen die hoheitlichen Zwangsabgaben gibt es indessen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Grundrechtsschutz, ebenso nicht gegen die Ausgabenpolitik der öffentlichen Haushalte, also gibt es ihn auch nicht gegen alle jene Umverteilungen. Die dem Bundesverfassungsgericht mehrfach gebotene Chance, weitreichende gesetzgeberische Umverteilungsaktionen unter dem Gesichtspunkt des Eigentumsschutzes zu überprüfen, hat es immer wieder ausgeschlagen, sofern nur der nehmende Akt in die Form einer öffentlichen Abgabenerhebung eingekleidet war, weil seine Auslegung des Art. 14 GG darauf beharrt, daß die Auferlegung öffentlicher Abgaben eigentumsrechtlich immer irrelevant sei 24 . So ist es um die verfassungsrechtliche Hemmung und Ausbalancierung sozialstaatlichen Ubermaßes schlecht bestellt, und auch auf den Ausgleich kraft politischer Vernunft ist insoweit nach aller Erfahrung wenig Verlaß. Und doch ist es unbestrittenermaßen das Fundament 23

VVDStRL 12 (1954), S.32 = Rechtsstaat im Wandel, S.52f. So BVerfGE 4, 7 (17); 8, 274 (317, 330); 10, 89 (116); 10, 354 (371); 11, 105 (126); 14, 221 (241, 242); 16, 147 (187); 19, 119 (128 f.); 19, 253 (268). 24

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

der geltenden Verfassungsordnung, daß ihre freiheitlichen und sozialstaatlichen Elemente prinzipiell gleichen Rang haben sollen, daß in ihnen die uralte Polarität von Individuum und Gemeinschaft ausgehalten und zu einem Ausgleich, notfalls zu einem Kompromiß gebracht werden soll, bei dem die Freiheitlichkeit der persönlichen Existenz und des politischen Gemeinwesens nicht preisgegeben wird. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt auf die „unaufhebbare und grundsätzliche Spannungslage zwischen dem Schutz der Freiheit des einzelnen und den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung" hingewiesen. Die Verfassung gründet sich mit besonders starkem und auch echt gemeintem Pathos auf das Prinzip der individuellen Freiheit und der politischen Freiheitlichkeit; aber mit ihren traditionellen, diese Freiheit sichernden Mitteln, dem Rechtsstaatsprinzip und einer individualistisch isolierenden Handhabung ihrer Grundrechte vermag sie der mächtigen Expansion sozialstaatlicher Tendenzen kein Gegengewicht zu bieten, weil diese Mittel den Erscheinungsformen und Methoden des Sozialstaats inkommensurabel sind. So gewährleistet die Verfassung nicht mehr das Gleichgewicht zwischen den beiden konstituierenden Prinzipien und nicht mehr die fruchtbare Spannung zwischen ihnen, obwohl sie sich auf dieses Gleichgewicht gründet. Ein Ausweg und insoweit eine restitutio der Verfassung in integrum bietet sich darin dar, daß man Auslegung und Anwendung der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips weiter ausgreifen läßt als bisher und sich stärker differenzieren läßt. Solche Wendungen, die offene Flanken in den Freiheitssicherungen der Verfassung schließen sollten, haben sich schon wiederholt vollzogen, und wir selbst haben einige von ihnen miterlebt und mit herbeigeführt. In diesem Zusammenhang ist etwa die Aktualisierung der Grundrechte zu unmittelbar geltenden Normen und die Ausdehnung der Front der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips von der Exekutive auf den Gesetzgeber selbst (Art. 1 Abs. 3 GG), ferner das Anliegen der Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte zu nennen, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 7, 198 [204 f.]) mit der Anerkennung des Grundrechtsabschnitts als einer objektiven Wertordnung aufgefangen hat. Besonders charakteristisch im Sinne der angedeuteten Entwicklung ist aber der beharrlich fortschreitende Prozeß, ursprünglich streng individuell verstandene Grundrechte dadurch den Bedingungen des „Sozialstaats mit Massen-Daseins Vorsorge industriell hochentwickelter Gebiete" (Carl Schmitt) anzupassen, daß neben dem Individualrecht-

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liehen ihr institutioneller Funktionsgehalt ans Licht gehoben wird. So hat sich etwa seit Rudolf Smends Referat auf der Münchener Staatsrechtslehrertagung 192725 das Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG) immer stärker zu einem „Grundrecht der Universität" hin entwickelt, das neben der individuellen Forschungs- und Lehrfreiheit des Gelehrten auch bestimmte organisatorische Strukturen der Universität und die akademische Selbstverwaltung in sich begreift 26 . Im Fernsehen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 12, 205) ist im Hinblick auf die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG), die als individuelle Freiheiten nicht viel hergeben, schon wie selbstverständlich von „institutionellen Freiheiten" die Rede (S. 260 f.), und für das Massenkommunikationsmittel des Rundfunks werden daraus ganz bestimmte organisatorische Folgerungen für die Rundfunkträger im Sinne einer strukturell neutralisierenden Absicherung abgeleitet (S. 261 ff.). Weiterhin ist die institutionelle Ausdeutung der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG (Sozialpartnerschaft, Tarifsystem, Tarifautonomie) seit langem gefestigt 27 . Auch die Gegenwartsbedeutung der Privatschulfreiheit (Art. 7) und der Gewährleistung der Ehe und der Familie (BVerfGE 6, 55 [71 ff.]), in der der individuell-grundrechtliche Ausgangspunkt sich zu Instituten und Institutionen der öffentlichen Gemeinschaftsordnung überhöht findet, ist in diesem Zusammenhang zu nennen, ganz abgesehen von den eigentlichen „institutionellen Garantien", die schon von der Weimarer Verfassung her überkommen sind 28 . Daß ferner die freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1) nur dann effektiv ist, wenn das Gemeinwesen ein in Variationsbreite und Kapazität ausreichendes System neuzeitlicher Ausbildungsstätten bereit25

VVDStRL 4 (1928) S.44ff. Zusammenfassend Arnold Röttgen, Das Grundrecht der deutschen Universität (1959); ferner Werner Weber, Neue Aspekte der Freiheit von Forschung und Lehre (1969), auch in der Festschr. f. W. Felgentraeger (1969) S. 225 ff.; Franz-Ludwig Rnemeyer, Lehrfreiheit (1969). 27 BVerfGE 4, 96; 18, 18; Werner Weber, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem (1965); Franz-Jürgen Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit (1969) ; Franz Gamillsdieg, Koalitionsfreiheit und soziale Selbstverwaltung (1968); Hans G al per in, Die Stellung der Gewerkschaften im Staatsgefüge (1970). 28 Die Lehre von den institutionellen Garantien hat Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre (1928) entwickelt und 1931 (Freiheitsrechte und; institutionelle Garantien = Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958 S. 140 ff.) ausgebaut. Dazu auch Gunther Abel, Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien des Bonner Grundgesetzes (1964). 26

XII. Verfassungsrechtliche Grenzen sozialstaatlicher Forderungen

hält, liegt auf der Hand. In alledem manifestiert sich eine Zwangsläufigkeit, die in den Seinsbedingungen von Staat und Gesellschaft in der Gegenwart begründet liegt. Auf sie hat Carl Schmitt in seinen „Verfassungsrechtlichen Aufsätzen" (1958, S. 171 ff., 230 f.) die Aufmerksamkeit gelenkt, auch mit dem Hinweis, daß der Gedanke der Komplementär- und Konnex-Garantien mehr Beachtung verdiene, als er bisher gefunden habe (S. 173). Für die allgemeine Freiheitsgewährleistung (Art. 2 Abs. 1 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) ist der Schritt zu institutionellen Komplementär- oder Konnexgarantien noch nicht getan, obwohl hier eine besondere Dringlichkeit dazu gegeben ist und obwohl das Grundgesetz selbst in seinem Bekenntnis zur „freiheitlichen demokratischen Gründordnung" (Art. 18, 21 Abs. 2) die Hinwendung zu einer mehr institutionellen Auffassung dieser für die Sozialordnung fundamentalen Garantien nahelegt. Es gehört zum rechten Verständnis der Funktion der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips und zu ihrer Sinnerfüllung, sie gegen die jeweilige Bedrohung und im Sinne ihrer jeweils notwendigen freiheitssichernden Wirkung ausschwenken zu lassen. Das liefe in unserem Zusammenhang nach dem Gesagten darauf hinaus, neben der nach Schutzobjekt und Sachverhalt isolierenden traditionellen Anwendung der einzelnen Grundrechte und einzelner Auswirkungen des Rechtsstaatsprinzips mehr als bisher geschehen den ordnungstiftenden Gesamtzusammenhang des Grundrechtskodex und des Rechtsstaatsprinzips ins Spiel zu bringen. Es gälte also, in dem angedeuteten Sinne die Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 1 GG wirklich effektiv zu handhaben und die Eigentumsgarantie auch gegen Aushöhlung durch moderne Praktiken der Umverteilung stärker wirksam zu machen. Das setzt voraus, die Freiheitsrechte und die Eigentumsgarantie konsequenter und umfassender als in den bisherigen Ansätzen im Sinne institutioneller Gewährleistungen zu verstehen und auf diese Weise ein verfassungsgerichtlich justitiables Grundprinzip der Freiheitlichkeit der Sozialordnung ans Licht zu heben, das der sozialstaatlichen Gegenposition kommensurabel ist.

X I I I . Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus

L Daß die Bundesrepublik Deutschland ein föderalistisches Staatswesen ist, hat sich dem Bewußtsein ihrer Bewohner als eine feste Formel eingeprägt. Denn ihr föderalistischer Charakter wird in staatsamtlichen und politischen Äußerungen oft genug und meist mit etwas forcierter Nachdrücklichkeit betont. Die ständige Wiederholung scheint nötig, um etwas zur Anerkennung zu bringen, was nicht schon aus sich selbst überzeugend wirkt. In der Tat hat der Föderalismus in der großen Masse der Bevölkerung kein lebendiges Echo; man nimmt ihn mehr hin, als daß man ihn bejaht. Manchmal erinnert man sich seiner dankbar, wenn man sich über Züge einer Monokultur in der zentralen Bonner Politik ärgert; in anderen Fällen findet maii die föderalistischen Besonderungen kleinlich und hemmend und die föderalistischen Querelen, die allzu oft auf der politischen Bühne aüsgetragen werden, unnütz. Daß die eigentliche Bestimmung über unser politisches Schicksal nicht in den Ländern der Bundesrepublik, sondern im Bunde ihren Sitz hat, wenn sie sich nicht gar schon auf andere Zentren der europäischen Integration und der westlichen Welt — etwa Brüssel und Washington — verlagert hat, ist jedem gegenwärtig, und daran richtet der Zeitgenosse sein politisches Koordinatensystem aus. Die Bundesländer, die doch die eigentlichen Elemente des innerdeutschen Föderalismus sind, hat er dabei nicht im Schnittpunkt seiner politischen Interessenlinien. Aber diese verbreitete und übrigens verständliche Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen des deutschen Föderalismus darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in diesem doch eine erhebliche politische Realität steckt, in der sich positive und negative Momente miteinander verbinden. Auch darf man das eben gekennzeichnete Gesamturteil nicht allzu sehr verallgemeinern. Es gibt heute auch entschiedene Verfechter des Föderalismus, während die Unitarier schweigsamer geworden zu sein scheinen. Jedenfalls gilt es heute als schicklich, unitarische Auffassungen nur in der Weise kundzutun, daß man sie mit schuldigem Respekt vor dem föderalistischen Prinzip verbrämt.

X I I I . Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus

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Schon das durchschnittliche Urteil der Bevölkerung ist nicht ganz einheitlich. In Bayern hat eine unreflektierte föderalistische Gesinnung ihren verständlichen Grund in der Tatsache, daß dieses Land seit eineinhalb Jahrhunderten — auch in der Abwehrhaltung gegen das starke und dynamische Preußen — eine konzentrierte, funktionierende Staatlichkeit entwickelt und diese über alle Zwischenfälle des politischen Schicksals bis heute bewahrt hat. In Norddeutschland, besonders etwa in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein, ist zwar ein ausgeprägtes Heimatgefühl zu Hause, ist politisch aber das gesamtstaatliche Bewußtsein stärker als der Hang zu partikularstaatlichen Besonderungen. In den außerbayerischen Teilen Süd- und Südwestdeutschlands, vor allem jenseits des Limes, hat geschichtliche Kleinstaatlichkeit und Wechselhaftigkeit die politischen Horizonte enger abgegrenzt. Über dieser allgemeinen und nicht sehr dezidierten Grundhaltung der Bevölkerung erheben sich aber präzisere Stellungnahmen zu unserem Problem. Es gibt eine Gesellschaftsauffassung oder Weltanschauung des Föderalismus, die sehr profilierte Vertreter hat. Damit sind nicht etwa regional verortete politische Gruppen oder gliedstaatliche Partikularisten gemeint — ihre Bedeutung ist überall im Absinken —, sondern die Verfechter des Föderalismus als eines allgemeinen Prinzips menschlicher und politischer Gemeinschaftsbildung überhaupt. Für sie ist der staatsrechtliche Föderalismus der Bundesrepublik nur ein Anwendungsfall ihrer sozialphilosophischen Grundanschauungen, der aber deren Ziele nicht erschöpft. Davon wird noch die Rede sein. Mehr im Vordergrund stehen diejenigen Gruppenbildungen, die man als aktuelle Interessenten des Föderalismus bezeichnen kann, weil sie sich mit den konkreten Vorzügen arrangiert haben, die sie im Föderalismus der Bundesrepublik für sich angelegt finden. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates 1948/49 war man, obwohl an deutscher Staatlichkeit bis dahin nichts vorhanden war als die neugebildeten Länder, von denen freilich nur Bayern traditionelle Staatlichkeit aufwies, noch von der Notwendigkeit einer stärker unitarischen Strukturierung der zu schaffenden Bundesrepublik durchdrungen. Die Besatzungsmächte, vor allem die Vereinigten Staaten und Frankreich, mußten deshalb einige Mühe aufwenden, um in der Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Finanzordnung des Grundgesetzes die Föderalisierung und „Dezentralisierung" der politischen Struktur 1

eber

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X I I I . Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus

Deutschlands durchzusetzen, die sie schon im Potsdamer Protokoll von 1945 und dann in dem Frankfurter Dokument Nr. 1 vom 1. Juli 1948 vorgezeichnet und danach wiederholt eingeschärft hatten. Seither hat sich das Blatt gewendet. Die politischen Parteien können heute sämtlich als teils temperierte, teils freudige Befürworter des Föderalismus gelten. Denn dieser hat ihnen durch die Formierung der Länder als Staaten mit parteipolitischen Pariameriten und Regierungen eine außerordentliche Verbreiterung ihres Einflusses, vor allem auch auf die Verwaltung, eingetragen, den sie nicht hätten, wenn die Länder etwa den Charakter von Provinzen trügen und ihre zentralen Dienststellen nicht politische Regierungen und Parlamente, sondern Verwaltungsbehörden wären. Der Föderalismus hat sich geradezu als Schrittmacher für die Ausdehnung und Verfestigung des Parteièneinflusses im Staat erwiesen. Natürlich gibt es in der Haltung der Parteien zu unserem Problem Nuancierungen. Die bayerische CSU gründet sich von Hause aus auf eine föderalistische Ausgangsposition. Die CDU ist in einer zwiespältigen Lage, weil sie — zusammen mit der CSU — als lange Zeit beherrschende und immer noch größte Partei in der Bundesrepublik auf unitarische Konzeptionen verwiesen ist, während sie zugleich der Unterstützung durch diejenigen Länder, in denen die CDU gleichfalls ausschlaggebend ist, bedarf-und insofern aus einer politischen Stärkung der Länder Nutzen zieht. Dazu ergeben sich für sie manche regional-konservativen und regional-konfessionellen Bindungen. Auch die FDP konnte, solange sie in der Bundesregierung nicht vertreten war, wenigstens in einigen Ländern als Regierungspartei mitwirken und hat sich dadurch zu einem positiveren Urteil über den Föderalismus bestimmen lassen, Die SPD endlich, ihrer ganzen Tradition nach unitarisch bestimmt, mußte dadurch zu einem Freunde des Föderalismus werden, daß sie sich in der Bundesrepublik langfristig auf die Rolle der Opposition verwiesen sah und dank der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik wenigstens in einer Anzahl von Ländern eine Landeshausmacht begründen, dort zur „Regierung" kommen und von da aus über den Bundesrat auch auf die Bundespolitik aktiy Einfluß nehmen konnte. Die Bürokratie pflegt im allgemeinen eine uiiitarische Grundhaltung. Bei der Bundesbürokratie, die durch den Föderalismus stark in Spezialistentum und sachferne Sehreibtischexistenz abgedrängt ist, versteht sich das ohne weiteres. Aber auch die Bürokratie der Länder leidet weithin unter der Verdrossenheit, daß der Föderalismus ihr zu

X I I I . Die Gegenwartslage des deutschen Föderalismus

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viele Hemmungen auferlegt, sie vor allem in der Personalpolitik und in den Aufgaben in zu enge Bereiche einkapselt. Nur die höhere Ministerialbiirokratie der Länder und insbesondere ihrer Staatskanzleien macht hierin eine Ausnahme. Sie ist von ihrer letztinstanzlichen ministeriellen Position aus und weil ihr der Bundesrat, in diesem Zusammenhang gelegentlich als „Parlament der Oberregierungsräte" apostrophiert, die Plattform für eine intime Mitwirkung an den Geschäften der Bundespolitik liefert, zum natürlichen Anhänger des Föderalismus gestempelt, in welcher Eigenschaft sie übrigens durchweg hohe Sachkunde mit unbestreitbar positiven Wirkungen, für die Bundespolitik ins Spiel bringt. Daß die Landesregierungen als solche auf der Seite des Föderalismus stehen, ist ohne weiteres einleuchtend; denn Landesregierung zu sein, ist ihr Lebenselement. Mehr verschwiegene Anhänger des Föderalismus sind weiter etwa die wissenschaftlichen Hochschulen, oder sie waren es mindestens zeitweilig. Denn weil sie zum Zuständigkeitsbereich der Länder gehören, ziehen sie ihren Nutzen aus dem Wettbewerb der Länder. Das gilt allerdings weniger für die materiellen Interessen als für die Berufungspolitik, die dank der Konkurrenz der Länder in außerordentlich hohem Grade neutralisiert und versachlicht ist. Mit der Versachlichung der Personalpolitik bringt der föderalistische Charakter des Hochschulwesens auch eine echte Respektierung der Autonomie der wissenschaftlichen Hochschulen mit sich. Wäre die Hochschulpolitik in einem Ministerium des Bundes konzentriert, so sähe sich die akademische Selbstverwaltung in Personal- und Sachfragen einer weit schwierigeren Lage gegenübergestellt. Dieses Beispiel zeigt aber zugleich, daß man sich bei der Alternative Unitarismus — Föderalismus immer in einem Zwiespalt befindet. Mit der föderalistischen Aufgliederung ge^ winnt man manche Vorzüge; man verlieft dabei leicht die notwendige Einheitlichkeit, den weiteren Horizont und die stärkere politische und materielle Kraft des größeren Gemeinwesens. Die Ubersicht über die Interessenten des Unitarismus und des Föderalismus liefert daher keine überzeugenden Maximen für ein gerechtes Urteil. Am wenigsten durchschlagend ist der betonte Neöföderalismus und das forcierte Selbstbewußtsein derjenigen Länder, denen der Zufall der Ländergliederung nach 1945 eine hohe Finanzkraft in den Schoß geworfen hat, womit anderseits dem unitarischen Altruismus der weniger begüterten Territorien, die wegen ihrer Schwäche Anlehnung am Bunde suchen, kein besonderes Lob erteilt werden soll. *

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XIII.

e Gegenwartslage des deutschen Föderalismus

Immerhin macht diese tour d'horizon über die gemeinhin anzutreffenden Einstellungen zum Problem Unitarismus — Föderalismus deutlich, daß der Föderalismus der Bundesrepublik weniger Motivationen von der Eigenart, Besonderheit, Ursprünglichkeit und Eigen Wertigkeit der Bundesländer selbst her empfängt als von anderen Interessenlagen1.

II. 1. Wer heute für den Föderalismus eintritt, kann sich nicht mehr auf eine historische gliedstaatliche Eigenständigkeit und eine traditionsbegründete politische Besonderung der Bundesländer berufen, wie es bei der Reichsgründung 1871 natürlich und bei der Verfassungserneuerung von 1919 noch möglich war. Von den heutigen Ländern der Bundesrepublik besitzt nur Bayern eine eigenstaatliche Kontinuität und auch nodi eine beträchtliche eigenständige Substanz. Eine ähnliche Kontinuität ließe sich bei Bremen und Hamburg feststellen; aber das sind von jeher freie Reichsstädte, also, wie der Name treffend sagt, mehr große städtische Gemeinwesen mit Immediatstellung in Reich und Bund als Flächenstaaten und „Länder". Die übrigen Bundesländer: Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein — um Berlin hier beiseite zu lassen — haben ihre territoriale Form und ihre Landesstaatlichkeit erst nach 1945, unter der Besatzungsherrschaft und nach den Zufälligkeiten der Besatzungszoneneinteilung gewonnen; bezeichnenderweise bedienen sich drei von ihnen eines neu erfundenen und etwas verlegenen Doppelnamens. Die Schöpfer des Bonner Grundgesetzes waren nicht glücklich bei der Betrachtung dieser Gebilde, und sie stellten deshalb in Art. 29 GG ein Programm ihrer Neugliederung auf 2 . Aber nur durch Zusammenschluß der Länder 1

Zum Problem im ganzen oben S. 57ff. und die Schrift des Verfassers „Die Verfassung der Bundesrepublik in der Bewährung" (1957) S. 16 ff.; ferner — mit breiter Heranziehung des sonst vorhandenen Schrifttums — Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat (1962) und Ulrich Sdieuner, Wandlungen im Föderalismus der Bundesrepublik, DÖV 1966, 513 ff.; ferner Wieland Hempel, Der demokratische Bundesstaat (1969) und Walter Rudolf, Bund und Länder im aktuellen deutschen Verfassungsrecht (1968). 2 Dazu näher: Die Neugliederung des Bundesgebietes. Gutachten des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenausschusses, herausg. vom Bundesministerium des Innern (1955); Die Bundesländer. Beiträge zur Neugliederung der Bundesrepublik, herausg. vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten (1950). Vgl. ferner die umfangreiche Schrifttumsüber-

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Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Südbaden zu dem „Südweststaat" Baden-Württemberg ist ein Teil dieses Programms verwirklicht 3 , und auch dieser Fall ist angesichts des Widerstrebens Südbadener Kreise noch nicht ganz zur Ruhe gekommen4. Alle übrigen Ländergrenzen sind eingefroren, obwohl man weiß, daß sie ohne Unterkühlung an manchen Stellen im Fließen wären. Es liegt nahe zu fragen, ob das kleine Saarland neben Rheinland-Pfalz noch eine selbständige Existenzberechtigung als Bundesland hat. RheinlandPfalz selbst hat neuralgische Grenzen zu Hessen und zu NordrheinWestfalen, und es ist nodi nicht ausgemacht, ob es überhaupt so, wie es ist, wirklich auf die Dauer bestehen kann. Die Formierung Schleswig-Holsteins als selbständiges Land stand seinerzeit unter der Erwartung, daß es bald mit dem benachbarten Mecklenburg zusammenwachsen könne; leider mußte es noch ein Fragment bleiben. Wie dem audi sei, so kann doch, immer von Bayern abgesehen, keine Rede davon sein, daß hier altüberlieferte Staatlichkeiten dem Bunde gegenüberständen. Die Bundesländer, mögen sie in ihrem Zuschnitt besser gelungen sein, wie Niedersachsen, oder weniger gut, wie RheinlandPfalz und das Saarland, haben sich trotz zwei bis drei Jahren Gründungsvorsprung vor der Bundesrepublik erst als deren Glieder als das konsolidiert, was sie heute sind. Unter dem Gesichtspunkt der historischen Ursprünglichkeit und Priorität haben sie gegenüber dem deutschen Gesamtstaat, der Bundesrepublik, keinen Vorrang und kaum einen legitimen Anspruch auf selbständige Staatlichkeit. Das bedeutet allerdings nicht, daß es in der Bundesrepublik keinen Föderalismus geben dürfe, sondern nur, daß dafür andere Rechtfertigungen gesucht werden müssen, als sie dem Föderalismus des Bismarckreiches zugrunde lagen.

sieht bei Ό. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Bd. 2 (1959) S. 717 ff. 3 Entscheidend das Zweite Gesetz über die Neugliederung in den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern vom 4. Mai 1951 (BGBl. I S. 284); dazu im einzelnen die Dokumenten Veröffentlichung des Instituts für Staatslehre und Politik e.V. in Mainz „Der Kampf um den Südweststaat" (1952). 4

Hierzu das Gutachten der Professoren Herbert Krüger, Karl. H. Neumayer und Hans Schneider „Baden-Württemberg oder Baden und Württemberg", Bd. 4 der Hamburger öffentl.-rechtlichen Nebenstunden (1960). Mit der Neufassung des Art. 29 GG durch das 25. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1241) hat die Neugliederungsfrage einige ergänzende Züge bekommen.

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2. Das Hauptargument, das heute für den Föderalismus ins Feld geführt wird und das auch alle Redner auf der großen Mainzer Tagung des Bundes Deutscher Föderalisten im März 1961 in den Vordergrund rückten 5, ist das der Gewaltenteilung6. Die Aufteilung der staatlichen Herrschaftsbefugnisse auf die Bundesrepublik einerseits und eine Mehrzahl von Ländern anderseits bewirkt in der Tat eine Temperierung des staatlichen Machtziigriffs, wie sie der Gewaltenteilungsgedanke von jeher verfolgt. Daß das Gewaltenteilungsprinzip in seiner klassischen „horizontalen" Form, nämlich als Balance zwischen monarchischer Exekutive und demokratischer Legislative, in einem Verfassungssystem, in dem Regierung und Parlamentsmehrheit politisch identisch sind, seine ursprüngliche Überzeugungskraft eingebüßt hat, ist uns seit langem gegenwärtig 7. Um so mehr wird der Anhänger des Gewaltenteilungsgedankens auf Ersatzlösungen bedacht sein, und eine solche bietet der Föderalismus als ein Anwendungsfall sogenannter „vertikaler Gewaltenteilung". Der Bundeswille kommt in vielen Beziehungen, vor allem bei der Bundesgesetzgèbung, in der Haushaltspolitik, aber auch bei grundlegenden Verwaltungsentscheidungen, nur unter der Mitwirkung des Bündesrates zustande, und im Bundesrat treten der politischen Willensbildung von Bundestag und Bundesregierung vielfach andere parteipolitische Konstellationen, ferner der erfahrene Sachverstand der Länderbürokratien, die unmittelbare SachVerantwortung der Länderminister und überhaupt andersartige, meist konkretere Betrachtungsweisen gegenüber. Dadurch werden oftmals Einseitigkeiten und Übereilungen in der Bundespolitik verhindert. Da sich beim Bunde die Gesetzgebung, bei den Ländern aber die Verwaltung konzentriert, bringt die föderalistische Zustän^ digkeitsverteilung sogar die alte Unterscheidung von Legislative und Exekutive in neuer Art zur Darstellung. Auch sonst sind Bund und Länder, weil jeder innerhalb der Gesamtheit der Staatsgeschäfte seinen Teil zu eigener Verantwortung hat, an der radikalen Durchsetzung ihres politischen Willens gehindert; ihre beiderseitige Beteiligung 5

Die Referatè sind von Adolf Süsterhenn unter dem Titel „Föderalistische Ordnung" (1961) gesammelt herausgegeben., 6 Audi das Bundesverfassungsgericht hat dies in dem Fernsehen-Urteil (BVerfGE 12, 205 [229]) unterstrichen (dazu leidler, AöR 86/1961, 387 f.), ebenso Ministerpräsident Ehard bei seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident am 15. Dezember 1961 (Das Parlament Nr. 51 vom 20.12.1961) und viele andere mehr. Vgl. auch Arnold Röttgen, Innerstaatliche Gliederung und moderne Gesellschaftsordnung, in: Gott. Festschr. OLG Celle (1961) S. 83 f. 7 Dazu oben S. 152 ff.

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gleicht sich balancierend aus, und weithin müssen sich Bund und Länder zu einem mäßigenden Arrangement zusammenfinden. Gewiß verringert sich durch die Doppelung von Bundes- und Landesstaatlichkeit das Quantum an staatlichen Betätigungen nicht; es ist vielmehr erheblich vergrößert worden. Aber die Intensität staatlicher Herrschaftsausübung wird dadurch wesentlich abgemildert, und sowohl die politischen Parteien als auch die Bürokratie als auch sonst denkbare Herrschaftsprätendenten werden durch die föderalistischen Brechungen des Ansatzes staatlicher Mächtmittel in die Schranken einer maßvollen Betätigung ihrer Bestimmungsgewalt zurückgewiesen. Wem an Gewaltenteilung liegt, der wird also — gerade in der modernen parteienstaatlichen Massendemokratie — der föderalistischen Verfassungsstruktur ihrer machtbalancierenden Wirkung wegen eine wesentliche Funktion zuerkennen. Freilich zu meinen, sie könne auch Versuche eines revolutionären Machtzugriffs aussperren, wäre Illusion 8 . Zum Nachdenken gibt ferner die bittere Bemerkung von Konrad Eisholz (DÖV 1962, 9) Anlaß, die westlichen Siegermächte hätten mit der von ihnen verfolgten föderalistischen Gewaltenteilung bei den rechthaberischen Deutschen bewirkt, daß sie nun genügend mit sich selbst beschäftigt seien. Es ist eben die Frage, ob hier nicht an vertikaler Gewaltenteilung des Guten zu viel getan ist. 3. Eine weitere Rechtfertigung des heutigen Föderalismus der Bundesrepublik, die sich allerdings erst nachträglich herausgestellt hat, liegt in dem parteipolitischen Spannungsausgleich. Im Parlament und in der Regierung der Bundesrepublik hat sich während sehr langer Jahre ein klares Ubergewicht, zeitweise sogar die Alleinherrschaft, der CDU/CSU durchgesetzt. Die zweite große Partei, die SPD, befand sich in dieser Zeit immer in der Rolle der Opposition, ohne daß sich für sie, wie es für das Funktionieren eines Zweiparteiensystems auf die Dauer vorausgesetzt ist, eine echte Chance ergeben hätte, mit der CDU/CSU einmal die Rollen zu tauschen. Hinzu kommt, daß der Status der Oppositionspartei in der deutschen Politik allzu lange weniger als eine andere Form der Beteiligung an der politischen Führungsverantwortung denn als deklassierend empfunden worden ist. Hätte demgegenüber nicht die Existenz der Länder für die SPD die Möglichkeit geschaffen, in ihnen zur „Regierung" zu kommen, sich dort ihren Anhängern und Gegnern gegenüber in politischer Verant8

In diesem Sinne kritisch Werner Weber, Die Verfassung der Bundesrepublik in der Bewährung (1957) S. 18 ff. und oben S. 63ff.

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wortung zu bewähren, ihren Politikern Betätigung und Aufstieg zu eröffnen und nicht zuletzt von dort her auf dem Wege über den Bundesrat auch für den Bund Züge einer in Regierungs ver antwortung stehenden Partei zu gewinnen, so würde das parteipolitische System der Bundesrepublik mit einer großen Spannung belastet gewesen sein. Es hätte sich dann der innenpolitische Friede, dessen sich die Bundesrepublik in hohem Maße erfreuen durfte, durch zwangsläufige Radikalisierung leicht aufs Spiel gesetzt sehen können, und für weite Volksteile hätte der einer lebendigen Demokratie abträgliche Eindruck entstehen können, sie seien am Staate nicht als der eigenen Sache beteiligt. 4. Wieder auf einer anderen Ebene der Rechtfertigungen des Föderalismus liegt der Hinweis, daß man auf jeden Fall eine Untergliederung des Gesamtstaates brauche und daß, wenn man das schon akzeptieren müsse, es gewiß besser sei, diesen Untergliederungen ein kräftiges Eigenleben zuzuerkennen, das am sichersten in der Zuerkennung eigener Staatlichkeit aufgehoben sei. Das sind Gedanken, auf denen in ähnlicher Weise, wenngleich in anderem Maßstab, auch das Bekenntnis zur kommunalen Selbstverwaltung beruht. In der Tat hat es unbestreitbare Vorzüge, die landespolitischen Angelegenheiten in sich geschlossener Territorien von diesen selbst und in eigener Verantwortung statt im Stile einer zentral gelenkten Provinzadministration verwalten zu lassen. Man behält dann übersehbare Bereiche, deren spezifische Aufgaben auch der Bevölkerung leichter begreifbar sind und in denen der Gang der politischen Dinge das menschliche Maß des Vertrautseins, des unmittelbaren Beteiligtseins und lebendiger Kontakte behält. Es ist auch nicht zu leugnen, daß trotz allen Zufälligkeiten der heutigen Ländergliederung mindestens einige Länder, etwa Niedersachsen, Hessen und Bayern, in Landsmannschaft und Landeseigenart ein kräftiges Profil zeigen, von woher die Besorgung der eigenen Angelegenheiten in eigener politischer Verantwortung sich als in hohem Grade legitim erweist. Landschaft, Geschichte, Landsmannschaft und auch die konfessionelle Tönung wirken hier darin zusammen, Landesindividualitäten entstehen zu lassen, die ihre spezifischen Landesdinge am besten selbst besorgen, wobei freilich zunächst offenbleibt, was im einzelnen zu den Landesdingen gehört. Dieser Gedanke findet sich in dem Hinweis weitergeführt, daß im Falle einer Wiedervereinigung Deutschlands nur eine föderative Einbeziehung des in vieler Hinsicht entfremdeten Gebietes der SBZ in den deutschen Staat möglich sei. Die Bundesrepublik müsse sich daher von vornherein durch Bewah-

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rung einer föderalistischen Struktur für die Wiedervereinigung bereit halten. 5. Weitere Vorzüge des konkreten Föderalismus der Bundesrepublik hat im Laufe der Zeit der Bundesrat sichtbar gemacht. Er ist ein vielschichtiges Bundesorgan. In entscheidenden politischen Schicksalsfragen schlägt bei ihm die parteipolitische Grundhaltung der in ihm vertretenen Länderregierungen durch. Daß er außerdem die Funktion hat, auch in der Bundesregierung nicht beteiligte politische Parteien in der Bundespolitik zur Geltung zu bringen, wurde schon erwähnt. Aber es ist noch einmal seiner Charakterisierung als „Parlament der Oberregierungsräte", besser vielleicht der Ministerialdirigenten, zu gedenken, die verdeutlicht, daß auf dem Wege über den Bundesrat und seine Ausschüsse in hohem Grade die Erfahrung und Sachkunde der Länderspitzenbürokratie für die Bundesaufgaben nutzbar gemacht werden. Nicht weniger auffällig ist, wie die Länderminister als die eigentlichen Mitglieder und Akteure des Bundesrates hier zur Geltung kommen. Sie bringen nämlich, ungeachtet ihrer regelmäßig parteipolitischen Herkunft, die geläuterte Sachnähe und staatsmännische Sachverantwortung ein, die ihnen aus der zwingenden Auseinandersetzung mit den realen Problemen ihrer heimischen Landesministerressorts zuwächst. Durch das Zusammenwirken dieser Umstände ergibt sich für den Bundesrat das Klima einer gegen ideologische und demagogische Anwandlungen imprägnierten Sachgerechtigkeit, die im Zusammenspiel der obersten Bundesorgane ein Element von hohem Nutzen darstellt. Aber nur als Organ föderalistischer Herkunft konnte der Bundesrat zu dieser Wirkung gelangen; in der Konstruktion als Senat wäre ihm das nicht in gleicher Weise gelungen. 6. Bisher war von Rechtfertigungen des gegenwärtigen Föderalismus die Rede, die sich unmittelbar auf die konkrete Lage der Bundesrepublik beziehen. Aber es wurde schon angedeutet, daß es auch eine prinzipielle, weltanschaulich fundierte Parteinahme für den Föderalismus gibt. Auf der erwähnten Mainzer Tagung des Bundes Deutscher Föderalisten haben besonders Adolf Siisterhenn und Franz Meyers um Verständnis für diese Seite des Problems geworben9. Süsterhenn sieht die Wurzeln des im 19. Jahrhundert als „sozialphilosophisches System" ins Bewußtsein gehobenen Föderalismus in der 9 Adolf Süsterhenn, Föderalismus und Freiheit; Franz Meyers, Die föderalistische Struktur der Bundesrepublik Deutschland, beide in dem zitierten Buche „Föderalistische Ordnung" (1961) S. 27 ff., 43 ff.

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katholisch-christlicheii Soziallehre einerseits und im germanischen Genossenschaftsgedanken andererseits. Er entwickelt den Gedanken der katholischen Soziallehre dahin, daß nach christlicher Auffassung der mit Vernunft und freiem Willen ausgestattete Mensch das Maß der irdischen Dinge bilde, daß aber der Mensch von Gott nicht nur als Individuum, sondern zugleich als Gemeinschaftswesen geschaffen sei. Dieses Angelegtsein des einzelnen auf die Gemeinschaft begründe indessen nicht nur eine Beziehung zwischen Individuum und Staat, vielmehr beständen in der politischen und sozialen Wirklichkeit zwischen dem einzelnen und dem Staate zahlreiche menschliche Gemeinschaftsbildungen als Zwischenglieder, die unter sich und im Verhältnis zum Staat meist auch in einem genetischen Zusammenhang ständen und eine natürliche Stufenfolge menschlicher Vergemeinschaftung darstellten. Diesem Tatbestand werde von der christlichen Soziallehre ein normativer Charakter beigelegt. Dadurch erweitere sich das vom Christentum geprägte Menschenbild zu einem föderalistischen Ordnungsbild der Gesellschaft. Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Ordnung stehe der mit unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ausgestattete, auf die Gemeinschaft angelegte und angewiesene Mensch, um den sich ein System konzentrischer Lebenskreise gruppiere, die, bei der Familie als der engsten und elementarsten menschlichen Lebensgemeinschaft beginnend, über immer wéitere und umfassendere Gemeinschaften bis zum Staate und den überstaatlichen Verbänden aufstiegen. Süsterhenn bemerkt sodann, daß im 19. Jahrhundert Romantik und historische Rechtsschule mit der Wiederentdeckung des christlichen Mittelalters und seiner politisch-gesellschaftlichen Ordnungen, d. h. seines Stände-, Städte-, Korporations- und Zunftwesens, auch den germanischen Genossenschaftsgedanken in gleichem Sinne fruchtbar gemacht hätten, so daß er mit der angedeuteten christlichen Soziällehre in die föderalistischen Grundlehren sowohl des Protestanten Konstantin Frantz (1817—1891) als auch des Mainzer Bischofs Freiherrn v. Ketteier (1811—1877) eingeflosseh sei* Von hier aus spannt sich für Süsterhenn eine Brücke zu dem Subsidiaritätsprinzip, wie ihm die Enzyklika „Quadragesimo anno" Papst Pius* XI. 1931 Gestalt gegeben hat. Hiér wird die Einebnung der Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen durch die Auswirkung des individualistischen Geistes beklagt, die schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und den Staat übriggelassen habe. Demgegenüber

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wird das Bild einer Gesellschaftsordnung entworfen, in der eine Stufenfolge aufsteigender Gemeinschaften bewahrt bleibt, und zwar so, daß jeweils das, was die kleineren und engeren Gemeinwesen leisten können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft nicht in Anspruch genominen werden soll. Wörtlich heißt es in: der Enzyklika: „Darum mögen die staatlichen Machthaber überzeugt sein: Je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, um so stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt." Soweit der Föderalismus als „sozialphilosophisches System" in der repräsentativen Darstellung von Süsterhenn auf der Föderalistentagung von 1961. An diesen Gedankengängen Kritik zu üben, ist hier nicht der Ort. Aber es ist die Frage zu stellen, ob diese Art des Föderalismus mit der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik Nennenswertes zu tun hat. Der Zusammenhang ist allenfalls insofern gegeben — und das läßt Süsterhenn auch erkennen —, als eine sozialphilosophische Rechtfertigung im Hinblick auf sehr reale politische Leitbilder gesucht werden soll, nämlich für die vertikale Gewaltenteilung und gegen die Volkssouveränitätslehre Rousseaus, gegen den Mehrheitsabsolutismus des egalitären Massenstaates und gegen den Zentralismus einer verabsolutierten Staatsapparatur, vor allem in der Tendenz zum sog. „demokratischen Zentralismus" der marxistischleninistischen Doktrin und Staatspraxis 10.

HI. Ein solches Referat über die pragmatischen und prinzipiellen Möglichkeiten einer aktuellen Legitimierung des Föderalismus der Bundesrepublik nimmt notwendigerweise den Charakter eines Plädoyers im Sinne der dargestellten Motive an. Man müßte, um den richtigen Ausgleich herzustellen, in, ebensolcher Breite a.uch auf die Gegenargumente eingehen. Doch liegen diese zu einem wesentlichen Teile schon in der bloßen Macht der politischen Tatsachen begründet und sind insoweit evident. Die Bundesrepublik ist ein kleiner Staat, der sich 10 Hierzu kann auf die instruktiven Darlegungen von Joachim Türke, Demokratischèr Zentralismus und kommunale Selbstverwaltung in der so* wjetischen Besatzungszone Deutschlands (Göttingen 1960) ver wiesen werden*

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überdies anschickt, selbst Glied übergreifender föderalistischer Gemeinwesen zu werden. Seine Integration in die europäischen Gemeinschaften und das Nordatlantische Verteidigungsbündnis hat ungeachtet aller Rückschläge und Krisen schon weite Fortschritte gemacht. Um sich in der Welt zu behaupten, vor allem gegen die große politische Gegnerschaft des Ostblocks und die des ostasiatischen Kommunismus, aber auch im Kreise seiner Freunde, Bundesgenossen und europäischen Integrationspartner, muß er eine geschlossene und dichte Staatlichkeit entwickeln, die sich eine ungebrochene Handlungsfähigkeit sichert. Seine Wirtschafte- und Verkehrsordnung und sein sozialpolitisches System vertragen keine regionalen Differenzierungen; sie müssen sich jetzt sogar in europäische Einheitlichkeit einfügen. Niemand kann ferner daran denken, die Einheit der deutschen Rechtsordnung wieder aufzulösen, und selbst im Bildungs-, Schul- und Hochschulwesen richten sich die Erwartungen der Bevölkerung darauf, überall einheitliche Standards vorzufinden. Im Gleichklang hiermit tendiert bezeichnenderweise die Selbstorganisation der Gesellschaft von den politischen Parteien über die Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und sonstige Interessenorganisationen bis hin zu Zusammenschlüssen mit ideeller Zielsetzung eindeutig dahin, sich dem Schwerpunkt nach im Bundesmaßstab zu formieren 11. Das politische Staatsbewußtsein der Deutschen in der Bundesrepublik endlich als die eigentlich demokratisch legitimierende Kraft des Staatswesens hat sich auch nach dem zweiten Weltkriege nicht von dem deutschen Gesamtstaat abgewendet und nicht statt dessen etwa im Landesbewußtsein sein Genüge gesucht. Angesichts dieser Lage bedarf es keines besonderen Aufwandes an Argumenten, die Notwendigkeit der Entwicklung einer kräftigen deutschen Gesamtstaatlichkeit zu rechtfertigen. Wenn sich die Deutschen politisch, und das heißt auch wirtschaftlich, kulturell und in ihrer Sozialordnung, nicht aufgeben wollen, müssen sie ihrem klein gewordenen Reststaat, der Bundesrepublik, die volle nationale Repräsentationsfähigkeit und eine überzeugende Aktionskraft gönnen und wird sich diese Aktionskraft so oder so auch durchsetzen.

11 Eingehende Betrachtungen dazu bei Arnold Kotigen, Innerstaatliche Gliederung und moderne Gesellschaftsordnung, in: Gött. Festschr. OLG Gelle (1961) S. 79 ff.

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IV. Aber wir können das bisher Gesagte ohnehin nicht für die Frage auswerten, ob wir unser Staatswesen föderalistisch oder unitarisch strukturiert wissen wollen. Denn diese Frage hat schon das Grundgesetz entschieden, und zwar in Art. 79 Abs. 3 sogar mit unumstößlicher Wirkung. Wir haben uns vielmehr dem konkreten Funktionieren des Föderalismus unter dem geltenden Grundgesetz der Bundesrepublik zuzuwenden. Daß der praktizierte Föderalismus der Bundesrepublik in einigen politisch wesentlichen Beziehungen unbestreitbaren Nutzen stiftet, wurde schon hervorgehoben; sonst kann das Urteil nicht überall einheitlich lauten. 1. Die Schwierigkeiten, die sich vom Föderalismus her auf dem Gebiete der Gesetzgebung herausgestellt haben, halten sich in erträglichen Grenzen. Hier haben sich die Dinge so eingerichtet, daß die Gesetzgebung des Bundes bei weitem dominiert, und das entspricht einer zwingenden Notwendigkeit. Eine elastische Handhabung der Gesetzgebung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern mit der Tendenz zum Vorrang der Bundesgesetzgebung war deshalb möglich, weil die meisten Gesetzgebungsmaterien in Art. 74 GG unter dem Katalog der konkurrierenden Zuständigkeiten erscheinen und gemäß Art. 125 GG das auf diesen Gebieten schon vorhandene Reichsrecht ipso jure Bundesrecht wurde. Soweit danach der Bund nicht schon von vornherein zuständig war, konnte er jedenfalls im Bedarfsfalle seine Zuständigkeit neu in Anspruch nehmen. Daß der Bund im Rahmen des Art. 74 GG seine Gesetzgebungszuständigkeit zu stark zu Lasten der Länder erweitert hätte, läßt sich nicht wahrhalten. Im Gegenteil ist eher zu beklagen, daß der Bund nicht auch zuständig ist, die Grundzüge der Kommunalorganisation, das allgemeine Verwaltungsverfahren und das allgemeine Polizeirecht zu regeln, so daß wir uns auf diesen Gebieten einer teilweise recht mißlichen Landesrechtszersplitterung gegenübersehen. Viele bedauern auch das Fehlen jeder nennenswerten Bundesgesetzgebungskompetenz im Kulturbereich. Ein weiterer Mißstand liegt darin, daß Art. 75 GG dem Bund für das Beamtenrecht in den Ländern (einschließlich des Besoldungsrechts und Personalvertretungsrechts) sowie für das Presse- und das Wasserrecht nur eine Rahmengesetzgebungskompetenz eingeräumt hat. Dadurch ist in dem schon rahmengesetzlich geregelten Beamtenrecht und Wasserrecht ein unorganisches Neben- und Ineinander komplizierter Gesetzgebungs-

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werke entstanden, aus dem weder Bund noch Länder Nutzen ziehen. Im Besoldungsrecht hat sich die bisherige Rahmenkompetenz überdies als nicht ausreichend erwiesen, während im Presserecht die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers die bedenkliche Aufsplitterung in 11 Landespressegesetze zur Folge gehabt hat. I m Gesetzgebungsverfahren des Bundes wurde früher bemängelt, daß die Mitwirkung des Bundesrates die Verabschiedung der Gesetze zu sehr erschwere, zumal der Bundesrat für eine zu große Zahl von Gesetzen seine Zustimmung als nötig beansprucht und durchgesetzt habe, Indessen dürfte die ausgleichende Tätigkeit des Vermittlungsausschusses manche dieser Klagen praktisch widerlegt haben. Außerdem ist der manchmal hektischen Produktionsfreudigkeit des Bundesgesetzgebers die Einschaltung einer Gegenwirkung durchaus bekömmlich, und mögen audi mandile Klagën über eine sperrende oder verzögernde Haltung des Bundesrates berechtigt bleiben, so dürfte doch sein Beitrag zur Verbesserung der Gesetzentwürfe sich mit dem Nachteil der Hemmungen ungefähr die Waage halten. Auffällig ist der in den Bundesgesetzen, vor allem in den Verwaltungsgesetzen des Bundes feststellbare Drang zum Perfektionismus. Er dürfte eine wenigstens mitwirkende Ursache im Föderalismus haben. Da die Verwaltungskompetenzen des Bundes zugunsten der Länder und Gemeinden arg beschnitten sind, sucht er einen Ersatz darin, daß er seinen Gesetzen selbst den Charakter verwaltender Detailpläne verleiht. 2. Im Gerichtswesen ist die gegenseitige Zuordnung von Bund und Ländern heute nahezu problemlos. Das gilt sowohl für das Nebeneinander der Verfassungsgerichtsbarkeit in Bund und Ländern 12 als auch für die sonstigen Hauptgerichtsbarkeiten, in denen sich im allgemeinen auf zwei Instanzen in Landeszuständigkeit in glattem Übergang ein oberstes Bundesgejicht aufstockt, das als höchste Instanz die Einheit der Rechtsprechung im Bundesgebiet sichert, leider, weil die Revision an das Bundesverwaltungsgericht auf die Verletzung von Bundesrecht beschränkt ist (§137 Abs. 1 VwGO), mit einer gewissen Verlustquote in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Hier ist bedenklicher, 12

Dazu Ernst Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in; Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart. Länderberichte und Rechtsvergleichung (1962) S. 89 ff.; Christian v. Hammerstein, Das Verhältnis von Blindes- und Landesverfassungégerichtsbarkéit (Göttinger Diss. 1960). >

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daß alle Länder, auch die kleinsten, gemeint haben, auf ein eigenes Oberlandesgericht, Oberverwaltungsgericht, Landessozialgericht, Lan