Soziales Leiden: Zur zweiten Natur unserer Freiheit 9783110678277, 9783110678246

The common term “social suffering” often lacks a shape or a face. Sembler extends “social suffering” to become an index

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German Pages 262 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
Teil 1. Kritische Theorie als Leidenskritik Grundzüge einer materialistischen Leidenskritik
Kapitel 1. Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik
Kapitel 2. Kapitalismuskritik und soziales Leiden
Kapitel 3. Naturalisierung und soziale Emanzipation
Teil 2. Die zweite Natur sozialer Freiheit Zur Idee einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik
Kapitel 4. Zur Ortsbestimmung einer anerkennungstheoretischen Leidenskr
Kapitel 5. Anerkennung und Missachtung
Kapitel 6. Soziale Gerechtigkeit und sittliche Institutionen
Kapitel 7. Soziale Pathologien
Kapitel 8. Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch
Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden
Literaturverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachwortverzeichnis
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Soziales Leiden: Zur zweiten Natur unserer Freiheit
 9783110678277, 9783110678246

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Camilo Sembler Soziales Leiden

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände 44

Camilo Sembler

Soziales Leiden

Zur zweiten Natur unserer Freiheit

ISBN 978-3-11-067824-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067827-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067830-7 ISSN 1617-3325 Library of Congress Control Number: 2020932477 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: 3W+P GmbH, Rimpar Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Meiner Tochter Julieta, für die liebevolle Erweiterung unserer Freiheit

Inhalt 

Einleitung

1

Teil  Kritische Theorie als Leidenskritik Grundzüge einer materialistischen Leidenskritik Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik 11 . Das Theodizeeproblem. Zur Sinnlosigkeit menschlichen Leids . Die Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik Schluss 28 . Kapitel  Kapitalismuskritik und soziales Leiden 30 . „Sinnlich sein ist leidend sein“ 31 40 Soziales Leiden . 40 .. Kapitalismuskritik .. Zur Struktur von sozialen Leidenserfahrungen 59 Schluss . Kapitel  Naturalisierung und soziale Emanzipation . Ideologiekritik 64 Mitleidsethik 78 . 90 . Schluss

48

62

Teil  Die zweite Natur sozialer Freiheit Zur Idee einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik Kapitel 4 Zur Ortsbestimmung einer anerkennungstheoretischen 97 Leidenskritik Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit 98 . .. Sozialpathologien als verzerrte Kommunikation 100 Diskurstheoretische Konzeption sozialer Gerechtigkeit .. . Von der Kommunikation zur Anerkennung 120 128 . Schluss

113

12 21

VIII

Inhalt

Kapitel  131 Anerkennung und Missachtung . 132 Der Standpunkt der Anerkennung .. Intersubjektive Identitätsbildung 133 .. Die Gesellschaft als Anerkennungsordnung 139 . Zur Phänomenologie moderner Leidenserfahrungen .. Körperliche Verletzungen 148 .. Entrechtung 150 Entwürdigung 152 .. 155 . Schluss 159

Kapitel 6 Soziale Gerechtigkeit und sittliche Institutionen . Persönliche Beziehungen 162 Marktwirtschaftliche Verhältnisse 170 . 177 . Demokratische Öffentlichkeit . Schluss 184 Kapitel  188 Soziale Pathologien 190 . Pathologien der Freiheit . Soziale Unbestimmtheit als Leidensquelle . Ansätze für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik 202 Schluss 213 .

146

197

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch 217 Zur umstrittenen Begründung sozialer Wohlfahrtsrechte 219 . . Anerkennung und soziale Rechte 221 225 . Bemerkungen zum Entwurf einer alternativen Begründung 229 . Schluss Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden Literaturverzeichnis

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Personenverzeichnis

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Sachwortverzeichnis

253

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1 Einleitung In vielfältigen gesellschaftstheoretischen Debatten und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen spielt gegenwärtig der Begriff „soziales Leiden“ eine bedeutende Rolle.¹ In der Kulturanthropologie spricht man beispielsweise von „sozialen Leiden“ insbesondere mit dem Ziel, die subjektiven Auswirkungen von gravierenden sozialen Notständen (extreme Armut, Hungersnot) sowie traumatisierenden Gewalterfahrungen (Krieg, Folter) zur Darstellung zu bringen.² In ähnlicher Weise wird in der medizinischen Anthropologie die Idee von sozialem Leiden in Bezug auf die Frage verwendet, inwiefern und wie kulturelle Bedingungen die Wahrnehmung von Krankheiten und Leidenszuständen prägen und das Selbstverständnis der Betroffenen bestimmen können.³ Ein letzter einflussreicher Anwendungsbereich ist im Zusammenhang soziologischer und sozialpsychologischer Studien zu sehen möglich, in denen von „sozialem Leiden“ vor allem gesprochen wird, um die subjektiv belastenden Folgen von jüngsten gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozessen und neuen sozialen Organisationsformen, beispielsweise innerhalb der Arbeitswelt, zum Vorschein zu bringen.⁴ In all diesen exemplarischen Fällen lässt sich letztendlich die gemeinsame Überzeugung erkennen, dass die Idee von sozialem Leiden, sofern für den Leidensbegriff eben der Hinweis auf eine subjektive Dimension konstitutiv ist, die wesentliche Möglichkeit enthält, die unsichtbaren oder sehr häufig nur diffusen subjektiven Konsequenzen von gesellschaftlichen Zuständen – insbesondere von Phänomenen sozialer Ungerechtigkeit und Herrschaftsverhältnissen – zu erschließen. Dieser Absicht entsprechend wird in diesem Zusammenhang allerdings häufig auf die Schwierigkeit hingewiesen, eine allgemeine Ätiologie sozialen Leidens feststellen zu können; infolgedessen hat hier zunehmend die Ansicht an Bedeutung gewonnen, dass Leidenszustände aufgrund ihres geprägten subjektiven Erfahrungsgehalts vor

 Ein Überblick über die aktuellen Anwendungskontexte des „Leidensbegriffs“ kann in Renault 2017 sowie in Wilkinson 2004, insb. Kap. 2, gefunden werden.  Exemplarisch dazu siehe Kleinman/Das/Lock 1997.  Vgl. etwa Morris 2000.  Hier stellen die unter der Leitung von Pierre Bourdieu durchgeführte Untersuchung Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen über alltägliches Leiden an der Gesellschaft und die Schriften von Christophe Dejours zu den neuen Leiden an der Arbeit wohl die wichtigsten Bezugspunkte dar – vgl. Bourdieu 1997 und Dejours 2012. In diesem Zusammenhang haben auch jene Ansätze eine große Resonanz gefunden, die sich mit Leidensformen beschäftigen, die für die gegenwärtige Gesellschaft als charakteristisch angenommen werden – vgl. beispielsweise in Bezug auf die Depression die einflussreiche Untersuchung von Ehrenberg 2004 sowie hinsichtlich des heute viel diskutierten BurnoutSyndroms Neckel 2015. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-001

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1 Einleitung

allem aus der Perspektive der Betroffenen gedeutet und deshalb je nach kulturellen Kontexten auf spezifische Weise erkundet werden müssen.⁵ Aufgrund dieses erfahrungsbezogenen Bedeutungsgehalts des Begriffs „soziales Leiden“ ist andererseits nicht überraschend, dass dieser Begriff in letzter Zeit auch im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen der Sozial- und politischen Philosophie herangezogen worden ist, um die Erfordernisse sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokratie auf einer erweiterten Grundlage zu reflektieren.⁶ Statt einseitiger Konzentration auf normative Grundsätze und institutionelle Arrangements, wie dies sowohl für gegenwärtige liberale sowie prozeduralistische Gerechtigkeitskonzeptionen charakteristisch sei, würde die Kategorie eines sozialen Leidens die Möglichkeit eröffnen, die konkreten negativen Erfahrungen von Gesellschaftsmitgliedern in der Behandlung von Gerechtigkeitsfragen ernster zu nehmen, sofern mit ihm auch jene subjektiv belastenden Sozialphänomene, die von der etablierten Öffentlichkeit und politischer Sprache ausgeschlossen sind, thematisiert – wenn nicht sogar erst wahrgenommen – werden.⁷ Eben aus diesem Grund steht vor allem die Frage, welche gesellschaftlichen Mechanismen jene erzwungene soziale Unsichtbarkeit von Leidensformen erklären können und wie diesen potenziell entgegenzuwirken wäre, im Mittelpunkt dieser gegenwärtigen sozialphilosophischen Versuche.⁸ Die Gesellschaftskritik wird dementsprechend mit der Aufgabe beauftragt, diese naturalisierenden Effekte von sozialen Institutionen und kulturellen Deutungsmuster in dem Maße zu entschärfen, wie sie die Funktion eines „Wortführers“ von verdrängten oder verdeckten Leidenserfahrungen übernimmt.⁹ Wird in diesen Aushandlungen insofern die machtgeprägte, politische Dimension von Leidenserfahrungen stark hervorgehoben, so ist es jedoch nicht ungewöhnlich, dass dies unter gleichzeitiger Vernachlässigung des deskriptiven, ätiologischen Sinns des Begriffs „sozialen Leidens“ stattfindet: Ob und inwiefern es tatsächlich angemessen ist, eine soziale Ungerechtigkeit oder ein Herrschaftsverhältnis als Entstehungsbedingung einer sozial verursachten Leidenserfahrung aufzufassen, bleibt in diesen Auseinandersetzungen häufig ungeklärt oder nur angedeutet.

 In methodologischer Hinsicht ist daraus die Überzeugung entstanden, dass sich eine Leidenskritik hauptsächlich auf ethnografische oder andere, vor allem die Teilnehmerperspektive einbeziehende Forschungsmethode stützen muss. Siehe Wilkinson 2004.  Vgl. etwa Renault 2009 und McNay 2014, insb. Kap. 1 („Suffering and Social Weightlessness“).  Das heißt, was Bourdieu als „unformuliertes und unformulierbares Leiden“ beschreibt – vgl. Bourdieu 1997, S. 823. Im Anschluss daran stellt er das Ziel einer Leidenskritik folgendermaßen dar: „[I] ndem man die große Not zum ausschließlichen Maß aller Formen der Not erhebt, versagt man sich, einen ganzen Teil der Leiden wahrzunehmen und zu verstehen, die für eine soziale Ordnung charakteristisch ist, die gewiß die große Not zurückgedrängt hat“. Bourdieu 1997, S. 19.  Zu öffentlichen Darstellungs- und Wahrnehmungsformen von Leidenserfahrungen siehe auch etwa Boltanski 1999.  Zum Verständnis der Gesellschaftskritik im Sinne eines „Wortführers“ siehe Bourdieu 2001, S. 238. Dazu auch Renault 2009.

1 Einleitung

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Ausgehend von diesen gegenwärtigen Diskussionen möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen, den Begriff „soziales Leiden“ im begrifflichen Rahmen kritischer Gesellschaftstheorie herauszuarbeiten und zu präzisieren. Anhand einer systematischen Rekonstruktion möchte ich schrittweise beweisen, dass für die Denktradition der Kritischen Theorie jene beiden heutzutage erörterten Verwendungen des Leidensbegriffs ständig von besonderer Bedeutung gewesen sind und sich als wesentliche Aufgaben einer innerhalb ihres kategorialen Rahmens verfahrenden sozialphilosophischen Leidenskritik verstehen lassen. Denn ein wesentliches Ziel der Kritischen Theorie kann in der Tat mit dem Versuch identifiziert werden, auch freiheitseinschränkende subjektive Erfahrungen, die unter der Wahrnehmungsschwelle einer gegebenen Gesellschaftsform liegen (und manchmal sogar für die Betroffene selbst unauffällig bleiben können), zu erschließen und in diesem Versuch gleichzeitig die Bedingungen aufzuklären, die potenziell zu deren Abschaffung – das heißt zur sozialen Emanzipation – führen könnten. Eine gesellschaftstheoretische Ätiologie von sozialen Leidenserfahrungen sowie eine Kritik an ihrer möglichen Naturalisierung lassen sich insofern – so möchte ich im Folgenden argumentieren – als zentrale Fragestellungen einer im kategorialen Rahmen Kritischer Theorie situierten sozialphilosophischen Leidenskritik annehmen. Im Zusammenhang mit einer gesellschaftstheoretischen Ätiologie sozialen Leidens stellt sich nämlich zunächst jene Frage, die mit Freud als der Gegenstand einer Kulturkritik aufgefasst werden kann – das heißt, welche jene Leidenserfahrungen sind, die auf die Wirkung von gesellschaftlichen Einrichtungen zurückzuführen und deshalb als unnötig oder vermeidbar anzusehen sind.¹⁰ Diese Feststellung von „sozialen Leidensquellen“ (Freud) setzt deshalb die Ausarbeitung eines Maßstabs voraus, anhand dessen sich unter den sehr vielfältigen, möglicherweise individuelles Leiden auslösenden Phänomenen menschlichen Lebens eben diejenigen Erfahrungen unterscheiden lassen, die als sozial verursacht und daher berechtigterweise als überflüssig verstanden werden können. Neben diesem deskriptiven, ätiologischen Ziel lässt sich die Kritische Theorie – wie gesagt – gleichzeitig von der emanzipatorischen Absicht leiten, die machtgeprägte Aufrechterhaltung von unnötigen Leidensformen zu kritisieren und in der sozialen Wirklichkeit selbst jene praktischen Interessen oder Kräfte zu identifizieren, die eine Abschaffung von überflüssigen Leidenserfahrungen ermöglichen können. Den Schlüssel für die Beantwortung dieser beiden Fragen – die ätiologische und die emanzipationstheoretische Fragestellung einer sozialphilosophischen Leidenskritik – findet die Kritische Theorie unter verschiedenen Bedingungen stets – so die leitende These der vorliegenden Arbeit – in jener auf Hegel zurückgehenden sozialontologischen Prämisse, derzufolge die Struktur von sozialen Lebensformen als eine zweite Natur beschrieben werden muss. Denn mit dem Begriff „zweite Natur“ wird im

 Siehe Freud 1930, S. 244. Zur Leidensproblematik in der psychoanalytischen Theoriebildung siehe Lorenzer 1984.

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1 Einleitung

Wesentlichen unterstellt, wie Hegel in Bezug auf die Entwicklung des subjektiven Geistes ausführt, dass die Subjekte notwendigerweise einen Bildungsprozess, eine geistige Aufhebung von zunächst bloß naturgegebenen Begierden und Neigungen durchführen müssen, um überhaupt erst zur individuellen Freiheit gelangen zu können.¹¹ Eine solche individuelle Befreiung aus Naturbestimmungen kann aber nur stattfinden, so macht Hegel mit Bezug auf die Strukturen des objektiven Geistes klar, indem die Subjekte an institutionellen Zusammenhängen teilnehmen, bei denen sie ihre innere Natur nach sittlichen Gründen – nach der „Form der Allgemeinheit“ – umformen und damit ihre subjektive Willkür hinsichtlich der Erwerbung einer vernünftigeren, wirklichen Freiheit ausbilden können.¹² Für eine auf dieser Grundprämisse begründete Ätiologie eröffnet sich deshalb die Möglichkeit, so möchte ich zeigen, soziale Leidenserfahrungen an den historisch sich wandelnden Erfordernissen von zur Freiheit befähigenden Bildungsprozessen der zweiten Natur sozialer Welt zu bemessen: In der Struktur sozialer Lebensformen können immer – so nimmt die Kritische Theorie an – nötige, freiheitsbildenden Beschränkungen menschlicher Willkür von unnötigen, ausschließlich auf die Unzulänglichkeiten von gesellschaftlichen Einrichtungen zurückzuführenden Einschränkungen unterschieden werden, die sich deshalb im Sinne eines sozial induzierten Freiheitsverlusts interpretieren lassen. Dieser Freiheitsverlust kann zusätzlich als ein Leidenszustand in dem Maße verstanden werden, so nimmt die Kritische Theorie weiter an, wie daraus zwingend subjektive Beeinträchtigungen hervorgehen müssen: Immer wenn aufgrund gesellschaftlicher Ursachen die Einzelnen eine in der zweiten Natur von sozialen Lebensformen schon verfügbaren Freiheitsmöglichkeit nur defizitär verwirklichen können, ergibt sich daraus eine Beschädigung von wesentlichen subjektiven Fähigkeiten, das heißt eine Erfahrung sozialen Leids. Die ätiologische Frage einer sozialphilosophischen Leidenskritik besteht daher darin, welche gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse in modernen kapitalistischen Gesellschaften die Verursachung von überflüssigen, sozialen Leidenserfahrungen erklären können sowie welche subjektiven Fähigkeiten (beispielsweise Ich-Kräfte, Interaktionsfähigkeiten usw.) dadurch beschädigt werden. Soziale Leidenserfahrungen werden insofern von der Kritischen Theorie, so ist im Folgenden ausführlich zu erklären, weder rein anthropologisch noch je nach besonderen kulturellen Kontexten auf eine ganz spezifische Weise interpretiert; vielmehr handelt es sich immer um sozial verursachte Freiheitseinschränkungen, die nur mit Bezug auf die innerhalb der zweiten Natur von modernen sozialen Lebensformen bereits verfügbaren Autonomiechancen aufzufassen möglich sind. Soziales Leiden ist daher – kurz gesagt – nicht einfach gesell-

 Vgl. Hegel 1830, § 381 sowie seine Ausführungen zur freiheitsermöglichen Bedeutung der Ausbildung der „Gewohnheit“ – Hegel 1830, §§ 409 ff. Zum Konzept zweite Natur vgl. die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion von Rath 1996.  Siehe Hegel 1821, § 187 und § 20. Insofern gilt für die Sitte – so fasst Hegel zusammen: „die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden.“ Hegel 1830, § 513.

1 Einleitung

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schaftlich bedingtes Leid, sondern immer in Bezug auf die in der sozialen Welt historisch gegebenen Freiheitsmöglichkeiten als sinnlos sich herausstellendes Leiden.¹³ Der Begriff „zweite Natur“ besitzt aber bekanntermaßen in der Tradition kritischer Gesellschaftstheorie gleichzeitig eine negative Bedeutung: Mit ihm wird jene Umwandlung des Geschichtlichen in bloße Natur, das heißt die Naturwüchsigkeit von historisch herausgebildeten, durch menschliches Handeln geschaffenen Praxiszusammenhängen bezeichnet.¹⁴ Ein solches kritisches Verständnis der zweiten Natur wird jedoch erst durch die soeben angesprochene sozialontologische Vorstellung ermöglicht, derzufolge die soziale Welt eine kollektiv hervorgebrachte und geschichtlich herausgebildete Sphäre darstellt, in der menschliche Wesen ihre Freiheit überhaupt erst ausbilden und verwirklichen können; denn ohne diesen zugrunde liegenden positiven Begriff zweiter Natur wäre die Kritik an der Verselbstständigung von Sinnzusammenhängen eher nur an eine individualistische Konzeption menschlicher Freiheit gebunden.¹⁵ Dieser Auffassung liegt letzten Endes auch Hegels Verständnis zugrunde, demzufolge der Unterschied zwischen bloßer Natur und sittlichen Verhältnissen nicht auf rein ontologische Gegebenheiten zurückgeführt, sondern als eine immer im historischen Vollzug sozialer Praktiken vollzogene Bestimmung, das heißt als eine immer bereits innerhalb der zweiten Natur sozialer Lebensformen ausgehandelte Grenzziehung verstanden werden muss.¹⁶ Mit diesem negativen Verständnis der zweiten Natur eröffnet sich für die Kritische Theorie deshalb die Möglichkeit, so möchte ich im Folgenden auch ausführlich zeigen, eine Kritik an der Naturalisierung

 In dieser Hinsicht unterscheidet sich diese Bestimmung von sinnlosem Leiden deutlich beispielsweise von phänomenologisch angelegten Überlegungen, wie etwa die von Lévinas 1995 sowie von jener etwa an Schopenhauer oder Kierkegaard anknüpfenden Tradition einer Leidensphilosophie – dazu siehe Hölterhof 2013.  In diesem Sinne identifiziert Lukács bekanntlich die Idee zweiter Natur mit der Herausbildung von „sinnesfremden Notwendigkeiten“ und (im Anschluss daran) Adorno mit der Vorstellung einer „erstarrte[n] Geschichte“ – vgl. Lukács 1971, S. 53 und Adorno 1932, S. 357.  Sehr deutlich wird dies von Christoph Menke folgendermaßen erklärt: „Die Genesis der zweiten Natur als mangelhafter Gestalt des Geistes liegt im Geist selbst; der Grund für die Naturhaftigkeit des Geistes ist nicht die Natur, sondern der Geist. ‚Zweite Natur‘ bedeutet: ‚Wiederholung der Natur‘ (Adorno und Horkheimer) im Geist, gegen den Geist, durch den Geist. Zweite Natur ist vom Geist selbst gesetzte Natur.“ Menke 2012, S. 163.  So etwa Pippins Auffassung der Hegelʼschen Ansicht zum Natur-Geist-Verhältnis: „The distinction is itself a normative and historical one, not an ontological one; it depends on a social norm we have collectively formulated over time and bound ourselves to and it is thereby flexible, historical malleable (as in: whether parts of nature can responded to normatively, as if they are acting intentionally (e. g. trees as persons, oracles), or whether certain forms of conduct would be better responded to as natural events causally determined and causally manipulable (e. g. neurotic depression or some forms of criminal conduct).“ Pippin 2008, S. 61. Dass diese Grenzziehung von historisch herausgebildeten Handlungszusammenhängen abhängig ist, bedeutet zugleich, dass sie nicht beliebig veränderbar ist. Insofern ist Hegels Verständnis des Verhältnisses zwischen Naturaspekten und geistigen Dimensionen menschlicher Lebensformen ebenso von einer dualistischen Sichtweise wie auch von einem radikalen Konstruktivismus entfernt – vgl. dazu Siep 2013, S. 80.

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1 Einleitung

von Leidenserfahrungen zu entfalten. Im Mittelpunkt einer solchen Kritik steht die emanzipationstheoretische Frage einer sozialphilosophischen Leidenskritik, das heißt, ob es in modernen, kapitalistischen Gesellschaftsformen auch soziale Mechanismen oder kulturelle Deutungsschemata gibt, die überflüssige, soziale Leiden als naturgemäß erscheinen lassen und dadurch die Verwirklichung menschlicher Autonomie weiter verhindern.¹⁷ Diese vom Hegelʼschen Begriff „zweite Natur“ ermöglichte sozialphilosophische Leidenskritik werde ich im ersten Teil der vorliegenden Arbeit anhand einer ausführlichen Rekonstruktion der frühen Schriften Max Horkheimers darlegen, da in diesen – so werde ich vorschlagen – die Grundzüge einer materialistischen Leidenskritik ausgemacht werden können. Zu diesem Zweck muss zunächst auf die Frage eingegangen werden, inwiefern die Idee einer Kritischen Theorie, wie sie von Horkheimer in seinen frühen Schriften entworfen wurde, als eine sozialphilosophische Leidenskritik verstanden werden kann. Vor allem unter dem Einfluss von Schopenhauers Pessimismus und der materialistischen Tradition gelangt Horkheimer in seinen frühen Aufsätzen zu der wesentlichen Einsicht, dass sich soziale Leidenserfahrungen keineswegs rechtfertigen, sondern nur erklären lassen. Damit wirft er bereits die ätiologische Fragestellung einer materialistischen Leidenskritik auf, die aber nur in emanzipatorischer Absicht beantwortet werden kann, so Horkheimers Überzeugung, indem die Gesellschaftskritik in deren begrifflicher Struktur zugleich die geschichtlichen Kämpfe um die Aufhebung von überflüssigen Leidenserfahrungen zu reflektieren vermag (Kapitel 1). In den zwei anschließenden Kapiteln versuche ich deshalb zu erläutern, wie diese Fragenkomplexe jeweils von einer materialistischen Leidenskritik angegangen werden. In seiner Formulierung einer Ätiologie sozialen Leidens geht Horkheimer nämlich von der Feststellung aus, dass sich die im historischen Zusammenhang – in der zweiten Natur – von modernen Gesellschaftsformen bereits verfügbaren Freiheitsmöglichkeiten aufgrund der kapitalistischen Verwertungslogik nur mangelhaft verwirklichen lassen. Diese von Horkheimers Kapitalismuskritik zur Darstellung gebrachte überflüssige Freiheitseinschränkung wird zusätzlich als die Entstehungsbedingung von sozialen Leidenserfahrungen in dem Maße betrachtet, wie der dadurch bewirkte Verlust an Selbstbestimmung – so nimmt Horkheimer an – letztlich auf eine systematische Verkümmerung menschlicher Fähigkeiten, die mit psychoanalytischen Kategorien als Ich-

 Von Naturalisierung kann man berechtigterweise nur sprechen, so werde ich argumentieren, wenn soziale Leiden nicht einfach verweigert werden, sondern in komplizierter Weise nicht mehr als gesellschaftlich bedingt – und hingegen etwa nur als persönliches Unglück oder gar als selbstverschuldet – angenommen werden. Die emanzipationstheoretische Frage sozialphilosophischen Leidenskritik besteht folglich nicht nur darin, ob soziales Leiden als politisch relevant (zum Beispiel als Folge seiner öffentlichen Darstellung in sozialen Bewegungen) betrachtet wird; vielmehr verweist diese Frage auch auf eine vorausliegende und umstrittene Bestimmung dessen, was als soziales Leid anerkannt wird. In Bezug auf Ungerechtigkeitserfahrungen wird eine solche Frage etwa von Judith Shklar behandelt – vgl. Shklar 1997.

1 Einleitung

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Kräfte begriffen werden, hinauslaufen muss (Kapitel 2). Schließlich lässt sich Horkheimers Antwort auf die emanzipationstheoretische Frage einer sozialphilosophischen Leidenskritik anhand einer Behandlung seiner ideologiekritischen Überlegungen sowie seines Entwurfs einer Mitleidsethik aufklären, da mit ihnen auf unterschiedlichen Wegen sowohl die Naturalisierung als auch die potenzielle Abschaffung von sozialen Leiden im historischen Zusammenhang moderner Gesellschaftsformen reflektiert werden (Kapitel 3). Im zweiten Teil der Arbeit beschäftige ich mit Axel Honneths Anerkennungstheorie und überprüfe die Möglichkeit, die zuvor von Horkheimers Ansatz entworfenen Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik mit anerkennungstheoretischen Mitteln zu beantworten. Als Ausgangspunkt für die Bezeichnung der Verfahrenweise einer anerkennungstheoretisch fundierten Leidenskritik nehme ich Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit, weil sich ausgehend von dieser Grundlage zum ersten Mal die Möglichkeit eröffnet, die zweite Natur sozialer Lebensformen intersubjektiv auszudeuten. Der später von Honneth vollzogene Übergang von Kommunikation zur Anerkennung als Grundbegriff einer Kritischen Theorie lässt sich insofern als Versuch verstehen, diese intersubjektive Wende auf einer anderen kategorialen Basis fortzusetzen, die es unter anderem erlaubt, sozialen Leidenserfahrungen (anders als Habermasʼ diskurstheoretische Gerechtigkeitskonzeption) nochmals eine besondere, begriffsbildende Bedeutung zuzusprechen (Kapitel 4). Ausgehend von diesen kategorialen Erneuerungen versuche ich dann zu erläutern, inwiefern mit dem Anerkennungsbegriff eine veränderte Konzeption der zweiten Natur von sozialen Lebensformen und dementsprechend ein anderes Verständnis der Bildungsprozesse individueller Autonomie einhergeht, um anschließend auf die Frage einzugehen, ob sich Honneths Kritik an Erfahrungen moralischer Missachtung auch in dem bisher angesprochenen Sinne einer sozialphilosophischen Leidenskritik verstehen lässt – das heißt als Identifizierung von überflüssigen Freiheitseinschränkungen moderner sozialer Lebensformen, die subjektive Beeinträchtigungen hervorrufen (Kapitel 5). In den folgenden zwei Kapiteln behandle ich den jüngsten Versuch von Honneth, basierend auf Hegels Sittlichkeitslehre einen Begriff „sozialer Freiheit“ auszuformulieren. Als Leitfaden der kategorialen Unterscheidung zwischen Fragen der Gerechtigkeit (Kapitel 6) und einer Diagnose von Sozialpathologien (Kapitel 7) versuche ich dann zeigen, inwiefern Honneths Konzeption „sozialer Freiheit“ den ätiologischen und emanzipationstheoretischen Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik gerecht werden kann. Schließlich kehre ich kurz auf die anfangs beschriebenen gegenwärtigen Auseinandersetzungen zurück und versuche zu umreißen, inwiefern sich aus einer im kategorialen Rahmen der Kritischen Theorie verfahrenden Leidenskritik auch Einsichten zu aktuellen Debatten über soziale Gerechtigkeit gewinnen lassen. Dieser Absicht entsprechend unternehme ich kurz den Versuch, die umstrittene Bedeutung von „sozialen Wohlfahrtsrechten“ aus der Perspektive einer sozialphilosophischen Leidenskritik zu reflektieren: Der Wert von sozialen Rechten würde darin bestehen, so werde ich in groben Zügen skizzieren, eine Art von Schutzvorrichtung gegenüber

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1 Einleitung

historisch sich wandelnden überflüssigen, insofern sozialen Leidenserfahrungen zu ermöglichen (Kapitel 8). Zum Schluss stelle ich einige allgemeine Überlegungen zum Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und sozialem Leiden nach der in den vorherigen Kapiteln allmählich entwickelten Argumentation an. *** Dieses Buch greift auf eine Dissertationsarbeit zurück, die ich im Frühjahr 2016 am Philosophischen Institut der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main vorgelegt habe. Danken möchte ich zuerst Axel Honneth, der als Doktorväter diese Arbeit auf eine theoretisch sehr herausfordernde und zugleich anerkennungsgewährende Weise fortlaufend begleitet hat. Auch Christoph Menke verdanke ich sehr seine Bereitschaft, meine Arbeit ermutigend zu betreuen und ständig wertvolle Anregungen vorzuschlagen. Von beiden habe ich vor allem erfahren können, inwieweit kritisches Denken auch von unterstützenden sowie freiheitsermöglichenden Beziehungen abhängig ist. Im Rahmen des von Axel Honneth organisierten wöchentlichen Kolloquiums zur Sozialphilosophie an der Goethe Universität hatte ich zudem fünf Jahre lang die Möglichkeit, mein eigenes Projekt bezüglich gegenwärtiger Debatten der Kritischen Theorie und der innovativen Forschungen seiner Mitglieder enorm zu bereichern. Der Internationale Arbeitskreis für Kritische Theorie an dem Frankfurter Institut für Sozialforschung hat eine weitere sehr wichtige Instanz für die Entwicklung meiner Arbeit dargestellt, sofern als ein Ort von grundsätzlichen philosophischen Diskussionen und kooperativen Lernprozessen gedient hat. Viel mehr als ich hier eigentlich aussprechen kann, verdanke ich zuletzt Javiera und Julieta. Denn gemeinsam mit ihnen habe ich die Grundüberzeugung Hegels alltäglich bestätigen können, dass Liebe eine Erfahrung der Freiheit ist.

Teil 1 Kritische Theorie als Leidenskritik Grundzüge einer materialistischen Leidenskritik

Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik In einer der Notizen, die das Kernstück von Horkheimers Spätphilosophie ausmachen, heißt es: „Das Leiden ist die Tatsache, von der alle Überlegungen über das menschliche Leben ausgehen müssen.“¹ Im Rückblick lässt sich außerdem festhalten, dass dieser Gedanke wie ein Grundmotiv seine gesamten theoretischen Anstrengungen durchzieht: Nicht nur in seinen stärker von Schopenhauer beeinflussten späten Schriften, sondern schon in seinem frühen Entwurf einer philosophisch fundierten und zugleich durch sozialwissenschaftliche Leistungen informierten kritischen Gesellschaftstheorie ist deutlich die Absicht zu erkennen, eine sozialphilosophische Leidenskritik herauszuarbeiten.² In diesem Kapitel soll eine erste Annäherung an Horkheimers Versuch einer materialistischen Leidenskritik vollzogen werden. Zuerst werde ich zu zeigen versuchen, dass Horkheimer in seinen frühen Schriften das sogenannte Theodizeeproblem anspricht und auf der Basis von materialistischen Prämissen zu der Überzeugung gelangt, dass sich soziale Leidenserfahrungen keineswegs rechtfertigen, sondern nur erklären lassen. So hält er schon in seiner Schrift über die frühbürgerlichen Geschichtsphilosophien fest: „Daß die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirklicht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann, ist eine Tatsache, aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt. Zwischen diesen beiden Tatsachen gibt es eine Reihe von erklärenden Zusammenhängen, aber keinen rechtfertigenden Sinn.“³ Die Notwendigkeit dieser begrifflichen Verschiebung, so möchte ich hier aufzeigen, wird von Horkheimer auf dem Weg einer Metaphysikkritik allmählich begründet und zielt auf eine gesellschaftstheoretische Aufhebung oder „materialistische Dekonstruktion der Philosophie“ ab (1.1.).⁴ Damit stellt sich notwendigerweise die Frage, was als eine materialistische Erklärung von sozialen Leiden zu verstehen ist. In seinen programmatischen Schriften entwirft Horkheimer eine Antwort darauf, wie zweitens zu zeigen ist, die sich unter der folgenden Einsicht zusammenfassen lässt: Allein eine Gesellschaftskritik, für die das Leiden nicht einfach einen Erkenntnisgegenstand darstellt, sondern die sich von ihm in ihrer begrifflichen Struktur selbst in Form eines emanzipatorischen Interesses bestimmen lässt, könnte tatsächlich der Gefahr einer weiteren Rechtfertigung – mit

 Horkheimer 1952, S. 203.  Zur Bezeichnung des frühen interdisziplinären Forschungsprogramms der Kritischen Theorie siehe Dubiel 1978.  Horkheimer 1930a, S. 249.  Diesen Ausdruck entnehme ich Brunkhorst 1985. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-002

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Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik

Horkheimers Worten: einer metaphysischen Verklärung – entgehen. Ausgehend von diesem immanenten Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Wille zur Veränderung der Welt, mit dem Horkheimer gerade die Grundbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie zusammenfasst, lassen sich schließlich sowohl die ätiologischen wie auch die emanzipationstheoretischen Fragestellungen einer materialistischen Leidenskritik bezeichnen (1.2.).

1.1 Das Theodizeeproblem. Zur Sinnlosigkeit menschlichen Leids Die Metaphysikkritik, die Horkheimer in seinen programmatischen Schriften der dreißiger Jahre anbringt, wird nicht nur von dem Interesse geleitet, sich vom damaligen Wiederaufleben von lebensphilosophischen Strömungen abzugrenzen; vielmehr versucht er auf diesem Weg allmählich auch die begrifflichen Grundlagen und die praktische Selbstverortung einer auf menschliche Emanzipation ausgerichteten kritischen Gesellschaftstheorie zu gewinnen. All die von ihm kritisierten geistigen Strömungen – nicht nur irrationalistische Weltanschauungen, sondern auch das positivistisch verkürzte Selbstverständnis der modernen Wissenschaften und nicht zuletzt der dogmatisierte Marxismus – beharren auf einer Verabsolutierung von Einzelteilen des bereits in die Krise geratenen Hegel’schen Systems und wirken gleichermaßen, so Horkheimers Überzeugung, als metaphysische Verklärungen des Geschichtsverlaufs. Der Schwerpunkt seiner Stellungnahme zum „Ende der Metaphysik“ besteht aber vor allem darin, dass dies ihm zufolge der geistige Ausdruck einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Situation wäre und daher sein Ausweg nicht mehr als eine Erneuerung im Rahmen der traditionellen Philosophie gedacht werden könnte. Es bedürfte eines „Praktischwerden[s] der Philosophie“⁵, um deren Wahrheitsgehalt auch angesichts der gescheiterten Revolution noch retten zu können. Horkheimers Metaphysikkritik verfährt insofern in der anspruchsvollen und produktiven Form einer gesellschaftstheoretischen Aufhebung der Philosophie und läuft schließlich auf die berühmt gewordene Konzeption einer kritischen Gesellschaftstheorie hinaus, die durch „eine fortwährende dialektische Durchdringung und Entwicklung von philosophischer Theorie und einzelwissenschaftlicher Praxis“ gekennzeichnet ist.⁶

 Vgl. Habermas 1986, S. 164.  Horkheimer 1931, S. 29. Selbst wenn diese Diagnose einer Krise des idealistischen Vernunftbegriffs auch von den anderen Vertretern der frühen kritischen Gesellschaftstheorie geteilt wurde, lässt sich offenbar nur bei Horkheimer die Vorstellung einer sozialwissenschaftlichen Umwandlung der Philosophie erkennen. Wie beispielsweise Brunkhorst festgestellt hat, waren jene Philosophen – etwa Adorno oder Marcuse – damals vor allem vom Interesse einer „innerphilosophische[n] Destruktion der Metaphysik“ geleitet, während Horkheimer mit der Idee einer materialistisch fundierten Kritischen Theorie eher eine „anti-philosophische“ Stellung einnimmt. Siehe Brunkhorst 1985, S. 357 ff.; vgl. dazu auch Hartmann 1990, S. 159 ff. und Jay 1982.

1.1 Das Theodizeeproblem. Zur Sinnlosigkeit menschlichen Leids

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Es ist nun nicht schwer wahrzunehmen, dass Horkheimer bereits in jener geschichtlichen Lesart der Krise der metaphysischen Doktrinen wesentlich nach materialistischen Prämissen, ja nach den Grundannahmen einer marxistischen Geschichtsphilosophie vorgeht, um sich den Zusammenhang zwischen Theorie beziehungsweise Wissenschaft und Geschichte klarzumachen. In der Tat interpretiert er jenen Verweisungszusammenhang im Sinne einer gegenseitigen Bezogenheit: Zum einen würden die Erkenntnisleistungen eine ständige geschichtliche Bedingtheit erweisen, die sich nicht nur in den Wissenschaftsmethoden, sondern auch in der Art und Weise ihrer Problemstellungen ausdrückt⁷; und zum anderen wären die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zugleich eine mitwirkende Kraft im wirklichen Lebensprozess der Gesamtgesellschaft – und zwar als Produktivkräfte, die Innovationen in der Naturbearbeitung ermöglichen und daher die Selbsterhaltung menschlicher Lebensform begünstigen.⁸ Ausgehend von dieser historisch-materialistischen Erkenntnistheorie lassen sich bereits zwei Grundmotive der frühen Horkheimer’schen Leidenskritik festmachen. Zuerst wird offensichtlich, dass Horkheimer deshalb noch auf das emanzipatorische Potenzial der wissenschaftlichen Leistungen vertraut, weil er sie als Instrument der menschlichen Naturbeherrschung und somit als Ausdruck eines vernünftigen sozialen Handelns, nämlich der Arbeitspraxis, betrachtet. Die damals zunehmende Unzufriedenheit und Skepsis gegenüber der Wissenschaft werden von Horkheimer dementsprechend so erklärt, dass sie wegen gesellschaftlicher Blockaden ihre „geknüpfte[n] Erwartungen“, „die Linderung der allgemeinen Not“, nicht vollständig erfüllen kann.⁹ Die technischen Fortschritte im Naturbearbeitungsprozess könnten zur Aufhebung sozialen Elends nicht entscheidend beitragen, weil sie vom für kapitalistische Gesellschaften charakteristischen Widerspruch zwischen einer zunehmenden Entfaltung der Produktivkräfte und einem veralteten gesellschaftlichen Organisationsprinzip, das eine kooperative Aneignung des gesellschaftlich geschaffenen Reichtums strukturell verhindert, ebenso betroffen wären: „Die wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal der Produktivkräfte und Produktionsmittel anderer Art: das Maß ihrer Anwendung steht in argem Mißverhältnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und zu den wirklichen Bedürfnissen der Menschen.“¹⁰

 Das Verleugnen einer solchen historischen Bedingtheit sei nicht erst im Positivismus sichtbar, sondern nach Horkheimer bereits in der Hegel’schen Philosophie angelegt: „Die Ansicht, daß dieses [das Hegel’sche System, CS] die Vollendung der Wahrheit sei, verhüllt ihm die Bedeutung des zeitbedingten Interesses, das in die einzelnen dialektischen Darstellungen durch die Richtung des Denkens, die Auswahl des inhaltlichen Materials, den Gebrauch von Namen und Worten mit hineinspielt.“ Horkheimer 1935b, S. 289.  Vgl. Horkheimer 1932a, S. 40.  Horkheimer 1932a, S. 41.  Horkheimer 1932a, S. 41. Dieses Verständnis der fortschrittlichen Zielsetzungen wissenschaftlicher Erkenntnisse, denen noch eine objektive Rolle in der Aufhebung der Quellen sozialen Leidens zugeschrieben wird, erfährt in den späteren Schriften Horkheimers eine radikale Umdeutung. Eine skeptischere Position, die insbesondere nach der Dialektik der Aufklärung in den Vordergrund gestellt wird,

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Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik

Trotz dieser durch klassenherrschaftliche Strukturen verhinderten Verwirklichung eines rationalen Potenzials kann Horkheimer allerdings weiterhin annehmen, dass die vernünftige Bestimmung des naturbearbeitenden Handelns dadurch nicht gänzlich zerstört wird; seine Leistungen und Innovationen wären dagegen immer reicher, selbst wenn es wegen des geschichtlichen Unvermögens einer vernünftigen sozialen Aneignung auch eine Tendenz zum Irrationalismus gäbe, die schließlich in der organisatorischen Zersplitterung der Einzelwissenschaften und im Wiederaufleben von ontologischen Geschichtsphilosophien zum Ausdruck käme.¹¹ Was sich damit abzeichnet, ist demnach nicht nur jene schon bei Marx anzutreffende Einsicht über die zivilisatorischen Wirkungen kapitalistischer Entwicklung, sondern auch die maßgebliche Vermutung, dass auch unter unfreien gesellschaftlichen Bedingungen ein in der vernünftigen Struktur menschlicher Praxis selbst angelegtes emanzipatorisches Interesse bestehen bleibt.¹² Insofern begreift Horkheimer – deutlich in der Nachfolge von Marx und Nietzsche – den Versuch einer allumfassenden metaphysischen Weltdeutung als Ausdruck einer wirklich bestehenden Ohnmacht. Die traditionellen Themenkomplexe metaphysischer Lehren – und zwar ihre „Beschäftigung mit dem ‚Rätsel‘ des Daseins, mit dem ‚Ganzen‘ der Welt, mit ‚dem Leben‘, dem ‚An-Sich‘“ – zielen auf die Begründung einer bloß gedanklichen moralischen Einstellung, eine „diesem Sein angemessene Haltung“¹³, die angeblich in der Lage wäre, die wirkliche, auf eine mangelhafte Organisation gesellschaftlicher Arbeit zurückzuführende Ohnmachtserfahrung der Menschen zu beruhigen. Demgegenüber hält Horkheimer fest: „Es gibt kein ewiges Rätsel der Welt, kein Weltgeheimnis, das ein für allemal zu ergründen die Mission des Denkens wäre; diese Ansicht, […] entspricht heute dem engen Horizont von Individuen und Gruppen, die aus ihrer gefühlten Unfähigkeit, die Welt durch rationale Arbeit zu verändern, nach Universalrezepten greifen, sie zwangshaft festhalten, eintönig memorieren und wiederholen.“¹⁴ Obgleich Horkheimer damit vor allem die geschichtlichen Wurzeln der moralischen Unterwerfung unter totalitäre Herrschaftsstrukturen freilegen will, erweist sich hier eine für seine materialistische Leidenskritik maßgebende geschichtsphilosophische Bestimmung. Was er den metaphysischen Weltanschauungen in erster Linie vorwirft, besteht somit in der Verklärungsrolle, die sie nach verschiedenen Prämissen angesichts der wirklichen menschlichen Leidenserfahrungen spielen. Sowohl das Beharren der idealistischen Lehren auf der Verkündung eines vermeintlich absoluten Sinns des Geschichtsverlaufs sowie das des Positivismus auf dem unveränderbaren Charakter des

lässt sich schon in einigen Aufsätzen von Anfang der vierziger Jahre erkennen. Siehe etwa Horkheimer 1940a, S. 338 ff. sowie 1941, S. 420.  Siehe Bonß/Schindler 1982, S. 33 ff.  Auf diese Annahme werde ich später zurückkommen, um Horkheimers Emanzipationsvorstellung aufzuklären.  Vgl. Horkheimer 1933a, S. 14.  Horkheimer 1935b, S. 294 f.

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jeweils Gegebenen wären Horkheimer zufolge rückschrittliche und ideologische Geschichtsauffassungen, da sie letzten Endes entweder auf eine jenseitige sinngebende Rechfertigung oder auf die Behauptung einer geschichtlichen Unvermeidbarkeit des erlittenen Unrechts hinauslaufen. Das Verhältnis zwischen Metaphysik und menschlichem Leid, das insbesondere seit Leibnizʼ berühmter Abhandlung als das moderne „Theodizeeproblem“ behandelt wird, wird von Horkheimer nun andersherum in Angriff genommen: Es handelt sich nicht mehr um eine mit der göttlichen Schöpfung gegebene oder naturhafte menschliche Unvollkommenheit (malum metaphysikum), die sowohl die Möglichkeit des „physischen Übels“ (malum physikum) wie auch des Bösen (malum morale) schaffen würde¹⁵, sondern es wären hingegen die konkreten Leidenserfahrungen und die wirkliche Ohnmacht der Menschen, was den abgeschlossenen metaphysischen Sinndeutungen zugrunde liegt.¹⁶ Der Idealismus hätte zwar schon die menschlichen Wurzeln des Bösen deutlich freigelegt, aber nach Horkheimer dennoch weiterhin eine Verklärungsrolle gespielt, indem er eine unentrinnbare Leidensquelle – „der einmalige wirkliche Tod der einzelnen Menschen“ – „vor dem absoluten Geist oder auch dem transzendentalen Bewußtsein als eine bloße Illusion“ betrachtete: „Aber der Tod ist theoretisch auf keine Weise ‚sinnvoll‘ zu machen; vielmehr erweist sich an ihm die Ohnmacht aller sinngebenden Metaphysik und jeder Theodizee.“¹⁷ Im Gegensatz zum idealistischen Streben nach einer „authentischen“ (Kant) oder „wahren“ Theodizee (Hegel) versucht Horkheimer daraufhin zu zeigen, dass jede Metaphysik und daher jede rechtfertigende Sinndeutung menschlichen Leidens prinzipiell, das heißt allein schon angesichts menschlicher Vergänglichkeit, fragwürdig ist. All diese theoretischen Versuche, so kann man es kurz formulieren, führen schließlich zu verschiedenen Rechtfertigungen von Erfahrungen, die sich nicht rechtfertigen lassen. Damit wird gerade der Schwerpunkt der frühen Metaphysikkritik Horkheimers berührt, das bedeutet jene an zahlreichen Stellen seiner programmatischen Aufsätze ausgedrückte Überzeugung, dass das menschliche Leiden eine sinnlose Erfahrung darstelle. Es ist vor dem Hintergrund dieser Grundansicht, dass er nicht nur alle Versuche einer Theodizee – sei es eine religiöse oder eine säkulare Einbettung

 Vgl. Janßen 1989, S. 28 f.  In Horkheimers Schriften der dreißiger Jahre ist keine systematische Unterscheidung zwischen moralischen Unrechtserfahrungen und physischen beziehungsweise psychischen Leiden zu finden. Der Grund dafür liegt nach meiner Einsicht in seiner besonderen Konzeption von Freiheitseinschränkungen, die ich später rekonstruieren werde. Auf jeden Fall lässt sich an dieser Stelle schon behaupten, dass die These einer „Verschiebung der Erfahrungsbasis des Leidensbegriffs“ (nämlich von materialistisch diagnostizierten physischem Leiden zur – nach der geschichtsphilosophischen Wende der kritischen Gesellschaftstheorie – psychischen oder geistigen Not) äußerst fragwürdig ist; zu dieser These siehe Müller 2001, S. 49 ff. Bereits in den Notizen von Dämmerung können zum Beispiel verschiedene Erfahrungen von moralischer Missachtung sowie von psychischem Leiden erkannt werden – siehe etwa die Notizen „Monadologie“, „Zweierlei Tadel“ und „Spielregeln“.  Horkheimer 1930a, S. 248 f.

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menschlichen Leidens in eine sinnvolle geschichtliche Erzählung¹⁸ – kritisiert, sondern auch die für eine Kritische Theorie wesentliche Aufgabe einer Erklärung von den wirklichen Leidenserfahrungen entwirft: Gewiß sind jene wirklichen Leiden, deren Reflex die Utopie ist, durch den Prozeß bedingt, ohne den die Erlösung von ihnen nicht denkbar ist; aber nichts widerspricht der Aufgabe einer wirklichen Philosophie mehr als die Weisheit, welche in der Feststellung jener Notwendigkeit sich befriedigt fühlt. […] Geschichtsphilosophisch gilt jedenfalls: die Erklärung des bisherigen Geschichtsverlaufes, die zum großen Teil noch geleistet werden muß, ist etwas anderes als seine unmögliche Rechtfertigung.¹⁹ Das Theodizeeproblem wird insofern, so lässt sich diese Verschiebung zusammenfassen, in Form einer sozialphilosophischen Leidenskritik aufgelöst, deren Ziel von nun an in der Erklärung von soziales Leiden auslösenden geschichtlichen Verhältnissen bestehen soll. Die Grundlagen dieser Umdeutung, so will ich nun argumentieren, verweisen auf wesentliche Prämissen in Horkheimers Denken sowie auf seine Diagnose sozialen Unrechts im historischen Zusammenhang kapitalistischer Gesellschaften. Auf einer grundsätzlichen Ebene lassen sich insofern jene Denkmotive ausmachen, die Horkheimers Kritische Theorie der Schopenhauer’schen Willensmetaphysik und der philosophischen Tradition des Materialismus verdankt. In jener schon angesprochenen Hervorhebung der menschlichen Sterblichkeit als unwiderrufliche, vorsoziale Leidensquelle sind deutlich Grundzüge des Schopenhauer’schen Pessimismus wiederzuerkennen; denn auch nach Horkheimer stellen Vergänglichkeit und Verlassenheit strukturelle Eigenschaften aller menschlichen Lebensformen dar: „[D]ie Realität ist weder einheitlich noch ewig, die Menschen leiden und sterben für sich allein und unter verschiedenen Zuständen.“²⁰ Für eine zukünftige, emanzipierte Gesellschaft wäre es ferner als ein schlechthin unaufhebbarer Charakterzug hinzunehmen, womit Horkheimer zugleich die Vorstellung einer absoluten Gerechtigkeit infrage stellt, denn „es existiert nichts, was nicht entsteht und vergeht“.²¹ „Der Materialismus – so stellt er auch fest – kennt keine zweite Wirklichkeit, weder eine, die der unsrigen zugrunde läge, noch eine, die sie überwölbte. […] denn der Tod ist nicht der Friede, sondern er führt wirklich ins Nichts. Die Liebe zu den Menschen, wie sie der Materialismus versteht, gilt nicht Wesen, die nach ihrem Tode in der Ewigkeit geborgen sind, sondern den ganz im Ernst vergänglichen Individuen.“²²

 Nicht zu übersehen ist jedoch die Tatsache, dass Horkheimer das Verhältnis zwischen Religion und Leiden ambivalenter als etwa Marx oder Nietzsche betrachtet, weil nach ihm die religiösen Vorstellungen auch die unerfüllten Wünsche und Gerechtigkeitsforderungen der Menschheit geschichtlich aufbewahren. Diese Idee, die in seiner Spätphilosophie eine besondere Rolle spielt, wird bereits in früheren Schriften angedeutet – siehe exemplarisch Horkheimer 1935c.  Horkheimer 1930a, S. 249.  Horkheimer 1934a, S. 239.  Horkheimer 1932b, S. 54.  Horkheimer 1934b, S. 215. Zu diesem Grundmotiv in Horkheimers Denken vgl. auch Post 1971.

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Diese pessimistischen Züge werden allerdings gleichzeitig unter der geschichtsphilosophischen Grundannahme einer ständigen Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur umgedeutet. Daraus folgt eine eigentümliche Ansicht, der zufolge die menschliche Vergänglichkeit zwar niemals zu überwinden wäre, aber immer eine gesellschaftlich vermittelte Erfahrung verkörpern würde. Nur in einer Gesellschaft, so will Horkheimer hervorheben, in der der Lebenszusammenhang fortdauernd ohne einen allgemeinen Willen reproduziert wird, das heißt, „[s]olange das gesellschaftliche Leben nicht aus solidarischer Arbeit, sondern aus der vernichtenden Konkurrenz von Einzelsubjekten hervorgeht“, wird „der eigene Tod, soweit dieses Verhältnis nicht durch metaphysischen oder religiösen Trost gemildert wird“, unmittelbar mit der belastenden Vorstellung einer „absoluten Vernichtung“ gleichgesetzt.²³ Aus der unentbehrlichen Vergänglichkeit aller menschlichen Lebensformen ergibt sich daher keine skeptische oder nihilistische Haltung, sondern der naturverankerte Impuls für jedes „wahrhafte Denken“ – „in Wirklichkeit beginnt das aufrichtige Bewußtsein und Handeln gerade dort, wo sich diese einfache Wahrheit durchsetzt und festgehalten wird.“²⁴ Es ist gerade diese marxistische Umdeutung der Grundeinsichten Schopenhauers, was – wie sich zeigen wird – Horkheimer auch zum Entwurf einer Mitleidsethik als Emanzipationsvorstellung führt. Die Tradition des philosophischen Materialismus liefert einen weiteren Anhaltspunkt für die Erläuterung der Sinnlosigkeit menschlichen Leidens, sofern sie zu jeder Zeit – vom antiken Eudämonismus über deren frühbürgerliche anthropologische (Machiavelli und Hobbes) sowie idealismuskritische Auffassungen (Feuerbach) bis zum Marxismus – auf eine rein gedankliche Sinndeutung des Geschichtsverlaufs und damit auf eine unmittelbare Ausrichtung oder Rechtfertigung des menschlichen Handelns verzichtet hätte: „Die Materie ist an sich selbst sinnlos, aus ihren Qualitäten folgt keine Maxime für die Lebensgestaltung: weder im Sinn eines Gebotes noch eines Musterbildes.“²⁵ Der Materialismus hätte dagegen die Erkenntnisprozesse stets „in Wechselwirkung mit dem Handeln der Menschen“ verstanden, womit er einen zerstörenden Eindruck auf alle ideologischen Verklärungen der wirklichen Geschichte ausüben konnte. Von der materialistischen Tradition aber übernimmt Horkheimer nicht nur die Idee, dass jede erdenkliche Sinndeutung der Geschichte notwendig auf die konkrete Handlung der Menschen zurückzubeziehen wäre und daher schlechthin einen endlichen Charakter hätte, sondern auch eine maßgebende sensualistische Annahme – und zwar die Vorstellung, dass „das Streben der Menschen nach ihrem

 Horkheimer 1935b, S. 313. Zur gesellschaftlichen Umdeutung des Todesfaktums vgl. exemplarisch auch die Notiz „Alle müssen sterben“ in Dämmerung – Horkheimer 1931/1934, S. 345 ff.  Horkheimer 1935a, S. 257.  Horkheimer 1933a, S. 16. Zu Horkheimers Lesart der materialistischen Tradition siehe Sattler 1996, S. 73 ff. und Abromeit 2011, S. 85 ff.

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Glück als eine natürliche, keine Rechtfertigung bedürftige Tatsache anzuerkennen sei“²⁶. Eben in dieser Ansicht eines konstitutiven, „unbedingte[n] Glückverlangen[s]“²⁷ liegt nach Horkheimer eine der wesentlichen kritischen Bedeutungen vom „materialistischen Denken“, da es die Befriedigung menschlicher Glücksansprüche „angesichts der Entwicklung der Produktivkräfte“²⁸ zu jeder Zeit als kritischen Maßstab eingesetzt hätte. Die Geschichte des Materialismus sei insofern so zu rekonstruieren: als die sich je nach historischen Voraussetzungen wandelnden Versuche, überflüssige Entbehrungen und Triebverzichte – etwa die Opferung von individuellen Wünschen zugunsten vermeintlicher höherer Wertvorstellungen²⁹ – zu verurteilen. Während in der Antike die Abschaffung überflüssiger Leiden, sofern die „äußeren Mittel“ noch fehlten, vor allem als „Seelenruhe“ konzipiert war, versuchte der „Materialismus des frühen Bürgertums“ diese Abschaffung später durch die Verbesserung der Naturbeherrschung zu erreichen, was aber gegenwärtig wieder unzulänglich sei, denn „das Elend der Gegenwart […] ist an die gesellschaftliche Struktur geknüpft. Darum bildet die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materialismus“³⁰. Bekanntermaßen schenkt auch Marcuse diesem sensualistischen Zug einer materialistischen Gesellschaftskritik besondere Aufmerksamkeit. Er stellt ebenfalls fest, dass diese hedonistische Tradition, indem sie auf den „inneren Zusammenhang zwischen Glück und Freiheit“ beziehungsweise „Glück und Vernunft“ insistiert, stets einen „materialistischen Protest“ gegen die „Verinnerlichung des Glücks“ und die „Moralisierung der Lust“ ausgedrückt hat. Die geschichtliche Dimension dieses kritischen Urteils kommt nun deutlich zutage, sofern die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse nicht als eine bloße individuelle Forderung, sondern als die praktische Aufgabe der Einrichtung – mittels kooperativer Arbeit – einer entsprechenden Wirklichkeit angenommen wird: „Die Wirklichkeit des Glücks ist die Wirklichkeit der Freiheit, als der Selbstbestimmung der befreiten Menschheit in ihrem gemeinsamen Kampfe mit der Natur.“³¹ Ebenfalls in diesem Sinne argumentiert Horkheimer, wenn er feststellt: „Glück ist nicht bloß eine Empfindung, sondern eine reale Verfassung der Menschen. Über das Glück kann man sich täuschen.“³² Eine angemessene oder freie Bedürfnisbefriedigung wäre daher nicht nach bloß individuellen Vorlieben zu bestimmen, sondern eine je nach wandelnden historischen Voraussetzungen immer

 Horkheimer 1933a, S. 40. Zum Glücksproblem in der materialistischen Philosophie siehe auch Schmidt 1977b.  Horkheimer 1936b, S. 53.  Horkheimer 1933a, S. 21.  Das Problem eines moralisch sanktionierten Triebverzichts als Wesenszug der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt Horkheimer vor allem in seiner Schrift über den Stellenwert des Egoismus in der Moderne. Siehe Horkheimer 1936b.  Horkheimer 1933a, S. 21.  Marcuse 1938, S. 285.  Horkheimer 1938a, S. 293.

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gesellschaftlich vermittelte Erfahrung, die auf die „Entfaltung und glückliche Betätigung der in der Allgemeinheit angelegten Kräfte“ zielt.³³ Sowohl die Übernahme des materialistischen Hedonismus als auch die Umdeutung der Grundmotive Schopenhauers laufen daher schließlich auf eine nach der Marx’schen Grundannahme der historischen Schlüsselstellung naturbearbeitender Praxis uminterpretierte Konzeption zweiter Natur von sozialen Lebensformen hinaus. Die Struktureigenschaften sozialen Lebens wären ständig, so ließe sich Horkheimers Überzeugung zusammenfassen, durch naturverankerte Tatbestände mitgeprägt, also durch die Vergänglichkeit menschlicher Existenz und die immer gesellschaftlich umgeformten sinnlichen Glückansprüche, deren Bedeutung sich aber erst aus der Art und Weise ergäbe, wie die gesellschaftliche Arbeit historisch organisiert wird. Die Sinnlosigkeit des Todesfaktums und die Überflüssigkeit einer Bedürfniseinschränkung würden folglich erst aus den historischen Bedingungen folgen, die eine freie Aneignung dieser Naturaspekte menschlicher Lebensformen ermöglichen oder erschweren.³⁴ Darin wird dann der begriffliche Schlüssel bestehen, mithilfe dessen die sich historisch wandelnde Sinnlosigkeit von sozialen Leidenserfahrungen nach den Grundannahmen einer materialistischen Gesellschaftskritik festzustellen ist. Diese Behauptung lässt sich noch weiter untermauern, wenn Horkheimers Diagnose von sozialem Unrecht im historischen Zusammenhang kapitalistischer Gesellschaften betrachtet wird. Er lässt sich dabei von der Vorstellung leiten, dass dieses soziale Unrecht sich aus einem Zustand sozialer Negativität ergäbe, der Ausdruck der Unmöglichkeit, unter klassenherrschaftlichen Bedingungen die kooperativ hervorgebrachte gesellschaftliche Wirklichkeit frei bestimmen zu können, wäre.³⁵ In einem derartigen Widerspruch liegt nach Horkheimer die Quelle historisch überflüssigen oder unnötigen Leidens: „Eine veraltete, schlecht gewordene Gesellschaftsordnung erfüllt, wenn auch unter Entfaltung unnötiger Leiden, die Funktionen, das Leben der Menschheit, auf einem bestimmten Niveau zu erhalten und zu erneuern. Ihre Existenz ist schlecht, weil eine bessere technisch möglich wäre; sie ist gut, weil sie die reale Form menschlicher Aktivität darstellt und auch die Elemente eine bessere Zukunft einschließt.“³⁶

 Horkheimer 1933b, S. 121.  In diesem Sinne ist für den Materialismus die historisch bestimmte „Struktur der Bedürfnisse“ von Bedeutung. Vgl. Horkheimer 1933a, S. 40. Ähnlich argumentiert Marcuse mit Bezug auf „das wahre Interesse des Individuums“, vgl. Marcuse 1938, S. 279.  Diesen in Horkheimers Schriften mehrfach dargelegten geschichtlichen Widerspruch wird von Honneth folgendermaßen zusammengefasst: „Der den sozialen Lebenszusammenhang hervorbringende Produktionsprozeß ist in der bisherigen Geschichte der Gattung als synthetisierende, kooperative Leistung aller Arbeitssubjekte selbst noch nicht durchschaut. Bislang bringt der gezielt auf Naturbeherrschung angelegte Produktionsprozeß zwar den historischen Fortschritt, die menschlichen Handlungssubjekte aber wissen um ihre gemeinsamen Konstitutionsleistungen nicht.“ Honneth 1989a, S. 14.  Horkheimer 1931/1934, S. 333.

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Die Sinnlosigkeit von Leidenserfahrungen ließe sich dann immer mit Bezug auf den je nach historischen Bedingungen umgedeuteten Unterschied zwischen vorhandenem Leidensdruck und der schon bestehenden Möglichkeit einer Leidensaufhebung erschließen.³⁷ Es ist der Zustand einer solchen sozialen Negativität, die durch Herrschaftsverhältnisse aufrechterhalten wird, was nach Horkheimers Überzeugung bislang den engen Zusammenhang zwischen kulturellem Fortschritt und der Verursachung von überflüssigen Leidenserfahrungen im historischen Rahmen von klassenherrschaftlichen Gesellschaftsformen bestimmt hat: In der bisherigen Geschichte war jede Kulturarbeit nur infolge einer Spaltung in herrschende und beherrschte Gruppen möglich. Das Leid, das mit der stetigen Erneuerung des Lebens der Völker auf einer bestimmten Stufe, besonders aber mit jedem Fortschritt verbunden ist und gleichsam die Kosten darstellt, welche die Gesellschaft aufwendet, hat sich niemals gleichmäßig auf ihre Mitglieder verteilt. […] Entstehen und Verbreitung der Kultur ist von dieser Spaltung nicht zu trennen.³⁸ Es wäre demnach das Organisationsprinzip der Klassenherrschaft, das eine vernünftigere Bestimmung gesellschaftlichen Lebens bislang verunmöglicht und damit die Verursachung von sinnlosen Leidenserfahrungen fortdauernd verstetigt hat: „Schmerzen und Sterben der Individuen innerhalb der Gruppen und Gattungen sind wiederum ungleich verteilt und hängen von Umständen ab, die jedes sinnvollen Zusammenhangs mit dem Leben der Betroffenen entbehren.“³⁹ Erst mit der kapitalistischen Gesellschaft wäre aber eine geschichtliche Stufe erreicht, in der die Perpetuierung von solchen überflüssigen Leidenserfahrungen lediglich von Herrschaftsverhältnissen abhängig wird und daher jede Rechtfertigung – mit Horkheimers Worten: jede Metaphysik – grundsätzlich fragwürdig wird: „Die historische Überwindung des Widerspruchs kann sich erst am Ende des Zeitalters vollziehen, wenn die materiellen Voraussetzungen zur Aufhebung der Klassen entwickelt sind. An seinem Beginn ist kein Ausweg zu erblicken, die soziale Ungleichheit erweist sich als Mittel des Fortschritts, und die Individuen werden dem Weltgeist gleichsam zum Opfer gebracht.“⁴⁰ Diese historische Möglichkeit einer Abschaffung von überflüssigen Leiden wäre nicht nur in materiellen Wohlstandschancen begründet, sondern auch in jenen durch die kapitalistische Entwicklung selbst geförderten moralischen Überzeugungen, die Horkheimer zufolge – ebenso wie schon nach Marx – auf eine Allgemeinheit ab Dazu siehe auch Küsters 1980, S. 80 ff.  Horkheimer 1933b, S. 138.  Horkheimer 1933b, S. 139.  Horkheimer 1938a, S. 259. Noch deutlicher dazu: „Das kapitalistische System in der heutigen Phase ist die im Weltmaßstab organisierte Ausbeutung. Seine Aufrechterhaltung ist die Bedingung unermeßlicher Leiden. Diese Gesellschaft besitzt in Wirklichkeit die menschlichen und technischen Mittel, um das Elend in seiner gröbsten materiellen Form abzuschaffen. Wir wissen von keiner Epoche, in der diese Möglichkeit in solchem Ausmaß wie heute bestanden hätte. Nur die Eigentumsordnung steht ihrer Verwirklichung im Weg, d. h. der Umstand, daß der ungeheure Produktionsapparat der Menschheit im Dienste einer kleinen Ausbeuterschicht funktionieren muß.“ Horkheimer 1931/1934, S. 332 f.

1.2 Die Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik

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zielen: „Als allgemeiner, im Diesseits zu verwirklichender Gegensatz wurde die Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Freiheit und Gleichheit erst in der bürgerlichen Moral anerkannt; erst heute freilich sind die Hilfsmittel der Menschheit groß genug geworden, daß ihre angemessene Verwirklichung als unmittelbare geschichtliche Aufgabe gestellt ist.“⁴¹ Dieser Ansicht entsprechend deutet Horkheimer beispielsweise auch an, dass die durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung getriebene Rationalisierung einen moralischen Lernprozess anstößt, denn die Subjekte wären nun in ihrem „alltäglichen Handeln“ dazu angehalten, „Gründe zu fordern“ – etwa in Form der Geltendmachung des Leistungsprinzips, das alle überkommenen Rechtfertigungen der sozialen Ungleichheit erschüttert.⁴² In kapitalistischen Gesellschaften wäre durch die Anstrengungen naturbearbeitenden Handelns zusammenfassend eine geschichtliche Stufe erreicht, in der jeder Rechtfertigungsversuch von Leidenserfahrungen keinen materiellen und normativen Boden mehr finden kann und daher zwangsläufig dazu verdammt ist, Ideologie zu werden. Angesichts der Krise idealistischer Lehren sowie von positivistischem Glauben an einen geradlinigen Fortschritt lässt sich insofern Horkheimers frühe Metaphysikkritik unter dem Gedanken zusammenfassen, dass „[d]as Leiden und der Tod der Individuen in ihrer nackten Sinnlosigkeit zu erscheinen [drohten].“⁴³ Die Aufgabe einer materialistischen Leidenskritik wäre daher: keine weitere Sinndeutung zu entwerfen, sondern stattdessen die gesellschaftlichen Aufrechterhaltungsbedingungen von sinnlosen Leidenserfahrungen zu erklären.

1.2 Die Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik Horkheimers Versuch, sich von den wichtigsten geistigen Strömungen seiner Zeit auf der Basis materialistischer Grundannahmen kritisch zu distanzieren, hat zu der Notwendigkeit geführt, an die Stelle von metaphysischen Auffassungen eine sozialphilosophische Erklärung menschlicher Leidenserfahrungen treten zu lassen. Die Bedeutung dieser Umwandlung besteht ihm zufolge nicht einfach in ihrem erkenntnistheoretischen Wert oder in erhöhter explanatorischer Kraft, sondern tatsächlich in der damit verbundenen Möglichkeit, eine nicht ideologische, auf die Abschaffung von Leiden ausgerichtete Geschichtskonzeption einzusetzen: Die vollständige gelungene Erklärung, die durchgeführte Erkenntnis der Notwendigkeit eines geschichtlichen Ereignisses, kann für uns, die wir handeln, zum Mittel werden,Vernunft in die Geschichte hinzubringen; aber die Geschichte hat keine Vernunft ‚an sich‘ betrachtet, ist keine wie immer geartete ‚Wesenheit‘, weder ‚Geist‘,

 Horkheimer 1933b, S. 138.  Horkheimer 1935a, S. 255. Zum Leistungsprinzip siehe Horkheimer 1935a, S. 270.  Horkheimer 1931, S. 25.

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Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik

dem wir uns beugen müßten, noch ‚Macht‘, sondern eine begriffliche Zusammenfassung von Ereignissen, die sich aus dem gesellschaftlichen Lebensprozeß der Menschen ergeben. […] Nur die wirklichen Menschen handeln, überwinden Hindernisse und können dazu gelangen, einzelnes oder allgemeines Leid, das sie oder das Naturmächte geschaffen haben, zu verringern.⁴⁴ Gerade damit taucht schon die wichtigste erkenntnistheoretische Frage auf, die von einer materialistischen Leidenskritik notwendig aufgeklärt werden muss: Wie ließen sich Leidenserfahrungen angemessen erklären, ohne zugleich irgendwie zu rechtfertigen, oder wie wäre eine sozialphilosophische Erklärung von Leiden zu leisten, die vor allem ein emanzipatorisches Interesse verfolgen will? Horkheimers Antwort dazu lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Eine Gesellschaftskritik vermöchte eine nicht versöhnende Einstellung gegenüber soziales Leiden hervorrufenden Verhältnissen nur in dem Maße einzunehmen, wie sie es sowohl als eine historisch bedingte und daher menschlich veränderbare Erfahrung wie auch als eine innere praktische Bestimmung ihrer theoretischen Anstrengungen selbst annimmt. Mit anderen Worten: Eine materialistische Leidenskritik sollte sich immer vergewissern, dass ihre wesentlichen Kategorien das gesellschaftlich verursachte Leid nicht einfach als einen Erkenntnisgegenstand annehmen, sondern tatsächlich als eine negative Erfahrung, die immanent ihre begriffliche Struktur selbst ständig in Form eines emanzipatorischen Interesses bestimmt. Die dialektische Einheit von Erkenntnis der Welt und Wille zur Veränderung derselben, die nach Horkheimer eine Grundbestimmung der Kritischen Theorie darstellt⁴⁵, sollte sich demnach auch in der kategorialen Struktur einer materialistischen Leidenskritik verkörpern. Hingegen würden alle theoretischen Versuche, in denen dieser immanente Verweisungszusammenhang verschiedenartig zerstört wird, schließlich auf ideologische Rechtfertigungen von historisch überflüssigen Leidenserfahrungen hinauslaufen. Vor diesem Hintergrund lässt sich zudem besser nachvollziehen, inwiefern Horkheimer eine gesellschaftstheoretische Aufhebung oder materialistische Dekonstruktion der Metaphysik durchzuführen versucht. In der Tat verfährt er dabei nicht so, als ob die von ihm kritisierten Strömungen gar keinen erkenntnistheoretischen Wert besäßen, sondern nach der nuancierteren Ansicht, dass sie an verschiedenen Stellen ihrer begrifflichen Struktur jene dialektische Einheit zerstören und damit zwangläufig in mangelhafte Konzeptionen sozialen Leidens münden. Diese Verfahrensweise tritt deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Hegels Geistphilosophie zutage. Denn selbst wenn Horkheimer seine Metaphysikkritik in der Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus zusammenfasst⁴⁶, lässt er sich dabei immer von der auch bei Marx anzutreffenden Vorstellung leiten, dass mit Hegels Konzeption eines absoluten Geists die metaphysische Tradition ihren Höhepunkt er-

 Horkheimer 1930a, S. 250 f.  Siehe etwa Horkheimer 1937b, S. 137 ff.  Vgl. Horkheimer 1933a, S. 18.

1.2 Die Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik

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reicht, aber zugleich ihre endgültige Krise erfährt – die „metaphysische Verklärung“ des Weltlaufs wird damit auf den Begriff einer „unbedingten Erkenntnis“ selbst gebracht.⁴⁷ Aus diesem Grund, auch wenn Hegel den menschlichen Leidenschaften eine geschichtliche Rolle zuschrieb, wäre er stets der Ansicht einer den Menschen prinzipiell verborgenen und doch geschichtlich wirksamen Vernunft gewesen, was ihn zu einer Vernachlässigung der Gebrechlichkeit sowie des wirklichen Elends von Menschen zugunsten einer absoluten Deutung der Weltgeschichte geführt habe. Eine ideologische Konzeption sozialen Leids findet hier eine erkenntnistheoretische Grundlage: „Die aus dem Prinzip der Identität hergeleiteten Kategorien […] definieren die der Wirklichkeit in letzter Instanz zugrunde liegende Vernunft, auf die Hegel gegenüber der Feststellung der Sinnlosigkeit im einzelnen und des Leids der Kreaturen verweist, und geben ihm die Möglichkeit, davon nur als ‚Schein‘ zu sprechen.“⁴⁸ Trotz dieser grundlegenden Verklärungsrolle wären in Hegels Geschichtsauffassung andererseits Grundeinsichten enthalten, die auf eine Aufhebung der Metaphysik abzielen. Auf einer methodischen Ebene nennt Horkheimer beispielsweise die Einsicht, derzufolge die geschichtliche Entwicklung immer als ein nicht willkürlich, sondern nach überindividuellen Gesetzmäßigkeiten sich vollziehender Lebensprozess zu erklären wäre, sowie das darauf begründete Vorbild einer dialektischen Durchdringung zwischen empirischer Historie und Geschichtsphilosophie als Leitfaden für die begriffliche und lebendige Rekonstruktion von wirklichem Geschichtsverlauf.⁴⁹ Der entscheidende emanzipatorische Impuls von Hegels Lehre wäre aber erst in seiner Absicht einzusehen, „die geistigen Anlagen der Menschen wirklich zur Entfaltung zu bringen“, das heißt in seiner philosophischen Bestimmung des Fortschritts im Freiheitsbewusstsein als Bewertungsmaßstab der geschichtlichen Entwicklung, was Horkheimer zufolge unter materialistischen Prämissen nun als die Aufgabe umzudeuten wäre, die „gesellschaftlichen Ursachen der Verkümmerung und Vernichtung menschlichen Lebens zu erkennen“.⁵⁰ Eine gewissermaßen ähnliche Verfahrensweise lässt sich in Horkheimers Kritik der empiristischen und rationalistischen Denktradition ausmachen. Mit ihrer je nach unterschiedlichen Prämissen durchgeführten Hervorhebung von rein individuellen Denkleistungen⁵¹ legte diese die erkenntnistheoretischen Grundlagen jener von Horkheimer unter dem Begriff der „traditionellen Theorie“ zusammengefassten modernen Konzeption von Wissenschaft fest, die auf einer angeblichen Selbstständigkeit der Erkenntnisprozesse als Wahrheitsbegriff beharrt.⁵² Diesem von seinem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang und seinen praktischen Folgen abstrahierenden theoretischen Selbstverständnis schreibt Horkheimer nachdrücklich einen

     

Vgl. Horkheimer 1932c, S. 296. Horkheimer 1932c, S. 298. Siehe etwa Horkheimer 1932b, S. 51 ff. und Horkheimer 1931, S. 21 f. Horkheimer 1932a, S. 46. Vgl. Horkheimer 1935b, S. 163 ff. Vgl. Horkheimer 1937a, S. 210 ff.

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Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik

ideologischen Charakter zu, weil es letztlich die in kapitalistischen Gesellschaften wirklich vorhandenen Freiheitseinschränkungen systematisch übersehen würde: „Auch das denkende Subjekt ist nicht der Ort, an dem Wissen und Gegenstand zusammenfallen, von dem aus daher ein absolutes Wissen zu gewinnen wäre. Dieser Schein, in dem seit Descartes der Idealismus lebt, ist Ideologie im strengen Sinn, die beschränkte Freiheit des bürgerlichen Individuums erscheint in der Gestalt vollendeter Freiheit und Autonomie.“⁵³ In der zeitgenössischen positivistischen Erkenntnistheorie kommt Horkheimer zufolge eine derartige Verklärung am deutlichsten zum Ausdruck. Ihre zunächst als Reaktion auf die metaphysischen Sinndeutungen konzipierte Konzentration allein auf das Gegebene wäre letztlich um den Preis eines allgemeinen Verzichts auf die Vernunft erkauft, da sie nicht mehr in der Lage ist, zwischen bloßen Tatsachen und einem übergreifenden geschichtlichen Sinn, der die Möglichkeit einer Transzendierung des Faktischen ständig begründet, angemessen zu unterscheiden.⁵⁴ Trotz dieser negativen Beurteilung darf man doch nicht übersehen, dass die wissenschaftlichen Leistungen, sofern sie von philosophischen Prämissen und einer dialektischen Geschichtskonzeption geleitet sind, eine nicht geringe Rolle in Horkheimers Verständnis kritischer Sozialforschung spielen.⁵⁵ Besonders aufschlussreich für das Verständnis der Leidenskritik Horkheimers ist andererseits seine kritische Auseinandersetzung mit lebensphilosophischen Strömungen. Nach ihm hätten sowohl ihre künstlerischen Manifestationen als auch deren philosophische Lehren, etwa bei Nietzsche und Bergson, eine gerade auf das Leid des Einzelnen zentrierte Kritik gegenüber den bürgerlichen Lebensformen zum Ausdruck gebracht, allerdings auf eine unhistorische und letztlich irrationalistische Weise, sofern es als eine schicksalhafte Bestimmung verkündet wird: „Auch in ihm [dem zeitgenössischen Irrationalismus, CS] spiegelt sich freilich noch das Leiden der Individuen in der herrschenden Ordnung, die unvernünftig geworden ist, wider, aber diese Spiegelung ist jetzt verkehrt; denn die Unvernunft und das aus ihr fließende Leiden der Einzelnen wird als Notwendigkeit und gedanklich in ein Gut umgedreht.“⁵⁶ Wenn sie folglich in dem Versuch einer begrifflichen Erklärung zwingend eine Zerstörung der lebendigen Wirklichkeit sieht und ihre Ersetzung durch „bloße Intuition“ oder „unmittelbare Anschauung“ beansprucht, führt dies zu einem „Loblied auf den

 Horkheimer 1937a, S. 227 f.  Vgl. Horkheimer 1937b, S. 127 sowie Horkheimer 1933a, S. 33 ff. Jener Verzicht wird von Horkheimer mit Bezug auf das Paradox des „logischen Empirismus“ dargestellt: Sein Versuch, die Metaphysik endgültig zu zerstören, würde in eine neue Metaphysik münden: „Die Beurteilung der Gegenwart ist belanglos – der jetzt herrschende Zustand ist ein Faktum.“ Horkheimer 1937b, S. 126.  Zur Grundlegung einer philosophisch begründeten Sozialforschung vgl. auch Dubiel 1978, insb. Teil B.  Horkheimer 1934b, S. 168.

1.2 Die Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik

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Sinn des Leidens“, was schließlich ihre Verträglichkeit mit Moralvorstellungen erklärt, die unterdrückende Haltungen wie Opferfreudigkeit und Entsagung begünstigen.⁵⁷ Mit dieser Feststellung lässt sich noch verständlicher machen, was genau Horkheimer mit der Unmöglichkeit einer rein gedanklichen Sinndeutung von Leidenserfahrungen behaupten will. Denn auf den ersten Blick scheint es zwar, dass lebensphilosophische Strömungen gerade die Überzeugung aussprechen, dass eine geschlossene, bloß gedankliche Deutung menschlichen Leidens prinzipiell unmöglich sei; darin aber verwechseln sie die berechtigte Verweigerung einer absoluten Sinndeutung, die sich immer als idealistische Rechtfertigung auswirken mag, mit der Ablehnung von jedem geschichtlichen Sinn, und neigen damit eher zu einer bloß resignativen Haltung. Dagegen würde eine materialistische Gesellschaftskritik, so Horkheimer, die Idee eines „absoluten Sinn[s]“ der Geschichte gewiss verwerfen, doch keineswegs zugleich die eines „objektiven Sinn[s]“, der sich aus der ständigen Auseinandersetzung der Menschen mit der natürlichen Umwelt ergäbe und sich in den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Institutionen und Kulturvorstellungen ausdrückte.⁵⁸ Ohne eine solche Unterscheidung würde eine Leidenskritik unabhängig von historischen Voraussetzungen verfahren und die Möglichkeiten einer Abschaffung von Leiden entweder prinzipiell ausschließen oder nur ahistorisch erklären können.⁵⁹ Insbesondere mit dieser letzten Ansicht hängt ferner Horkheimers Kritik an den frühmodernen Utopisten zusammen. Jene frühen Geschichtsphilosophien – etwa die von Thomas Morus – hätten nämlich die „wirklichen Leiden“ der „verzweifelten Schichten, welche die Unkosten des Überganges zwischen zwei Wirtschaftsformen zu tragen hatten“, deutlich zur Darstellung gebracht, sogar „die Ursachen der gesellschaftlichen Leiden in der Ökonomie“⁶⁰ ausgemacht, aber dieses Leiden dennoch immer von den ebenso darauf begründeten historischen Abschaffungsmöglichkeiten begrifflich entkoppelt: „Die Utopie möchte das Leid der gegenwärtigen Gesellschaft streichen, das Gute an ihr für sich allein behalten, aber sie vergißt, daß die guten und die schlechten Momente nur verschiedene Seiten des gleichen Zustandes sind, weil sie auf den gleichen Bedingungen beruhen.“⁶¹ Eine materialistische Leidenskritik sollte dementsprechend nicht nur die gesellschaftlichen Aufrechterhaltungsbedingungen von sinnlosen Leidenserfahrungen anprangern, sondern im selben historischen Zusammenhang auch die schon gegebenen Möglichkeiten ihrer Aufhebung festmachen. Bekanntlich ist es so in der von Marx begründeten Denktradition, in der dieses geschichtliche Verständnis seinen deutlichsten Ausdruck gefunden hat – denn nach ihr müssen sich die Möglichkeiten menschlicher Emanzipation ebenso in der Struktur von kapitalistischen Gesellschaften ausfindig machen lassen. Nach Horkheimer aber     

Siehe Horkheimer 1934b, S. 168 und S. 183 ff. Horkheimer 1935a, S. 256. Siehe dazu Horkheimer 1933a, S. 29. Horkheimer 1930a, S. 237, 245. Horkheimer 1930a, S. 242.

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Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik

ist sie auch in eine Krise geraten, sowohl wegen der zunehmenden Lähmung der revolutionären Strebungen der Arbeiterbewegung wie auch der dogmatisierenden Tendenzen ihrer begrifflichen Konstruktionen.⁶² Selbst wenn die frühen Schriften Horkheimers gewissermaßen von dieser Sorge insgesamt getrieben sind, lassen sich von seiner Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Marxismus mit Blick auf die Selbstverortung ihrer materialistischen Leidenskritik einige besonders relevante Gesichtspunkte hervorheben. Zunächst einmal zieht Horkheimer grundsätzlich die Art geschichtsphilosophischer Hoffnungen in Zweifel, die exemplarisch in Lukács’ Auffassung revolutionären Bewusstseins vorgebracht worden waren, sofern nach ihm eine solche zukünftig orientierte geschichtliche Gewissheit nur einen weiteren Ausdruck von Metaphysik darstellt: Zur Metaphysik in der hier gemeinten Bedeutung gehört es, das einzelne zu begründen. […] Sie leitet es vielmehr als notwendig aus dem Gedanken einer höheren Einheit ab oder behauptet wenigstens eine solche Einrichtung der Welt, daß unter gewissen Voraussetzungen der Inhalt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft grundsätzlich als an einer Stelle notwendig einzusetzen wäre. […] Diese Überzeugung ist auch dort maßgebend, wo die Erkenntnis des Seinsgrundes als Entwicklungsgang angesehen oder ans Ende der Zeiten verlegt ist.⁶³

An ihre Stelle sollte eine prinzipiell unabgeschlossene, die historisch sich wandelnden Interessen der Menschen immer mit einbeziehende Konzeption des wirklichen Geschichtsverlaufs treten⁶⁴, die somit sowohl mit Bezug auf die Vergangenheit als auch auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung die strukturelle Unmöglichkeit einer absoluten Gerechtigkeit vertritt: „Diese kann in der Geschichte niemals ganz verwirklicht werden; denn selbst wenn eine bessere Gesellschaft die gegenwärtige Unordnung abgelöst und sich entfaltet haben wird, ist das vergangene Elend nicht gutgemacht und die Not in der umgebenden Natur nicht aufgehoben.“⁶⁵ Auch eine emanzipierte Gesellschaftsform wäre demnach einerseits, wie schon Marx gesehen hatte, ständig vor die Notwendigkeit der Naturbearbeitung als Selbsterhaltungsimperativ gestellt: „Der intellektuellen und materiellen Aktivität der Menschen wird immer etwas äußerlich bleiben, nämlich die Natur als Inbegriff der jeweils noch unbeherrschten Faktoren, mit denen die Gesellschaft es zu tun hat.“⁶⁶ Und andererseits, auch wenn darin die menschliche Freiheit eine vollständigere Form annehmen könnte, wäre mit einer befreiten Gesellschaftsform keine Entschädigung für die vergangenen Leidenserfahrungen gegeben, denn der Gerechtigkeitssinn der Vergangenheit ist gleichsam schon abgeschlossen, und deswegen bleibe allein eine „einwohnende Trauer“ als innere, möglicherweise auf Emanzipation ausgerichtete

 Siehe dazu exemplarisch die Notiz „Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse“ – Horkheimer 1931/1934, S. 273 ff. Vgl. auch Dubiel 1978, S. 25 ff. und S. 56 ff.  Horkheimer 1932c, S. 304 f.  Siehe dazu Horkheimer 1935b.  Horkheimer 1935c, S. 327.  Horkheimer 1937a, S. 227.

1.2 Die Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik

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Bestimmung eines kritischen Denkens übrig: „Das vergangene Unrecht ist nicht wiedergutzumachen. Die Leiden der verflossenen Geschlechter finden keinen Ausgleich.“⁶⁷ Eine weitere für die Selbstverortung einer materialistischen Leidenskritik wichtige begriffliche Verschiebung lässt sich auch mit Verweis auf die Kritik an einem für die marxistische Tradition kennzeichnenden verkürzten Kulturkonzept erkennen, das Horkheimer zufolge den Vermittlungscharakter von kulturellen Einrichtungen sowie die psychischen Eigenschaften von sozialen Gruppen methodisch übersieht, was eben für die Erklärung der ideologischen Aufrechterhaltung einer historisch schon veralteten Produktionsform von größter Bedeutung wäre.⁶⁸ In Horkheimers programmatischen Schriften führt dies dann zum Entwurf eines materialistischen Kulturbegriffs⁶⁹, in dem bekanntermaßen der Psychoanalyse eine wichtige Rolle als Alternative zu ahistorischen Betrachtungen philosophischer Anthropologien zugesprochen wird.⁷⁰ Und wie sich zeigen wird, ist es gerade eine von Fromm mit psychoanalytischen Mitteln verarbeitete Kategorie (Ohnmacht), die einen wichtigen Anhaltspunkt für Horkheimers Konzeption sozialen Leidens darstellen wird. Die verschiedenen von Horkheimer in seinen frühen Schriften kritisierten philosophischen Strömungen lassen sich zusammenfassend als theoretische Versuche betrachten, in denen die für das kritische Denken kennzeichnende Einheit von Erklärung und Wille zur Veränderung der Welt verschiedenartig zerstört wird – sei es etwa in Form einer Relativierung der wirklichen Leidenserfahrungen von Menschen (Idealismus), einer Verleugnung ihrer Aufhebungsmöglichkeiten (Positivismus, Lebensphilosophie) oder auch einer mangelhaften, ahistorischen (Utopisten) oder deterministischen Auffassung (orthodoxer Marxismus). Eine materialistische Leidenskritik würde hingegen eine doppelte Zielbestimmung besitzen: eine Erklärung der gesellschaftlichen Aufrechterhaltungsbedingungen von sinnlosen Leiden und zugleich eine Vergegenwärtigung ihrer historisch gegebenen Abschaffungsmöglichkeiten. Mit dem ersten Ziel wird dann der Versuch einer gesellschaftstheoretischen Ätiologie von sozialen Leiden zusammenhängen, die Horkheimer auf der Basis materialistischer Grundprämissen anhand einer Artikulation von politischer Ökonomie und psychoanalytisch informierter Sozialpsychologie bearbeiten wird. Damit wird er zu zeigen versuchen, dass die kapitalistische Gesellschaft systematisch und notwendigerweise eine Verkümmerung von vernünftigen Fähigkeiten bedingt, das heißt einen subjektiven Leidenszustand verursacht, der über die Verletzung von Gerechtigkeitsnormen hinausgeht. Das zweite Ziel wird seinerseits die emanzipationstheoretische Frage ihrer Leidenskritik bestimmen. Um der Vorstellung eines emanzipato Horkheimer 1933a, S. 23. Auf diese Vorstellung werde ich im entsprechenden Zusammenhang Horkheimers Mitleidsethik zurückkommen.  Siehe Horkheimer 1932b, S. 57 ff. und 1931, S. 33 ff.  Dazu siehe Dubiel 1982.  Vgl. Horkheimer 1935a sowie seine Kritik an Diltheys Theorie – Horkheimer 1940b.

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Kapitel 1 Zur Ortsbestimmung einer materialistischen Leidenskritik

rischen Interesses als eines „inhärierenden Faktor[s] der Erkenntnis“ gerecht zu werden⁷¹, versucht er hier einerseits zu zeigen, dass es in der Struktur kapitalistischer Gesellschaften auch immer Möglichkeiten für die Aufhebung von überflüssigen Leidenserfahrungen geben würde. Und andererseits wird er angesichts dieser historischen Überflüssigkeit auch den Umstand erklären wollen, warum die Subjekte sich gegen einen derartigen sozialen Zustand nicht auflehnen, sondern diesen dagegen als eine naturgemäße Gegebenheit hinnehmen. Die emanzipationstheoretische Frage einer sozialphilosophischen Leidenskritik wird damit die besondere Form einer Naturalisierungskritik annehmen.

1.3 Schluss In diesem Kapitel habe ich die begriffliche und praktische Selbstverortung einer materialistischen Leidenskritik nachzuzeichnen versucht. Zunächst hat es sich gezeigt, dass Horkheimer in seinen frühen Schriften auf dem Weg einer Metaphysikkritik zu einer Überzeugung gelangt, derzufolge soziale Leidenserfahrungen sich keineswegs rechtfertigen, sondern nur erklären lassen. Besonders relevant für die Begründung dieser Leseart war seine Vorstellung, dass die menschliche Naturbeherrschung mit den kapitalistischen Gesellschaftsformen bereits eine geschichtliche Stufe erreicht hat, in der sich eine Reihe von Entbehrungen und Freiheitseinschränkungen sowie der belastende Charakter von natürlichen Aspekten menschlicher Lebensformen nunmehr nur auf klassenmäßige Herrschaftsstrukturen stützen. Mit dieser Einsicht zeichnet sich bereits ab, inwiefern Horkheimer zufolge die Struktur von sozialen Lebensformen als eine zweite Natur zu begreifen ist: Es geht darin um geschichtliche Aneignungsformen von Naturaspekten der menschlichen Existenzweise, die historisch aus Praktiken der kooperativen Naturbearbeitung entstehen. In einem zweiten Schritt hat sich gezeigt, wie anspruchsvoll nach Horkheimers Selbstverständnis die Absicht einer materialistischen Erklärung von sozialen Leiden zu interpretieren ist. Sofern für die Kritische Theorie nicht nur die „Einsicht in die Schlechtigkeit des Bestehenden und in die Vergänglichkeit der Erkenntnis“, sondern ebenso ein „unbeirrte[s] Interesse an einer besseren Zukunft“ kennzeichnend ist⁷², soll eine materialistische Leidenskritik notwendig in der Lage sein, sowohl die gesellschaftlichen Ursachen wie auch die Abschaffungsmöglichkeiten von sozialen Leidenserfahrungen historisch zu erklären. Damit drückt sich sein emanzipatorisches Interesse als eine immanente Bestimmung aus: „[D]ie um vernünftigere Zustände ringenden Einzelnen oder Gruppen“ gelten insofern „nicht bloß als äußerlicher Zusatz, sondern als begriffsbildende Kraft“ der Gesellschaftskritik selbst.⁷³ Dass beide

 Horkheimer 1937b, S. 138.  Horkheimer 1938a, S. 294.  Horkheimer 1935b, S. 304.

1.3 Schluss

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Momente – Leiden und dessen Abschaffung – in der begrifflichen Struktur einer materialistischen Leidenskritik immanent aufeinander bezogen sind, lässt sich schließlich mit Horkheimers Feststellung zusammenfassen, dass der Materialismus von einer anspruchsvollen Solidaritätsvorstellung getrieben sei – und zwar von einer „Solidarität mit den kämpfenden und leidenden Menschen“.⁷⁴ Diese Formulierung weist bereits auf zwei Fragenkomplexe hin, mit denen ich mich nun ausführlich beschäftigen werde. Zunächst soll die ätiologische Dimension einer materialistischen Leidenskritik rekonstruiert werden, in der nach Horkheimers Verständnis insbesondere der Zusammenhang zwischen von kapitalistischer Verwertungsdynamik geprägten sozialen Lebensformen und der systematischen Verursachung von überflüssigen Leidensformen aufgeklärt werden muss. Nur dann kann auf die emanzipationstheoretische Frage einer sozialphilosophischen Leidenskritik eingegangen werden, das heißt auf die Frage, wie unter materialistischen Grundannahmen die mögliche Aufhebung sowie die potenzielle Naturalisierung von sozialen Leiden zu denken ist.

 Horkheimer 1935a, S. 260. Hervorhebung C.S.

Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden Nachdem die Selbstverortung und die Aufgabenstellung einer materialistischen Leidenskritik umrissen worden sind, ist nun ihre äthiologische Dimension zu überprüfen, also die Frage zu behandeln, was genau sie unter „soziales Leid“ verstanden wissen will. In diesem Zusammenhang ist einfach zu erkennen, dass Horkheimers Entwurf einer gesellschaftstheoretischen Ätiologie sich wesentlich auf die schon angesprochene Grundannahme der Schlüsselstellung des naturbeherrschenden Handelns im Fortgang der Gattungsgeschichte stützt und dementsprechend die Entstehungsbedingungen von sozialen Leidenserfahrungen in erster Linie mit der „widerspruchsvolle[n] Form der menschlichen Aktivität in der neueren Zeit“¹, das heißt mit der spezifischen Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus identifiziert. Eine sozialphilosophische Leidenskritik, so ist daher Horkheimers Überzeugung aufzufassen, soll vor allem im Sinne einer Kapitalismuskritik verfahren. Zum Zweck einer Rekonstruktion des Horkheimer’schen Leidensbegriffs muss daher zunächst die von Marx übernommene Grundannahme aufgeklärt werden, dass die Struktureigenschaften von Gesellschaften sich aus kooperativen Arbeitsanstrengungen herleiten oder, anders formuliert, dass soziale Lebensformen eine durch die Gattungsgeschichte hindurch allmählich herausgebildete zweite Natur verkörpern. Die Eigentümlichkeit von Horkheimers Auffassung in Bezug auf diese Grundprämisse beginnt sich erst dort abzuzeichnen, wo er – nun unter dem Einfluss von Schopenhauers Willensmetaphysik – gleichzeitig die Vergänglichkeit aller naturverankerten Lebensäußerungen, einschließlich menschlicher Arbeitspraxis, hervorhebt und dadurch zu dem Schluss gelangt, dass die Eigenschaften von sozialen Lebensformen durch diese unwiderrufliche, naturhafte Endlichkeit von Menschen ebenfalls fortwährend mitbestimmt wären (2.1). Erst dann wird es möglich sein, Horkheimers Ätiologie von im engeren Sinne sozialen, das heißt überflüssigen Leidenserfahrungen ausführlich zu erklären (2.2). Hierbei werde ich in zwei Schritten vorgehen. Zunächst werde ich mich mit den Grundlagen der Horkheimer’schen Kapitalismuskritik beschäftigen, wobei insbesondere seine Ansicht über den Bildungscharakter jener durch kooperative Naturbeherrschung allmählich geschaffenen zweiten Natur sozialer Lebensformen zu klären ist: Durch ihre gattungsgeschichtliche Befreiung aus äußeren Naturzwängen, so ist Horkheimers Gesichtspunkt zusammenzufassen, würden die Menschen gleichzeitig einen subjektiven Ausbildungsprozess durchführen, der in einer allmählichen Befreiung von inneren Naturzwängen besteht. Die dadurch eröffneten Freiheitsmöglichkeiten würden jedoch im historischen Zusammenhang in kapitalistischen Gesellschaften keine vollständige Verwirklichung finden können, was einen allgemeinen, klassenübergreifenden Freiheitsverlust zur Folge hätte. In einem zweiten Schritt soll daraufhin eben gezeigt werden, warum nach Horkheimer jene überflüssige  Horkheimer 1937a, S. 220. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-003

2.1 „Sinnlich sein ist leidend sein“

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Freiheitseinschränkung als eine soziale Leidenserfahrung zu verstehen wäre, sofern der dadurch bewirkte Verlust an Selbstbestimmung letztlich auf eine systematische Verkümmerung von menschlichen Fähigkeiten hinausläuft.

2.1 „Sinnlich sein ist leidend sein“ Einen primären, gewissermaßen vorsozialen Bedeutungsgehalt des Horkheimer’schen Leidensbegriffs kann man zunächst einmal mit Verweis auf jene kritischen Bemerkungen aufklären, die Marx in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten – noch weitgehend von Feuerbachs „Versinnlichung und Verendlichung“ des absoluten Idealismus beeinflusst² – hinsichtlich der Grundzüge von Hegels Phänomenologie des Geistes angebracht hat. Bekanntermaßen kritisiert er dort jene Hegels Arbeitsbegriff zugrunde liegende Konzeption des Menschen als „abstraktes“ und „spiritualistisches“ Wesen, um stattdessen wirkliche, sinnliche und leibliche anthropologische Bestimmungen einzuführen – das heißt die Vorstellung des Menschen als eines „unmittelbar Naturwesen[s]“: „Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe; teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes, bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die Pflanze ist, d. h. die Gegenstände seiner Triebe existieren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände.“³ Dieses berühmte Menschenbild, demzufolge dieser als ein natürlich begabtes und gleichzeitig auf äußere Gegenstände angewiesenes, daher bedingtes und leidendes Wesen verstanden wird, knüpft nicht nur an Feuerbachs Sensualismus, sondern auch – wie etwa Marcuse anmerkt – an den Kantischen Begriff der Sinnlichkeit als Affizierbarkeit⁴ und nicht zuletzt an jene Aristotelische kategoriale Unterscheidung zwischen Tun und passiver Hinnahme, zwischen Tätigsein und Erleiden⁵ an, die von Marx auch für die kritische Beschreibung der Selbstentfremdung im Arbeitsprozess in Anspruch genommen wird.⁶ All diese Gedankengänge lässt Marx schließlich auf eine Bestimmung menschlicher Sinnlichkeit hinauslaufen: „Sinnlich sein, d. h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlich sein ist leidend sein.“⁷

 Vgl. Löwith 1978, S. 95 ff.  Marx 1844a, S. 578.  Siehe Marcuse 1932, S. 526.  Zu dieser begrifflichen Unterscheidung siehe Angehrn 2003, S. 27.  „Dies Verhältnis ist das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eignen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, die Tätigkeit als Leiden, die Kraft als Ohnmacht.“ Marx 1844a, S. 515.  Marx 1844a, S. 579.

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

Der entscheidende und kennzeichnende Marx’sche Schritt findet jedoch erst dann statt, wenn er aus diesem naturhaften Ausgeliefertsein ein spezifisch menschliches, arbeitendes Streben ableitet; denn sofern „weder die Natur – objektiv – noch die Natur subjektiv unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden [ist]“, so Marxʼ Überzeugung, nimmt der primäre Weltbezug notwendig die Form einer weltformierenden Praxis an – „die Leidenschaft, die Passion ist nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen.“⁸ Er kann so schließlich die anthropologische Grundansicht vorschlagen, dass die sinnliche Erfahrungswelt nicht etwas bloß Gegebenes, sondern einen durch die naturbearbeitenden Lebensäußerungen menschlicher Gattung allmählich geschaffenen geschichtlichen Horizont darstellen würde: „Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.“⁹ So verstanden besitzt die Kategorie der Arbeit für Marx in ersichtlicher Weise eine anthropologische (Mechanismus der Menschenwerdung) und gesellschaftliche (Mechanismus der Erhaltung des Zusammenlebens), aber auch eine maßgebende erkenntnistheoretische Bedeutung, wie dies Habermas exemplarisch deutlich feststellt: „Das System der gegenständlichen Tätigkeiten schafft die faktischen Bedingungen der möglichen Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens und zugleich die transzendentalen Bedingungen der möglichen Objektivität von Gegenständen der Erfahrung. Wenn wir den Menschen unter der Kategorie eines Werkzeuge fabrizierenden Tieres auffassen, meinen wir damit ein Schema des Handelns und der Weltauffassung in einem.“¹⁰ Selbst wenn Marx später diese anthropologische Begründung eher durch die Vorstellung eines Stoffwechsels zwischen Menschen und Natur und den darauf bezogenen Begriff des Arbeitsprozesses ersetzt hat, ist die damit entworfene Schlüsselstellung der naturbeherrschenden Praxis für seine materialistische Geschichtsauffassung zu jeder Zeit von zentraler Bedeutung geblieben. Es ist dann nicht erstaunlich, dass sich in der ebenso materialistisch fundierten kritischen Gesellschaftstheorie Horkheimers wichtige Aspekte jener „weltkonstituierenden Lebenspraxis“ (Habermas) wiedererkennen lassen. Die frühe Leidenskritik Horkheimers beruht gerade auf einer Vorstellung der Freiheit als Entäußerung oder Vergegenständlichung und sich daran anschließender gelingender Aneignung von menschlichen Fähigkeiten, für die das naturbeherrschende Handeln den wesentlichen theoretischen Anhaltspunkt und das normative Vorbild der Vernünftigkeit gibt: „[D]ie wahre menschliche Freiheit ist weder mit der Unbedingtheit noch mit der bloßen Willkür gleichzusetzen, sondern sie ist identisch mit der Beherrschung der Natur in und außer uns durch vernünftigen Entschluß.“¹¹ Bevor ich aber auf die Bedeutsamkeit dieses normativen Musters im Zusammenhang mit Horkheimers Ätiologie von sozialen Leiden eingehe, ist es allerdings notwendig, sich klarzumachen, dass dies auch für eine primäre, vorsoziale Sicht seines Leidensbegriffs entscheidend ist. Er  Marx 1844a, S. 579.  Marx 1844a, S. 579.  Habermas 1973, S. 39.  Horkheimer 1933c, S. 157.

2.1 „Sinnlich sein ist leidend sein“

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übernimmt in der Tat jene Grundanschauung des Menschen als sinnliches und leidendes Wesen und zieht daraus ebenso das anthropologische Erfordernis einer ständigen, sich durch die Gattungsgeschichte hindurch anreichenden Naturbeherrschung; eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit seiner Auffassung beginnt sich erst dort abzuzeichnen, wo er diesen naturhaften Dimensionen menschlicher Lebensformen einen kritischen Sinn verleiht: zum einen mit der Hervorhebung der strukturellen Unmöglichkeit aller Versuche einer absoluten Gerechtigkeit und zum anderen mit dem Entwurf einer gerade auf diese sinnlichen Grundlagen zurückbezogenen bemitleidenden und emanzipatorischen Praxis. Wie oben gezeigt, umfasst Horkheimers Rezeption materialistischer Grundsätze über die Marx’sche Fassung hinaus auch eine „ganze Reihe von Gedanken und praktischen Verhaltensweisen“, die „die materiellen Interessen der Einzelnen“ besonders ernst nehmen.¹² Sowohl die frühe bürgerliche Geschichtsphilosophie sowie die französische Aufklärung rücken – Horkheimer war davon überzeugt – ein sensualistisches Menschenbild in den Vordergrund, demzufolge die Sinnlichkeit als Grundlage des Glücks und als Maßstab moralischen Fortschritts gelten muss.¹³ Auch für die pessimistische Moralphilosophie Schopenhauers wäre nach Horkheimer dieses Motiv immer ausschlaggebend gewesen; denn im Hintergrund seiner Hervorhebung der Unerfüllbarkeit des Willens zum Glück – der „Unabänderlichkeit des Leidens“ oder der „Unversöhnlichkeit mit dem ewigen Kreislauf des Unheils“ – stehe eine paradoxe Bejahung des Individuums, des „lebendigen Einzelwesens“ mit seinen unersetzlichen Bedürfnissen und Leidenschaften, folglich ein „unbeirrtes Interesse an dies- und jenseitigem Schicksal des einzelnen“ als Hauptkriterium der „intelligiblen Ordnung“.¹⁴ Was all diese frühen Formen des Materialismus allerdings unterschätzen, besteht Horkheimer zufolge eben in dem geschichtlich vermittelten Charakter menschlicher Triebe und menschlichen Strebens. Die von Hegel ausgehende Auflösung der Introspektion als Medium der Philosophie, denn er habe „die Frage nach dem autonomen kulturschaffenden Subjekt an die Arbeit der Geschichte verwiesen“¹⁵, würde erst von Marx zur Vollendung gebracht: Die praktischen Fähigkeiten der in einer bestimmten Geschichtsepoche „lebende[n] Menschen“ werden nunmehr aus der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, aus den verschiedenen Formen oder historisch „wechselnden Konstellationen“ der menschlichen Auseinandersetzung mit der Natur erklärt.¹⁶ Das naturbeherrschende Handeln wird dann von Horkheimer nicht nur als bevorzugtes Medium der Reproduktion sozialen Lebens, sondern auch, so wie früher bei Marx, der Menschenwerdung selbst angenommen: Alle „menschlichen Qualitäten“, „die geistige und seelische Beschaffenheit der Individuen“, so stellt er fest, ergeben sich letzten     

Horkheimer 1933a, S. 13. Vgl. dazu Sattler 1996, S. 108. Horkheimer 1955, S. 48. Horkheimer 1931, S. 21. Siehe Horkheimer 1932b, S. 54 ff., Horkheimer 1933a, S. 22.

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

Endes „aus der wechselnden Konstellation zwischen Gesellschaft und Natur“, sodass sie auf die naturverarbeitenden Lebensäußerungen und die dadurch gemachten Errungenschaften der bisherigen Gattungsgeschichte zurückzuführen sind.¹⁷ Kurzum: Es gäbe keine allgemeine oder ahistorische menschliche Beschaffenheit, sondern es fänden sich eher ständige „Umformungen der menschlichen Natur im Laufe der Geschichte aus der jeweils verschiedenen Gestalt des materiellen Lebensprozesses der Gesellschaft“.¹⁸ Ebenso deutlich kommt in den Schriften Horkheimers jene die Erkenntnisweisen prägende Rolle der Naturbeherrschung zum Ausdruck, die auch mit dem Marx’schen Arbeitsbegriff verbunden war.¹⁹ Diesem Gedankengang, dessen Spuren sich zudem bis zum frühen Materialismus zurückverfolgen ließen²⁰, liegt zunächst einmal Horkheimers Ansicht von der „Eigentümlichkeit des dialektischen Denkens“ als einer je nach historischen Voraussetzungen ihre zentralen Begriffsbestimmungen ständig umdefinierende Reflexion zugrunde: „Auch Kategorien wie Geschichte, Gesellschaft, Fortschritt, Wissenschaft und so fort erfahren in der Zeit einen Wandel ihrer Funktion. Sie sind keine selbstständigen Wesenheiten, sondern Momente des jeweiligen Erkenntnisganzen, dass die Menschen in der Auseinandersetzung miteinander und mit der Natur entwickeln und das niemals mit der Realität identisch wird. Das bezieht sich auf die Dialektik selbst.“²¹ Man soll jedoch diese Betrachtungsweise nicht mit einem bloß relativistischen, auf die historische Entwicklung unreflektiert bezogenen Gesichtspunkt verwechseln, den gerade die Annahme einer durch die Naturbeherrschung allmählich etablierten zweiten Natur sozialer Lebensformen diskreditiert; nach dieser Konzeption hängt die historische Bedingtheit von Kategorien wie Vernunft und Wahrheit dagegen von der jeweils historisch erreichten Stufe in der Befreiung von der

 Horkheimer 1935a, S. 250.  Horkheimer 1936a, S. 127. Exemplarisch dazu vgl. auch: „Zur Dynamik der Gesellschaft gehören die Individuen so, wie sie in der Geschichte geworden sind. Sie haben in jedem Augenblick ein ganz bestimmtes eigenes Sein. Dies eine ist jedoch gewiß: die Genesis der Fähigkeiten und der Arbeit jedes Menschen ist nicht allein bei ihm zu suchen, sondern im Schicksal der Gesamtgesellschaft.“ Horkheimer 1935a, S. 270.  Zu dieser weiteren vermittelnden Bedeutung der Arbeitspraxis bei Marx siehe Schmidt 1993, S. 107 ff.  Vgl. etwa Horkheimer 1933a, S. 39. Dazu vgl. auch die Vorlesungsschrift über die „sensualistische Erkenntnistheorie“ der Aufklärung – Horkheimer 1927, S. 353 ff. Besondere Aufmerksamkeit widmet diesen Frühschriften Hartmann 1990.  Horkheimer 1935b, S. 309 f. Es ist eben diese konstitutive geschichtliche Verflochtenheit mit den „realen gesellschaftlichen Prozesse[n]“, was die „traditionelle Theorie“ grundsätzlich aus dem Blick verliere: „Und wie der Einfluß des Materials auf die Theorie so ist auch die Anwendung der Theorie auf das Material nicht nur ein innerszientivischer, sondern zugleich ein gesellschaftlicher Vorgang. Die Beziehung von Hypothesen auf Tatsachen vollzieht sich schließlich nicht im Kopf der Gelehrten, sondern in der Industrie. […] Der Gelehrte und seine Wissenschaft sind in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt, ihre Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden, gleichviel, was sie sich selbst für einen Reim darauf machen.“ Horkheimer 1937a, S. 213.

2.1 „Sinnlich sein ist leidend sein“

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Natur ab, womit die Perspektive einer Ideologiekritik eben möglich gemacht wird: „Bedingtheit eines Satzes und Ideologie sind zweierlei. Die Grenze für das, was wir mit Recht Ideologie nennen dürfen, setzt stets der gegenwärtige Stand unserer Erkenntnis.“²² Neben dieser gesellschaftlichen Bedingtheit theoretischer Konstruktionen prägen die gattungsgeschichtlichen Leistungen der Naturbearbeitung auch die tiefere Sicht der menschlichen Wahrnehmung und Weltauffassung. Sinnliche Perzeptionsformen sowie Wahrnehmungsinhalte wären insofern ebenfalls ein „Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis“: Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozess, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs. Beide sind nicht nur natürlich, sondern durch menschliche Aktivität geformt.²³

Auch in Schopenhauers „theoretischer Philosophie“ wäre Horkheimer zufolge dieser Grundzug zu erkennen möglich, denn mit der Ansicht einer leibgebunden Vernunft wolle er immer den Umstand hervorheben, dass alles, was die Menschen wahrnehmen, letztlich „von den Bedingungen ihrer biologischen und gesellschaftlichen Existenz“ abhängt, sodass „der Intellekt […] als Waffe in der Auseinandersetzung mit der Natur und den Menschen“ aufgefasst werden müsste.²⁴ Einen noch deutlicheren Ausdruck von dieser Überzeugung kann man schließlich in den zwar fragmentarischen, aber dennoch illustrativen sprachtheoretischen Überlegungen Horkheimers finden. In der Absicht einer Ideologiekritik lässt er sich dabei stets von der Vorstellung leiten, dass Sprachformen vor allem eine soziale Steuerungsfunktion erfüllen, das heißt als Mittel sozialer Herrschaft deshalb wirken, weil sie letzten Endes aus der Struktur der Naturbeherrschung und deren Aufgaben historisch entstanden sind.²⁵ Dies gälte nicht nur für die offensichtlichsten herrschaftssichernden Sprachgebräu-

 Horkheimer 1930a, S. 235. Ausgehend von diesem Kriterium kritisiert Horkheimer etwa die Ansicht, es gebe so viele Vorstellungen von Wahrheit wie gesellschaftliche Gruppen, die den Begriff des falschen Bewusstseins sinnlos macht. Dazu siehe seine Kritik an der Wissenssoziologie Mannheims – Horkheimer 1930b.  Horkheimer 1937a, S. 217. So wie Habermas mit Bezug auf Marxʼ Arbeitsbegriff hat Honneth auch auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass Horkheimer mit dieser materialistischen Konstitutionslehre eine Analogie zwischen den „noch nicht gewußten synthetisierenden Arbeitsleistungen, die die menschliche Gattung durch alle bisherige Geschichte hindurch immer schon vollbracht hat“ und „den Synthesisleistungen des transzendentalen Ichs der Erkenntnistheorie Kants“ kritisch nahelegt; siehe Honneth 1989a, S. 15. Diese Analogie wird in einer späteren Notiz Horkheimers („Eine kantische Soziologie“), wie auch Honneth anmerkt, ausdrücklich formuliert; siehe Horkheimer 1949/1969, S. 5.  Horkheimer 1961, S. 128, 131.  Siehe dazu insbesondere die Betrachtungen von Schmid Noerr 1990, S. 115 ff.

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

che, wie etwa die an der Gehorsamsförderung der Massen orientierte Rede der Führerschaft²⁶, sondern ebenso für ganz alltägliche Sprechakte wie das Versprechen, dessen notwendige Voraussetzungen sich auch im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Natur ausgebildet hätten und auf ihre Erfordernisse angepasst wären: „Die Gültigkeit dieser Kategorien war eine Bedingung der Produktion. Sie trug dazu bei, das Leben berechenbar zu machen, und gehört mit zur Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens in den letzten zweitausend Jahren.“²⁷ In all diesen Ausführungen kommt unzweideutig zum Ausdruck, dass Horkheimer die Marx’sche Annahme der Schlüsselstellung naturbearbeitenden Handels für die Gattungsgeschichte weitgehend geteilt und sie zudem mit Grundzügen der Schopenhauer’schen Willensmetaphysik zu versöhnen versucht hat. Insofern kann hier der Vorschlag unterbreitet werden, dass auch für ihn ‚sinnlich sein‘ vor allem heißt, ein leidendes und daher notwendig arbeitendes Wesen zu sein: Aufgrund der naturhaften Bedürftigkeit von Menschen – das heißt ihres strukturellen Angewiesenseins auf noch zu bearbeitende äußere Gegenstände – wären soziale Lebensformen immer der historische Ausdruck von naturaneignenden gattungsgeschichtlichen Anstrengungen. Damit wird demnach der Übergang von der ersten zur zweiten Natur sozialer Lebensformen insofern materialistisch erklärt, als es eine vorsoziale Kraft wäre, das heißt die konstitutive sinnliche Beschränktheit von Menschen, die sie fortlaufend zu einem weltkonstituierenden Handeln und damit zu historischen Aneignungs- und Umdeutungsformen von diesen natürlichen Grundlagen führt. Anders als Marx aber, so mein Vorschlag, spielen diese Grundlagen fortwährend eine sehr wichtige Rolle im Rahmen der Horkheimer’schen Leidenskritik, da mit ihnen paradoxerweise sowohl die Grenzen als auch eine Möglichkeit der Leidensabschaffung angedeutet werden. Schon oben habe ich darauf hingewiesen, dass nach Horkheimer ein auf der „solidarischen Arbeit“ von „konkreten Menschen“ begründeter und daher vernünftig organisierter sozialer Zusammenhang immer noch „durch die Naturnotwendigkeit beschränkt“ ist.²⁸ Jene unüberwindbare Äußerlichkeit oder jenes „Naturreich, das trotz der weitreichenden Eroberungen, die noch zu machen sind, nie ganz verschwinden wird“²⁹, muss nach den bisherigen Ausführungen in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Zum einen würde es bedeuten, dass die naturbestimmte Be-

 Vgl. Horkheimer 1936b, S. 76 ff.  Horkheimer 1935a, S. 262. Diese Sprachkonzeption ist noch bestimmend für die späteren Schriften Horkheimers – einschließlich der Dialektik der Aufklärung, in der bekanntlich das innige Verhältnis zwischen Naturbeherrschung und Sprache für die Kritik instrumenteller oder identifizierender Vernunft eine sehr wichtige Rolle spielt; vgl. Honneth 1989a, S. 43 ff. Schmid Noerr zufolge wird doch in den nachgelassenen Schriften der vierziger Jahre skizzenhaft auch ein alternatives Modell entfaltet, das dagegen die These einer emphatischen Wahrheit in der Sprache selbst plausibel mache; siehe Schmid Noerr 1990, S. 131 ff.  Horkheimer 1936a, S. 174.  Horkheimer 1937a, S. 247.

2.1 „Sinnlich sein ist leidend sein“

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dürftigkeit von Menschen niemals ganz auszulöschen und daher die Notwendigkeit einer kooperativen Aneignung äußerer Natur andauernd wäre, was außerdem nur unter Anwendung von Naturgesetzen möglich zu leisten wäre.³⁰ Und damit zusammenhängend würde es zum anderen auch implizieren, dass die Menschen ebenso fortlaufend ihre innere Natur je nach historischen Bedingungen aneignen und umformieren müssen: „In die Zielvorstellung der Menschen gehen vielmehr ihre jeweiligen Bedürfnisse ein, die keine Schau zum Grunde, sondern eher die Not zur Ursache haben.“³¹ Diesem Marx’schen Verständnis der Naturbearbeitung als Lebensnot oder einer „Unaufhebbarkeit der stofflichen Momente der Arbeitsdialektik“³² spricht Horkheimer nun bezeichnend eine kritische Bedeutung zu, indem er dieses Verständnis als eine unumstößliche, naturverhaftete Grenze jeder zukünftigen Gesellschaftsform umdeutet. Entscheidend für diese Deutung ist das Schopenhauer entnommene Grundmotiv eines „Schicksals der Vergänglichkeit“, das heißt die Vorstellung, dass „die Einsicht trotz allem ans lebendige Subjekt gebunden ist und mit ihm untergeht“³³. In der Tat mag es zunächst so erscheinen, als ob die Marx’sche Grundansicht einer sich gattungsgeschichtlich anreichernden Naturbeherrschung und die pessimistische Betonung der Vergänglichkeit als struktureller Eigenschaft aller menschlicher Lebensformen notwendig in Spannung stünden. Allerdings lässt sich auch andeuten, dass beide Dimension schließlich in Horkheimers Arbeitsbegriff auf eigentümliche Weise zusammenfließen. Die bewusstseinsbildende Bedeutung der Naturbeherrschung würde demzufolge nicht nur in jenem Grundaspekt bestehen, den Hegel in seiner Phänomenologie als „Element des Bleibens“ bezeichnet, das bedeutet in der Hervorbringung eines das menschliche Handeln überdauernden Gegenstands³⁴, sondern auch in dem ebenso konstitutiven Moment des Vergänglichseins aller menschlichen Lebensäußerungen, einschließlich des arbeitenden Handelns. Soziale Lebensformen würden sich insofern aus einem ständigen Zusammenspiel zwischen geschichtlichen Errungenschaften in der Naturbeherrschung und der naturgegebenen Endlichkeit von Menschen historisch entwickeln, weil „auch die zukünftigen Geschlechter unwiderruflich vergänglich sind und am Ende immer das Nichts über die Freude siegt […] schließlich werden doch auch jene späteren Generationen untergegangen sein, und die Erde wird dann ihre Bahn fortsetzen, als ob nichts geschehen wäre“³⁵. Die Marx’sche Feststellung, „Sinnlich sein ist leidend sein“, nimmt hier also eine weitere Bedeutung an:

 Es wird von Adorno deutlich hervorgehoben und eben als Leiden bezeichnet: „Der Geist kann seinem Verhältnis zu der zu beherrschenden Natur nie ganz sich entwinden. Um sie zu beherrschen, gehorcht er ihr; noch seine stolze Souveränität ist mit Leiden erkauft.“ Adorno 1966, S. 37.  Horkheimer 1935a, S. 255.  Siehe Schmidt 1993, S. 141.  Horkheimer 1961, S. 135.  Vgl. Hegel 1807, S. 154. Zu dieser Bedeutung der Arbeitspraxis siehe auch Löwith 1978, S. 287 und Marcuse 1933, S. 566.  Horkheimer 1935a, S. 257.

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Sinnliche Wesen sind leidende Wesen nicht nur wegen ihrer strukturellen Angewiesenheit auf äußere Bedingungen, sondern schon aufgrund ihrer unvermeidbaren Vergänglichkeit.³⁶ Und es ist gerade diese Eigenschaft von Lebewesen, die paradoxerweise auch die Möglichkeit einer emanzipatorischen Praxis eröffnet. Dabei lässt Horkheimer sich von der Vorstellung leiten, dass, sofern Vergänglichkeit eine mit allen Lebewesen geteilte sinnliche Grundlage darstellt, aus ihr eine Distanzierung von den etablierten sozialen Verhältnissen und damit eine emanzipatorische, überflüssige Leidensformen abschaffende Praxis zu begründen möglich wäre.Wie noch mit Bezug auf seinen Entwurf einer Mitleidsethik ausführlich zu behandeln sein wird,, darf dabei vor allem nicht übersehen werden, dass nach Horkheimer jene solidarische Vergegenwärtigung einer gemeinsamen, vorsozialen Leidensquelle nur als geistige, also ebenso gesellschaftlich vermittelte Erfahrung gedacht werden kann, was exemplarisch in der gemeinsam mit Adorno in der Dialektik der Aufklärung geprägten Denkfigur eines „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ zum Ausdruck gebracht wird. Zusammenfassend lassen sich aus der Horkheimer’schen Übernahme und Umdeutung jener Marx’schen Grundannahme über die anthropologische Schlüsselstellung naturbearbeitenden Handelns zwei wichtige Konsequenzen für das Verfahren seiner materialistischen Leidenskritik hervorheben. Es wird einerseits deutlich, dass in dem Maße, wie die sinnliche Lebenswelt durch die arbeitende Praxis konstituiert ist, die menschlichen Leidenserfahrungen, auch wenn sie als ganz persönlich oder privat erscheinen mögen, als gesellschaftlich vermittelte Phänomene zu betrachten sind. Das Leid zeigt sich so, kurz gesagt, immer im Rahmen einer durch gattungsgeschichtliche Arbeitsanstrengungen etablierten zweiten oder sozialen Natur. Es kommt deutlich darin zum Ausdruck, wenn Horkheimer auf die gesellschaftliche Prägung von Erfahrungen wie Krankheit und Tod anspielt, sowie auch in seiner Überzeugung, dass eine bemitleidende Haltung kein angeborenes, sondern ein auf gewisse soziale Voraussetzungen angewiesenes moralisches Gefühl wäre. In der Tat wird er in seiner Kapitalismuskritik die Ansicht vertreten, dass ein von der Warenform tief geprägter Lebenszusammenhang nicht nur soziale Leidenserfahrungen in überflüssiger Weise reproduziert, sondern auch systematisch die moralischen Ressourcen einer möglichen solidarischen Vergegenwärtigung verzerrt. Und andererseits lässt sich auch deutlich erkennen, dass aufgrund des Fortbestands von natürlichen, vorsozialen Momenten innerhalb gesellschaftlicher Lebensformen diese Möglichkeit einer sinnlich fundierten Solidarität immer noch irgendwie gegeben wäre; jene niemals ganz sozial aufgehobenen und daher potenziell emanzipatorischen Kräfte, die besonders

 Zum Vergleich könnte hier Marcuses frühe ontologische Auffassung der lastenden Bedeutung von Arbeit herangezogen werden – sie hebt insbesondere die erste erwähnte Dimension hervor, das heißt das Ausmaß, in dem die Arbeit (anders als das Spiel) notwendig eine Versagung der Freiheit enthalte, da „sie das menschliche Tun unter ein fremdes, auferlegtes Gesetz stellt: unter das Gesetz der ‚Sache‘, die zu tun ist“. Marcuse 1933, S. 567. Die zweite Bedeutung hingegen – die Vergänglichkeit aller naturhaften Praxis – lässt sich aus Marcuses Auffassung nicht erschließen.

2.1 „Sinnlich sein ist leidend sein“

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Adorno und Marcuse triebtheoretisch zu erklären versuchten, identifiziert Horkheimer insbesondere mit der naturverankerten, immer wieder auftretenden Vergänglichkeit aller Lebewesen. Diese beiden Denkrichtungen – die gesellschaftliche Vermittlung von Leidenserfahrungen und die emanzipatorische Kraft sinnlicher Vergänglichkeit – drücken sich auch in Horkheimers bruchstückhaften Anmerkungen zum Todesfaktum aus. Dabei versucht er vor allem von zwei für ideologisch gehaltenen Gegenpolen kritisch abzuweichen, und zwar auf der einen Seite von der idealistischen Herabsetzung menschlicher Sterblichkeit durch eine bloß gedankliche Sinngebung und auf der anderen Seite von einer ontologischen Würdigung, wie etwa die der Todesanalytik Heideggers, in der die „bloße Endlichkeit“ zwar anerkannt, aber gleichzeitig als Seinsbestimmung – „im Innern des einzelnen existieren Menschen“ – festgehalten wird.³⁷ Schon früh hatte Horkheimer tatsächlich die Rede einer „Unparteilichkeit des Todes“ als „ganze Ideologie“ angeprangert³⁸, was sich mit der hier dargelegten Ansicht einer durch die geschichtlichen Errungenschaften naturbearbeitenden Handelns präformierten Sinnlichkeit ganz kohärent erweist; auch das menschliche Sterbenmüssen ist kurz gesagt in den gesellschaftlichen Lebensprozess eingegliedert, ohne aber seine naturhafte Bestimmtheit zu verlieren: Die durch den Lebensprozeß der Gesellschaft fortwährend bedingte Ungleichheit ist derjenigen der gesamten Natur verwandt. Im Leben der Menschheit durchdringen sich beide, indem die natürliche Verschiedenheit der äußeren Gestalt, der Begabung, ferner die Krankheiten und die näheren Umstände des Todes die gesellschaftliche Ungleichheit noch komplizieren. Freilich hängt auch der Grad, in dem diese natürlichen Unterschiede in der Gesellschaft wirksam sind, von der geschichtlichen Entwicklung ab; sie haben in den verschiedenen Etagen des jeweiligen Gesellschaftsbaus verschiedenen Folgen.³⁹

Diese materialistisch untermauerte These einer geistigen Vermittlung des Todesfaktums⁴⁰ verweist schließlich auf zwei in den frühen Schriften Horkheimers nicht notwendig konfligierende Deutungsmöglichkeiten. Eine gleichsam stärkere Auffassung lässt sich an jener Stelle erkennen, wo Horkheimer das von Marcuse später als „Sieg über den Tod“ bezeichnete Motiv vorwegnimmt – also die Vorstellung, dass in einer emanzipierten, vernünftig organisierten Lebensform der Tod gewiss nicht abgeschafft, aber doch keine Angstquelle mehr darstellen würde.⁴¹ Eine gewissermaßen schwä-

 Vgl. Horkheimer 1931, S. 26.  „Alle müssen sterben – gewiß, aber nicht alle sterben gleich […] Was nach dem Tod kommt, weiß ich nicht, aber was vor dem Tode liegt, spielt sich in der kapitalistischen Klassengesellschaft ab.“ Horkheimer 1931/1934, S. 345 f.  Horkheimer 1933b, S. 139.  Siehe dazu auch Schweppenhäuser 1986, S. 222 ff.  Vgl. Horkheimer 1935b, S. 313. Besonders prägnant formuliert Marcuse diesen Gedanken: „Die naturwissenschaftlichen und technischen Anstrengungen einer reif gewordenen Kultur führen zur Verlängerung des Lebens und Linderung der Schmerzen […] Die allmählich zunehmende Lebensdauer

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

chere oder weniger geschichtsphilosophisch orientierte Auffassung desselben Grundmotivs zeichnet sich wiederum dort aus, wo das Verhältnis zum Tod mit Blick auf eine mögliche Vergegenwärtigung gemeinsamer Vergänglichkeit angesprochen wird; auch dadurch wäre der Tod fraglos nicht abzuschaffen, aber würde doch als eine Solidarität ermöglichende ethische Erfahrung erlebt: „Nicht als ob die Beunruhigung über die Endlichkeit von Individuen und Menschheit ihren Grund verloren hätte – aber soweit Energien aus ihr hervorgehen, richten sie sich nicht mehr auf die Metaphysik, diese gedankliche Vorspiegelung einer Sicherheit, sondern fließen in den praktischen gesellschaftlichen Kampf um wirkliche Sicherheit vor Elend und Tod.“⁴² In beiden Auffassungen kommt aber deutlich zum Ausdruck, was ich als die Pointe der Horkheimer’schen Umdeutung der Marx’schen Grundannahme über die anthropologische Schlüsselstellung des naturbearbeitenden Handelns im Hinblick auf seine materialistische Leidenskritik hervorgehoben habe: die gesellschaftliche Vermittlung von Leidenserfahrungen sowie die potenziell emanzipatorische Kraft der allen Lebewesen gemeinsamen Vergänglichkeit.

2.2 Soziales Leiden Horkheimers Entwurf einer gesellschaftstheoretischen Ätiologie von Leidenserfahrungen soll nun, wie oben erwähnt, in zwei Schritten rekonstruiert werden. Zunächst soll aufgeklärt werden, welche besondere Art von Kapitalismuskritik Horkheimer vor Augen hat und inwiefern sie als die Grundlage seiner sozialphilosophischen Leidenskritik angenommen werden soll (2.2.1). In der Tat läuft seine Kritik an den strukturellen Verselbstständigungstendenzen von kapitalistischen Gesellschaften auf die Ansicht hinaus, dass die dadurch bewirkte überflüssige Freiheitseinschränkung einen Verlust an Selbstbestimmung wäre, der sich notwendigerweise in einer systematischen Verkümmerung menschlicher Fähigkeiten, also in sozialen Leidenserfahrungen niederschlagen würde (2.2.2).

2.2.1 Kapitalismuskritik Einem Deutungsvorschlag von Rahel Jaeggi zufolge können idealtypisch drei Arten von Kapitalismuskritik unterschieden werden: Zunächst eine funktionale Kritik, die sich auf den immanenten krisenhaften Charakter kapitalistischer Entwicklung konzentriert, dann eine moralische Kritik, die das dadurch bedingte soziale Unrecht als könnte Substanz und Charakter nicht nur des Lebens, sondern auch des Todes verändern. Der Tod würde keine ontologischen und moralischen Sanktionen mehr mit sich führen. Der Mensch würde den Tod primär als eine technische Grenze seiner Freiheit erfahren und deren Überwindung würde anerkanntes Ziel individueller wie gesellschaftlicher Anstrengungen.“ Marcuse 1979, S. 110.  Horkheimer 1935a, S. 254.

2.2 Soziales Leiden

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hauptsächlichen Gegenstand betrachtet, und schließlich eine ethische Kritik, die die kapitalistische Gesellschaft als „Lebensform“ auf die Probe stellt. Sie versucht also grundsätzlich zu zeigen, dass „[d]as durch den Kapitalismus geprägte Leben ein schlechtes – z. B. ein entfremdetes – Leben [ist]. Es ist verarmt, sinnlos oder leer und destruiert wesentliche Bestandteile dessen, was zu einem erfüllten, glücklichen, vor allem auch ‚wahrhaften freien‘ menschlichen Leben gehört.“⁴³ Es ist eben diese letzte Variante einer Kapitalismuskritik, die Horkheimer in Form einer sozialphilosophischen Leidenskritik in seinen frühen Schriften durchsetzt. Seine Kapitalismuskritik versucht eben gerade den Nachweis zu erbringen, dass eine durch kapitalistische Mechanismen geprägte Lebensform eine systematische Verkümmerung und Zerstörung von maßgebenden rationalen Fähigkeiten, das heißt soziales Leiden, auslöst. Dies ist schon in seiner Zielbestimmung des Materialismus deutlich erkennbar: „Es geht ihm nicht um Weltanschauung, auch nicht um die Seele der Menschen, sondern um die Änderung der bestimmten Verhältnisse, unter denen die Menschen leiden und ihre Seele freilich verkümmern muß.“⁴⁴ In diesem Sinne knüpft er deutlich an jene Tradition einer ethisch motivierten Gesellschaftskritik an, die die Etablierung und Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften angesichts der Zerstörung von Lebensweisen und der damit einhergehenden Verformung von praktischen Handlungsorientierungen sowie Selbstbeziehungen bewertet und deren wichtigste Bezugspunkte den Marx’schen Entfremdungsbegriff und die Verdinglichungskritik von Lukács darstellen.⁴⁵ Für diese Denktradition stellt sich immer und notwendigerweise die Aufgabe, ihre normativen Maßstäbe so einzurichten, dass mit ihnen die destruktiven Folgen – die ethische Zerrissenheit – von kapitalistischen Entwicklungsvorgängen abzulesen sind, ohne aber auf eine bloß nostalgische oder konservative Beurteilung sozialen Wandels hinauszulaufen.⁴⁶ Zur Lösung dieser Aufgabe greift Horkheimer auf jene schon angesprochene geschichtsphilosophische Überzeugung zurück, derzufolge mit den kapitalistischen Verhältnissen neben einer Zerstörung von traditionellen Lebensformen auch die objektiven und subjektiven notwendigen Vorbedingungen gesellschaftlicher Umwälzung geschaffen wären, sodass erst in diesem historischen Zusammenhang die Absicht einer emanzipierten Gesellschaft verwirklichbar wäre.⁴⁷ Der Fortschritt in der

 Jaeggi 2013, S. 324. Jedenfalls handelte es sich, wie auch Jaeggi anmerkt, eher um Dimensionen der Kapitalismuskritik.  Horkheimer 1933b, S. 29.  Man sollte hier wohl auch die von Simmel herausgearbeitete Analyse der Versachlichung als Grundphänomen der Moderne hinzufügen, die für Lukács’ Diagnose bekanntermaßen eine sehr wichtige Rolle spielt. Siehe dazu etwa Dannemann 1987, S. 61 ff.  Vgl. Jaeggi 2013, S. 343 ff. Habermas formuliert es als das begriffliche Vermögen, die „Zerstörung traditionaler Lebensformen von der Verdinglichung posttraditionaler Lebenswelten“ zu unterscheiden. Habermas 1981b, S. 501.  Neben den bekannten Stellen aus Kommunistischen Manifestes, in denen Marx die geschichtlich „höchst revolutionäre Rolle“ der Bourgeoise beschreibt, zielt darauf auch seine Feststellung (in der

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

Naturbeherrschung hätte insofern nicht einfach eine Zunahme des gesellschaftlich verfügbaren materiellen Reichtums zur Folge, sondern tatsächlich darüber hinausgehende sozialisierende Wirkungen, die zwar aufgrund einer von der Klassenherrschaft bedingten Gesellschaftsstruktur bisher keine vollständige Verwirklichung finden können, aber dennoch im Erfahrungshorizont kapitalistischer Gesellschaften als emanzipatorisches Potenzial weiterhin fortbestehen. Wie diese Annahme allerdings genauer verstanden werden soll, ist in der marxistischen Tradition selbst alles andere als eindeutig gewesen. Einige sehr bekannte Deutungen dieser Annahme versuchen beispielsweise den Nachweis zu erbringen, dass mit dem dynamischen ökonomischen Wachstum gleichzeitig eine zunehmende Verelendung der Arbeiterklasse einhergehe, aus der sich allmählich eine revolutionäre Bereitschaft ausbilden würde; während andere auf die Möglichkeit hinweisen, dass eine tiefe Legitimationskrise – aufgrund des kennzeichnenden krisenhaften Charakters der Entwicklung von Produktivkräften – über kurz oder lang zu erwarten sei.⁴⁸ Nicht schwer ist doch die Tatsache zu erkennen, dass in Horkheimers Schriften derartige deterministische Fassungen nicht nur historisch überholt, sondern schon begrifflich fragwürdig erscheinen.⁴⁹ An ihre Stelle lässt Horkheimer nun vielmehr die Überzeugung treten, dass sich mit der von Kapitalismus getriebenen Modernisierung sozialer Lebensformen gleichzeitig normative Bedeutungsgehalte und subjektive Verhaltensdispositionen ausbilden, denen eine fortschrittliche, potenziell emanzipatorische Bedeutung zukommen würde. Während der erste Aspekt, der Wahrheitsgehalt des modernen normativen Selbstverständnisses, die Grundlage seiner später noch ausführlich zu behandelnden Ideologiekritik bildet, ist der zweite Aspekt hier unter dem Gesichtspunkt zu erklären, dass die Aneignung und Umwandlung von äußerer Natur zugleich eine Aneignung und Ausbildung der inneren Natur von Subjekten implizieren würde. In der Tat stellt Horkheimer einerseits fest, dass sich mit der kapitalistischen Dynamik unleugbar zerstörerische Wirkungen auf traditionelle soziale Organisationsformen entfalten, die insbesondere mit der erforderlichen subjektiven Disziplinierung der Arbeitskraft zusammenhängen – „Fügsamkeit, Selbstbescheidung, Disziplin und Aufopferung fürs Ganze, das heißt die Unterdrückung ihrer materieller Ansprüche“⁵⁰. In demselben Prozess sieht er aber doch andererseits die Ausbildung von emanzipatorischen Kräften angelegt, die sich aus der Herausbildung einer im

Deutschen Ideologie) der „universellen Entwicklung der Produktivkräfte“ als „eine absolut notwendige praktische Voraussetzung“ sozialer Emanzipation. Marx/Engels 1845/1846, S. 34 f.  Zu diesen Auffassungen siehe Wildt 1977.  Sie können, so Horkheimers Haupteinwand, eigentlich nicht erklären, warum die ökonomische Krise des Liberalkapitalismus keine politische Revolution erzeugt hat – was besonders auf die theoretische Entwertung der Rolle der Ideologie bei der Integration des Proletariats zurückzuführen sei.Vgl. dazu Horkheimer 1931.  Horkheimer 1936b, S. 51.

2.2 Soziales Leiden

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engeren Sinne inneren Natur – einer subjektiven Innerlichkeit – ergeben, die als subjektive Grundvoraussetzung sozialer Emanzipation angenommen werden müsste: Die Disziplinierung aller Schichten der Bevölkerung, die sich aus der Notwendigkeit ergab, die Massen in die bürgerliche Produktionsweise einzuordnen, hat auf die Entfaltung dieser Wirtschaftsordnung zurückgewirkt: nicht allein die unerhörte Vervollkommnung der Technik, die Vereinfachung des Arbeitsprozesses, kurz, die Steigerung der menschlichen Macht über die Natur, sondern auch die menschlichen Voraussetzungen für eine höhere Form der Gesellschaft sind ohne den Prozeß der Spiritualisierung oder Verinnerlichung gar nicht denkbar.⁵¹

Allein durch diesen ambivalenten Prozess, so hebt Horkheimer an einer anderen Stelle hervor, wurde die „Erziehung großer Massen des städtischen und ländlichen Mittelstandes zu einer zeitgemäßeren Existenz“ möglich gemacht, was „die Entwicklung ihres rationalen Denkens und damit die Erweckung aus beruflicher und politischer Lethargie“ zur Folge hatte.⁵² Mit ihrer zunehmenden Befreiung aus äußeren Naturzwängen, so ließe sich dies auch deuten, würden die Menschen gleichzeitig einen subjektiven Ausbildungsprozess durchführen, der in einer allmählichen Befreiung von inneren Naturzwängen besteht: „Die Fähigkeit, triebhafte Reaktionen moralischer Kritik zu unterziehen und auf Grund individueller Bedenken zu verändern, konnte sich erst mit steigender Differenzierung der Gesellschaft herausbilden.“⁵³ In dieser Hinsicht scheint Horkheimer nicht anders als die klassischen soziologischen Diagnosen der Moderne zu verfahren, etwa die von Tönnies, Durkheim oder auch Simmel, in denen die bestimmenden Modernisierungsvorgänge gerade als Prozesse sozialer Differenzierung und gleichzeitige Ausdehnung individueller Auto-

 Horkheimer 1936b, S. 75 f. Mit Bezug auf die Ausbildung einer „Innerlichkeit“ in den Subjekten nennt Horkheimer beispielsweise die ambivalente Bedeutung der Verkürzung von Freizeit: „Die vielen Feiertage, die Freizeit überhaupt, mußte beschnitten, die Arbeit selbst intensiviert werden. Es begann die Entwicklung, die den Arbeiter einerseits zu immer höherer Verantwortlichkeit und größerer Leistung und andererseits zu dauernder Entbehrung zwang.“ Horkheimer 1938a, S. 246.  Horkheimer 1934b, S. 179. Diese bewussteinsbildende Rolle des Arbeitsprozesses drückt sich auf negative Weise in seiner frühen Feststellung über die gesellschaftlichen Ursachen des Stillstands im emanzipatorischen Streben der Arbeiterschaft aus: „Es vereinigt vielmehr eine bestimmte untere Schicht der Arbeiterklasse, ein Teil des Proletariats immer ausschließlicher das Übel und die Unruhe des Bestehenden in sich. Diese unmittelbar und am dringendsten an der Revolution interessierten Arbeitslosen besitzen aber nicht wie das Proletariat der Vorkriegszeit die Bildungsfähigkeit und Organisierbarkeit, das Klassenbewußtsein und die Zuverlässigkeit der in der Regel doch in den kapitalistischen Betrieb Eingegliederten […] Der kapitalistische Produktionsprozeß hat es also mit sich gebracht, das Interesse am Sozialismus und die zu seiner Durchführung notwendigen menschlichen Eigenschaften zu trennen.“ Horkheimer 1931/1934, S. 375. Ähnlich hält er bezüglich der gesellschaftlichen Grundlagen von autoritärer Führerschaft fest: „Die Massen, an die sich jene Führer vornehmlich zu wenden hatten, befanden sich bei ihrer elenden Lage und da sie keinem rationalen Arbeitsprozeß eingegliedert waren, stets in einem unentwickelten, zugleich autoritären und rebellischen psychischen Zustand und besaßen kaum die Spuren eines selbständigen Klassenbewußtseins.“ Horkheimer 1936b, S. 66 f.  Horkheimer 1933b, S. 111.

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

nomie von Subjekten begriffen werden. Ausgehend von Marx’schen Annahmen aber besteht die Eigentümlichkeit seiner Auffassung wie gesagt darin, dass er diesen praktischen Bildungsprozess, mit dem „in der neueren Zeit die geistige und persönliche Unabhängigkeit der Menschen verkündet wird“⁵⁴, unmittelbar auf die historischen Errungenschaften des naturbearbeitenden Handelns zurückführt: Die Art und Weise, wie die Menschen sich die umgebende Natur aneignen, bestimmt zugleich den Verlauf und die Ergebnisse eines Selbstaneignungsprozesses, durch den sie ihren persönlichen Willen und praktisches Selbstverständnis erst einmal auszubilden vermögen. Insofern stellt er fest: „Aber der Rückzug aufs Ich ist selbst ein Vorgang in der empirischen Welt. Er setzt innere Kraft und Persönlichkeit voraus. Diese aber fällt nicht vom Himmel. Sie ist gesellschaftlich produziert und vergeht mit ihren Bedingungen […]. Die Fähigkeiten, die es konstituieren, Sinne, Gedächtnis und Verstand, hängen nicht allein am gut funktionierenden Körper, sondern ebenso am stetig fortlaufenden sozialen Prozeß.“⁵⁵ Es handelt sich aber nicht einfach um eine gesellschaftliche Bedingtheit subjektiver Fähigkeiten, sondern um eine Formierung der inneren Natur nach den Errungenschaften und Gefährdungen in der kooperativen Naturbeherrschung: „Das Ich kann sich nur noch bewahren, indem es die Menschheit auch im Ganzen zu bewahren sucht.“⁵⁶ In dieser Ansicht, die für Horkheimers Konzeption sozialen Leidens besonders relevant sein wird, scheint sich folglich wiederum die Grundannahme auszudrücken, dass die Struktur sozialer Lebensformen als eine zweite Natur, das heißt als gattungsgeschichtlich herausgebildete Aneignungsformen von Naturaspekten menschlicher Existenzweise gedacht werden muss. Die in modernen Gesellschaften zunehmenden Chancen einer freien Aneignung von Naturverhältnissen, so lässt sich die Grundbestimmung von Horkheimers Kapitalismuskritik daher deuten, können aufgrund klassenherrschaftlicher Strukturen nur eine unvollständige gesellschaftliche Verwirklichung finden, was die Rede von einer historisch veralteten Gesellschaftsform rechtfertigt: Ein gesellschaftlich schon verfügbares Vernunftpotenzials, das tatsächlich eine Erweiterung menschlicher Freiheit ermöglichen würde, wird nur mangelhaft – das bedeutet unter der verzerrenden Einschränkung von Klassenunterschieden – wieder sozial angeeignet.⁵⁷ So hält Horkheimer beispielsweise mit Bezug auf die soeben genannte Chance einer moralischen Bestimmung der inneren Natur deutlich fest: Der gesellschaftliche Lebensprozeß der neueren Zeit hat die menschlichen Kräfte so stark gefördert, daß wenigstens die Mitglieder einzelner Schichten in den fortgeschrittensten Ländern in

 Horkheimer 1935a, S. 252.  Horkheimer 1938a, S. 268.  Horkheimer 1938a, 269. Dass dieser Selbstaneigungsprozess immer nach gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen fortläuft, lässt sich auch in einer späteren Formulierung Horkheimers erkennen, in der er die „geistige Spontaneität“, „subjektive Freiheit“ sowie die Idee eines „selbständigen Bewusstseins“ folgendermaßen erklärt: „Die Spontaneität, der Wille, aus dem materiell Erreichten das Rechte zu machen.“ Horkheimer 1962, S. 149.  Siehe Horkheimer 1932b, S. 55; Horkheimer 1935b, S. 298.

2.2 Soziales Leiden

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einem verhältnismäßig weiten Bereich ihres Daseins nicht bloß dem Instinkt oder der Gewohnheit folgen, sondern unter mehreren vorgestellten Zielen selbständig zu wählen vermögen. Die Ausübung dieser Fähigkeit geschieht freilich in viel kleinerem Umfang als gemeinhin angenommen wird.⁵⁸

Und daraus folgt, wie oben bereits angedeutet, der wesentliche Maßstab der materialistischen Leidenskritik Horkheimers: Man sollte demzufolge von sozial aufrechterhaltenen Leidenserfahrungen – unnötigen Leiden – immer dann sprechen, wenn es sich um negative Erfahrungen handelt, die den in modernen Gesellschaftsformen bereits vorhandenen Freiheitsmöglichkeiten widersprechen.⁵⁹ Das für kapitalistische Gesellschaften bezeichnende „Übermaß von Entbehrungen“⁶⁰ wäre insofern nicht nur als Ausdruck der Unmöglichkeit, sich den kollektiv geschaffenen materiellen Reichtum wiederum kooperativ anzueignen, aufzufassen, sondern auch als Ausdruck der sich daraus ergebenden Unfähigkeit, einen tatsächlich den schon gegebenen Freiheitsmöglichkeiten entsprechenden Umgang mit der eigenen inneren Natur zu etablieren. „Die Menschheit ist in der bürgerlichen Periode so reich geworden, gebietet über so große natürliche und menschliche Hilfskräfte, daß sie geeinigt unter würdigen Zielsetzungen existieren könnte“, aber dennoch, so stellt Horkheimer fest, reproduziert sie immer weiter „eine Verrohung des persönlichen und öffentlichen Lebens, so daß sich zum materiellen noch das geistige gesellt. Nie stand die Armut der Menschen in schreienderem Gegensatz zu ihrem möglichen Reichtum als gegenwärtig.“⁶¹ Neben materiellen Entbehrungen bedingt insofern eine durch die kapitalistische Produktionsweise geprägte soziale Lebensform zugleich eine mangelhafte praktische Selbstbeziehung bei ihren Mitgliedern, was sich schließlich mit Horkheimers Feststellung zusammenfassen lässt, dass mit dem „Fortbestehen eines veralteten Prinzips der gesellschaftlichen Arbeit“ gleichzeitig der „elende physische und psychische Zustand der Massen“ aufrechterhalten wird.⁶² Es sind die daraus resultierenden negativen Erfahrungen, die nach Horkheimers Erläuterungen dann als historisch überflüssig gewordene, sozial verursachte Leiden genannt werden können. Angesichts des Umstands einer klassenmäßigen Verwirklichung eines historisch herausgebildeten Vernunftpotenzials könnte jedoch der Eindruck entstehen, es gehe

 Horkheimer 1933b, S. 111 f.  In diesem Sinne stellt Horkheimers Leidenskritik eine Art rekonstruktiver oder immanenter Gesellschaftskritik dar, also eine Kritik, die ihre Maßstäbe aus der geschichtlichen Entwicklung selbst gewinnt und als Vernunftpotenziale begründet. Siehe dazu Honneth 2007c. Horkheimer selbst sieht diese Art von Kritik in Hegels Freiheitsbegriff angelegt: „Er will nicht etwa die empirische Geschichte von einem ihr äußerlichen Gesichtspunkt aus nachträglich deuten oder sie an einem ihr fremden Maßstab messen; sein Vernunftsbegriff ist vielmehr so wenig abstrakt, daß zum Beispiel der Sinn des Moments der Freiheit, so wie es in der Logik auftritt, erst durch die bürgerliche Freiheit im Staat, die der Historiker feststellt, vollständig zu bestimmen sei.“ Horkheimer 1932b, S. 51 f.  Horkheimer 1936b, S. 53.  Horkheimer 1933b, S. 135.  Horkheimer 1935b, S. 298. Hervorhebung C.S.

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hier vor allem um eine Kritik an sozialem Unrecht oder an den kapitalistischen Gesellschaften kennzeichnenden Machtverhältnissen. Dass Horkheimers Kapitalismuskritik darüber hinausgeht und eine ethische Dimension mit einbezieht, wird besonders klar, wenn einige Eigenschaften seiner bislang dargelegten Diagnose noch weiter überprüft und konturiert werden. Zunächst einmal ist die Tatsache zu betonen, dass die hier in Rede stehenden sozialen Missstände in erster Linie nicht als Erfahrungen begriffen werden, die sich aus einer Verletzung moralischer Normen ergeben; viel stärker tritt die Vorstellung hingegen in Bezug auf Horkheimers Argumentation in den Vordergrund, dass es sich dabei um eine mangelhafte Reproduktionsform der kapitalistischen Gesellschaft im Ganzen handelt, sodass seine Absichten eher einer Diagnose von gesellschaftlichen Pathologien als einer Kritik an sozialen Ungerechtigkeiten zu entsprechen scheinen.⁶³ Mit diesem Hinweis auf die Störung eines höherstufigen Reproduktionsprozesses wird zugleich eine subjektive Beschädigung diagnostiziert, die dennoch nicht einfach als Hindernis sozialer Gleichheit, sondern tatsächlich als eine Art von Freiheitseinschränkung dargestellt wird. Diese überflüssige Freiheitsbeeinträchtigung, die sowohl mit Bezug auf die äußere wie die innere Natur erkennbar sei, ergibt sich außerdem nach Horkheimers Erklärungsmuster aus einem eigentümlichen Entwicklungsvorgang, der zwar auf anthropologische Bedingungen zurückzuführen sei, zugleich aber auch historisch sich wandelnde Voraussetzungen habe. Erst mit dieser Vorstellung kann sich seine Kapitalismuskritik tatsächlich der oben genannten Gefahr einer konservativen Beurteilung von ethischen Umwandlungsprozessen entziehen: Die überflüssigen Einschränkungen menschlicher Freiheit werden zwar immer im Lichte der Vernünftigkeit einer anthropologisch ursprünglichen Praxis, der Naturbeherrschung, abgelesen, zugleich aber nach den daraus sich ergebenden geschichtlichen Errungenschaften, die sich letztlich im historischen Erfahrungshorizont, in der zweiten Natur kapitalistischer Gesellschaften ausdrücken. Es handelt sich demnach, kurz gesagt, um einen Freiheitsverlust, der sich erst aus einer mangelhaften Freiheitsgewinnung ergibt. Mit dieser Sichtweise hängt eine weitere Eigenschaft von Horkheimers Kapitalismuskritik zusammen, die auch bereits in Marxʼ Entfremdungskritik deutlich zu finden war. Die Idee einer mangelhaften oder verzerrten Reproduktion sozialer Lebensformen führt ihn zu der Einsicht, dass die kritisierten Missstände nicht nur

 Zu dieser kategorialen Unterscheidung siehe Honneth 2000a. Wie ich später zeigen werde, geht diese gestörte Reproduktionsweise nach Horkheimer mit einem Naturalisierungseffekt bezüglich der Wahrnehmung sozialen Leidens einher, was seine Leidenskritik auch von einer Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit unterscheidet. Bezüglich Adornos Kulturkritik beschreibt Menke diesen Unterschied folgendermaßen: „Es ist eine Sache, eine Gesellschaft dafür zu kritisieren, dass sie einigen, gar vielen ihrer Mitglieder nicht gleiche Gelegenheit oder Chance zu einem guten Leben bietet; das ist eine Kritik an der Ungleichheit dieser Gesellschaft. Es ist eine andere Sache, eine Kultur dafür zu kritisieren, dass sie nicht die Muster bereitstellt und die Fähigkeiten ausbildet, die es den Individuen erlaubt, überhaupt eine angemessene Idee des Gelingens ihrer individuellen Existenz zu gewinnen; das ist die Inhumanität, auf die Adornos Kritik zielt.“ Menke 2004a, S. 84.

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nachträgliche schädliche Wirkungen hätten, sondern eigentlich bereits ihre eigenen Ermöglichungs- und Erfüllungsbedingungen systematisch beschädigen. Diese Einsicht hinsichtlich eines selbstzerstörerischen Vorgangs, die – wie noch zu zeigen sein wird – für Horkheimers Bezeichnung der inneren Struktur einer sozialen Leidenserfahrung eine sehr wichtige Rolle spielt, soll noch um eine letzte Bestimmung ergänzt werden. Seine Kapitalismuskritik weist zwar auf eine durch die Klassenherrschaft bedingte Beeinträchtigung hin, die aber dennoch klassenübergreifende Folgen hat, folglich einen allgemeinen Zustand sozialer Unfreiheit bezeichnet. Horkheimer scheint hier gewissermaßen einen Gesichtspunkt anzunehmen, den schon Lukács in seiner Verdinglichungskritik vertreten hatte, indem er etwa festhält, dass „die Bewusstseinsprobleme der Lohnarbeiter sich in der herrschenden Klassen verfeinert, vergeistigt, aber darum gesteigert wiederholen“⁶⁴. Denn selbst wenn Horkheimer nicht mehr ausdrücklich von einer „einheitlichen Bewusstseinsstruktur“ (Lukács) kapitalistischer Gesellschaftsformen spricht, so bezeichnet er dennoch ebenfalls die darin auftretende Freiheitseinschränkung als eine alle Gesellschaftsmitglieder letztendlich betreffende Erfahrung; einen „Wesenszug des herrschenden Systems“ sieht er insofern in dem Umstand, dass die Unfreiheit der Arbeiter schließlich mit der „Unfreiheit des Unternehmers zusammenfällt“ und sie sich gegenseitig bedingen.⁶⁵ Diese verabsolutierende Bestimmung von Horkheimers Kapitalismuskritik, die schließlich in Bezeichnungen wie „armseliges Leben“, „beengende und schmerzvolle Konstellation“, „unmenschliche Wirklichkeit“⁶⁶ zum Ausdruck kommt, macht besonders klar, dass es ihm vor allem um eine Kritik an der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise geht. In diesem Sinne beschreibt er beispielsweise die kapitalistische Gesellschaftsform als einen Zustand, in dem „der Glücklichste im nächsten Augenblick nicht durch die blinden Mächte der Natur, sondern aus Ursachen innerhalb der menschlichen Gesellschaft ohne ersichtliche Schuld dem Elendesten und Ärmsten gleich werden kann und das Unglück der einzige normale, nicht ungewisse Zustand ist“⁶⁷. Inwiefern diese allgemeine Freiheitseinschränkung tatsächlich als ein Leidenszustand verstanden werden kann, ist die nun notwendig zu behandelnde Frage.

 Lukács 1968, S. 193.  Siehe Horkheimer 1936a, S. 163.  Vgl. jeweils Horkheimer 1934b, S. 202; Horkheimer 1935b, S. 283 und Horkheimer 1936a, S. 156.  Horkheimer 1936b, S. 108. Natürlich bedeutet dies nicht, dass Horkheimer die Dimension der Klassenherrschaft völlig außer Acht lässt. Die gesellschaftliche Verdinglichung wäre nämlich zwar ein kollektiver, aber keineswegs neutraler Zustand: „Der Unterschied liegt darin, daß diese bewußtlose Notwendigkeit, in die freilich die gesamte bewußte Anstrengung der Individuen und Völker ebenso wie der politische und kulturelle Apparat als wichtiges Moment eingeht, für die eine Seite die Bedingung ihrer Herrschaft, für die andere die Härte des Schicksals darstellt.“ Horkheimer 1936a, S. 163.

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2.2.2 Zur Struktur von sozialen Leidenserfahrungen Die Beantwortung dieser Frage hängt größtenteils von einer weiteren Klärung der Horkheimer’schen Annahme ab, dass zwischen einer auf der Basis der Klassenherrschaft organisierten Gesellschaftsform und einer systematischen Verursachung von überflüssigen, im engeren Sinne sozialen Leidenserfahrungen ein immanenter Zusammenhang besteht. Ein bedeutsamer Hinweis dafür ist an jener Stelle zu finden, an der er den „Mangel der bürgerlichen Wirtschaftsform“ folgendermaßen ausführt: Zwischen dem freien Wettbewerb der Individuen als dem Mittel und der Existenz der Gesamtgesellschaft als dem Vermittelten besteht keine vernünftige Beziehung. Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allgemeinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen Betriebsamkeit der Individuen, Industrien und Staaten. Diese Irrationalität drückt sich in dem Leiden der Mehrzahl aller Menschen aus.⁶⁸

Dort werden also soziale Leidenserfahrungen als subjektive Ausdrucksformen eines grundsätzlich verfehlten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses erschlossen, der sich aufgrund des von kapitalistischer Produktionsweise bewirkten Mangels an kooperativer Selbstbestimmung zu verselbstständigen und dadurch das soziale Leben mit unvernünftigen Zügen zu prägen neigt. Die für kapitalistische Gesellschaften bezeichnende allgemeine Freiheitseinschränkung wäre demzufolge letztlich auf den Umstand zurückzuführen, dass ihre Reproduktionsform durch abstrahierende Tendenzen, das heißt durch eine strukturell angelegte Neigung zur Verselbstständigung gegenüber kooperativen Entscheidungen gekennzeichnet ist. Unschwer ist nun einzusehen, dass die logische Argumentationskette dieser aufschlussreichen Passage von jener schon angesprochenen Freiheitsvorstellung bestimmt wird, nach der ihre Verwirklichung vor allem als ein Prozess von Entäußerung,Vergegenständlichung und Wiederaneignung von maßgeblichen menschlichen Fähigkeiten gedacht werden muss. Die Verselbstständigung von sozialen Institutionen und Praktiken lässt sich dann ausgehend von dieser Konzeption als eine Einschränkung menschlicher Freiheit interpretieren, aus der sich zwangsläufig fähigkeitszerstörende Phänomene, die von Horkheimer als Leiden identifiziert werden, systematisch ergeben. Die theoriegeschichtlichen Grundlagen einer solchen Freiheitsauffassung, derzufolge jedes freie Handeln prinzipiell nach dem Muster einer Entäußerung von subjektiven Zwecken oder Motiven, das bedeutet von Bewusstseinsgehalten, verstanden werden soll, lassen sich bekanntermaßen bis zur romantischen „Anthropologie des Ausdruckes“ und Hegels Arbeitskonzeption zurückverfolgen,⁶⁹ und sie nimmt im Marx’schen Begriff der „gegenständlichen Tätigkeit“ und seiner darauf

 Horkheimer 1933b, S. 116.  Zu romantischen Wurzeln siehe Taylor 1983, S. 28 ff. Eine ausführliche Charakterisierung dieser Handelns- und Freiheitskonzeption ist in Lange 1980 und Benhabib 1992, S. 27 ff. zu finden.

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begründeten Entfremdungskritik eine eindeutige Gestalt an – „Arbeit [sei] eine EntÄußerung, derart, daß ein zunächst ‚innerer‘ Zweck in einem Prozeß in ein ‚äußeres‘ Resultat ‚übersetzt‘ wird“⁷⁰. Aufgrund dieser Vorstellung eines durch die Arbeitspraxis ständigen „Sichverlegen[s] in die Äußerlichkeit“⁷¹ kann Marx dann folgerichtig seine Konzeption menschlicher Geschichte nach dem Modell eines „werktätigen Gattungslebens“ entwickeln, demzufolge die zunächst entäußerten Leistungen der kooperativen Zusammenarbeit in der Gattungsgeschichte beständig angeeignet werden. Wie oben bereits angedeutet, besteht eine besondere Eigenschaft dieser Handlungskonzeption eben darin, dass ihr zufolge in demselben Vollzug einer immerwährenden Weltaneignungspraxis zugleich ein Selbstaneignungsprozess stattfindet⁷², da in ihren Objektivationen die Subjekte eine Veranschaulichung ihrer schaffenden Fähigkeiten erfahren und zugleich eine Distanzierung gegenüber ihre eigenen Natur – eine „Suspendierung der unmittelbaren Triebbefriedigung“⁷³ – erreichen können. Im Handlungsvollzug einer Entäußerung, Vergegenständlichung und daran sich anschließenden Wiederaneignung von maßgebenden menschlichen Fähigkeiten wird zusammenfassend eine freiheitsverbürgende Praxis dargestellt, sofern in deren Verwirklichung – wie Jaeggi in ihrer Rekonstruktion des Entfremdungsbegriffs deutlich beschrieben hat – Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zusammenlaufen: „Nur eine Welt, die ich mir ‚zu Eigen‘ machen kann im Sinne der (aneignenden) Identifikation mit ihr, wird eine sein, in der ich selbstbestimmt handle. Der Entfremdungsbegriff thematisiert, so verstanden, die Bedingungen dafür, sich als Subjekt, als Herr seiner eigenen Handlungen begreifen zu können.“⁷⁴ Die daraus folgende Bezeichnung der Folgen einer systematischen Behinderung von Aneignungsverhältnissen als ein Freiheitsverlust ist gerade die Annahme, die sich im Hintergrund von Horkheimers Darstellung der selbstzerstörerischen Struktur von Leidenserfahrungen findet. In der Tat geht er in seinen frühen Schriften immer von der Überzeugung aus, dass mit einer klassenherrschaftlichen Organisation gesellschaftlicher Arbeit notwendigerweise abstrahierende Tendenzen einhergehen und damit pathologische Erscheinungen in der Gesamtgesellschaft entstehen würden. „Die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens“ im historischen Zusammenhang kapitalistischer Gesellschaften wäre demnach derart organisiert, dass die freiheitsbejahende Praxis der Arbeit darin nur als eine „reale Zwangsläufigkeit“ erfahren wird, was mit seiner strukturellen Tendenz zur „Selbstständigkeit“ zu tun hätte; daraus folgt nun, so lassen sich Horkheimers Formulierungen deuten, nicht einfach eine mehr oder weniger ungerechte Verteilung der sozialen Güter, sondern tatsächlich ein Freiheitsverlust, den er als die Umkehrung der innewohnenden vernünftigen Bestimmung gesell    

Lange 1980, S. 14. Siehe Marcuse 1932, S. 529. Siehe dazu auch Benhabib 1992, S. 37 ff. Habermas 1968, S. 26. Zu dieser Selbstformierung innerer Natur vgl. auch Benhabib 1992, S. 52. Jaeggi 2005, S. 41.

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schaftlicher Arbeit beschreibt: „[D]ie Menschen [können] ihre eigene Arbeit nicht nach ihrem gemeinsamen Willen gestalten, sondern unter einem Prinzip, das sie einzeln und in Gruppen einander gegenüberstellt, mit ihrer Arbeit nicht Sicherheit und Freiheit, sondern allgemeine Unsicherheit und Abhängigkeit hervorbringen.“⁷⁵ Damit wird wiederum besonders deutlich, inwiefern Horkheimer eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft als Lebensform vor Augen hat: Mit ihrer kennzeichnenden Organisation der gesellschaftlichen Arbeit wird es für die Subjekte strukturell unmöglich, die kollektiv geschaffene soziale Welt nach kooperativen Bestimmungen zu regeln, was nicht weniger als eine defizitäre Form menschlicher Vergegenständlichung zur Folge hat – es handelt sich also nicht nur um die Unmöglichkeit, die Zielbestimmungen der Arbeitspraxis vollständig zu realisieren, sondern auch um einen sich selbst zerstörenden Entwicklungsvorgang, eine innere Deformation der vernünftigen Handlungsgrundlagen sozialer Lebensformen.⁷⁶ Die von klassenherrschaftlichen Strukturen bewirkte Verselbstständigung bewirkt demnach, kurz gesagt, die strukturelle Verzerrung einer ursprünglichen Lebenspraxis, von der eben die Vernünftigkeit menschlicher Lebensformen abhängt. Insofern stellt Horkheimer fest: „Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihre Wesen. Zugleich jedoch ist dieser Prozeß mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst entfremdet, erscheint ihnen mit all seiner Verschwendung von Arbeitskraft und Menschenleben, mit seinen Kriegszuständen und dem ganzen sinnlosen Elend als unabänderliche Naturgewalt, als übermenschliches Schicksal.“⁷⁷ So wie Lukács in seiner Verdinglichungsdiagnose werden die kennzeichnenden Pathologien kapitalistischer Gesellschaften von Horkheimer, so ließe sich auch sagen, in erster Linie weder auf die Verletzung moralischer Prinzipien noch auf Defizite sozialer Gerechtigkeit zurückgeführt, sondern vielmehr als Folge der systematischen Verformung von sozialontologischen Grundlagen, einer für ursprünglich gehaltenen menschlichen Praxis – der kooperativen Naturbeherrschung – verstanden.⁷⁸ Zum einen ergibt sich daraus ein Verlust an Selbstbestimmung; denn sobald die Arbeitstätigkeit ihre vernünftige gesellschaftliche Funktion nicht mehr erfüllen kann, sehen die Subjekte die Erhaltung der Gesamtgesellschaft als ein weiteres Stück bloßer Natur an: „Weil der Produktionsprozess der Menschheit der eigentlichen Organisation und Kontrolle ermangelt […], entzieht sich auch das Ganze des gesellschaftlichen Lebens, das letztlich von der Ökonomie abhängt, dem menschlichen Willen.“⁷⁹ Zum anderen

 Horkheimer 1935b, S. 312. Vgl. dazu auch Dannemmans Analyse einer „Realverkehrung“ als Eigenschaft kapitalistischer Lebensform nach Lukács’ Verdinglichungskritik – Dannemann 1987, S. 40 ff.  Vgl. dazu Lange 1980, 75 ff.  Horkheimer 1937a, 220 f.  Zu einer solchen sozialontologischen Rekonstruktion von Lukács’ Diagnose vgl. Honneth 2005, insb. Kap. I. Zur Bedeutung der Lukács’schen Verdinglichungskritik in der frühen Kritischen Theorie siehe Habermas 1981a, S. 455 ff.  Horkheimer 1934b, S. 205.

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handelt es sich aber zugleich um eine Beeinträchtigung der Chancen menschlicher Selbstverwirklichung, denn die Einzelnen werden dadurch ständig zu einem ganz verzerrten oder falschen praktischen Selbstbezug angehalten: „Das isolierte Individuum, das in seiner Abstraktheit zugleich für absolut frei und verantwortlich gehalten wird, ist in der gegenwärtigen Epoche notwendig von Angst und Unsicherheit beherrscht“, was nach Horkheimer gerade aus dem Umstand folgt, dass die Menschen „nach individuellen Entschlüssen zu handeln [glauben], während sie noch in ihren komplizierten Kalkulationen Exponenten des unübersichtlichen Mechanismus sind“⁸⁰. Nicht erstaunlich ist es daher, dass Horkheimer diese aus der kapitalistischen Produktionsweise sich ständig ergebenden Verselbstständigungstendenzen als die Herausbildung einer „fremde[n] Schicksalmacht“, ja einer „zweite[n] Natur“ bezeichnet.⁸¹ Unter diesem Begriff wird gerade jene paradoxe Entwicklung beschrieben, die – nach Adornos Formulierung – in der „Verwandlung des Historischen als des Gewesenen in die Natur“⁸² besteht, das heißt in der Hervorbringung eines historischen Zustands, in dem das geschichtliche Gewordene, von den Menschen Geschaffene als die bloßen, eigentümlichen Gesetzlichkeiten folgende Natur angesehen wird: „Der ökonomische Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als beherrschende Natur aus. Die Notwendigkeit der Formen, in denen die Gesellschaft sich erneuert und entwickelt und die ganze Existenz der Individuen sich abspielt, bleibt im dunkel.“⁸³ Dieser Verwendung des Begriffs „zweite Natur“ in kritischer Absicht liegt aber deutlich, so ist an dieser Stelle besonders hervorzuheben, ein positives oder affirmatives Verständnis zugrunde: Ohne die Annahme einer anhand gattungsgeschichtlicher Arbeitsanstrengungen, das heißt durch kooperative Befreiung aus Naturzwängen allmählich geschaffenen zweiten Natur der sozialen Welt, in der sich letztlich die Freiheitsmöglichkeiten einer gegebenen historischen Lebensform niederschlagen, wäre jene mit der Verselbstständigung und Verdinglichung von gesellschaftlichen Prozessen einhergehende Herausbildung von „sinnesfremden Notwendigkeiten“⁸⁴ ausschließlich aus der Perspektive des Einzelnen zu beurteilen. Ausgehend von diesem affirmativen Verständnis kann Horkheimer nun annehmen, dass jene Naturwüchsigkeit von sozialen Phänomenen ebenfalls auf die gesellschaftliche Arbeit zurückzuführen ist, das bedeutet auf ihre historische Organisation, sodass die zweite Natur von kapitalistischen Gesellschaften auch sozial geschaffen und aufrechterhalten wird. Dass die Gesellschaft „so blind wie die bewußtlose Natur“ erscheint, so hält Horkheimer fest, ergibt sich daher aus der Unfähigkeit ihrer Mitglieder, „den Prozeß,

    

Siehe Horkheimer 1935b, S. 320 und Horkheimer 1937a, S. 214. Horkheimer 1934b, S. 205. Vgl. Adorno 1932, S. 357. Horkheimer 1935a, S. 252. Siehe Lukács 1971, S. 53.

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durch den sie in gesellschaftlicher Vereinigung ihr Leben gewinnen, nicht durch gemeinschaftliche Erwägungen und Beschlüsse“ zu organisieren.⁸⁵ Mit dieser Auffassung der zweiten Natur (im kritischen Sinne) als eine von geistigen Praktiken geschaffene und aufrechterhaltene Naturhaftigkeit sozialer Welt lässt sich nun besser nachvollziehen, worin jene durch die abstrahierenden Tendenzen kapitalistischer Gesellschaften systematisch ausgelöste Verzerrung einer die Vernünftigkeit sozialer Lebensformen bestimmende Praxis besteht. Horkheimer scheint schon hier jene Argumentationsfigur einer Dialektik von Naturbefreiung und Naturverfallenheit vorwegzunehmen, die dann in der Dialektik der Aufklärung in dem umfassenderen Sinne einer Zivilisationskritik entfaltet wird, und sie als Grundlage seiner Kapitalismuskritik zu setzen – so stellt er beispielsweise fest: „Von den Schranken der alten, göttlichen sanktionierten Eigentumsverhältnisse sind die Menschen befreit. Die neuen gelten als Natur, als Erscheinung eines Dings an sich, über das nicht zu diskutieren ist, das sich menschlichem Einfluß entzieht.“⁸⁶ Was sich damit abzeichnet, ist nicht weniger als eine Ansicht, nach der jene Verzerrung nicht einfach als die Verfälschung von anthropologisch festgelegten Vernunftpotenzialen zu verstehen wäre, sondern eher als das geschichtlich bedingte Unvermögen, jene durch die Naturbeherrschung im Lauf der Zeit herausgebildeten Freiheitsmöglichkeiten und damit eröffnete Chancen eines vernünftigen sozialen Lebens vollständig zur Verwirklichung zu bringen. Diese Diagnose einer paradoxen Entwicklung, durch die ein Autonomiegewinn in einen Autonomieverlust umschlägt, hatten bereits – auch mit Blick auf eine Kritik an den Erstarrungstendenzen sozialer Sinnzusammenhängen – beispielsweise Max Weber (das „stahlharte Gehäuse“) und Georg Simmel (die „Tragödie der Kultur“) vorgenommen; von dieser Art kritischer Betrachtungen zeichnet sich Horkheimers Gesellschaftskritik wie gesagt unter anderem dadurch aus, dass er den besonderen Anspruch auf eine sozialphilosophische Leidenskritik erhebt, das heißt die Ansicht, dass sich aus der Verselbstständigung von sozialen Zusammenhängen zwangsläufig eine systematische Verkümmerung und Zerstörung von menschlichen Fähigkeiten ergibt. Mit dem Verlust an kooperativer Selbstbestimmung, so ließe sich dies auch ausdrücken, würde Horkheimer zufolge zugleich ein subjektiver Schaden verursacht. Wiederum kann hier in Lukács’ Verdinglichungskritik eine wichtige Anregungsquelle identifiziert werden, da schon dort die Herrschaft „einer sich unterbrochen bewegenden gespenstischen Starrheit“ von gesellschaftlichen Prozessen mit der Herausbildung einer besonderen subjektiven Disposition, nämlich einer bloß passiven oder „kontemplativen Haltung“ in kategoriale Verbindung gebracht worden war.⁸⁷ Nicht anders sieht Horkheimer nun den gesellschaftlichen Verlauf in kapitalistischen Gesellschaftsformen als die andauernde Erzwingung einer subjektiven Passivität an:

 Horkheimer 1936a, S. 158.  Horkheimer 1936a., S. 155 f.  Lukács 1968, S. 314 f. und S. 179.

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„Sofern jedoch den Menschen Sachverhalte, die von ihnen selbst abhängen, noch als fremde, unabänderliche gegenüberstehen, ist ihr Denken schwächlich und abstrakt; denn dort, wo heute Abhängigkeit besteht, könnte in solchem Maß konstruktive Entscheidung stattfinden, daß der Charakter des intellektuellen Verhaltens sich änderte. […] Er [der gegenwärtige Menschentypus] ist trotz aller Betriebsamkeit in entscheidenden Dingen passiv.“⁸⁸ Die Folgen dieser erzwungenen Passivität stellt er nun nicht einfach als eine Einschränkung von Einflussmöglichkeiten dar, sondern interpretiert sie tatsächlich – entsprechend dem Verständnis menschlicher Freiheit als einem Handlungsvollzug von Entäußerung und Wiederaneignung – im Sinne einer Atrophie oder Verkümmerung von wesentlichen subjektiven Fähigkeiten. Dieser Gedanke war nämlich bereits in der Marx’schen Entfremdungskritik enthalten, und zwar an der Stelle, an der Marx – ausgehend von denselben Prämissen – behauptet, dass mit der Enteignung des Arbeitsprodukts (das heißt der Verhinderung einer Wiederaneignung seitens des Produzenten) notwendig eine „Entwirklichung des Arbeiters“, das bedeutet eine Entqualifizierung und Zerstörung menschlicher Arbeitsfähigkeiten stattfindet.⁸⁹ An eine derartige Vorstellung scheint Horkheimer nun gerade anzuknüpfen, wenn er festhält, dass „eine psychische und physische Gewalt“ aus der ökonomischen Entwicklung von kapitalistischen Gesellschaften systematisch hervorgeht.⁹⁰ Eine genauere Charakterisierung dieses fähigkeitszerstörenden Charakters subjektiver Passivität lässt sich andererseits unter Betrachtung einer Sozialfigur gewinnen, die Horkheimer zufolge den „menschlichen Typus, der dem gegenwärtigen Zustand entspricht“, verkörpert – und zwar „de[n] Ohnmächtige[n]“.⁹¹ Für Horkheimers Ätiologie sozialen Leidens besitzt das Bild eines ohnmächtigen Individuums in der Tat eine kaum zu unterschätzende Bedeutung, denn selbst wenn er diese Erfahrung nicht ausführlich darstellt, taucht sie mehrfach in seinen Schriften auf und bildet einen derjenigen Kristallisationspunkte aus, in denen jene von ihm anvisierte Ergänzung einer materialistischen „Theorie des historischen Verlaufs“ durch psychoanalytische Erklärungsmittel deutlich zum Ausdruck kommt.⁹² Es ist eben in einem Aufsatz Erich Fromms („Zum Gefühl der Ohnmacht“), in dem jene selbstzerstörerische Struktur des Freiheitsverlusts kapitalistischer Gesellschaf-

 Horkheimer 1937b, S. 156.  Siehe Marx 1844a, S. 512. Dass die Entfremdung nach Marx einen selbstzerstörerischen Vorgang darstellt, erklärt besonders Angehrn ganz deutlich: „Entfremdete Tätigkeit ist eine ‚Verwirklichung‘ im Modus der ‚Entwirklichung‘. Doch geht es nicht einfach um die Abtrennung von Vermögen und Verwirklichung; auch das Vermögen und sein Träger werden durch die Ablösung von ihrer Verwirklichung in sich entqualifiziert“ – und er hält auch fest: „Die Abtrennung von den Möglichkeiten der Verwirklichung untergräbt die Möglichkeit selber; sie wird nicht nur nicht verwirklicht, sondern gleichsam als Möglichkeit unwirklich.“ Siehe Angehrn 1986, S. 126 f. und S. 133.  Siehe Horkheimer 1936a, S. 199.  Horkheimer 1935a, S. 266. Siehe auch Horkheimer 1936a, S. 156.  Siehe Horkheimer 1932b, S. 58 sowie Horkheimer 1932c. Zur Bezeichnung der Aufgabenstellung der Psychoanalyse in der frühen Kritischen Theorie vgl. Bonß 1982.

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ten, jene erzwungene Passivität weiter konturiert wird.⁹³ Dort greift er nämlich auf die von Freud beschriebenen psychischen Mechanismen neurotischer Persönlichkeitsstörungen zurück, um auf dieser Grundlage die ohnmächtige Haltung der „gesunden Menschen unserer Zeit“ verständlich zu machen.⁹⁴ Zum Verständnis seiner Erklärung soll aber zunächst einmal seine in anderen Aufsätzen deutlicher ausgedrückte Prämisse herangezogen werden, derzufolge die Ausbildung der inneren Natur von Menschen – wie auch für Horkheimer – nach dem Muster der Arbeitspraxis zu erläutern sei: „Dieser ‚Stoffwechsel‘ zwischen Triebwelt und Umwelt [führt] dazu, daß sich der Mensch als solcher verändert, genauso wie die ‚Arbeit‘ die außermenschliche Natur verändert. […] Die Psychoanalyse erlaubt uns also, die Ideologiebildung als eine Art ‚Arbeitsprozeß‘, als eine der Situationen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur anzusehen, wobei die Besonderheit darin liegt, daß die ‚Natur‘ in diesem Fall innerhalb und nicht außerhalb des Menschen liegt.“⁹⁵ Ausgehend von dieser Annahme kann Fromm dann bekanntermaßen eine sozialpsychologische Charakterologie entwickeln, nach der die typischen seelischen Eigenschaften von Mitgliedern kapitalistischer Gesellschaftsformen als Ausdruck einer libidinösen Anpassung an durch die Klassenherrschaft geprägte Strukturen begriffen werden.⁹⁶ In der Absicht einer Ideologiekritik werden dadurch die Grundsätze der Freud’schen Neurosenlehre als Erläuterungen über die Naturwüchsigkeit vom subjektiven Leben im Kapitalismus umgedeutet, da die seelische Erfahrung von ihren Mitgliedern ebenfalls Folge einer defizitären Entäußerungsweise, der Unmöglichkeit einer freien Wiederaneignung eines eigenen Willens gekennzeichnet sei.⁹⁷ Nicht anders verfährt Fromm in seinem Aufsatz zum Gefühl der Ohnmacht, denn dort handelt es sich vor allem um einen Versuch, die ideologische Wirkung von subjektive Hilflosigkeit kompensierenden oder rationalisierenden Mechanismen als die Ausbildung eines autoritären, sadistischen Charakters zu verstehen. Dies setzt jedoch selbstverständlich eine Erklärung dessen voraus, was jene ideologisch zu kompensierende Ohnmachterfahrung genau impliziert, wobei die in Horkheimers Ätiologie bereits geäußerte Ansicht einer notwendigen Umwandlung eines Verlusts an Selbstbestimmung in fähigkeitszerstörende Erfahrungen nochmals zur Durchsetzung gebracht wird. Insofern stellt Fromm zunächst fest, dass jede Erfahrung von Ohnmacht gerade durch das Gefühl eines Mangels an Einflussmöglichkeiten – bezüglich der äußeren Welt sowie der eigenen Erlebniswelt – gekennzeichnet sei: „Ich kann nichts beein-

 In der Zeitschrift für Sozialforschung hat Horkheimer den Aufsatz Fromms folgendermaßen vorgestellt: „Der psychologische Mechanismus, auf den die Bemerkungen zum ‚Gefühl der Ohnmacht‘ hinweisen, wird unter den allgemeinen menschlichen Verhältnissen der Gegenwart immer aufs neue erzeugt.“ Horkheimer 1937c, S. 106.  Siehe Fromm 1937, S. 190.  Fromm 1932a, S. 51 f.  Siehe dazu Fromm 1932b.  Vgl. Dahmer 1982, S. 88 f.

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flussen, nichts in Bewegung setzen, durch meinen Willen nicht erreichen, daß irgend etwas in der Außenwelt oder in mir selbst sich ändert.“ Anschließend hebt er aber besonders den Umstand hervor, dass diese subjektive Beschränkung von den Betroffenen keineswegs bloß passiv erlebt, sondern zugleich ein psychischer Mechanismus in Kraft gesetzt wird, der auf eine vom Subjekt selber eingeleitete Verschärfung der empfundenen Hilflosigkeit hinausläuft: „[D]iese Unfähigkeit [geht] mit einer tiefen Überzeugung von der eigenen Schwäche und Machtlosigkeit [einher], sei es, daß diese Überzeugung bewußt ist oder daß es sich um eine ‚unbewußte Überzeugung‘ handelt.“⁹⁸ All das führt schließlich – besonders sichtbar in den extremen Fällen von Neurosen – zu einer gravierenden subjektiven Störung, die als die Umwandlung von Willensschwäche in Willenlosigkeit verstanden werden kann, sofern schließlich „sie [die Betroffenen] es aufheben, überhaupt etwas zu wünschen oder zu wollen, ja, daß sie gar nicht mehr wissen, was sie eigentlich wünschen“⁹⁹. Auch Fromm scheint zusammenfassend – ausgehend von ähnlichen Prämissen wie Horkheimers Ätiologie – die Erfahrung von Subjekten im Kapitalismus als eine erzwungene Passivität bezeichnen zu wollen, aus der sich letztlich eine mehr oder weniger gravierende Zerstörung von individuellen Fähigkeiten ergibt. In Analogie zu neurotischen Erkrankungen lässt sich daher die Struktur einer sozialen Leidenserfahrung – den Grundprämissen des Entäußerungs- und Aneignungsmodells der Freiheit folgend – als eine systematische Beeinträchtigung von IchFähigkeiten auffassen. Zwei Aspekte sind hier zu betonen: zum einen die Tatsache, dass damit eine nun auf psychoanalytische Grundsätze gestützte (kritische) Konzeption zweiter Natur ins Spiel gebracht wird, nach der die Erlebniswelt von Subjekten durch die unbewusste Fortwirkung von vorangegangenen Entwicklungsphasen verzerrt wird.¹⁰⁰ Dieses Motiv lässt sich beispielsweise an Horkheimers Umrissen einer Kritik des bloß gewohnheitsmäßigen Verhaltens erkennen, das nicht den Ansprüchen der geschichtlichen Stufe gegenwärtiger Gesellschaft gerecht würde.¹⁰¹ Und zum an-

 Fromm 1937, S. 190. Wie Jaeggi für die Grundstruktur der Entfremdung gezeigt hat, ist in einer defizitären Aneignung des eigenen Willens das Subjekt zugleich ein „Objekt“ fremder Notwendigkeiten wie auch ein „Täter“. Siehe Jaeggi 2005, S. 43.  Fromm 1937, S. 193. Schon Lukács hatte die subjektive Verformung von Mitgliedern kapitalischer Gesellschaften als „Willenlosigkeit“ charakterisiert – siehe Lukács 1968, S. 179.  In diesem Sinne spricht Freud bekanntlich von einer „Erhaltung des Primitiven neben dem daraus entstandenen Umgewandelten“ – vgl. Freud 1930, S. 201.  Siehe dazu Horkheimer 1933b, S. 111. „Philosophie insistiert darauf“, so stellt er auch fest, „daß die Handlungen und Ziele der Menschen nicht das Produkt blinder Notwendigkeiten sein müssen.“ Und im Anschluss daran bezeichnet er ein Paradox kapitalistischer Entwicklung folgendermaßen: „So viel ist sicher: kein Bereich der Industrie, ob materiell oder intellektuell, ist jemals in einem Zustand vollständiger Stabilität; Bräuche, Gewohnheiten, haben keine Zeit, sich zu sedimentieren. […] Dringt man freilich etwas tiefer ein, so entdeckt man, daß, ungeachtet all dieser Erscheinungen, die Denkund Handlungsweise der Menschen nicht derart fortgeschritten ist, wie man glauben konnte. Im Gegenteil, ihre Aktionen verlaufen, wenigstens in einem großen Teil der Welt, weitaus mechanischer als zu anderen Zeiten, da sie durch ein lebendiges Bewußtsein und durch Überzeugung motiviert waren.“

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

deren sollte man auch den Umstand hervorheben, dass die Bezeichnung der Struktur einer sozialen Leidenserfahrung nach der für die Neurose kennzeichnende Ich-Beschädigung eine Analogie darstellt, das heißt, sie impliziert nicht, dass soziales Leiden als Krankheit angenommen wird.¹⁰² Ein solches Deutungsmuster, das eine wichtige Rolle besonders in der Erklärung der psychischen Grundlagen der Unterordnung von Subjekten unter totalitäre Herrschaftsstrukturen spielen wird, liegt bereits Horkheimers frühen Versuchen zugrunde, eine auch vom Kapitalismus ständig ausgelöste Deformation von intersubjektiven Beziehungen zu bezeichnen. Hier können beispielsweise zunächst seine Anmerkungen zum Angstphänomen herangezogen werden, wobei insbesondere zwei, der hier dargelegten Ätiologie vollkommen entsprechende Merkmale hervorzuheben sind. Zum einen lässt er sich dabei immer von der Vorstellung leiten, dass soziale Angstphänomene – etwa „Angst vor eigener Entscheidung“ oder die „fortwährende Angst vor der Niederlage im Konkurrenzkampf und der entsprechende falsche Ehrgeiz“¹⁰³ – ihre Wurzeln in der spezifischen kapitalistischen Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit finden. Sie wären, anders gesagt, subjektive Ausdrücke einer ökonomisch bedingten Ohnmachtserfahrung: „Jedes Individuum steht im Mittelpunkt seiner Welt und weiß zugleich, daß es in der wirklichen überflüssig ist.“¹⁰⁴ Und zum anderen bezeichnet er die daraus ergebende subjektive Störung ständig im Sinne einer Beschädigung von rationalen Fähigkeiten, was letztlich eine ideologische Aufrechterhaltung von bereits veraltet gewordenen Lebensverhältnissen möglich macht.¹⁰⁵ Beide Bestimmungen lassen sich noch deutlicher in einem Aufsatz von Franz Neumann ausmachen, in dem das Phänomen sozialer Angst auch unter ähnlichen Prämissen behandelt wird. Er teilt dort nicht nur die Überzeugung, dass diejenige Angstgefühle, die zu einer affektiven Identifizierung der Massen mit Führen mobilisiert werden können, vor allem aus der für kapitalistische Gesellschaften bezeichnenden Erfahrung einer „sozialen Entfremdung“ – „die Furcht vor sozialen Degradation“¹⁰⁶ – entstehen würden, sondern auch die Ansicht, dass ein solcher Vorgang letztlich eine Verkümmerung von subjektiven Fähigkeiten zur Folge hätte. Neumanns Bezeichnung eines solchen Vorgangs als zweideutige Regression ist besonders illustrativ in Bezug auf die Ansichten einer materialistischen Ätiologie von sozialen Leiden, weil damit gleichzeitig die gattungsgeschichtliche Begreifung aus Naturzwängen Horkheimer 1940a, S. 336 ff. Bekanntermaßen stellt Hegel zufolge die Gewohnheit gerade den Ausdruck zweiter Natur im subjektiven Geist dar, was ihre kritische Verwendung begründet – „Der Mechanismus der Gewohnheit ist das subjektive Korrelat der Unbewußtheit sittlicher Gründe“. Menke 2010, S. 688.  Darauf verweist ausdrücklich auch Adorno, wenn er hervorhebt, dass die autoritäre Persönlichkeit, die eben durch eine Abdankung des Ichs gekennzeichnet sei, keinen Krankheitszustand darstellt. Siehe etwa Adorno 1949, S. 277.  Siehe Horkheimer 1935b, S. 284 und Horkheimer 1938a, S. 294.  Horkheimer 1937b, S. 113.  Zu dieser Rolle der Angst siehe insbesondere Horkheimer 1936a, S. 137.  Siehe Neumann 1967, S. 281.

2.2 Soziales Leiden

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und die Ausbildung von Ich-Kräften thematisiert wird: „[E]inmal ist die Geschichte des Menschen die seines Heraustretens aus der ursprünglichen Horde und seine progressive Individualisierung, und die Identifizierung mit einem Führer in einer Masse ist so eine Art historischer Regression; sodann aber ist diese Identifizierung ein ‚Ersatz für die libidinöse Objektbildung‘, somit eine psychologische Regression, eine Ich-Beschädigung, vielleicht sogar ein Ich-Verlust.“¹⁰⁷ Eine andere, nach derselbe Logik sich vollziehende Verzerrung von zwischenmenschlichen Beziehungen lässt sich in jenen Bemerkungen Horkheimers erblicken, in denen die Entstehungsbedingungen von moralischen Verhaltensweisen, die eine Verachtung von Mitmenschen bewirken, behandelt werden. Noch einmal werden diese Bedingungen unmittelbar auf die Art von subjektiver Erfahrung zurückgeführt, die die kapitalistische Produktionsweise erzwingt: „Jener weiß von sich als von einem, der nicht irgendeiner ist. Irgendein Mensch ist etwas Verächtliches.“¹⁰⁸ Die Verzerrung von zwischenmenschlichen Beziehungen wäre insofern nicht mehr als Ausdruck der historischen Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit im Kapitalismus zu verstehen, was „die Fremdheit als anthropologische Kategorie“ einführt: Jeder bildet selbst den Mittelpunkt der Welt, und jeder andere ist ‚draußen‘. Jede Kommunikation ist ein Handeln, eine Transaktion zwischen solipsistisch konstruierten Bereichen. […] Aus dieser Grundstruktur der Epoche leiten sich ohne weiteres Kälte und Fremdheit her: der Unterdrückung und Vernichtung des Mitmenschen steht im Wesen des bürgerlichen Individuums nichts entgegen. Der Umstand vielmehr, daß in dieser Welt jeder dem Anderen zum Konkurrenten wird […], verleiht dem typischen Individuum der Epoche jenen Charakter der Kälte und Gleichgültigkeit.¹⁰⁹

Diese erzwungene wechselseitige Rücksichtslosigkeit interpretiert Horkheimer wiederum nicht einfach als einen Zustand harmloser Passivität oder Indifferenz, sondern vielmehr, wie gerade nach dem Entäußerungsmodell der Freiheit angedeutet wird, als die Verkümmerung und Zerstörung von menschlichen Fähigkeiten: „Der Mangel an Einfluß und Einsehen, der manchen Individuen gegenüber anderen Mitgliedern ihrer Gruppe anhaftet, geht hier nicht selten darauf zurück, daß sie niemand lieben können, sondern immer bloß über ihre eigenen Angelegenheiten brüten. Weil diese Menschen niemandes Ängste teilen und sich mit niemandem freuen, verlieren sie schließlich auch die Anteilnahme ihrer Umgebung und werden erfolglos.“¹¹⁰ In allen diesen Formulierungen kommt unmissverständlich der wesentliche Mangel von Horkheimers Ätiologie sozialer Leiden zum Vorschein – und zwar seine Neigung, jede Erfahrung von Leid nach dem Modell der Naturbeherrschung aufzufassen und auf dieser Grundlage ihre Entstehungsbedingungen stets mit der man-

 Neumann 1967, S. 268. Selbstverständlich basiert diese Feststellung auf der Freud’schen Massenpsychologie, in der die zur Massenbildung führende libidinöse Identifizierung gerade als eine „Selbstherabsetzung des Ichs“ gedeutet wird. Siehe Freud 1921, S. 98 ff.  Horkheimer 1937b, S. 113.  Horkheimer 1936b, S. 105. Siehe auch Fromm 1932b, S. 73.  Horkheimer 1935a, S. 273.

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

gelhaften Struktur der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus zu identifizieren. Es ist unleugbar, dass er auf der Basis seines Verständnisses menschlicher Freiheit nach dem Modell der Naturbeherrschung in die Lage versetzt wird, eine kategoriale Verbindung zwischen den höherstufigen Störungen der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften und der Verursachung von überflüssigen Leidenserfahrungen herzustellen – oder anders gesagt, jene in der Marx’schen Gesellschaftskritik manchmal auftretende Kluft zwischen ‚systemischer‘ und ‚erlebter‘ Krise gewissermaßen zu überbrücken.¹¹¹ Soziales Leid wird dementsprechend als ein aus den strukturellen Tendenzen zur Verselbstständigung von sozialen Zusammenhängen im Kapitalismus resultierender Freiheitsverlust verstanden, dessen Folge eine systematische Atrophie und Zerstörung von menschlichen Fähigkeiten wäre. Gerade auf eine solche Einsicht stützt schließlich Horkheimer seine Überzeugung, dass „solche ‚psychologischen‘ Einflüsse den Menschen nicht weniger verkümmern [lassen] als die unmittelbar materielle Schädigung“¹¹² Andererseits vermag er doch auf der Grundlage dieses Entäußerungs- und Aneignungsmodells eigentlich keine differenzierte Ätiologie zu formulieren. Jede überflüssige Einschränkung menschlicher Freiheit, sei es materielle Entbehrungen oder seien es jene aus der Verformung von intersubjektiven Beziehungen resultierenden Erfahrungen, würde letzten Endes dieselbe Struktur aufweisen – also eine Verhinderung oder Verfehlung von Praktiken einer kooperativen Wiederaneignung. Aus diesem Grund wird verständlich, dass Horkheimer keine besonderen Anstrengungen unternimmt, um die spezifischen historischen Vorgänge, die zu jenem systematischen Freiheitsverlust in kapitalistischen Gesellschaften führen, genauer zu umreißen; vielmehr hält er immer an der allgemeinen Vorstellung fest, derzufolge die beschriebenen Verselbstständigungstendenzen ein gemeinsames Attribut kapitalistischer Gesellschaftsformen darstellen. Damit wird der Schluss nahegelegt, dass er die Idee von sozialen Leiden – das oben genannte „Leiden der Mehrzahl aller Menschen“ – eher als ein Sammelbegriff heranzieht, um die verschiedenen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften auftretenden Freiheitseinschränkungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und gleichzeitig auf die unvernünftigen Züge ihrer charakteristischen Reproduktionsform zurückzuführen. Anstatt eine sozialtheoretisch informierte, differenzierte Phänomenologie von sozialen Leidenserfahrungen, so ließe sich zugespitzt formulieren, versucht Horkheimers Ätiologie dann eher den Nachweis zu erbringen, dass mit kapitalistischen Gesellschaften ein allgemeiner, alle Mitglieder mehr oder weniger betreffender Leidensdruck verbunden wäre. Es ist insofern höchst zweifelhaft, ob diese Vorstellung der gestellten explanatorischen Aufgabe einer sozialphilosophischen Leidenskritik tatsächlich gewachsen wäre: An vielen Stellen scheint Horkheimer vielmehr – aufgrund seiner verkürzten Konzeption menschlicher Freiheit – in allzu sehr vereinfachende Aussagen, wie im

 Zu diesem Mangel in Marxʼ Kapitalismuskritik siehe etwa Benhabib 1986a, S. 91 ff.  Horkheimer 1938, S. 294.

2.3 Schluss

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Fall seiner Behandlung sozialer Ängste oder Erfahrungen moralischer Missachtung deutlich, wenn nicht sogar in begriffliche Aporien zu geraten. Als Beispiel dieser letzten Schwierigkeiten, die – wie sich zeigen wird – noch in seinem Verständnis von der Rolle sozialer Kämpfe in der Aufhebung von Leidenserfahrungen auftreten, sei hier nur seine Stellungnahme zu der Frage genannt, ob „körperlicher Schmerz schlimmer als geistiger“ wäre: „Diese Formulierung ist fragwürdig. Wie sollte man die entsprechenden Grade miteinander vergleichen, wie den geistigen Schmerz, der beim Menschen fast stets den körperlichen begleitet, gedanklich von ihm trennen können? Die Behauptung ist trotzdem wahr. Materielle Entbehrungen, leibliche Folter, Eingesperrtsein, Zwang zu schwerer körperlicher Arbeit, tödliche Krankheit, das sind realere Leiden als die edelste Trauer.“¹¹³ Einerseits will er also – ganz entsprechend seinen materialistischen, sensualistischen Prämissen – körperlichen Leiden eine besondere Schwere zuweisen; andererseits aber gibt es in seiner Ätiologie eigentlich keine systematische Einsicht, die eine solche Annahme rechtfertigen könnte. Eine solche Aporie ist nichts anderes als Ausdruck seiner Neigung zu betrachten, jeden Freiheitsverlust als eine fähigkeitszerstörende Enteignung, folglich nach dem ausschließenden Modell der Naturbeherrschung zu verstehen.

2.3 Schluss Soziales Leiden, so kann das Ergebnis der hier geleisteten Rekonstruktion zusammengefasst werden, ist nach Horkheimer der subjektive Ausdruck eines im Rahmen kapitalistischer Gesellschaften systematisch auftretenden und paradoxen Freiheitsverlusts – systematisch, weil er sich aus ihren strukturellen Verselbstständigungstendenzen ergibt; paradox, weil seine historischen Voraussetzungen erst mit dieser besonderen sozialen Lebensform gegeben wären. Soziale, überflüssige Leidenserfahrungen drücken dann – nach den Grundansichten von Horkheimers Ätiologie – den veralteten Charakter von kapitalistischen Lebensformen aus, sofern ihre charakteristischen, Klassenherrschaft sichernden Strukturen einer vollständigeren Verwirklichung von historisch bereits verfügbaren Freiheitsmöglichkeiten im Weg stehen. Genau in diesem Sinne fasst Horkheimer den „widerspruchsvollen Umstand“ von kapitalistischen Gesellschaften zusammen: „[I]n der neueren Zeit [wird] die geistige und persönliche Unabhängigkeit des Menschen verkündet, ohne daß doch die Voraussetzungen der Autonomie, die durch Vernunft geleitete solidarische Arbeit der Gesellschaft, verwirklicht wäre.“¹¹⁴ Zwei Aspekte dieser aussagekräftigen Formulierung sollen besonders hervorgehoben werden. Zum einen die Tatsache, dass jene Verkündung von Horkheimer als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Bildungsprozesses interpretiert wird, durch den

 Horkheimer 1931/1934, S. 440.  Horkheimer 1935a, S. 252.

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Kapitel 2 Kapitalismuskritik und soziales Leiden

die Menschen sich vermittels kooperativer Arbeitsanstrengungen schrittweise von äußeren sowie inneren Naturzwängen befreit haben. Und zum anderen muss man auch dem Umstand Rechnung tragen, dass der angesprochene Mangel an gesellschaftlicher Voraussetzung der Autonomie nicht einfach im Sinne der harmlosen Nichterfüllung eines Versprechens, sondern vielmehr als ein selbstzerstörerischer Vorgang begriffen wird, sofern infolge des dadurch bewirkten Verlusts an Selbstbestimmung maßgebende menschliche Fähigkeiten, ja Chancen menschlicher Selbstverwirklichung zunichte gemacht werden. Gerade dieser Zerstörungsprozess ist es, was Horkheimers Ausführungen zufolge die Struktur einer sozialen Leidenserfahrung typischerweise auszeichnet. Diese Konzeption sozialen Leidens begründet sich vor allem, so hat sich hier zunächst gezeigt, in der Horkheimer’schen Inbesitznahme jener Grundprämisse der Marx’schen Geschichtsauffassung, derzufolge die Struktureigenschaften sozialer Lebensformen sich historisch aus der ständigen Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur ergeben. Diese Vorstellung ergänzt Horkheimer bezeichnend zugleich durch die auf Schopenhauer zurückgehende Ansicht, nach der die naturgegebene Vergänglichkeit eine strukturelle Eigenschaft von allen Lebensäußerungen und daher auch der durch Arbeit vermittelten menschlichen Lebensformen wäre.¹¹⁵ Und daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ableiten, die seine sozialphilosophische Leidenskritik weitgehend prägen: die Annahme der gesellschaftlichen Vermittlung von allen, auch naturverankerten Leidenserfahrungen sowie die Anerkennung der potenziellen Kraft gemeinsamer Vergänglichkeit bezüglich der Herausbildung einer auf Emanzipation ausgerichteten umfassenden Solidarität. Im Hintergrund seiner Ätiologie steht insofern immer eine Freiheitskonzeption, die in der Arbeitspraxis ihren theoretischen Anhaltspunkt sowie ihr Modell von Vernünftigkeit findet. Aus diesem Grund ist etwa die Einbeziehung von psychoanalytischen Erklärungsmitteln letztlich ebenfalls auf die Vorstellung zugeschnitten, dass jedes freie Handeln, auch hinsichtlich der subjektiven Erfahrungswelt oder inneren Natur von Subjekten, nach dem Modell einer Entäußerung und Aneignung von Fähigkeiten, also nach dem Vorbild der Arbeitspraxis gedacht werden sollte.¹¹⁶ Unumstritten ist wohl die Tatsache, dass eine derartige Ätiologie eine der schwierigsten Aufgaben einer sozialphilosophischen Leidenskritik zu bewältigen vermag: Sie ist in der Lage, einen kategorialen Unterschied zwischen einerseits jenen Erfahrungen von Leid, die gleichsam zur Struktur oder zum Verlauf menschlichen Lebens gehören, und andererseits denjenigen, die insofern kritikwürdig sind, als sie die Freiheit von

 In beiden Bestimmungen ist daher der materialistische Impuls in Horkheimers Denken deutlich zu erkennen.Vgl. dazu Adornos Feststellung: „[D]er Materialismus präsentiert dem Geist die Rechnung, indem er ihn seiner eigenen Naturwüchsigkeit überführt und schließlich den Ursprung des Geistes und noch seiner äußersten Sublimierung in der Lebensnot sucht.“ Adorno 1974, S. 173.  In diesem Sinne werden psychoanalytische Aussagen eher nur als eine funktionale Ergänzung der maßgebenden Prämissen marxistischer Geschichtsauffassung angenommen. Siehe dazu Bonß 1982, S. 378.

2.3 Schluss

61

Menschen überflüssig einschränken, begründeterweise festzustellen. Und noch: Betrachtet man die Art und Weise, wie Horkheimer in seiner Ätiologie diese kategoriale Grenze zieht, so entsteht ganz deutlich nicht das Bild von prinzipiell festgelegten Lebensbereichen oder klar voneinander abgegrenzten Zuständen, sondern vielmehr die Vorstellung, dass naturverankerte Leidenserfahrungen, wie etwa Tod oder Krankheit, auch einen freiheitseinschränkenden Charakter annehmen können, sobald sie aus gesellschaftlichen Gründen nicht frei – wie systematisch im Kapitalismus – angeeignet werden können. Augenfällig ist jedoch andererseits der Umstand, dass eine so geartete Ätiologie letztlich nur allzu sehr vereinfachende, wenn nicht sogar aporetische Erklärungen für viele Leidenserfahrungen liefern kann, die nach dem Modell der Arbeitspraxis schwerlich denkbar sind – beispielsweise, wie oben angedeutet, jene aus moralischer Missachtung resultierenden persönlichen Verletzungen oder auch den eben für eine materialistischen Gesellschaftskritik typischerweise bedeutungsvollen körperlichen Schmerz.¹¹⁷ Damit zeichnet sich schon die Notwendigkeit ab, eine umfassendere Konzeption menschlicher Freiheit zu entwickeln, die als Grundlage einer differenzierten Ätiologie von sozialen Leiden dienen könnte. Kehren wir noch einmal zu Horkheimers Selbstverständnis der Aufgaben einer sozialphilosophischen Leidenskritik zurück, insbesondere zu dem, was er die „eminent anthropologische Frage“ des Materialismus nennt – „wie eine Wirklichkeit, die als unmenschlich erscheint, weil alle menschlichen Fähigkeiten, die wir lieben, in ihr verkommen und ersticken, zu überwinden sei“¹¹⁸. Ein Teil der Antwort ist schon mit seiner Ätiologie gegeben – es sind die strukturellen Eigenschaften, die Verselbstständigungstendenzen von kapitalistischen Gesellschaften, die zur systematischen Verkümmerung menschlicher Fähigkeiten führen. Der zweite Teil der Antwort weist auf seinen Versuch hin, die Möglichkeiten einer Abschaffung von überflüssigen Leidenserfahrungen anzugeben – also auf die emanzipationstheoretische Frage einer Leidenskritik.

 Anders als bei Adorno lassen sich in Horkheimers Ausführungen kaum besondere Überlegungen zum somatischen Leiden finden, was angesichts seiner materialistischen Prämissen ziemlich auffällig ist.  Horkheimer 1935a, S. 259.

Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation Während die ätiologische Dimension materialistischer Leidenskritik in dem Nachweis bestand, dass der für kapitalistische Gesellschaftsformen kennzeichnende Verlust an Selbstbestimmung notwendig mit einer systematischen Verkümmerung subjektiver Fähigkeiten einhergeht, muss sie in emanzipatorischer Absicht noch die Frage beantworten, warum eine dermaßen „beengende und schmerzvolle Konstellation“ in der Regel auf keinen Widerstand stößt, sondern vielmehr als selbstverständlich angenommen wird. Horkheimer formuliert diese Zielbestimmung so: „Daß der innere Mechanismus dieser Gesellschaft, der die Unsicherheit und den dauernden Druck hervorbringt, nicht in das helle Bewußtsein tritt, daß er nicht als Gegenstand verändernder Praxis, sondern als notwendig und ewig hingenommen wird.“¹ Die emanzipationstheoretische Frage einer Leidenskritik impliziert mithin eine Kritik an der Naturalisierung von sozialen Leiden. Zum Verständnis von Horkheimers Naturalisierungskritik soll hier zunächst an jene Grundbestimmung erinnert werden, auf die in der anfänglichen Darstellung der Aufgaben einer materialistischen Leidenskritik hingewiesen wurde. Dabei wurde der Umstand hervorgehoben, dass nach Horkheimers Verständnis diese Kritik als Folge ihres emanzipatorischen Interesses notwendigerweise vor die Aufgabe gestellt ist, in der historischen Reproduktion von kapitalistischen Gesellschaften nicht nur die Ursachen von überflüssigen Freiheitseinschränkungen zu identifizieren, sondern auch potenzielle emanzipatorische Kräfte zu erschließen. Sie soll, anders gesagt, auch aufweisen können, dass die Möglichkeit menschlicher Befreiung – aller Verzerrung und Naturalisierung zum Trotz – in modernen sozialen Lebensformen immer noch vorhanden ist. Ausdrücklich äußert er es im Sinne der Überzeugung, dass die „Vorstellung einer besseren Wirklichkeit“ für die kritische Theorie „aus der heute herrschenden“ hervorgehen muss: „[D]er Materialismus verzichtet darauf, diese Ideale der Geschichte, und damit auch der Gegenwart, als von den Menschen unabhängige Ideale zugrunde zu legen […] Die Ideale können zu bewegenden Kräften werden, soweit nämlich die Menschen darangehen, sie aus bloßen, wenn auch begründeten Vorstellungen zur Wirklichkeit zu machen.“² In seinen Überlegungen lassen sich dementsprechend zwei Verfahren unterscheiden, mit denen er eine Kritik der Naturalisierung sozialen Leidens sowie eine Vergegenwärtigung von Emanzipationsmöglichkeiten zu vollbringen versucht hat. Diesem Ziel dienen zunächst seine ideologiekritischen Ausführungen, in denen er den Widerspruch zwischen dem normativen Selbstverständnis und der wirklichen Orga-

 Horkheimer 1935b, S. 283 f.  Horkheimer 1933a, S. 42. In einem ähnlichen Sinne behauptet etwa Marcuse: „[D]ie kritische Theorie hat es nicht mit der Verwirklichung von Idealen zu tun, die an die gesellschaftlichen Kämpfe herangetragen werden. Sie erkennt in diesen Kämpfen auf der einen Seite die Sache der Freiheit, auf der anderen die Sache der Unterdrückung und der Barbarei.“ Marcuse 1937, S. 237 f. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-004

Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

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nisationsweise kapitalistischer Gesellschaften zum Vorschein zu bringen beabsichtigt. Denn während die grundsätzlichen Wertbezüge moderner Lebensformen – ihre Vorstellungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit – einen universalistischen Sinn verkörpern und daher prinzipiell auf die Vermeidung von sinnlosen Leiden hinweisen, würde die kapitalistische Gesellschaft fortwährend einen leidenszufügenden Zustand aufrechterhalten. Aus dieser Unmöglichkeit, den moralischen Anforderungen modernen Selbstverständnisses in den konkreten institutionellen Zusammenhängen und sozialen Praktiken von Kapitalismus tatsächlich gerecht zu werden, ergäbe sich Horkheimer zufolge eine Tendenz zur Selbstauflösung aller fortschrittlichen Sinngehalte bürgerlicher Ideologie, womit sie zunehmend dazu neigen, sich in bloße Legitimationsmittel sozialer Herrschaft zu wandeln. Diese Einsicht einer offensichtlich von Marx inspirierten Ideologiekritik gewinnt eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Naturalisierung von Leid, wenn daraus der Schluss gezogen wird, dass es infolge dieses normativen Bedeutungsverlusts für die Subjekte schwieriger wird, ihre negativen Erfahrungen auf der Grundlage einer kulturwirksamen, widerstandsfähigen moralischen Sprache zu artikulieren – hingegen werden sie den Mechanismen sozialer Herrschaft und seinen machtkonformen Deutungsmustern zunehmend wehrlos ausgesetzt. Trotz dieser Fehlentwicklung hält Horkheimer noch an der für eine Ideologiekritik charakteristischen Emanzipationsvorstellung fest, dass die freiheitlichen Momente bürgerlichen Selbstverständnisses nicht gänzlich ausgelöscht, sondern in Form einer Aufhebung der gegenwärtigen Gesellschaftsform zu verwirklichen sind (3.1.). Diese Hoffnung hat er bekanntlich in seinen späteren Schriften – sehr deutlich in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft – aufgegeben. Horkheimer geht nun von der Vorstellung aus, dass in spätkapitalistischen Gesellschaften die moralischen Grundüberzeugungen und Prinzipien der Moderne einen so nachhaltigen Bedeutungsverlust erfahren haben, dass sie nicht mehr als Schutzgarantie des Einzelnen, sondern als bloße Herrschaftsmittel unter der Vorherrschaft instrumentalisierter Vernunft wirken. Die Naturalisierung von Leidenserfahrungen würde hier eine noch mächtigere Form annehmen: zum einen wegen des Umstands, dass die Subjekte nun ohne jede Vermittlung den sozialen Zwängen ausgesetzt sind – denn sie können nicht einmal die notwendigen psychischen Fähigkeiten ausbilden, um sich den Herrschaftsverhältnissen zu widersetzen; und zum anderen wegen der Tatsache, dass die noch im Horizont der spätkapitalistischen Massenkultur verfügbaren Ausdrucksmittel dermaßen verzerrt worden sind, dass sie eine falsche Einsicht in die sozialen Missstände und ein falsches Selbstverständnis in den Subjekten erzwingen. In Entsprechung zu dieser Diagnose – dem berühmten Bild eines universell gewordenen Verblendungszusammenhangs – verändert sich schließlich auch Horkheimers Emanzipationsvorstellung: Die einzige Möglichkeit einer Entnaturalisierung von sozialen Leiden würde nun – paradoxerweise – in der Natur liegen, und zwar in der solidarischen Vergegenwärtigung der naturbestimmten Vergänglichkeit aller Lebewesen. Der daraus folgende Entwurf einer Mitleidsethik versteht Horkheimer allerdings nicht im Sinne eines unmittelbaren Rückbezugs auf natürlichen Grundlagen, sondern vielmehr als eine

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

geistig vermittelte Praxis, das heißt im Sinne einer solidarischen Handlung, zu der allein soziale Wesen fähig sind. Die erste Natur menschlicher Lebensformen, so lässt es sich auch erklären, gewinnt dann erst eine emanzipatorische Bedeutung aus der Perspektive von in der zweiten Natur sozialer Welt solidarisch handelnden Subjekten. Oder um es mit dem berühmten Bild aus der Dialektik der Aufklärung auszudrücken: Das Mitleiden stellt eine Form des Eingedenkens der Natur im Subjekt dar (3.2.).

3.1 Ideologiekritik Bereits im Zusammenhang mit meiner Rekonstruktion von Horkheimers Konzeption der zweiten Natur habe ich auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass ihm zufolge mit „dem Aufkommen der neuen Wirtschaftsordnung“³ gleichzeitig ein praktischer Lernprozess stattfinden würde, der auf eine Formierung der inneren Natur von Subjekten sowie auf die Herausbildung von spezifisch modernen normativen Vorstellungen und Idealen hinausläuft. Auf der Grundlage dieser letzten Dimension, dem modernen normativen Selbstverständnis, entwickelt Horkheimer eine Ideologiekritik, in deren Zentrum eben die Frage steht, warum die Subjekte eine systematisch fähigkeitszerstörende Lebensform als naturmäßig annehmen. Die Voraussetzung für diese Kritik bildet jene in seinen frühen Schriften häufig ausgesprochene Überzeugung, dass die bürgerliche Kultur nicht bloß Ausdruck klassenmäßiger Interessenlagen sei, sondern auch ein Wahrheitsmoment enthalte, sofern ihre normativen Grundvorstellungen – ihre Leitideen von Freiheit und Gerechtigkeit – auf das „Glück der Allgemeinheit“ ausgerichtet wären.⁴ Die Anerkennung dieses emanzipatorischen Bedeutungsgehalts bürgerlichen Selbstverständnisses hätte nach Horkheimer hauptsächlich zur Folge, dass „die Moral vom Materialismus daher keineswegs etwa als bloße Ideologie im Sinne falschen Bewußtseins verworfen [wird]“, sondern vielmehr muss er dem paradoxen Sachverhalt Rechnung tragen, der „[d]ie bürgerliche Moral zur Aufhebung der Ordnung [treibt], von der aus sie erst möglich und notwendig ist“⁵. Damit eröffnet sich dann die Mög-

 Horkheimer 1935b, S. 320.  Siehe Horkheimer 1933b, S. 137. Besonders deutlich wird dieser Gesichtspunkt über die bürgerliche Kultur auch von Marcuse formuliert: „Gerade ihr allgemeiner Charakter gehört zu ihrem Wahrheitsgehalt […] Daß der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, daß sein Wesen Freiheit fordert, daß Glückseligkeit sein höchstes Gut ist: all das sind Allgemeinheiten, die eben durch ihre Allgemeinheit eine vorwärtstreibende Kraft haben. Die Allgemeinheit gibt ihnen einen beinahe umstürzlerischen Anspruch: nicht nur dieser oder jener, sondern alle sollen vernünftig, frei, glücklich sein. […] Das Interesse der kritischen Theorie an der Befreiung der Menschheit verbindet sie mit bestimmten alten Wahrheiten, die sie festhalten muß.“ Marcuse 1937, 243 f. Zu diesem Motiv überhaupt siehe auch Dubiel 1982, S. 463.  Horkheimer 1933b, S. 119 und 122. Zu erinnern sei hier an die schon oben erwähnte Ansicht, dass sich erst unter den historischen Bedingungen kapitalistischer Gesellschaften eine auf Allgemeinheit ge-

3.1 Ideologiekritik

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lichkeit einer dialektischen Ideologiekritik, also einer Kritik, die den „Nachweis des Widerspruchs zwischen dem Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Dasein“ zu führen versucht.⁶ Auf theoretischer Ebene bedeutet dies, dass die wichtigsten geistigen und kulturellen Schaffungen der Moderne eben diesen Widerspruch zum Vorschein bringen. Exemplarisch dafür wären Horkheimer zufolge die Aporien der Moralphilosophie Kants zu nennen: „In ihr kommt der Widerspruch zum Ausdruck, mit dem das Bürgertum während seiner ganzen Epoche behaftet war: es hat eine Ordnung geschaffen und an ihr festgehalten, die seinem eigenen Begriff von Vernunft widerstreitet.“⁷ Und dasselbe gilt auch für den Liberalismus, in dem zwei entgegenstehende normative Zielbestimmungen reflektiert würden – ein „individualistische[s] Moment, das freilich in seiner heutigen Gestalt nur für ganz wenige Individuen wirkliche Befriedigung bedeutet“, sowie ein auf das „Leben der Allgemeinheit“ gerichtetes Moment, „das heute in der Tat mit dem Glück aller Individuen zusammenfallen könnte, aber gebieterisch eine Veränderung der Wirtschaftsweise verlangt“.⁸ In dieser letzten Formulierung wird schon nahegelegt, was die Anerkennung eines emanzipatorischen Sinngehalts modernen Selbstverständnisses auf praktischer Ebene impliziert – statt eines Verzichts auf seine normativen Prämissen die Forderung nach ihrer umfassenderen gesellschaftlichen Verwirklichung in Form einer Aufhebung gegenwärtiger Gesellschaftsform: Heute wird behauptet, die bürgerlichen Ideen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit hätten sich als schlecht erwiesen; aber nicht die Ideen des Bürgertums, sondern Zustände, die ihnen nicht entsprechen, haben ihre Unhaltbarkeit gezeigt. […] Diese Ideen sind nichts anderes als die einzelnen Züge der vernünftigen Gesellschaft, wie sie in der Moral als notwendiger Zielrichtung vorweggenommen ist. Eine ihr entsprechende Politik hat darum diese Forderung nicht zu verlassen, sondern zu verwirklichen.⁹

Diesen Ausführungen kommt aber erst eine besondere Bedeutung für die Zwecke einer sozialphilosophischen Leidenskritik zu, wenn ferner die Tatsache in Betracht gezogen

richtete Gerechtigkeitsvorstellung als eine „unmittelbare geschichtliche Aufgabe“ erweise. Horkheimer 1933b, S. 138.  Horkheimer 1933a, S. 19. Kapitalismuskritik bedeutet somit, so führt Horkheimer auch aus, sowohl „Kritik an der Verzerrung“ gesellschaftlicher Wirklichkeit als auch „Anerkennung ihrer relativen Wahrheit“ – Horkheimer 1935a, S. 269. Darauf zielt schließlich auch seine Kritik an jenen lebensphilosophischen Strömungen, die „keine fortschrittlichen Konsequenzen“ aus dem Zustand einer „veralteten Kultur“ ziehen und „zu einer vorkapitalistischen Form der Gesellschaft“ zurückkehren wollen. Siehe Horkheimer 1934b, S. 188.  Horkheimer 1933b, S. 123. Vgl. auch Benhabib 1986b. Ähnlich verfährt auch Adorno in seinen moralphilosophischen Überlegungen. Siehe dazu Menke 2004b, S. 142 ff.  Horkheimer 1934c, S. 224.  Horkheimer 1933b, S. 137. In diesem Sinne behauptet Schnädelbach, dass es Horkheimer darum geht, den „utopischen Überschuß bürgerlicher Moral“ politisch zu retten. Siehe Schnädelbach 1986, S. 68.

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

wird, dass Horkheimer diese Gerechtigkeitsforderung als den moralischen Anspruch expliziert, „die Wirklichkeit so einzurichten, daß keiner ohne sinnvollen Grund zu leiden hat“¹⁰. In diesem Sinne kann dann festgehalten werden, dass die Aufrechterhaltung von sinnlosen Leidenserfahrungen nach Horkheimers Verständnis nicht nur im Widerspruch mit dem in kapitalistischen Gesellschaften schon erreichten materiellen Wohlstandsniveau steht, sondern auch mit ihrem kennzeichnenden normativen Horizont – denn beide Dimensionen sind Ausdruck dessen, was nach Horkheimers Ausführungen als eine durch kooperative Arbeitsanstrengungen herausgebildete zweite Natur von spezifisch modernen Lebensformen begriffen werden kann. Und damit offenbart sich dann das Paradox, das eine Leidenskritik im Hinblick auf sein emanzipatorisches Interesse aufklären muss, zugleich als die Frage, welches die Ursachen sind, deretwegen die normativen Grundsätze modernen Selbstverständnisses, die prinzipiell auf eine Aufhebung oder Verhinderung von sinnlosen Leiden abzielen, in der Wirklichkeit kapitalistischer Gesellschaften eher ohnmächtig bleiben. Ganz im Sinne jener von Marx entworfenen Ideologiekritik wird Horkheimer diesbezüglich behaupten, dass die institutionellen Rahmenbedingungen und die etablierten Praktiken kapitalistischer Gesellschaften nicht in der Lage sind, ihre eigenen normativen Versprechungen tatsächlich einzulösen. Der Grund dafür liegt, so macht er auch geltend, in jener dem Bewusstsein von Subjekten ständig entzogenen Diskrepanz zwischen der normativ verkündeten Allgemeinheit und der wirklichen Organisationsform des Gesellschaftsverlaufs, die eher „dem Prinzip der individualistischen Lebensform“ entspricht.¹¹ Dieses Missverhältnis ist insofern besonders gravierend, als es sich in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit selbst, das heißt in jener Sphäre, in der nicht weniger als die Vernünftigkeit einer sozialen Lebensform im Spiel steht, verankert und manifestiert: „Der Einzelne, ganz von der Sorge um sich selbst und das ‚Seine’ in Anspruch genommen, fördert daher das Leben des Ganzen nicht bloß ohne klares Bewußtsein, sondern er bewirkt durch seine Arbeit außer dem Glück der anderen auch noch ihr Elend; […] Der Gedanke an die Allgemeinheit läßt sich in kein eindeutiges Verhältnis zur eigenen Arbeit bringen.“¹² Eine dermaßen tiefliegende ethische Zerrissenheit führt dann dazu, dass das soziale Leben im Ganzen unter den verzerrenden Einfluss einer auf der Klassenherrschaft beruhenden Produktionsweise gerät: „Die menschlichen Kräfte [stellen] sich darauf [ein], den individuellen Vorteil zu begünstigen. Weder das Gefühl des Individuums noch sein Bewußtsein, weder die Form seines Glücks noch seine Vorstellung von Gott entziehen sich diesem das Leben beherrschenden Prinzip. […] Der ökonomische Vorteil ist in dieser Epoche das natürliche Gesetz, unter dem das individuelle Leben steht.“¹³

   

Horkheimer 1935a, S. 264. Horkheimer 1931, S. 25. Horkheimer 1933b, S. 117. Horkheimer 1933b, S. 116.

3.1 Ideologiekritik

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Für die vernünftigen normativen Grundsätze modernen Selbstverständnisses hätte dies nun zunächst zur Folge, dass sie nur abstrakt und darum tendenziell repressiv geltend gemacht werden können, was Horkheimer zufolge deutlich in den neuzeitlichen Moralphilosophien – insbesondere bei Kant – zum Vorschein kommt: „Das Ganze erscheint daher als Mahnung, als Forderung und beunruhigt im moralischen Bedenken das Gewissen.“¹⁴ Und gerade deswegen ergäbe sich aus dieser gesellschaftlich erzwungenen Äußerlichkeit bürgerlicher Moralvorstellungen ständig ein „Konflikt im Innern ihrer Subjekte“, denn sie vermögen jene allgemeinen Forderungen nur unreflektiert anzunehmen, das heißt in Form einer „Moral des Opfers und der Selbstverleugnung“.¹⁵ Neben seinen emanzipatorischen Zügen wären insofern auch unterdrückende Sinngehalte konstitutiv für den modernen moralischen Werthorizont, da er historisch sowie strukturell die Spuren sozialer Herrschaft trägt – die Ausbildung von „moralische[m] Bewußtsein, Gewissen und Pflichtvorstellungen“ sei daher auch als Wirkung einer „verinnerlichte[n] Gewalt“ zu verstehen.¹⁶ Zwei Aspekte dieser Überlegung sollen hier besonders hervorgehoben werden, da sie auf das spezifische Verfahren einer Ideologiekritik hinweisen. Zunächst ist jene widersprüchliche Erfahrung Horkheimer zufolge nicht nur im moralischen Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder vorhanden, sondern sie drückt sich tatsächlich in institutionellen Zusammenhängen und etablierten Praktiken aus, in denen jenes ambivalente Selbstverständnis erst ausgebildet und reproduziert wird – oder besser gesagt, sie ist Ausdruck eines in der sozialen Welt selbst laufenden Widerspruchs. In diesem Sinne ist eben Horkheimers Kritik an der idealistischen Moralphilosophie gleichzeitig eine Kritik an den sozialen Institutionen und Praktiken, die im Kapitalismus durch jene normativen Grundsätze geregelt und legitimiert werden.¹⁷ Und zweitens macht eine Ideologiekritik typischerweise nicht einfach auf den Umstand aufmerksam, dass institutionelle Handlungszusammenhänge ihren innewohnenden normativen Anforderungen tatsächlich nicht gewachsen sind, sondern vielmehr auf einen Vorgang, der als eine normative Selbstauflösung oder gesellschaftlich induzierte Verkehrung zu bezeichnen möglich ist: Wegen der zugrunde liegenden widersprüchlichen gesellschaftlichen Dynamik würden jene normativen Versprechungen

 Horkheimer 1933b, S. 117.  Vgl. Horkheimer 1934b, S. 210 sowie auch 1936b, S. 51. Siehe dazu auch Fromms Kritik am „tabuistischen Charakter“ der „bürgerlichen Moralvorschriften“: „Er bewirkt, daß die Moralvorschriften abstrakt und starr sind, daß ihre Verletzung, wie auch immer der konkrete Fall gelagert sein mag, Abscheu und Verachtung hervorruft.“ Fromm 1935, S. 137.  Horkheimer 1936a, S. 135. Dazu vgl. auch Horkheimer 1936b, S. 53. Neben dieser Auffassung, für die selbstverständlich Nietzsches Genealogie das Vorbild darstellt, steht immer auch die oben angesprochene Figur einer klassenmäßigen Aneignung und Verzerrung von vernünftigen Potenzialen – in diesem Fall der Moral: „Für die drunter freilich galt die Harmonie von Allgemeinem und Besonderem nur als Forderung. […] Daß es sie für sie eigentlich nie vernünftig war, den Triebverzicht zu leisten, bedeutet, daß sie von der Zivilisation nie wirklich erreicht worden sind. Sie sind immer noch soziale Wesen durch Gewalt.“ Horkheimer 1942, S. 276.  Siehe dazu auch Schnädelbach 1986.

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nicht nur mangelhaft verwirklicht, sondern sie würden tendenziell auch dazu neigen, sich selbst aufzulösen und in ihr Gegenteil umzuschlagen.¹⁸ Unzweideutig lässt sich eben diese Argumentationsfigur in Horkheimers Schriften erkennen – beispielsweise wenn er die geschichtliche Entwicklung der grundlegenden Wertvorstellungen bürgerlicher Gesellschaften folgendermaßen zusammenfasst: „[D]ie gesellschaftliche Totalität, der die liberalen, demokratischen, progressiven Tendenzen der herrschenden Kulturform zugehörten, [enthielt] von Anbeginn auch ihr Gegenteil: Unfreiheit, Zufall und die Herrschaft bloßer Natur, welches kraft der eigenen Kraft des Systems schließlich alle positiven Züge notwendig zu vernichten droht.“¹⁹ Und daraus folgt, so ließe sich Horkheimers Ideologiekritik auch deuten, ein Naturalisierungseffekt bezüglich der Wahrnehmung sozialer Leidenserfahrungen; denn diejenigen normativen Vorstellungen, die prinzipiell auf eine Vermeidung von sinnlosem Leid ausgerichtet seien, würden ihre kritische Bedeutung tendenziell verlieren – das heißt, sie würden nicht länger ein widerstandsfähiges moralisches Vokabular darstellen, auf das die Subjekte sich beziehen könnten, um soziales Unrecht und unnötige Leiden zu erkennen und anzuprangern. Aufgrund dieser strukturellen Tendenz zur normativen Selbstauflösung würden die Subjekte, anders gesagt, zunehmend wehrlos – man könnte sagen: moralisch sprachlos – sozialen Leidenserfahrungen ausgesetzt, womit ein bloß passives Sich-Einfügen in machtkonforme kulturelle Deutungsmuster erzwungen würde. Diese Auffassung lässt sich insbesondere damit begründen, dass Horkheimer den Zwang zu einem bloß angepassten Verhalten als die Kehrseite der Ohnmacht des Einzelnen, also jener Erfahrung, an der – wie ich vorgeschlagen habe – die selbstzerstörerische Struktur sozialer Leidenserfahrungen ablesbar wäre, annimmt. Der für kapitalistische Gesellschaften kennzeichnende ohnmächtige Einzelne, so stellt er nämlich heraus, „erkennt alles an, was im Dienste der Macht steht. Die groben Züge dessen, was jetzt geschieht und gilt, sind ihm die Norm der Welt.“²⁰ Unschwer ist zu erkennen, dass diese Figur eines äußerst angepassten Einzelnen ebenso auf das Modell der Naturbeherrschung zugeschnitten ist – denn zunächst heißt Anpassung für Horkheimer nur jene Lebensnotwendigkeit, sich an die umgebende Natur anzupassen, um sie bearbeiten zu können. Im Zusammenhang kapitalistischer Gesellschaften würde jedoch dieses epochenübergreifende Erfordernis eine pathologische Gestalt annehmen, sofern es als eine Art von Subjektivität – eine

 Dazu siehe insbesondere Jaeggis Darlegung der Marxʼschen Ideologiekritik: „Nach Marx ist die Ideologie von Freiheit und Gleichheit selbst ein Faktor in der Entstehung des Zwangs und der Ungleichheit. Das heißt, diese ist produktiv wirksam in einer Weise bzw. mit dem Effekt, dass sie selber an der Verkehrung der in ihr verkörperten Ideen mitwirkt. Die normativen Ideale sind also nicht etwa lediglich noch nicht vollständig verwirklicht, sie sind in ihrer Verwirklichung verkehrt. Nicht nur also sind Freiheit und Gleichheit keinesfalls ‚bloße Ideen‘; es sind Ideen, die gesellschaftlich wirksam geworden sind und sich in sozialen Institutionen sedimentiert haben.“ Jaeggi 2009, S. 274.  Horkheimer 1935b, S. 278.  Horkheimer 1935a, S. 266.

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„Struktur von Vorlieben, Glaubensakten, Wertungen und Phantasien“ – geprägt wird, die dazu neigt, sich immer mit der gegebenen Wirklichkeit abzufinden.²¹ Es handelt sich folglich, so merkt Horkheimer auch an, um eine auf dem psychischen Apparat selber errichtete „Präformation“ zwischen individuellen Zielen und ökonomisch notwendigem Handeln.²² Mit dieser letzten Bemerkung wird die Möglichkeit nahegelegt, so wie früher für die Struktur der Ohnmachtserfahrung, die pathologische Anpassung von Einzelnen auch mithilfe psychoanalytischer Erklärungsmittel weiter aufzuklären. Diesen Bezug zur Psychoanalyse deutet Horkheimer tatsächlich selbst an, indem er die von ideologischen Mechanismen erzwungenen Verhaltensweisen auch im Sinne von Reaktionsbildungen interpretiert, also als Ausdruck von Prozessen, durch die nicht befriedigte Bedürfnisse und die Ohnmacht von Menschen auf machtkonforme Verhaltensweisen umgeleitet werden.²³ Diese „verdeckende Rationalisierungen“ des Ohnmachtsgefühls, wie Fromm es nennt, würden dann eine kompensierende Sinngebung für wirkliche Entbehrungen und Mängel liefern, die dennoch nicht nur immer unzulänglich sei, sondern sich in einem weiteren Leidensdruck niederschlüge – zum Beispiel in der unreflektierten Identifizierung mit einer Gemeinschaft und der damit einhergehenden individuellen Opferbereitschaft.²⁴ Einer solchen Einsicht liegt sicherlich die Vermutung zugrunde, dass einige besonders belastende Leidenserfahrungen zwanghaft sprachlos wurden, oder psychoanalytisch gesagt, dass sie aus dem Assoziationszusammenhang, der bewussten Erfahrung von Subjekten, ausgeschlossen und daher unzugänglich wurden und weiterhin nur durch ihre Symptom- und Reaktionsbildungen erkennbar sind.²⁵ So wie für die Psychoanalyse der psychisch Kranke wäre es der pathologisch angepasste Einzelne, so ließe sich nahelegen, auch ein „schweigend erduldetes Leiden“²⁶ erfahren – er wäre immer noch ein handelndes Subjekt, das dennoch seine belastenden

 Vgl. Horkheimer 1936a, S. 143 sowie auch 1933b, S. 116.  Horkheimer 1932c, S. 62.  Siehe etwa Horkheimer 1934b, S. 212.  „Die Rationalisierungen des eigenen Ohnmachtsgefühls“, so stellt Fromm fest, „ist aber sicherlich einer der Faktoren, der für die Tendenzen zur phantasierten oder realen Steigerung des eigenen Leidens verantwortlich ist.“ Fromm 1937, S. 194. Hier hat Fromm die triebhaften Grundlagen des „autoritär-masochistischen Charakters“ vor Augen, dessen Herausbildung er eben als eine Art von psychischer Kompensation gegenüber der „mangelnden Fähigkeit zum selbstständigen Handeln“ versteht, die aber – selbst wenn sie „lustvoll“ sein mag – letztlich ebenso leidenserzeugend wäre. Siehe Fromm 1936, S. 173 ff.  Es ließe sich hier vielleicht auf Habermasʼ Erklärung der Verdrängung in der Psychoanalyse im Sinne einer Kommunikationssperre verweisen, mit der eine privatisierte oder entgrammatikalisierte Sprache entstehen würde, die zwar noch in Symptombildungen einen Ausdruck finden kann, im engeren Sinne aber nicht mehr verstehbar oder kommunizierbar wäre. Siehe dazu Habermas 1973, S. 274 ff. Ein solches intersubjektives Verständnis der Psyche ist Horkheimer natürlich ganz fremd, aber sein Verständnis der Naturalisierung von Leiden scheint – so möchte ich wenigsten andeuten – die Grundintuition der Freud’schen Darstellung von Verdrängungsmechanismen gewissermaßen zu übernehmen.  Siehe Dahmer 1982, S. 54.

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

Lebenserfahrungen reflexiv nicht zu artikulieren vermag oder nur auf der Basis von psychologisch angelegten Mechanismen, die letztlich zu einer Erhöhung des Leidensdrucks führen. Dass die Selbstauflösung und Verkehrung von normativen Grundsätzen kapitalistischer Gesellschaften nach Horkheimer einen Vorgang darstellen, der innerhalb institutioneller Handlungszusammenhänge selbst verläuft, lässt sich ansonsten insbesondere anhand seiner ideologiekritischen Betrachtungen über drei bedeutsame moderne Institutionen illustrieren – und zwar das moderne Recht, den kapitalistischen Markt und die bürgerliche Kleinfamilie. Zum ersten institutionellen Komplex macht er zunächst unzweideutig die Marx’sche Ansicht geltend, derzufolge die normativen Grundeigenschaften des modernen Rechtssystems die ökonomisch vorherrschenden Interessen mehr oder weniger eindeutig verkörpern²⁷; zugleich aber räumt er – wie auch schon Marx – ein, dass die Etablierung von vertragsförmigen, nicht länger personengebundenen Abhängigkeitsverhältnissen, insbesondere in der Arbeitswelt, „eine äußerst produktive und fördernde Bedeutung“ hinsichtlich der „Entwicklung des individuellen Selbstbewußtseins“ hätte.²⁸ Diese in Form von Rechtsansprüchen institutionalisierten Autonomiegewinne würden allerdings – aufgrund der zugrunde liegenden kapitalistischen Dynamik – tendenziell einen normativen Bedeutungsverlust erfahren, womit sie dazu neigen, ihre kritische, befähigende Funktion zu verlieren und bloß in weitere Instanzen sozialer Herrschaftssicherung umzuwandeln. Eine derartige normative Fehlentwicklung beschreibt Horkheimer exemplarisch mit Verweis auf die klassischen liberalen Freiheitsrechte: Die Gleichheit vor dem Gesetz hatte damals trotz Ungleichheit der Vermögen einen Fortschritt im Sinne der Gerechtigkeit bedeutet – sie ist heute wegen dieser Ungleichheit unzulänglich geworden. Die Freiheit der öffentlichen Rede war eine Waffe im Kampf für bessere Zustände – heute kommt sie vor allem den veralteten zugute. Die Unverletzlichkeit des Eigentums war ein Schutz der bürgerlichen Arbeit gegen den Zugriff der Behörden – heute hat sie zugleich Enteignung weiter bürgerlicher Schichten und Brachlegung des gesellschaftlichen Reichtums zur Folge.²⁹

 Sehr deutlich dazu: „[D]ie Erhaltung und Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens [zwingt] den Menschen jeweils eine bestimmte soziale Gruppierung auf. Diese, die nicht bloß die politischen und rechtlichen Institutionen, sondern auch die höheren Ordnungen der Kultur bedingt, wird den Menschen vorgezeichnet durch die verschiedenen Funktionen, die im Rahmen des Wirtschaftsprozesses […] ausgeführt werden müssen. […] Je nachdem, wie auf Grund des Entwicklungsgrades der Menschen die Technik ihrer Werkzeuge und ihrer Zusammenarbeit geartet ist, das heißt je nach der Weise des Produktionsprozesses, bilden sich auch die Abhängigkeitsverhältnisse und der dazugehörige juristische und politische Apparat.“ Horkheimer 1932b, S. 55 f.  Siehe Horkheimer 1936a, S. 165. Vgl. dazu auch die nur angedeutete Vorstellung, dass das Recht in der Moderne als eine auf Gründe angewiesene Sphäre auftreten würde – siehe Horkheimer 1935a, S. 252.  Horkheimer 1933b, S. 142. Eine ähnliche normative Verkehrung wird auch bezüglich individueller Denkfreiheit sowie des Werts der Achtung der Menschenwürde festgestellt. Siehe jeweils Horkheimer 1934b, S. 181 und Horkheimer 1936b, S. 108. Zum widersprüchlichen Charakter bürgerlicher Toleranz vgl. letztlich Fromm 1935, S. 121.

3.1 Ideologiekritik

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Horkheimer negiert also nicht, dass mit den modernen rechtlichen Freiheiten nur eine „formelle Universalität“ institutionalisiert wird; genau darin liegt jedoch zugleich ihre potenzielle kritische Bedeutung als Schutzgarantie des Einzelnen.³⁰ Es ist dennoch dieses normative Potenzial, das aufgrund der Entwicklungslogik von kapitalistischen Gesellschaften ständig nicht nur mangelhaft, das heißt unter klassenmäßigen Einschränkungen verwirklicht wird, sondern eigentlich auch einen Selbstauflösungsoder Verkehrungsprozess erfährt.³¹ Nicht anders argumentiert Horkheimer hinsichtlich der Entwicklung des kapitalistischen Markts. Mit seiner historischen Entstehung wurden einerseits, wie oben schon gesehen, traditionelle Lebensformen zerstört und Subjekte – zwecks ihrer Ausbildung als Arbeitskraft – auf verschiedene Wege diszipliniert, aber dennoch gleichzeitig personengebundene Abhängigkeitsverhältnisse abgeschafft und eine neue Gerechtigkeitsvorstellung, nämlich die Konzeption einer allein „durch Arbeit verdienten Stellung“, eingeführt, mit der soziale Benachteiligungen nun als rechtfertigungsbedürftige Umstände auftreten: In der Neuzeit sei jedes Leid prinzipiell nicht mehr Unglück, sondern Schuld.³² Die kapitalistische Gesellschaft wäre jedoch niemals in der Lage gewesen, dieser moralischen Anforderung tatsächlich gerecht zu werden: Das in dieser untergehenden Welt herrschende Prinzip der Geltung aus bloßer Tradition, das heißt aus Abstammung, Gewohnheit und Alter, wurde vom aufsteigenden bürgerlichen Geist verneint und dagegen die individuelle Leistung in theoretischer und praktischer Arbeit als gesellschaftlicher Maßstab verkündigt. Weil aber die Voraussetzungen der Leistung ungleich waren, ist das Leben unter diesem Prinzip trotz der ungeheueren Steigerung der Arbeitsproduktivität hart und drückend gewesen.³³

Diese strukturell bedingte defizitäre Verwirklichung hätte nun nicht nur einen permanenten Widerspruch zur Folge, sondern sie setzte vielmehr einen Selbstauflösungsprozess in Gang: Die Idee einer allein durch eigene Arbeitsleistungen berechtigten sozialen Stellung nimmt damit zwangsläufig die verkürzte Form eines

 „Die Verfassung war, bevor sie in den faschistischen Ländern abstarb, ein Instrument der Herrschaft. Durch sie hatte seit der englischen und französischen Revolution das europäische Bürgertum die Regierung begrenzt und sein Eigentum gesichert. Daß die Rechte des Individuums nicht einer Gruppe vorbehalten bleiben konnten, sondern formelle Universalität gefordert war, macht sie heute zur Sehnsucht der Minoritäten.“ Horkheimer 1940/1942, S. 304.  Eine solche These – die normative Selbstauflösung von modernen Freiheitsrechten – formuliert später auch Marcuse ausdrücklich: „Die Rechte und Freiheiten, die zum Beginn und auf früheren Stufen der Industriegesellschaft einmal lebenswichtige Faktoren waren, weichen einer höheren Stufe dieser Gesellschaft: sie sind dabei, ihre traditionelle Vernunftbasis und ihren Inhalt zu verlieren. Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit waren – ganz wie die freie Wirtschaft, deren Förderung und Schutz sie dienten – wesentlich kritische Ideen […]. Einmal institutionalisiert, teilten diese Rechte und Freiheiten das Schicksal der Gesellschaft, zu deren integralen Bestandteil sie geworden waren.“ Marcuse 1980, S. 21.  Vgl. Horkheimer 1935b, S. 269.  Horkheimer 1936a, S. 154.

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Imperativs bloßer individueller Selbsterhaltung an: „Die Verantwortung der Menschen füreinander hat damit bekanntlich aufgehört. Jeder soll für sich selber sorgen. Jeder soll arbeiten. Alle betrachten sich als Bewerber um Preise, die durch Leistung zu erringen sind. Sie müssen zeigen, was sie können, und wenn sie nichts können oder Pech haben, kommen sie eben unter die Räder.“³⁴ Eine besondere Bedeutung für das Verständnis von Horkheimers Naturalisierungskritik kommt schließlich seinen Ausführungen über die ambivalente normative Struktur der bürgerlichen Kernfamilie zu. Einerseits vertritt er hier die Ansicht, dass in ihrer Binnenstruktur die traditionellen, auf bloßem Gehorsam basierenden Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern durch den „Gebrauch der Vernunft“ ersetzt worden seien, da „in der Familie rationale Erwägung, Gehorsam aus freien Stücken an die Stelle der Sklaverei und Untertänigkeit“ getreten sei.³⁵ Sie würde zudem eine ausgezeichnete Sphäre von Freiheit insofern verkörpern, als ihre sie kennzeichnenden Interaktionen vom ökonomischen Produktionszusammenhang abgekoppelt und auf rein affektive Grundlagen umgesetzt werden: „Im Gegensatz zum öffentlichen Leben hat jedoch der Mensch in der Familie, wo die Beziehungen nicht durch den Markt vermittelt sind und sich die Einzelnen nicht als Konkurrenten gegenüberstehen, stets auch die Möglichkeit besessen, nicht bloß als Funktion, sondern als Mensch zu wirken.“³⁶ Außerdem untermauert Horkheimer diese Aussage nicht zuletzt mit jener naturalistischen Vorstellung, derzufolge neben der Geschlechtsliebe die „mütterliche Sorge“ prinzipiell auf eine unverzichtbare angemessene Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist.³⁷ All das führt ihn schließlich zu dem Gedanken, dass in der Struktur der bürgerlichen Kleinfamilie ein „Reservoir von Widerstandskräften gegen die völlige Entseelung der Welt“ angelegt sei und daher in ihr sich eine Art freier Kommunikationsraum für soziales Leiden verkörpere: „Wenn selbst in der Blütezeit der bürgerlichen Ordnung das gesellschaftliche Leben nur unter den größten Entbehrungen für die Mehrzahl der Menschen sich erneut hat, so war die Familie ein Ort, wo sich Leid frei ausgesprochen und das Interesse der Individuen einen Hort des Widerstands gefunden hat.“³⁸

 Horkheimer 1935b, S. 270. Siehe dazu auch Horkheimer 1936b, S. 104 sowie die Notiz „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ in Horkheimer 1931/1934, S. 405. Die Idee einer defizitären Verwicklung verstehe ich hier wiederum im Sinne von Jaeggis Auffassung: „Der Ideologiekritiker kritisiert nicht die Ideale von Freiheit und Gleichheit selbst, sondern deren defizitäre Verwirklichung. Gleichzeitig allerdings […] lässt der Umstand der Nichtverwirklichung der Norm ihren Wahrheitsgehalt auch nicht unangetastet. Das ‚wahre Element‘ der Ideologie (das Ideal der Gleichheit) bleibt also unter Bedingungen ihrer defizitären (bzw. verkehrten) Verwirklichung nicht einfachhin wahr. Es ist von der ‚Verschränkung‘ mit dem Unwahren (Adorno) gleichsam affiziert.“ Jaeggi 2009, S. 276.  Horkheimer 1936a, S. 177 und S. 182.  Horkheimer 1936a, S. 191.  Dazu siehe auch Fromm 1934.  Horkheimer 1936a, S. 190. Zu diesem Motiv siehe auch Horkheimer 1941, S. 421 ff.

3.1 Ideologiekritik

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Andererseits aber würden diese emanzipatorischen Momente ständig von der „Wirkung der gesellschaftlichen Bildungsmächte“³⁹ mitgeprägt, sofern die Familie als Sozialisationsagent eine wesentliche Rolle in der „seelische[n] Prägung“ von Subjekten spielt und sich dort gerade jene subjektive Disposition ausbildet, die gegebene gesellschaftliche Wirklichkeit bloß passiv hinzunehmen. Dafür verantwortlich wäre nach Horkheimer die „suggestive Wirksamkeit der Situation in der Kleinfamilie“, das heißt der Umstand, dass in ihrem Binnenraum die Figur des Vaters – mit seinen natürlichen Eigenschaften und seiner Rolle als ‚Brotverdiener‘ – unmittelbar als moralisch angesehen und damit eine Neigung zur „blinde[n] Anerkennung“ der jeweils etablierten Autorität erworben wird.⁴⁰ Wiederum zieht Horkheimer aus dieser Ambivalenz nicht einfach den Schluss, dass die bürgerliche Familie ihr Freiheitsversprechen nur mangelhaft erfüllen kann, sondern vielmehr verweist er auf einen normativen Selbstauflösungsprozess, wie er etwa in der Verkehrung der Funktion der Familie als Kommunikationsraum für Leidenserfahrungen ausgedrückt wird – denn sie nimmt die Form einer sozialisatorisch bedingten Selbstverschuldung an: Für die Herausbildung des autoritären Charakters ist besonders entscheidend, daß die Kinder unter dem Druck des Vaters lernen, jeden Mißerfolg nicht bis zu seinen gesellschaftlichen Ursachen zurückzuführen, sondern bei den individuellen stehenzubleiben und diese entweder religiös als Schuld oder naturalistisch als mangelnde Begabung zu hypostasieren. Das in der Familie ausgebildete schlechte Gewissen fängt unendlich viele Energien auf, die sich sonst gegen die beim eigenen Versage mitsprechenden gesellschaftlichen Zustände richten können. Das Ergebnis der väterlichen Erziehung sind Menschen, welche von vornherein den Fehler bei sich selbst suchen.⁴¹

Auch in der Entwicklung der bürgerlichen Familie werden demnach ihre fortschrittlichen Sinngehalte zugunsten ihrer unterdrückenden Momente tendenziell aufgelöst, was – ebenso wie in den anderen institutionellen Komplexen – letztlich auf ihre Unfähigkeit zurückzuführen ist, ihr normatives Versprechen vollständig zu verwirklichen. In diesem Sinne lässt sich dann Horkheimers Ideologiekritik auch als eine Kritik an der Naturalisierung sozialer Leidenserfahrungen auffassen: Jene normativen Ressourcen, die als Bestandteil modernen Selbstverständnisses prinzipiell auf eine Vermeidung sinnlosen Leids hinweisen, verlieren unter dem Einfluss kapitalistischer

 Horkheimer 1932b, S. 60. Vgl. auch Horkheimer 1934b, S. 197.  „Nicht nur die unvermittelte Einheit von natürlicher Stärke und Achtungswürdigkeit wirkt in der bürgerlichen Familie als erzieherischer Faktor […] sondern auch eine andere, scheinbar ebenfalls natürliche Eigenschaft des Vaters. Er ist Herr im Haus, weil er das Geld verdient oder wenigstens besitzt.“ Horkheimer 1936a, S. 182. Darauf zielt auch Fromms Umdeutung des Freud’schen Ödipuskomplexes ab: „Es ist also nicht in erster Linie die biologische Hilflosigkeit des kleinen Kindes, die ein starkes Bedürfnis nach Über-Ich und strenger Autorität erzeugt. […] Es ist vielmehr die soziale Hilflosigkeit des Erwachsenen, die der biologischen Hilflosigkeit des Kindes ihren Stempel aufdrückt.“ Fromm 1936, S. 160.  Horkheimer 1936b, S. 186.

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

Entwicklungslogik zunehmend an Bedeutung und neigen dazu, sich selbst aufzulösen. Ein solches Paradox beschreibt Horkheimer zufolge eben die historische Entwicklung bürgerlicher Ideale: „Das bürgerliche Denken beginnt als Kampf gegen die Autorität der Tradition und stellt ihr die Vernunft in jedem Individuum als legitime Quelle von Recht und Freiheit entgegen. Es endigt mit dem Verhimmeln der bloßen Autorität als solcher, die ebenso leer an bestimmtem Inhalt ist wie der Begriff der Vernunft, seitdem Gerechtigkeit, Glück und Freiheit für die Menschheit als historische Losungen ausgeschieden sind.“⁴² Dadurch wird den Subjekten, so lässt sich: sodann mit Blick auf eine Naturalisierungskritik vorschlagen, ein kulturwirksames normatives Vokabular entzogen, mit dem sie soziales Unrecht und Leiden erkennen und anprangern könnten. An seine Stelle tritt lediglich die subjektive Unfähigkeit, sich von den jeweils gegebenen Verhältnissen und machtkonformen Deutungsmustern zu distanzieren, also ein strukturell bedingtes Verhalten subjektiver Anpassung. Die Betroffenen können nunmehr, so ließe sich schließlich auch sagen, ihre negativen Erfahrungen allein nach den Erfordernissen sozialer Herrschaft artikulieren: „Der durchschnittliche Angehörige zurückgebliebener Gruppen ist eine Funktion der je herrschenden Macht, er besitzt kein eigenes Wort.“⁴³ Die in modernen Lebensformen erzielte Befreiung von Naturzwängen zeigt sich insofern letztlich nur einseitig oder ambivalent, weil sie aufgrund der kapitalistischen Entwicklungslogik systematisch einen weiteren Naturalisierungseffekt, eine – im kritischen Sinne – zweite Natur oder auch, wie Horkheimer es nennt, eine „Maskierung der Autorität“ hervorbringen: „[D]ie Autoritären waren nicht gestürzt, sie verbargen sich bloß hinter der anonymen Macht der ökonomischen Notwendigkeit oder, wie man zu sagen pflegt, hinter der Sprache der Tatsachen.“⁴⁴ Mit dem Bild einer einseitigen oder ambivalenten Befreiung wird aber zugleich wiederum die anfangs erwähnte Überzeugung einer Ideologiekritik zum Ausdruck gebracht: Trotz ihrer Tendenz zur Selbstauflösung enthält das moderne Selbstverständnis immer noch freiheitliche Züge, sodass es sich anstatt eines Verzichts auf seine normativen universalistischen Prämissen eher darum handelt, ihre umfassendere gesellschaftliche Verwirklichung zu fördern. Ein zur menschlichen Emanzipation führender historischer Fortschritt wird dementsprechend zugleich als Bruch und als Kontinuität in Bezug auf die gegenwärtige Gesellschaftsform, das heißt nach der „Figur der Aufhebung durch Verwirklichung“⁴⁵ gedacht: „Die Voraussetzungen der bisherigen Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit war die gegenwärtige Ungleichheit der ökonomischen und menschlichen Subjekte; sie muß in der geeinten Gesellschaft verschwinden: damit verlieren diese Ideen ihren Sinn […] Heute haben sie sich zur konkreten Vorstellung einer besseren Gesellschaft verwandelt, die aus der gegenwärtigen ge-

   

Horkheimer 1936a, S. 149. Horkheimer 1935a, S. 267. Horkheimer 1936a, S. 164. Siehe Schnädelbach 1986, S. 54.

3.1 Ideologiekritik

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boren wird, wenn die Menschen nicht vorher in Barbarei versinken.“⁴⁶ Die emanzipatorischen Anstrengungen würden insofern versuchen, indem sie den Widerspruch zwischen dem „Wachstum der produktiven menschlichen Fähigkeiten“ und der „gegebenen sozialen Struktur“⁴⁷ offenlegen, den kollektiv geschaffenen sozialen Reichtum (im weiteren Sinne) auf allgemeine Zielbestimmungen umzuleiten und dadurch unnötige Entbehrungen, also soziale Leidenserfahrungen abzuschaffen. Aber selbstverständlich setzt diese Ansicht menschliche Emanzipation voraus, dass in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst immer noch eine ideologisch nicht gänzlich verblendete Kraft besteht, an der sich – trotz der zunehmenden Auflösung vernünftiger Grundsätze – Widerstand und soziale Kämpfe entzünden können. Die ideologische Verzerrung menschlicher Vernunft muss sich, anders gesagt, als eine sekundäre Deformation erweisen können, wenn man sich mit den gegebenen Verhältnissen nicht einfach abfinden will.⁴⁸ Unschwer ist zu erkennen, dass diese innerweltliche emanzipatorische Kraft in den frühen Schriften Horkheimers mit dem Vollzug menschlicher Naturbeherrschung, mit der Arbeitspraxis selbst, identifiziert wird. In diesem Sinne sagt er ausdrücklich in seinem programmatischen Aufsatz: „Die Gesichtspunkte, welche diese [die Kritische Theorie] als Ziel menschlicher Aktivität der historischen Analyse entnimmt, vor allem die Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation, sind der menschlichen Arbeit immanent, ohne den Individuen oder dem öffentlichen Geist in richtiger Form gegenwärtig zu sein.“⁴⁹ Horkheimer nimmt folglich an, dass die Arbeitspraxis trotz ihrer Zerrissenheit unter kapitalistischen Verhältnissen immer noch eine (für die handelnden Subjekte selbst unsichtbare) freiheitsverbürgende, emanzipatorische Dimension enthält, die sich aus dem Umstand ergäbe, dass sie ihrer Struktur nach eine Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit, das heißt eine Verwirklichung von Freiheit leistet: „Die Durchsichtigkeit und Angemessenheit der Beziehung zwischen dem Handeln des Einzelnen und dem Leben der Gesellschaft können allein die individuelle Existenz begründen. Die Rationalität dieser Beziehung ist der einzige Sinn der Arbeit.“⁵⁰ Mit dieser anthropologischen Feststellung einer irreduktiblen Vernünftigkeit menschlicher Arbeit vermag Horkheimer seine ursprüngliche Absicht, die sozialen Kämpfe als „begriffsbildende Kraft“ einer materialistischen Gesellschaftskritik aufzunehmen, in einer besonderen Form zu verwirklichen. Denn die Kritische Theorie kann dadurch als eine Selbstaufklärung über alle emanzipatorischen Versuche verstanden werden, um jenem durch die menschliche Arbeit bislang geschaffenen Vernunftpotenzial zur Durchsetzung zu verhelfen – sie wäre demnach, so Horkheimer,

    

Horkheimer 1933b, S. 137 f. Horkheimer 1932b, S. 56. Vgl. dazu Honneth 2007b, S. 49 ff. Horkheimer 1937a, S. 229 f. Horkheimer 1935a, S. 253.

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die „theoretische Seite der Anstrengungen, das vorhandene Elend abzuschaffen“⁵¹. Auf dieser Grundlage kann die Gesellschaftskritik, anders gesagt, über einen normativ begründeten und zugleich historisch bestimmten Maßstab verfügen, anhand dessen sie den emanzipatorischen Charakter von sozialen Kämpfen erkennen kann.⁵² Mit dieser Bestimmung entsteht allerdings eine Reihe kategorialer Schwierigkeiten, die besonders die hier in Rede stehende emanzipationstheoretische Dimension materialistischer Leidenskritik betreffen. Zunächst einmal ist nicht klar, wie etwa Honneth hervorgehoben hat, welche Art von Wissen eine nach dem Modell der Naturbeherrschung konzipierte Selbstaufklärung genau verkörpern kann, das heißt, ob diese über eine bloße Verbesserung der Verfügungsmacht über die äußere Natur hinausgehen und damit über die notwendigen Kriterien tatsächlich verfügen kann, um die nicht rein technische Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften zu kritisieren.⁵³ Darüber hinaus gibt es eine weitere Schwierigkeit, die besonders Horkheimers Absicht betrifft, soziale Emanzipation als eine Abschaffung überflüssiger Leidenserfahrungen zu begreifen. Es lässt sich festhalten, dass Horkheimers Emanzipationsvorstellung schließlich nicht in der Lage ist, eine von ihren materialistischen Prämissen selbst gestellte Aufgabe angemessen zu lösen. Schon in seiner frühen Metaphysikkritik hatte er darauf hingewiesen, dass der Materialismus – in Abgrenzung von jeder Art „idealistische[r] Leugnung“ – hauptsächlich durch „die Frage nach der Gerechtigkeit für die einzelnen Menschen“, „die Frage nach dem Leid des einzelnen“ getrieben sei.⁵⁴ Soziales Leiden bezeichnet demzufolge eine immer den Einzelnen belastende Erfahrung, die kooperative Widerstandsformen und Kämpfe motivieren kann, aber dennoch keine unmittelbare kollektive Erfahrung darstellt – zudem sei daran zu erinnern, dass Horkheimer die geschichtsphilosophische Hoffnung auf ein notwendigerweise in der Zukunft zu geschehendes Zusammentreffen von verdinglichten Existenzweisen und der Ausbildung eines emanzipatorischen Bewusstseins⁵⁵ als einen weiteren Ausdruck von Metaphysik diskreditiert hat. Damit stellt sich für eine materialistische Leidens-

 Horkheimer 1933b, S. 131.  Zum Freiheitsbegriff schreibt Horkheimer eben gerade: „Wenn es wahr ist, dass wir wissen müssen, was Freiheit ist, um zu bestimmen, welche Parteien in der Geschichte für sie gekämpft haben, so ist nicht weniger wahr, daß wir den Charakter dieser Parteien kennen müssen, um zu bestimmen, was Freiheit ist. Die Antwort liegt in den konkreten Umrissen der geschichtlichen Epoche. Die Definition der Freiheit ist die Theorie der Geschichte und umgekehrt.“ Horkheimer 1962, S. 169 f.  So formuliert Honneth diesen Einwand: „[S]ie vermag, gerade in Konsequenz der Argumentation Horkheimers, nur ein technisches Wissen zu liefern, das bestenfalls die zukünftigen Anwendungsbedingungen hochentwickelter Produktivkräfte zu antizipieren, nicht jedoch deren gegenwärtige Organisationsweise zu kritisieren zuläßt.“ Honneth 1989a, S. 19.  Horkheimer 1930a, S. 256 f.  Siehe dazu Lukács 1968, S. 307 ff.

3.1 Ideologiekritik

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kritik zwingend die Aufgabe, den Übergang von individuellen Leidenserfahrungen zu sozialen, kollektiven Kämpfen auch als einen sozialhistorischen Vorgang zu erklären.⁵⁶ In seinen Schriften lassen sich jedoch gar keine Stellen finden, in denen sich Horkheimer mit diesem – wie gesagt, von seinen materialistischen Prämissen selbst gestellten – Problem systematisch zu beschäftigen versucht hat. Man könnte vielleicht eine Antwort mit Bezug auf seine Feststellung umreißen, dass ein „kritische[s] Verhalten“ die existenzielle Grundlage kritischer Gesellschaftstheorie darstellt,⁵⁷ oder vielleicht auch an jener Stelle, an der er eine spezifische moralische Logik sozialer Konflikte in der Moderne im Sinne einer fortwährenden Umdeutung der Prinzipien bürgerlicher Gesellschaften zu entwerfen scheint.⁵⁸ Diese Passagen legen gewissermaßen die Einsicht nahe, dass die emanzipatorischen Kämpfe selbst als ein Kommunikations- und Artikulationsraum individueller Leidenserfahrungen interpretiert werden könnten; diese Intuition bleibt allerdings völlig konturlos, sofern sie über die Vorstellung einer nur nach der Arbeitspraxis gedachten sozialen Befreiung deutlich hinausgeht. Es erweist sich insofern letztlich als höchst fragwürdig, ob Horkheimer auf der Basis dieser Emanzipationsvorstellung tatsächlich den Absichten einer Naturalisierungskritik gerecht werden kann. Nicht unbegründet scheint denn schließlich die Vermutung, dass sie nur an jene Formen von sozialen Leiden anzuknüpfen vermag, die bereits im Rahmen sozialer Kämpfe Ausdruck gefunden haben und als kollektive Forderungen aufgetreten sind – das heißt, die nicht länger als naturgemäß gelten. Damit bleibt nicht nur der Übergang von individuellen Leiden zu sozialen Kämpfen weitgehend ungeklärt, sondern Horkheimers Naturalisierungskritik scheint ihr Ziel letztlich zu verfehlen: Sie kann nur auf der höherstufigen Ebene bereits artikulierter

 Man könnte es auch als Folge der für die frühe kritische Theorie kennzeichnenden „Psychologisierung des Klassenbewusstseins“ (Dubiel) verstehen. Denn während Marx bekanntermaßen für das Proletariat einfach „einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden“ annehmen konnte, muss Horkheimer eine Erklärung dafür geben, wie aus individuellen Leidenserfahrungen emanzipatorische, das heißt auf allgemeine Freiheit ausgerichtete Kämpfe entstehen könnten. Zu Marxʼ Feststellung siehe Marx 1844b, S. 390.  Sofern es über die Logik der Naturbeherrschung hinauszugehen scheint: „Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist doch weder seiner bewußten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, daß irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere.“ Horkheimer 1937a, S. 223. Siehe dazu auch Honneth 1989a, S. 20.  Damit gemeint ist die folgende Stelle: „Die Lage der Beherrschten hat es freilich, wenigstens in der neueren Zeit, mit sich gebracht, daß sie ihre Forderungen vielfach nicht unmittelbar verabsolutieren, sondern daß sie die vorhandene Wirklichkeit als einen Widerspruch zu den von den Herrschenden selbst als gültig behaupteten Prinzipien hinstellten. Indem sie die universale Durchführung der moralischen Prinzipien, mittels welcher die bestehende Ordnung begründet wurde, forderten, veränderten sie zugleich die Bedeutung dieser Prinzipien. […] In der Gegenwart hat sich daher der Kampf um eine bessere Ordnung von der übernatürlichen Begründung gelöst. Die zu ihm gehörige Theorie ist materialistisch.“ Horkheimer 1933a, S. 19.

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Emanzipationsansprüche und nicht auf der Ebene naturalisierter Leidenserfahrungen selbst verfahren.⁵⁹

3.2 Mitleidsethik Die frühen emanzipationstheoretischen Überlegungen Horkheimers waren von der Überzeugung getragen, dass eine umfassendere Verwirklichung von im modernen Selbstverständnis angelegten vernünftigen Potenzialen zur sozialen Emanzipation und darum zur Abschaffung von unnötigen Leiden führen könnte. Es handelte sich, so fasst er diese Ansicht zusammen, um einen „bewußte[n] Kampf gegen die Zustände der Wirklichkeit“, in dem „das positive Element der bürgerlichen Moral, die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit unmittelbar enthalten, aber seine ideologische Hypostasierung aufgehoben [ist]“.⁶⁰ Diese ideologiekritisch gestützte Überzeugung wird in seinen nachfolgenden Schriften – von jenen um Ende der dreißiger Jahre verfassten Aufsätzen über die Dialektik der Aufklärung bis hin zu seiner Kritik der instrumentellen Vernunft – allmählich infrage gestellt und schließlich preisgegeben. Er lässt sich nunmehr von der Vorstellung leiten, dass in spätkapitalistischen Gesellschaftsformen eine ganz radikale, endgültige Auflösung des normativen Wahrheitsgehalts des liberalen Zeitalters stattfindet, infolge derer die Subjekte nun – sowohl im politischen Totalitarismus wie auch im Zusammenhang einer ideologisch wirkenden Massenkultur – ohne jede widerstandsfähige Vermittlung den Zwängen sozialer Herrschaft untergeordnet wären. Mit dem Verfall des moralischen Vokabulars liberal-kapitalischer Gesellschaften nimmt folglich, so lässt sich diese Umwandlung auch verstehen, die Naturalisierung von sozialen Missständen eine noch durchdringendere oder mächtigere Form an, da sich die Anpassung von Subjekten als vollständig oder lückenlos erweist – denn es handelt sich um einen universell gewordenen „Verblendungszusammenhang“. Dementsprechend formuliert Horkheimer nun auch seine Emanzipationsvorstellung um, und zwar mit Verweis auf die Möglichkeit, mit der Vergegenwärtigung der natürlichen Grundlagen menschlicher Lebensformen, der für alle Lebewesen gemeinsamen Vergänglichkeit, immer noch eine potenzielle Quelle von Solidarität gegenüber Leidenserfahrungen zu erschließen. Der Entwurf einer Mitleidsethik tritt insofern als eine zweite Antwort auf die emanzipationstheoretische Frage materialistischer Leidenskritik auf.⁶¹

 Es hat sicherlich damit zu tun, dass für Horkheimers begrifflichen Rahmen die Gefühlszustände, an denen eben diffuse, naturalisierte Unbehagens- oder Leidensphänomene abgelesen werden könnten, eher nur irrationale Triebkräfte darstellen.  Horkheimer 1936b, S. 109.  In diesem Sinne könnte man auch sagen, dass Horkheimers Naturalisierungskritik jetzt gewissermaßen eine genealogische Wendung nimmt: Sie fragt sich nicht mehr, welche gesellschaftliche Strukturen der Verwirklichung von normativen Sinngehalten der Moderne im Weg stehen, sondern vielmehr, ob diese moralischen Ressourcen tatsächlich noch angemessen oder aber falsch geworden

3.2 Mitleidsethik

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Bereits in seiner programmatischen Schrift Traditionelle und kritische Theorie spricht Horkheimer von einer tendenziellen Schwächung der „relative[n] Widerstandskraft und Substantialität der Kultur“ sowie einer damit zusammenhängenden „Vernichtung des typischen Individuums“, die auf die Umwandlung der „Abhängigkeit des Kulturellen vom Ökonomischen“ im Monopolkapitalismus zurückzuführen wären: „Die Erklärungen sozialer Phänomene werden einfacher und zugleich komplizierter. Einfacher, weil das Ökonomische unmittelbarer und bewußter die Menschen bestimmt […] komplizierter, weil die entfesselte ökonomische Dynamik, zu deren bloßen Medien die meisten Individuen erniedrigt sind, in raschem Tempo immer neue Gestalten und Verhängnisse zeitigt.“⁶² Im Hintergrund dieser Formulierung lässt sich bereits eine Reihe von Gesichtspunkten ausmachen, die für Horkheimers Betrachtung spätkapitalistischer Gesellschaften charakteristisch sind. Zunächst einmal vertritt er hier die Ansicht, dass die beschleunigte kapitalistische Verwertungslogik zu einer Entkräftung von kulturellen und psychologischen Vermittlungsinstanzen und damit zu einem radikalen Selbstauflösungsprozess von bürgerlichen Idealen geführt hat – die psychische Verfassung von Subjekten und die einst fortschrittlichen moralischen Überzeugungen werden damit unmittelbar den Zwängen sozialer Herrschaft ausgesetzt. Daraus zieht Horkheimer dann den Schluss, dass in der Entstehung von totalitären Herrschaftsstrukturen eine immanente Entwicklung von kapitalistischen Tendenzen zu sehen wäre: „Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft.“⁶³ Und damit hängt schließlich auch seine These zusammen, dass eine Rückkehr zu den ursprünglichen bürgerlichen Wertvorstellungen unmöglich geworden sei: „Der Einwand, daß der klassische Liberalismus wenigstens die richtigen Ideen hatte und es nun bloß darum zu tun sei, sie auch anzuwenden, kann hier nicht verfangen. Wer heute Freiheit sagt, muß sehr genau zu verstehen geben, was er meint.“⁶⁴ Aus diesen Gründen stellt für Horkheimer von nun an das normative Selbstverständnis bürgerlicher Gesellschaften nicht mehr den Bezugspunkt einer auf soziale Emanzipation ausgerichteten Ideologiekritik dar. Damit wird bereits jene Umgestaltung der begrifflichen Grundlagen und der normativen Prämissen der kritischen Gesellschaftstheorie umrissen, die in der Dialektik der Aufklärung bekanntermaßen zur Vollendung gebracht wird. Mit dem Entwurf einer zivilisationskritischen Diagnose

sind, um die gegebenen Verhältnisse zu kritisieren und die Freiheit von Menschen zu fördern. Es ist demnach die ethische Qualität modernen normativen Selbstverständnisses selbst, was nunmehr – angesichts seiner zunehmenden Selbstauflösung in spätkapitalistischen Gesellschaften – auch infrage gestellt wird. Vgl. dazu Honneths Feststellung eines „genealogischen Vorbehalts“ in der Kritischen Theorie – Honneth 2007c.  Horkheimer 1937a, S. 254.  Horkheimer 1939, S. 309.  Horkheimer 1938b, S. 297; vgl. auch 1939, S. 329. Zur Diskussion über die Beurteilung spätkapitalistischer ökonomischer und politischer Strukturen innerhalb der frühen Kritischen Theorie siehe Dubiel 1978, S. 94 ff.

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wird dabei die bisher angenommene freiheitliche Bedeutung der Naturbeherrschung ebenfalls infrage gestellt, denn es wird nun die berühmte These aufgestellt, dass sie im Fortgang der Gattungsgeschichte eine aporetische Wirkung ausgeübt hat: Neben einer Ermöglichung zivilisatorischen Fortschritts hätte die Kontrolle der äußeren Natur gleichzeitig die Unterdrückung der inneren Natur der Menschen und die Verfestigung der Mechanismen sozialer Herrschaft mit sich gebracht. Das Bild einer partiellen oder einseitigen Befreiung von Naturzwängen im historischen Zusammenhang kapitalistischer Gesellschaften wird damit durch die zivilisatorische Dialektik von Naturbefreiung und Naturverfallenheit, von Aufklärung und Mythos ersetzt.⁶⁵ In seiner Kritik der instrumentellen Vernunft wird Horkheimer eben an die Grundlinien dieser Diagnose anknüpfen; es handelt sich dabei um den Versuch, die „Krankheit der Vernunft“ in den „tiefsten Schichten der Zivilisation“ zu entdecken und damit das aporetische Zusammenspiel von technischem Fortschritt und Entmenschlichung zu begreifen.⁶⁶ Der Ausgangspunkt ist derselbe wie schon in der Dialektik der Aufklärung: Mit der zweckmäßigen Naturbeherrschung würde eine fortschreitende Umformierung von allen Lebensbereichen, Denk- und Handlungsweisen zugunsten der Zwecke der Selbsterhaltung in Gang gesetzt, was schließlich den Tendenzen zur Instrumentalisierung und Subjektivierung der Vernunft in spätkapitalistischen Gesellschaften zugrunde läge – die Kritische Theorie ist daher nur als Selbstkritik der Vernunft weiterzuführen möglich. An diesen Ausführungen lässt sich eine veränderte Version der Horkheimerschen Kritik an der Naturalisierung von sozialem Leid ausmachen, mit der ich hier beschäftigen möchte. Von besonderer Bedeutung für die Klärung dieser Naturalisierungskritik ist zunächst einmal die Tatsache, dass Horkheimer die schädlichen Wirkungen der Instrumentalisierung der Vernunft im Spätkapitalismus auch im Hinblick auf eine radikale „Entleerung“ oder „Entsubstantialisierung“ der moralischen Grundvorstellungen der Moderne, der „leitende[n] Begriffe der Sittenlehre und Politik wie Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit“ diagnostiziert: „Gerechtigkeit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die, wie erwähnt, in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr sanktioniert sein sollten, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch Ziele und Zwecke, aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen.“⁶⁷ Es gebe also eine „Kapitulation vor heteronomen Inhalten“, denn jene vernünftigen Ideale werden bloß den Leistungen einer subjektiven Vernunft, den jeweils vorherrschenden Interessen überlassen. Die Folgen dieser Entsubstanzialisierung wären aber nach Horkheimer nicht nur darin zu sehen, dass jene moralischen Grundvorstellungen für entgegengesetzte Zwecke herangezogen werden können, sondern eigentlich in der dadurch bewirkten Selbstauflösung jedes kontexttranszendierenden Sinngehalts: „Die

 Siehe Adorno/Horkheimer 1944, S. 25 ff.  Horkheimer 1967, S. 176.  Horkheimer 1967, S. 44. Siehe auch Horkheimer 1967, S. 50.

3.2 Mitleidsethik

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Vernunft ist gänzlich in den gesellschaftlichen Prozeß eingespannt. Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur ist zum einzigen Kriterium gemacht worden.“⁶⁸ Und daraus geht eben die andere Grundthese der Kritik der instrumentellen Vernunft hervor, und zwar die Ansicht einer lückenlos gewordenen subjektiven Anpassung oder einer „Auslöschung der Individualität“ in spätkapitalistischen Gesellschaften. Horkheimer lässt sich hier wiederum von der Vorstellung leiten, dass dieser – nun radikal gewordenen – Selbstauflösung vernünftiger Wertvorstellungen ein widersprüchlicher Vorgang im Rahmen institutioneller Zusammenhänge und konkreter Praktiken selbst zugrunde liegt, der als ein Verlust der Vermittlungsrolle von gesellschaftlichen Institutionen gegenüber Herrschaftsstrukturen zu bezeichnen möglich wäre. Ohne diesen Schutzrahmen würden die Subjekte zunehmend in eine Lage versetzt, in der sie die „gebrauchsfertigen Muster des Denkens und Handelns“ der Massenkultur lediglich passiv übernehmen müssen, sodass ihre ideologische Integration in die herrschende Ordnung, die erzwungene Anpassung lückenlos wird: „Das Überleben – oder sagen wir, der Erfolg – hängt ab von der Anpassungsfähigkeit des Individuums an die Zwänge, die die Gesellschaft ihm aufnötigt. Um zu überleben, verwandelt der Mensch sich in einen Apparat, der in jedem Augenblick mit genau der passenden Reaktion die verwirrenden und schwierigen Situationen beantwortet, die sein Leben ausmachen. […] Der Prozess der Anpassung ist jetzt vorsätzlich und deshalb total geworden.“⁶⁹ Aus diesem Grund lassen sich in diesem Zusammenhang die oben überprüften institutionellen Komplexe – das moderne Recht, der kapitalische Markt und die bürgerliche Familie – wiederum mit dem Ziel heranziehen, diesen gesellschaftlich erzwungenen Bedeutungsverlust von normativen Vermittlungsinstanzen sowie seine Folgen für die Naturalisierung von Leiden zu illustrieren. Bereits in Traditionelle und kritische Theorie hebt Horkheimer den Umstand hervor, dass die Möglichkeit eines „selbstständigen Rechts“, das heißt von rechtlichen Rahmenbedingungen, die nicht eindeutig den Interessen der ökonomischen und politischen Machtgruppen entsprechen, im Spätkapitalismus kaum mehr vorstellbar sei.⁷⁰ In der Kritik der instrumentellen Vernunft nimmt dieser Gedanke exemplarisch die Form einer kritischen Infragestellung der gesellschaftlichen und psychischen Grundlagen politischer Demokratie an – insbesondere des Mehrheitsprinzips als rechtlicher Legitimationsgrundlage. Seine emanzipatorische Bedeutung hätte immer darin bestanden, dass für jeden Einzelnen – aufgrund seines gleichwertigen moralischen Bewusstseins – die Möglichkeit anerkannt wird, seine eigenen Interessen auszubilden und am politischen Entscheidungsfindungsprozess teilzunehmen. In spätkapitalistischen Gesellschaften hingegen wäre eben diese materielle Voraussetzung – die Möglichkeit, den eigenen Willen frei zu bestimmen – nicht mehr gegeben,

 Horkheimer 1967, S. 42.  Horkheimer 1967, S. 107 f.  Vgl. Horkheimer 1937a, S. 252.

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sodass das Mehrheitsprinzip, auch wenn es weiterhin eine Rolle spielt, jede kritische Bedeutung verliert: „Doch ist der Widerspruch zwischen der Institution und dem demokratischen Prinzip, wenn es in solchen kruden Begriffen gefaßt wird, bloß imaginär. Denn was heißt schon, daß ‚ein Mensch seine eigenen Interessen am besten kennt‘ […]. Seiner rationalen Grundlage beraubt, wird das demokratische Prinzip ausschließlich abhängig von den sogenannten Interessen des Volkes, und diese sind Funktionen blinder oder nur zu bewußter ökonomischer Mächte. Sie bieten keinerlei Garantie gegen Tyrannei“.⁷¹ Die Entwicklung des Markts ist ebenfalls durch eine endgültige Auflösung seines fortschrittlichen Sinngehalts gekennzeichnet. Mit dem Übergang zu monopol- und staatskapitalistischen Strukturen wären jene materiellen Grundlagen – die marktvermittelte Konkurrenz – unterminiert, die bisher wenigstens eine „gewisse Unabhängigkeit“ ermöglicht haben; daraus folgt dann die Tatsache, dass im Spätkapitalismus die Subjekte nicht einfach „der Existenzmittel beraubt, sondern in ihrem tiefsten menschlichen Wesen angegriffen werden“: Wenn erfolglose Konkurrenten unter der liberalistischen Wirtschaft an die Wand gedrückt oder rückständige Gruppe dem Elend preisgegeben wurden, so konnten sie einen Sinn für menschliche Würde bewahren, obgleich sie erledigt waren, weil die Verantwortung für ihre Zwangslage anonym ökonomischen Prozessen aufgebürdet wurde. […] Wenn die Konzentration und Zentralisation der industriellen Kräfte den politischen Liberalismus in seiner Krise auslöschen, sind die Opfer in ihrer Gesamtheit verdammt.⁷²

Die Auslöschung des Individuums ist hier demnach Folge des Verlusts jenes letzten Endes freiheitlichen Sinns von reinen, anonymen Marktverhältnissen: „Die Anonymität ist in Planmäßigkeit übergegangen […] Anonym war früher nicht bloß der Urteilsspruch, er visierte auch die Sünder und Auserwählten des Produktionsprozesses ohne Ansehen ihrer menschlichen Besonderheit, er tat den Personen die Ehre an, sie zu ignorieren. Soweit war er menschlich in seiner Unmenschlichkeit.“⁷³ Und eben dieser wirtschaftliche Umwandlungsprozess liegt schließlich auch dem Strukturwandel der bürgerlichen Kernfamilie zugrunde. Unter spätkapitalistischen Verhältnissen – mit der Auflösung marktvermittelter Konkurrenz – wären Horkheimer zufolge die ökonomischen Grundlagen väterlicher Autorität und damit jene mit der patriarchalen Struktur verbundenen psychischen Voraussetzungen der bürgerlichen Familie, die die Ausbildung moralischen Selbstbewusstsein, des Über-Ichs ermöglicht haben, untergraben. Die in der Familie aus-

 Horkheimer 1967, S. 47 f. Einen ähnlichen Zweifel äußert Marcuse, wenn er beispielsweise feststellt, dass die berühmte Formulierung Rousseaus über die Richtigkeit des allgemeinen Willens unter spätkapitalistischen Umständen dementiert worden sei: „Solange dieser Zustand währt, ist es sinnvoll zu sagen, daß der allgemeine Wille immer falsch ist – falsch insofern, als er objektiv der möglichen Umgestaltung der Gesellschaft in humanere Lebensformen entgegenwirkt.“ Marcuse 1969, S. 99.  Horkheimer 1967, S. 159.  Horkheimer 1939, S. 325.

3.2 Mitleidsethik

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geübte „geistige Gewalt“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Einzelnen ohne jede Vermittlung den Zwängen sozialer Herrschaft gegenüberstellt: „Indem die Industrialisierung auf eine Stufe übergeht, auf der das Kind unmittelbar mit den kollektiven Kräfte konfrontiert wird, spielt das Gespräch und folglich das Denken in seinem psychologischen Haushalt eine immer geringere Rolle.“⁷⁴ Diese Fehlentwicklung, die Horkheimer zufolge in der Veränderung der Rolle der Mutterschaft, der zunehmenden Zweckmäßigkeit der Ehe und vor allem in der Ersetzung der erzieherischen Funktionen der Eltern durch die Mechanismen der Industriekultur sichtbar ist, bestimmt schließlich die Unmöglichkeit, schon die erforderlichen psychologischen Kräfte ausbilden zu können, um sich den Zwängen sozialer Herrschaft zu widersetzen – es gäbe folglich, kurz gesagt, ein Verschwinden der Innerlichkeit.⁷⁵ Die für kapitalistische Gesellschaften charakteristischen Tendenzen zur Selbstauflösung ihrer vernünftigen Grundsätze würden im Spätkapitalismus – so lassen sich Horkheimers Ausführungen zusammenfassen – eine so radikale Form annehmen, dass sie letztlich eine Art normativer Verkehrung bedingen: „Eine solche Ideologie tendiert dazu, die humanistische Grundlage eben der Kultur zu ersetzen, die sie zu glorifizieren sucht.“⁷⁶ Da damit alle durch die Gattungsgeschichte hindurch allmählich eröffneten Freiheitsmöglichkeiten von Menschen gewissermaßen außer Kraft gesetzt sind, bezeichnet Horkheimer einen solchen Zustand auch als eine Art von Rückentwicklung: Heute sind die Personen nur noch scheinbar Personen; ‚Eliten‘ wie Massen gehorchen einer Apparatur, die in jeder Situation nur eine einzige Reaktion für sie offenläßt. Jene Elemente ihres Wesens, die noch nicht kanalisiert wurden, haben keine Möglichkeit zu adäquatem Ausdruck. Unter der Oberfläche ihres organisierten bürgerlichen Lebens […] sind die Menschen ängstlich und verwirrt, führen sie eine kümmerliche, beinahe vorgeschichtliche Existenz.⁷⁷

Daraus folgt dann ein Zwang zur vollständigen subjektiven Anpassung, der die kapitalistische Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse in der inneren Natur von Subjekten zur Vollendung bringt: „Sich anpassen bedeutet, sich um der Selbsterhaltung willen wie die Welt der Objekte machen.“⁷⁸ Daraus lässt sich schließen, dass die Naturalisierung sozialer Leidenserfahrungen hier eine noch mächtigere Form annimmt; einerseits verfügen die Subjekte nicht mehr über jene „geistigen Grund-

 Horkheimer 1967, S. 120 f.  Siehe Horkheimer 1941, S. 424. In seinen Minima Moralia äußert sich Adorno in einem ähnlichen Sinn: „Mit der Familie zerging, während das System fortbesteht, nicht nur die wirksamste Agentur des Bürgertums, sondern der Widerstand, der das Individuum zwar unterdrückte, aber auch stärkte, wenn nicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familie lähmt die Gegenkräfte.“ Adorno 1984, S. 17.  Horkheimer 1967, S. 157.  Horkheimer 1941, S. 425. Hervorhebung C.S. Zu erinnern sei hier vor allem an den Umstand, dass Horkheimer zufolge – wie oben gesehen – sich die Innerlichkeit von Menschen erst aus ihrer allmählichen Befreiung aus äußeren Naturzwängen entwickelte.  Horkheimer 1967, S. 125.

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begriffe“, die – auch wenn sie immer die Spuren sozialer Herrschaft getragen haben – eine „sinnvolle Sprache“ und „allgemeine Bedeutung“ verkörperten;⁷⁹ und andererseits werden soziale Missstände nun in stärkerem Maße auf einer basalen Ebene naturalisiert, sofern die Individuen im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen nicht einmal primäre subjektive Fähigkeiten ausbilden können, mit denen sie die sozialen Zwängen zu bearbeiten vermögen – sie werden dagegen ohne jede Vermittlung den Herrschaftsverhältnissen untergeordnet. Ohne widerstandsfähige normative Ressource und psychologische Kräfte werden soziale Leidenserfahrungen folglich nicht nur ständig einer öffentlichen Kritik enthoben, sondern sie werden gleichzeitig unzugänglich für die Betroffenen selber. Dieser machtvöllige Naturalisierungseffekt kann allerdings nur genau verstanden werden, wenn der Verlust an „Überzeugungskraft“ moralischer Wertvorstellungen bürgerlichen Selbstverständnisses nicht nur im Sinne einer stärkeren Wirkungslosigkeit, sondern als ein radikaler normativer Verkehrungsprozess aufgefasst wird, der zur Entstehung einer falschen Kultur führt. In der Tat vertritt Horkheimer hier nicht einfach die Ansicht, dass Leidenserfahrungen sich im Spätkapitalismus kaum mehr artikulieren lassen, sondern vielmehr die Auffassung, dass die darin kultwirksamen Deutungsmuster ein falsches Bild von sozialen Zuständen und ebenso ein falsches, immer zur Herrschaftssicherung beitragendes Selbstverständnis in den Subjekten erzwingen.⁸⁰ Die subjektive Vernunft tendiert schließlich sogar dazu, die wenigen noch möglichen Widerstandsausdrücke zu verzerren: Selbst wenn eine Gruppe von aufgeklärten Menschen sich anschickte, das größte vorstellbare Übel zu bekämpfen, würde die subjektive Vernunft es fast unmöglich machen, einfach auf die Natur des Übels und die Natur der Menschheit zu verweisen, die den Kampf gebieterisch fordern. Viele würden sofort fragen, was die wirklichen Motive sind. Es müßte versichert werden, daß die Gründe realistisch sind, das heißt den persönlichen Interessen entsprechen […].⁸¹

Die Erfahrungsbasis der Horkheimer’schen Naturalisierungskritik wird dadurch grundsätzlich verändert: Nicht mehr jene möglicherweise zu emanzipatorischen Kämpfe führenden Leidensformen, sondern zwanghaft stumm gewordene, für die Betroffenen selbst unzugängliche Leidenserfahrungen stellen nun ihre wesentlichen Bezugspunkte dar. Und damit verändert sich natürlich auch das Selbstverständnis  Horkheimer 1967, S. 150.  In diesem Sinne expliziert beispielsweise Menke auch das Ziel der Kulturkritik Adornos: „[D]er Zustand einer Kultur [ist] entscheidend für das Gelingen individueller Existenz. Aber nicht unmittelbar, sondern vermittelt: Der Zustand einer Kultur ist entscheidend für das Gelingen des Verstehens dessen, worin das Gelingen unserer Existenz besteht.“ Dies heißt: „[D]ass die ‚falsche‘ Kultur nur Bilder oder Muster des Lebens ausbildet, von denen aus die einzelnen nicht mehr zu einem Selbstverständnis zu gelangen vermögen, das ihnen ein richtiges, gelingendes Leben zu führen erlaubt.“ Siehe Menke 2004a, S. 83.  Horkheimer 1967, S. 51. Dazu auch seine Bemerkung über eine mögliche Berufung auf die Menschenrechte, die zwangsläufig als „Ausdruck bloß subjektiver Wünsche“ erscheinen würde; siehe Horkheimer 1967, S. 53.

3.2 Mitleidsethik

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materialistischer Leidenskritik: Nicht länger kann sie als eine Selbstaufklärung von Emanzipationsbewegungen gelten, sondern sie versteht sich selbst nunmehr als den geschichtsphilosophisch orientierten Versuch, die erzwungene Sprachlosigkeit und Naturwüchsigkeit von Leiden zu brechen: „Die Philosophie ist mit der Kunst darin einig, daß sie vermittels der Sprache das Leiden reflektiert und es damit in die Sphäre der Erfahrung und Erinnerung überführt.“⁸² Eine so geartete Naturalisierungskritik soll allerdings weiterhin eine innerweltliche Instanz innerhalb des universell gewordenen Verblendungszusammenhangs erschließen können, in der die Möglichkeit jener emanzipatorischen Vergegenwärtigung sozial zu verankern möglich ist – sonst wäre sie bloß eine abstrakte, nach Horkheimers Verständnis metaphysische Sinngebung. Zu diesem Zweck wird Horkheimer in seinen späteren Schriften vor allem auf jene frühe Überzeugung zurückgreifen, derzufolge aus den natürlichen, mit anderen Lebewesen geteilten Grundlagen menschlicher Lebensformen eine umfassendere Solidarität gegenüber Leidenserfahrungen hervorgehen könnte.⁸³ Diese Vorstellung einer auf der gefühlten Anteilnahme am Leiden anderer begründeten Solidarität stellt – wie oben gesehen – eine Grundeigenschaft von Horkheimers Denken dar; sie ergibt sich aus seiner Überzeugung, dass soziale Lebensformen historisch aus den kollektiven Anstrengungen der Naturbeherrschung entstehen, die zugleich aber – wie alle Lebensäußerungen – naturbestimmt und daher von einer unaufhebbaren Vergänglichkeit mitbestimmt und geprägt sind. Die historische Bedingtheit von Gesellschaften wird insofern auch unter dem Gesichtspunkt menschlicher Endlichkeit verstanden, in der eine potenziell emanzipatorische Kraft angelegt sei: „Die Betätigung der Zeit an jedem Sein bedeutet, daß es altert und vergeht – nicht bloß, daß es wechselt. […] doch die Menschen [müssen] aus der Unaufhebbarkeit, der unbedingten Endgültigkeit des eigenen und fremden Todes die verzweifelten Kräfte schöpfen, deren sie bei ihrer geschichtlichen Tätigkeit bedürfen.“⁸⁴

 Horkheimer 1967, S. 179. Auch bezüglich dieser Umwandlung könnte Horkheimers Feststellung so verstanden werden, dass „[d]ie wirklichen Individuen unserer Zeit die Märtyrer [sind], die durch Höllen des Leidens und der Erniedrigung gegangen sind bei ihrem Widerstand gegen Unterwerfung und Unterdrückung […] Die namenlosen Märtyrer der Konzentrationslager sind die Symbole einer Menschheit, die danach strebt, geboren zu werden. Aufgabe der Philosophie ist es, was sie getan haben, in eine Sprache zu übersetzen, die gehört wird, wenn auch ihre vergänglichen Stimmen durch die Tyrannei zum Schweigen gebracht wurden.“ Horkheimer 1967, S. 164.  Weniger systematisch als Adorno verweist Horkheimer diesbezüglich auch auf die welterschließende Rolle ästhetischer Erfahrung. So stellt er beispielsweise fest, „[d]as Kunstwerk ist die einzig adäquate Objektivation der Verlassenheit und Verzweiflung des Individuums“, und hebt anschließend den Umstand hervor: „In einer Welt, in der die verständliche Sprache die Verwirrung eher steigert […], besteht jedoch notwendig zwischen Kunst und Kommunikation ein großer Unterschied.“ Siehe Horkheimer 1941, S. 425 f.  Horkheimer 1934a, S. 236. Zum Mitleidsmotiv auch bei Adorno und Marcuse siehe Schmid Noerr 1997.

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

Aus der Unmöglichkeit, vergangene Leiden wiedergutzumachen und eine absolute Gerechtigkeit in der Zukunft zu schaffen, zieht Horkheimer den Schluss, dass jeder Versuch einer auf reiner Vernunft begründeten Moral zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. Zum einen nämlich aufgrund des schon erwähnten widersprüchlichen Umstands, dass eine solche Moralvorstellung sich gerade auf jene vernünftigen Fähigkeiten des Einzelnen beruft, die von der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften dementiert werden – daraus folgt dann ihre Tendenz, einen repressiven Charakter anzunehmen. Und zum anderen wegen der prinzipiellen Unmöglichkeit, eine moralische Handlung ohne Einbeziehung der sinnlichen und naturverankerten Grundlagen menschlichen Handelns tatsächlich angeben zu können.⁸⁵ Mit ihrem „Glauben an ihre Unbedingtheit“ dagegen könnte eine Vernunftmoral die erforderlichen Motivationskräfte moralischer Handlung eigentlich nicht erklären und führte letztendlich zu einer Art von Parteilosigkeit wegen ihrer Tendenz zum „Absehen von der Wirklichkeit“.⁸⁶ Diesem Bild einer universalistischen und rationalistischen Moralkonzeption stellt Horkheimer schon in seinen frühen Schriften den Schopenhauer’schen Entwurf einer Mitleidsethik gegenüber, in dem eben die Vorstellung eines individualistischen oder situationsbezogenen ethischen Handelns in den Vordergrund gerückt wird.⁸⁷ In der Möglichkeit einer solidarischen Vergegenwärtigung von Leidenserfahrungen erkennt er demnach eine Kraft, die den verdinglichenden Tendenzen im Kapitalismus Einhalt gebieten könnte. So hält er mit Bezug auf die Verdinglichung der inneren Natur fest: „[J]ene Häuser [haben] schon Fenster, aber solche, die jeweils bloß einen kleinen und verzerrten Ausschnitt von den Vorgängen draußen ins Innere dringen lassen. […] Ich kenne nur eine Art von Windstoß, der die Fenster der Häuser weiter zu öffnen vermag: das gemeinsame Leid.“⁸⁸ Eine solche emanzipatorische Handlung würde insbesondere durch den Umstand ermöglicht, dass dem Materialismus nach – wie oben erläutert – alle Lebewesen einen nicht rechtfertigungsbedürftigen „Anspruch auf Glück“ haben, aus dem dann eine Art von gemeinsamer Verletzlichkeit entsteht: Die Solidarität der Menschen ist jedoch ein Teil des Lebens überhaupt. Der Fortschritt in der Verwirklichung jener wird auch den Sinn für diese stärken. Die Tiere bedürfen des Menschen. Es ist die Ehre der Schopenhauerschen Philosophie, daß sie die Einheit von uns und ihnen ganz ins Licht gerückt hat. Die größeren Gaben der Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Ge-

 „Der Materialismus sieht in der Moral eine Lebensäußerung bestimmter Menschen und versucht, sie aus den Bedingungen ihres Entstehens und Vergehens zu begreifen, nicht um der Wahrheit an sich willen, sondern im Zusammenhang mit bestimmten geschichtlichen Antrieben.“ Horkheimer 1933b, S. 131. Bei Adorno erscheint dieses Argument in der Form einer notwendigen Verwiesenheit moralischen Handelns auf einen „Impuls“. Siehe dazu Menke 2004b, S. 146 ff.  Siehe Horkheimer 1933b, S. 120. In der Dialektik der Aufklärung wird dies als die „Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen“, ebenfalls thematisiert. Vgl. Adorno/Horkheimer 1944, S. 142.  Siehe dazu Schnädelbach 1986, S. 62 ff.  Horkheimer 1931/1934, S. 314.

3.2 Mitleidsethik

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meinschaft, die er mit Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar.⁸⁹

Daraus ergibt sich dann Horkheimers Überzeugung, dass in dem berühmten Schopenhauer’schen Grundsatz von Leidensminderung und Hilfeleistung – „Verletze niemanden; vielmehr hilf allen, soweit du kannst“ – eine Grundbedingung moralischen Handelns ausgedrückt wird, die auf einen Schutz gegenüber den möglichen unterdrückenden Wirkungen bloß universalistischer Moralvorstellungen hinweist.⁹⁰ Zugleich aber weicht er von Schopenhauers Verständnis vor allem dadurch ab, dass eine gefühlte Anteilnahme an fremdem Leid für ihn nicht als naturgegeben oder instinktartig gilt, sondern ebenfalls von einem gesellschaftlich vermittelten Bildungsprozess abhängig wäre.⁹¹ Selbst wenn demnach seine Voraussetzungen in der naturbestimmten Vergänglichkeit aller Lebewesen liegen, stellt das Mitleid für Horkheimer ein geistig vermitteltes, das heißt erst in der zweiten Natur sozialer Lebensformen in emanzipatorischer Absicht herausgebildetes moralisches Gefühl dar. Nur als soziale, geistige Wesen vermögen wir, so ließe sich daher sagen, unsere mit allen anderen Lebewesen geteilte Verletzlichkeit solidarisch zu vergegenwärtigen. Diese Einsicht ist sicherlich Ausdruck jener Grundprämisse Horkheimers, derzufolge alle praktischen Fähigkeiten letzten Endes auf die Errungenschaften in der menschlichen Naturbeherrschung zurückzuführen sind. Erst „in der freien Verkehrtwirtschaft“ – das heißt im historischen Rahmen kapitalistischer Gesellschaften –, so argumentiert er, haben sich die Bedingungen für eine allgemeine, gesellschaftlich notwendige Solidarität etabliert: „Die ökonomische Entwicklung ist schon lange so weit gediehen, daß zum guten Fortkommen auch die Fähigkeit zu einem gewissen Interesse an fremdem Schicksal gehört […] so hat doch der bürgerliche Verkehr zusammen mit dem Egoismus auch seine Negation, den individualistischen Altruismus, gezüchtet.“⁹² In diesem Sinne kann Horkheimer auch feststellen, dass sich im normativen Horizont bürgerlicher Lebensformen zwei moralische Bestimmungen niedergeschlagen haben: „[D]er Materialismus [erkennt] sowohl im Mitleid als auch in der nach vorwärts gerichteten Politik produktive Kräfte, die mit der bürgerlichen Moral geschichtlich zusammenhängen.“⁹³ Unter kapitalistischen Verhältnissen würden sie jedoch als miteinander konfligierende Zielbestimmungen angesehen, denn „Rück-

 Horkheimer 1933b, S. 136.  „Sei mißtraurisch gegen den, der behauptet, daß man nur entweder dem großen Ganzen oder überhaupt nicht helfen könne. Es ist die Lebenslüge der, die in Wirklichkeit nicht helfen wollen und die sich vor der Verpflichtung im einzelnen bestimmten Fall auf die große Theorie hinausreden. Sie rationalisieren ihre Unmenschlichkeit.“ Horkheimer 1931/1934, S. 341.  Selbst wenn Schopenhauer ausdrücklich von einer instinktartigen Anteilnahme spricht, ist es eine umstrittene Frage, ob seine Mitleidskonzeption ebenfalls einen Lernprozess unterstellt. Siehe etwa Hallich 1998, S. 42 ff.  Horkheimer 1935a, S. 273.  Horkheimer 1933b, S. 145.

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

sicht auf die Menschen der Nähe und der Ferne, Hilfe für den Einzelnen und für die Menschheit widersprechen sich zumeist“⁹⁴ und das Mitleiden erscheint darum nur als unmittelbare Widerspiegelung von naturwüchsigen Leidenserfahrungen: „Wir sehen die Menschen nicht als Subjekte ihres Schicksals, sondern als Objekte eines blindes Naturgeschehens, und die Antwort des moralischen Gefühls darauf ist Mitleid.“⁹⁵ Aus diesem Grund – und dem dargelegten Verfahren seiner Ideologiekritik entsprechend – hält Horkheimer in seinen frühen Schriften immer an der Vorstellung fest, dass das Mitleiden eine zwar notwendige, aber dennoch unzureichende Voraussetzung sozialer Emanzipation darstellt; nur durch seine Aufhebung im Zuge der Verwirklichung einer allgemeinen Freiheit könnte sein Wahrheitsgehalt – die Einsicht des Einzelnen „als das mögliche Mitglied einer glücklichen Menschheit“ – im emanzipatorischen Sinne realisiert werden.⁹⁶ Anders erscheint das Motiv einer Mitleidsethik in seinen späteren Schriften – zunächst infolge seiner Überzeugung, dass mit der Auflösung marktvermittelter Konkurrenz die materiellen Voraussetzungen eines gesellschaftlich notwendigen Interesses an anderen Menschen vernichtet und allein durch „Mißtrauen“ und „Rücksichtslosigkeit“ ersetzt worden seien.⁹⁷ Dann aber lässt sich ein anderes Erklärungsmuster der Unmöglichkeit solidarischen Mitleidens erkennen, in dem die mit Adorno in der Dialektik der Aufklärung geprägte Idee der anthropologischen Bedeutung von mimetischen Verhaltensweisen und dementsprechend das Verständnis der Zivilisationsgeschichte als eine „schmerzhafte Unterdrückung“ dieser Verhaltensweisen eine wesentliche Rolle übernehmen: „Der ganze Körper – so schreibt Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft – ist ein Organ mimetischen Ausdrucks. Über dieses Vermögen erwirbt ein Mensch seine besondere Weise zu lachen und zu weinen, zu sprechen und zu urteilen.“⁹⁸ Die Verunmöglichung von Mitleid wird insofern als Ausdruck einer umfassenden Verkümmerung von nicht unmittelbar auf instrumentelles Interesse und Selbsterhaltung bezogenen Fähigkeiten verstanden, die dann eine Art von allgemeiner „Gleichgültigkeit gegenüber der Natur“ bewirkt.⁹⁹ Als Gegenmittel zu dieser fortschreitenden Instrumentalisierung wird im Spätkapitalismus eine nur scheinbar entgegensetzte Verherrlichung der Naturmächte verkündet, die Horkheimer zufolge auf den ebenso falschen Gesichtspunkt hinausläuft, dass der Mensch bloße Natur sei: „Das Ausschließen dieser Qualität des Geistes – daß er zugleich mit der Natur identisch ist und von ihr verschieden ist – führt geradewegs zu der Ansicht, daß

 Horkheimer 1933b, S. 146. Dazu siehe auch Horkheimer 1931/1934, S. 316.  Horkheimer 1933b, S. 136.  Diesen Wahrheitsgehalt bezeichnet Horkheimer als „Liebe“, da er „nicht auf Funktion und Ansehen eines bestimmten Individuums im bürgerlichen Leben, sondern auf seine Bedürftigkeit und Kräfte“ verweist – vgl. Horkheimer 1933b, S. 134. Zum Argument einer Verwirklichung des Wahrheitsgehalts von Mitleid siehe auch Schmid Noerr 1997, S. 165 ff.  Horkheimer 1935a, S. 274 f.  Horkheimer 1967, S. 124.  Horkheimer 1967, S. 115.

3.2 Mitleidsethik

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der Mensch wesentlich nichts als ein Element und Objekt blinder Naturprozesse ist.“¹⁰⁰ In diesem Zusammenhang tritt das Mitleiden hauptsächlich nur als ein weiterer Ausdruck der Naturwüchsigkeit von Leidenserfahrungen auf: „Wenn dem Menschen versichert wird, er sei Natur und nichts als Natur, dann ist er eigentlich nur noch zu bemitleiden. Passiv, wie alles, was nur Natur ist, soll er ein Objekt der ‚Behandlung‘ sein, schließlich ein Wesen, das von mehr oder weniger wohlwollender Führung abhängt.“¹⁰¹ Das Mitleiden stellt insofern, wie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung ebenfalls erklären, notwendigerweise einen aporetischen Vorgang dar, denn wenn es nicht in der Lage ist, seine eigenen Entstehungsbedingungen zu reflektieren, trägt es zu deren Naturalisierung bei: „Es bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert. Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen Entfremdung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin.“¹⁰² Gegenüber diesen verdinglichenden Tendenzen könnte man Horkheimer zufolge nur das Verfahren einer geschichtsphilosophisch orientierten Selbstkritik der Vernunft entgegensetzen, die von der Absicht getragen wäre, die Natur „als einen Text zu behandeln, der von der Philosophie zu lesen ist und der, richtig gelesen, eine Geschichte unendlichen Leidens offenbaren wird“.¹⁰³ Die Zivilisationsgeschichte als eine Leidensgeschichte zu lesen bedeutet zunächst und vor allem, die naturgegebene Vergänglichkeit als „Motiv zur Solidarität der Menschen und der Wesen überhaupt“ hinzunehmen.¹⁰⁴ Eine auf Emanzipation ausgerichtete bemitleidende Handlung wäre von ihren verzerrten Ausdrucksformen dadurch zu unterscheiden, dass sie sich als eine notwendigerweise geistig vermittelte Praxis, als eine Vergegenwärtigung menschlicher Vernunft über ihre natürlichen Grundlagen – ihre unaufhebbare Vergänglichkeit – vollzieht und damit gleichzeitig die Vorstellung negiert, dass der Mensch bloß Natur sei. Horkheimers Mitleidskonzeption steht insofern in der Nachfolge jener in der Dialektik der Aufklärung geprägten Denkfigur eines „Eingedenkens der Natur im Subjekt“, die eben auf eine Selbstvergewisserung der ermöglichenden und dennoch verdrängten natürlichen Grundlagen menschlicher Vernunft abzielt.¹⁰⁵ Die Gemeinsamkeit von Horkheimers späten Überlegungen zum Mitleid mit dieser Denkfigur besteht nämlich nicht einfach in der Absicht einer Selbstbesinnung der Vernunft, sondern tatsächlich in der damit implizierten Vorstellung, dass die Natur erst aus einer geistigen Vermittlung eine emanzipatorische Bedeutung annehmen kann. Der Rückbezug auf eine erste Natur ist somit, so lässt für Horkheimers Mit-

 Horkheimer 1967, S. 172.  Horkheimer 1967, S. 171.  Adorno/Horkheimer 1944, S. 126. Dazu siehe auch Schmid Noerr 1997, S. 167.  Horkheimer 1967, S. 134.  Horkheimer 1961, S. 139.  Adorno/Horkheimer 1944, S. 64. Eine ausführliche Rekonstruktion dieser Denkfigur liefert Schmid Noerr 1990.

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

leidskonzeption auch sagen, nur als ein geistiger Vorgang zu denken, was auch bedeutet, dass er die Folge der bisherigen geschichtlichen Entwicklung ist. In diesem Sinne stellt Horkheimer fest: „Die Möglichkeit der Selbstkritik der Vernunft setzt erstens voraus, dass der Antagonismus von Vernunft und Natur in eine akute und verhängnisvolle Phase eingetreten ist, und zweitens, daß auf dieser Stufe vollendeter Entfremdung die Idee der Wahrheit noch zugänglich ist.“¹⁰⁶ Die hier rekonstruierte Naturalisierungskritik läuft insofern schließlich auf den Gedanken hinaus, dass sich innerhalb der sozialen Welt – in den grundlegenden institutionellen Komplexen und normativen Wertvorstellungen spätkapitalistischer Gesellschaften – nicht mehr widerstandsfähige Ressourcen für die Anprangerung sozialer Leiden finden lassen; von nun an liegt die einzige noch offene Möglichkeit einer emanzipatorischen Entnaturalisierung – paradoxerweise – in der Natur selbst: in der Vergegenwärtigung einer naturgegebenen und darum gemeinsamen Verletzlichkeit, aus der sodann Motivationskräfte für eine solidarische Bekämpfung von Leidenserfahrungen hervorgehen könnten. Nur eine so geartete bemitleidende Haltung könnte noch einen nicht von der subjektiven Vernunft verzerrten moralischen Wert für sich beanspruchen: „[R]ichtig ist die Einsicht in die Schlechtigkeit des eigenen Lebens, das vom Leiden anderer Kreaturen sich nicht trennen läßt, richtig ist die Einheit mit den Leidenden, mit Mensch und Tier, die Abkehr von der Eigenliebe.“¹⁰⁷

3.3 Schluss Eine wesentliche Aufgabe sozialphilosophischer Leidenskritik kann in der Erklärung jenes paradoxen Sachverhalts eingesehen werden, dass unnötige Leidenserfahrungen aufrechterhalten werden können, weil sie in der Regel auf keinen Widerstand stoßen, sondern als selbstverständlich oder naturgemäß angesehen werden. Ihrem emanzipatorischen Interesse entsprechend erfordert diese Erläuterung für eine kritische Gesellschaftstheorie zugleich den Nachweis, dass sich in der sozialen Welt noch immer – aller Verzerrung menschlicher Vernunft und deren Naturalisierung zum Trotz – Emanzipationsmöglichkeiten, das heißt zur sozialen Befreiung möglicherweise einzusetzende Kräfte finden lassen. Diese anspruchsvolle Aufgabe einer im kategorialen Rahmen der Kritischen Theorie verfahrenden Kritik an der Naturalisierung sozialen Leidens hat Horkheimer, so habe ich in diesem Kapitel argumentiert, hauptsächlich mit zwei Erklärungsmustern zu bewältigen versucht. Seine frühen ideologiekritischen Ausführungen können zunächst im Hinblick auf die These interpretiert werden, dass infolge des permanenten Widerspruchs zwischen  Horkheimer 1967, S. 178. So führt Schmid Noerr diese Paradoxie aus: „Erst im Durchgang durch die begriffliche Formung, die notwendig auch Verzerrung ist, erscheint die Natur und gewinnt zugleich einen versöhnenden Ausdruck.“ Schmid Noerr 1990, S. 62.  Horkheimer 1971, S. 228.

3.3 Schluss

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dem universalistischen normativen Selbstverständnis moderner Gesellschaften und deren wirklichen, von kapitalistischer Verwertungslogik geprägten Organisationsweise ein normativer Selbstauflösungsprozess in Gang gesetzt wird: Wegen der Unmöglichkeit, den freiheitlichen Sinngehalt bürgerlichen Selbstverständnisses in institutionellen Komplexen und etablierten Praktiken uneingeschränkt zu verwirklichen, verlieren diese tendenziell an Bedeutung und neigen dazu, sich selbst aufzulösen. Soziales Leiden wird dementsprechend in kapitalistischen Gesellschaften dadurch naturalisiert, dass hier – neben einer systematischen Verkümmerung ihren rationalen Fähigkeiten – den Subjekten jene befähigende, kulturwirksame moralische Sprache entzogen wird, mithilfe derer – etwa die universalistischen Forderungen nach Freiheit und Gerechtigkeit – sie ihre negativen Erfahrungen als kritikwürdige Erfahrung potenziell artikulieren, wenn nicht sogar wahrnehmen könnten. Gleichzeitig aber hält Horkheimer immer noch an der Vorstellung fest, dass der bürgerlichen Kultur ein emanzipatorischer Sinn innewohnt, für dessen umfassende Verwirklichung eine Aufhebung der gegenwärtigen Gesellschaftsform erforderlich wäre. Diese emanzipatorische Ansicht wird besonders durch die Überzeugung begründet, dass die arbeitende Tätigkeit von Menschen, die Naturbeherrschung, trotz aller Verzerrung in kapitalischen Gesellschaftsformen eine Freiheitsäußerung darstellt, sofern sie eine Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit leistet. Diese anthropologische Annahme einer irreduktiblen Vernünftigkeit eröffnet dann die Möglichkeit, dass emanzipatorische Kämpfe den Selbstwiderspruch bürgerlicher Lebensformen offenlegen und dessen Wahrheitsgehalt politisch retten. Infolge dieser Konzeption sozialer Emanzipation entsteht allerdings eine besonders gravierende kategoriale Schwierigkeit, die die Überzeugungskraft von Horkheimers Naturalisierungskritik letztlich schwächt. Denn sofern soziale Befreiung ebenfalls nach dem Modell der Naturbeherrschung gedacht wird, kann Horkheimer nicht mehr über die notwendigen kategorialen Mittel verfügen, um den Übergang von individuellen Leidenserfahrungen zu sozialen, kollektiven emanzipatorischen Kämpfen als einen sozialhistorischen Vorgang zu erklären. Damit lässt er einen blinden Fleck in seiner Leidenskritik entstehen, weil eine vonseiten seiner materialistischen Prämissen selbst gestellte Frage weitgehend unerklärt bleibt. Nicht weniger wird damit schließlich auch der Verdacht nahegelegt, dass seine Naturalisierungskritik zwangsläufig sein Ziel verfehlen muss: Sie kann allein an – möglicherweise aus sozialen Leiden hervorgehenden – emanzipatorischen Ansprüchen ansetzen, aber nicht diffuse, unartikulierte Ausdrücke von Unbehagen oder Leiden erschließen. Sie scheint, anders gesagt, nur auf der Ebene von schon als Emanzipationsansprüchen anerkannten und artikulierten Leiden verfahren zu können – und nicht tatsächlich auf der gleichsam vorausliegenden Ebene von naturalisierten Erfahrungen selbst.¹⁰⁸  Diese mangelnde Erklärung des Übergangs von individuellem Leid zu kollektiven Widerstandsformen könnte auch als das in seiner Leidenskritik auftretende Korrelat jenes häufig diagnostizierten Hauptmangels von Horkheimers Emanzipationsvorstellung verstanden werden: seine Unterstellung eines höherstufigen Handlungssubjekts oder eines „singulären Kollektivsubjekt[s]“. Siehe dazu Benhabib 1992, S. 86 ff. sowie Habermas 1981b, S. 557. In diesem Sinne bezeichnet Horkheimer eben eine

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

Eine Verschärfung dieser mit dem Kapitalismus verbundenen Naturalisierung sozialen Leidens lässt sich in Horkheimers späteren Schriften erkennen, in denen die Vorherrschaft einer bloß subjektiven Vernunft in spätkapitalischen Gesellschaften im Mittelpunkt steht. Die vor allem in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft dargelegten Ausführungen lassen sich unter dem Gesichtspunkt zusammenfassen, dass die institutionell vermittelte Selbstauflösung vernünftiger Grundsätze im Spätkapitalismus letztlich zu einer Art normativer Verkehrung führen würde: Die Grundvorstellungen der Moderne sind nun soweit entleert und instrumentalisiert, dass sie allein weiterhin als weitere Mittel der Herrschaftssicherung wirken. Im Spätkapitalismus wird soziales Leiden dann durch gesellschaftliche Mechanismen und Deutungsmuster naturalisiert, die in eine tiefliegende Erfahrungsschicht der Subjekte eingreifen: Es fehlt ihnen nicht nur überhaupt jedes kulturwirksame, zur Kritik befähigendes moralisches Vokabular – die noch verfügbaren Ausdruckmittel erzwingen dagegen eine falsche Einsicht in die sozialen Missstände sowie eine falsche Selbstbeziehung¹⁰⁹ –; sondern sie besitzen auch nicht mehr die Chance, erst die primären psychologischen Kräfte auszubilden, um sich den Zwängen sozialer Herrschaft gegenüber zu distanzieren und sich ihnen eventuell zu widersetzen. Als Folge dieser mächtigeren, lückenlos gewordenen Naturalisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit verweist Horkheimer nun die Chancen sozialer Befreiung auf die Dimension der Natur – das heißt auf die noch offene Möglichkeit einer Vergegenwärtigung der unaufhebbaren Vergänglichkeit aller Lebewesen im Sinne einer Quelle umfassenderer Solidarität. Selbst wenn mit diesem Motiv die Möglichkeit menschlicher Emanzipation gewissermaßen außerhalb der institutionellen und normativen Rahmenbedingungen, ja außerhalb der Sphäre des Sozialen selbst verschoben wird, würde ein solches Mitleiden eine solidarische Praxis darstellen, der nur soziale Wesen fähig sind.¹¹⁰ Horkheimers Mitleidsethik bezieht sich insofern nicht auf eine vermeintlich ursprüngliche Natur zurück, sondern sie skizziert die Möglichkeit emanzipierte Gesellschaft als „vernünftiges Subjekt“ oder als „reales Subjekt“. Vgl. Horkheimer 1933c, S. 156 und Horkheimer 1933b, S. 118. Symptomatisch ist hier die Tatsache, dass anders geartete Emanzipationsvorstellungen – etwa das Bild einer „Konstellation gesellschaftlicher Gruppen“ – nur angedeutet bleiben.  Damit berührt Horkheimer gewissermaßen eine Frage, die besonders in kulturgeschichtlichen Kontexten gestellt worden ist – und zwar, ob tatsächlich die kennzeichnenden Vorstellungen und Kategorien moderner Kultur ein angemessenes, nicht unterdrückendes Verständnis von Leidenserfahrungen ermöglichen. Am Beispiel der kulturellen Deutung von Krankheiten siehe etwa die kritischen Ausführungen von Morris 2000. Horkheimer gilt aber die Massenkultur spätkapitalistischer Gesellschaften nicht nur als unzulänglich für ein angemessenes, freiheitliches Verständnis von Leid, sondern grundsätzlich als falsch – sie trägt nur zur weiteren Herrschaftssicherung bei.  „Allein das menschliche Bewußtsein [kann] die Stätte sein, bei der erduldetes Unrecht aufgehoben ist“ – so stellt Horkheimer schon früh fest. Und anschließend führt er zudem aus: „[D]ie Historie [bildet] das einzige Gehör, das die gegenwärtige und selbst vergängliche Menschheit den Anklagen der vergangenen noch schenken kann. Selbst wenn dieser Appell nicht zur Produktivkraft für eine bessere Gesellschaft werden könnte, stellte auch schon die Funktion der Erinnerung allein schon den Beruf des Geschichtsschreibers über den der Metaphysik.“ Horkheimer 1934a, S. 236 und S. 248.

3.3 Schluss

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einer geistig vermittelten Erschließung der natürlichen Grundlage des Lebendigen, aus der dann solidarische Kräfte gegenüber sozialen Leidenserfahrungen hervorgehen könnten. Besitzt das Mitleid eine natürliche Grundlage, so ist Horkheimer Konzeption wohl zu deuten, so kann es erst eine emanzipatorische Bedeutung aus der Perspektive von – in der zweiten Natur sozialer Lebensformen – möglicherweise solidarisch handelnden Subjekten annehmen. Diese veränderte Emanzipationsvorstellung hat sicherlich den Vorteil, dass sie der Gefahr entkommen kann, allein schon als Befreiungsansprüche artikulierten Leidenserfahrungen Rechnung zu tragen. Denn die materialistische Leidenskritik versteht sich selbst nicht länger als Selbstaufklärung von emanzipatorischen Anstrengungen, sondern als eine Art von erinnernder Reflexion, die auf eine Solidarität mit allen Leidensgenossen in der Geschichte ausgerichtet ist. Mit dieser geschichtsphilosophischen Wende wird jedoch gleichzeitig die ätiologische oder sozialtheoretische Dimension des Leidensbegriffs geschwächt; denn als Leiden soll nun vorrangig die mit der Vergänglichkeit verbundene notwendige Frustration des Glückanspruchs aller Lebewesen gelten.¹¹¹ Mit diesen Bemerkungen möchte ich meine Rekonstruktion von Horkheimers materialistischer Leidenskritik abschließen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nach ihren Grundbestimmungen soziales Leiden eine Art von Einschränkung menschlicher Freiheit darstellt, die den in der zweiten Natur moderner Lebensformen niedergeschlagenen Freiheitsmöglichkeiten widerspricht – soziales Leiden ist, kurz gesagt, überflüssiges Leiden. Horkheimers Leidenskonzeption liegt insofern die bedeutsame Vorstellung zugrunde, dass soziale Lebensformen historisch aus kooperativen Anstrengungen der Naturbeherrschung entstehen, die aber zugleich durch die erste Natur einer unaufhebbaren Vergänglichkeit ständig mitbestimmt und geprägt sind. Im Spannungsfeld der beiden Dimensionen entwickeln sich historisch soziale Lebensformen und bilden sich die Freiheitsmöglichkeiten von Subjekten aus, die in ihrer Verwirklichung allerdings durch vom Kapitalismus geprägten gesellschaftlichen Mechanismen überflüssigerweise eingeschränkt werden und zu unnötigen Leiden führen. Soziales Leiden wird demzufolge an einem Kriterium bemessen, das anthropologisch begründet (unter Bezug auf eine nach dem Modell der Arbeit konzipierte Freiheitsvorstellung) und gleichzeitig geschichtlich (im Hinblick auf den erzielten Fortschritt in der Naturbeherrschung) bedingt ist. Auf die beiden auf dem Wege seiner frühen Metaphysikkritik entworfenen Fragestellungen kann Horkheimer allerdings nur eine unzulängliche oder ambivalente

 Darin identifiziert Brunkhorst eine Aporie in Horkheimers Theorie: „Im Streben nach Genuß selbst scheint Horkheimer die Objektivität und Allgemeinheit, die Vernunft des Glücksanspruchs naturalistisch verankern zu wollen. […] Horkheimers Materialismus dekonstruiert [aber] jeden Versuch der intellektuellen Konstruktion einer ‚unbedingten Ordnung‘.“ Brunkhorst 1985, S. 376. Anders steht das Motiv des Glücks für eine Ideologiekritik, denn es geht dabei um eine historisch bestimmte Glückserfüllung, das heißt um das „mögliche[] Glück[]“ angesichts „des allgemeinen Reichtums an wirtschaftlichen Kräften“. Siehe Horkheimer 1933a, S. 42.

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Kapitel 3 Naturalisierung und soziale Emanzipation

Antwort geben. In seinen ätiologischen Erklärungen tendiert er dazu, die Struktur aller Leidenserfahrungen ausschließlich nach dem Modell der Naturbeherrschung zu erklären. Daraus folgt nicht nur eine Tendenz zum Ökonomismus – eine reduktionistisch auf die mangelhafte Organisation der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus bezogene Ursachenbestimmung –, sondern auch das Unvermögen, zwischen Erfahrungen sozialen Leidens angemessen zu unterscheiden – was sich exemplarisch in seiner Neigung ausdrückt, intersubjektiv geprägte Erfahrungen wie soziale Angst oder moderne Missachtung auch mit Bezug auf eine Entäußerung und Aneignung rationaler Fähigkeiten und damit eher nur als Nebenerscheinungen einer mangelhaften Organisation der Naturbeherrschung zu denken. Und nicht weniger bleibt er im Zusammenhang seiner emanzipationstheoretischen Ausführungen dieser verkürzten Freiheitsvorstellung verhaftet, womit – wie soeben ausgeführt – weitere begriffliche Schwierigkeiten und Aporien in seiner Naturalisierungskritik auftreten, die besonders seine Absicht betreffen, soziale Befreiung als Abschaffung von überflüssigen Leidenserfahrungen zu konzipieren. Wenn die Unzulänglichkeiten von Horkheimers Konzeption letzten Endes auf ihre Freiheitskonzeption zurückzuführen sind, so zeichnet sich damit schon die wesentliche Aufgabe einer möglicherweise umfassenderen Leidenskritik ab: die Umdeutung des Freiheitsbegriffs und damit zugleich der Vorstellung einer zweiten Natur von sozialen Lebensformen. An diese Aufgabe werde ich nun mit anerkennungstheoretischen Mitteln herangehen.

Teil 2 Die zweite Natur sozialer Freiheit Zur Idee einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik

Kapitel 4 Zur Ortsbestimmung einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik Es sind nicht einfach theoriegeschichtliche, sondern eigentlich kategoriale Gründe, die das Verfahren rechtfertigen, die Darlegung der Grundlagen einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik mit einer Behandlung der Kommunikationstheorie Habermas’ zu beginnen. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass mit der Habermas’schen Umstellung ihrer handlungstheoretischen Grundprämissen (von der Arbeitspraxis zum kommunikativen Handeln) eine andere, intersubjektive Freiheitskonzeption in die begriffliche Struktur kritischer Gesellschaftstheorie eingeführt wird: Nicht mehr die gattungsgeschichtliche Aneignung der äußeren Natur, sondern kommunikativ erhaltende Interaktionsbeziehungen bilden den anthropologischen und zugleich historisch herausgebildeten Rahmen, innerhalb dessen soziale Wesen ihre Freiheit erwerben und sichern können. Diese Einsicht einer kommunikativen Freiheit geht bekanntermaßen mit einer Neubestimmung des sozialtheoretischen Maßstabs einher, mit dem die Kritische Theorie gesellschaftliche Störungen diagnostizieren kann: Nicht mehr die durch Klassenherrschaft bedingte Verhinderung kooperativer Aneignung eines kollektiv geschaffenen Reichtums, sondern die Verzerrung von Kommunikationsbeziehungen – die „Kolonialisierung der Lebenswelt“ – gilt als der entscheidende Maßstab für die Identifizierung von besonders belastenden, die Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern weitgehend unterminierenden sozialen Missständen. Diese zwei recht gut bekannten begrifflichen Erneuerungen von Habermasʼ Gesellschaftstheorie möchte ich hier am Leitfaden der kennzeichnenden Absichten und Fragestellungen sozialphilosophischer Leidenskritik überprüfen, um schrittweise zu zeigen, inwiefern aus den kategorialen Grenzen eines kommunikationstheoretischen Verständnisses der Struktur sozialer Lebensformen die Anregungen für die Grundlegung einer anerkennungstheoretischen Gesellschafts- und Leidenskritik entstehen. Zu diesem Zweck werde ich mich zunächst mit Habermasʼ Vorstellung von kommunikativer Freiheit insbesondere im Hinblick auf seine Diagnose der Pathologien moderner Gesellschaften sowie auf seine diskurstheoretische Konzeption sozialer Gerechtigkeit beschäftigen (4.1). Hier soll vor allem gezeigt werden, dass Habermas die Folgen gesellschaftlicher Störungsprozesse (Pathologien der Kommunikation) zwar auch als überflüssige Einschränkungen der im historischen Horizont moderner sozialen Lebenswelten bereits verfügbaren Freiheitsmöglichkeiten versteht, eine solche Diagnose aber – anders als Horkheimers Ansatz – nicht in der besonderen Form einer sozialphilosophischen Leidenskritik ausführt. Dafür scheint hauptsächlich die sprachtheoretische Fundierung seiner Freiheitsauffassung verantwortlich zu sein, aus der sich eine Sicht der aus Kommunikationspathologien resultierenden Beeinträchtigungen menschlicher Autonomie ergibt, die nur schwer an alltägliche Unrechts- und https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-005

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Kapitel 4 Zur Ortsbestimmung einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik

Leidenserfahrungen anzuknüpfen vermag. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die in seiner Diskursethik deutlich auftretende Überzeugung, derzufolge Leidenserfahrungen – infolge ihrer konstitutiven Verankerung in partikularen Lebensformen – eine so starke ethische Prägung hätten, dass sie nur mittelbar in den gerechtigkeitstheoretischen Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie einbezogen werden können. Unter diesem Blickwinkel eröffnet sich die Möglichkeit, so möchte ich zeigen, den von Honneth vollzogenen grundbegrifflichen Übergang von Kommunikation zur Anerkennung auch als Versuch verstehen, die intersubjektive Wende der Kritischen Theorie mit einer erfahrungsnäheren Darstellung von Freiheitseinschränkungen kategorial zu verbinden und dadurch soziale Leidenserfahrungen wieder stärker in den Mittelpunkt einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit zu stellen (4.2). Mit der Einführung des Hegel’schen Anerkennungsbegriffs beginnen sich insofern die Grundlagen abzuzeichnen, mit denen die zuvor aus Horkheimers materialistischem Ansatz entworfenen Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik eine neue, angemessenere Antwort finden können.

4.1 Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit In seiner Theorie des kommunikativen Handelns erhebt Habermas ausdrücklich den Anspruch, das Themenspektrum der kritischen Gesellschaftstheorie weiterzuentwickeln, ohne in die für Horkheimers und Adornos Überlegungen kennzeichnenden begrifflichen Aporien hineinzugeraten. Diese seien vor allem Ausdruck einer äußerst verkürzten und letztlich auf die Schwächen einer Bewusstseinsphilosophie zurückzuführenden Handlungskonzeption, derzufolge jedes soziale Handeln ausschließlich nach dem Modell der Naturbeherrschung, der Zwecktätigkeit eines handelnden und erkennenden Subjekts zu konzipieren sei. Nur eine intersubjektive Wende, der Entwurf einer kommunikativen Vorstellung menschlicher Freiheit könnte nach Habermasʼ Überzeugung die Kritische Theorie wieder in die Lage versetzen, die Reproduktionsbedingungen von kapitalistischen Gesellschaft im Hinblick auf ihre Krisentendenzen sowie auf ihre emanzipatorischen Potenziale angemessen zu analysieren. In der Tat identifiziert Habermas drei miteinander zusammenhängende Schwierigkeiten in der frühen Kritischen Theorie, die auf ihre handlungstheoretischen Prämissen und ihre darauf begründete Freiheitsvorstellung zurückzuführen wären. Zunächst wäre die frühe Kritische Theorie nicht in der Lage gewesen, sich ein angemessenes Bild der zu modernen Gesellschaften führenden Rationalisierungsprozesse zu verschaffen, sofern sie die Eigentümlichkeit der kulturellen Moderne, und zwar die spezifische Logik der Entzauberung von traditionellen Weltbildern und der Ausdifferenzierung von sozialen Lebenswelten, stets auf die instrumentellen Neue-

4.1 Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit

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rungen in der Naturbeherrschung reduziert hätte.¹ Daraus würde sich gerade ihre Tendenz ergeben, die Verbreitung von instrumentellen Handlungsorientierungen als die Entstehung einer völlig administrierten Gesellschaftsform zu verstehen, da sie die durch die moralisch-praktische Rationalisierung von Lebenswelten allmählich freigesetzten vernünftigen Potenziale grundbegrifflich verkennen musste.² Und schließlich sei aus dem Paradigma der Naturbeherrschung auch zwangsläufig eine mangelhafte Auffassung der Pathologien moderner Gesellschaften entstanden, die nicht nur in der Neigung der frühen Kritischen Theorie besteht, die Deformationen intersubjektiver Beziehungen unter dem Primat der Instrumentalisierung der Natur nur „als abgeleitete Phänomene“ auszufassen³, sondern auch in einem grundlegenden explanatorischen Mangel: „Sie stellt deshalb auch keine explikative Mitteln bereit, um zu erklären, was denn die Instrumentalisierung gesellschaftlicher und intrapsychischer Beziehungen aus der Perspektive der vergewaltigten und deformierten Lebenszusammenhänge bedeutet“, sodass ihre „Beschwörung gesellschaftlicher Solidarität lediglich anzeigen [kann], daß die Instrumentalisierung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder etwas zerstört; aber sie kann nicht explizit angeben, worin die Zerstörung besteht“.⁴ Mit einer kommunikationstheoretischen Wende sollen sich daher diese drei Hindernisse beseitigen lassen. Diese setzt zuallererst die Ausarbeitung einer intersubjektiven Freiheitsvorstellung voraus: „Aus der Sicht der Intersubjektivitätstheorie bedeutet Autonomie nicht die Verfügungsgewalt eines Subjekts, das sich selbst zum Eigentum hat, sondern die durch Beziehungen reziproker Anerkennung ermöglichte Unabhängigkeit des Einen, die nur mit der symmetrischen Unabhängigkeit des Anderen zusammenbestehen kann.“⁵ Dieses Bild einer auf Kommunikationsbeziehungen angewiesenen Entwicklung individueller Freiheit wird von Habermas aber nicht einfach im Sinne eines anthropologischen Erfordernisses, sondern als ein je nach historischen Bedingungen wandelnder Bildungsprozess dargestellt: Wenngleich menschliche Wesen in ihrer praktischen Identitätsbildung konstitutiv von intersub-

 Habermas 1981a, S. 209. Dabei handelt es sich um einen Mangel, der Habermas zufolge überhaupt für die auf Marx zurückgehende Denktradition charakteristisch ist – vgl. Habermas 1976a.  „Die Dialektik der Aufklärung wird dem vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne, der in der bürgerlichen Idealen festgehalten (und mit ihnen auch instrumentalisiert) worden ist, nicht gerecht. Ich meine die theoretische Eigendynamik, die die Wissenschaften, auch die Selbstreflexion der Wissenschaften, über die Erzeugung technisch verwertbaren Wissens immer wieder hinaustreibt; ich meine ferner die universalistischen Grundlagen von Recht und Moral, die in den Institutionen der Verfassungsstaaten, in Formen demokratischer Willensbildung, in individualistischen Mustern der Identitätsbildung auch eine (wie immer verzerrte und unvollkommene) Verkörperung gefunden haben; ich meine schließlich die Produktivität und die sprengende Kraft ästhetischer Grunderfahrungen, die eine von Imperativen der Zwecktätigkeit und von Konventionen der alltäglichen Wahrnehmung freigesetzte Subjektivität ihrer eigenen Dezentrierung abgewinnt.“ Habermas 1985a, S. 137 f.  Habermas 1981b, S. 504.  Habermas 1981a, S. 522.  Habermas 1991d, S. 145 f.

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jektiven Verhältnissen abhängig sind, ist die Freiheit von Subjekten immer auch durch die jeweiligen historischen Bedingungen mitbestimmt, die den geschichtlichen Zustand von intersubjektiven Lebenswelten und ihren Strukturen bezeichnen. Diese Einsicht, die gewissermaßen wiederum auf die Idee einer Freiheitsbildung innerhalb einer zweiten Natur sozialer Lebensformen anzuspielen scheint, will ich im Folgenden rekonstruieren. Zunächst werde ich zeigen, dass auf der Grundlage dieser Freiheitsvorstellung Habermas eine neue, intersubjektive Deutung der Verdinglichungsdiagnose vorschlagen kann, nach der „Syndrome der Entfremdung relativ zum jeweils erreichten Grad der Rationalisierung einer Lebenswelt“ erkannt werden müssen.⁶ Die damit beschriebenen gesellschaftlichen Störungen interpretiert er auch als eine kommunikationstheoretische Umdeutung von Max Webers Diagnose vom Freiheits- und Sinnverlust in der Moderne, da mit der Verzerrung von lebensweltlichen Handlungssphären notwendig identitätsbedrohende Krisen einhergehen. Zur Bezeichnung einer solchen sozial induzierten subjektiven Beeinträchtigung wird Habermas allerdings – anders als Horkheimer in seiner Gesellschaftskritik – nicht mehr den Leidensbegriff in Anspruch nehmen, wofür ich eine Erklärung zu umreißen versuchen werde. Die Gründe für diese kategoriale Entscheidung lassen sich jedoch nur vollständig verstehen, wenn auch der Stellenwert des Leidensbegriffs in Habermasʼ gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen – zumindest in groben Zügen – charakterisiert wird.

4.1.1 Sozialpathologien als verzerrte Kommunikation Die Absicht, die Entwicklung menschlicher Freiheit vom Paradigma der Naturbeherrschung begrifflich abzulösen, führt Habermas zu dem Gedanken einer notwendig symbolisch vermittelten Ausbildung von Ich-Identitäten. Diese Einsicht eines konstitutiven Zusammenhangs zwischen Individualität und Intersubjektivität sieht er exemplarisch in G. H. Meads Theorie der Identitätsbildung dargestellt, sofern mit seiner Konzeption menschlicher Vergesellschaftung die Vorstellung eines sozialisierenden und zugleich individualisierenden Bildungsprozesses in den Vordergrund gerückt wird. Die Ausbildung des praktischen Selbstverhältnisses der Subjekte würde sich nach Meads Grundansicht nicht in Form einer individuellen Selbstbeziehung, sondern erst und stufenweise im Rahmen sprachlich vermittelter Interaktionsbeziehungen vollziehen, das heißt, das Selbstverhältnis wäre strukturell auf kommunikativ erhaltende Anerkennungsbeziehungen angewiesen.⁷

 Habermas 1981b, S. 502.  Habermas 1988b, S. 191. Auf der Grundlage der Jenaer Schriften Hegels hatte Habermas schon früher den Versuch unternommen, die symbolisch vermittelte Ausbildung von Ich-Identitäten vom Handlungsmuster der Entäußerung und Aneignung äußerer Natur kategorial zu unterscheiden. Siehe Habermas 1968, insb. S. 39.

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Nur im Medium der Sprache vermögen es dann die Einzelnen, so führt Habermas aus, jene wesentlichen praktischen Kompetenzen zu erwerben, die sie zu einer vollständigen Teilnahme am sozialen Leben insofern befähigen, als sie dadurch als moralisch zurechnungsfähige Subjekte, das heißt als sprach- und handlungsfähige Akteure seitens anderer Gesellschaftsmitglieder anerkannt werden. Infolge dieser sozialintegrativen Leistung kommunikativer Interaktionsbeziehungen gewinnen sie sodann gleichzeitig einen wachsenden Grad an praktischer Autonomie; denn sie werden allmählich in die Lage versetzt, im Lichte der verinnerlichten normativen Erwartungshaltungen ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu überprüfen und damit ein Selbstverständnis als individuierte Subjekte auszubilden: Weil mir die anderen Zurechnungsfähigkeit unterstellen, mache ich mich nach und nach zu dem, der ich im Zusammenleben mit anderen geworden bin. Das Ich, das mir in meinem Selbstbewusstsein als das schlechthin Eigene gegeben zu sein scheint, kann ich nicht allein aus eigener Kraft, gleichsam für mich allein, aufrechterhalten – es ‚gehört‘ mir nicht. Dieses Ich behält vielmehr einen intersubjektiven Kern, weil der Prozeß der Individuierung, aus dem es hervorgeht, durch das Netzwerk sprachlich vermittelter Interaktionen hindurchläuft.⁸

Da „ungefährdete Identitätsstrukturen“ an die Aufrechterhaltung kommunikativer Interaktionsbeziehungen gebunden sind, beinhalten Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eine unverkennbare intersubjektive Dimension: „Entsprechend kann sich je meine Identität, nämlich mein Selbstverständnis als eines autonom handelnden und individuierten Wesens, nur stabilisieren, wenn ich als eine solche und als diese Person Anerkennung finde.“⁹ Dieser Bildungsprozess individueller Freiheit kann allerdings für Habermas nur vor jenem normativen Hintergrundwissen stattfinden, „in dem sich die kommunikativ Handelnden ‚immer schon‘ bewegen“, wenn sie Verständigungsprozesse im Alltagsleben führen – also im Rahmen einer aus tradierten Grundüberzeugungen und Sinnressourcen bestehenden „Lebenswelt“. Ohne jene sedimentierten Selbstverständlichkeiten wäre verständigungsorientiertes, freiheitsverbürgendes Handeln gar nicht möglich; zugleich aber sind es Verständigungspraktiken, die zur Erhaltung der symbolischen Strukturen der Lebenswelt beitragen.¹⁰ Kommunikatives Handeln stellt darum nicht nur das Medium der Vergesellschaftung, sondern auch der kulturellen Reproduktion und sozialer Integration von Gesellschaften dar. Über seine Verwendung in phänomenologischen und hermeneutischen Traditionen hinaus führt Habermas dementsprechend ein sprachtheoretisch begründetes Lebensweltkonzept ein, demzufolge ihre Grund-

 Habermas 1988b, S. 209.  Habermas 1988b, S. 233. Aus diesem Grund verkörpern Kommunikationsbeziehungen eine doppelte moralische Bedeutung, weil in ihren „Ermöglichungsbedingungen“, so führt Wingert besonders deutlich aus, zwei Grundformen moralischer Achtung angelegt sind: der Respekt gegenüber Individuen als gleichberechtigte Angehörige einer kommunikativen Lebensform sowie als unvertretbare, einzigartige Wesen. Siehe dazu Wingert 1993, S. 179 ff.  Siehe Habermas 1981b, S. 182.

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strukturen, ausgehend von den immanenten Funktionen verständigungsorientierten Handelns, expliziert werden müssen – den für kommunikative Interaktionsformen kennzeichnenden „Vorgängen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation entsprechen die strukturellen Komponenten der Lebenswelt Kultur, Gesellschaft und Person“.¹¹ Im Hinblick auf den Habermas’schen Freiheitsbegriff hat dies zunächst zur Folge, dass die Einzelnen sich erst als sprach- und handlungsfähige Subjekte auszubilden vermögen, wenn sie im Rahmen kommunikativ strukturierter Lebenszusammenhänge drei miteinander verbundene Vorgänge durchführen: die Aneignung kulturell gültiger sinnstiftender Deutungsmuster, die Integration in Ordnungen gesellschaftlicher Solidarität und die intersubjektive Formierung der eigenen Persönlichkeit. Nur im Rahmen eines Netzwerks von sprachlich vermittelten Interaktionen können sie danach jene freiheitsermöglichenden Lernprozesse durchführen und dadurch eine persönliche und soziale Identität erwerben¹², sodass die Ausbildung und Aufrechterhaltung ihres praktischen Selbstverständnisses eng mit Kommunikationsbeziehungen verflochten ist: „Die Option für den langfristigen Ausstieg aus Kontexten verständigungsorientierten Handelns und damit aus kommunikativ strukturierten Lebensbereichen bedeutet den Rückzug in die monadische Vereinsamung strategischen Handelns – er ist auf die Dauer selbstdestruktiv.“¹³ Kommunikative Interaktionen stellen nach Habermas allerdings keinen dem geschichtlichen Wandel entzogenen normativen Bezugsrahmen dar. Mit der Idee eines moralisch-praktischen Lernprozesses versucht er vielmehr die für moderne Gesellschaften kennzeichnende Ausdifferenzierung und Rationalisierung lebensweltlicher Strukturen und deren Folgen für die freiheitsermöglichenden kommunikativen Praktiken ihrer Mitglieder zu bezeichnen. In seinem Entwurf einer Theorie sozialer Evolution lässt er sich bekanntermaßen von der Vorstellung leiten, dass die Entwicklungslogik der Strukturen der Lebenswelt durch ein wachsendes Reflexivwerden, das sich nicht auf die Erneuerungen in der Beherrschung der äußeren Natur reduzieren lasse, gekennzeichnet sei. Es gebe dagegen zwei zwar verbundene, aber miteinander nicht zu verwechselnde, eigentümliche Modernisierungsprozesse: zum einen eine fortschreitende Steigerung der Komplexität von auf die Gewährleistung materieller Reproduktion ausgerichteten und deshalb zweckrational organisierten Systemen, die in modernen Gesellschaften zur Herausbildung einer monetär regulierten Wirtschaft

 Habermas 1981b, S. 209. „Indem sich die Interaktionsteilnehmer miteinander über ihre Situation verständigen, stehen sie in einer kulturellen Überlieferung, die sie gleichzeitig benützen und erneuern; indem die Interaktionsteilnehmer ihre Handlungen über die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche koordinieren, stützen sie sich auf Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und bekräftigen gleichzeitig deren Integration; indem die Heranwachsenden an Interaktionen mit kompetent handelnden Bezugspersonen teilnehmen, internalisieren sie die Wertorientierungen ihrer sozialen Gruppe und erwerben generalisiertes Handlungsfähigkeiten.“ Habermas 1981b, S. 208.  Habermas 1981b, S. 206.  Habermas 1984b, S. 488. Vgl. auch Habermas 1983, S. 112.

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und einer bürokratisch organisierten Verwaltung führen, und zum anderen die moralisch-praktische Rationalisierung von normativen Weltbildern, die wachsende reflexive Brechung symbolisch vermittelter gesellschaftlicher Reproduktion, die sich hauptsächlich in den universalistischen Prinzipien der posttraditionalen Moral sowie des modernen Rechtssystems niederschlüge.¹⁴ Im Zuge dieses Prozesses einer „Versprachlichung des Sakralen“ wird nach Habermas allmählich die innewohnende Rationalität kommunikativer Alltagspraxis freigesetzt, sodass die Subjekte nun in vielen Lebensbereichen, die bisher durch bloß traditionsgesicherte Konsense reguliert waren, ein auf reziproker Verständigung basiertes Einverständnis erzielen müssen. Mit der Rationalisierung und Herausbildung posttraditionaler Lebenswelten eröffnet sich für die Mitglieder moderner Gesellschaftsformen daher eine Reihe an neuen Freiheitsmöglichkeiten: Dort, wo bislang unbestreitbare normative Richtlinien galten, tritt nun die Möglichkeit, durch kommunikatives Handeln Handlungsverpflichtungen konsensuell einzugehen. Die für moderne Gesellschaften kennzeichnende wachsende Komplexität von ökonomischen und politischen Subsystemen wird ebenso durch diese Freisetzung kommunikativer Rationalität ermöglicht, weil eine solche ethisch neutralisierte Sphäre immer noch einer institutionellen Basis, einer Verankerung in normativ regelten lebensweltlichen Zusammenhängen bedarf. Aus dieser Erweiterung von Freiheitsmöglichkeiten ergibt sich für die Mitglieder moderner Gesellschaften jedoch zugleich die Notwendigkeit, eine Art von „interrelationalen“ Fähigkeit auszubilden¹⁵, sofern sie innerhalb einer zunehmend auf Konsensbildung angewiesenen und ausdifferenzierten Lebenswelt nun auf kommunikativem Wege die Vorgänge der kulturellen Reproduktion, sozialer Integration und Sozialisation durchführen sowie – im Fall von handlungsrelevanten Konflikten – ihre jeweiligen Geltungsansprüche argumentativ einlösen müssen. Mit der wachsenden Rationalisierung der symbolischen Reproduktion von Lebenswelten, die in modernen Gesellschaften schließlich zur Ausdifferenzierung ihrer Strukturen (Kultur, Gesellschaft, Person) führt, eröffnen sich folglich Freiheitsmöglichkeiten, die ständig auf die kommunikative Verständigung von Subjekten angewiesen bleiben und daher die Chancen von Konflikten und Dissensen nicht ausschließen, sondern gleichsam erhöhen. Der damit überforderte Mechanismus sprachlicher Konsensbildung wird jedoch nach Habermas zugleich dadurch entlastet, dass in modernen Gesellschaften „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“ (Talcott Parsons), etwa das Geld und das positive Recht, institutionalisiert werden, mit denen entsprachlichte, nicht verständigungsorientierte Interaktionsbeziehungen möglich gemacht werden. Sie entlasten demnach von der Notwendigkeit, in vielen Lebensbereichen auch Verständigungspraktiken zu vollführen, bringen allerdings die ständige Gefahr mit sich, sich über ihren eigentlichen Geltungsbereich hinaus auszudehnen und die freiheitsermöglichenden Strukturen der Lebenswelt schließlich zu verzerren.

 Zusammenfassend dazu Habermas 1981b, S. 230 ff.  Zum Begriff einer „interrelationalen Urteilskraft“ vgl. Seel 2002.

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Mit seiner hier nur grob dargestellten Konzeption der zu modernen Gesellschaften führenden Rationalisierungsprozesse bringt Habermas eine ambivalente geschichtliche Entwicklung zum Ausdruck; denn mit der Rationalisierung normativer Strukturen wachsen die Chancen, parallel aber auch die Risiken einer nunmehr hauptsächlich durch kommunikative Bildungsprozesse zu sichernden individuellen Autonomie: Je weiter sich die Strukturen einer Lebenswelt ausdifferenzieren, um so klarer sieht man, wie die wachsende Selbstbestimmung des individuierten Einzelnen mit der zunehmenden Integration in vervielfältige soziale Abhängigkeiten verschränkt ist. Je weiter die Individuierung fortschreitet, um so weiter verstrickt sich das einzelne Subjekt in ein immer dichteres und zugleich subtileres Netz reziproker Schutzlosigkeiten und exponierter Schutzbedürftigkeiten.¹⁶

Diese Einsicht einer unter historisch neuartigen kommunikativen Voraussetzungen zu gewährleistenden persönlichen Autonomie wird Habermas dann als Leitfaden dienen, um eine intersubjektivitätstheoretische Diagnose von modernen Sozialpathologien auszuformulieren. Ebenso wie das Kriterium der Naturbeherrschung in Horkheimers Kapitalismuskritik stellt das Vorbild kommunikativer Freiheit insofern keinen rein anthropologischen Maßstab dar; denn Habermas lässt sich zwar stets von der Überzeugung leiten, dass die praktische Identität und das Selbstverständnis von Subjekten strukturell auf kommunikative Verhältnisse angewiesen ist, unverzerrte freiheitsermöglichende Kommunikationsbeziehungen sind aber nur unter Betrachtung der spezifischen symbolischen Strukturen moderner Lebenswelten zu explizieren. Das Kriterium einer sprachtheoretischen Pathologiendiagnose bezieht sich daher einerseits auf das in der kommunikativen Alltagspraxis selbst eingebauten Telos der Verständigung, das aber andererseits erst im historischen Zusammenhang mit rationalisierten Lebenswelten allmählich freigesetzt wird und zur Schaffung von neuen Freiheitsräumen sowie von neuen Gefährdungen führt. Der aus Kommunikationspathologien resultierende Freiheitsverlust wird insofern (wie schon für Horkheimer, aber unter ganz anderen Prämissen) eine Art von überflüssiger Einschränkung menschlicher Freiheit darstellen, die erst unter spezifisch modernen lebensweltlichen Voraussetzungen möglich wird. Zum genaueren Verständnis von Habermasʼ Diagnose der Pathologien moderner Gesellschaften, die letztlich auf seine berühmte These einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“ hinausläuft, müssen hier zunächst einige methodische Vorüberlegungen und kategoriale Unterscheidungen herangezogen werden. Unter Sozialpathologien will Habermas nämlich eine besondere Art von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen verstanden wissen, die sich nicht einfach aus einer „Erzählerperspektive“ verstehen lassen; vielmehr handele es sich um Störungen von „höherstufige[n] Reproduktionsprozesse[n]“ oder „Erhaltungsimperative[n] von Lebenswelten“.¹⁷ Die Vermeidung einer hauptsächlich aus der Perspektive der Teilnehmer formulierten Pathologien-

 Habermas 1991a, S. 15.  Habermas 1981b, S. 208.

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diagnose wäre zudem besonders durch den Umstand begründet, dass die systematische Verzerrung von kommunikativen Beziehungen, sofern sie die interne Struktur der Sprache selbst beeinträchtigt, für die kommunikativ Handelnden eher unauffällig bleibt.¹⁸ Und aus demselben Grund wäre es nach Habermas schließlich auch unzulänglich, wenn jemand beabsichtigte, pathologische Kommunikationsverhältnisse einfach mit allgemeinen statistischen Angaben festzustellen.¹⁹ Ebenso unzureichend wäre es andererseits von sozialen Pathologien nur in dem Sinne zu sprechen, wie es für den Fall somatischer Krankheiten charakteristisch ist. Denn der Sollzustand von sozialen Verhältnissen sei nicht einfach nach dem Grad der Erfüllung von Funktionen zu bestimmen, sondern immer auch nach normativen Maßstäben, die das gesellschaftliche Selbstverständnis weitgehend prägen. Gleichwohl bedeutet dies nicht, so hebt Habermas auch hervor, dass eine Diagnose von Kommunikationspathologien einzig und allein auf der Grundlage eines bloß deskriptiven Maßstabs verfahren muss, das heißt unter dem kulturalistischen Gesichtspunkt, demzufolge es so viele mögliche Bewertungen gesellschaftlicher Pathologien wie normative, kulturabhängige gesellschaftliche Selbstverständnisse gibt. Habermas hingegen beharrt darauf, dass sich invariante Voraussetzungen kommunikativer Freiheit feststellen lassen – eine kommunikationstheoretische Pathologiendiagnose setzt sich insofern als Ziel, „den normativen Gehalt explizit [zu machen], der im Begriff sprachlicher Kommunikation selber angelegt ist. Der Ausdruck ‚unverzerrte Kommunikation‘ fügt dem der sprachlichen Verständigung nichts hinzu.“²⁰ Wie oben angemerkt, ist aber dieser normative Gehalt immer zugleich durch die jeweiligen historischen Bedingungen der symbolischen Strukturen der Lebenswelt maßgeblich mitgeprägt, woraus die Ansicht folgt, dass es nach Habermas eine freiheitsermöglichende kommunikative Infrastruktur moderner Gesellschaftsformen überhaupt gäbe – also allgemeine Kommunikationsverhältnisse, die über spezifische kulturelle Selbstverständigungen hinaus festzustellen möglich wären. Sozialpathologien sind nach Habermasʼ Verständnis auch von Steuerungskrisen oder Störungen materieller Reproduktion kategorial zu unterscheiden. Denn während Funktionsstörungen im Rahmen von mediengesteuerten Systemen der Ökonomie und des Staats durch „Systemungleichgewichte“ ausgelöst werden, die erst dann als „Krisen“ auftreten, wenn die gestörten Subsysteme die gesellschaftlichen Ansprüche nicht mehr länger angemessen erfüllen können, stellen Kommunikationspathologien eine andere Art sozialen Missstands dar, der die normativen Grundlagen von Gesellschaften selbst betrifft. Zwar können systemische Krisen auch die symbolische Reproduktion der Lebenswelt belasten und insofern zu praktischen Reaktionen seitens der lebensweltlich eingebetteten Akteuren – „Konflikte und Widerstandsreaktionen“ – führen²¹; daraus folgen aber erst pathologische Effekte, so Habermas, wenn man die auftretenden Stö   

Habermas 1981b, S. 225. Siehe Habermas 1984a, S. 227 ff. Habermas 1984a, S. 232 f. Habermas 1981b, S. 565.

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rungen durch normative Ressourcen der sozialen Integration langfristig abzuschwächen versucht.²² Auch von Gerechtigkeitsfragen unterscheiden sich Kommunikationspathologien, und zwar dadurch, dass sie auf einer tieferen Ebene von kommunikativ aufrechterhaltenen Sozialbeziehungen zu verorten sind. Denn während Gerechtigkeitsfragen typischerweise aus der Abweichung einer sozial anerkannten Norm hervorgehen und daher zum möglichen Gegenstand eines argumentativen Diskurses werden können, „[verletzen] verzerrte Kommunikationen keine Handlungsnormen, die aus kontingenten Gründen soziale Geltung genießen, sondern allgemeine Kommunikationsvoraussetzungen, die sich keineswegs mit zufälligen normativen Kontexten ändern“.²³ Im Vergleich zu Gerechtigkeitsfragen weist demnach die Idee von kolonialisierten Kommunikationsverhältnissen auf eine gleichsam vorausliegende Dimension sozialen Lebens hin, in der die Möglichkeit kommunikativer Freiheit selbst – und nicht nur die argumentative Einlösung von Geltungsansprüchen – auf dem Spiel steht.²⁴ Anders als Horkheimers Ansatz entstehen nach Habermasʼ Kolonialisierungsthese ansonsten verdinglichende gesellschaftliche Vorgänge nicht unmittelbar aus der kapitalistischen, mediengesteuerten Organisation gesellschaftlicher Arbeit, sondern erst dann, wenn die für moderne Gesellschaften bezeichnende Spannung zwischen Prinzipien gesellschaftlicher Integration (das heißt die Spannung zwischen systemisch und sozial integrierten Sphären)²⁵ so geartet ist, dass systemische Zwänge fortwährend in die von verständigungsorientiertem Handeln abhängigen Strukturen der Lebenswelt eindringen und deren symbolische Reproduktion kolonialisieren und verzerren.²⁶ In diesem Sinne stellen Sozialpathologien nach Habermas eine Art von

 Habermas 1981b, S. 452.  Habermas 1984a, S. 244 f.  In diesem Sinne hält Habermas beispielsweise fest: „Diese auf intersubjektive Anerkennung angewiesenen Identitätsansprüche dürfen nicht mit den Geltungsansprüchen verwechselt werden, die der Aktor mit seinen Sprechakten erhebt. Denn das ‚Nein’, mit dem der Adressat ein Sprechangebot zurückweist, berührt die Gültigkeit einer bestimmten Äußerung, nicht aber die Identität des Sprechers. Dieser könnte freilich nicht auf die Akzeptanz seiner Sprechhandlungen rechnen, wenn er nicht schon voraussetzte, daß er vom Adressaten als jemand ernst genommen wird, der sein Handeln an Geltungsansprüchen orientieren kann. Einer muß den anderen als zurechnungsfähigen Aktor anerkannt haben, sobald er ihm zumutet, zu seinem Sprechangebot mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ Stellung zu nehmen. So erkennt im kommunikativen Handeln jeder im anderen die eigene Autonomie.“ Habermas 1988b, S. 230.  Habermas 1981a, S. 459.  Im Hintergrund dieser Ansicht steht die viel diskutierte sozialtheoretische Grundprämisse, derzufolge die materielle Reproduktion von Gesellschaften ohne pathologische Nebenwirkungen auf mediengesteuerte Interaktionen umgestellt werden kann. Dabei lässt Habermas sich wesentlich von der Annahme leiten, dass „während für die symbolische Reproduktion der Lebenswelt am sozialen Handeln der Aspekt der Verständigung relevant ist, ist der Aspekt der Zwecktätigkeit wichtig für die materielle Reproduktion. Diese vollzieht sich durch das Medium von zielgerichteten Eingriffen in die objektive Welt“. Habermas 1981b, S. 340. Man hat insbesondere kritisiert, dass Habermas damit aus

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„strukturelle[r] Gewalt“ dar, die die „kommunikative Infrastruktur“ der Gesellschaft selbst angreift.²⁷ Eine solche Tendenz zum Eindringen von systemischen Imperativen in kommunikativ strukturierte Lebensbereiche bezeichnet Habermas zufolge ein Grundmerkmal der Entwicklungslogik von kapitalistischen Gesellschaften, da sie ein „systemisch induzierte[s] Übergewicht der ökonomischen und bürokratischen, überhaupt der kognitiv-instrumentellen Formen der Rationalität inmitten einer vereinseitigten oder ‚entfremdeten’ kommunikativen Alltagspraxis“ aufweisen.²⁸ Diese strukturell bedingte Neigung, die sozialintegrativen Leistungen von Lebenswelten unter instrumentellen Gesichtspunkten unterzuordnen, komme in den Monetarisierungs- und Bürokratisierungstendenzen von privaten und öffentlichen Lebensbereichen deutlich zum Ausdruck sowie in der damit zusammenhängenden Aushöhlung und Neutralisierung von auf kommunikative Interaktionsbeziehungen angewiesenen „sozialen Rollen“ (etwa der Staatsbürgerrolle, die auf die „Wählerrolle“ reduziert wird), die die Durchsetzung von kapitalistischen Modernisierungsprozessen bezeichnen.²⁹ Dass Habermasʼ Bewertungsmaßstab von Sozialpathologien entscheidend durch die in modernen sozialen Lebensformen eröffneten Freiheitsmöglichkeiten mitbestimmt ist, ist daran deutlich zu erkennen, dass Kolonialisierungstendenzen nach ihm auch notwendig von der Enttraditionalisierung von Lebenswelten unterschieden werden müssen. Denn pathologische Effekte seien nicht notwendig mit den Entkoppelungs- und Mediatisierungsprozessen von lebensweltlichen Handlungskontexten verbunden, die zur Herausbildung von mediengesteuerten Systemen und sittlich neutralisierten Kommunikationsmedien geführt haben. Daraus ergeben sich, so Habermas, zwangläufig gesellschaftliche Indifferenzbeziehungen, sofern die tradierten lebensweltlichen Kontexte und die eingespielten Praktiken von Subjekten für die Handlungskoordination nicht mehr von besonderer Bedeutung sind.³⁰ Aus diesem Grund wird eine solche „Umstellung des Handelns auf Steuerungsmedien“, selbst wenn sie „eine Entlastung von Kommunikationsaufwand“ ermöglicht, aus der Perspektive der Handlungssubjekte notwendig „als eine Technisierung der Lebenswelt“ erfahren.³¹ Aus diesen Entkoppelungs- und Mediatisierungsprozessen könnte man jedoch die Entstehung von pathologischen Phänomenen nicht unmittelbar erschließen, denn nach Habermas würde die hier relevante Frage eigentlich so lauten, ob diese Entlastungsmechanismen die sprachliche Kommunikation nur kondensieren

handlungstheoretischen Kategorien unmittelbar Schlussfolgerungen für die Bezeichnung von sozialen Sphären zieht. Siehe dazu etwa Kneer 1990; Honneth 1989a.  Vgl. Habermas 1981b, S. 278 und 1984a, S. 244.  Habermas 2002, S. 342.  Siehe Habermas 1981b, S. 480 ff. und S. 506 ff.  Vgl. Habermas 1981b, S. 456.  Habermas 1981b, S. 273.

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und spezialisieren oder aber zu einer Entwertung und Kolonialisierung von Verständigungspraktiken führen.³² Auf diese begriffliche Unterscheidung zwischen Mediatisierung und Kolonisierung der Lebenswelt stützt sich Habermas ganz deutlich in seiner Darstellung der historischen Entstehung des kapitalistischen Arbeitsmarkts. Mit der Etablierung des kapitalistischen Betriebs geht notwendigerweise, so stellt er fest, ein Indifferenzverhältnis einher, da die Produktionszusammenhänge von den lebensweltlichen Strukturen der Familie und der Persönlichkeit abgekoppelt werden. Daraus würde aber nicht unbedingt eine Verzerrung von Kommunikationsbeziehungen folgen, da die Verständigungspraktiken nicht unmittelbar kolonisiert, sondern eher nur in den Hintergrund von nunmehr sittlich neutralisierten Interaktionen geschoben werden.³³ Ein ähnliches Argumentationsmuster lässt sich mit Bezug auf die Verrechtlichung kommunikativer Beziehungen erkennen. Denn Pathologien entstehen selbstverständlich nicht unmittelbar durch die Schaffung von neuen Rechtsverhältnissen, mit denen die Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern tatsächlich in vielerlei Hinsichten erweitert wird, sondern indem „sie sich an die vorgängigen Institutionen der Lebenswelt anschließen und sozial integrierte Handlungsbereiche überformen“.³⁴ Die hier entscheidende Frage besteht folglich darin, ob sie „sozial integrierte Zusammenhänge“ ausschließlich ergänzen oder aber „auf das Medium Recht umstellen“.³⁵ Die Rationalisierung moderner Lebenswelten führt Habermas zufolge andererseits auch dazu, dass im Rahmen der modernen Kultur eigensinnige Wertsphären und Expertenkulturen entstehen, die auf je eigene Gesetzmäßigkeiten und Diskurse ausgerichtet sind – und zwar auf theoretische (Wissenschaft), ästhetische (Kunst) und moralisch-praktische Problemstellungen (Moral- und Rechtstheorie). Es wäre aber unzulänglich, so Habermas, aus dieser Enttraditionalisierung unmittelbar auf einen kulturellen Sinnverlust für moderne Gesellschaften zu schließen.³⁶ In diesem Zusammenhang könnte man erst von einer verzerrten kommunikativen Praxis sprechen, wenn die lebensweltlichen Sinnzusammenhänge so kolonialisiert und deshalb verarmt sind, dass sich die in der modernen Kultur auseinandergetretenen Momente praktischer Vernunft nicht mehr im Vollzug kommunikativer Alltagspraxis versöhnen

 Vgl. dazu Habermas 1981a, S. 497.  Das liegt daran, dass „[a]uch innerhalb formal organisierter Handlungsbereiche sich die Interaktionen noch über den Mechanismus der Verständigung [vernetzen]. Wenn alle genuinen Verständigungsprozesse aus dem Inneren der Organisation verbannt würden, ließen sich weder die formal geregelten Sozialbeziehungen aufrechterhalten noch die Organisationsziele verwirklichen.“ Habermas 1981b, S. 459.  Habermas 1981b, S. 537.  Habermas 1981b, S. 542.  Damit will Habermas besonders von denjenigen Zeitdiagnosen Abstand nehmen, die die Pathologien moderner Gesellschaften unmittelbar auf den Rationalisierungsprozess der Lebenswelt und deren Folgen zurückführen. Dieses Anliegen steht im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der neostrukturalistischen Vernunftkritik, die ihm zufolge eine „Mystifizierung handgreiflicher gesellschaftlicher Pathologien“ betreibt. Siehe Habermas 1985b, S. 214.

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lassen und deren reflexive Bearbeitung nur auf die spezialisierten Leistungen von Kulturexperten beschränkt bleibt.³⁷ Diese kategorialen Unterscheidungen haben den Einwand erweckt, dass Habermas in seiner Darstellung der Entstehungsprozesse kapitalistischer Gesellschaften gleichsam seinen eigenen Bewertungsmaßstab übersieht, da er jenen mit der ursprünglichen Entkoppelung von System und Lebenswelt verbundenen Belastungen (beispielsweise den beschädigenden Wirkungen der Umstellung der privaten Lebensführung auf ein allein durch das Geldmedium organisiertes Arbeitsverhältnis) keine besondere Aufmerksamkeit widmet.³⁸ Nach der hier geleisteten Rekonstruktion ließe sich jedoch erwidern, dass Habermasʼ Pathologiendiagnose auf einer anspruchsvollen Vorstellung kommunikativer Freiheit beruht, die nicht einfach formal anthropologisch ist, sondern selbst historische Maßstäbe in ihre Struktur mit einzubeziehen versucht. Mit ihr sollte man demnach nicht verleugnen, dass Abstraktionsund Entkoppelungsprozesse zwangsläufig beschädigende Nebenfolgen für in traditionellen Lebenswelten vergesellschafteten Subjekten haben. Allerdings würde die Pointe einer kommunikationstheoretischen Pathologiendiagnose gerade darin bestehen, dass die in modernen Lebenswelten bereits verfügbaren Freiheiten als Folge der Entwicklungslogik kapitalistischer Gesellschaften verzerrt werden. Kommunikationspathologien wären folglich moderne soziale Missstände in dem anspruchsvollen Sinne, dass sie erst unter posttraditionellen lebensweltlichen Bedingungen möglich werden: „[E]ine fortschreitende Rationalisierung der Lebenswelt [garantiert] keineswegs störungsfreie Reproduktionsprozesse. Mit dem Grad der Rationalisierung verschiebt sich lediglich das Niveau, auf dem Störungen auftreten können.“³⁹ Die Entstehungsbedingungen von Sozialpathologien liegen somit in den posttraditionellen, die Autonomie von Subjekten begünstigenden Lebenswelten, sodass sie – nicht völlig anders als in Horkheimers Ansatz – eine paradoxe Entwicklung der modernen Freiheit zum Vorschein bringen. Besonders deutlich beschreibt Habermas dieses Paradox mit Bezug auf die Entstehungsbedingungen von mediengesteuerten Handlungssystemen und deren kolonialisierenden Tendenzen: „[D]ie rationalisierte Lebenswelt ermöglicht die Entstehung und das Wachstum der Subsysteme, deren verselbstständigte Imperative auf sie selbst destruktiv zurückschlagen.“⁴⁰ Die Verursachung sozialer Pathologien führt Habermas somit auf die vereinseitigte Entwicklungslogik der kennzeichnenden Modernisierungsprozesse kapitalistischer Gesellschaftsformen zurück, infolge derer sich die durch die Entzauberung der

 Dass kommunikativer Alltagspraxis ein „ausgleichendes Zusammenspiel“ zwischen den Momenten praktischer Vernunft innewohnt, wird von Habermas mit sprachpragmatischen Mitteln begründet – das heißt unter dem Gesichtspunkt, dass die Struktur kommunikativen Handelns durch die formalpragmatische Einheit von drei allgemeinen Geltungsansprüchen (Wahrheit, Richtigkeit und Authentizität) gekennzeichnet ist. Siehe dazu Habermas 1981a, S. 34 ff. und Habermas 1981b, S. 97 ff.  Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen von Kneer 1990, S. 168 f.  Habermas 1981b, S. 221.  Habermas 1981b, S. 277.

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traditionellen Weltbilder und die Rationalisierung von Lebenswelten allmählich herausgebildeten Freiheitsmöglichkeiten nur partiell oder beschränkt zur Verwirklichung bringen lassen. Es handelt sich demnach, so hebt er selbst hervor, um eine „ungleichmäßige Ausschöpfung von kulturell verfügbar gemachten Rationalitätspotentialen“.⁴¹ Es ist diese „einseitige Rationalisierung“, die dazu führt, dass sich in kapitalistischen Gesellschaften „kognitiv-instrumentelle Rationalität auf Kosten praktischer Rationalität durchsetzt“.⁴² Für meine eigene Fragestellung ist es nun besonders wichtig zu betonen, dass Habermas zufolge soziale Pathologien, indem sie die kommunikativen Grundlagen posttraditioneller sozialer Lebensformen verzerren, nicht nur die symbolische Reproduktion der Gesellschaft, sondern damit zugleich auch die Autonomie von kommunikativ vergesellschafteten Individuen beeinträchtigen. Kommunikationspathologien, die – wie gesagt – als höherstufige Reproduktionsstörungen verstanden werden müssen, schlagen sich insofern letztlich in „subjektiv erfahrenen identitätsbedrohenden Krisen“ nieder, die Habermas auf der Grundlage der ausdifferenzierten Strukturen der Lebenswelt als Phänomene des Sinnverlusts, der Anomie und der Entstehung seelischer Krankheiten (Psychopathologien) interpretiert.⁴³ Dabei geht er von der Feststellung aus, dass mit der systematischen Deformation kommunikativer Infrastruktur von Lebenswelten notwendig subjektiv beschädigende Erfahrungen einhergehen, die die Autonomiechancen von Subjekten überflüssig – das heißt im Widerspruch zu den in modernen Gesellschaften bereits gegebenen Freiheitsmöglichkeiten – einschränken. Es handelte sich jedoch nicht um eine bloß äußerliche Einschränkung, sondern vielmehr um eine innere Deformation von Kommunikationsverhältnissen, aus der dann eine ebenso tiefe subjektive Beeinträchtigung hervorgeht: Als Folge der Kolonisierung von Lebenswelten erfahren die Subjekte letztlich einen Freiheitsverlust, mit dem nichts weniger als die Vernünftigkeit ihrer kommunikativen Alltagspraxis beschädigt wird, sofern ihre reflexive Einheit (ihr innewohnendes vernünftiges Zusammenspiel von Geltungsansprüchen) zugunsten eines wachsenden Gewichts von rein instrumentellen Handlungsorientierungen zerbrochen wird.⁴⁴ Interessanterweise scheint Habermasʼ Pathologiendiagnose damit den Punkt zu erreichen, an dem eine kommunikationstheoretische Leidenskritik zu entfalten möglich wäre. Denn mit der These einer Kolonialisierung der Lebenswelt ist er nicht nur in

 Habermas 2002, S. 342.  Habermas 1981a, S. 485.  Vgl. Habermas 1981b, S. 215 und S. 452.  Insofern beschädigen Kommunikationspathologien jene vernünftige Dimension, die Habermas als „die innere Organisation der Rede“ versteht: „[D]ie internen Verbindungen zwischen Bedeutung und Geltung, Bedeutung und Intention sowie Bedeutung und Handlungsvollzug [werden] unterbrochen. […] Blockiert wird damit in der Tat jene Bewegungsfähigkeit […], [die] mit der performativen Einstellung des kommunikativ Handelnden verknüpft und insofern in einer Praxis verankert [ist], die der Argumentation vorausliegt.“ Habermas 2002, S. 343.

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die Lage versetzt, gesellschaftliche Störungen mit individuellen Beeinträchtigungen kategorial zu verbinden, sondern auch – wie bereits für die materialistische Leidenskritik kennzeichnend war – einen historisch geprägten Maßstab in das Erklärungsmuster negativer Erfahrungen mit einzubeziehen. Es erscheint daher nicht abwegig, diese Argumentation im Sinne einer Umformulierung der Vorstellung einer zweiten Natur von modernen sozialen Lebensformen zu betrachten und sie als Leitfaden einer kommunikationstheoretischen Leidenskritik anzunehmen: Dort wo in Horkheimers Ansatz der historisch erreichte Grad der Naturbeherrschung stand, treten nun die ebenso historisch sich wandelnden Vorbedingungen kommunikativer Freiheit, der historische Grad der Rationalisierung von Lebenswelten also, als entscheidender Maßstab für die Erkennung von überflüssigen Leidenserfahrungen.⁴⁵ Genau auf eine solche Prämisse greift Habermas zurück, indem er beispielsweise behauptet: Auf der Stufe posttraditionaler Lebensformen zählt der Schmerz, den das Aufeinandertreten von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit denen, die in moderne Gesellschaften hineinwachsen und darin ihre Identität ausbilden, auch zufügt, als Prozeß der Individuierung und nicht als Entfremdung. Verdinglichung darf sich in einer weitgehend rationalisierten Lebenswelt nur noch an Bedingungen kommunikativer Vergesellschaftung überhaupt, nicht an einer nostalgisch beschworenen, oft romantisierten Vergangenheit vormoderner Lebensformen bemessen.⁴⁶

Die damit angedeutete Möglichkeit einer kommunikationstheoretischen Ätiologie sozialen Leidens entwickelt Habermas jedoch nicht weiter. Denn auch wenn sich viele negative Erfahrungen, die aus dem Prozess der Kolonialisierung der Lebenswelt hervorgehen, tatsächlich im Sinne von sozial verursachten Leiden interpretieren ließen (beispielsweise die „Fragmentierung der Persönlichkeit“), nimmt Habermas den Leidensbegriff nicht mehr (oder jedenfalls nicht systematisch) in Anspruch, was ihn von den kennzeichnenden Absichten früher kritischer Gesellschaftstheorie abtrennt. Wenn man dafür eine Erklärung umreißen will, sollten meiner Ansicht nach drei wesentliche Gründe herausgestellt werden. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass Habermas den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und sozialen Leidenserfahrungen anders als Horkheimers materialistische Leidenskritik interpretiert. Denn in seiner Pathologiendiagnose geht er von der Überzeugung aus, dass „die relative Gewichtung zwischen Sozial- und Systemintegration“, also jene für die Erkennung von Sozialpathologien bestimmende

 Nach Habermas stellt es gerade eine der Schwächen in Marx‘ Entfremdungskonzept dar, dass ihm ein „historische[r] Index“ fehlt: „Marx verwendet es für die Kritik jener Lebensverhältnisse, die mit der Proletarisierung von Handwerkern, Bauern und ländlichen Plebejern im Laufe der kapitalistischen Modernisierung entstanden sind. An dieser repressiven Entwurzelung traditionaler Lebensformen kann er aber den Aspekt der Verdinglichung von dem der strukturellen Ausdifferenzierung nicht unterscheiden.“ Habermas 1981b, S. 502.  Habermas 1981b, S. 503.

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Schwelle, „eine schwierige, und allein empirisch zu entscheidende Frage [ist]“.⁴⁷ Im Hintergrund steht hier die Einsicht, dass zwar die Entwicklungslogik von kapitalistischen Gesellschaften durch eine Tendenz zur Kolonialisierung der Lebenswelt gekennzeichnet ist, soziale Pathologien aber keine strukturell notwendigen Phänomene darstellen. Die schädlichen Wirkungen von systemischen Mechanismen können immer vermieden werden, sobald sie nur auf zweckrational organisierte Lebensbereiche beschränkt bleiben. Die destruktiven Kräfte kapitalistischer Verwertungslogik lassen sich insofern – ganz anders als Horkheimers Überzeugung – demokratisch eindämmen. Unschwer lässt sich dann daraus schließen, dass soziale Leidenserfahrungen für Habermas nicht länger als notwendige Erscheinungen einer durch den Kapitalismus geprägten sozialen Lebensform gelten. Andererseits lässt sich auch erkennen, dass sich die Art von subjektiver Beeinträchtigung, die Habermas mit Sozialpathologien verbindet, kaum mit konkreten negativen Erfahrungen illustrieren lässt. Es handelt sich nach ihm, wie gesagt, um eine „an der Geltungsbasis der Rede ansetzende Verzerrung“⁴⁸, an der eine Schädigung der kommunikativen Interaktionsfähigkeiten von Subjekten abzulesen möglich wäre. Da aber diese kommunikativen Fähigkeiten nach sprachpragmatischen Annahmen – die reflexive Einheit von Geltungsansprüchen – aufgefasst werden, ergibt sich daraus ein sehr abstraktes, ja rationalistisches Verständnis der mit sozialen Pathologien verbundenden individuellen Belastungen.⁴⁹ Zusätzlich ist Habermas auch davon überzeugt, dass in der Struktur von Kommunikationsphatologien selbst ein Naturalisierungs- oder Dethematisierungseffekt angelegt sei: Da sie eine tiefere Dimension kommunikativer Alltagspraxis beschädigen, üben sie eine „strukturelle Gewalt [aus], die sich, ohne manifest zu werden, der Form der Intersubjektivität möglicher Verständigung bemächtigt“.⁵⁰ Diese notwendige „subjektive Unauffälligkeit“ von verzerrten Kommunikationsverhältnissen⁵¹ scheint dann aus einer anderen Perspektive die Einsicht zu bekräftigen, dass Habermasʼ Diagnose überhaupt jene erfahrungsnahe Bedeutung fehlt, die eben für den Leidensbegriff auszeichnend ist. Ein letzter Grund, mit dem ich mich ausführlicher beschäftigen möchte, hängt gerade mit dem Begriff „Leiden“ zusammen. Besonders deutlich scheint Habermas in seinen diskursethischen Überlegungen die Ansicht zu vertreten, dass Leidenserfah-

 Habermas 1981b, S. 462. So hält er beispielsweise hinsichtlich der Bürokratisierung fest: „Ob sich aus der Tatsache, daß Handlungssysteme über den lebensweltlichen Horizont hinauswachsen und von den Aktoren nicht mehr als Totalität erfahren werden, Identitätsprobleme ergeben, ist allerdings eine andere Frage. Solche Probleme stellen sich nur dann unausweichlich, wenn wir mit einer unaufhaltsamen Tendenz zur immer weitergehenden Bürokratisierung rechnen müssen.“ Habermas 1981b, S. 461.  Habermas 1984a, S. 244.  Auf diesen Mangel wird Honneth besonders hinweisen, um die Notwendigkeit einer Ersetzung des Kommunikations- durch den Anerkennungsbegriff zu begründen. Siehe dazu auch Renault 2010.  Kommunikationspathologien treten auf, „obgleich der Sprecher die Grundlage konsensuellen Handelns nicht mit Absicht verläßt“. Habermas 1984a, S. 248.  Habermas 1981b, S. 278. Diese Eigenschaft von verzerrter Kommunikation arbeitet besonders M. Löw-Beer heraus.Vgl. Löw-Beer 1990, S. 147 ff.

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rungen, sofern sie notwendigerweise im ethischen Horizont von partikularen Lebensformen verankert sind, nur mittelbar in den gerechtigkeitstheoretischen Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie einbezogen werden können. An dieser Prämisse, die ich im Folgenden klären möchte, lässt sich eine Neubestimmung des Zusammenhangs zwischen sozialen Leidenserfahrungen und gerechtigkeitstheoretischen Reflexionen erkennen, als es bisher für die materialistisch fundierte Kritische Theorie kennzeichnend gewesen war.

4.1.2 Diskurstheoretische Konzeption sozialer Gerechtigkeit Bisher habe ich versucht zu zeigen, dass Habermasʼ Pathologiendiagnose sich auf eine veränderte Auffassung der freiheitsermöglichenden zweiten Natur von sozialen Lebensformen stützt: Nicht mehr die gattungsgeschichtlichen Errungenschaften der Naturbeherrschung, sondern die Rationalisierung von kommunikativen Lebenswelten erlauben es den Subjekten, ihre Autonomiechancen unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen zu erweitern und durchzusetzen. Es ist allerdings schon zu fragen,, ob der Begriff „zweite Natur“ zur Bezeichnung von Habermasʼ Konzeption sozialer Lebensformen tatsächlich angemessen ist – vor allem deshalb, weil bei ihm die Bedeutung einer ersten Natur nicht mehr deutlich erkennbar ist.⁵² Die Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich davon ab, was genau mit der ersten Natur gemeint ist. Wenn mit ihr auf eine nicht nur vorsoziale, sondern tatsächlich antisoziale Kraft hingewiesen wird, die als solche eine konstitutive Unangepasstheit von Menschen an die jeweils etablierten Gesellschaftsformen betont, ist unschwer zu erkennen, dass bei Habermas eine derartige Vorstellung, wie sie etwa noch in den triebtheoretischen Überlegungen Marcuses oder Adornos sowie im Horkheimer’schen Motiv einer unaufhebbaren Vergänglichkeit zu erkennen möglich war, überhaupt fehlt. Anders steht es allerdings, wenn mit (erster) Natur eher nur auf eine Dimension menschlicher Existenzweise angespielt wird, die die Struktureigenschaften von sozialen Lebensformen und menschlichen Identitäten ständig in Form von Bildungserfordernissen prägt. In diesem Sinne lassen sich sowohl Habermasʼ sozialisationstheoretische Betrachtungen als auch (selbst wenn es weniger offensichtlich ist) wichtige Beweggründe seiner Diskursethik verstehen. Unter den Gesichtspunkten der Entwicklungspsychologie (Kohlberg, Piaget) beschreibt er bekanntlich die Formierung der inneren Natur von Menschen als eine allmähliche Dezentrierung und Herausbildung moralischer Urteilsfähigkeit, die die Einzelnen zur vollständigen Autonomie befähigt: „Eine Autonomie, die das Ich eines kommunikatives Zugangs zur inneren Natur beraubt, signalisiert auch Unfreiheit.“⁵³  Zu Habermasʼ Naturbegriff siehe auch Whitebook 1979 und Vogel 1996, S. 145 ff.  Habermas 1976b, S. 87 f. Auf der Grundlage dieser Einsicht entwickelt Benhabib ihren Versuch, die Diskursethik bezüglich der emanzipatorischen Kraft von sprachlich vermittelter „innerer Natur“ zu erweitern. vgl. Benhabib 1992, insb. S. 172 ff.

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Wenn hier der Begriff „Natur“ eher nur einen sozialisatorischen Sinn aufweist, da er sich hauptsächlich auf frühkindliche Erfahrungen bezieht, die im Lauf der Zeit zunehmend gesellschaftlich umgeformt werden, so ist in den Grundlagen von Habermasʼ Diskursethik dagegen die Vorstellung einer naturgegebenen und zugleich gesellschaftlich vermittelten Verletzbarkeit, das heißt einer „in der soziokulturellen Lebensform selbst angelegte[n] konstitutionelle[n] Gefährdung“⁵⁴, zu erkennen möglich, die ihm zufolge ein ständiges Bildungserfordernis für Gesellschaften darstellt. Aus dieser letzten Feststellung lassen sich dann einige Einsichten gewinnen, die für eine weitere Klärung von Habermasʼ Konzeption des sozialen Leidens besonders wertvoll sind. Zunächst einmal zeigt sich daran deutlich, dass Habermas die gemeinsame Verletzbarkeit menschlicher Wesen nicht mehr als unmittelbare Folge einer rein naturgegebenen Vergänglichkeit, sondern als Ausdruck des Umstands versteht, dass Subjekte ihre praktische Identität und Autonomie nur durch kommunikative Interaktionsbeziehungen ausbilden und sichern können. Aus dieser strukturellen Abhängigkeit von Kommunikationsbeziehungen würde sich dann „eine gleichsam konstitutionelle Gefährdung und chronische Anfälligkeit der Identität“⁵⁵ ergeben, sodass die ursprüngliche Verletzbarkeit von kommunikativ vergesellschafteten Einzelnen schon immer symbolisch durchstrukturiert und deshalb ihre natürlichen Eigenschaften von gesellschaftlichen Bedeutungen mitgeprägt wären: „Die konstitutionelle Gefährdung einer solchen an interpersonelle Beziehungen gleichsam ausgelieferten Persönlichkeitsstruktur ist der handgreiflicheren Versehrbarkeit der Integrität von Leib und Leben sogar vorgeordnet: die symbolische Gestalt der Identität kann schon zerfallen, wenn das physische Substrat noch intakt ist.“⁵⁶ Diese konstitutive Angewiesenheit auf intersubjektive Verhältnisse ist nach Habermas letztlich der Grund dafür, dass sich menschliche Leidenserfahrungen durch eine primäre Reflexivität auszeichnen: „[B]ei Tieren verschwindet diese Differenz zwischen personaler und leiblicher Integrität […] die Verletzungen, die der Mensch dem Tier zufügen kann, berühren nicht so etwas wie eine personale Identität – sie greifen unmittelbar dessen seelisch-körperliche Integrität an. Auch empfindet ein Tier seinen Schmerz nicht reflexiv wie ein Mensch, der mit dem Wissen leidet, daß er Schmerzen hat.“⁵⁷ Diese Vorstellung einer ursprünglichen und zugleich symbolisch vermittelten Versehrbarkeit menschlicher Wesen beschreibt Habermas zwar nicht ausführlich, setzt sie aber dennoch als Grundlage seiner Zielbestimmung des Moralischen ein: Moralische Institutionen sagen, wie wir uns gemeinsam verhalten sollen, um durch Schonung und Rücksichtnahme der extremen Verletzbarkeit von Personen entgegenzuwirken. Niemand kann seine Integrität für sich alleine behaupten. Die Integrität der einzelnen Person erfordert die Stabilisierung eines Geflechts symmetrischer Anerkennungsverhältnisse [… ] Die Moral zielt auf

   

Habermas 1991d, S. 223. Habermas 1991a, S. 15. Habermas 1991d, S. 174. Habermas 1991d, S. 223 f. Siehe dazu auch Wingert 1993, S. 173.

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eine in der Struktur sprachvermittelter Interaktionen angelegte chronische Anfälligkeit einer persönlichen Integrität, die der handgreiflichen Versehrbarkeit der leiblichen Integrität noch vorausliegt, mit dieser aber verschränkt ist.⁵⁸

Es ist daher nicht abwegig, seine gemeinsam mit K.-O. Apel entwickelte sprachtheoretische Begründung einer deontologischen Moralauffassung auch unter dem besonderen Gesichtspunkt zu interpretieren, welche Rolle der Leidensbegriff bei diesen Ausführungen spielt. In welchem Verhältnis steht diese diskurstheoretische Konzeption sozialer Gerechtigkeit, die – wie soeben erwähnt – von der Tatsache einer chronischen Anfälligkeit von sozialen Wesen ausgeht, mit den kennzeichnenden Absichten einer sozialphilosophischen Leidenskritik? So lautet folglich die Frage, auf die ich nun eingehen werde. Die Diskursethik vertritt bekanntermaßen den Standpunkt, dass sich aus einer rationalen Nachkonstruktion der formalpragmatischen Voraussetzungen von Sprechakten die prozeduralen allgemeinen Bedingungen spezifizieren lassen, unter denen eine verallgemeinerungsfähige und darum gerechte Begründung sozialer Normen möglich wäre. Da die zu diesem Zweck geführten moralisch-praktischen Diskurse (also diejenigen Argumentationsformen, mit denen sich moralisch relevante Handlungsnormen sowie institutionelle Ordnungen vernünftig prüfen und rechtfertigen lassen) als eine reflexive Fortsetzung kommunikativer Alltagspraxis verstanden werden, geht die Diskursethik von der Feststellung aus, dass sprachlich vermittelte Interaktionen sowohl das Medium, „dem die vergesellschafteten Subjekte ihre Verletzbarkeit verdanken“, als auch die innerweltliche Dimension darstellen, aus der sich „die zentralen Gesichtspunkten für eine Kompensation dieser Schwäche“ herausziehen lassen.⁵⁹ So wie die performative Einstellung der kommunikativ Handelnden im Alltagsleben unausweichlich auf die Unterstellung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft angewiesen ist, so sind kooperative Rechtfertigungsprozesse dadurch ausgezeichnet, dass sie in deren Strukturen einen moralischen Grundsatz (Universalisierungsprinzip) zum Ausdruck bringen, demzufolge allein diejenigen Normen, die mit der freien Zustimmung aller Betroffenen rechnen können, als gültig gelten dürfen.⁶⁰ Das diskursethische Begründungsverfahren besagt also, so Habermas, dass sich die Geltung von Normen allein aus Prozessen argumentativer Auseinandersetzung ergeben kann, durch die sowohl die

 Habermas 1991d, S. 223. Noch dazu: „Der Sinn des Moralischen erklärt sich aus der Antwort auf eine Herausforderung, die kommunikativ strukturierten Lebensformen als solchen inhärent ist: Personen können ihre zerbrechliche Identität als einzelne nur über ihre Zugehörigkeit zu einer intersubjektiven anerkannten normativen Ordnung stabilisieren.“ – Habermas 2009, S. 19.  Habermas 1991a, S. 17. Unter diesem Gesichtspunkt wird das Grundmotiv einer Mitleidsethik umformuliert: eine „Garantie gegenseitiger Schonung“ würde nicht mehr unter Betrachtung von rein „biologischen Schwächen“ begründet, sondern angesichts der Wichtigkeit eines „lebensnotwendigen Geflechts reziproker Anerkennungsverhältnisse, in denen die Personen ihre zerbrechliche Identität nur wechselseitig stabilisieren können“. Habermas 1991a, S. 15 f.  Habermas 1991a, S. 11 ff.

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Freiheit des Einzelnen wie auch die kommunikative Integrität des Gemeinwesens sichergestellt werden müssen: Die Diskursteilnehmer können eine herrschaftsfreie, autonome Stellungnahme zu moralischen Normen nur unter Verhältnissen bilden, die gleichzeitig zur Erhaltung der kommunikativen Grundlagen einer alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte umfassenden Gemeinschaft beitragen.⁶¹ Die Diskursethik begründet insofern, so stellt Habermas fest, eine besondere Art von moralischer „Schutzvorrichtung“ gegenüber jener chronischen Anfälligkeit von kommunikativ vergesellschafteten Einzelnen, die sich durch einen „inneren Zusammenhang der beiden Moralprinzipien“ – die Würde des Einzelnen und das Wohl der Gemeinschaft – auszeichnet.⁶² Hintergrund dieser Ausführungen ist offenbar jene kategoriale Unterscheidung zwischen Moral und Ethik, die für jede Kantische Moralkonzeption charakteristisch ist.⁶³ Denn Habermas zufolge soll eine kommunikationstheoretische Rechtfertigung der Moral zwei Arten von Fragestellungen streng unterscheiden: einerseits normative Fragen nach dem richtigen Handeln, die den Geltungsbereich von Moral- und Gerechtigkeitstheorien abstecken, und andererseits evaluative Fragen, in denen die Bedingungen eines guten Lebens und der menschlichen Selbstverwirklichung im Mittelpunkt stehen und den Gegenstand der Ethik bilden.⁶⁴ In moralischen Diskursen drücke sich daher ein Gebrauch praktischer Vernunft aus, der auf eine verallgemeinerungsfähige Begründung des richtigen Handelns, also auf die „gerechte Lösung eines Konfliktes im Bereich normenregulierten Handelns“ ausgerichtet sei. Moralische Argumentationen setzen insofern voraus, dass die Handlungsnormen nicht in Bezug auf ihre Angemessenheit für bestimmte Lebensformen, sondern allein unter Betrachtung ihrer allgemeinen Zustimmungsfähigkeit beurteilt werden, um dem normativen Ideal gegenseitiger Achtung aller Menschen tatsächlich Geltung zu verschaffen. Ethisch-existenzielle Diskurse seien dagegen Ausdruck eines wertorientierten Gebrauchs praktischer Vernunft, für den die Verwirklichung einer besonderen Konzeption des Guten als maßgebend gilt. Anhand dieser Diskurse werden Handlungsnormen demnach nicht mehr auf ihre normative

 Darin liegt nach Habermas die Verbindlichkeit von prozeduralistisch begründeten moralischen Normen: „Die Diskursethik wahrt, wenn auch um den Preis der Abkoppelung moralischer Grundsätze von Heilswegen und dichten ethischen Lebensmodellen, die Verbindlichkeit des moralischen Gesichtspunktes, indem sie die Ressource der einzig verbliebenen Gemeinsamkeit – die Kommunikationsvoraussetzungen der Diskurssituation der Ratsuchenden – ausschöpft.“ Habermas 2009, S. 23. Vgl. auch Wingerts Darstellung des moralischen Standpunkts, in: Wingert 1993, S. 231 ff.  Habermas 1991a, S. 16.  Sehr erhellend dazu vgl. Forst 2001.  Es ist jedoch, so Habermas selbst, diese kategoriale Unterscheidung nicht mit der von liberalen Gerechtigkeitstheorien häufig vorgeschlagenen Grenzziehung zwischen einer für die Moral bedeutsamen Privatsphäre und einer für Gerechtigkeitsfragen relevanten Öffentlichkeit zu verwechseln. Der Gegenstand einer kommunikationstheoretischen Moralauffassung wäre vielmehr, sofern sie auf einem intersubjektivistischen Personkonzept basiert und dadurch jene festgelegte normative Grenze relativiert, die normative Geltung aller unter moralischen Standpunkten geregelten Interaktionsbeziehungen. Siehe Habermas 1991d, S. 166.

4.1 Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit

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Richtigkeit hin überprüft, sondern unter dem Gesichtspunkt, ob sie einer bestimmten Auffassung des guten oder authentischen Lebens entsprechen und deshalb zur menschlichen Selbstverwirklichung beitragen.⁶⁵ Damit kommt wieder die oben angedeutete Unterscheidung zwischen den Absichten einer ethisch geprägten Pathologiendiagnose und dem moraltheoretischen Bezugsrahmen einer Gerechtigkeitstheorie zum Vorschein, denn Pathologien von Lebensformen lassen sich Habermas zufolge nicht „nach Maßstäben normativer Richtigkeit“ auffassen: „Ob die Lebensform eines Kollektives oder die Lebensgeschichte eines Individuums insgesamt mehr oder weniger ‚versöhnt‘, mehr oder weniger ‚geglückt‘, ob eine Lebensweise insgesamt ‚entfremdet‘ sei, ist keine moralisch beantwortende Frage.“⁶⁶ Nicht die unverzerrte Reproduktion sozialer Lebensformen, sondern die Aufklärung der formalen Voraussetzungen für eine gerechte, verallgemeinerungsfähige Lösung von Handlungskonflikten bildet das zentrale Interesse einer diskurstheoretischen Gerechtigkeitskonzeption: „[U]nter moralischen Gesichtspunkten werden problematische Handlungen und Normen nicht mehr nach dem Beitrag beurteilt, den sie zur Erhaltung einer bestimmten Lebensform oder zur Fortsetzung einer individuellen Lebensgeschichte leisten.“⁶⁷ Es handelt sich aber nicht einfach um zwei besondere methodische Herangehensweisen, sondern vielmehr um einen Unterschied, anhand dessen sich letztlich eine sozialtheoretische Grundüberzeugung von Habermasʼ Sozialtheorie offenbart: „Lebensformen kristallisieren sich ebenso wie Lebensgeschichten um partikulare Identitäten.“⁶⁸ Es ist diese Annahme einer stark ausgeprägten ethischen Besonderheit von Lebensformen, die dann die Art und Weise bestimmt, wie soziale Leidenserfahrungen im Begriffsrahmen der diskurstheoretischen Konzeption sozialer Gerechtigkeit gedacht werden.⁶⁹ Es wäre übertrieben zu sagen, dass soziales Leiden damit für die gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen Habermasʼ nicht mehr von Bedeutung ist. Trotzdem ist es nicht falsch zu behaupten, dass der in der materialistischen Leidenskritik anvisierte immanente Zusammenhang zwischen sozialem Leid und Gerechtigkeit gebrochen wird. Da soziale Leidenserfahrungen eine sehr starke ethische Prägung haben, so scheint Habermas anzunehmen, können sie nur mittelbar in den kategorialen Rahmen einer Gerechtigkeitstheorie einbezogen werden – das heißt in der veränderten Form von artikulierten, verallgemeinerungsfähigen Gerechtigkeitsansprüchen. Diese Neubestimmung lässt sich besonders mit Blick auf einige Ausführungen Habermasʼ klarmachen, in denen eben der Zusammenhang von Gerechtigkeit, Ethik und Leiden problematisiert wird.

 Vgl. Habermas 1991c, S. 100 ff. sowie Habermas 1988a.  Habermas 1991b, S. 47.  Habermas 1991b, S. 33.  Habermas 1991b, S. 48.  Zu dieser Annahme einer starken Besonderheit von Lebensformen vgl. die kritischen Ausführungen von Jaeggi 2014, S. 33 ff.

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Kapitel 4 Zur Ortsbestimmung einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik

Habermas stellt ausdrücklich fest, dass ein subjektiv erlebter „Leidensdruck“ als Anregung für die Entstehung ethisch-existenzieller Diskurse angesehen werden muss. Denn anhand derer versuchen die Subjekte sich über ihre verunsicherte persönliche oder kollektive Identität zu vergewissern, was den gemeinsamen ethischen Horizont einer partikularen Lebensform voraussetzt: „Die Angehörigen der gemeinsamen Lebenswelt sind potentielle Teilnehmer, die in Prozesse der Selbstverständigung die katalysatorische Rolle des unbeteiligten Kritikers übernehmen.“⁷⁰ Daraus ergibt sich dann die Einsicht, dass Leidenserfahrungen eine hermeneutische Selbstaufklärung ethischer Selbstverständnisse motivieren, aber nicht unmittelbar Gegenstand gerechtigkeitsbezogener Diskurse sein können. Vielmehr scheinen Habermasʼ Ausführungen nahezulegen, dass sich soziale Leidenserfahrungen erst in moralischen Diskursen thematisieren lassen, nachdem die Betroffenen einen „Schritt zur Entweltlichung“⁷¹ vollzogen haben – das heißt von den ethischen Grundüberzeugungen ihrer besonderen Lebensformen abstrahiert haben, um einen verallgemeinerungsfähigen Anspruch, eine Gerechtigkeitsforderung also, zu erheben. Dieses Erfordernis einer Entschärfung der „normativen Kraft des Faktischen“ kann etwa den Umstand erklären, dass die gerechtigkeitstheoretischen Betrachtungen Habermasʼ hauptsächlich auf die Feststellung von Ungerechtigkeiten zweiter Ordnung – und nicht auf eine inhaltsreiche Darstellung von negativen Erfahrungen – bezogen sind.⁷² Was ihnen zufolge als problematisch erscheinen soll, sind vor allem jene gesellschaftlichen Umstände, die eine gleichberechtigte Teilnahme der Subjekte an Rechtfertigungsprozessen von Normen hindern können. Über diesen formellen Rahmen hinaus bestehende negative Erfahrungen gehören dagegen nicht mehr zum Geltungsbereich moralischer Argumentationen, sondern sie verweisen auf ethische Fragestellungen. In diesem Sinne hält Habermas fest: Noch häufiger sind die materiellen Lebensverhältnisse und die gesellschaftlichen Strukturen so beschaffen, daß die moralischen Fragen vor aller Augen liegen und durch die nackten Fakten der Verelendung, Beleidigung und Entwürdigung eine hinreichende Antwort längst gefunden haben. Überall wo die bestehenden Verhältnisse für Forderungen einer universalistischen Moral der pure Hohn sind, verwandeln sich moralische Fragen in Fragen der politischen Ethik.⁷³

Eine diskurstheoretische Konzeption sozialer Gerechtigkeit kann soziale Leidenserfahrungen daher nur berücksichtigen, sofern sie schon die anspruchsvolle Form von artikulierten, verallgemeinerungsfähigen Gerechtigkeitsansprüchen angenommen haben. Es handelt sich gewiß nicht darum, dass soziale Leiden für eine so begründete Gerechtigkeitskonzeption nicht mehr von Bedeutung wären, wohl aber um die Feststellung, dass derartige negative Erfahrungen, soweit sie nicht als potenziell univer Habermas 1991c, S. 111.  Vgl. Habermas 1991b, S. 65.  Dies stellt auch Iser bezüglich des Habermas’schen Machtbegriffs fest – vgl. Iser 2008, insb. S. 129 ff.  Habermas 1991a, S. 27.

4.1 Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit

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salisierbare Ansprüche auftreten, notwendigerweise ihren deontologischen Rahmen sprengen müssen. Insofern lässt sich sagen, dass soziale Leidenserfahrungen für Habermasʼ Gerechtigkeitskonzeption von nur mittelbarer Bedeutung sein können – dieser Einsicht entsprechend versteht er ihre Existenz schließlich als eine Instanz, die eine Überprüfung der für allgemein gültig gehaltenen moralischen Prinzipien veranlassen kann: Hinter der Fassade einer kategorischen Geltung kann sich ein bloß durchsetzungsfähiges Interesse verstecken und verschanzen. […] Um die Fesseln einer falschen, bloß prätendierten Allgemeinheit selektiv ausgeschöpfter und kontextinsensibel angewendeter universalistischer Prinzipien zu zerbrechen, bedurfte es immer wieder, und bedarf es bis heute, sozialer Bewegungen und politischer Kämpfe, um aus den schmerzhaften Erfahrungen und den nicht wieder gut zu machenden Leiden der Erniedrigten und Beleidigten, der Verwundeten und Erschlagenen zu lernen, daß im Namen des moralischen Universalismus niemand ausgeschlossen werden darf.⁷⁴

Bei dieser Feststellung ist besonders darauf zu achten, dass soziale Leidenserfahrungen eine Überprüfung von moralischen Normen nur in dem Maße motivieren können, wie sie im Medium „sozialer Bewegungen und politischer Kämpfe“ bereits artikuliert wurden und daher über öffentliche Ausdrucksformen verfügen. Soziale Leidensformen, die sich kein Gehör verschaffen können, sollen dagegen für eine deontologische Gerechtigkeitskonzeption zwingend unberücksichtigt bleiben, da sie den Gegenstand von ethischen Diskursen darstellen. Aus diesen kritischen Bemerkungen lassen sich bereits einige Schlussfolgerungen ziehen, die insbesondere auf die ambivalenten Ergebnisse der hier geleisteten Rekonstruktion von Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit aufmerksam machen sollen. In der Tat eröffnet sich mit ihm einerseits die Möglichkeit, die sozialtheoretischen und normativen Defizite früher materialistischer Ätiologie sozialer Leidenserfahrungen zu überwinden. Der Freiheitsverlust, der Habermas zufolge aus der Kolonialisierung der Lebenswelt hervorgeht, ist nicht mehr als Ausdruck einer mangelhaften Beherrschung äußerer Natur zu verstehen, sondern besitzt einen intersubjektiven Kern, da soziale Wesen ihre Freiheit nur durch kommunikative Interaktionsbeziehungen ausbilden und sichern können. Andererseits jedoch lassen sich solche überflüssigen Freiheitseinschränkungen, indem sie von Habermas auf der Basis einer Sprachpragmatik erklärt werden, kaum mehr mit konkreten, von Subjekten selbst erfahrenen Beeinträchtigungen kategorial verbinden. Diese sprachpragmatische Erklärung menschlicher Autonomie führt zu weiteren ambivalenten Ergebnissen im Rahmen seiner gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen. Hier kann Habermas von der interessanten Feststellung ausgehen, dass eine ursprüngliche Verletzbarkeit in der Struktur selbst von kommunikativen Lebensformen angelegt sei, auf die moralische Normen dann mit dem Ziel einer Etablierung von intersubjektiven Schutzvorrichtungen ausgerichtet wären. Da er aber seine Diskurs-

 Habermas 1991c, S. 115 f.

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ethik unter der Prämisse eines Primats des Rechten vor dem Guten ausformuliert und er auf der ethischen Besonderheit von Lebensformen beharrt, können Leidenserfahrungen schließlich nur auf sehr indirekte Weise in den begrifflichen Rahmen seiner Gerechtigkeitskonzeption einbezogen werden.Vor diesem Hintergrund lässt sich dann der Anstoß für eine anerkennungstheoretische Leidenskritik als die Herausforderung verstehen, die intersubjektive Wende kritischer Theorie fortzusetzen, ohne aber die Möglichkeit einer erfahrungsnahen Darstellung von sozialen Freiheitseinschränkungen aufzugeben.

4.2 Von der Kommunikation zur Anerkennung Auch in den frühen Aufsätzen Honneths lässt sich deutlich die Absicht ausmachen, die Grundprämisse der kritischen Gesellschaftstheorie vom Handlungsmodell der Naturbeherrschung abzukoppeln und ihre erkenntnistheoretischen und normativen Ansprüche auf angemessene Weise zu verwirklichen. Schon seit Marx hätte sich nach Honneth die Kritische Theorie als Ziel gesetzt, eine „Vermittlung von theoretisch begründeten Normen und historisch wirksamer Moralität“ zu leisten, das heißt eine besondere, sehr anspruchsvolle Art von Sozialkritik zu begründen, deren normative Ziele nicht rein theoretisch, sondern immer unter Bezugnahme auf eine vorwissenschaftliche soziale Praxis zu bestimmen seien.⁷⁵ Aus dieser Aufgabenstellung ergebe sich dann nicht nur ihr bezeichnendes erkenntnistheoretisches Selbstverständnis als Selbstreflexion eines an der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst angelegten praktischen Interesses, sondern auch ihr normativer Anspruch, an sozial wirksame Handlungspotenziale mit Blick auf die Verwirklichung von historisch schon gegebenen Emanzipationsmöglichkeiten anzuknüpfen. Von Anfang an sei die frühe Kritische Theorie allerdings nicht in der Lage gewesen, dieses Forschungsprogramm widerspruchslos durchzusetzen – und zwar vor allem deshalb, weil sie einer verkürzten Konzeption sozialen Handelns nach dem Modell der Arbeitspraxis verpflichtet blieb. Denn bereits in den frühen programmatischen Schriften Horkheimers ließe sich, so Honneth, deutlich ein „soziologisches Defizit“ erkennen, das in der Dialektik der Aufklärung später eine geschichtsphilosophische Prägung erhielt und in den soziologischen Schriften Adornos schließlich seine radikalisierte Gestalt annahm.⁷⁶ Diese Tendenz zur „Verdrängung des Sozialen“ würde sich exemplarisch in einer äußerst vereinfachten Vorstellung über die Erfordernisse der Sozialintegration und die Struktur von Herrschaftsverhältnissen ausdrücken, die hauptsächlich nach dem Vorbild einer Erfüllung von mit der Naturbeherrschung verbundenen Imperativen – eine Art von marxistischem Funktionalismus – begriffen

 Honneth 2000d, S. 110. Zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen Kritischer Theorie vgl. Honneth 2003a.  Siehe Honneth 1989a, Erster Teil.

4.2 Von der Kommunikation zur Anerkennung

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wurden.⁷⁷ Auf dieser Grundlage sollte die frühe Kritische Theorie nicht nur ihre interdisziplinäre Ausrichtung stets lediglich mangelhaft zur Durchsetzung bringen können⁷⁸, sondern auch zwangsläufig ihr emanzipatorisches Ziel verfehlen: Mit den zeitdiagnostischen Vorstellungen einer total „administrierten Gesellschaft“ oder eines „universellen Verblendungszusammenhanges“ bringt man schließlich auch das grundbegriffliche Unvermögen zum Vorschein, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst anders orientierte, nicht vorweg herrschaftsangepasste Handlungsverläufe und Interessenkonstellationen zu erschließen. Eine mögliche Überwindung dieses soziologischen Defizits würde sich Honneth zufolge erst mit Habermasʼ Paradigmenwechsel zur Kommunikationstheorie sowie mit Foucaults wissensgeschichtlichen und machttheoretischen Schriften abzeichnen, sofern mit ihnen – auf sehr verschiedenen Wegen – wieder die Eigentümlichkeit des Sozialen in den Vordergrund kritischer Gesellschaftstheorie gerückt wird. In Foucaults Aufsätzen sieht Honneth den vielversprechenden Versuch, die aus dem Modell der Naturbeherrschung resultierenden Aporien mithilfe einer Vorstellung sozialen Handelns zu überwinden, in der die ständigen Machtkämpfe von Subjekten im Zentrum stehen. Dieses Verständnis des „Phänomenbereich[s] des Sozialen als ein Konnex von strategischen Handlungen“⁷⁹ wäre jedoch mit zwei Hauptmängeln behaftet: Zunächst sollen Foucaults Schriften – ihren gehaltvollen historischen Analysen zum Trotz, aber notwendigerweise als Folge ihrer ausschließlichen Hervorhebung der strategischen Dimension sozialen Handelns – auf eine andere Art von funktionalistischer und daher unzulänglicher Beschreibung der normativen Integration von Gesellschaften hinauslaufen: Foucault betreibt seine historische Forschung offenbar auf der Basis einer Systemtheorie, die die soziale Organisationsform einer Gesellschaft als einen jeweiligen Komplex von Machtstrategien begreift […] Die Institutionen und Mechanismen sozialer Herrschaft werden als temporäre Lösungen für die Aufgaben begriffen, die sich innergesellschaftlich dadurch stellen, daß das Verhalten einer stetig wachsenden Bevölkerungsmenge auf den Bedarf eines entsprechend sich ausweitenden Produktionsprozesses abgestimmt werden muß.⁸⁰

Und neben dieser mangelhaften Konzeption sozialer Integration, die sich noch immer einseitig auf die Erfordernisse subjektiver Anpassung orientiert, sei Foucaults Ansatz tatsächlich nicht in der Lage, die Gründe zu benennen, aus denen die disziplinierenden Effekte von Machttechniken in normativer Hinsicht als kritikwürdige Zustände betrachtet werden müssen. Dafür verantwortlich wäre vor allem seine Zurückhaltung, die seiner Machtkonzeption zugrunde liegenden normativen Prämissen ausdrücklich

 Dazu vgl. auch Honneth 1999a, S. 37 ff.  Denn innertheoretisch hatte dies zur Folge, so hebt Honneth hervor, dass Sozialpsychologie und Kulturtheorie den Prämissen der Marx’schen politischen Ökonomie immer einseitig untergeordnet wurden. Vgl. Honneth 1989a, S. 31 ff.  Honneth 1989a, S. 120.  Honneth 1989a, S. 214 f.

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zu formulieren, womit aber seiner Kritik der Lähmung von subjektiven Widerstandskräften jede normative Begründung entzogen wird.⁸¹ Diese beiden Einwände lassen sich interessanterweise auch als Hinweise für die Ortsbestimmung einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik ausdeuten. Denn nicht weniger als Adorno sei Foucault von dem Interesse geleitet, die schädlichen Wirkungen instrumenteller Rationalität hauptsächlich am Leitfaden einer „verdeckte[n] Leidensgeschichte der fortschreitenden Disziplinierung und Unterwerfung lebendiger Subjektivität“ zu interpretieren.⁸² Sein allzu vereinfachtes Konzept gesellschaftlicher Integration sowie seine normative Enthaltsamkeit bedingen jedoch eine begriffliche Unzulänglichkeit, die die Möglichkeit einer genealogischen Leidenskritik letztlich untergräbt: „Obwohl alles an seiner Kritik der Moderne auf das Leiden des menschlichen Leibes unter den disziplinierenden Akten der modernen Machtapparate konzentriert scheint, findet sich in seiner Theorie nichts, was dieses Leiden als Leiden artikulieren könnte.“⁸³ Diese Schwierigkeit kann dann auch als die Unmöglichkeit verstanden werden, mit Foucaults Sozialkritik die nach meiner Terminologie charakteristischen ätiologischen und emanzipationstheoretischen Fragen sozialphilosophischer Leidenskritik angemessen zu beantworten. In Hinsicht auf eine Ätiologie sozialer Leidenserfahrungen kann Foucaults Machtanalytik wie gesagt tatsächlich nicht rechfertigen, warum die kennzeichnenden Disziplinierungsprozesse moderner Gesellschaften für die Subjekte schädliche Auswirkungen haben. Seine Leidenskritik zeigt sich deskriptiv gehaltvoll, aber dennoch in normativem Sinne äußerst schwach.⁸⁴ Daraus zieht Honneth den Schluss, dass die Genealogie im kategorialen Rahmen der kritischen Gesellschaftstheorie zwingend ein „parasitäres Kritikverfahren“ darstellen muss, „weil sie von der normativen Voraussetzung einer normativen Begründung lebt, die sie nicht selber zu geben versucht oder zu leisten vermag.“⁸⁵ Was ihrerseits die emanzipationstheoretische Frage angeht, wäre Foucaults Sozialtheorie (nicht anders als Horkheimers materialistische Leidenskritik) letztlich auch grundbegrifflich unfähig, den Übergang von Leidenserfahrungen zu Widerstandsformen unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten zu erfassen und den sozialen Kämpfen einen methodischen, kategorienbildenden Platz in der Struktur kritischer Gesellschaftstheorie zu geben, indem sie ebenfalls einer Konzeption der Sozialintegration nach dem ausschließenden Muster von Steuerungsprozessen verhaftet bleibt.⁸⁶ Erst aus der kommunikationstheoretischen Wende würde sich dann – so lässt sich die Bedeutung von Habermasʼ Paradigmenwechseln auch deuten – die Möglichkeit

 Siehe dazu auch Honneth 1988, S. 391 ff.  Honneth 1999b, S. 83.  Honneth 1999b, S. 92.  So argumentiert auch Renault 2010.  Honneth 2007c, S. 63. Zu weiteren Bemerkungen Honneths über die Begründungsdefizite genealogischer Gesellschaftskritik vgl. Honneth 2003b, S. 117 ff.  Siehe Honneth, 1989a, S. 216. Dazu vgl. auch Honneth 1994d, S. 61 ff.

4.2 Von der Kommunikation zur Anerkennung

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eröffnen, beide Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik ohne Verkürzungen und Aporien zu bearbeiten. Schon seit seinen frühen transzendentalanthropologischen Überlegungen hätte sich Habermas darum bemüht, so betont Honneth, innerhalb der Reproduktion sozialen Lebens selbst eine irreduktible Dimension praktischer Rationalität zu erschließen – und zwar unter der Annahme der Unverzichtbarkeit der Verständigung zwischen kommunikativ vergesellschafteten Individuen.⁸⁷ Als Folge dieser Hervorhebung von kommunikativer Alltagspraxis wurde Habermas dann nicht nur in die Lage versetzt, die Begriffsbildung der Kritischen Theorie wieder an eine sozial wirksame Rationalität anzuknüpfen, sondern er konnte auch eine Emanzipationsvorstellung umreißen, die von der Unterstellung eines „monologisch handelnden Kollektivsubjekts“ sowie von den Mängeln einer Konzeption sozialer Kämpfe, derzufolge diese vor allem als strategische Auseinandersetzungen gelten, gerade in dem Maße frei ist, wie sie hingegen die Idee von intersubjektiven Verständigungsprozessen, eines „kooperativen Lernprozess[es] von Subjekten“ in den Vordergrund rückt.⁸⁸ Mit der Habermas’schen Umwandlung der handlungstheoretischen Grundprämissen kritischer Gesellschaftstheorie wird zusammenfassend nicht nur die „Struktur der menschlichen Vergesellschaftung“, sondern auch die normative Integration von Gesellschaften und die Entwicklung von emanzipatorischen Kämpfen grundsätzlich anders interpretiert. So führt Honneth diese neuartige Grundprämisse aus: [I]n dem Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung muß nämlich das wechselseitige Verstehen von intersubjektiv intendierten Bedeutungen, das Sinnverstehen also, selber als ein Element eingebaut sein, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft untereinander auf ein soziales Einverständnis angewiesen sind, das sich weder auf administrativem Wege künstlich erzeugen lässt (Adorno) noch auf anonymem Wege kognitiv immer schon gesichert ist (Foucault), sondern nur auf kommunikativem Wege in einer stets zu erneuernden Verständigung erzielt werden kann.⁸⁹

Jene eigentümlichen – weder auf die instrumentelle Naturbeherrschung noch auf Machtverhältnisse reduzierbaren – intersubjektiven Strukturen sozialer Welt bilden eben die Grundlagen von Habermasʼ Konzept kommunikativer Freiheit, das ich zuvor mit Bezug auf seine Pathologiendiagnose und seine Konzeption sozialer Gerechtigkeit rekonstruiert habe. Honneth zufolge wird jedoch die damit entworfene Vorstellung von kommunikativ vermittelten und deshalb sittlich motivierten Kämpfen als Antriebskräfte gesellschaftlicher Entwicklung⁹⁰ wiederum in den Hintergrund verschoben, indem Habermas die Grundstrukturen der Intersubjektivität auf der Basis der Universalpragmatik und die gesellschaftliche Integration von modernen Gesellschaften unter systemtheoretischen Gesichtspunkten zu erklären versucht. Die aus  Vgl. Honneth 1989a, S. 225 ff., sowie Honneth 2003a, S. 69 ff.  Honneth 1982, S. 116.  Honneth 1989a, S. 248.  Diese Konzeption identifiziert Honneth besonders in der frühen Auseinandersetzung von Habermasʼ mit Marxʼ Geschichtsauffassung – vgl. Honneth 1989a, S. 265 ff.

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Kapitel 4 Zur Ortsbestimmung einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik

diesen beiden methodischen Entscheidungen sich ergebenden Schwierigkeiten, die nach Honneth in der Habermasʼ Theorie des kommunikativen Handelns zugrundeliegenden Konzeption des Sozialen schließlich sichtbar werden, lassen sich auch bezüglich der ätiologischen und emanzipationstheoretischen Fragen von sozialphilosophischer Leidenskritik auffassen. Als Konsequenz ihrer methodischen Wendung zur sprachtheoretischen Grundlegung menschlicher Intersubjektivität sowie der Einbeziehung von entwicklungspsychologischen Deutungsmustern zum Verständnis der praktischen Rationalisierung von Lebenswelten verliert Habermasʼ Gesellschaftskritik ihre immanente Bezugnahme auf konkrete Unrechtserfahrungen, weil ihre Grundkategorien nun „auf eine vom historischen Erfahrungshorizont losgelöste Ebene“ verschoben werden.⁹¹ Weder die freiheitsermöglichenden geschichtlichen Bildungsprozesse (Ausdifferenzierung der Strukturen der Lebenswelt) noch die schädlichen Wirkungen von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen (Beeinträchtigung von kommunikativen, nach der Sprachpragmatik verstandenen Interaktionsfähigkeiten) verweisen tatsächlich auf Erfahrungen, die die Subjekte selber im engeren Sinne erfahren können. Insofern hält Honneth hinsichtlich Habermasʼ sprachtheoretischer Erklärung der Rationalisierung der Lebenswelt fest: Nun ist aber ein solcher Prozeß typischerweise etwas, von dem sich mit Marx sagen lässt, daß es sich hinter dem Rücken der beteiligten Subjekte vollzieht; sein Verlauf ist weder von individuellen Intentionen getragen noch überhaupt dem Bewußtsein eines einzelnen Menschen anschaulich gegeben. Der emanzipatorische Vorgang, in dem Habermas die normative Perspektive seiner Kritischen Theorie sozial verankert, schlägt sich in den moralischen Erfahrungen der beteiligten Subjekte als solcher gar nicht nieder; denn diese erfahren eine Beeinträchtigung dessen, was wir als ihre moralischen Erwartungen, als ihren ‚moral point of view‘ betrachten können, nicht als Einschränkung von intuitiv beherrschten Sprachregeln, sondern als Verletzung von sozialisatorisch erwobenen Identitätsansprüchen.⁹²

Mit der sprachpragmatischen Grundlegung kommunikativer Freiheit wird dann nicht nur jener von der Kritischen Theorie beanspruchte immanente Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und sozialen Unrechtserfahrungen infrage gestellt, sondern auch – so lässt sich Honneths Kritik auch verstehen – die ätiologischen und emanzipationstheoretischen Fragen sozialphilosophischer Leidenskritik in einer äußerst abstrakten, prinzipiell erfahrungsentfernten Dimension des Sozialen angesiedelt. Gerade aus diesem begrifflichen Rahmen würde sich nach Honneth schließ-

 Honneth 1982, S. 118.  Honneth 2000c, S. 97 f. Honneth merkt an, dass innerhalb Habermasʼ Theoriebildung diese auf Piaget bezogene Konzeption moralischer Rationalisierung mit einer eher auf Freud zurückgehenden Vorstellung von praktischen Lernprozessen konkurriert. Vgl. Honneth 1988, S. 399

4.2 Von der Kommunikation zur Anerkennung

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lich die Neigung Habermasʼ Moralkonzeption ergeben, „sprachlose Formen von Moralität“ systematisch zu übersehen.⁹³ In ähnlichem Sinne lassen sich auch die Konsequenzen der Einbeziehung von Kategorien der Systemtheorie zur Erklärung der spezifischen Integrationsformen moderner Gesellschaften verstehen. Damit mochte Habermas in der Erklärung von geschichtlichen Lernprozessen vor allem die fragwürdige Figur eines einheitlichen Gattungssubjekts vermeiden und durch die Idee von ausdifferenzierten Sphären sozialer Welt ersetzen, aber dennoch hätten diese Ausführungen schließlich zur Unterscheidung zwischen Systemen und Lebenswelt geführt und damit zwei komplementäre sozialtheoretische Fiktionen hervorgebracht: die Unterstellung von angeblich „normfreien Handlungsorganisationen“ und die von „machtfreien Kommunikationssphären“.⁹⁴ Im Anschluss an die Systemtheorie wird Habermas gezwungen, eine Reihe von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen allein unter funktionalistischen Gesichtspunkten zu beschreiben, das heißt nach dem Vorbild der anonym laufenden Herausbildung von Sozialsystemen, womit die ursprüngliche Idee von sittlichen Kämpfen als Antriebskräfte gesellschaftlicher Entwicklung deutlich an Relevanz verliert.⁹⁵Zusätzlich wäre mit dieser Wendung der Blickpunkt einer intersubjektivistischen Diagnose von Sozialpathologien auch zu sehr eingeschränkt, weil die Verursachung von verzerrten Kommunikationsbeziehungen nun ausschließlich mit dem Eindringen von systemischen Imperativen in kommunikativ erhaltenden Kontexten identifiziert wird. Besonders deutlich trete dieser Mangel Honneth zufolge einerseits in Habermasʼ Machtkonzeption auf, sofern „alle vorsystemischen Prozesse der Konstitution und Reproduktion von Herrschaft aus dem Blick fallen müssen“⁹⁶, sowie andererseits in seinem begrifflichen Unvermögen, Konflikte und Widerstandsprozesse innerhalb von für normfrei gehaltenen Lebensbereichen – etwa der Arbeitswelt – angemessen zu betrachten.⁹⁷ Vor diesem Hintergrund setzt Honneth sich dann als Ziel, wieder an die ursprüngliche Intention von Habermasʼ intersubjektiver Gesellschaftskritik anzuschließen, um die normativ-praktische Dimension sozialer Kämpfe und damit die emanzipatorischen Zielen kritischer Theorie nochmals stärker in den Vordergrund zu rücken. Als Voraussetzung dazu tritt dann die Notwendigkeit hervor, das von Habermas zunächst entworfene konflikthafte Gesellschaftsmodell auf eine erweiterte, nicht mehr sprachpragmatisch fundierte Konzeption sozialen Handelns zu begründen. Die Grundzüge einer solchen alternativen Auffassung menschlicher Intersub-

 Honneth 2000d, S. 113. Mit dieser sprachpragmatischen Erklärung menschlicher Intersubjektivität verlieren zugleich, so Honneth, „die leiblich-körperliche Dimensionen sozialen Handelns“ fast jede Bedeutung. Siehe Honneth 1989a, S. 310.  Honneth 1989a, S. 328. Vgl. dazu auch Berger 2002, S. 255 ff.  Vgl. Honneth 1989a, S. 313.  Honneth 1989a, S. 331.  Schon früher hatte Honneth – besonders unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten – Habermasʼ Arbeitsbegriff kritisiert. Vgl. Honneth 1980 und Honneth 1982, S. 119.

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jektivität findet Honneth in jener Vorstellung einer „Dialektik der Sittlichkeit“, mit der Habermas in seiner frühen Marx-Rezeption den Umstand hervorzuheben versucht hatte, dass infolge der strukturellen Verzerrung von Kommunikationsbeziehungen unter klassenherrschaftlichen Verhältnissen eine konflikthafte Dimension in der Struktur intersubjektiver Verständigung selbst angelegt wäre. Entsprechend dieser Einsicht wären geschichtliche Entwicklungsprozesse daher hauptsächlich als Ausdruck einer ständig umstrittenen Neudefinierung und Institutionalisierung gesellschaftlicher Normen zu verstehen: Es ist dieser Kreisprozeß einer gewaltsamen Unterdrückung und einer praktischen Wiederherstellung der sozialen Verständigung, aus der sich dann die Logik der Gattungsgeschichte rekonstruieren läßt: der Grundkonflikt der soziokulturellen Entwicklung wohnt als eine durch soziale Herrschaft hervorgerufene Entgegensetzung der gesellschaftlichen Klassen dem Prozeß des kommunikativen Handelns selbst inne und treibt ihn über jede etablierte Stufe einer institutionell geregelten Interaktion immer wieder hinaus.⁹⁸

Mit dieser konzeptuellen Verschiebung werden die systemtheoretischen Kategorien selbstverständlich überflüssig gemacht: An die Stelle von entwicklungslogischen Ausdifferenzierungsprozessen tritt nun die Vorstellung eines immer wieder ausgelösten Sozialkampfs um die gesellschaftlich gültige Deutung von Normen und Werten als die entscheidende Antriebskraft der historischen Entwicklung von Gesellschaften. Die Habermas’sche Unterscheidung zwischen zweckrational organisierten und normgeprägt lebensweltlichen Handlungssphären wird so durch eine antidualistische Vorstellung ersetzt, derzufolge moralisch aufgeladene Interaktionsbeziehungen den „übergreifenden Mechanismus“ darstellen, aus dem eine die Gesamtgesellschaft – einschließlich der Wirtschaftssphäre – prägende „normative Konsensbildung“ hervorgeht.⁹⁹ Von dieser Neuorientierung können die zeitdiagnostischen und emanzipatorischen Aufgaben kritischer Gesellschaftstheorie natürlich nicht unberührt bleiben. Der Blickpunkt einer intersubjektivitätstheoretischen Pathologiendiagnose soll nun insofern umdefiniert werden, dass als Ursache von sozialen Missständen nicht mehr die Kolonialisierung der Lebenswelt durch verselbstständigte systemische Imperative angenommen wird, sondern die umfassende Verletzung moralischer Erwartungen, von denen die Chancen einer positiven Selbstbeziehung abhängen.¹⁰⁰ Die Verzerrung von freiheitsgewährenden sozialen Beziehungen wird darum nicht länger nach dem Erklärungsmuster einer systemisch induzierten Beeinträchtigung von sprachtheoretisch konzipierten Interaktionsfähigkeiten, sondern unter Einbeziehung des erfahrungsnäheren Indizes einer „gefühlten Zerrissenheit“ diagnostiziert, die aus dem „konkrete[n] Wissen erlittener Herrschaft und gefühlten Unrechts, das die Einsicht in  Honneth 1989a, S. 301 f.  Honneth 1989a, S. 329. Daraus folgt dann eine Rehabilitierung der Arbeit als Schauplatz von praktisch-moralischen Konflikten. Vgl. Honneth 1980, S. 223 ff.  Vgl. Honneth 2000c, S. 99.

4.2 Von der Kommunikation zur Anerkennung

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die Beschränkungen eines gesellschaftlichen Interaktionsverhältnisses hervorruft“, notwendig folgt.¹⁰¹ Entsprechend dieser Neudeutung sozialer Missstände sollen schließlich auch die emanzipatorischen Anstrengungen anders gedacht werden. Dabei handelte es sich um moralisch motivierte Kämpfe, das heißt um beständig auftretende praktische Auseinandersetzungen um die Legitimität von sozialen Normen und Werten, mit denen die Subjekte die gesellschaftliche Grundlage ihrer Identitätsbildung und damit ihre Autonomie zu sichern versuchen. Es eröffnet sich folglich eine Perspektive, von der aus die Widerstandsprozesse von Gesellschaftsmitgliedern sich wieder ins Zentrum der Kritischen Theorie rücken lassen, ohne sie zugleich (wie in Foucaults Ansatz) im Sinne einer allgemeinen Bestimmung des Sozialen zu hypostasieren.¹⁰² Soziale Kämpfe würden vielmehr praktische Reaktionen darstellen, die immer dann auftreten können, wenn die sozial berechtigten moralischen Ansprüche von Gesellschaftsmitgliedern im Rahmen historisch etablierter Institutionen und Praktiken keine angemessene Erfüllung mehr finden. Von nicht geringerer Bedeutung ist für Honneth schließlich die Tatsache, dass sich mit diesem neuen Verständnis gravierende kategoriale Schwierigkeiten in Bezug auf die Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie endlich auflösen lassen: Sie kann nicht nur wieder an sozial wirksame Handlungspotenziale immanent anknüpfen, sondern auch einen Kulturbegriff entwerfen, demzufolge die Subjekte auf der Basis von „alltäglichen Interpretationsleistungen“ ihre sozialen Unrechtserfahrungen neu deuten und die etablierten Normen durch die Entwicklung sozialer Kämpfe ständig hinterfragen können.¹⁰³ Diese Neuorientierung von Habermasʼ intersubjektiver Wende, die Honneth zuerst praxisphilosophisch (und zwar durch eine Wiedergewinnung von Motiven philosophischer Anthropologie¹⁰⁴) zu vollziehen versucht, wird erst mit seinem aktualisierenden Rückbezug auf Hegels Anerkennungsbegriff zur Vollendung gebracht. Denn in seinen frühen Jenaer Aufsätzen hätte Hegel mit der Figur eines „Kampfs um Aner Honneth 1989a, S. 299.  Vgl. Honneth 1988, S. 385.  Siehe Honneth 1989a, S. 36. Dazu auch: „Stets, ob nun etwa bei Horkheimer, Sartre oder Herbert Marcuse, ist der moralische Konfliktstoff sozialer Kämpfe, um den jeder von ihnen zwar vortheoretisch wußte, in der Theoriebildung vernachlässigt geblieben; nie konnten daher die kritischen Analysen als ein reflexives Element jener gesellschaftlichen Konflikte verstanden werden, in denen der Kampf um Anerkennung auf der Grundlage der existierenden Verhältnisse des sozialen Verkehrs weitergeführt wurde.“ Honneth 1989b, S. 572.  Honneth/Joas 1980. Deranty zufolge sind diese frühen anthropologischen Überlegungen von besonderer Bedeutung, um Honneths Ansatz von Habermasʼ Intersubjektivitätskonzeption zu unterscheiden: „[W]e can already note a highly significant difference in the philosophical-anthropological conceptions underpinning the Habermasian and Honnethian normative models: whereas Habermas looks to the correction of the mentalist model in symbolic interaction where language provides the central medium of interaction, Honneth and Joas, from the very beginning, sought to achieve the same kind of revision with reference to Feuerbach and the corporeal grounding of intersubjectivity. Right at the beginning, the materialist arguments that inspire Honneth combine historical and anthropological materialism, by contrast with most other critical theorists.“ Deranty 2009, S. 24.

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kennung“ die Grundlagen einer intersubjektiven Konzeption sozialen Handelns skizziert, aus der sich nach Honneths Überzeugung eine normativ gehaltvolle Darstellung der Integration von Gesellschaften und der geschichtlichen Entwicklungsprozesse gewinnen lässt: In die kommunikativen Lebensformen […] projiziert er mithin den intersubjektiven Vorgang einer wechselseitigen Anerkennung hinein. Die sittlichen Verhältnissen einer Gesellschaft stellen für ihn nunmehr die Formen einer praktischen Intersubjektivität dar, in der das komplementäre Übereinkommen und damit die notwendige Gemeinsamkeit einander sich entgegensetzender Subjekte durch eine Bewegung der Anerkennung gesichert ist.¹⁰⁵

Damit wird bereits der Punkt erreicht, an dem sich die Umrisse einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik deutlich abzuzeichnen beginnen. Nach der hier geleisteten Rekonstruktion lassen sie sich vorläufig als Ergebnis einer von Honneth auf drei Ebenen vollzogenen Umwandlung von Habermasʼ intersubjektivem Freiheitskonzept zusammenfassen. Mit der Einführung des Anerkennungsbegriffs wird Honneth zunächst in die Lage versetzt, eine veränderte Konzeption der freiheitsverbürgenden zweiten Natur sozialer Lebensformen auszuformulieren: An die Stelle von sprachtheoretisch konzipierten Kommunikationsverhältnissen tritt nun die Vorstellung eines unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen ausdifferenzierten Gefüges von Anerkennungsbeziehungen, innerhalb dessen die Subjekte ihre Autonomie erst ausbilden und sichern können. Daraus ergibt sich zweitens die Möglichkeit einer erweiterten Diagnose von sozialen Missständen, denn verschiedenartige Verletzungen von moralischen Anerkennungsansprüchen sowie die daraus resultierenden Erfahrungen von Missachtung sollen nunmehr im Mittelpunkt stehen. Und schließlich entsteht mit dem Anerkennungsbegriff auch die Notwendigkeit, den Kantischen Bezugsrahmen einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit zu verlassen und die ethische Frage nach den Vorbedingungen menschlicher Selbstverwirklichung wieder ins Zentrum zu stellen.¹⁰⁶ Ob und inwiefern sich diese Neuausrichtung der intersubjektiven Prämissen kritischer Gesellschaftstheorie auch als Versuch einer Grundlegung anerkennungstheoretischer Leidenskritik auffassen lässt, stellt die in den folgenden Kapiteln ausführlich zu behandelnde Frage dar.

4.3 Schluss In diesem Kapitel habe ich die begrifflichen Voraussetzungen einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik in einer ersten Annäherung zu bezeichnen versucht. Wie sich gezeigt hat, ergeben sie sich vor allem aus Honneths Übernahme der von Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns vollzogenen intersubjek-

 Honneth 1994a, S. 30.  Siehe dazu etwa Honneth 2000e.

4.3 Schluss

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tiven Wende und der daraus resultierenden kritischen Feststellung, dass ein sprachtheoretisches Verständnis menschlicher Intersubjektivität nur unzureichend die normative Struktur von Gesellschaften und die Erfordernisse sozialer Gerechtigkeit zu erfassen vermag. In der Tat formuliert Habermas einerseits mit seiner These von der Kolonialisierung der Lebenswelt jene für die Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie kennzeichnende Ansicht um, dass sich überflüssige Freiheitsverluste erst aus historisch herausgebildeten, in modernen sozialen Lebensformen niedergeschlagenen Freiheitsmöglichkeiten erkennen lassen. Die an die gesellschaftliche Reproduktion ansetzenden Störungsprozesse (Sozialpathologien) gehen insofern, wie schon Horkheimer mit Verweis auf die Erfahrung von Ohnmacht illustriert hatte, mit einer subjektiven Beeinträchtigung einher, die Habermas nun als eine sozial induzierte Beschädigung von kommunikativen Interaktionsfähigkeiten versteht. Andererseits allerdings führt er diese Diagnose nicht mehr in der besonderen Form einer sozialphilosophischen Leidenskritik aus, wofür die sprachtheoretische Fundierung seiner Autonomievorstellung und der damit verbundene formelle Bezugsrahmen seiner Konzeption sozialer Gerechtigkeit verantwortlich zu sein scheinen. Honneths frühe Auseinandersetzung mit Habermasʼ Erneuerung der kritischen Gesellschaftstheorie lässt sich daher auch – so habe ich argumentiert – in Bezug auf die Unmöglichkeit interpretieren, die kennzeichnenden Fragestellungen sozialphilosophischer Leidenskritik im kategorialen Rahmen einer Sprachtheorie angemessen zu beantworten. Nicht nur bedingt dies eine mangelhafte, allzu abstrakte Darstellung von sozialen Missständen, sondern führt auch zu einer begrifflichen Abkoppelung leidvoller subjektiver Erfahrungen vom gerechtigkeitstheoretischen Bezugsrahmen kritischer Gesellschaftstheorie. Vor diesem Hintergrund setzt Honneth sich dann als Ziel, die normativ-praktische Dimension von Unrechtserfahrungen und die daraus sich ergebenden sozialen Kämpfe wieder stärker in den Vordergrund zu rücken, wobei ein erweitertes Verständnis menschlicher Intersubjektivität als wesentliche Grundlage gilt – also die Prämisse, dass „in dem Erwerb sozialer Anerkennung die normative Voraussetzung allen kommunikativen Handelns zu sehen“ ist.¹⁰⁷ Auch wenn Honneth selbst die Einführung des Anerkennungsbegriffs zunächst eher im Sinne einer inhaltsreicheren Auslegung von Habermasʼ kommunikationstheoretischen Grundsätzen versteht¹⁰⁸, tritt allmählich deutlicher zutage, dass in diesem Begriff eine alternative Auffassung der Bildungsprozesse individueller Autonomie impliziert ist, sofern die Struktur sozialer Lebensformen grundbegrifflich anders konzipiert wird. Zugleich eröffnet sich mit der anerkennungstheoretischen Rehabilitierung des Hegel’schen Sittlichkeitsbegriffs die Möglichkeit, den deontischen Rahmen von Habermasʼ Diskursethik endgültig zu verlassen und die Erfordernisse

 Honneth 2000c, S. 99.  Vgl. dazu exemplarisch seine frühe Überlegung über die materiellen Implikationen der Habermasʼschen Diskursethik – Honneth 1986.

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sozialer Gerechtigkeit unter Bezug auf verschiedene Anerkennungssphären, in denen die Subjekte unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen ihre Freiheit ausbilden und verwirklichen, normativ zu explizieren. Dies ist zusammenfassend eine veränderte Konzeption der gesellschaftlichen Bedingungen individueller Freiheit, das heißt der historisch herausgebildeten zweiten Natur von modernen Lebensformen, was im Kern in Honneths Anerkennungstheorie zu erkennen möglich ist. Im Folgenden werde ich diese bisher nur angedeuteten Erneuerungen ausführlich rekonstruieren und fragen, ob mit ihnen die kennzeichnenden Fragestellungen einer im kategorialen Rahmen kritischer Gesellschaftstheorie verfahrenden sozialphilosophischen Leidenskritik besser angegangen werden können. Zu diesem Zweck werde ich mich zunächst mit Honneths frühen Ausführungen zum Anerkennungsbegriff beschäftigen, aus denen seine Bedeutung sowohl für das Verständnis der Herausbildung individueller Autonomie sowie der normativen Struktur von Gesellschaften klären lässt. Hier ist vor allem zu fragen, ob sich die in diesem sozialtheoretischen und moralischen Bezugsrahmen beschriebenen Erfahrungen von Missachtung tatsächlich als soziales Leiden, das heißt als überflüssige Freiheitseinschränkungen innerhalb moderner sozialer Lebensformen auffassen lassen. In den folgenden zwei Kapiteln werde ich dann Honneths kürzlichen Versuch, eine Konzeption „sozialer Freiheit“ auf der Basis des Hegelʼschen Sittlichkeitsbegriffs auszuformulieren, behandeln und überprüfen, ob sich daraus Grundzüge einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik weiterentwickeln lassen. Als Leitfaden soll hier jene schon von Habermas vorgenommene Unterscheidung zwischen Fragen der Gerechtigkeit und einer Diagnose von Sozialpathologien dienen¹⁰⁹, die in Honneths Ausführungen auf der Grundlage einer Differenzierung zwischen Freiheitsformen eine überarbeitete Form annimmt.

 „Aber der Anwendungsbereich von Theorien der Gerechtigkeit ist begrenzt. Wenn man beispielsweise sozialpathologische Erscheinungen auf deformierte Anerkennungsverhältnisse oder Muster systematisch verzerrter Kommunikation zurückführen will, braucht man keine moralischen Maßstäbe, sondern einen umfassenden Begriff von kommunikativer Rationalität.“ Habermas 2009, S. 20.

Kapitel 5 Anerkennung und Missachtung In den Jenaer Schriften Hegels, so wurde bisher gezeigt, glaubt Honneth eine fruchtbare Quelle zur Überwindung der sozialtheoretischen Defizite kritischer Gesellschaftstheorie gefunden zu haben. Dort habe Hegel, so Honneth – und zwar von der Absicht geleitet, die Schwierigkeiten von Kants Autonomiebegriff anhand einer Wiederanknüpfung an die klassische Sittlichkeitslehre aufzulösen¹ –, eine radikale Umstellung der sozialontologischen Grundprämissen moderner Sozialphilosophie vollzogen: An die Stelle eines monologisch strukturierten Kampfs um Selbsterhaltung als Antriebskraft sozialer Dynamik lässt er nun eine intersubjektivistische Konzeption menschlicher Vergesellschaftung treten, das heißt die Ansicht, dass sich die Reproduktion von sittlichen Lebensformen, sofern das Selbstbewusstsein von Subjekten auf die praktische Bestätigung von Mitmenschen strukturell angewiesen ist, als ein wiederholter Kampf um Anerkennung vollzieht.² Mit diesem Grundgedanken wird Honneth zufolge ein Leitfaden geboten, um die intersubjektivistische Wende der Kritischen Theorie weiter fortzusetzen und zugleich den sozialen Konflikten noch einmal eine wesentliche Rolle in den gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen zuzuschreiben: [W]eil die Subjekte im Rahmen eines sittlichen einmal etablierten Verhältnisses stets etwas mehr über ihre besondere Identität erfahren, da es ja jeweils eine neue Dimension ihres Selbst ist, die sie darin bestätigt finden, müssen sie jene erreichte Stufe der Sittlichkeit auch auf konflikthafte Weise wieder verlassen, um gewissermaßen zur Anerkennung einer anspruchsvolleren Gestalt ihrer Individualität zu gelangen; insofern besteht die Bewegung der Anerkennung, die einem sittlichen Verhältnis zwischen Subjekten zugrundeliegt, aus einem Prozeß der einander ablösenden Stufen der Versöhnung und des Konfliktes zugleich.³

Diese originäre Intention von Hegels Philosophie ließe sich zudem, so Honneths frühe Überzeugung, insbesondere auf der Grundlage von G. H. Meads Sozialisationstheorie unter nachmetaphysischen Voraussetzungen weiterentwickeln: Mead hätte nicht nur ein Konzept menschlicher Freiheit umrissen, demzufolge die Zunahme von individueller Autonomie parallel zur Herausbildung von Gemeinschaftsbindungen auszudeuten sei, sondern auch die Ansicht vertreten, dass sich die jeweils etablierten intersubjektiven Verhältnisse unter dem Druck von psychisch angelegten individualisierenden Impulsen (das „I“) kontinuierlich auflösen und durch neue, umfassendere moralische Interaktionsbeziehungen ersetzt werden.⁴ Aus beiden Gedankengängen folgt dann eine neuartige, anerkennungstheoretische Bestimmung der konstitutiven Anfälligkeit von intersubjektiv vergesellschafteten Wesen, auf die schon Habermas hingewiesen habe: Es geht nun um einen „unauflöslichen Zusammenhang,

   

Zum Jenaer Programm Hegels siehe Siep 2014, S. 169 f. Siehe Honneth 1994a, S. 13. Honneth 1994a, S. 31. Vgl. Honneth 1994a, S. 114 ff.

https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-005

der zwischen der Unversehrbarkeit und Integrität menschlicher Wesen und der Zustimmung durch andere besteht. Es ist die interne, von Hegel und Mead aufgeklärte Verschränkung von Individualisierung und Anerkennung, aus der sich jene besondere Versehrbarkeit menschlicher Wesen ergibt.“⁵ Ausgehend von diesen Überlegungen soll im vorliegenden Kapitel überprüft werden, ob sich mit Honneths Anerkennungstheorie und seiner Kritik an Erfahrungen aus sozialer Missachtung die kennzeichnenden Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik beantworten lassen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst den Bedeutungsgehalt von Honneths Anerkennungsbegriff bis zu dem Punkt rekonstruieren, an dem sehr deutlich eine veränderte Konzeption der zweiten Natur von modernen sozialen Lebensformen und damit der individuellen Autonomie von Subjekten zutage tritt (5.1.). Im zweiten Schritt soll anschließend versucht werden aufzuklären, ob Honneths Phänomenologie moralischer Missachtungserfahrungen einen Begriff sozialen Leidens enthält, der dem bisher rekonstruierten Verständnis der Tradition kritischer Gesellschaftstheorie tatsächlich entspricht (5.2.).

5.1 Der Standpunkt der Anerkennung Auch wenn der Anerkennungsbegriff gegenwärtig im Mittelpunkt einer Vielzahl von philosophischen Debatten steht, so zeichnet sich Honneths Verwendung unter anderem doch dadurch aus, dass Anerkennungspraktiken von ihm sowohl ontologisch als auch ethisch ausgeführt werden.⁶ Denn nicht anders als Habermasʼ Bezeichnung der kommunikativen Alltagspraxis geht Honneth davon aus, dass freiheitsermöglichende Anerkennungspraktiken zwar ein anthropologisches Erfordernis darstellen, in ihrer inneren Struktur selber aber von historischen, normativ geprägten Bedingungen mitbestimmt sind. So hält er ausdrücklich fest: „Während die menschliche Lebensform im ganzen durch die Tatsache geprägt ist, dass Individuen nur durch wechselseitige Anerkennung zu sozialer Mitgliedschaft und damit zu einer positiven Selbstbeziehung gelangen, verändern sich deren Form und Gehalt mit dem Prozeß der Ausdifferenzierung von normativ geregelten Handlungssphären.“⁷ Aufgrund dieser normativ geprägten Betrachtungsweise von Anerkennungspraktiken greift Honneth nach Kampf um Anerkennung nicht mehr auf Meads Identitätskonzeption zurück.Wegen seines starken Naturalismus sei Meads Sozialisationstheorie, so stellt er nun kritisch fest, kategorial nicht in der Lage, im identitätsbildenden psychischen Mechanismus der Perspektivübernahme zugleich die normative Bedeutsamkeit der Haltung des jeweiligen Interaktionspartners angemessen zu reflektieren.⁸ Stattdessen wird er wieder stärker auf psychoanalytische Denkströmungen Bezug    

Honneth 1994a, S. 212. Zur Diskussion vgl. Ikäheimo 2009. Honneth 2003e, S. 310. Vgl. Honneth 2003e, S. 312.

nehmen, um den Bildungsprozess praktischer Selbstbeziehung unter anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten erklären zu können.⁹ Da sich aber diese Identitätsbildung ihm zufolge notwendigerweise im Zusammenhang sozial geregelter Interaktionsmuster vollzieht, führen Honneths sozialisatorische Überlegungen unmittelbar zu seinen gesellschaftstheoretischen Betrachtungen – das heißt zu der Vorstellung der Gesellschaft als eine Anerkennungsordnung.

5.1.1 Intersubjektive Identitätsbildung Nicht mehr die Freud’sche Trieblehre, wie noch für Horkheimer und Adorno charakteristisch, sondern die von der Objektbeziehungstheorie vollzogene intersubjektivistische Umdeutung der Psychoanalyse muss Honneth zufolge als Ansatzpunkt für die Formulierung einer kritischen Gesellschaftstheorie dienen. Aus dieser Neufassung, wie sie vor allem Donald Winnicott in seinen Schriften vorstellte, ließe sich eben ein anerkennungstheoretisches Erklärungsmuster personaler Identitätsbildung gewinnen, sofern diese besonders die wesentliche Bedeutung von frühkindlichen liebevollen Interaktionsbeziehungen für die Entwicklung der individuellen Psyche herausstellen würde.¹⁰ Auf deren kategorialen Grundlagen wäre daher der menschliche Sozialisationsprozess im Sinne einer schrittweisen Internalisierung von frühen Affektbeziehungen zu verstehen, sodass nun „die psychische Struktur, also das, was bei Erich Fromm noch Charakterformation geheißen hatten, als Niederschlag von typisierten Interaktionsmustern aufgefaßt wird.“¹¹ Ausgehend von der Objektbeziehungstheorie ließe sich darum, so wie Habermas mit Bezug auf Meads Sozialisationstheorie hervorgehoben hatte, eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung erkennen: Mit der Verinnerlichung frühkindlicher Bindungserfahrungen würden sich allmählich jene innerpsychischen Strukturen ausbilden, die es dem heranwachsenden Kind schließlich ermöglichen müssen, seine Unabhängigkeit gegenüber der zunächst symbiotisch erlebten Außenwelt zu behaupten und dadurch zu einer autonomen und kreativen Erschließung eigener Naturbedürfnisse zu gelangen.¹² Im Unterschied zu Meads und Habermasʼ Konzeption wird aber nach Honneth in Winnicotts Darstellung der frühkindlichen Reifungsprozesse, die ihm zufolge auf dem Weg einer gelingenden Loslösung von den ersten Bezugspersonen schließlich zur Erwerbung einer „Fähigkeit

 Zu Honneths Verständnis des Verhältnisses zwischen Kritischer Theorie und Psychoanalyse vgl. Honneth 2010 h, S. 251 ff.  Vgl. Honneth 2010 h, S. 254.  Honneth 2010 h, S. 258.  Vgl. Honneth 2003d, S. 148

zum Alleinsein“ führen,¹³ eine besondere Bedeutung den „frühesten, vorsprachlichen Interaktionserfahrungen“ zugewiesen, also jenen vor allem körperlichen und mimischen Ausdrucksformen der primären Fürsorgeverhalten, die sich nicht auf eine sprachlich vermittelte Verinnerlichung von normativen Verhaltenserwartungen reduzieren lassen.¹⁴ Mit der Erschließung dieser vorsprachlichen, bedürfnisbezogenen Erfahrungsschicht wird schon unter sozialisatorischen Gesichtspunkten ein Sachverhalt angedeutet, durch den sich Honneths Freiheitskonzeption in Bezug auf die Grundbegriffe von Habermasʼ kommunikationstheoretischem Autonomiemodell unterscheidet: Um zu einer gelingenden praktischen Selbstbeziehung zu gelangen, so ist weiter noch ausführlicher zu erläutern, muss immer ein Subjekt nicht nur in seiner moralischen Zurechnungsfähigkeit geachtet werden, sondern auch die Erfahrung machen können, in seiner besonderen, leibgebundenen Bedürfnisnatur anerkannt zu sein. Mit dieser Wendung zur Objektbeziehungstheorie distanziert sich Honneth aber nicht nur von Habermasʼ Autonomievorstellung, sondern auch von den Grundprämissen der zuvor rekonstruierten materialistischen Leidenskritik. In seinen ätiologischen Ausführungen hatte diese sich – wie oben gesehen – immer von der Vorstellung leiten lassen, dass eine unvernünftige Beherrschung der äußeren Natur notwendig subjektive Beeinträchtigungen, soziale Leidenserfahrungen also, bewirken muss und diese Einsicht auf der Grundlage der Freud’schen Neurosenlehre (insbesondere unter Verweis auf eine Erfahrung von Ohnmacht) weiter zu konturieren versucht. Wird nun das Bild einer triebdynamischen Natur gleichsam in intrapsychische Kommunikationsbeziehungen verflüssigt¹⁵ und der Sozialisationsvorgang nach dem Kriterium eines immer wieder zu sichernden Gleichgewichts zwischen emotionaler Bindung und Selbstständigkeit beurteilt, so ergibt sich daraus ein anderes Vorbild gelungener individueller Selbstbeziehung, wobei sich nicht länger die Ich-Stärke, sondern die „innere Lebendigkeit“ oder der „intrapsychische Reichtum“ als entscheidend erweisen: „Als reif, als vollständig entwickelt muß dann dasjenige Subjekt gelten, das sein Potential an innerer Dialogfähigkeit, an kommunikativer Verflüssigung seiner Selbstbeziehung dadurch zur Entfaltung zu bringen vermag, daß es möglichst vielen Stimmen der unterschiedlichsten Interaktionsbeziehungen in seinem eigenen Inneren Gehör verschafft.“¹⁶

 „Im Lauf der Zeit – so wird diese Entwicklung von Winnicott zusammengefasst – introjiziert das Individuum die ich-unterstützende Mutter und wird auf diese Weise fähig, allein zu sein, ohne häufig auf die Mutter oder das Muttersymbol Bezug zu nehmen.“ Vgl. Winnicott 1974, S. 41.  Honneth 2010 h, S. 256.  Honneth zufolge gäbe es im Laufe der Sozialisation eine von Interaktionsbeziehungen ermöglichte Umwandlung von zunächst bloß organisch gegebenen Impulsen in organisierten Trieben: „Dann stellt sich die Psyche des erwachsenen Menschen ingesamt als ein Kommunikationsnetz von unterschiedlichen organisierten Antriebsenergien dar.“ Honneth 2003d, S. 158 f.  Honneth 2003d, S. 160. Zu dieser Vorstellung von innerer Freiheit vgl. auch Honneth 2007 f.

Diese Distanzierung hält Honneth selbst in seiner Auseinandersetzung mit Franz Neumanns Angstverständnis ausdrücklich fest, auf das ich oben hingewiesen habe, um die für eine materialistische Ätiologie sozialen Leidens bestimmende Einsicht einer Verkümmerung von Ich-Kräften zu bezeichnen.¹⁷ Neumanns Aufsatz sei von der vielversprechenden Absicht getragen, so Honneth, jene „unnötigen oder überflüssigen Formen von Angst“ zu differenzieren, die als psychische Hindernisse für eine freie Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess angenommen werden mussten.¹⁸ In diesem Versuch musste er jedoch scheitern, indem er den Grundannahmen der Neurosenlehre Freuds verhaftet bleibt und dadurch eine allzu verkürzte Beschreibung von sozialen Angstphänomenen zu geben vermochte, der zufolge diese sich vor allem auf eine „Lähmung der Ich-Funktionen und daher eine Paralysierung des Subjekts“ zurückführen lassen.¹⁹ Damit wird nicht nur fälschlicherweise angenommen, so stellt Honneth weiter fest, dass emotionale Bindungen stets mehr oder weniger irrationale Kräfte darstellen, sondern auch völlig aus dem Blick verloren, dass „wir durchaus Formen der Entgrenzung des Ichs auch kennen, die als Zeichen seelischer Gesundheit oder Vitalität gelten“ und deshalb keine pathologischen Zustände verkörpern, sondern ganz im Gegenteil eine „positive Funktion für die Wiedergewinnung psychischer Kreativität“ spielen.²⁰ Dabei hat Honneth gerade jene auch von der Objektbeziehungstheorie aufgeklärten, sporadisch auftretenden Symbioseerfahrungen vor Augen, etwa „die tendenzielle Verschmelzung mit dem geliebten Partner, das völlige Versinken im Spiel mit Kindern“, die gar nicht mit den Ich-schwächenden Tendenzen der regressiven Massenbildung gleichzusetzen wären.²¹ Während sich bereits mit diesen Ausführungen auf einer sozialisationstheoretischen Ebene als unzulänglich herausstellen lässt, subjektive Beeinträchtigungen allein mit der Schwächung von Ich-Kräften zu identifizieren, setzt Honneth sich andererseits auch mit jenen gegenwärtigen Ansätzen auseinander, die angesichts der erwachsenen Vervielfältigung von normativen Erwartungen den übereilten Schluss ziehen, dass die Subjekte zwingend an einer mangelhaften Integration von pluralisierten Identitätsentwürfen leiden müssen. Derartige Zeitdiagnosen würden nach Honneth nicht nur unzureichend zwischen normativen Identitätszuschreibungen und formalen Kompetenzen von kommunikativ vergesellschafteten Subjekten unterscheiden, sondern auch die Tatsache vergessen, dass das Ausmaß, in dem jene soziokulturellen Entwicklungen tatsächlich schädliche Wirkungen für die Einzelnen hervorrufen können, letztlich nur von ihrer sozial bedingten Fähigkeit abhängt, jene

 Siehe Neumann 1967.  Honneth 2007e, S. 180.  Honneth 2007e, S. 182.  Honneth 2007e, S. 186. Vgl. dazu auch Honneth 2003d, S. 159.  Honneth 2007e, S. 186. Ebenfalls kritisch zur einseitigen Hervorhebung der regressiven Züge von Gruppen vgl. Honneth 2010i, S. 261 ff.

unterschiedliche Identitätsmöglichkeiten kommunikativ zu artikulieren und in ihr eigenes Selbstbild zu integrieren.²² Eine besonders erhellende Kraft könnten hier Honneths kritische Anmerkungen zum berühmten Risikobegriff Ulrich Becks besitzen.²³ In der These einer Risikogesellschaft wäre eben die Vorstellung enthalten, dass die Subjekte sich heutzutage mit neuartigen sozialen Risiken konfrontiert sähen, die sich aus den gegenläufigen Tendenzen zu einer beschleunigten Auflösung von traditionellen Bindungen und zugleich zu einer zunehmenden Abhängigkeit von standardisierenden Entwicklungen (etwa im Konsummarkt) ergeben. Diesbezüglich merkt Honneth dann an, dass die Beantwortung der Frage, ob die damit herausgestellte Ausdifferenzierung von Lebenslagen und die Zunahme von Wahlmöglichkeiten tatsächlich die individuellen Freiheitschancen erhöhen oder bedrohen, allein auf der Grundlage einer grundbegrifflichen Unterscheidung zwischen Vorgängen der „Individualisierung“, „Privatisierung“ und „Autonomisierung“ möglich wäre. Denn während der erste Prozess nur auf eine objektive Erweiterung von Handlungsoptionen, die sich daher „unabhängig von der Perspektive der beteiligten Akteure beschreiben lassen“, hinweist, könnte man von Privatisierung oder Vereinzelung nur unter gleichzeitiger Einbeziehung der Sicht der Betroffenen sprechen; denn man sollte hier vor allem klären, ob sie selbst die Enttraditionalisierung von Lebensformen als einen Gemeinschaftsverlust erfahren. Noch anspruchsvoller wäre schließlich die Idee einer „Autonomisierung“, sofern es sich hier um einen Freiheitsgewinn handelte, die notwendig eine reflexive Leistung voraussetzt – das heißt die Fähigkeit, „die institutionelle Erweiterung von individuellen Handlungsspielräumen auch als Chance für die eigene Selbstbestimmung“ verwenden zu können.²⁴ Honneths Anerkennungstheorie zufolge sind daher subjektive Beeinträchtigungen, so lässt sich aus den bisherigen Ausführungen schließen, weder nach dem für die frühe materialistische Leidenskritik bestimmenden Erklärungsansatz einer Verkümmerung von Ich-Fähigkeiten noch gemäß dem für viele gegenwärtige Zeitdiagnosen kennzeichnenden Vorbild einer Überforderung von Identitätsmöglichkeiten angemessen zu erfassen. Bevor ich aber weiter klären kann, worin dann die Beschädigung praktischer Selbstbeziehung unter anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten bestehen muss, sollte die bisher noch offene Frage wiederaufgenommen werden, inwiefern sich mit der Einbeziehung der Objektbeziehungstheorie der sich in Meads Identitätskonzeption findende starke Naturalismus tatsächlich aufheben lässt. Der Schlüssel dazu scheint in Honneths Feststellung zu liegen, dass die von Winnicott aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive beschriebene intersubjektive Identitätsbildung die Struktur einer Anerkennungsbeziehung besitzt und insofern einen normativen Gehalt beweist. Zur Klärung dieser Einsicht ist es daher ratsam, zunächst

 Honneth 2003d, 162. Siehe dazu auch Honneth 1994b.  Siehe Honneth 1994c.  Honneth 1994c, S. 24 ff.

auf kategoriale Präzierungen zurückzugreifen, mit denen Honneth aufzuklären versucht hat, was es überhaupt heißt, jemanden anzuerkennen. Zumindest in den auf Hegel zurückgehenden Lesearten ist es relativ unumstritten, dass die Struktur eines Anerkennungsvorgangs stets eine befürwortende Einstellung, also eine positive Haltung gegenüber wertvollen Eigenschaften oder Fähigkeiten von anderen Subjekten impliziert.²⁵ Daraus ergibt sich dann die Frage, wie genau der moralische Sinn einer solchen Interaktionsbeziehung zu fassen ist – das heißt, wie Honneth die dazu zur Verfügung stehenden Alternativen zunächst beschreibt: ob man Anerkennung „eher als einen attributiven oder als einen rezeptiven Akt verstehen sollte“²⁶. Nach der ersten Möglichkeit, dem „Muster einer Attribuierung“, bestünde ein Anerkennungsvorgang nämlich vor allem aus einer produktiven Zuschreibung von normativ relevanten Eigenschaften, die der jeweilige Interaktionspartner vor der Etablierung der Beziehung eigentlich nicht besitzen könnte; nach dem zweiten Deutungsvorschlag dagegen, dem „Muster einer Wahrnehmung“, handelte es sich vielmehr um eine reproduktive oder nur bestätigende Leistung von bereits irgendwie existierenden Eigenschaften oder Fähigkeiten. Beide Alternativen geraten jedoch, so Honneth, notwendig in grundsätzliche kategoriale Schwierigkeiten: Während mit der Annahme einer Attribuierung von wertvollen Eigenschaften der moralische Gehalt des Anerkennungsbegriffs streng abhängig von Zuschreibungspraktiken gemacht werde, beweise das zweite Modell dagegen eine gewisse Tendenz zum starken Wertrealismus, denn auf dessen Grundlage sollte es möglich sein, irgendwie „die objektive Existenz von Werten“ zu erkennen, die die moralische Bedeutung einer Anerkennungsbeziehung im Vorhinein festlegen.²⁷ Eine vermittelnde Lösung entwirft Honneth daraufhin unter der Vorstellung eines „gemäßigten Wertrealismus“. Diesem zufolge sei zuerst hinzunehmen, dass die in Anerkennungsbeziehungen implizierten Praktiken der Zuschreibung nicht in einem normativ leeren Raum stattfinden, sondern sich immer innerhalb eines „Reich[es] der Gründe“ vollziehen – das heißt, dass „unsere Anerkennung anderer Personen durch Gründe motiviert ist, die wir gegebenenfalls auch zu artikulieren versuchen können“²⁸. Und um diesen moralischen Gehalt nicht auf der Basis von historisch unveränderbaren Wertvorstellungen erklären zu müssen, sollte man Honneth zufolge zweitens hervorheben, dass ein solcher Raum der Gründe nur als Ergebnis von geschichtlichen Entwicklungsprozessen und somit veränderbar, aber nicht beliebig ist. Zusammengenommen führen beide Gedanken schließlich zu der Vorstellung eines engen, immanenten Zusammenhangs zwischen Anerkennungspraktiken und der zweiten Natur von sozialen Lebensformen:

 Zu einer alternativen, vor allem die herrschaftssichernde Funktion von Anerkennungspraktiken betonenden Auffassung siehe etwa Markell 2003.  Honneth 2003e, S. 320. Vgl. zum Folgenden auch Honneth 2010d, 109 ff.  Honneth 2003e, S. 322.  Honneth 2003e, S. 322.

[D]erartige Werte [stellen] lebensweltliche Gewißheiten dar, deren Charakter geschichtlichen unterliegen kann; es wären dann nicht unverrückbare, objektive, sondern historisch wandelbare Werteigenschaften, die wir an Personen (oder Gruppen) wahrnehmen können müssen, um auf sie im anerkennenden Verhalten ‚richtig‘ zu reagieren. […] Die soziale Lebenswelt wäre nach Art einer ‚zweiten Natur‘ zu begreifen, in die die Subjekte dadurch hineinsozialisiert werden, daß sie sukzessive die wertvollen Eigenschaften von Personen zu erfahren lernen; […] im Ergebnis könnten wir dann das menschliche Anerkennungsverhalten als ein Bündel von Gewohnheiten verstehen, die im Prozeß der Sozialisation mit den revisionsfähigen Gründen des Wertes anderer Personen verknüpft worden sind.²⁹

Mit dieser ersten Bezeichnung einer aus moralischen Anerkennungserwartungen bestehenden zweiten Natur sozialer Lebenswelt, die im Folgenden noch weiter zu präzisieren ist, kann Honneth dann den normativen, nicht bloß naturbestimmten Erfahrungsgehalt frühkindlicher Interaktionsbeziehungen zur Darstellung bringen. Er geht insofern davon aus, dass jene primären, wie gesagt vor allem körperlichen und mimischen Ausdruckformen, mit denen dem Heranwachsenden „Liebe, Anteilnahme und Mitgefühl“ vermittelt wird, einen „moralischen Kern“ besitzen: Durch diese vorsprachlichen Kommunikationsweisen wird nicht einfach das Kind kognitiv als ein unabhängiger Interaktionspartner angesehen, sondern es werden ihm all jene moralischen Fähigkeiten zugewiesen, die ihm ein Leben als autonomes und individuiertes Wesen ermöglichen sollen: „Die frühe Form von Anerkennung, die Bezugspersonen dem Kleinkind durch ihr expressives Verhalten entgegenbringen, ist Ausdruck einer Wahrnehmung von Eigenschaften, die symbolisch auf die Zukunft einer intelligiblen Person verweisen.“³⁰ Der Bildungsprozess innerer Freiheit wäre insofern nicht nur intersubjektiv gestaltet, sondern zugleich maßgeblich normativ geprägt, da die zur praktischen Selbstbeziehung führende Verinnerlichung von frühen affektiven Bindungen nur auf der Basis von sittlichen Gründen – nach einer moralischen Grammatik also – stattfinden könnte: „Jede der Objektbeziehungen des Kindes, also jede seiner stabilisierten Interaktionen mit einem konkreten oder generalisierten Anderen, hat eine sozial typisierte Form, so daß sich auch in den durch Internalisierung erworbenen Instanzen stets die spezifische Struktur der gesellschaftlichen Interaktionsverhältnisse spiegelt.“³¹ Mit dieser Klärung des normativen Gehalts von Identitätsbildungsprozessen wird bereits umrissen, inwiefern gesellschaftstheoretische Gesichtspunkte im Kern von Honneths Anerkennungsbegriff enthalten sind. Denn mit der Erschließung jenes ursprünglichen, vorsprachlichen Kommunikationsraums wird zugleich eine Sozialsphäre zur Darstellung gebracht, die nicht lediglich für die Sozialisation des heranwachsenden Kinds, sondern auch für die Freiheitssicherung von Subjekten überhaupt

 Honneth 2003e, S. 323 f.  Honneth 2003c, S. 25.  Honneth 2010 h, S. 258. Hervorhebung C.S.

sowie für die normative Integration von Gesellschaften von unverzichtbarer Bedeutung ist.³²

5.1.2 Die Gesellschaft als Anerkennungsordnung Jene primäre Sozialsphäre, so kann Honneth mit Rückbezug auf Hegel behaupten, stellt die Anerkennungsbeziehung der „Liebe“ dar. Denn schon in seiner Jenaer Zeit habe Hegel deutlich die Überzeugung ausgedrückt, dass im Rahmen von durch gegenseitige Liebe geprägten Familienverhältnissen die Einzelnen eine „reziproke Erfahrung des Sich-im-anderen-Wissens“ in elementarer Form machen können: Sofern sie sich darin in ihrem natürlichen Selbst bestätigt fühlen, vermögen sie in ihrer unvertretbaren Individualität sich wechselseitig anerkannt wissen und eine primäre Dimension ihrer individuellen Autonomie ausbilden.³³ Wenn darin außerdem der Kern jeder sittlichen Lebensform und deshalb das Grundmuster jeder Freiheitserweiterung zu sehen möglich ist, wie Hegel überzeugt war, ergibt sich Honneth zufolge die Notwendigkeit, die normative Integration von Gesellschaften im Ganzen im Sinne einer institutionalisierten moralischen Anerkennungsordnung beschreiben können: Dem primären Interaktionsverhältnis der Liebe sollten demgemäß noch weitere, höherstufige sittliche Sphären der wechselseitigen Anerkennung hinzugefügt werden, in denen sich die Subjekte ihre Autonomie in verschiedenen Hinsichten intersubjektiv ausbilden und verwirklichen können. Diese Anerkennungsbeziehungen führt Honneth als die Sphären des modernen Rechts und der sozialen Wertschätzung ein, die neben der Liebe ein Netzwerk von moralischen Interaktionsverhältnissen verkörpern, innerhalb dessen sich die Einzelnen mittels der Bestätigung durch andere auf verschiedene zentrale Aspekte ihrer praktischen Identität positiv beziehen und damit die notwendigen Vorbedingungen ihrer Selbstverwirklichung schaffen können. Im Folgenden möchte ich Honneths Darstellung der Gesellschaft als Anerkennungsordnungen unter zwei für die Zwecke einer Leidenskritik besonders relevanten Gesichtspunkten rekonstruieren. Zum einen soll gezeigt werden, worin der jeweilige Freiheitsgewinn in jeder Anerkennungssphäre besteht und warum diese Interaktionsverhältnisse – auch wenn sie auf unterschiedlichen Anerkennungsprinzipien beruhen – letztlich eine ähnliche sittliche Struktur aufweisen, die sich als ein intersubjektiver, normativ geprägter Bildungsprozess individueller Autonomie bezeichnen lässt. Und zum anderen soll auch gezeigt werden, dass die verschiedenen Anerkennungssphären eine Art von praktischem Wissen verkörpern, das erst unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen entstanden und über kulturelle Besonderheiten hinaus aufzufassen möglich ist. Aus beiden Gedanken ergibt sich dann die Einsicht, dass Honneths Beschreibung der Gesellschaft als moralische Anerkennungsordnung

 Siehe Honneth 2003 f, 204 f.  Honneth 1994a, S. 63 ff. Vgl. dazu auch Siep 2014, S. 100 ff.

im Sinne einer veränderten Konzeption der zweiten Natur moderner sozialer Lebensformen angenommen werden kann. Wie erwähnt, entspricht zunächst der durch die Anerkennungsbeziehung der „Liebe“ erzielte Freiheitsgewinn weitgehend Hegels Darstellung der sittlichen Struktur der Familie. Ausgehend von Winnicotts Ausführungen kann Honneth nun den Erfahrungsgehalt jenes auf gegenseitiger Zuneigung beruhenden Interaktionsverhältnisses als einen Bildungsprozess spezifizieren, durch den die Einzelnen eine elementare Form von „Selbstvertrauen“ erwerben. Die Herausbildung einer psychischen „Fähigkeit zum Alleinsein“ bringt insofern eine intersubjektiv ermöglichte Entwicklung zur Vollendung, durch die das Kind jene frühen beschützenden Bindungen, die zunächst auf die physische Anwesenheit der ersten Bezugspersonen angewiesen sind, allmählich auf seine innere psychische Realität überträgt.³⁴ In diesem Gewahrsein „der fortwährenden Existenz einer zuverlässigen Mutter“³⁵ drückt sich daher ein Vergeistigungsprozesses der inneren, triebhaften Natur von Subjekten aus, von dem aus sie erst in die Lage versetzt werden, eine elementare Form individueller Freiheit zu genießen: „[D]as Kleinkind gelangt dadurch, dass es sich der mütterlichen Liebe sicher wird, zu einem Vertrauen in sich selber, das es ihm ermöglicht, sorglos mit sich allein zu sein.“³⁶ Als Folge dieses Bildungsprozesses können die Einzelnen sich insofern als bedürftige Wesen anerkannt wissen, das heißt die Erwartung ausbilden, in ihrer Bedürfnisnatur von anderen Gesellschaftsmitgliedern geachtet zu werden. In diesem Sinne werden dadurch die frühen Erfahrungen einer „leiblich-seelischen Geborgenheit“³⁷ allmählich in eine umfassendere moralische Anerkennungserwartung, das heißt in einen sozial berechtigten Anspruch auf körperliche Integrität, umgewandelt. Doch – wie oben erläutert – ist diese Freiheitserweiterung nicht einfach von intersubjektiven Verhältnissen abhängig, sondern in ihrer Struktur selbst auf historisch herausgebildete normative Gehalte angewiesen, die in habitualisierten Interaktionsund Verhaltensformen zum Vorschein kommen. Aus diesem Grund, auch wenn sie von Honneth zunächst (im Kampf um Anerkennung) eher als eine anthropologische Konstante begriffen wird, bezieht sich diese primäre Anerkennungsbeziehung auf moralische Gründe, die erst aus historischen Entwicklungsprozessen hervorgegangen sind – und zwar vor allem aus der Aussonderung der Kindheit als eine „besonders schutzbedürftige Phase“ und die Verselbstständigung des Ideals romantischer Liebe von sozioökonomischen Zwängen. Erst daraus wäre „ein allgemeines Wissen um eine gesonderte Art der Sozialbeziehung“ – die Anerkennungssphäre der Liebe – historisch entstanden, „die im Unterschied zu anderen Interaktionsformen durch das Prinzip der wechselseitigen Zuneigung und Fürsorge gekennzeichnet ist“³⁸.     

Siehe Winnicott 1974, S. 40. Winnicott 1974, S. 41. Honneth 1994a, S. 168. Honneth 2010j, S. 296. Honneth 2003 f, S. 163 f.

Aus diesen Gründen darf die hauptsächlich auf wechselseitigen Fürsorgepflichten und Fürsorgeansprüchen beruhende Anerkennungsbeziehung der Liebe als ein wesentlicher Bestandteil der zweiten Natur von modernen sozialen Lebensformen angenommen werden. Für die in diesem historischen Zusammenhang vergesellschafteten Subjekte gilt es dementsprechend als selbstverständlich, dass ihre körperliche Unversehrtheit und individuelle Bedürfnislage von allen anderen Gesellschaftsmitgliedern geachtet werden soll. Dies heißt aber nicht, dass diese Sphäre der Liebe den potenziellen geschichtlichen Veränderungen vollständig entzogen ist. Schon in der Struktur selbst jener durch Liebesbeziehungen gewonnenen Freiheit sei nach Honneth eine Spannung angelegt, denn es handelte sich dabei immer um die Fähigkeit, zwischen Selbstständigkeit und der affektiven Bindung an andere – mit Winnicotts Worten: zwischen Ich-Bezogenheit und Ich-Entgrenzung – eine gesunde Balance zu schaffen.³⁹ Zusätzlich wäre die Bestimmung der Bedürftigkeit von Subjekten notwendig umstritten, sofern sie stets aus kontextgebundenen und kulturell geprägten Deutungspraktiken hervorgeht – in diesem Sinne ist hier beispielsweise immer mit Auseinandersetzungen darüber zu rechnen, ob die Bedürfnisse einzelner Subjekte tatsächlich angemessen behandelt werden oder ob neue Schichten subjektiver Natur ebenso als schutzbedürftig angesehen werden sollen. Besonders wichtig ist dabei jedoch die Tatsache, dass diese Konflikte stets normativ auf eine Freiheitsmöglichkeit verweisen, die in der moralischen Infrastruktur moderner Gesellschaften als ein Anerkennungsanspruch institutionalisiert ist: die sozial berechtigte Erwartung, als bedürftiges Wesen anerkannt zu sein. Nicht anders, selbst wenn es hier um eine affektiv neutralisierte Art moralischer Achtung handelt, ist die durch die Anerkennung von Rechten ermöglichte Freiheitserweiterung zu verstehen. Mit der Statuszuweisung einer Rechtsperson werden die Subjekte nun als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder anerkannt, was folglich die öffentliche Befürwortung ihrer Fähigkeit bedeutet, „in individueller Autonomie über moralische Fragen vernünftig“ entscheiden zu können.⁴⁰ Mit dieser Ansicht einer „moralischen Zurechnungsfähigkeit“, die den Einzelnen durch die Gewährung rechtlicher Freiheiten notwendigerweise unterstellt wird, will Honneth besonders den „Interaktionscharakter von Rechten“ hervorheben, das heißt die Tatsache, dass sie nicht einfach „sekundäre Garanten von andernorts erkämpften Ansprüchen“, sondern „unabhängige, originäre Quelle von sozialer Anerkennung“ darstellen.⁴¹

 Siehe Winnicott 1974, S. 42. Dementsprechend hält Honneth fest: „Insofern bezeichnet die Anerkennungsform der Liebe, die Hegel als ein ‚Seinsselbstsein in einem Fremden‘ beschrieben hatte, nicht einen intersubjektiven Zustand, sondern einen kommunikativen Spannungsbogen, der die Erfahrung des Alleinseinkönnens kontinuierlich mit der des Verschmolzenseins vermittelt; die ‚Ich-Bezogenheit‘ und die Symbiose stellen darin sich wechselseitig fordernde Gegengewichte dar, die zusammengenommen erst ein reziprokes Beisichselbstsein im Anderen ermöglichen.“ Honneth 1994a, S. 170.  Honneth 1994a, S. 184.  Honneth 2003 g, S. 289.

Wenn Rechte dann – von außen gesehen – eher als eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten erscheinen, implizieren sie für das Selbstverhältnis der Subjekte zugleich die Chance, eine weitere Dimension positiver Selbstbeziehung zu erreichen, die Honneth unter dem Begriff „Selbstachtung“ zusammenfasst: Als eine Art „psychischer Begleiterscheinung“ der Anerkennung von Rechten können sie nun die legitime Erwartung ausbilden, ihren individuellen Willen und ihre persönliche Würde unter gleichberechtigten Bedingungen innerhalb der politischen Gemeinschaft Geltung zu verschaffen.⁴² Auch hier findet daher ein intersubjektiver und sittlich geprägter Bildungsprozess statt, weil diese moralische Erwartung nur aus einer wechselseitigen Perspektivübernahme entstehen kann: [W]ir [können] zu einem Verständnis unserer selbst als eines Trägers von Rechten nur dann gelangen, wenn wir umgekehrt ein Wissen darüber besitzen, welche normative Verpflichtungen wir dem jeweils anderen gegenüber einzuhalten haben: erst aus der Perspektive eines ‚generalisierten Anderen‘, der uns die anderen Mitglieder des Gemeinwesens bereits als Träger von Rechten anzuerkennen lehrt, können wir selber auch als Rechtsperson in dem Sinne verstehen, daß wir uns der sozialen Erfüllung bestimmter unserer Ansprüche sicher sein dürfen.⁴³

Viel deutlicher tritt hier aber der Umstand zutage, dass diese wechselseitige Anerkennung moralischer Zurechnungsfähigkeit eine besondere Eigenschaft von modernen Gesellschaften darstellt, da sie erst aus der Abschaffung von ständischen Vorrechten und der Durchsetzung eines allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes als Legitimationsgrundlage der Rechtsordnung historisch entstehen konnte.⁴⁴ Für in modernen Lebensformen vergesellschaftete Individuen gilt es dementsprechend auch als selbstverständlich, dass institutionelle Zusammenhänge und Normen nur gültig sein dürfen, wenn sie in irgendeiner Form mit der freien Zustimmung von ihnen rechnen können. So wie sich dann aus der Anerkennungsbeziehung der Liebe ein Anspruch auf körperliche Integrität ergibt, entsteht mit den modernen Rechtsverhältnissen die ebenso tief verankerte moralische Forderung, als ein zustimmungsfähiges und anspruchsberechtigtes Subjekt im politischen Gemeinwesen behandelt zu werden. Ebenfalls offensichtlicher als für den Fall der Liebe sind die mit der modernen Rechtsgleichheit verbundenen Veränderungsprozesse; denn jene subjektiven Eigenschaften und sozialen Vorbedingungen, die eine gleichberechtigte Mitwirkung am politischen Willensbildungsprozess sichern sollen, sind je nach historischen Bedingungen anders zu fassen und setzen insofern stets eine Situationsdeutung voraus. Die berühmte These von T. H. Marshall über eine allmähliche Anreicherung des normativen Gehalts der Staatsbürgerschaft – von liberalen Freiheits- über politische Teilnahme- bis zu sozialen Wohlfahrtsrechten – ließe sich Honneth zufolge eben als die erkämpfte Erweiterung der Voraussetzungen auffassen, unter denen eine gleichbe-

 Siehe Honneth 1994a, S. 191 ff.  Honneth 1994a, S. 174.  Vgl. Honneth 2003 f, S. 165.

rechtigte Teilnahme an öffentlichen Willensbildungsprozessen als gesichert angesehen werden kann.⁴⁵ Ob die Auseinandersetzungen um die konkrete Auslegung der Rechtsgleichheit als Forderungen nach einer „Generalisierung“ bis zu bisher ausgeschlossenen Subjekten oder vielmehr als Forderungen nach einer „Materialisierung“ von schon verfügbaren Freiheiten auftreten⁴⁶, es handelt sich dabei immer um Konflikte, in denen „die Subjekte die Gleichheitsidee der modernen Rechtsordnung einklagen können, indem sie auf ihre eigene Mitgliedschaft oder strukturelle Aspekte ihrer Lebenslage hinweisen, um als Gleiche unter Gleichen behandelt zu werden.“⁴⁷ Insofern lässt sich festhalten, dass das egalitäre Rechtssystem – auch wenn die tatsächlich gewährten Rechte je nach institutionellen und kulturellen Kontexten gewiss sehr variieren können – ein weiterer wesentlicher Bestandteil der zweiten Natur von modernen sozialen Lebensformen darstellt. Denn in dieser Anerkennungsordnung erwerben die Subjekte – so Honneths Überzeugung – jene besondere Form von individueller Freiheit, die in dem sozial berechtigten Anspruch besteht, als ein autonomiefähiges und gleichwertiges Mitglied einer politischen Gemeinschaft geachtet zu werden. Eine dritte, für die individuelle Autonomie von Subjekten ebenso bestimmende Anerkennungsordnung wird von Honneth schließlich als eine Sphäre sozialer Wertschätzung ausgeführt. Innerhalb dieser können sie sich wechselseitig vergewissern, dass ihre individuellen Beiträge von Bedeutung für die Reproduktion des sozialen Lebens sind, und damit die Chance gewinnen, „sich auf ihre konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten positiv zu beziehen“.⁴⁸ Den dadurch erzielten Freiheitsgewinn expliziert Honneth somit als die Erwerbung eines Gefühls von „Selbstschätzung“ und deshalb zugleich als die institutionelle Grundlage moderner Solidarität (im Sinne Durkheims), da es hier um die Gewährung von Chancengleichheit geht – also um die Möglichkeit eines jeden einzelnen Mitglieds, „sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Gesellschaft zu erfahren“⁴⁹. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass es sich hier nur um eine viel stärker kulturell geprägte Anerkennungsordnung handelt – in der Tat können die Einzelnen sich als geschätzte Gesellschaftsmitglieder allein mit Bezug auf einen gemeinsamen Werthorizont verstehen, auf dessen Grundlage sie dann für sich aufzuklären vermögen, „in welchen Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken“.⁵⁰ Auf einer höherstufigen Ebene der moralischen Reproduktion von modernen Gesellschaften lässt sich jedoch erkennen, dass sie die legitime Zuweisung sozialer Wertschätzung und Verteilung von ökonomischen Ressourcen nach Kriterien der in-

 Siehe Honneth 1994a, S. 185 f. Mit dieser Begründung sozialer Rechte werde ich mich später noch ausführlicher beschäftigen (Kap. 8).  Honneth 1994a, S. 191, 282.  Honneth 2010 g, S. 225.  Honneth 1994a, S. 196.  Honneth 1994a, S. 210.  Honneth 1994a, S. 198.

dividuell vollgebrachten Leistungen normativ organisieren. So wie die normative Leitidee der Rechtsgleichheit steht daher das Leistungsprinzip auch für ein umfassenderes praktisches Wissen, das erst aus der Auflösung von traditionellen Vorstellungen (etwa auf der Basis des Ehrbegriffs) distributiver Gerechtigkeit historisch entstehen konnte. Für die Mitglieder moderner Gesellschaften gilt es insofern schließlich auch als selbstverständlich, dass soziale Wertschätzung und die damit verbundenden materiellen Belohnungen nur legitim sein dürfen, wenn sie – zumindest annäherungsweise – den jeweiligen individuellen Anstrengungen entsprechen. Auch hier gebe es Honneth zufolge notwendig einen „konflikthaften Aushandlungsprozeß“, weil die Frage, was als Leistungsbeitrag gelten soll, gar nicht wertneutral zu lösen wäre.⁵¹ Wenn die Subjekte aber eine angemessenere Wertschätzung ihrer Beiträge oder die vorausliegende Anerkennung ihrer Tätigkeiten als Leistungsbeiträge erfordern, nehmen sie immer eine gemeinsame Orientierung am Anerkennungsprinzip der Leistung an. In der zweiten Natur von modernen Lebensformen ist daher auch die Freiheitserwartung festgeschrieben, dass „jedes Gesellschaftsmitglied zugleich als ‚Arbeitsbürger‘ gemäß seiner Leistung soziale Wertschätzung genießen soll“⁵². Zusammengenommen bezeichnen daher diese drei Anerkennungsordnungen – Liebe, Recht und soziale Wertschätzung – die moralische Infrastruktur moderner Gesellschaften. Obgleich sich in jeder Sphäre selbstbezügliche Normen (Liebe, Rechtsgleichheit und Leistung) verkörpern und dementsprechend unterschiedliche wechselseitige Interaktionsverhältnisse (mit Liebespartnern, Rechtsgenossen, Mitbürgern) etablieren, besitzen sie letztlich eine ähnliche sittliche Struktur: In jeder Anerkennungsordnung führen die Einzelnen einen intersubjektiven Bildungsprozess durch, infolgedessen sie sich als voneinander abhängig, aber dennoch als selbstbestimmte Wesen erfahren und sie damit unterschiedliche Dimensionen einer positiven Selbstbeziehung (Selbstvertrauen, Selbstachtung, Selbstschätzung) erreichen können.⁵³ Es gibt demnach zureichende Gründe, um diese Darstellung eines Netzwerks freiheitsermöglichender Sphären als eine anerkennungstheoretische Konzeption der zweiten Natur moderner sozialer Lebensformen anzunehmen. Zunächst einmal handelt es sich dabei um sozial etablierte Interaktionsverhältnisse, die – wie gesagt – auf

 Honneth 2003 f, S. 184.  Honneth 2003 f, S. 166.  Gerade darin besteht der Erfahrungsgehalt der Hegelʼschen Vorstellung eines „Beisichselbstseins im Anderen“, wie es etwa von Neuhouser beschrieben wird: „This expanded definition of freedom [… ] is supposed to give expression to the possibility of reconciling an entity’s necessary relatedness to an other with its being ‚with itself’ and therefore self-determined. As Hegel conceives it, essential independence from the other can be achieved not through the abolition of the other – not by simply making the other cease to be – but only by doing away with (‚negating’) the otherness, or alien character, of the other. […] Freedom, then, is a state of being-with-oneself that is attainable only through a process best characterized as the overcoming of otherness.“ Neuhouser 2000, S. 19.

historisch herausgebildeten, spezifisch modernen Anerkennungsnormen beruhen. So wie Habermas die kommunikative Alltagspraxis führt Honneth deshalb die Idee von Anerkennung als eine anthropologische Notwendigkeit ein, die aber in ihrer inneren Struktur selbst durch historische Bedingungen mitgeprägt sei: [D]ie spezifische Angewiesenheit auf intersubjektive Anerkennung, durch die die menschliche Lebensform gekennzeichnet ist, [wird] stets durch die besondere Art und Weise geprägt sein, in der in einer Gesellschaft jeweils die wechselseitige Gewährung von Anerkennung institutionalisiert ist. Methodisch gesehen geht mit einer derartigen Überlegung die Konsequenz einher, daß die subjektiven Anerkennungserwartungen nicht einfach aus einer anthropologisch verstandenen Persönlichkeitstheorie abgeleitet werden dürfen; vielmehr ist es umgekehrt der jeweils höchstentwickelte Grad der Differenzierung von Anerkennungssphären, der uns einen Schlüssel an die Hand gibt, um retrospektiv Vermutungen über die Eigenart der intersubjektiven ‚Natur‘ des Menschen anzustellen.⁵⁴

Daraus ergibt sich die Einsicht, dass das Selbstverständnis von in modernen Lebensformen vergesellschafteten Individuen zutiefst von der normativen Erwartung geprägt ist, gleichzeitig als Bedürfnissubjekt, Rechtsperson und Leistungsträger soziale Anerkennung genießen zu können.⁵⁵ Dieser Vorstellung entsprechend lassen sich dann jene notwendig von kulturellen Besonderheiten bestimmten sozialen Konflikte und Kämpfe als Auseinandersetzung um die „sozialmoralischen Implikationen“ der verschiedenen, auf einer höheren Stufen der normativen Reproduktion moderner Gesellschaften institutionalisierten Anerkennungsnormen verstehen: „[I]n allen Kämpfen um ‚Anerkennung‘ [sind] kulturelle Fragen insofern intern von Bedeutung, als die jeweilige Anwendung der Anerkennungsprinzipien stets im Lichte von kulturellen Interpretationen von Bedürfnissen, Ansprüchen oder Fähigkeiten erfolgt.“⁵⁶ Auf der Grundlage dieser dezentrierten Autonomievorstellung ist Honneth schließlich in die Lage versetzt, über Habermasʼ Ausführungen deutlich hinauszugehen und eine plurale, nicht mehr auf die Gewährleistung moralischer Autonomie fokussierte Konzeption sozialer Gerechtigkeit zu skizzieren: „[D]ie moderne Idee einer Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung [ist] faktisch in drei verschiedenen Weisen ‚institutionalisiert‘ worden, die nacheinander die Berücksichtigung von individuellen Bedürfnissen, von individueller Autonomie und von individuellen Leistungen verlangen.“⁵⁷ Der Rückbezug auf Hegels Sittlichkeitsbegriff ist damit schon angedeutet, sofern man sich mit ihm eben den Nachweis bringen lässt, dass die Vorbedingungen

 Honneth 2003 f, S. 163.  Dahinter steht selbstverständlich das Vorbild von Hegels Rechtsphilosophie – „Hegel moves to a view that recognizes the right of all (male) individuals to participate in social life as a family member, as the practitioner of a socially productive occupation, and as citizen all at once.“ Neuhouser 2000, S. 142.  Honneth 2003 f, S. 187 f.  Honneth 2003 g, S. 296 f. Zur Idee einer „dezentrierten Autonomie“ vgl. auch Honneth 2000 h.

individueller Selbstverwirklichung auf ein ganzes Ensemble von intersubjektiven Praktiken und Einstellungen verweisen, die nicht nur rechtsförmiger Natur sind.⁵⁸ Auf der Grundlage dieser Feststellung, derzufolge der Gesichtspunkt universeller Achtung nur eine „unter mehreren Schutzvorrichtungen [wäre], die dem allgemeinen Zweck der Ermöglichung eines guten Lebens dienen“⁵⁹, entsteht die Möglichkeit, eine umfassendere Ätiologie sozialer Leidenserfahrungen auszuformulieren. Denn die chronische Anfälligkeit von sozialen Wesen ist nicht einfach auf ihre moralische Autonomie gewährleistende Kommunikationsverhältnisse zurückzuführen, sondern auf all jene Verletzbarkeiten, die sie als Folge der Verweigerung der jeweiligen Anerkennungsformen erfahren können.⁶⁰ Die Frage, ob sich diese Erfahrungen von Missachtung tatsächlich als soziale Leiden in dem besonderen Sinne der hier rekonstruierten Tradition kritischer Gesellschaftstheorie auffassen lassen, soll im Folgenden behandelt werden.

5.2 Zur Phänomenologie moderner Leidenserfahrungen Die Idee moralischer Missachtung, die Honneth als das Ergebnis von Erfahrungen versteht, mit denen die institutionalisierten Anerkennungsansprüche für einige Individuen oder Gruppen verweigert werden, scheint auf den ersten Blick in hohem Maße mit den Zwecken einer sozialphilosophischen Leidenskritik übereinzustimmen. Zunächst einmal ist zu sehen, dass Honneth den Missachtungsbegriff selbst mit einer Absicht einführt, die gleichsam auf die ätiologische Dimension einer Leidenskritik anspielt: Es handelte sich darum, auch alle diejenigen alltäglichen Unrechtserfahrungen zu erschließen, die gewöhnlich von Gerechtigkeitstheorien (wegen ihrer Fokussierung auf rechtlich gewährte Freiheiten) kaum thematisiert werden, aber dennoch ebenfalls die persönliche Integrität und Würde von Subjekten bedrohen.⁶¹ Zusätzlich scheint das Verständnis von sozialem Unrecht als moralischer Demütigung auch auf die emanzipationstheoretische Frage einer Leidenskritik hinzuweisen: Anstatt sie selbst als eine Aufklärung von bereits artikulierten Zielen politischer und sozialer Bewegungen zu verstehen, versucht eine Kritik von Missachtungserfahrungen dagegen, „solche Formen des institutionell verursachten Leidens und Elends zu  Mit dem Hegelʼschen Sittlichkeitsbegriff sollten sich nach Honneth – anders als seine Verwendung in der vor allem auf Aristoteles zurückgehenden Tradition – die strukturellen Eigenschaften der moralischen Infrastruktur von modernen Gesellschaftsformen bezeichnen lassen, die insofern von besonderen, kulturspezifischen Konzeptionen des Guten abzuheben seien. Siehe dazu Honneth 1994a, S. 274 ff. Zu Hegels Hervorhebung von nicht ausschließlich rechtsförmigen moralischen Verpflichtungen vgl. Wildt 1982, S. 111 ff.  Honneth 1994a, S. 276.  „Because agents are largely dependent on this recognitional infrastructure for their autonomy, they are subject to autonomy-related vulnerabilities: harms to and neglect of these relations of recognition jeopardize individuals’ autonomy.“ Anderson/Honneth 2005, S. 145.  Siehe dazu Honneth 1990, S. 1043.

identifizieren […], die auch vor und unabhängig von aller politischen Artikulation in sozialen Bewegungen existieren“⁶². Gerade aus diesem Grund nimmt sie den – wie oben gesehen, in der frühen materialistischen Leidenskritik nur mangelhaft aufgeklärten – Übergang von individuellen Leidenserfahrungen zu kollektiven Widerstandsreaktionen als eine notwendig zu erklärende Tatsache an: „[B]ereits die offizielle Aufzeichnung als ‚soziale Bewegung‘ [ist] das Resultat eines Kampfes um Anerkennung, den untergründig die von sozialem Leid betroffenen Gruppen oder Individuen um die öffentliche Wahrnehmung und Registrierung ihrer Probleme geführt haben.“⁶³ Diese Überschneidungen begründen sich letztlich durch den Umstand, dass mit der Kategorie sozialer Missachtung (wie eben für den Leidensbegriff kennzeichnend ist) den aus sozialen Missständen resultierenden subjektiven Beeinträchtigungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Denn Honneth zufolge besteht die wesentliche Wirkung von Missachtungserfahrungen nicht einfach in einer Beschränkung von äußeren Handlungsmöglichkeiten, sondern in einer tiefliegenden Erschütterung der praktischen Selbstbeziehung der Subjekte, die eine „psychische Lücke“ in ihrer Persönlichkeit hervorruft und damit ihre persönliche Integrität bedroht: „[M]it der Erfahrung von Mißachtung – so führt er aus – [geht] die Gefahr einer Verletzung einher, die die Identität der ganzen Person zum Einsturz bringen kann.“⁶⁴ Nicht erstaunlich ist daher, dass Honneth selbst eine gewisse Ähnlichkeit zwischen sozialer Missachtung und physischem Leid andeutet: [D]en verschiedenen Formen von Mißachtung [kommt] dieselbe negative Rolle [zu], die die organischen Erkrankungen im Zusammenhang der Reproduktion seines [des Menschen, CS] Körpers übernehmen: durch die Erfahrung von sozialer Erniedrigung und Demütigung sind menschliche Wesen in ihrer Identität ebenso gefährdet, wie sie es in ihrem physischen Leben durch das Erleiden von Krankheiten sind.⁶⁵

Vor diesem Hintergrund lässt sich dann die Frage stellen, ob die von Honneth bezeichneten Erfahrungen von Missachtungen (körperliche Misshandlungen; Entrechtung; Entwürdigung) dem bisher rekonstruierten Verständnis sozialen Leidens in der Tradition der Kritischen Theorie entsprechen.Wenn dem so ist, kann einerseits gezeigt werden, dass die sich aus den verschiedenen Erfahrungen moralischer Demütigung ergebenden subjektiven Beeinträchtigungen schließlich die Chancen von Subjekten verringern, die in modernen Gesellschaftsformen schon verfügbaren Freiheitsmöglichkeiten angemessen zu verwirklichen. Und andererseits kann auch gezeigt werden, dass jener durch Missachtungserfahrungen auftretende subjektive Schaden weder bloß nach anthropologischen Prämissen noch je nach kulturellen Besonderheiten einfach aufzufassen ist; vielmehr handelte es sich immer um subjektive Beeinträch   

Honneth 2003 f, S. 136. Honneth 2003 f, S. 142. Honneth 1994a, S. 212 f. Honneth 1994a, S. 218.

tigungen, deren Bedeutung erst mit Bezug auf eine historisch herausgebildete, umfassendere zweite Natur von modernen sozialen Lebensformen ganz verständlich gemacht werden könnte Dass diese beiden Betrachtungsweisen in Honneths Phänomenologie sozialer Unrechtserfahrungen enthalten sind, ist besonders auf seine Feststellung zurückzuführen, dass eine Kritik an sozialen Demütigungen, auch wenn sie die subjektiven Empfindungen der Betroffenen ernst nimmt, nicht einfach mit einer sozialpsychologischen Betrachtung gleichzusetzen ist. Da die Anerkennungsbegrifflichkeit Honneths, wie gesehen, nicht nur sozialisationstheoretische, sondern zugleich gesellschaftstheoretische Gesichtspunkten beinhaltet,⁶⁶ muss die Quelle subjektiver Verletzbarkeit zwingend mit Verweis auf den „materiellen Erwartungshorizont“ einer Gesellschaftsform, das heißt bezüglich der „tiefsitzenden Ansprüche“ nach Anerkennung ihrer Mitglieder identifiziert werden.⁶⁷ Die negativen Gefühlen, die eine Missachtungserfahrung typischerweise begleiten (Scham, Wut, Empörung), stellen insofern keine bloß privatistischen oder inneren Zustände dar, sondern verkörpern ein umfassenderes moralisches Wissen, sofern sie erst aus der Vorenthaltung einer für legitim gehaltenen Anerkennungserwartung hervorgehen – es handelt sich folglich, kurz gesagt, um „historisch imprägnierte Gefühle der Mißachtung“⁶⁸.

5.2.1 Körperliche Verletzungen Physische Misshandlungen – wie etwa sexueller Missbrauch, Vergewaltigung oder Folter – stellen Honneth zufolge eine erste Form von Missachtung dar, mit der jenes primäre, auf affektiven Beziehungen beruhende Sicherheitsgefühl (Selbstvertrauen) erheblich beschädigt wird. Diese gewalttätigen Angriffe auf die körperliche Integrität von Subjekten würden sich insofern dadurch auszeichnen, dass sie „die gelungene Integration von leiblichen und seelischen Verhaltensqualitäten“ zerstören und damit die Fähigkeit der Betroffenen beeinträchtigen, sich auf ihren eigenen Körper ganz angstfrei und vertrauensvoll zu beziehen.⁶⁹ Die moralische Bedeutung von derartigen physischen Gewalteinwirkungen und damit ihr Unterschied zu rein körperlichen Schmerzen ergebe sich daraus, dass sie typischerweise mit dem Gefühl, dem Willen eines anderen wehrlos ausgeliefert zu

 Frasers Einwand, demzufolge Honneths Kritik sich „auf die subjektiven Gefühle des Opfers kapriziert“ und damit den „Interessenschwerpunkt weg von der Gesellschaft hin zum Ich“ verschiebt, übersieht gerade diese doppelte Bedeutung des Anerkennungsbegriffs. Siehe Fraser 2003, S. 234. Vgl. dazu auch Ikäheimo 2014, S. 116 ff.  Honneth 2003 f, S. 154.  Honneth 2003 g, S. 282. Mit Bezug auf Deweys Gefühlskonzeption bezeichnet Honneth diese Empfindungen deshalb auch als Ausdruck einer „moralische[n] Krise in der Kommunikation“. Vgl. Honneth 1994a, S. 223.  Honneth 1994a, S. 214 f.

sein, verbunden sind und deshalb letztlich eine Art moralischer Erniedrigung ausmachen. Unschwer lässt sich daher bereits aus diesen Ausführungen verdeutlichen, inwiefern diese Verletzungen ihrer körperlichen Integrität die Freiheitschancen von Subjekten einschränken müssen: Da die Entwicklung jenes primären Selbstvertrauens allein – wie oben gesehen – auf dem Wege einer Verinnerlichung von frühen Affektbeziehungen möglich gewesen war, bedeutet seine Schwächung zugleich eine Auflösung der Vertrautheit mit der umgebenden Wirklichkeit, das heißt einen Verlust des Weltvertrauens.⁷⁰ Damit verlieren demnach die Betroffenen, um es mit Winnicott auszudrücken, die Möglichkeit einer gesunden Balance zwischen Ich-Bezogenheit und intersubjektiven Bindungen, sofern deren Beziehungen zu anderen und zu sich selbst weitgehend durch Angst und Misstrauen mitgeprägt sind.⁷¹ Zum besseren Verständnis dieser hier auf der Grundlage von Honneths Anerkennungsbegrifflichkeit bezeichneten subjektiven Beeinträchtigung kann es hilfreich sein, kurz auf eine anders begründete Auffassung der freiheitseinschränkenden Bedeutung von körperlichen Verletzungen zurückgreifen. Arnd Pollman hat beispielsweise argumentiert, dass als Folge dieser Art von Erfahrungen die Subjekte schließlich an einer tieferen, ethisch-existenziellen Verunsicherung leiden müssen, sofern damit sowohl ihre Selbst- wie auch ihre Weltbeziehung erschüttert wird.⁷² Die zu einer elementaren Gewissheit führenden ethischen Selbstverständigungsprozesse werden von ihm jedoch – anders als in Honneths Überlegungen – in einem eher individualistischen Sinne ausgeführt: Durch körperliche Verletzungen sollen die Betroffenen letztlich einen Verlust ihrer „Selbstreue“ erfahren, da sie nicht mehr in der Lage sind, „ein Leben in Einklang mit dem eigenen standhaltenden Wollen zu führen“⁷³. Es handelt sich gewiss nicht darum, dass intersubjektive Beziehungen für eine derartige Auffassung nicht von Bedeutung sind; wohl aber erscheinen sie eher als äußere oder nur später hinzutretende Anwendungsbedingungen eines größtenteils schon ausgebildeten ethischen Willens. Honneths Anerkennungstheorie scheint hingegen in einem viel stärkeren Maße auf den Umstand aufmerksam machen zu wollen, dass mit körperlichen Misshandlungen der intersubjektive Bildungsprozess einer primären psychischen Sicherheit selbst beeinträchtigt wird. Wenn damit der Sinn, in dem körperliche Verletzungen letztlich als ein Freiheitsverlust gelten müssen, bereits aufgeklärt wird, bleibt es aber noch immer fraglich, ob dieser sich tatsächlich auf die zweite Natur moderner Gesellschaften beziehen lässt – Honneth selbst merkt nämlich an, dass im Vergleich zu den anderen Missachtungsweisen die subjektiven Folgen physischer Misshandlungen in geringem Ausmaß historischen Veränderungen oder kulturellen Umdeutungen unterworfen

 Dabei hat Honneth besonders E. Scarrys phänomenologische Darstellung der Folter vor Augen, in der eben ein Prozess der „Wahrnehmungszerrüttung“ beschrieben wird – vgl. Scarry 1992, S. 63.  Ein schweres Leiden sieht Winnicott eben darin, dass „ein Mensch in Einzelhaft sein [kann] und dennoch nicht zum Alleinsein fähig“. Siehe Winnicott 1974, S. 37.  Siehe Pollmann 2007.  Pollmann 2007, S. 222.

sind.⁷⁴ Dass es sich hier jedoch nicht einfach um naturbestimmte oder anthropologisch festgestellte Erfahrungen handelt, lässt sich aber beispielsweise schon mit Bezug auf die Tatsache erkennen, dass für viele frühe Gesellschaften die Zufügung körperlicher Schmerzen eher als Zeichnen der Gemeinschaftszugehörigkeit galt.⁷⁵ Vor allem sollte man aber den Umstand beachten, dass – wie oben erläutert – die Sphäre der Liebe, in der die Einzelnen als bedürftiges Wesen anerkannt werden und einen entsprechenden moralischen Anspruch ausbilden können, Honneth zufolge erst unter modernen Bedingungen institutionalisiert wird. Dies heißt natürlich nicht, dass es in früheren Gesellschaften körperliche Misshandlungen nicht gegeben habe; die Ansicht einer Anerkennungstheorie wäre vielmehr insofern zu verstehen, als sich die Bestimmung dessen, was als eine Verletzung körperlicher Integrität angenommen wird, innerhalb moderner Gesellschaften immer mit Bezug auf die Anerkennungserwartung der Bedürfnisnatur von Subjekten vollzieht.⁷⁶

5.2.2 Entrechtung Die Erfahrung einer Entrechtung kann für die Erweiterung der Perspektive als exemplarisch gelten, die eine Kritik sozialer Missachtung bezüglich der Selbstbeziehung der Betroffenen ermöglicht. Denn wenn einzelne Subjekte oder Gruppen von etablierten Rechtsgarantien ausgeschlossen sind, wird nicht nur deren Handlungsfreiheit beschnitten, sondern zugleich eine tiefe moralische Verletzung hervorgerufen, die Honneth nun als einen „Verlust an Selbstachtung“ ausführt: „[F]ür den Einzelnen bedeutet die Vorenthaltung sozial geltender Rechtsansprüche, in der intersubjektiven Erwartung verletzt werden, als ein zur moralischen Urteilsbildung fähiges Subjekt anerkannt zu sein.“⁷⁷ Auch hier wird daher das Auftreten einer sozialen Ungerechtigkeit als eine moralische Erniedrigung erlebt, die sich in dem demütigenden Gefühl ausdrückt, nicht „als gleichberechtigter Interaktionspartner aller Mitmenschen“ gelten zu dürfen.⁷⁸ Sowohl die augenfälligsten Situationen einer Vorenthaltung von Rechten (Unterwerfung, Diskriminierung, Ausschließung) als auch diejenigen Situationen, in denen den gewährten Garantien wegen sozialer oder kultureller Schranken eher eine nur formelle Bedeutung zukommt, bedeuten insofern identitätsbedrohende Erfahrungen, da die Subjekte über ihre gleichwertige Zugehörigkeit zum politischen Ge-

 Siehe Honneth 1994a, S. 215.  Vgl. dazu etwa Durkheim 1981, S. 162 ff. und Das 1999.  Ein deutliches Beispiel dafür stellt die historisch sich wandelnde Bestimmung dessen dar, was als eine Verletzung körperlicher Integrität im Rahmen von Eltern-Kind-Beziehungen angenommen wird: Nicht die reine Tatsache physischer Gewalt gilt dabei als Kriterium, sondern die historisch geprägte normative Vorstellung, was es heißt, die Bedürfnisnatur von Kindern zu achten.  Honneth 1994a, S. 216.  Honneth 1994a, S. 216.

meinwesen und damit über den Wert ihres eigenen Willens verunsichert werden. Anhand dieser Empfindung wird deutlich zum Ausdruck gebracht, inwiefern die Missachtungserfahrung einer Entrechtung letztlich als ein Freiheitsverlust angenommen werden muss: Über die Einschränkungen vonseiten äußerer Einflussmöglichkeiten (etwa einer egalitären Teilnahme am Willensbildungsprozess) hinaus verlieren die Betroffenen damit zugleich die Chance, ihren eigenen moralischen Willen völlig frei bestimmen und sozial bestätigen zu können – „If one cannot think of oneself as a competent deliberator and legitimate co-author of decisions, it is hard to see how one can take oneself seriously in one’s own practical reasoning about what to do. Those with diminished self-respect – with less of a sense of their personal authority – thus are less in a position to see themselves as fully the authors of their own lives.“⁷⁹ Wiederum ist es hier aber wichtig, darauf zu beachten, worin genau diese Freiheitseinschränkung nach Honneths Anerkennungsbegrifflichkeit besteht. Es handelte sich nicht einfach darum, dass entrechtete Subjekte ihren moralischen Willen nur mangelhaft in der sozialen Welt durchsetzen können; die Art von intersubjektiver Bestätigung, die mit der Anerkennung von Rechten verbunden ist, wäre vielmehr als eine immanente Dimension des Bildungsprozesses individueller Autonomie selbst zu begreifen – nicht als eine bloß äußerliche, sondern als eine interne Einschränkung ist demnach die aus dem Verlust an Selbstachtung resultierende subjektive Beeinträchtigung zu verstehen. Es kann hier hilfreich sein, diesen kategorialen Unterschied an einem konkreten Beispiel kurz zu verdeutlichen versuchen. Nehmen wir etwa die Situation obdachloser Menschen an, in der unbestritten eine radikale Ausgrenzung verschiedener gesellschaftlicher Zusammenhängen (etwa vom Arbeitsmarkt, sozialpolitischen Netzwerken und nicht zuletzt sogar von familiären Bindungen) zum Ausdruck kommt. Eine erste, auf einen eher individualistischen oder negativen Autonomiebegriff zugeschnittene Auffassung würde sehr wahrscheinlich auf dem Standpunkt beharren, dass die Obdachlosen notwendigerweise einen Freiheitsverlust erleiden müssen, indem sie ihre Handlungsziele nicht ohne ungewollte fremde Einmischungen bestimmen und verwirklichen können.⁸⁰ Eine möglicherweise auf Honneths Anerkennungstheorie zurückbezogene Auffassung müsste dagegen vielmehr die Erschütterung der intersubjektiven Welt von Obdachlosen und deren Konsequenzen für die Bildungsprozesse ihrer individuellen Autonomie hervorheben – dementsprechend könnte sie beispielsweise besonders darauf hinweisen, dass sie vor allem eine Freiheitseinschränkung in dem Maße erfahren müssen, wie sie von allen jenen institutionellen Zusammenhängen, in denen Gesellschaftsmitglieder moralische Ansprüche berechtigterweise erheben dür Anderson/Honneth 2005, S. 132.  Siehe dazu exemplarisch Waldrons Formulierungen: „In exactly this negative sense (absence of forcible interference) the homeless person is unfree to be in any place governed by private property rule (unless the owner for some reason elects to give him his permission to be there)“; „the homeless person is utterly and at all times at the mercy of others.“ Waldron 1993b, S. 318 und S. 313.

fen, ausgeschlossen sind und daher die verunsichernde Erfahrung machen müssen, allein auf sich selbst angewiesen zu sein.⁸¹ Anders als die Verletzung körperlicher Integrität scheint diese Form von Missachtung sehr deutlich an spezifische historische Kontexte gebunden zu sein. In der Tat kann die Empfindung, nicht genügend von Rechten geschützt zu sein, nur auf der Basis einer vergleichenden Bewertung in Bezug auf die Lage anderer Gesellschaftsmitglieder entstehen: „[D]ie Erfahrung der Entrechtung bemißt sich daher stets nicht nur an dem Grad der Universalisierung, sondern auch an dem materialen Umgang der institutionell verbürgten Rechte.“⁸² Dass sich trotz dieses streng kontextspezifischen Bedeutungsgehalts diese Missachtungserfahrung letzten Endes auch auf einen in der umfassenderen zweiten Natur moderner sozialer Lebensformen institutionalisierten Freiheitsanspruch zurückführen lässt, ist eben aus jener oben erläuterten Feststellung zu schließen, derzufolge die Subjekte in diesem historischen Zusammenhang die moralische Erwartung erwerben, in gleicher Weise als anspruchsberechtigtes Gesellschaftsmitglied – das heißt als Träger von subjektiven Rechten – anerkannt zu werden.⁸³ In diesem Sinne kann also festgehalten werden, dass die Erfahrungen der Entrechtung – auch wenn sie je nach kontextgebundenen Eigentümlichkeiten sehr verschieden sein mögen – letztlich einen gemeinsamen normativen Kern aufweisen: Mit ihnen werden die Betroffenen immer der Möglichkeit beraubt, sich selbst als gleichwertige Mitglieder eines politischen Gemeinwesens zu verstehen.

5.2.3 Entwürdigung Die in der Sphäre sozialer Wertschätzung möglicherweise auftretende Missachtungserfahrung wird von Honneth schließlich als eine Art von evaluativer Degradierung beschrieben, die zu einem „Verlust an persönlicher Selbstschätzung“ führt: Immer wenn die kulturellen Bewertungskriterien der Zuweisung sozialer Wertschätzung so beschaffen sind, dass Einzelne oder Gruppen überhaupt von der Sphäre des gesellschaftlich anerkannten Leistungsaustauschs ausgeschlossen sind oder auch ihre Beiträge systematisch als minderwertig angesehen werden, verlieren sie die Möglichkeit, „sich selber als ein in seinen charakteristischen Eigenschaften und Fähigkeiten geschätztes Wesen verstehen zu können“⁸⁴.

 In diesem Sinne argumentieren etwa – ohne aber auf den Anerkennungsbegriff Bezug zu nehmen – Snow/Anderson 1993. Siehe insb. Kap. 6 (Tenuous Ties) und Kap. 7 (Salvaging the Self).  Honneth 1994a, S. 216.  Vgl. Honneth 1994a, S. 193.  Honneth 1994a, S. 217. Als deutliches Beispiel dafür steht Honneth zufolge die evaluative Herabwürdigung der hauptsächlich von Frauen ausgeübten Berufstätigkeiten sowie der Ausschluss aus der Arbeitssphäre jener auch großenteils von ihnen ausgeführten Tätigkeiten (beispielsweise Kinderbetreuung), die gar nicht als Arbeit wahrgenommen werden und insofern als sozial verdeckte Beiträge bleiben – vgl. Honneth 2003 f, S. 175.

Über eine bloß äußere Einschränkung hinaus handelt es sich dabei somit wiederum um eine subjektive Beeinträchtigung, sofern damit eine wichtige Dimension der positiven Selbstbeziehung von Subjekten beschädigt wird. Der dadurch erfahrene Freiheitsverlust ist daher letzten Endes auch auf eine sozial verursachte Störung des intersubjektiven Bildungsprozesses individueller Autonomie zurückzuführen – und deshalb nicht einfach auf eine nur später hinzutretende Willensbeschränkung. Zur Klärung dieser Einsicht mag es hier genügen, kurz auf Darstellungen über die identitätsbedrohenden Wirkungen von Erfahrungen wie Dauerarbeitslosigkeit hinzuweisen. Das Fehlen an intersubjektiver Bestätigung, das mit einem anhaltenden Ausschluss aus der marktvermittelten Sphäre sozialer Wertschätzung verbunden ist, würde nicht einfach die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen beschneiden, sondern auch eine tiefe Erschütterung ihrer alltäglichen Welt hervorrufen, die sich letztlich in Empfindungen der Scham, aber auch einer Ungebundenheit oder Leerheit ausdrücken.⁸⁵ Die demoralisierende Wirkung einer solchen Missachtungserfahrung würde folglich in der Unmöglichkeit bestehen, die eigene Lebensführung auf intersubjektivem Wege als sinnvoll einschätzen und dementsprechend handeln zu können.⁸⁶ Genauso wie der Fall der Entrechtung scheint die Missachtungserfahrung aufgrund von Entwertung oder sozialer Degradierung sehr stark von kulturellen Besonderheiten abhängig zu sein: Das Gefühl, in den persönlichen Eigenschaften und Tätigkeiten nicht oder nur mangelhaft anerkannt zu sein, kann nämlich nur mit Bezug auf die sozial herrschenden kulturellen Bewertungsmuster sozialer Wertschätzung entstehen. Nach Honneths Ausführungen ist jedoch auf einer höheren Stufe moralischer Reproduktion moderner Gesellschaften, wie oben erklärt, eine gemeinsame Orientierung am Leistungsprinzip zu vermuten. Die hier auftretenden Erfahrungen sozialer Degradierung verweisen daher letztlich immer auf jenes allgemeine Anerkennungsprinzip, auf dessen Grundlage eben die Betroffenen stets beweisen können, dass „das institutionalisierte Bewertungssystem einseitig oder restriktiv ist und daher die etablierte Verteilungsordnung gemäß ihrer eigenen Prinzipien keine hinreichende Legitimität besitzt“⁸⁷. Die Missachtungserfahrungen einer sozialen Herabwürdigung verkörpern insofern auch eine normative Bedeutung, die sich ebenfalls auf die in der zweiten Natur moderner Gesellschaften institutionalisierten Freiheitsansprüche zurückbeziehen lässt: Allein in dem Maße, wie in diesem historischen Zusammenhang die Einzelnen eine moralische Erwartung auf die Anerkennung ihrer individuellen Leistungen ausbilden, können sie sich verletzt fühlen, wenn die kulturell vorherrschenden Be-

 Siehe dazu exemplarisch die Ausführungen über ein Gefühl des „Sichtreibenlassens“ in der berühmten Studie von Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel (1975) zu den Folgen von Arbeitslosigkeit.  Siehe Anderson/Honneth 2005, S. 137.  Honneth 2003 f, S. 184.

wertungsschemata ihre jeweiligen Tätigkeiten systematisch als minderwertig behandeln.⁸⁸ Auf der Grundlage dieser kurzen Rekonstruktion von Honneths Darstellung moralischer Missachtungsweisen wird bereits verständlich, inwiefern sie sich als eine anerkennungstheoretische Ätiologie von sozialen Leiden interpretieren lässt. Mit dem Auftreten von Missachtungserfahrungen, so Honneths Überzeugung, erleiden die Einzelnen notwendigerweise eine subjektive Beeinträchtigung, die in verschiedenen Hinsichten ihre intersubjektiv gewährte positive Selbstbeziehung bedroht und damit die Chancen ihrer individuellen Autonomie schließlich einschränkt. Diese Freiheitseinschränkung lässt sich nun als überflüssig oder sinnlos dadurch begreifen, dass sie den in der moralischen Infrastruktur moderner Gesellschaftsformen bereits institutionalisierten Freiheitsansprüchen widersprechen. Ganz entsprechend der hier rekonstruierten Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie bezeichnen die verschiedenen Missachtungsweisen daher auch soziale Leidenserfahrungen in dem anspruchsvollen Sinne, dass sie nicht einfach gesellschaftlich bedingt, sondern durch eine zweite Natur – die Anerkennungsordnung – moderner Lebensformen vermittelt sind. Ausdrücklich führt Honneth diese Einsicht aus: Soziales Leid und Unbehagen besitzen, wenn das Adjektiv des ‚Sozialen‘ mehr besagen soll, als daß sie bloß in der Gesellschaft vorzukommen pflegen, einen normativen Kern: Es handelt sich um die Enttäuschungen oder Verletzungen von normativen Erwartungen, die an die Gesellschaft zu richten von den Betroffenen als gerechtfertigt betrachtet wird; mithin decken sich solche Empfindungen des Leidens oder Unbehagens, insoweit sie als ‚sozial‘ bezeichnet werden, mit der Erfahrung, daß von seiten der Gesellschaft etwas Unrechtes, etwas nicht zu Rechtfertigendes vollzogen wird.⁸⁹

Auch auf die emanzipationstheoretische Frage sozialphilosophischer Leidenskritik lässt sich auf der Basis von Honneths Anerkennungstheorie eine neue Antwort umreißen. Wie oben bereits gesagt, sind ihr zufolge die eine Missachtungserfahrung typischerweise begleitenden negativen Gefühle normativ geprägt, sodass sie als die motivationalen Quellen potenzieller Widerstandsprozesse und sozialer Kämpfe fungieren können.⁹⁰ Die für eine Entnaturalisierung von sozialen Leiden notwendigen praktischen Ressourcen würden insofern nicht von außen getragen, sondern in der Möglichkeit selbst liegen, sich anhand sozialer Kämpfe die den Missachtungserfahrungen zugrunde liegenden normativen Quellen kognitiv zu erschließen.⁹¹ Die Kämpfe

 Eine inhaltsreiche Beschreibung „kleine[r] Angriffe auf die Leistung“, die in der modernen Arbeitswelt eben alltäglich als soziales Unrecht und moralische Verletzungen wahrgenommen werden, liefert Dubet 2008, S. 96 ff.  Honneth 2003 f, S. 152.  Vgl. Honneth 1994a, S.224.  In diesem Sinne sind soziale Kämpfe nach Honneth als ein Artikulationsmedium zu interpretieren, in dem „die einzelnen Akteure ihre individuellen Erfahrungen von Mißachtung positiv aufgehoben sehen“, sofern „zwischen den unpersönlichen Zielsetzungen einer sozialen Bewegung und den pri-

um Anerkennung können demzufolge als durch gesellschaftlich vermittelte, aber dennoch letztlich immer individuelle Leidenserfahrungen motivierte kollektive Versuche verstanden werden, die in modernen Gesellschaften institutionalisierten Freiheitsansprüche wieder zur Geltung zu bringen.⁹²

5.3 Schluss Eine erste Bezeichnung des anerkennungstheoretischen Begriffs von sozialem Leiden kann – so wurde hier gezeigt – auf der Grundlage von Honneths Darstellung der moralischen Anerkennungsordnung moderner Gesellschaften und seiner damit anknüpfenden Kritik von Missachtungserfahrungen heraus entwickelt werden. Im Hintergrund dieser anerkennungstheoretischen Ätiologie steht die wesentliche Überzeugung, genau wie Habermasʼ Beschreibung von kommunikativer Alltagspraxis, dass freiheitsermöglichende Anerkennungspraktiken zwar eine anthropologische Notwendigkeit darstellen, in ihrer inneren Struktur selber aber zugleich durch historische, normativ geprägte Bedingungen mitbestimmt sind. Ausgehend von dieser Prämisse ist Honneth nun in die Lage versetzt, die für die Tradition kritischer Gesellschaftstheorie bedeutsame Vorstellung einer zweiten Natur sozialer Welt anerkennungstheoretisch umzudeuten: Nicht mehr aus gattungsgeschichtlichen Errungenschaften der Naturbeherrschung, auch nicht aus praktisch rationalisierten Kommunikationsbeziehungen, sondern aus den jeweiligen Anerkennungsverhältnissen der Liebe, des Rechts und der sozialen Wertschätzung besteht jener letzten Endes anthropologisch bestimmte, aber dennoch in seinen Grundzügen erst historisch herausgebildete Raum, innerhalb dessen soziale Wesen ihre Autonomie ausbilden und verwirklichen können. Daraus ergibt sich bereits eine Reihe von wichtigen begrifflichen Erneuerungen hinsichtlich der Beantwortung der ätiologischen Fragen sozialphilosophischer Leidenskritik. Zunächst einmal kann Honneth mit der Idee von Missachtungserfahrungen eine erweiterte Auffassung jener moralischen Verletzungen vorschlagen, die die Autonomie von Gesellschaftsmitgliedern in einem relevanten Sinne einschränken. Denn der

vaten Verletzungserfahrungen ihrer Mitglieder […] eine semantische Brücke“ geschlagen wird. Siehe Honneth 1994a, S. 261.  Auf die hier grob umrissene Perspektive einer anerkennungstheoretischen Naturalisierungskritik werde ich später ausführlicher zurückkommen (Kap. 7.3.). Einstweilen will ich nur darauf aufmerksam machen, dass Kämpfe um Anerkennung demzufolge als Umdeutungspraktiken der etablierten allgemeinen moralischen Prinzipien begriffen werden müssen – so etwa Honneths Verständnis distributiver Kämpfe als Versuche, das Prinzip der Rechtsgleichheit in Form einer Forderung nach sozialen Wohlfahrtsrechten in Angriff zu nehmen oder auch die herrschende Interpretation des Leistungsprinzips herauszufordern. Vgl. Honneth 2003 f, S. 181. Die Einsicht, dass bei diesen Umdeutungspraktiken von allgemeinen Prinzipien jedoch spezifische Hintergrundüberzeugungen eine sehr wichtige Rolle spielen, kann etwa mit Bezug auf die verschiedenen, kulturabhängigen moralischen Vokabulare alltäglicher Unrechtsempfindungen illustriert werden – exemplarisch dazu siehe Lamont 2010.

Anerkennungsbegrifflichkeit zufolge wird die Freiheit sozialer Wesen nicht nur unterminiert, wenn sie als gleichberechtigte Partner nicht in kooperative Rechtfertigungsprozesse von Normen einbezogen werden⁹³, sondern darüber hinaus auch, indem ihr Status als Bedürfnissubjekte und Leistungsträger nicht angemessen anerkannt wird. Eine darauf basierte Konzeption sozialer Gerechtigkeit soll sich dann nicht lediglich um die Bezeichnung von moralische Autonomie gewährenden Bedingungen bemühen, sondern von all jenen „Anerkennungsverhältnissen, welche die Subjekte vor dem Erleiden von Mißachtung weitestgehend zu schützen vermögen“⁹⁴. Jenen die Autonomie von Subjekten in verschiedenen Hinsichten bedrohenden Missachtungserfahrungen kann Honneth interessanterweise zudem eine umfassendere normative Bedeutung zuschreiben, indem sie (auch wenn sie immer offen für kulturspezifische Umdeutungen stehen würden) auf allgemeine, moderne Gesellschaften überhaupt kennzeichnende Freiheitsansprüche bezogen werden. Die dadurch verursachten Verletzungen besitzen insofern eine starke normative Prägung, weil sie aus der unrechtmäßigen Verweigerung sozialisatorisch erworbener Anerkennungserwartungen hervorgehen, die auf der moralischen Grammatik – ja, der zweiten Natur – moderner sozialer Lebensformen beruhen.⁹⁵ Und gerade in diesem Sinne lassen sich Erfahrungen moralischer Missachtung, wie oben erläutert, letztlich als überflüssige Freiheitseinschränkungen begreifen: Sie widersprechen den bereits gegebenen Autonomiechancen und den entsprechenden moralischen Erwartungen von Subjekten innerhalb moderner Gesellschaftsformen. Dass diese moralischen Erfahrungen in begründeter Weise aber als soziales Leiden angenommen werden dürfen, hängt schließlich von Honneths Feststellung ab, dass sie notwendigerweise mit subjektiven Beeinträchtigungen einhergehen. Der damit erschlossene subjektive Schaden wird jedoch nicht mehr als eine Verkümmerung von Ich-Kräften ausgeführt, auch nicht nach dem Modell sprachlicher Kompetenzen erklärt, sondern als die sozial induzierte Beschädigung von für die Ausbildung individueller Autonomie wesentlichen Formen einer positiven Selbstbeziehung (Selbstvertrauen, Selbstachtung, Selbstschätzung). Besonders wichtig ist es, darauf zu achten, wie oben angemerkt, dass es sich nach Honneths Ausführungen dabei nicht einfach um eine erst später hinzutretende Willensbeschränkung, sondern um eine sozial verursachte Störung der intersubjektiven Bildungsprozesse individueller Autonomie selbst handelt.

 Siehe dazu etwa Forst 2011.  Honneth 1994a, S. 219. Dazu vgl. auch Honneth 2003 f, S. 205 f.  Insofern stellt Honneth fest: „[O]b wir einen anderen Menschen als liebenswert, als achtenswert oder als solidaritätswürdig betrachten, stets kommt in dem erfahrenen Wert nur ein anderer Aspekt dessen zur Geltung, was es heißt, daß Menschen ihr Leben in rationaler Selbstbestimmung vollziehen müssen.“ Honneth 2003c, S. 23. Daraus folgt dann, dass mit Missachtungserfahrungen eine Art von Neutralisierungsvorgang vollzogen wird: Jemanden zu missachten bedeutet, bei ihm moralisch relevante, seine Freiheit gewährende Eigenschaften nicht wahrnehmen und bekräftigen – das heißt, ihn sozial unsichtbar machen. Vgl. Honneth 2003c, S. 27.

Auf dieselben Prämissen kann sich auch der Entwurf einer neuen Antwort auf die emanzipationstheoretischen Fragen sozialphilosophischer Leidenskritik stützen. Da Erfahrungen sozialer Missachtung normativ auf ein gesellschaftlich allgemeingültiges ethisches Wissen verweisen, können die Betroffenen sich immer auf dieses institutionalisierte moralische Vokabular selbst berufen, um ihre negativen Erfahrungen als soziales Unrecht anzuprangern. So führt Honneth aus: „In this sense, the struggle of recognition represents a struggle for the social articulation of preexistent knowledge; the positive resultants of this struggle – ‚actualization’ – consists in the establishment of practices of recognition through which the persons concerned can in fact identify with their evaluative qualities.“⁹⁶ Erst aber nachdem für die Naturalisierung von Leidenserfahrungen auch eine Erklärung unter anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten umrissen werden kann, wird es möglich sein, die hier entworfene Perspektive wieder aufzunehmen und im Hinblick auf die emanzipationstheoretische Frage sozialphilosophischer Leidenskritik ausführlicher zu entwickeln. Zum Schluss möchte ich besonders darauf aufmerksam machen, dass der hier vorgestellte Deutungsvorschlag nicht die einzige Möglichkeit darstellt, soziale Leidenserfahrungen mit Bezug auf den Missachtungsbegriff zu interpretieren. Ebenso wäre es beispielsweise möglich, die Vorenthaltung von Anerkennung als Ursache regressiver Persönlichkeitsentwicklungen auszudeuten – und zwar unter der Annahme, dass mit ihr sich die frühkindlichen schmerzvollen Trennungserfahrungen gleichsam wiederholen.⁹⁷ Und auch Meads Identitätskonzeption könnte sehr wahrscheinlich als Grundlage einer Ätiologie von sozialem Leid herangezogen werden, indem man etwa den Gesichtspunkt herausstellt, dass die mit moralischer Missachtung einhergehende Verweigerung der individualisierenden Ansprüche des „I“ psychische Verdrängungsmechanismen in Gang setzt, die notwendigerweise eine leidvolle Erschütterung individuellen Selbstverhältnisses verursachen müssen.⁹⁸ Unschwer lässt sich aber festhalten, dass diese alternativen Auffassungen die Struktur von sozialen Leidenserfahrungen hauptsächlich mit Verweis auf das Freudʼsche Modell einer Verkümmerung von Ich-Stärken erklären, das aber – wie sich oben gezeigt hat – für Honneths Anerkennungstheorie nicht mehr von wesentlicher Bedeutung ist. Die hier vorgeschlagene Auffassung versucht vielmehr, den sozialtheoretischen und normativen Grundprämissen von Honneths kritischer Gesellschaftstheorie gerecht zu

 Honneth 2007 g, S. 356.  So argumentiert etwa J. M. Bernstein: „Misrecognition entails regression, and to what one regresses is some aspect of that state of affairs of the brutal and radical incompleteness the infant suffers in its prematurity as it undergoes, or is forced to come to acknowledgment of, separation from its mother. Misrecognition returns the adult individual to the injury that all human beings suffer in their detachment from the maternal whole.“ Bernstein 2010, S. 44.  Vgl. dazu Salonia 2009.

werden und insbesondere ihre kategorialen Unterschiede zum frühen Ansatz materialistischer Leidenskritik hervorzuheben.⁹⁹ Der in diesem Zusammenhang bezeichnete anerkennungstheoretische Begriff des „sozialen Leidens“ kann noch weiter spezifiziert werden, wenn Honneths jüngster Versuch, eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit auf der Grundlage von Hegels Sittlichkeitslehre auszuformulieren, im Lichte der kennzeichnenden Fragestellungen einer sozialphilosophischen Leidenskritik überprüft wird.

 Nicht zuletzt ist daher meine Interpretation von Honneths erstem Anerkennungsmodell insbesondere von dem Interesse getragen, die Grundzüge einer anerkennungstheoretischen Konzeption zweiter Natur herauszustellen, was aber erst in seiner späteren Theoriebildung besonders deutlich wird. Genau aus diesem Grund habe ich der auch im Kampf um Anerkennung vorhandenen Möglichkeit einer stärker anthropologisch begründeten Gesellschaftskritik weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Zur Diskussion vgl. Zurn 2000.

Kapitel 6 Soziale Gerechtigkeit und sittliche Institutionen Die Absicht, eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit mit anerkennungstheoretischen Mitteln auszuformulieren, hat Honneth in letzter Zeit in Form eines Aktualisierungsversuchs der Hegelʼschen Rechtsphilosophie noch weiter vollführt. Denn in seiner dort entfalteten Sittlichkeitslehre habe Hegel, so Honneths Überzeugung, den Grundgedanken entworfen, dass die eine zweite Natur verkörpernden Strukturen des objektiven Geists, das heißt die „modernen Kerninstitutionen“ der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Rechtsstaats historisch herausgebildete und ausdifferenzierte Freiheitsformen darstellen, die als wesentlicher Maßstab einer Gerechtigkeitskonzeption dienen sollen.¹ Ausgehend von dieser Feststellung sei Hegel nicht nur in der Lage gewesen, an seiner ursprünglichen Idee einer nicht nur nach allgemeinen moralischen Prinzipien verfassten Autonomie festzuhalten, sondern auch eine gerechtigkeitstheoretische Überlegung zu skizzieren, die Honneth zufolge angesichts des gegenwärtigen starken Einflusses von rein prozeduralistisch verfahrenden Gerechtigkeitskonzeptionen von besonderer Bedeutung sei: Im Zentrum der Ausführungen von Hegels Sittlichkeitslehre steht eben die anders gerichtete Überzeugung, dass der Wert von sozialen Institutionen für die individuelle Freiheit nach einer „Logik der Nachträglichkeit“ nur unangemessen begreifbar sei – das heißt unter der Annahme, dass die „institutionellen Gegebenheiten“ ausschließlich äußerliche Ergänzungs- oder Anwendungsbedingungen individueller Autonomie darstellen.² An ihre Stelle lässt er nun eine Freiheitskonzeption treten, die Honneth zufolge als „sozial“ nicht nur einfach in dem Maße zu nennen ist, wie sie intersubjektive Verhältnisse voraussetzt, sondern eigentlich in dem anspruchsvolleren Sinne, dass für sie sittliche Institutionen und Praktiken als ein „intrinsischer Bestandteil“ menschlicher Freiheit anzudeuten sind. Soziale Freiheit bezeichnet demnach eine besondere Form von individueller Selbstbestimmung, zu der die Einzelnen nur anhand ihrer Teilnahme an den „normierten Verhaltenspraktiken“ von sittlichen Institutionen gelangen können; in diesem Zusammenhang können sie ihre jeweiligen Handlungsziele durch wechselseitige Ergänzung und Befürwortung – das heißt nach Honneths Verständnis durch Anerkennungsbeziehungen – so frei ausbilden und verwirklichen, dass der Andere nicht als eine Begrenzung, sondern als eine unerlässliche Bedingung eigenen Freiheitsvollzugs erscheint: ‚Frei‘ ist das Subjekt letztlich allein dann, wenn es im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem es ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbindet,

 Vgl. Honneth 2011, S. 16 und Hegel 1821, § 142 ff.  Siehe Honneth 2011, S. 79. Zur Kritik an den prozeduralistischen Gerechtigkeitstheorien siehe auch Honneth 2010b. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-006

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Kapitel 6 Soziale Gerechtigkeit und sittliche Institutionen

weil es in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele erblicken kann. In der Formel vom ‚Bei-sich-selbst-Sein im Anderen‘ ist also eine Bezugnahme auf soziale Institutionen insofern immer schon mitgedacht, als nur eingespielte, verstetigte Praktiken die Gewähr dafür bieten, daß die beteiligten Subjekte sich wechselseitig als Andere ihrer Selbst anerkennen können.³

Diese „freiheitsverbürgenden“ sittlichen Institutionen identifiziert Honneth in seinem Aktualisierungsversuch mit den modernen „relationalen“ Handlungssystemen der persönlichen Beziehungen (Freundschaften, Intimbeziehungen und Familien), des ökonomischen Markts und der demokratischen Willensbildung. In jeder dieser Sphären sozialer Freiheit können die Subjekte eine kooperative Erweiterung ihrer individuellen Freiheit dadurch erfahren, dass sie an rollenvermittelten Interaktionen teilnehmen, aus denen sie jeweils eine wechselseitige Anerkennung ihrer „individuellen Bedürfnisse und Eigenschaften“, „partikularen Interessen und Fähigkeiten“ sowie ihrer „individuellen Absichten der Selbstbestimmung“ gewinnen.⁴ Die Idee sozialer Gerechtigkeit wird dementsprechend im Hinblick darauf definiert, ob die Subjekte tatsächlich über angemessene Chancen verfügen, um an diesen unterschiedlichen Sphären einer „demokratischen Sittlichkeit“ uneingeschränkt teilzunehmen; immer wenn aufgrund gesellschaftlicher Ursachen dagegen eine vollständige und gerechte Durchsetzung der selbstbezüglichen Anerkennungsnormen behindert wird, muss man, so Honneth, mit „normativen Fehlentwicklungen“ oder „Anomien“ in der jeweiligen Sphäre sozialer Freiheit rechnen.⁵ Im Folgenden möchte ich überprüfen, ob sich aus dieser Gerechtigkeitskonzeption noch weitere Einsichten für eine anerkennungstheoretische Ätiologie sozialer Leidenserfahrungen gewinnen lassen. Nach den bisherigen Ausführungen konnte vielleicht der Eindruck entstehen, dass für eine derartige Ätiologie die Subjekte, sobald sie uneingeschränkt an den kennzeichnenden Anerkennungssphären moderner Gesellschaftsformen teilnehmen können, in Bezug auf ihren individuellen Willen keiner Einschränkung unterliegen müssen und deshalb gleichsam ein völlig schmerzfreies Leben führen können.⁶ Mit einer Rekonstruktion der Binnenstruktur jeder einzelnen Sphäre sozialer Freiheit – persönliche Beziehungen (6.1.), marktwirtschaftliche Verhältnisse (6.2.) und demokratische Öffentlichkeit (6.3.) – möchte ich dagegen aufzeigen, dass Honneths Freiheitskonzeption zufolge jene sittlichen Handlungszusammenhänge wesentlich als intersubjektive Bildungssphäre verstanden werden müssen, in denen die Subjekte wechselseitig ihren zunächst selbstzentrierten Willen stets einschränken müssen, um eine höherstufige Freiheitsform – soziale Freiheit – genießen zu können.

 Honneth 2011, S. 86.  Honneth 2011, S. 233.  Mit den anderen, Honneth zufolge unselbstständigen Freiheitsformen einer modernen Sittlichkeit – und zwar rechtliche und moralische Autonomie – werde ich mich im nächsten Kapitel beschäftigen.  Diesen Einwand formuliert ausdrücklich van den Brink 2011.

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Im Hintergrund dieser Feststellung steht selbstverständlich die Hegelsʼsche Beschreibung der Sittlichkeit als einer zweiten Natur, innerhalb der eine zur Freiheit befähigende „Hemmung der Begierde“ oder „Glättung der Besonderheit“ stattfindet. Nur in diesem sittlichen Zusammenhang können die Einzelnen, so war Hegel überzeugt, ihre zunächst bloß naturgegebenen Triebe und Neigungen dermaßen nach sittlichen Gründen umformen, dass sie ihre „erste Natur zu einer zweiten geistigen“ umwandeln und damit den „Gegensatz des natürlichen und subjektiven Willens“ aufheben.⁷ Und eben diese dezentrierende und befreiende Leistung von sittlichen Institutionen erklärt Honneth nun als den wesentlichen Erfahrungsgehalt von Anerkennungsbeziehungen, sofern diese in einer „wechselseitige[n] Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen“ bestehen.⁸ Von besonderer Bedeutung dafür sind nach Honneth jene verlässlichen Verhaltenserwartungen, die mit den kennzeichnenden komplementären Rollenverpflichtungen von jeder Sphäre sozialer Freiheit verbunden sind; denn auf dessen Grundlage können die Einzelnen die Gewissheit erwerben, dass ihre Ansprüche und Handlungszwecke mit der Anerkennung ihres jeweiligen Interaktionspartners rechnen können.⁹ Da soziale Rollen und deren normative Verpflichtungen dann zur Ausbildung eines je nach der Sphäre sozialer Freiheit anders gearteten „Wir“ beitragen, stellen sie für die Subjekte keine äußerlichen Handlungsbeschränkungen, sondern eigentlich eine „Bedingung der Verwirklichung ihrer individuellen Zwecke“ dar – das heißt die sittliche Grundlage einer kooperativen Erweiterung ihrer individuellen Freiheit.¹⁰ Wenn dem so ist, eröffnet sich für eine anerkennungstheoretische Ätiologie die Möglichkeit, innerhalb jeder sittlichen Sphäre zwischen einerseits zur sozialen Freiheit befähigenden, rollenvermittelten notwendigen Beschränkungen und andererseits überflüssigen, nicht mehr möglich auf die Autonomievoraussetzungen zurückzuführenden Einschränkungen menschlicher Freiheit kategorial unterscheiden zu können. Die in den verschiedenen Sphären sozialer Freiheit möglicherweise auftretenden normativen Fehlentwicklungen oder Anomien lassen sich daher, selbst wenn sie hauptsächlich als Ungerechtigkeiten oder Benachteiligungen erscheinen, letzten Endes auch als einen sozial induzierten, überflüssigen Freiheitsverlust verstehen.

 Vgl. Hegel 1821, § 151 Z. und § 18 f.  Honneth 2010a, S. 32.  Honneth 2011, S. 225.  Honneth 2011, S. 107. Dazu vgl. auch: „[D]ie durch wechselseitige Anerkennung beglaubigten Normen [besitzen] die Eigenschaft, unsere tatsächlichen Bestrebungen mit den jeweils geforderten Verpflichtungen zu verschränken.“ Honneth 2014a, S. 793. Insofern führt Hegel bekanntermaßen die Bedeutung von Pflichten als eine „Befreiung“ aus – siehe Hegel 1821, § 148, 149.

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Kapitel 6 Soziale Gerechtigkeit und sittliche Institutionen

6.1 Persönliche Beziehungen Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb persönliche Beziehungen als eine besondere Herausforderung für das Verfahren einer sozialphilosophischen Leidenskritik angesehen werden können. Zunächst einmal werden jene im Bereich des Privaten angesiedelten Interaktionsformen, etwa Freundschaften und Liebesbeziehungen, von Gerechtigkeitstheorien normalerweise eher außer Acht gelassen: Mit ihrer Konzentrierung auf die Gewährung von rechtlichen Freiheiten wird auf diese Weise häufig die Tatsache verkannt, dass formelle Rechtsgleichheit, wie besonders die feministische Kritik herausgestellt hat, ebenso möglich mit indirekten, subtileren Formen von Benachteiligung (zum Beispiel innerhalb familialer Zusammenhänge) zusammen bestehen kann.¹¹ Aus demselben Grund erweist sich der Versuch, die gerechtigkeitstheoretische Bedeutung von persönlichen Beziehungen vor allem aus einer sozialisationstheoretischen Perspektive zu deuten, das heißt hauptsächlich im Hinblick auf das kindliche Lernen von für das öffentliche Leben relevanten praktisch-moralischen Kompetenzen, letztlich ebenso unzureichend; denn ein solcher Ansatz muss auch die innere Verfassung von familialen Strukturen eher unberücksichtigt lassen.¹² Und nicht zuletzt besteht immer die Gefahr, den Binnenraum von persönlichen Beziehungen auf der Grundlage einer Begrifflichkeit zu erschließen, die paradoxerweise zur Bekräftigung von benachteiligenden Normen und Verhaltensmustern beitragen kann – als Beispiel dafür sei hier nur an Horkheimers Beschreibung der Familie als ein von eigennützigen Interessen abgelöster Kommunikationsraum zu erinnern, die auf einer ganz traditionellen, ja naturalistischen Beschreibung der Geschlechterrollen beruht. Besonders deutlich scheint daher im Rahmen von persönlichen und intimen Beziehungen das leitende Interesse einer Leidenskritik aufzutreten, auch negative, freiheitseinschränkende Erfahrungen zu erschließen, die unter der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit liegen und deshalb nur als private Angelegenheiten – oder einfach als Unglück – angenommen werden. Zur Erfüllung dieser Aufgabe muss aber zunächst einmal insbesondere eine zentrale Eigenschaft von persönlichen und intimen Beziehungen in Betracht gezogen werden: Von allen anderen sozialen Interaktionsformen zeichnen sie sich besonders durch das stärkere Ausmaß aus, in dem die natürliche Bedürftigkeit und die affektive Dimension von Menschen mit einbezogen werden; denn daraus ergibt sich eine eigentümliche und beständige Verletzbarkeitsquelle, sofern die Aufrechterhaltung der Beziehung ausschließlich vom Interesse und Vermögen der Beteiligten abhängt, ihre jeweiligen persönlichen Bedürfnisse und Emotionen miteinander zu kommunizieren.¹³ Bei Liebesbeziehungen nimmt diese ständige Verletzbarkeit, so hebt Honneth selbst hervor, sogar eine körperliche Di Zur Kritik der liberalen Tradition aus dieser Perspektive vgl. etwa Rössler 2001, S. 41 ff.  Aus diesem Blickpunkt heraus werden vor allem Ungerechtigkeiten zwischen Familienarten, aber nicht innerhalb von familiärem Leben selbst thematisiert. Siehe dazu Okin 1989.  Siehe dazu Honneth 2000 g, S. 236. In diesem Sinne spricht Eva Illouz von einer „ontologischen Unsicherheit“ in Liebesbeziehungen – vgl. Illouz 2011, S. 205 ff.

6.1 Persönliche Beziehungen

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mension an: „An keinem anderen Ort […] ist der menschliche Körper in all seiner unkontrollierbaren Eingenständigkeit und Fragilität heute sozial so präsent wie in den sexuellen Interaktionen eines sich liebenden Paares.“¹⁴ Daraus folgt, dass subjektive Leidensphänomene sehr häufig innerhalb persönlicher, affektiv geladener Beziehungen auftreten, da sie als stetige Möglichkeit der Binnenstruktur selbst dieser Art zwischenmenschlicher Beziehungen innewohnen. Es wäre aber falsch, daraus zu schließen, dass diese affizierenden Erfahrungen (Liebeskummer, Enttäuschung in Freundschaften) bloß naturbestimmt sind; vielmehr ließe sich beweisen, dass sie immer auch durch besondere gesellschaftlich-historische Bedingungen geprägt sind und insofern letztendlich eine „soziale Bedingtheit“ aufweisen.¹⁵ Und in der Tat können viele der hier auftretenden subjektiven Leiden eigentlich nicht verstanden werden, ohne zugleich die schon oben erwähnte Tatsache in Rechnung zu stellen, dass erst im historischen Zusammenhang moderner Gesellschaftsformen persönliche Beziehungen vollständig auf die individuelle Gefühlslage der Beteiligten umgestellt werden.¹⁶ Was sich damit abzeichnet, ist die anspruchsvolle Aufgabe, die eine sozialphilosophische Leidenskritik im Rahmen persönlicher Beziehungen notwendig zu bewältigen hat: Innerhalb dieses intersubjektiven Erfahrungsraums soll sie kategorial unterscheiden können, zwischen einerseits inhärenten Spannungen, die auch immer persönliches Leid auslösen mögen und letzten Endes ebenso sozial bedingt sind, und andererseits jenen möglicherweise für überflüssig zu haltenden Leidenszuständen, die demnach im engeren oder kritischen Sinne als soziale Leiden angenommen werden können.¹⁷ Auf der Grundlage von Honneths Konzeption sozialer Freiheit lässt sich – so ist im Folgenden zu zeigen – gerade so eine Unterscheidung in dem Maße vornehmen, wie sie im Anschluss an Hegels Rechtsphilosophie persönliche Beziehungen als sittliche Erfahrungen versteht und dementsprechend ihren inneren intersubjektiven Raum im Sinne eines fortwährenden freiheitsermöglichenden Bildungsprozesses ausführt. In den

 Honneth 2011, S. 263.  Zur Charakterisierung der „sozialen Bedingtheit“ des modernen Liebesleids vgl. etwa Illouz 2011.  Mit dieser „voraussetzungslose[n] Liebe des Liebens“ oder „reflexive[n] Geschlossenheit des Liebesgeschehens“ identifiziert Luhmann beispielsweise eben die Entstehungsbedingungen eines eigentümlichen Paradoxes des modernen Ideals romantischer Liebe: „Was sie verstärkt, ist, für die Romantik zumindest, die Genußfähigkeit des Gefühls und auch die Möglichkeit, am Gefühl zu leiden.“ Luhmann 1982, S. 175.  Diese Unterscheidung ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil als Indiz für die Vitalität einer persönlichen Beziehung nicht so sehr das Fehlen von Krisen, sondern vielmehr die Fähigkeit, diese kooperativ bewältigen zu können, gilt. Eine inhaltreiche Darstellung von beispielsweise Liebesbeziehungen notwendig innewohnenden Spannungen liefert N. Delaney – zum Beispiel angesichts der Tatsache, dass in deren Innenstruktur zwangsläufig zwei miteinander konkurrierende Zielbestimmungen zusammen bestehen: einerseits der „Wunsch, eine vollkommen vertraute Einheit miteinander zu bilden und darzustellen“, und andererseits die „Hoffnung, daß der andere zumindest einige Interesse zu schätzen wissen wird, ohne sie in Besitz zu nehmen“. Delaney 2008, S. 110.

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Kapitel 6 Soziale Gerechtigkeit und sittliche Institutionen

intersubjektiven Erfahrungen der Freundschaft und der Liebe findet daher, so Honneths Ansicht, „eine zwangslose Formgebung von rein spontanen Antrieben“ statt, vermittels derer die „innere Natur der Menschen durch wechselseitige Bestätigung ihre Freiheit findet“.¹⁸ Eine derartige Auffassung persönlicher Beziehungen setzt demnach notwendig voraus, dass sie – obgleich sie auf den ersten Blick als ganz willkürlich scheinen mögen – als Ausdruck von institutionalisierten Rollenmustern und entsprechenden normativen Verpflichtungen begriffen werden, die die Subjekte wechselseitig als eigene Handlungsziele übernehmen müssen, damit sie diese besondere Form sozialer Freiheit tatsächlich genießen können. Im Rahmen von Freundschaftsbeziehungen können die Einzelnen, so führt Honneth zunächst aus, eine eigenartige Art von wechselseitiger Zuversicht erfahren, indem sie auf der Basis von komplementären moralischen Handlungsnormen eine gegenseitige Dezentrierung des persönlichen Willens durchführen und damit eine „wohlwollende Anteilnahme“ am Leben ihres jeweiligen Interaktionspartners ausbilden: „In einem anderen bei sich selbst zu sein bedeutet daher in der Freundschaft, das eigene Wollen in all seiner Unschärfe und Vorläufigkeit der anderen Person ungezwungen und ohne Angst anvertrauen zu können.“¹⁹ Nicht anders ließe sich ihrerseits auch die in Intimbeziehungen kooperativ vollzogene Freiheitserweiterung verstehen, auch wenn für die darin ermöglichte ungezwungene „Selbsterkundung“ und „Selbstartikulation“ des persönlichen Willens bezeichnend und von besonderer Relevanz die körperliche Dimension des anderen ist: „In der Sozialform der Liebe […] ist daher der eine für den anderen eine Bedingung von Freiheit insofern, als er ihm zur Quelle einer körperlichen Selbsterfahrung wird, in der die eigene Naturhaftigkeit ihre gesellschaftlich auferlegten Fesseln verliert und im Gegenüber ein Stück ihrer ursprünglichen Ungezwungenheit wiedererlangen kann.“²⁰ An dieser für Liebesbeziehungen wesentlichen „leiblichen Kommunikation“ lässt sich zudem deutlich erkennen, inwiefern sie sittliche Bildungsprozesse individueller Autonomie verkörpern, mit denen eine geistige, freiheitsermöglichende Aufhebung von Naturseiten menschlicher Lebensformen möglich gemacht wird: Nicht nur wird diese Art von Beziehungen durch eine Vielzahl von körperlichen, Liebe ausdrückenden Gesten alltäglich aufrechterhalten, sondern in diesem Zusammenhang werden auch typischerweise die sexuellen Begierde derart sittlich organisiert, dass sie frei – nach Hegels Verständnis: ohne Schamgefühle²¹ – befriedigt werden können. In der Familie sieht Honneth schließlich eine dritte „Verwirklichungsstätte sozialer Freiheit“, sofern darin die Liebesbeziehung um die Existenz der Kinder erweitert und damit eine weitere, auf die Erfahrung einer „konstitutiven Triangularität“ zurückbezogene Spielart sozialer Freiheit eröffnet wird.²² Eine der wesentlichen Auf    

Honneth 2011, S. 35. Honneth 2011, S. 249. Honneth 2011, S. 270. Vgl. Hegel 1821, § 163 Z. Honneth 2011, S. 278.

6.1 Persönliche Beziehungen

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gaben familialer Verhältnisse besteht gerade darin, so heißt es schon in Hegels Rechtsphilosophie, die „noch in Natur befangene[] Freiheit“ des Kinds so auszubilden, dass es in die Lage versetzt wird, seinen subjektiven Willen nach allgemeinen Gründen zu orientieren und damit eine höhere, sittliche Freiheitsform zu genießen.²³ Diese dezentrierenden Leistungen von familiären Erziehungsmaßnahmen deutet Honneth nun vor allem hinsichtlich der Ausbildung eines „kooperativen Individualismus“ an, das heißt der Fähigkeit, „sich als individuelles Wesen an einer gemeinsamen Kooperation zu beteiligen; sie [die Kinder, CS] lernen im Zuge der Internalisierung der innerfamiliären Anerkennungsregeln ihre egozentrische Interessen dann zurückzustellen, wenn ein anderes Mitglied auf ihre Hilfe und Unterstützung angewiesen ist“²⁴. Ohne diese frühen disziplinierenden Bildungsprozesse würden die Kinder demnach nicht einmal fähig sein, selbstständige Personen zu werden und über die notwendigen praktischen Kompetenzen zu verfügen, um am öffentlichen Leben autonom teilzunehmen und die gesamten Freiheitschancen moderner Gesellschaftsordnungen effektiv wahrzunehmen.²⁵ Wenn Familienverhältnisse aber tatsächlich als sittliche Institutionen angenommen werden sollen, müssen sie nicht nur zu späteren Freiheitsformen befähigen, sondern Hegels Verständnis zufolge an sich selbst einen Raum von einer verwirklichten Freiheit darstellen – das heißt, ihren Mitgliedern primäre Erfahrungen sozialer Freiheit vermitteln, in denen sie sich mittels einer kooperativen Aneignung ihrer jeweiligen Triebnatur wechselseitig als freies Wesen anerkennen und erfahren können.²⁶ Dass Honneth auch diese nicht nur sozialisatorische Bedeutung von Familienverhältnissen vor Augen hat, lässt sich etwa daran erkennen, dass er in der kennzeichnenden „leiblichen Nähe“ von Familienmitgliedern die Möglichkeit einer „wechselseitigen Versinnlichung von vergangenen und zukünftigen Altersstufen“ angelegt sieht, beispielsweise im Eltern-Kinder-Spielen, woraus die Subjekte kooperativ die ihre jeweilige Freiheit erweiternde Chance gewinnen, „spielerisch mit ihren natürlichen Grenzen umzugehen“.²⁷

 Vgl. Hegel 1821, § 174.  Honneth 2011, S. 316. Bei Hegel drückt sich dies unter anderem in dem sittlichen, das heißt nicht bloß nach eigennützigen Interessen organisierten Verhältnis aus, das die Familienmitglieder mit dem gemeinsamen Vermögen ausbilden müssen. Siehe Hegel 1821, § 170.  Schon in diesem sozialisatorischen Sinne stellen daher rechtliche und moralische Autonomiechancen unselbstständige Freiheitsformen dar. Darauf werde ich später noch einmal zurückkommen (7.1). Zur ausführlichen Charakterisierung der formativen Leistung von Familien nach Hegels Rechtsphilosophie vgl. auch Neuhouser 2000, S. 150 ff.  Siehe dazu Bockenheimer 2013, S. 275.  Honneth 2011, S. 308. Bemerkenswert ist hier die Tatsache, dass sich damit die Bedeutung des Spielens nicht auf die Vermittlung erstrebenswerter moralischer Verhaltensnormen beschränkt, sondern in der Möglichkeit einer kooperativen Aneignung menschlicher Natur, ja in einer eigentümlichen Erfahrung sozialer Freiheit besteht, da die Interaktionspartner über ihre natürlichen Bestimmungen hinausgehende Rollen frei – „spielerisch“ – einnehmen können. Auch in diese Richtung weist etwa Honneths Ansicht, dass mit zunehmender Lebenserwartung den Subjekten heute größere Chancen

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Kapitel 6 Soziale Gerechtigkeit und sittliche Institutionen

Zusätzlich lässt sich die Struktur persönlicher Beziehungen auch als ein fortwährender kooperativer Bildungsprozess dadurch beschreiben, dass sie – mit Hegels Worten – „die Sittlichkeit in Form des Natürlichen“ verkörpern.²⁸ Da sie letztlich auf den persönlichen Empfindungen beruhen, stellen sie einen intersubjektiven Erfahrungsraum dar, der immer offen für die freie Erkundung persönlicher Bedürfnisse und Identitätsentwürfe bleiben muss, wenn man die Beziehung aufrechterhalten will. Daraus ergibt sich dann ein ständiger Anpassungs- und Lerndruck, den die Beteiligten notwendig kooperativ bewältigen müssen, um den möglicherweise durchgeführten Persönlichkeitswandel wieder in eine gemeinsame Lebensgeschichte integrieren zu können.²⁹ So führt auch Honneth aus: Die emotionale Zuneigung, die wir voneinander wünschen, soll in dem Sinn einen ‚historischen‘ oder dynamischen Charakter haben, als sie unseren eigenen Veränderungen gewissermaßen nachwachsen soll; wir wollen nicht bloß als die ursprünglich einmal eingetroffene Person geliebt werden, sondern erwarten darüber hinaus, daß jene Liebe den Persönlichkeitswandlungen folgt, die wir aufgrund der neuen Erfahrungen in unbestimmter Richtungen durchmachen.³⁰

Sowohl in Freundschaften und Liebesbeziehungen als auch in innerfamiliären Verhältnissen können zusammenfassend die Subjekte die Erfahrung einer kooperativen Erweiterung ihrer individuellen Freiheit machen, indem sie die entsprechenden Rollenmuster wechselseitig übernehmen und damit ihren persönlichen Willen nach sittlichen Gründen orientieren.³¹ Wegen der Bedeutsamkeit von sozialen Rollen und deren Handlungsverpflichtungen für die Verwirklichung sozialer Freiheit ist es ratsam, schon hier einen häufig gegen Hegels Sittlichkeitslehre erhobenen Einwand zu klären zu versuchen – und zwar, dass sie die Möglichkeit einer reflexiven oder überprüfenden Distanznahme zu etablierten sittlichen Verhältnissen prinzipiell verweigert und damit die individuelle Autonomie von Subjekten erheblich einschränkt. Wie Neuhouser in seiner Auffassung der subjektiven Bestandteile der Idee „sozialer Freiheit“ besonders deutlich beschrieben hat, sei Hegel dagegen immer von der Ansicht ausgegangen, dass sittliche Institutionen nur als vernünftig gelten können, wenn sie zugleich die Besonderheit von Einzelnen zum Ausdruck bringen und sie

gegeben würden, mit ihren Eltern am Ende ihres Lebenszyklus ihre jeweiligen Rollen zu tauschen – in diesem Fall handelt es sich demnach um eine kooperative, freiheitserweiternde Aneignung des naturbestimmten Faktums des Tods. Dazu vgl. Honneth 2011, S. 310 sowie Honneth 2010k.  Hegel 1821, § 158 Z.  Sehr deutlich dazu Delaney 2008, S. 134.  Honneth 2000 g, S. 224.  Insofern setzt beispielsweise das Gelingen von Paarbeziehungen notwendig einen kooperativen Bildungsprozess voraus – und zwar eine gegenseitige „Dezentrierung und Öffnung gegenüber dem Anderen“, womit ein auf gegenseitiger Liebe beruhender „Kooperationsmodus“ möglich gemacht wird. Siehe dazu Maiwald 2013, S. 178 ff.

6.1 Persönliche Beziehungen

167

adäquat befriedigen.³² Die wesentliche Bedeutung von sozialen Rollenmustern bestehe demnach darin, dass sie eine subjektive Aneignung von sphärenspezifischen sittlichen Handlungsgründen ermöglichen, womit die sittlichen Institutionen und deren Verpflichtungen als ein integraler Bestandteil des praktischen Selbstverständnisses von Subjekten erfahren werden können und sie dementsprechend ihre Teilnahme an diesen Handlungskomplexe um ihrer selbst willen, also nicht instrumentell schätzen können. Soziale Rollen vermöchten nun diese anspruchsvolle Art von „Selbstgefühl“ – das heißt, jenes besondere subjektive Verhältnis zu sittlichen Institutionen, in dem Hegel zufolge „das Sittliche die wirkliche Lebendigkeit des Selbstbewußtseins ist“³³ – nur in dem Maße zu entwickeln, wie sie der persönlichen Identität von Gesellschaftsmitgliedern tief prägende Lebensziele und Handlungszwecke verschaffen, die sowohl ihren praktischen Umgang mit der sozialen Welt bestimmen wie auch eine freie, sittliche Befriedigung von natürlichen Bedürfnissen ermöglichen.³⁴ Mit dieser Formulierung wird bereits nahegelegt, inwiefern die Binnenstruktur von sittlichen Sphären notwendig auch subjektive Distanzierungsmöglichkeiten enthalten muss. Denn die etablierten sphärenspezifischen Rollenverpflichtungen stellen nur handlungsleitende Muster dar, die die Subjekte notwendigerweise aneignen und daher umdeuten müssen, um an sittlichen Institutionen frei teilnehmen zu können. Aufgrund dieser strukturellen Notwendigkeit einer individuellen Auslegung, für deren Durchführung die Subjekte sowohl auf kulturelle Deutungsschemata wie auch auf lebensgeschichtliche Erfahrungen zurückgreifen können, besitzt die rollenvermittelte Mitgliedschaft in Sittlichkeitssphären, so führt Neuhouser aus, zwingend einen performativen Charakter, aufgrund dessen die Subjekte erst in die Lage versetzt werden, die sittlichen Institutionen ungezwungen als Ausdruck ihrer eigenen Freiheit zu erfahren.³⁵ Eine weitere Möglichkeit zur überprüfenden subjektiven Distanznahme von vorhandenen Institutionen kann darin gesehen werden, was Honneth die „reziproken Abhängigkeiten“ von den verschiedenen Freiheitsformen moderner demokratischer Sittlichkeit nennt.³⁶ Denn dies bedeutet nach ihm nicht nur, dass die Sphären sozialer Freiheit aufeinander bezogen sind, sondern auch, dass diese ebenso die anderen in modernen Lebensformen institutionalisierten Freiheitschancen – das heißt morali-

 Vgl. Neuhouser 2000, S. 147. So stellt Hegel fest: „Das Recht der Individuen an ihre Besonderheit ist ebenso in der sittlichen Substantialität enthalten, denn die Besonderheit ist die äußerlich existierende Weise, in welcher das Sittliche existiert.“ Hegel 1821, § 154.  Hegel 1821, § 147.  Vgl. Neuhouser 2000, S. 86 ff.  Vgl. Neuhouser 2000, S. 108. Damit wird Neuhouser zufolge auch das Problem gelöst, dass die sittlichen Institutionen dem Leben ihrer einzelnen Mitglieder immer vorausgehen. Sie können sich selbst sicherlich nicht als produzierende, aber doch als im Vollzug ihrer Freiheit die Grundzüge ihrer Institutionen bestimmende Akteure verstehen.  Vgl. Honneth 2011, S. 611.

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sche und rechtliche Autonomie – verkörpern sollen, wenn sie die individuelle Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern tatsächlich sicherstellen müssen. Der normative Stellenwert dieser anderen Freiheitschancen innerhalb persönlicher Beziehungen besteht Honneth zufolge vor allem darin, dass bei Konfliktfällen, die die „persönliche Integrität“ von Subjekten erheblich bedrohen können (etwa häusliche Gewalt), mit ihnen stets eine sozial anerkannte Austrittschance gegeben wird, mithilfe derer die Einzelnen ihre Autonomie und Würde als Rechtssubjekt oder moralische Person legitimerweise verteidigen können.³⁷ Ausgehend von diesen Ausführungen kann man nun auf die Frage zurückkommen, wann und inwiefern von sozialen Leiden in persönlichen Beziehungen berechtigterweise gesprochen werden kann. Als Leitfaden dafür kann die bisher dargelegte Ansicht von Honneths Konzeption sozialer Freiheit dienen, derzufolge die kooperative Erweiterung individueller Freiheit in persönlichen Beziehungen ständig von sittlichen Bildungsprozessen abhängig ist, aufgrund derer die Beteiligten sich ihre Bedürfnisnatur aneignen und ihren persönlichen Willen nach sittlichen Gründen ausbilden können. Sozial bedingtes, überflüssiges Leiden kann hier demnach die erzwungene Unfähigkeit bedeuten, so ließe sich vorschlagen, diese Art von kooperativer Erweiterung individueller Freiheit aufgrund gesellschaftlicher Ursachen nur defizitär erfahren zu können. In diesem Sinne lassen sich zunächst die subjektiven Auswirkungen jener sozialen Missstände interpretieren, die Honneth als „normative Fehlentwicklungen“ bezeichnet. Es handelt sich dabei um Phänomene, die aus „der Kolonisierung benachbarter Sphären sozialer Freiheit“ hervorgehen und insofern die bisher beschriebene eigentümliche Freiheitserfahrung von persönlichen Beziehungen gefährden³⁸ – ein deutliches Beispiel dafür sieht Honneth in der heute zunehmenden Entgrenzung von Arbeitssphäre und Privatleben, mit der „Symptome einer Aushöhlung von individuellen Bindungsfähigkeiten“ aufgrund des Zwangs entstehen, „alle persönlichen Beziehungen stets auch unter dem Gesichtspunkt beruflichen Fortkommens“ beurteilen zu müssen.³⁹ Die daraus resultierenden Erfahrungen könnten daher als Indiz eines sozial induzierten Leids in dem Maße interpretiert werden, wie mit ihnen aufgrund gesellschaftlicher Ursachen die Fähigkeit von Subjekten beein-

 Vgl. Honneth 2000 f, S. 209. Daraus entsteht eine die persönlichen Beziehungen weiter kennzeichnende Spannungsquelle: Ihre Mitglieder sollen sich zugleich als abstrakte Subjekte (Rechtsperson, moralisches Subjekt) und als einzigartige Wesen anerkennen. Mit Hegel ist Honneth aber der Überzeugung, dass die sittliche Substanz privater Beziehungen nicht rechtsförmig zu begreifen ist, sodass rechtliche und moralische Autonomiechancen untergeordnete Freiheitsformen darstellen. Eine adäquate Grenzziehung zwischen diesen beiden moralischen Gesichtspunkten (universelle Achtung/ bedürfnisorientierte Fürsorge) sei insofern immer von der „diskursiven Reflexivität“ innerfamiliärer Kommunikationsprozesse abhängig. Dass eben in diesem Sinne die Familie als „rechtsfreier Raum“ nach Hegels Sittlichkeitslehre zu verstehen ist, wird auch von Bockenheimer festgehalten. Vgl. Bockenheimer 2013, S. 133 ff.  Honneth 2011, S. 276.  Honneth 2011, S. 273.

6.1 Persönliche Beziehungen

169

trächtigt wird, sich auf persönliche Beziehungen ungestört einzulassen und damit diese besondere Form sozialer Freiheit zu genießen.⁴⁰ Es lässt sich aber auch andeuten, dass die Verwirklichung jener eigenartigen Freiheitsform durch innere Schranken unnötig behindert werden kann. Da die in persönlichen Beziehungen etablierten Rollenmuster und Handlungsnormen dem geschichtlichen Wandel nicht entzogen sind, ergibt sich daraus ein weiterer Lerndruck, den die Beteiligten ebenso kooperativ bewältigen können müssen, wenn sie ihre Beziehung noch als Ausdruck ihrer Freiheit aufrechterhalten wollen. Die verschiedenen möglicherweise daraus folgenden Herausforderungen, etwa die Notwendigkeit, eine neuartige kulturelle Auffassung von traditionellen Rollenverpflichtungen zu vertreten, können sicherlich zu einer Reihe von zwischenmenschlichen Reibungen und sogar zu persönlichen Leiden führen.⁴¹ Von einem sozial induzierten Leid wäre jedoch erst möglich zu sprechen, wenn es aufgrund gesellschaftlicher Ursachen für die Subjekte sehr schwierig oder gar unmöglich wird, die aufgetretenen Herausforderungen angemessen zu bearbeiten und damit ihre jeweilige Beziehung weiterhin als ein Verwirklichungsort ihrer Freiheit zu erfahren.⁴² Auch in diesem Fall verlieren sie

 Eine solche Annahme liegt auch zum Beispiel der heute verbreiteten Diagnose von emotionaler Erschöpfung aufgrund der Verbreitung von Leistungsimperativen außerhalb der Arbeitswelt zugrunde – vgl. etwa Neckel 2015. Um jedoch übereilte Schlüsse zu vermeiden, wäre es zugleich wichtig, dass nicht übersehen wird, so merkt auch Honneth an, dass die Subjekte „trotz aller Verstrickungen in wirtschaftlichen Praktiken die Fähigkeit, ihre Gefühle von strategischen Nutzenerwägungen freizuhalten“, zu bewahren scheinen und sogar mit marktvermittelten Tätigkeiten (etwa Konsumpraktiken) ausdrücken können – vgl. Honneth 2010 g, S. 246. Und es sollte wahrscheinlich auch darauf geachtet werden, dass das angemessene Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Liebe je nach besonderer Situation von Familien und der Bedürfnislage ihrer einzelnen Mitglieder sehr stark variieren kann, was dem Anerkennungsprinzip der Liebe nicht notwendig widerspricht. Entscheidend scheint hier vielmehr zu sein, dass innerfamiliale Verhältnisse hinreichende gerechte Bedingungen verkörpern, damit dieses Verhältnis durch die freie Teilnahme von allen Mitgliedern bestimmt werden kann. Vgl. dazu Wimbauer 2012.  In diesem Sinne spricht Honneth beispielsweise von einer gegenwärtigen „kommunikativen Verflüssigung von Rechten und Pflichten“ innerhalb familiärer Zusammenhänge aufgrund der Enttraditionalisierung von Rollenmustern, mit der sowohl die Möglichkeit einer Autonomie befördernden „situationsbezogenen“ Deutung als auch die Notwendigkeit von intersubjektiven, potenziell konfliktreichen Aushandlungen zunehmen würden – vgl. Honneth 2011, S. 298. Am Beispiel der häuslichen Arbeitsteilung illustriert Maiwald sehr schön diese zunehmende Notwendigkeit von kooperativen Verständigungsprozessen – vgl. Maiwald 2013.  Als Beispiel könnte hier die berühmte Studie von Lillian B. Rubin (Worlds of Pain) zu sozialen Leidenserfahrungen in der amerikanischen Arbeiterschaft herangezogen werden. Sie stellt nämlich fest, dass für die Mitglieder proletarischer Haushalte, insbesondere für die Männer, die zu Beginn der siebziger Jahre vollzogene Umwandlung von Rollenverpflichtungen besonders belastend sei, weil sie weder in seiner lebensgeschichtlichen Erfahrung die notwendigen Ressourcen, noch (anders als die Mittelklasse) in der Öffentlichkeit Vorbilder finden könnten, mithilfe derer sie die neuen Erwartungen angemessen zu bearbeiten vermöchten. Die zunehmende Notwendigkeit einer emotionalen Aushandlung der Rollen führe dann bei ihnen eher zur Identitätsbedrohung, zu Verunsicherung und persönlichem Unbehagen. Vgl. Rubin 1976, insb. S. 114 ff.

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demnach die Chance, das normative Versprechen einer kooperativen Erweiterung ihrer individuellen Freiheit in persönlichen Beziehungen vollständig zur Durchsetzung zu bringen.

6.2 Marktwirtschaftliche Verhältnisse Ein weiterer Erfahrungsraum sozialer Freiheit sieht Honneth in den modernen marktvermittelten ökonomischen Beziehungen, womit er Hegels Auffassung der „bürgerlichen Gesellschaft“ als sittliche Sphäre unter anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten umdeuten will. Im historisch herausgebildeten Zusammenhang von durch Marktmechanismen regulierten Austauschbeziehungen nehmen die Subjekte, so Honneths Überzeugung, weitere komplementäre Rollen und Handlungsverpflichtungen auf, was wesentlich dazu beiträgt, dass sie sich hier wechselseitig „nicht nur rechtlich als Vertragspartner, sondern auch moralisch oder sittlich als Mitglieder eines kooperierendes Gemeinwesens“ anerkennen.⁴³ Auch diesen aus der Befriedigung von persönlichen Interessen und Bedürfnissen resultierenden Freiheitsgewinn sei demnach nur möglich unter der sittlichen Vermittlung einer „Form der Allgemeinheit“:⁴⁴ Nicht weniger als im Fall persönlicher Beziehungen sind die begrifflichen Schwierigkeiten, denen Honneth zwangsläufig mit seinem Versuch, die moderne Wirtschaftsordnung unter dieser besonderen gerechtigkeitstheoretischen Perspektive aufzufassen, zunächst einmal begegnet. Denn genauso wie Familienverhältnisse werden marktvermittelte Interaktionen gegenwärtig vor allem aus einer normativen Außenperspektive betrachtet, sofern ihr Gerechtigkeitsgrad in erster Linie nach von außen herangetragenen, allgemeingültigen moralischen Grundsätzen bemessen wird. Wird die interne Struktur der modernen Wirtschaftssphäre hingegen auch vor Augen geführt, so findet dies vornehmlich nach dem verkürzten Muster einer Gewährung rechtlicher Autonomie statt – das heißt ausschließlich unter Berücksichtigung jener für faire Vertragsschließungen erforderlichen Freiheiten.⁴⁵ Mit beiden Argumentationsweisen werden nicht nur nicht ökonomische oder vorverträgliche Bestandsvoraussetzungen von Märkten begrifflich eher außer Acht gelassen, sondern auch eine Vielzahl von potenziell (beispielsweise am Arbeitsmarkt sowie an Arbeitsplätzen) eintretenden negativen Erfahrungen vom Blickpunkt einer Gerechtigkeitsanalyse ausgeschlossen.⁴⁶ Honneth versucht nun ausdrücklich, über beide begriffliche Unzulänglichkeiten hinauszugehen, indem er einerseits – und zwar nicht nur im Anschluss an Hegels Sittlichkeitslehre, sondern auch an Überlegungen Émile Durkheims und John Dewe Honneth 2011, S. 329.  Siehe Hegel 1821, § 182.  Vgl. Honneth 2011, S. 317 ff.  Zu den darauf bezogenen kategorialen Schwächen von liberalen und republikanischen Gerechtigkeitstheorien siehe Deranty/Renault 2012.

6.2 Marktwirtschaftliche Verhältnisse

171

ys⁴⁷ – die konstitutive Bedeutung einer gerechten Organisation gesellschaftlicher Arbeit für die Idee demokratischer Sittlichkeit hervorhebt sowie andererseits damit, wenn er das dem modernen Marktsystem innewohnende Freiheitsversprechen nicht auf die Gewährung rein privater rechtlicher Autonomie zurückführt. Ausgehend von der Tradition eines „moralischen Ökonomismus“⁴⁸ will er dagegen die moderne Marktsphäre als einen intersubjektiven, sittlich verfassten Erfahrungsraum verstanden wissen, innerhalb dessen die Subjekte – auf der Grundlage von für eine ungestörte Reproduktion vom Marktgeschehen selbst notwendigen moralischen Voraussetzungen – eine weitere, ebenfalls auf einer wechselseitigen „Ergänzungsbedürftigkeit“ basierende Erweiterung ihrer individuellen Freiheit erfahren können. Mit dieser Eröffnung einer immanenten Kritik an der modernen Marktwirtschaft stellt Honneth sich selbst dann die Aufgabe, ein normatives Vokabular auszuformulieren, das nicht nur fast allen zeitdiagnostischen Befunden stark zu widersprechen scheint, sondern auch letztlich auf eine Einsicht hinausläuft, die ziemlich ungewöhnlich für die Denktradition der kritischen Gesellschaftstheorie ist. Denn diese hatte vielmehr für gewöhnlich den auch von Hegel festgestellten und mit der Etablierung kapitalistischer Wirtschaftsordnung notwendig einhergehenden „Verlust von Sittlichkeit“⁴⁹ hervorgehoben, sofern deren Beziehungsgefüge vornehmlich als ein Netzwerk von bloß strategischen, nur rechtlich gebändigten Handlungen aufgefasst wurde – und aus dieser Beschreibung wurde immer (mehr oder weniger ausgeprägt) der Schluss gezogen, dass marktwirtschaftliche Mechanismen, sobald sie nicht von außen eingedämmt werden, die persönliche Autonomie von Subjekten zu gefährden neigen. Ohne diese schädlichen Wirkungen abzustreiten, stellt Honneth dieser Konzeption demnach die Idee gegenüber, dass die moderne Marktwirtschaft aufgrund ihrer moralischen Grundlagen selbst zu internen, die soziale Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern begünstigenden Korrekturmaßnahmen fähig sei.⁵⁰ Unschwer lassen sich die möglichen Vorteile einer derartigen Blickverschiebung für eine sozialphilosophische Leidenskritik bereits nahelegen. Denn die aus dem Marktgeschehen möglicherweise sich ergebenden sozialen Verletzbarkeiten sollen demgemäß nicht einfach auf ökonomische Ungleichheiten oder auf nur rechtliche Asymmetrien zurückgeführt werden, sondern sie können nun auch als Folge aller jener sozialen Missstände verstanden werden, die die der modernen Wirtschaftsordnung zugrunde liegende Reziprozitätserwartung verletzen und damit die Chancen von Subjekten beeinträchtigen, ihre Teilnahme an Marktverhältnissen als eine weitere kooperative Erweiterung ihrer Freiheit zu erfahren. Eine solche Perspektive setzt selbstverständlich voraus, den bildenden Charakter von sittlichen Handlungssphären wiederum in den Vordergrund der Argumentation zu rücken.

   

Siehe dazu Honneth 2010c und 2000i. Vgl. Honneth 2011, S. 335. Hegel 1821, § 181. Vgl. Honneth 2011, S. 382.

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In seinen Ausführungen schlägt Honneth vor, die inneren normativen Verhältnisse des kapitalistischen Marktsystems bezüglich der sozialen Gebilde der „Konsumsphäre“ und des „Arbeitsmarkts“ gesondert zu behandeln. Diese beiden Gebilde werden von ihm als Sphäre eines „Wir“ des marktwirtschaftlichen Handelns ausgeführt, das heißt nach ihren moralischen Voraussetzungen als Erfahrungsorte einer sozialen Freiheit zu verstehen. Dies bedeutet, dass sie sittliche Institutionen insofern verkörpern, als sie auf komplementäre Rollenverpflichtungen angewiesen sind, mithilfe derer die Subjekte ihren zunächst naturbestimmten, rein selbstzentrierten Willen nach allgemeinen, sittlichen Gründen umformen und damit sich selbst frei bestimmen können. Genau so verfährt Hegel in seiner Beschreibung jener „allseitigen Abhängigkeit“, die ihm zufolge in dem für moderne Gesellschaften kennzeichnenden „System der Bedürfnisse“ institutionalisiert wird:⁵¹ An den dort vertraglich organisierten Austauschmechanismen können die Subjekte frei nur in dem Maße teilnehmen, wie sie die Perspektive von anderen, ebenso selbstinteressierten Subjekten übernehmen und damit die Befriedigung ihrer jeweiligen persönlichen Zwecke zugleich als eine wechselseitige Freiheitserweiterung verwirklichen.⁵² Unter anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten kann Honneth nun diesen für den modernen Konsumgütermarkt bezeichnenden intersubjektiven Bildungsprozess folgendermaßen beschreiben: „In Begriffen der Anerkennung wiedergegeben heißt das, daß die ökonomischen Akteure sich vorweg als Mitglieder einer kooperativen Gemeinschaft anerkannt haben müssen, bevor sie sich wechselseitig das Recht zur individuellen Nutzenmaximierung auf dem Markt einräumen können.“⁵³ Und ebenso angewiesen auf ein so geartetes „vorauslaufendes Solidaritätsbewusstsein“ sei die spezifische Organisationsform des modernen Arbeitsmarkts. Denn Honneth zufolge sei Hegel eben der Überzeugung gewesen, dass eine freie Teilnahme  Siehe Hegel 1821, § 189 ff.  Insofern hält Hegel fest: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt. […] Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert.“ Hegel 1821, § 182 Z.  Honneth 2011, S. 349. Diese Formulierung ist zudem interessant, weil sie eine starke ethische Aufladung persönlicher Handlungsmotive prinzipiell ausschließt, was ja gerade als Vorwurf gegen Honneths Verständnis vom Markt vorgebracht worden war – und zwar in dem Sinne, dass soziale Freiheit notwendig willentlich und nicht nur instrumentell sein müsse. Vgl. dazu Jütten 2015, S. 202. Mit Hegel scheint Honneth diese Voraussetzung ausdrücklich ausschließen zu wollen, sofern er die Anerkennung im Konsumgütermarkt als ein wechselseitiges Verhältnis beschreibt, mithilfe dessen „Anbieter und Konsumenten […] komplementär zur Realisierung der legitimen Interessen der jeweils anderen Seite beitragen“ – das heißt zur „Bedürfnisbefriedigung“ sowie zur „Gewinnmaximierung“. Siehe dazu Honneth 2011, S. 380 f. Damit folgt er selbstverständlich auch Hegels Einsicht, dass der hier in Rede stehende sittliche Zusammenhang die Form der Notwendigkeit annimmt und daher „nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als solcher liegt“. Hegel 1821, §§ 186, 187.

6.2 Marktwirtschaftliche Verhältnisse

173

des Einzelnen an der modernen Sphäre gesellschaftlicher Arbeit nur dadurch möglich wird, dass diese Interaktionsbeziehungen – trotz des Anscheins, bloß eigennützige Interessen zu koordinieren – zugleich eine wesentliche „integrative Leistung“ vollziehen: Jeder Teilnehmer bildet in diesem Zusammenhang nämlich die Bereitschaft aus, die eigenen Bemühungen nicht mehr nach dem Diktat von bloß subjektiven Wünschen und Begierden, sondern nach allgemeingültigen Regeln und somit nach den Bedürfnissen von anderen zu richten. Diese „praktische Bildung durch die Arbeit“, die Hegel zufolge zur „Gewohnheit der Beschäftigung“ führt,⁵⁴ würde demnach eine wechselseitige normative Erwartung in die Struktur des Arbeitsmarkts selbst einführen, sofern die eigene „Verpflichtung zur Leistungserbringung“ nunmehr notwendig „an die Voraussetzung einer entsprechenden Gegenleistung geknüpft“ sei.⁵⁵ Mit dieser knappen Darstellung der in der normativen Innenstruktur moderner Wirtschaftsordnung angelegten Bildungsprozesse lässt sich der Gesichtspunkt schon besser nachvollziehen, den Honneth mit der Idee der moralischen Voraussetzungen des Markts hervorheben will. Es handelte sich nicht nur darum, dass die Subjekte sich immer und in legitimer Weise auf diese zugrundeliegenden normativen Prämissen berufen können, wenn die darauf begründeten normativen Erwartungen unrechtmäßig enttäuscht werden; vielmehr ist es die Reproduktionsfähigkeit des Markts selbst, was von diesen normativen Bedingungen letztlich streng abhängig ist. In diesem Sinne führt Honneth aus: [D]ie marktwirtschaftliche Ordnung [ist] deswegen auf eine ‚sittliche‘ Rahmung durch vorvertragliche Handlungsnormen angewiesen, weil sie nur unter dieser normativen Voraussetzung auf das Einverständnis aller Beteiligten rechnen kann; wie jede andere soziale Sphäre bedarf auch der Markt der moralischen Zustimmung durch alle an ihm mitwirkenden Teilnehmer, so daß sich seine Bestandsbedingungen nicht unabhängig von den ergänzenden Normen beschreiben lassen, die ihm in deren Augen überhaupt erst Legitimität verleihen.⁵⁶

Ohne soziale Mechanismen hingegen, die diese Art grundlegender moralischer Rechtfertigung bereitzustellen vermögen, entsteht demnach die Gefahr „einer Störung

 Hegel 1821, § 197. Hervorhebung im Original.  Honneth 2010c, S. 86. Aufgrund dieses freiheitsbildenden Charakters sind beispielsweise die beruflichen Rollen nach Hegels Verständnis nicht einfach als äußerliche Bedingungen, sondern als konstitutive Bestandteile des praktischen Selbstverständnisses von Subjekten zu verstehen. Siehe dazu Herzog 2013, S. 68 ff. Nur am Rande ist hier außerdem anzumerken, dass nach Honneths Auffassung die freiheitsverbürgende Bedeutung des modernen Arbeitsmarkts in seiner besonderen Solidaritätsform (die nach dem Leistungsprinzip organisierte Arbeitsteilung) besteht und nicht – wie für die frühe Kritische Theorie charakteristisch war – auf die arbeitende Tätigkeit selbst, das heißt auf seine anthropologische Bedeutung, zurückzuführen wäre. Dass Hegel in seiner Rechtsphilosophie diese beiden freiheitsbildenden Bedeutungen der Arbeit ausführt, wird von Neuhouser beispielsweise behandelt – vgl. Neuhouser 2000, 158 ff.  Honneth 2011, S. 333.

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des Marktmechanismus selbst“ sowie einer „unterschwelligen oder öffentlich artikuliertem Legitimationsentzug von seiten der Bevölkerung“.⁵⁷ Diese erforderlichen Legitimationsgrundlagen ließen sich Honneth zufolge vor allem mit Bezug auf den historischen Grad der Institutionalisierung von „diskursive[n] Verfahren der Interessenabstimmung“ sowie auch der „rechtliche[n] Verankerung von Chancengleichheit“ bestimmen: Wenn sie unter dem Druck von sozialen Kämpfen in der Wirtschaftsordnung erfolgreich institutionalisiert oder erweitert werden, wachsen die Chancen von Subjekten, diese Sphäre als einen Verwirklichungsort sozialer Freiheit zu erfahren, und es lässt sich demnach von einem normativen Fortschritt sprechen. Im Gegenteil sollte das Fehlen dieser institutionellen Voraussetzungen als Indiz einer normativen Fehlentwicklung in den marktwirtschaftlichen Verhältnissen angenommen werden, sofern damit die Bedingungen untergraben werden, unter denen sich ihr immanentes Freiheitsversprechen erst zur Durchsetzung bringen lässt.⁵⁸ Mit der rechtlichen Gewährung von Chancengleichheit weist Honneth besonders auf die Notwendigkeit hin, dass sowohl der Zugang zu als auch die Verhandlungen in den Märkten fair organisiert werden sollten, damit diese tatsächlich die moralische Zustimmung der Teilnehmer finden können – daraus ergibt sich etwa Honneth zufolge die Bedeutung von gerechten Bildungschancen sowie von Verbraucherrechten. Seiner Konzeption sozialer Freiheit entsprechend gibt Honneth aber den anderen, „diskursiven Mechanismen“ ein noch größeres Gewicht, da sie eben als Bildungssphäre, als institutionalisierte Verfahren einer „intersubjektiven Willensbildung“ begriffen werden, mittels derer die ökonomischen Akteure eine wechselseitige „Überschreitung ihrer rein nutzenorientierten Handlungsstrategien“ vollziehen und dadurch das implizierte Versprechen sozialer Freiheit verwirklichen können.⁵⁹ Da diese diskursiven Mechanismen, die Honneth mit den historischen Beispielen von Konsumentengenossenschaften und demokratischen Mitbestimmungsrechten der Arbeiterschaft im Betrieb illustriert, offenbar nach dem Verständnis Hegels der die Schadwirkungen ökonomischer Konkurrenz einschränkenden berufsständischen Korporationen eingeführt werden,⁶⁰ entsteht hier die Schwierigkeit, ob sie tatsächlich als marktimmanente Instanzen oder aber als äußerliche, den Marktverlauf von außen aus eindämmende Einrichtungen verstanden werden müssen.⁶¹ Selbst wenn Honn-

 Honneth 2011, S. 346. Ob und inwiefern beide Krisenerscheinungen miteinander zusammenhängen, erklärt Honneth nicht weiter. Doch er räumt ein, dass kapitalistische Märkte sich historisch tatsächlich ohne eine starke moralische Basis entwickelt haben – vgl. etwa Honneth 2011, S. 332. Wenn dem aber so ist, dann entsteht eine auch nicht aufgeklärte Besonderheit vom Markt als Sphäre sozialer Freiheit: Sowohl persönliche Beziehungen als auch demokratische Öffentlichkeiten können hingegen ohne die Zustimmung und Erhaltungsbereitschaft ihrer Mitwirkenden gar nicht bestehen bleiben.  Siehe Honneth 2011, S. 358.  Honneth 2011, S. 349.  Vgl. Honneth 2011, S. 369 f . und Hegel 1821, § 250 ff.  Zum großen Teil dreht sich die Auseinandersetzung bezüglich Honneths Verständnis des Markts eben um diese Frage. Wellmer stellt etwa fest: Indem Honneth die erste Deutungsmöglichkeit zu Un-

6.2 Marktwirtschaftliche Verhältnisse

175

eths Absicht deutlich der ersten Deutungsmöglichkeit zu entsprechen scheint, so etwa die Rede von normativen Verpflichtungen als „Bestandsvoraussetzungen“ oder von „moralischen Grundlagen, die der herrschenden Wirtschaftsordnung selbst zugrunde liegen“,⁶² wird damit die Frage noch nicht vollständig aufgeklärt – zumal wenn auch die Hinsicht in Rechnung gestellt wird, wie Honneth auch in seiner früheren Rekonstruktion von Hegels Sittlichkeitslehre anmerkt, dass „mit der ‚Korporation‘ neben [dem] Interaktionsverhältnis des Marktes noch eine ganz andere Kommunikationssphäre“ in die Struktur ‚bürgerlicher Gesellschaft‘ eingeführt wird, „deren Anerkennungsnormen von vollkommen eingeständiger Art sind.“⁶³ Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit lässt sich jedoch im Anschluss an die auch bei Hegel möglich anzutreffenden Überzeugung umreißen, dass die Korporationen sich notwendig, sofern sie als konstitutiver Bestandteil der „bürgerlichen Gesellschaft“ gelten, auf dasselbe normative Prinzip der marktvermittelten Bedürfnisbefriedigung, also auf die subjektive Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern stützen müssen. Nur insofern vermöchten sie jene „Versittlichung des einzelnstehenden Gewerbes“ zu vollbringen, die Hegel zufolge nicht nur in kompensierenden Maßnahmen gegenüber den desintegrativen Tendenzen des Arbeitsmarkts, sondern letztlich in der Ermöglichung einer kooperativen Freiheitserweiterung besteht: Erst in den Korporationen können die Subjekte sich ihrer marktvermittelten Abhängigkeit wechselseitig vergewissern und diese von einer „bewußtselose[n] Notwendigkeit“ in eine „gewußte[] und denkende[] Sittlichkeit“ umwandeln.⁶⁴ Nicht schwer scheint es nun, eben diese Einsicht auch in Honneths Argumentation zu sehen: Die sittliche Bedeutung der als Ergebnis sozialer Kämpfe institutionalisierten diskursiven Mechanismen (beispielsweise Betriebsräte) sollte dementsprechend vor allem so verstanden werden, dass sie selbst zur Förderung eines den moralischen Strukturen moderner Marktverhältnisse selbst zugrunde liegenden Solidaritätsbewusststeins beitragen. Oder es ließe sich, insbesondere die faktische Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften vor Augen, sagen, dass die hier auftretenden sozialen Kämpfe normativ darauf gerichtet sind, diese dem Markt selbst innewohnende Reziprozitätserwartung immer wieder in Erinnerung zu rufen und deren tatsächliche Durchsetzung zu fordern. Die „diskursive Verfahren der Interessenabstimmung“ würden insofern auf einer höherstufigen Ebene eine kooperative Willensbildung institutionalisieren, die aber stets in den untergründigen Bildungspro-

recht bevorzuge, sei er nicht mehr in der Lage, die für die Kritische Theorie charakteristische unlösbare Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie zu behaupten. Siehe Wellmer 2014.  Vgl. Honneth 2011, S. 382.  Honneth 2001, S. 122. Auf diesen handlungstheoretischen Unterschied stützt sich auch Jütten in seiner Kritik an Honneths Konzeption des Markts: „the relations that members of corporations experience are not mediate by market mechanisms […] Rather, they limit the scope of the market economy from the outside.“ Siehe Jütten 2015, S. 195.  Vgl. Hegel 1821, § 255 Z. und § 253. Zu dieser normativen Angewiesenheit der Korporationen auf das Prinzip des Marktgeschehens siehe auch Priddat 1990, S. 215.

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zessen marktvermittelter Interaktionen impliziert wäre: Als ein autonomer Konsument oder freier Arbeiter sich selbst zu verstehen und dementsprechend zu handeln setzte demnach immer voraus, die in modernen Marktbeziehungen enthaltenen dezentrierenden Bildungsprozesse nicht defizitär ausführen zu können. Mit diesem Deutungsvorschlag lässt sich nicht nur die Absicht einer immanenten Kritik an den Marktverhältnissen aufrechterhalten, sondern zugleich ergeben sich daraus wichtige Implikationen für die Möglichkeit einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik. Denn man kann von einer überflüssigen Freiheitseinschränkung in marktwirtschaftlichen Verhältnissen nach dem bisher Gesagten immer dann sprechen, wenn die zugrundeliegenden Bildungsprozesse so geartet sind, dass die Subjekte nicht mehr in der Lage sind, ihre Teilnahme an Marktinteraktionen als eine kooperative Erweiterung eigener Freiheit zu erfahren. Nicht rein anthropologische Erfordernisse, sondern – wie auch im Fall persönlicher Beziehungen – die historisch sich wandelnde normative Struktur von intersubjektiven Bildungsprozessen bestimmt daher, ob die Subjekte diese besondere Spielart sozialer Freiheit tatsächlich verwirklichen können. Ausdrücklich formuliert Honneth diese Einsicht unter Bezug auf Durkheims und Hegels Verständnis der Marktverhältnisse: Beide sind nämlich der Überzeugung, daß die durch den Markt institutionalisierte Konkurrenz von den Beteiligten selbst noch einmal aus einer Perspektive gemeinsamer Kooperation verstanden werden können muß, um in ihren Augen tatsächlich als verstehbar und legitim zu gelten. Hier spielen nicht bestimmte, anthropologisch oder empirisch fixierte Werte die Rolle von einschränkenden Bedingungen, sondern diejenigen Normen, die es jeweils erlauben, die zum Zweck der Steigerung ökonomischer Effizienz etablierten Wettbewerbsbeziehungen überhaupt noch als im Interesse aller Mitwirkenden liegend zu begreifen.⁶⁵

Die von Honneth bezeichneten gegenwärtigen „normativen Fehlentwicklungen“ stellen insofern Prozesse dar, mit denen die moralische, freiheitsverbürgende Infrastruktur der Wirtschaftsordnung unterminiert wird. In letzter Zeit hätten sie sogar dazu geführt, so argumentiert er, dass eine „desozialisierte Vorstellung des Marktes“ entsteht: „Dieser wird nicht mehr als eine soziale Einrichtung gesehen, für die wir gemeinsam als Mitglieder einer Kooperationsgemeinschaft die Verantwortung tragen, sondern als Stätte einer Konkurrenz um die jeweils selbst zu verantwortende Nutzenmaximierung.“⁶⁶ Aufgrund dieser „wachsende[n] Aushöhlung der normativen Leitidee gesellschaftlicher Mitverantwortung“ erfahren demnach die Subjekte nicht einfach eine Beeinträchtigung ihrer rechtlichen oder moralischen Autonomiechancen, sondern einen eigentümlichen Freiheitsverlust, weil sie einer besonderen,

 Honneth 2011, S. 347.  Honneth 2011, S. 467. In ähnlichem Sinne spricht Honneth auch von einer gegenwärtigen „Entwertung“ oder „Entnormativierung“ des Leistungsprinzips: Sofern der Berufserfolg ausschließlich mit monetärem Erfolg gleichgesetzt wird, verliert dieses Prinzip seine sozial integrative Bedeutung und wird zunehmend nur als individueller Schutz begriffen. Siehe Honneth 2013, S. 37.

6.3 Demokratische Öffentlichkeit

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marktvermittelten kooperativen Erweiterung ihrer individuellen Freiheit beraubt werden. Am Beispiel der heute viel diskutierten Umwandlung des Selbstverständnisses der Arbeit in Richtung einer zunehmenden Forderung nach Eigeninitiative, Kreativität und Anpassungsbereitschaft – der sogenannte „Arbeitskraftunternehmer“ – lassen sich diese Auswirkungen kurz verdeutlichen. Mit der dadurch vollzogenen Deregulierung und Deinstitutionalisierung von Beschäftigungsverhältnissen würde die Rolle der Arbeiter insofern desozialisiert, so ließe sich mit Honneths Begrifflichkeit erklären, dass es für sie nicht nur zunehmend schwieriger wird, beispielsweise rechtliche Freiheiten effektiv wahrzunehmen und damit Machtassymetrien teilweise auszugleichen; darüber hinaus werden sie damit auch der Möglichkeit beraubt, ihre Arbeitsbemühungen tatsächlich als einen auf wechselseitigen Verpflichtungen begründeten gesellschaftlichen Beitrag zu erfahren. Den eigenen Arbeitsbeitrag ausschließlich unter der Perspektive ökonomischen Erfolgs zu verstehen oder auch nach stets schwankenden, nicht mehr institutionalisierten Maßstäben zu bewerten würde neben verschiedenartigen Ungerechtigkeiten dann einen eigentümlichen Freiheitsverlust verursachen – und zwar die erzwungene Unfähigkeit, die in modernen Arbeitsverhältnissen angelegte Möglichkeit einer freiheitserweiternden Erfahrung von Wechselseitigkeit tatsächlich zu verwirklichen.⁶⁷ Dieses Beispiel macht schließlich auch deutlich, dass die moralische Infrastruktur der Wirtschaftsordnung ebenso unterminiert werden kann, indem bereits etablierte, soziale Freiheit begünstigende normative Errungenschaften deinstitutionalisiert oder abgeschafft werden. Und besonders deutlich tritt damit auf, dass die überflüssigen Freiheitseinschränkungen in marktwirtschaftlichen Verhältnissen letzten Endes auch historisch geprägt sind, weil durch eine solche Art normativer Rückentwicklung den Subjekten die institutionellen Grundlagen entzogen werden, auf denen sie einmal ihre Mitwirkung an Marktverhältnissen tatsächlich als eine gemeinsame Kooperation erfahren konnten.⁶⁸

6.3 Demokratische Öffentlichkeit Die politische Sphäre demokratischer Willensbildung stellt Honneth schließlich als einen weiteren, höherstufigen Erfahrungsraum dar, innerhalb dessen die Subjekte ihre soziale Freiheit kooperativ verwirklichen können. Will man sie auch als einen auf

 Zu den paradoxen subjektiven Folgen einer stärker mit Ansprüchen auf Selbstverwirklichung verbundenen Arbeit siehe beispielsweise auch Honneth 2010 f, 216 ff. Zur Idee einer gegenwärtigen Aushöhlung von an rollenspezifische Arbeitsbemühungen gebundene Anerkennungschancen und deren Ersatz durch eine immer wieder zu beweisende und daher schließlich Unsicherheit auslösende „Bewunderung“ vgl. Voswinkel 2002.  In diesem Sinne ließe sich beispielsweise die These interpretieren, derzufolge die heute am Arbeitsmarkt sehr verbreiteten Unsicherheitsgefühle eng mit dem jüngsten Abbau von sozialstaatlichen Regelungen verbunden wären. Siehe dazu etwa Castel 2005.

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der Einübung komplementärer Rollenverpflichtungen beruhenden und daher kooperativ durchführenden Lernprozess nachweisen, so ist es zunächst erforderlich, ihre sittliche Struktur unter anderen Prämissen als in den gegenwärtig einflussreichsten Demokratiekonzeptionen auszudeuten. Ganz klar ersichtlich ist hier beispielsweise die Notwendigkeit, die „moralische Epistemologie“ von liberalem Demokratieverständnis zu überwinden, derzufolge die Subjekte mit schon festgelegten Präferenzen und Interessen in die Öffentlichkeit treten, sodass die Ergebnisse demokratischer Willensbildung vor allem im Sinne einer moralisch gerechtfertigten Kompromissbildung zu verstehen sind.⁶⁹ Ebenso unzureichend zeigen sich aber andererseits auch jene Versuche, die den in der Öffentlichkeit angelegten Bildungsprozess ausschließlich mit der Leistung von institutionalisierten demokratischen Verfahren verbinden. Denn auch wenn deliberative Demokratiekonzeptionen besonders die Formbarkeit von persönlichen Interessen durch demokratische Prozeduren der öffentlichen Beratung herausgestellt haben, reichen diese jedoch nicht aus, um den Ansprüchen eines auf Hegels Sittlichkeitslehre zurückbezogenen Begriffs sozialer Freiheit völlig gerecht zu werden: Mit ihrer grundbegrifflichen Bevorzugung von institutionellen Mechanismen verlieren sie all jene vorpolitischen, nicht rechtsförmigen Vorbedingungen demokratischer Willensbildung aus dem Blick, die Honneths Verständnis zufolge auch für die Chancen unerlässlich sind, die Öffentlichkeit als einen weiteren Verwirklichungsort sozialer Freiheit zu erfahren.⁷⁰ Für die Beschreibung dieser sittlichen Bildungsprozesse liefern aber nun Hegels Ausführungen selbst, anders als für die anderen Praktiken sozialer Freiheit, darüber ist sich Honneth im Klaren, nur einen mittelbaren Anhaltspunkt. Denn zwar hat er den Rechtsstaat immer als eine übergeordnete Sphäre wirklicher Freiheit, deren sittliche Struktur aus abstrakten, individualistischen Prämissen nur unangemessen zu verstehen wäre, und hat sogar in der „öffentlichen Meinung“ einen eigenartigen Bildungsmechanismus gesehen,⁷¹ dennoch neigte er ständig dazu, die hierarische Beziehung zwischen staatlicher Autorität und Bürgern in den Vordergrund zu rücken.⁷² Will man dagegen die auf wechselseitigen Anerkennungsnormen beruhenden kommunikativen, horizontalen Interaktionsbeziehungen unter Mitbürgern stärker mit einbeziehen, wonach der demokratische Rechtsstaat eher als ein zuständiges Durchführungsorgan von innerhalb der kooperierenden Öffentlichkeit legitimierten

 Den Begriff einer „moralischen Epistemologie“ verwendet Benhabib 1995, S. 108. Zur Kritik an den auf dieser Prämisse begründeten aggregativen Demokratiemodellen vgl. auch etwa Young 2002, S. 20 ff.  Siehe Honneth 2010b. Dass ein drittes, heute weitverbreitetes Demokratieverständnis, nämlich agonistische Konzeptionen, auch einen Hang zu „sozialer Gewichtslosigkeit“ („social weightlessness“) aufweisen, hat McNay jüngst sehr deutlich dargelegt – siehe McNay 2014.  Siehe Hegel 1821, §§ 315, 316.  Vgl. Honneth 2001, S. 97 und Honneth 2011, S. 471.

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Entscheidungen anzusehen ist, muss man ihre kennzeichnenden, zur sozialen Freiheit befähigenden Bildungsprozesse ausführlicher beschreiben. Zu diesem Zweck lassen sich auf einer ersten Ebene jene von deliberativen Demokratietheorien hinsichtlich der intersubjektiven Struktur öffentlicher Beratung offengelegten Transformationsprozesse heranziehen, die (beispielsweise Informationsvermittlung, Überprüfung eigener Absichten, Zunahme der Reflexivität des persönlichen Willens) zu einer wechselseitigen Perspektivübernahme führen, auf deren Basis eine konsensuelle, gerechte Entscheidungsfindung möglich wird. Mit der modernen Institutionalisierung dieser „Praktiken eines deliberativen Meinungstauschs“, so stellt zunächst auch Honneth fest, wird den Subjekten die Möglichkeit gegeben, „mittels der wechselseitigen Relativierung von individuellen Standpunkten zu Urteilen [zu] führen, die den Anspruch auf generelle, für alle gültige Richtigkeit erfüllen“.⁷³ Fast selbstverständlich ergibt sich daraus, dass Honneth hier (wie gewöhnlich für viele Konzeptionen deliberativer Demokratie) auf Deweys Öffentlichkeitsbegriff zurückgreifen kann, um den „epistemischen Wert“ demokratischer Verfahren vor allem unter dem Gesichtspunkt zu entschlüsseln, dass auf diese Weise organisierte, alle Betroffenen unter demokratischen Bedingungen einbeziehende öffentliche Beratungsprozesse zu rationaleren Problemlösungen führen können.⁷⁴ Bereits in dieser Hinsicht lässt sich Honneth zufolge festmachen, dass mit der Ausbildung der modernen Öffentlichkeit neben einer demokratischen Legitimationsgrundlage vom Rechtsstaat auch ein weiterer, historisch neuartiger Erfahrungsraum geschaffen wird, in dem die Subjekte vermittels der Verinnerlichung von komplementären, hier auf ihren Status als gleichberechtigte Staatsbürger bezogenen Handlungsverpflichtungen kooperativ ihre individuelle Freiheit erweitern können. Denn wie in persönlichen Bezeihungen und marktwirtschaftlichen Verhältnissen sei in der normativen Struktur demokratischer Willensbildung ein besonderes Freiheitsversprechen enthalten, und zwar „in wechselseitiger Einnahme der Rollen von Sprecher und Zuhörer ungezwungen die eigenen politischen Absichten zu klären und zu realisieren“.⁷⁵ Daraus folgt, so Honneth, dass die Institutionalisierung einer als soziale Freiheit erfahrbaren Öffentlichkeit, insbesondere mit der modernen Etablierung von übergreifenden Kommunikationsräumen, in denen die Subjekte sich als von gemeinsamen Angelegenheiten betroffene Mitbürger verstanden wissen konnten, sowie von fairen Chancen, um die neu eröffneten Freiheiten ungehindert auszuüben, verbunden war. Während die erste Voraussetzung mit der Herausbildung von Nationalstaaten und deren öffentlichen, „schichtübergreifenden Kommunikationsmedien“ zumindest annäherungsweise erfüllt war, sei für die zweite die Institutionalisierung von politischen Teilnahmerechten der entscheidende Schritt gewesen: Mit ihnen wurde den Subjekten

 Honneth 2011, S. 476.  Siehe Honneth 2000i, S. 300 ff. und Honneth 2011, S. 497 ff.  Honneth 2011, S. 500.

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die institutionalisierte Möglichkeit gegeben, an kommunikativen Willensbildungsprozessen unter gleichberechtigten Bedingungen teilzunehmen und dadurch einen legitimen Einfluss auf die staatlichen Beschlüsse auszuüben. Und gerade in dieser Hinsicht, so will Honneth besonders hervorheben, unterscheiden sich die politischen Rechte nach ihrer normativen Struktur von den anderen rechtlich gewährten Freiheiten, das heißt von liberalen Freiheits- und sozialen Wohlfahrtsrechten, da sie keine „Haltung des individuellen Rückzugs“ implizieren, sondern im Gegenteil die normative Aufgabe stellen, „einen Entscheidungsakt zu vollziehen, der im Prinzip vor allen anderen Rechtsgenossen gerechtfertigt werden [kann], weil er sich auf das gemeinsame Wohl des gesamten Gemeinwesens beziehen [soll]“.⁷⁶ Da der „grundrechtliche Rahmen“ demokratischer Öffentlichkeit demnach wesentlich durch solche „Rechtsfertigungszumutungen“ geprägt ist, stellt sich deutlich heraus, dass die politische Willensbildung nicht als eine bloße Vermittlungssphäre von bereits festgelegten Interessen begriffen werden kann.⁷⁷ Nach Honneths Ausführungen erschöpfen sich jedoch die zur sozialen Freiheit befähigenden dezentrierenden Vollzüge von demokratischen Öffentlichkeiten nicht in jenem mit der Rolle eines argumentativ handelnden Subjekts notwendig einhergehenden Rechtfertigungszwang, den deliberative Demokratiekonzeptionen ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen. Die für die Verwirklichung sozialer Freiheit erforderlichen Bildungsprozesse würden nicht nur mit der Notwendigkeit zusammenhängen, so lässt sich ein erster Einwand von Honneth auf den Prozeduralismus wiedergeben, die komplementären Rollen von kommunikativen Akteuren frei einnehmen und spielen zu können; sondern ebenso entscheidend sei eine Reihe von anderen, nicht auf moralische Argumentationen bezogene Tätigkeiten, beispielsweise öffentliche Versammlungen oder Demonstrationen, ohne die die Subjekte die notwendige Bereitschaft zur Teilnahme an öffentlichen Beratungsprozessen kaum auszubilden vermöchten.⁷⁸ Und auf einer noch grundlegenderen Ebene lässt sich zudem festhalten, dass Honneths Konzeption sozialer Freiheit die Ausbildung der für eine freie Teilnahme an deliberativen Beratungsprozessen erforderlichen Einstellungen und Kompetenzen über den Rahmen der Öffentlichkeit selbst hinaus erfasst, was in seiner Vorstellung einer ständigen Abhängigkeit politischer Willensbildungsprozesse von vorausliegenden, nicht öffentlichen Interaktionsbeziehungen einer demokratischen Sittlichkeit ausgedrückt wird. Mit dieser Einsicht wird in der Tat eine Bedeutungsschicht freigelegt, die den bisher dargelegten, an die normative Struktur öffentlicher Deliberation gebundenen Lernprozessen vorausliegt und von deliberativen Demokratiemodellen gewöhnlich eher außer Acht gelassen wird. Wiederum versucht Honneth, diese Ansicht mit Bezug auf

 Honneth 2011, S. 482. Auf die Frage, ob damit die normative Bedeutung von sozialen Rechten angemessen erklärt ist, werde ich später zurückkommen (Kapitel 8).  Auch Habermas weist auf den Umstand hin, dass, soweit den politischen Teilnahmerechten die „gleiche Struktur“ von negativen Rechten zugesprochen wird, für die Öffentlichkeit nur eine „Scharnierfunktion“ übrig bleibt. Vgl. Habermas 1996, S. 279.  Vgl. Honneth 2011, S. 543 f.

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Deweys Öffentlichkeitsbegriff auszubuchstabieren, sofern bei diesem eben der Versuch zu erkennen sei, die demokratische Willensbildung „nicht am Modell der kommunikativen Beratung, sondern am Modell der gesellschaftlichen Kooperation“ zu begründen, womit eine „vorpolitische Sittlichkeit der demokratischen Gesellschaft“ als unerlässliche Voraussetzung politischer Demokratie herausgestellt wird.⁷⁹ In eine ähnliche Richtung habe Honneth zufolge andererseits auch Durkheim argumentiert, indem er die Reproduktionsfähigkeit demokratischer Öffentlichkeit an die Voraussetzung einer politischen Hintergrundskultur („staatsbürgerliche Moral“) gebunden sah, aus der ständig die notwendigen „solidarischen Empfindungen“ für eine freiwillige Beteiligungsbereitschaft für gemeinwohlorientierte Tätigkeiten fließen müssen. Was beide also auf verschiedene Weise zum Vorschein bringen, so lässt sich Honneths Überzeugung zusammenfassen, ist die strukturelle Angewiesenheit der demokratischen Öffentlichkeit auf vorausliegende dezentrierende Bildungsprozesse, in denen die individuelle Bereitschaft erworben und ständig erneuert wird, „private Ziele hinter die Verfolgung des Gemeinwohls zurückzustellen, um sich im kooperativen Zusammenwirken mit anderen für eine Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen einzusetzen“.⁸⁰ Mit dieser nicht prozeduralistischen Beschreibung der Bestandsvoraussetzungen demokratischer Öffentlichkeit geht daher eine erweiterte Auffassung jener sozialen Missstände einher, die ihre sittliche, freiheitsverbürgende Infrastruktur gefährden können. Das Freiheitsversprechen moderner Öffentlichkeit kann stets nicht nur deshalb scheitern, weil ihre internen Voraussetzungen (Institutionalisierung von politischen Rechten sowie von über gesellschaftliche Probleme aufklärenden Kommunikationsmedien) nur teilweise erfüllt werden, sondern auch aufgrund einer nur mangelnden Verwirklichung der in den anderen Sphären demokratischer Sittlichkeit angesiedelten Freiheitschancen. So führt Honneth aus: Sind in den beiden Handlungssystemen der persönlichen Beziehungen und des marktvermittelten Wirtschaftsverkehrs nicht annähernd jene Bedingungen sozialer Freiheit verwirklicht, die gemäß ihrer selbstbezüglichen Legitimationsprinzipien hier jeweils herrschen sollen, so fehlt es den Bürgerinnen und Bürgern an den sozialen Verhältnissen, die ihnen eine unbeschränkte und zwangslose Teilnahme an der demokratischen Willensbildung allererst ermöglichen. […] die Verwirklichung von sozialer Freiheit in der demokratischen Öffentlichkeit [ist] ihrerseits an die Voraussetzung gebunden, daß auch in den Sphären der persönlichen Beziehungen und der Marktwirtschaft die jeweils eigenen Prinzipien sozialer Freiheit zumindest halbwegs verwirklicht sind.⁸¹

Eine erste Art normativer Fehlentwicklung kann demnach immer dann auftreten, wenn die grundrechtlichen und kulturellen Voraussetzungen der Sphäre demokratischer Öf-

 Honneth 2000i, S. 303. Zur Kritik, dass deliberative Demokratiekonzeptionen sich einseitig auf innerhalb von argumentativen Beratungsinstanzen vollziehende Lernprozesse konzentrieren und damit Deweys Demokratieverständnis nur verkürzt übernehmen vgl. auch Hartmann 2003, S. 30 ff.  Honneth 2011, S. 545.  Honneth 2011, S. 472 f.

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fentlichkeit dermaßen gesellschaftlichen Einschränkungen unterlegen sind, dass sich ihr innewohnendes Freiheitsversprechen nur gleichzeitig mit ungerechtfertigten Benachteiligungen zur Durchsetzung bringen lässt – so sei beispielsweise die verzerrende Wirkung zu verstehen, die mehr oder weniger institutionalisierte Ausschlussmechanismen hinsichtlich demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten ausüben, oder auch die schädlichen Folgen der gegenwärtigen Herausbildung von segmentierten, stärker nach bloß ökonomischen Kriterien organisierten Kommunikationsräumen.⁸² Bei allen diesen Fällen, so ist aus Honneths Konzeption sozialer Freiheit zu schließen, handelte es sich nicht nur um die mögliche Entstehung einer Legitimationskrise, sondern tatsächlich um einen Freiheitsverlust: Als Folge der Verfehlung der normativen Aufgaben demokratischer Öffentlichkeit werden nicht einfach die Möglichkeiten von Subjekten unrechtmäßig eingeschränkt, auf staatliche Beschlüsse demokratisch Einfluss zu nehmen, sondern zugleich verlieren sie die in modernen Lebensformen gegebene Chance, die Öffentlichkeit als eine weitere kooperative Erweiterung ihrer individuellen Freiheit, das heißt als eine Sphäre sozialer Freiheit zu erfahren. Wie für den Fall des Markts will Honneth auch hier demnach die letzten Endes freiheitseinschränkenden Wirkungen hervorheben, die aus einer desozialisierten Vorstellung demokratischer Öffentlichkeit entstehen; wie das Beispiel einer gegenwärtigen Fehlentwicklung im Bereich politischer Teilnahmerechte zeigen würde, besteht ihre „Entwertung“ oder „Entnormativierung“ nicht einfach darin, dass Individuen oder Gruppen von diesen rechtlichen Garantien ausgeschlossen sind, sondern zugleich in dem Umstand, dass sie auch von denjenigen, denen solche Freiheiten anerkannt werden, zunehmend nur als individuelle Schutzvorrichtungen, das heißt nicht mehr als ein Medium sozialer Einbeziehung verstanden werden.⁸³ Mit diesen Ausführungen wird zudem bereits nahegelegt, dass die hier möglicherweise auftretenden normativen Fehlentwicklungen – ebenso wie in den anderen sittlichen Sphären – historischen Veränderungsprozessen unterworfen sind: Es reicht selbstverständlich nicht aus, politische Teilnahmerechte oder öffentliche Kommunikationsräume einmal zu etablieren, sondern die demokratische Öffentlichkeit stellen sich beständig neuen Herausforderungen, um den legitimen Ansprüchen vonseiten der Gesellschaftsmitglieder nach politischer Selbstbestimmung gerecht zu werden.⁸⁴ Die zur sozialen Freiheit befähigenden intersubjektiven Bildungsprozesse besitzen demnach auch in dieser Sphäre eine konstitutive geschichtliche Dimension, sodass die normativen Defiziten demokratischer Willensbildung – und damit die Chancen, die Öffentlichkeit nicht als eine kooperative Erweiterung individueller Autonomie

 Siehe Honneth 2011, S. 533 ff. und S. 558 ff.  Vgl. Honneth 2013, S. 36.  Hier lassen sich beispielsweise jene von Honneth erwähnten wichtigen Herausforderungen gegenwärtiger Öffentlichkeiten nennen: die Anerkennung von politischen Rechten für ethnische oder kulturelle Minderheiten sowie die Gestaltung von transnationalen, nicht nur rechtlich festgelegten Öffentlichkeitsräumen.

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erfahren zu können – immer angesichts historisch sich wandelnder Erfordernisse zu deuten sind. Auf der anderen Seite können auch, wie bereits erwähnt, demokratische Willensbildungsprozesse Honneth zufolge aufgrund einer nur mangelhaften Verwirklichung der jeweiligen Freiheitsformen in den anderen sittlichen Sphären beschränkt oder verzerrt werden. Da die hier potenziell auftretenden Einschränkungen auf die schon für persönliche Beziehungen und marktwirtschaftliche Verhältnisse beschriebenen sozialen Missstände verweisen, könnte es ausreichen, auf die daraus folgenden kategorialen Unterschiede bezüglich deliberativer Demokratiekonzeptionen noch einmal kurz einzugehen. Auf eine erste aus Honneths Anerkennungsbegrifflichkeit sich ergebende kategoriale Erweiterung wurde bereits früher hingewiesen: Während die Vertreter der deliberativen Perspektive besonders darauf beharren, dass aufgrund einer systematischen Verzerrung von öffentlichen Beratungsprozessen (beispielsweise durch Machtverhältnisse) der moralische Status von Bürgern als gleichberechtigte Argumentationspartner verletzt wird, schließt Honneths Ansatz daraus auf negative Auswirkungen, die über die Chancen einer egalitären Teilnahme am öffentliche Leben hinausgehen: Mit dem damit einhergehenden Verlust an Selbstachtung verlieren die Betroffenen eine Dimension ihrer positiven Selbstbeziehung, die für ihre individuelle Autonomie im Ganzen von wesentlicher Bedeutung ist.⁸⁵ Mit der hier dargelegten Beschreibung von demokratischer Öffentlichkeit als ein Erfahrungsraum sozialer Freiheit lässt sich noch eine weitere kategoriale Erweiterung festlegen, die etwa unter Bezug auf einen Versuch von James Bohman, eine inhaltsreichere Darstellung der Voraussetzungen deliberativer Demokratie auch mit Verweis auf eine Konzeption „sozialer Freiheit“ (effective social freedom) zu geben, kurz aufgeklärt werden kann.⁸⁶ Im Grunde genommen geht Bohman von der Feststellung aus, dass weder die Gewährung von politischen Teilnahmerechten noch die Herstellung von Chancengleichheit genug seien, um die bürgerliche Partizipation am demokratischen Willensbildungsprozess unter den Bedingungen gegenseitiger Achtung vollkommen zu sichern; immerhin könnte sie auch unrechtmäßig eingeschränkt werden, indem beispielsweise politisch schon integrierte Individuen oder Gruppen über die erforderlichen öffentlichen Fähigkeiten (public capabilities) nur in geringerem Maß verfügen und deshalb schließlich an der politischen Willensbestimmung tatsächlich nicht egalitär teilnehmen können (political poverty). ⁸⁷ Eine wirkliche Mitwirkung aller Betroffenen an den etablierten Deliberationsprozessen und deshalb ein ungestörter Verlauf demokratischer Öffentlichkeit (adequate public functioning) sei demnach erst

 Siehe oben 5.2.2.  Siehe Bohman 1997.  Vgl. Bohman 1997, S. 333. Das daraus resultierende Unrecht wird von Bohman unter der Asymmetrie public exclusion / political inclusion zusammengefasst – die von öffentlichen Deliberationen Ausgeschlossenen könnten nicht verhindern, die sich daraus ergebenden Entschlüsse hinnehmen zu müssen.

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erreichbar, wenn die anspruchsvollere Voraussetzung einer capability equality oder effective social freedom auch zugesichert wird. Wenn mit dieser Auffassung die normativen Defizite demokratischer Willensbildungsprozesse letztlich auch mit einer Verarmung sozialer Freiheit in Verbindung gebracht werden, wird diese Auffassung dennoch kategorial anders begründet als Honneths Konzeption. Dieser zufolge bestehen normative Fehlentwicklungen nicht einfach darin, so ließe sich der Unterschied zugespitzt formulieren, dass den Subjekte kulturelle oder soziale Mittel (sei es materielle Ressourcen oder subjektive Fähigkeiten) fehlen, um am politischen Willensbildungsprozess egalitär teilzunehmen; vielmehr handelt es sich dabei um Prozesse, mit denen die in modernen Gesellschaften gegebene Möglichkeit eingeschränkt wird, die demokratische Öffentlichkeit als eine auf reziproken Handlungsverpflichtungen begründete Interaktionssphäre, das heißt eine weitere sittliche Sphäre sozialer Freiheit tatsächlich zu erfahren. Oder positiv ausgedrückt: Das Freiheitsversprechen moderner Öffentlichkeit würde nicht einfach darin bestehen, angemessene äußere Verwirklichungsbedingungen politischer Selbstbestimmung für jeden Bürger zu sichern, sondern vielmehr darin, die eigenen politischen Ziele im Austausch mit anderen frei ausbilden und verwirklichen zu können – das heißt, die Mitwirkung an öffentlichen Angelegenheiten als eine weitere kooperative Erweiterung individueller Freiheit zu erfahren.⁸⁸

6.4 Schluss Die in den vorausgegangenen Kapiteln als zentral für die Kritische Theorie dargestellte Idee eines paradoxen Freiheitsverlusts – das heißt einer sozial verursachten Freiheitseinschränkung, die aber erst unter modernen, freiheitsermöglichenden gesellschaftlichen Bedingungen möglich wird – lässt sich in veränderter Form auch in Honneths Konzeption sozialer Freiheit erkennen. Die von ihm auf der Grundlage von Hegels Rechtsphilosophie als historisch herausgebildeten und ausdifferenziert beschriebenen sittlichen Institutionen und Praktiken (persönliche Beziehungen, Marktverhältnisse und demokratische Willensbildung) stellen einen auf komplementären Rollenverpflichtungen beruhenden moralischen Raum dar, innerhalb dessen soziale Wesen wesentliche Freiheitserfahrungen machen können, aber auch ständig vor neue Herausforderungen, die ihre Autonomie potenziell gefährden können, gestellt werden: Da die in diesem Zusammenhang erzielten Freiheitsgewinne streng auf kooperative Prak-

 Ein erhellendes Beispiel dafür liefern Honneths Betrachtungen über den normativen Stellenwert von öffentlichen Erziehungseinrichtungen für die Praktiken der demokratischen Willensbildung. Denn im Anschluss an Dewey und Durkheim versteht er die öffentliche Schule als „eine Bildungsstätte demokratischer Fähigkeiten“ – und zwar so sehr im Sinne einer „angemessenen Wissensvermittlung als vielmehr der praktischen Gewohnheitsbildung“, der „Eingewöhnung in eine Kultur der Assoziation“. In den öffentlichen Erziehungseinrichtungen werden anders gesagt den Heranwachsenden primäre öffentliche Erfahrungen sozialer Freiheit vermittelt. Vgl. Honneth 2012, S. 437.

6.4 Schluss

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tiken angewiesen bleiben, können sie immer scheitern, wenn die dafür notwendigen intersubjektiven Bildungsprozesse aufgrund gesellschaftlicher Ursachen nur defizitär verlaufen können. Mit der Idee von „normativen Fehlentwicklungen“ bringt man daher, wie für die hier rekonstruierte Tradition kritischer Gesellschaftstheorie eben charakteristisch ist, unnötige Freiheitseinschränkungen zum Ausdruck, die sich nicht einfach aufgrund anthropologischer Erfordernisse festhalten lassen, sondern immer die Einbeziehung der historischen Veränderungsprozesse von sittlichen Institutionen und Praktiken, von der zweiten Natur sozialer Lebensformen also, erfordern. Auf der Grundlage der Hegelʼschen Beschreibung des Bildungscharakters von sittlichen Institutionen, der nicht einfach im Sinne einer frühen Sozialisation, sondern als ein fortwährender Lernprozess zu deuten ist, eröffnet sich dann für eine anerkennungstheoretische Ätiologie sozialer Leidenserfahrungen die Möglichkeit, nicht nur hinsichtlich der Grundsätze einer umfassenderen moralischen Anerkennungsordnung moderner Gesellschaftsformen überflüssige Freiheitseinschränkungen festzustellen, sondern auch innerhalb jeder Sphäre sozialer Freiheit zwischen einerseits notwendigen, befähigenden Beschränkungen und andererseits unnötigen Einschränkungen individueller Autonomie, die insofern einen Freiheitsverlust darstellen. Diese Grenzziehung lässt sich aber bezeichnenderweise nicht ein für allemal festzustellen, sondern sie hängt immer davon ab, mit welchen historisch wandelnden Herausforderungen sich die jeweiligen kooperativen Bildungsprozesse sozialer Freiheit konfrontieren müssen. Obwohl diese Ausführungen zum großen Teil den bisher bezeichneten Anforderungen einer im kategorialen Rahmen Kritischer Theorie verfahrenden Ätiologie sozialen Leidens zu entsprechen scheinen, sollen doch wenigstens zwei darauf bezogene Schwierigkeiten von Honneths Ansatz geklärt werden. Zunächst stellt sich nämlich die Frage, ob es wirklich noch angemessen ist, Honneths Gerechtigkeitstheorie mit Bezug auf den Begriff zweite Natur zu deuten. Es ist recht deutlich, dass er mit Hegel die Struktur der Sittlichkeit als eine Versöhnung von „Pflicht und Neigung, Vernunft und Sinnlichkeit“ interpretieren will;⁸⁹ fraglich ist aber, ob sich dabei weiterhin eine Dimension oder Erfahrungsschicht erkennen lässt, die tatsächlich als eine sozusagen „erste Natur“ angenommen werden könnte. Einerseits zeigt sich eindeutig, dass die frühen naturalistischen Prämissen von Honneths Anerkennungstheorie, etwa die Rolle von psychisch angelegten individualisierenden Impulsen (Mead) oder von ständig wiederkehrenden frühkindlichen Symbioseerfahrungen (Winnicott), nicht mehr von besonderer Bedeutung sind, um die zur sozialen Freiheit befähigenden Bildungsprozesse und ihre jeweiligen Gefährdungen zu erklären – beide nehmen dagegen nun eine sehr starke, institutionell vermittelte Form an.⁹⁰ Andererseits aber  Vgl. etwa Honneth 2014a, S. 792.  Früher hatte Honneth beispielsweise darauf hingewiesen, dass sich soziale Gefährdungen der Autonomie möglicherweise auch mit Bezug auf frühkindliche „Trennungsängste“ andeuten ließen – vgl. etwa Honneth 2010j, S. 296 und Honneth 2007e, S. 187. Eine Kritik zum Bedeutungsverlust von natürlichen Aspekten in Honneths Theorieentwicklung formuliert etwa Deranty 2005.

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kommt in Honneths Ausführungen auch deutlich zum Ausdruck, dass die verschiedenen Sphären sozialer Freiheit notwendig auf naturverbundene Erfahrungen bezogen bleiben müssen: Nicht nur in der Familie, in der die natürliche Bedürftigkeit von Menschen deutlich zutage tritt, sondern auch in den höherstufigen Kooperationszusammenhängen der Wirtschaftsordnung und der demokratischen Willensbildung spielen individuelle Neigungen, Wünsche und Gefühle eine wesentliche Rolle bei der Ermöglichung und Sicherung der jeweiligen Freiheitsform.⁹¹ Die moralischen Anerkennungsnormen, so hält Honneth im Anschluss an Hegel fest, müssen notwendig als „Ausdruck der Neigungen und Absichten“ von Einzelnen erfahren werden, damit sie in den jeweiligen Interaktionen tatsächlich „eine Bedingung [ihrer] eigenen Selbstverwirklichung“ erblicken können.⁹² Daraus ergibt sich dann, dass zwar eine erste Natur nicht mehr in Form einer prinzipiell niemals ganz sozial aufgehobenen Dimension menschlichen Lebens zu erkennen möglich ist, aber es immerhin gilt, dass sie als ein beständiges Bildungserfordernis im Zusammenhang sittlicher Institutionen und Praktiken erscheint. Die zweite Schwierigkeit hängt mit dem Begriff „Leiden“ zusammen: Wenn ein Freiheitsverlust tatsächlich als eine Leidenserfahrung zu konzipieren ist, darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen, soll zudem gezeigt werden, dass er notwendig mit der Verursachung irgendeiner subjektiven Beeinträchtigung einhergeht. Anders aber als in der zuvor erörterten Kritik an Erfahrungen moralischer Missachtung formuliert Honneth diese Konsequenz in seiner Diagnose der normativen Fehlentwicklungen nicht so deutlich. Allerdings lässt sich ausgehend von Hegels Grundlagen in Bezug auf die Freiheitskonzeption Honneths festhalten, dass soziale Freiheit nicht einfach eine Art von Autonomie impliziert, die ausschließlich aus kooperativen Bildungsprozessen hervorgehen kann, sondern es ist tatsächlich die Vernünftigkeit dieser Freiheitsform selbst, die von der ständigen Vermittlung sittlicher Gründe abhängt. Wenn Honneth das Problem des privatistischen Konsumismus beispielsweise als Ausdruck desozialisierter Marktverhältnissen behandelt, stellt er folglich fest: „[J]e stärker die Konsumenten durch intermediäre Organe der Meinungsbildung aufeinander bezogen sind und je nachhaltiger sie damit wechselseitig auf ihre jeweiligen Bedürfnisinterpretationen Einfluß nehmen können, desto eher werden sie dazu in der Lage sein, ihr Konsumverhalten auf dem Weg der Einsicht, also reflexiv, zurückzuschrauben.“⁹³ Es lässt sich daher festhalten, dass Marktverhältnisse ohne „Mechanismen der Verallgemeinerung von Interessen“ oder ohne „diskursive Spielräume für

 Vgl. dazu etwa Honneths kritische Anmerkungen zum „Verfassungspatriotismus“ – Honneth 2011, S. 612.  Honneth 2014a, S. 793.  Honneth 2011, S. 406. Unschwer lässt sich im Hintergrund dieser Formulierung Hegels Verständnis des Luxusverhaltens als mangelhafte, unsittliche Bedürfnisbefriedigungsweise erkennen: „Die Besonderheit für sich, einerseits als sich nach allen Seiten auslassende Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zufälliger Willkür und subjektiven Beliebens, zerstört in ihren Genüssen sich selbst und ihren substantiellen Begriff.“ Hegel 1821, §185.

6.4 Schluss

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die wechselseitige Korrektur von Bedürfnisinterpretationen“⁹⁴ nicht nur soziale Ungerechtigkeiten oder normativ unangemessene Verhaltensweisen bedingen, sondern eigentlich eine wesentliche Interaktionsfähigkeit von Gesellschaftsmitgliedern in dem Maße beschädigen, wie diese eng von kooperativen, sittlich verfassten Bildungsprozessen abhängig ist. Wenn normative Fehlentwicklungen dann hauptsächlich als Benachteiligungen oder Ungerechtigkeiten erscheinen, handelt es sich dabei letzten Endes immer auch – so lässt sich abschließend sagen – um die Verunmöglichung einer vernünftigen sozialen Praxis, von der eine wesentliche Freiheitsform von Gesellschaftsmitgliedern abhängt.

 Honneth 2011, S. 408 f.

Kapitel 7 Soziale Pathologien Von den zuvor behandelten „normativen Fehlentwicklungen“ muss Honneths Konzeption sozialer Freiheit zufolge eine andere besondere Art von sozialem Missstand unterschieden werden, nämlich „soziale Pathologien“, deren Entstehungsort nicht in den jeweiligen Anerkennungsnormen von sittlichen Institutionen, sondern mit Bezug auf die anderen, auch in Hegels Rechtsphilosophie dargestellten Freiheitsformen moderner Sittlichkeit – rechtliche und moralische Autonomie – zu bestimmen ist. Mit diesem Gedanken nimmt Honneth deshalb wieder jene kategoriale Unterscheidung zwischen Gerechtigkeitsfragen und Pathologiendiagnose auf, die bereits Habermas in seiner Gesellschaftskritik – wie oben gesehen – entworfen hatte. Viel stärker aber als Habermasʼ Ansatz führt Honneth die Idee einer Diagnose von sozialen Pathologien als eine „besondere Erkenntnisabsicht“ der Sozialphilosophie – in kategorialer Abgrenzung von politischer und Moralphilosophie – aus und stellt diese deswegen als eine wesentliche Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie heraus.¹ Denn mit der Vorstellung einer sozialen Pathologie lassen sich überhaupt erst – so Honneths Einsicht – besondere gesellschaftliche Störungen festmachen, die im normativen Bezugsrahmen von Gerechtigkeitstheorien häufig übersehen werden, da sie nicht einfach mit Verweis auf moralische Normen als soziales Unrecht erkennbar sind: Nicht die egalitäre Gewährung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, auch nicht die faire Durchsetzung von rechtsstaatlichen Legitimitätsvoraussetzungen, sondern die Erschließung von gleichsam auf einer tieferen Ebene die Freiheit der Subjekte beschränkenden sozialen Entwicklungsprozessen stellt Honneth zufolge das zentrale Anliegen einer Pathologiendiagnose dar: [S]tets handelt es sich zunächst und vor allem um die Kritik eines gesellschaftlichen Zustands, der als entfremdet oder sinnlos, verdinglicht oder gar krank empfunden wird. […] Von einer ‚Pathologie‘ des gesellschaftlichen Lebens kann sinngemäß nur dann gesprochen werden, wenn bestimmte Annahmen darüber vorliegen, wie die Bedingungen der menschlichen Selbstverwirklichung beschaffen sein sollen.²

Aus diesem Grund versteht Honneth die Absicht einer Pathologiediagnose als auszeichnende Eigenschaft der Tradition Kritischer Theorie, sofern sie immer von dem besonderen Interesse getragen sei, auch negative Erfahrungen zu erschließen, die für das normative Selbstverständnis einer Gesellschaft – und sogar für die Betroffenen selbst – unauffällig bleiben können.³ Von besonderer Bedeutung für diese Tradition sei zusätzlich die Idee, soziale Pathologien als „Resultat mangelnder Rationalität“

 Siehe Honneth 2000a, S. 14.  Honneth 2000a, S. 55 f.  Vgl. dazu exemplarisch Honneths Verständnis der Dialektik der Aufklärung als eine Pathologiendiagnose in Form einer „erschließenden Kritik“ sowie seine Deutung von Adornos Aufsätzen zur „kapitalistischen Lebensform“- Honneth 2000b, 2007d. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-007

Kapitel 7 Soziale Pathologien

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oder als „Defizit an sozialer Vernunft“ zu begreifen, wobei die Hegelʼsche Vorstellung einer historisch ausgebildeten und in den zentralen Einrichtungen und Praktiken sozialer Welt niedergeschlagenen Vernunft stets als Schlüssel gedient hätte.⁴ Diesem Verständnis nach treten soziale Pathologien deshalb immer dann auf, wenn sich aufgrund von „sozialstrukturellen Zwängen“ ein historisch bereits verfügbares Rationalitätspotenzial in die soziale Wirklichkeit nicht oder nur mangelhaft zur Durchsetzung bringen lässt.⁵ In seiner im Anschluss an Hegels Sittlichkeitslehre formulierten Konzeption sozialer Freiheit schlägt Honneth nun vor, soziale Pathologien als Phänomene zu interpretieren, die aus einer Verabsolutierung der notwendigerweise auf sittliche Praxiszusammenhänge angewiesenen, insofern unselbstständigen Freiheitsformen der rechtlichen und moralischen Autonomie hervorgehen und einen Zustand individueller Unbestimmtheit bedingen. Im Folgenden möchte ich deshalb auf die Frage eingehen, ob sich Honneths Pathologiediagnose auch bezüglich der kennzeichnenden Fragestellungen sozialphilosophischer Leidenskritik auffassen lässt. Ausgehend von den Freudʼschen Annahmen hatte es für die frühe Kritische Theorie in der Tat immer als selbstverständlich gegolten, so stellt Honneth selbst fest, dass „sich soziale Pathologien stets in einem Leiden niederschlagen müssen“, da mit ihnen notwendigerweise ein „leidvolle[r] Verlust an Chancen der intersubjektiven Selbstverwirklichung“ einhergeht.⁶ Doch es bleibt nicht nur fraglich, ob und inwiefern diese Verhältnisbestimmung auch ohne Rekurs auf Freuds Gesundheitsmodell behauptet werden kann, sondern es lassen sich andere, ebenso ethisch motivierte Pathologiendiagnosen erkennen, so merkt Honneth auch an, die eine solche individuelle Belastung als Folge von Pathologien grundsätzlich ausschließen.⁷ Zur Klärung dieser Frage werde ich hier in drei Schritte vorgehen. Zunächst werde ich mich auf eine Klärung der Art von sozialen Pathologien konzentrieren, die Honneth in Anknüpfung an Hegels Rechtsphilosophie für potenzielle Missstände einer liberaldemokratischen Gesellschaft hält – das heißt Pathologien der rechtlichen und moralischen Freiheit (7.1). Daraus ergibt sich die ebenso von Hegel inspirierte Vorstellung eines „Leidens an Unbestimmtheit“, das sich auch – wie eben charakteristisch für die hier rekonstruierte Tradition einer Leidenskritik – als einen überflüssigen Freiheitsverlust interpretieren lässt (7.2). Schließlich werde ich ansatzweise die Frage zu klären versuchen, ob sich auf der Grundlage von Honneths Konzeption sozialer Freiheit auch eine angemessene Antwort auf die emanzipationstheoretische Frage sozialphilosophischer Leidenskritik, das heißt eine anerkennungstheoretische Erklärung der Naturalisierung sozialer Leidenserfahrungen, formulieren lässt – im Gegensatz zu dem Einwand nämlich, dass Honneths Anerkennungstheorie dazu nicht

   

Siehe Honneth 2007b, S. 32. Dazu auch Honneth 2007c. Vgl. Honneth 2007b, S. 46. Honneth 2007b, S. 49, 35. Beispielsweise H. Arendts Kritik am Konsumismus – siehe Honneth 2014b, S. 48.

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fähig sei, sofern sie die machtvermittelte Dimension von Leidenserfahrungen grundbegrifflich unterschätze (7.3).⁸

7.1 Pathologien der Freiheit Wie bereits Habermas in seinem oben erörterten Versuch, Pathologien der gesellschaftlichen Kommunikation zu erschließen, deutlich herausgestellt hatte, soll auch nach Honneth eine Diagnose von sozialen Pathologien zunächst einmal die kategoriale Schwierigkeit aufklären, wie sich die Übertragungsbedingungen des Begriffs „Pathologie“ selbst von hauptsächlich im Bereich organischen und psychischen Lebens auftretenden Funktionsstörungen auf die Dimension des Sozialen spezifizieren und rechtfertigen lassen. Denn steht dieser Begriff dort für die Bezeichnung einer Einschränkung von „Lebensmöglichkeiten“, die „als ‚normal‘ oder ‚gesund‘ vorausgesetzt werden“, ist hier, im gesellschaftlichen Leben, alles andere als leicht oder unumstritten zu bestimmen, was denn nun die unerlässlichen Erfordernisse einer ungestörten sozialen Reproduktion, das heißt die Grundlagen einer Vorstellung von „gesellschaftlicher Normalität“, sind.⁹ Aus einer methodischen Perspektive besteht diese Schwierigkeit vor allem darin, dass jene Bestandsvoraussetzungen nicht einfach aus der Sicht eines bloß externen Beobachters zugänglich sind, da sie immer gleichzeitig vom normativen Selbstverständnis der Subjekte tief geprägt sind: „[I]m Unterschied zu vorhumanen Sozialverbänden“ – so stellt Honneth fest – „[fließen] in die Bestimmung dessen, was eine menschliche Gesellschaft überlebensfähig macht, stets die normativen Überzeugungen der Mitglieder mit ein, die ihrerseits einem permanenten Wandel der Zeiten und Kulturen unterliegen.“¹⁰ Da aber auch für Honneth die damit unmittelbar naheliegende Möglichkeit einer hauptsächlich kulturalistischen Erklärung von gesellschaftlichen Normalitätsannahmen für die kennzeichnenden Zwecke einer kritischen Gesellschaftstheorie zu kurz sei, besteht die erste Begründungsaufgabe einer Pathologiendiagnose darin, einen hermeneutischen Bezugspunkt festzustellen, der jedoch die unerlässlichen Voraussetzungen sozialen Lebens auch kontexttranszendierend zu erklären vermag. Die Grundkriterien einer Pathologiendiagnose müssen demnach so beschaffen sein, dass sie eine historische Bestimmung enthalten, ohne sich aber zugleich im kulturellen Deutungshorizont einer gegebenen Gemeinschaft zu erschöpfen.¹¹

 Zu diesem Einwand siehe McNay 2008, S. 132 ff.  Honneth 2000a, S. 58.  Honneth 2014b, S. 56.  Exemplarisch dazu siehe etwa Honneths kritische Anmerkungen zu Michael Walzers kommunitaristischem Ansatz, in denen er eben den Verdacht nahelegt, dass „der ontologische Rahmen unserer moralischen Sprache nicht offen genug ist, um die Artikulation bestimmter Erfahrungen sozialen Leidens zu gestatten“. Honneth 1994e, S. 76.

7.1 Pathologien der Freiheit

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Während Honneth diese Aufgabe zunächst insbesondere mit den Mitteln einer noch auf Habermasʼ kommunikationstheoretischen Grundprämissen zurückbezogenen schwachen oder formalen Anthropologie zu bewältigen glaubte,¹² wird sie im Zusammenhang seiner sittlichen Konzeption sozialer Freiheit grundbegrifflich anders gestellt. Denn Honneth hält Habermasʼ Lösungsansatz nicht allein deshalb für irreführend, weil er eine verkürzte Auffassung des Auftretens von Sozialpathologien enthält (das Eindringen von Systemimperativen in kommunikative Lebenswelten) und zugleich aus dem Blick verliert, dass kommunikatives Handeln ständig auf eine vorausliegende, nicht sprachliche Schicht menschlicher Interaktionen angewiesen ist;¹³ dazu kommt noch der Einwand, dass Habermas den immanenten Zusammenhang zwischen individueller Freiheit und dem Sozialen nur auf unzulängliche Weise betrachtet: Bei seinem Begriff kommunikativer Freiheit seien zwar die Umrisse einer sozialen Konzeption individueller Freiheit möglich zu sehen, die aber dennoch zwingend historisch unbestimmt bleiben müssen, sofern jene freiheitsermöglichenden Kommunikationsbeziehungen nicht als konkrete, historisch ausgebildete Institutionen, sondern als ein „transzendentales Geschehen oder als Metainstitution“ („Diskurs“) gedacht werden.¹⁴ Habermasʼ prozeduralistische Konzeption sozialer Gerechtigkeit sei daher nichts anderes als die folgerichtige Konsequenz eines reflexiven Freiheitsbegriffs, das heißt einer Auffassung, für die die sozialen Gegebenheiten – existierende Institutionen und Praktiken – eher nur als äußerliche oder nachträgliche Anwendungsbedingungen individueller Freiheit gelten können.¹⁵ Wenn die Ausbildung individueller Autonomie mit Hegel dagegen als strukturell angewiesen auf ein historisch ausgebildetes und sittlich verfasstes Gefüge von Institutionen sozialer Freiheit angesehen wird, lässt sich das mögliche Auftreten von Pathologien, so Honneths Überzeugung, als einen besonderen, von den zuvor beschriebenen „normativen Fehlentwicklungen“ unterscheidbaren sozialen Missstand begreifen. Der von Hegel in seiner Rechtsphilosophie entworfene Deutungsvorschlag weise insbesondere darauf hin, gesellschaftliche Pathologien als die negativen Wirkungen eines höherstufigen soziokulturellen Entwicklungsvorgangs zu verstehen, anhand dessen die zwar wichtigen, aber letzten Endes unselbstständigen Freiheitsformen der rechtlichen und moralischen Autonomie irrtümlicherweise mit einem „Totalitätsanspruch“ ausgestattet werden: Immer wenn diese Freiheiten systematisch so angesehen und praktiziert werden, als ob sie das Ganze der für Mitglieder moderner Lebensformen verfügbaren Autonomieformen darstellen würden, verursachen sie

 Siehe Honneth 2000a, S. 66 ff.  Siehe oben 4.2.  Honneth 2011, S. 82. Honneth macht jedenfalls darauf aufmerksam, dass Habermas in Faktizität und Geltung ebenfalls eine normative Rekonstruktion von freiheitssichernden sozialen Institutionen vollführt, die aber ausschließlich auf die Institutionen des modernen Rechtsstaats beschränkt bleibt. Vgl. Honneth 2010b, S. 57.  Zum „internen Zusammenhang“ zwischen reflexiver Freiheit und prozeduralistischen Gerechtigkeitstheorien siehe Honneth 2011, S. 104 f.

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letztlich eine paradoxe Aushöhlung ihrer eigenen sittlichen Verwirklichungsbedingungen.¹⁶ Zwei Eigentümlichkeiten dieser Hegelʼschen Bestimmung sozialer Pathologien müssen besonders hervorgehoben werden. Da für Hegels Sittlichkeitslehre individuelle Freiheitsansprüche nicht einfach ein kulturelles Orientierungsmuster moderner Gesellschaftsformen darstellen, sondern vielmehr „Gestalten des objektiven Geistes“, die „bereits zu einer intersubjektiv geteilten, handlungswirksamen Perspektive der sozialen Akteure selbst geworden sind“¹⁷, müssen soziale Pathologien zunächst auf einer höheren Ebene des gesellschaftlichen Lebensprozesses angesiedelt werden – sie verkörpern, so stellt Honneth fest, einen Verstoß „gegen die Rationalität der sozialen Wirklichkeit“.¹⁸ Pathologien der individuellen Freiheit sind daher in einem anspruchsvollen Sinne als moderne soziale Missstände zu verstehen: Nicht nur werden sie durch die in der Struktur moderner Gesellschaften angelegten Hindernisse ausgelöst, sondern sie können tatsächlich erst dann entstehen, wenn sich das Ideal individueller Autonomie in der moralischen Reproduktion von Gesellschaften und damit im Alltagsleben der Subjekte, das heißt in der zweiten Natur von modernen sozialen Lebensformen, bereits in verschiedenen Formen niedergeschlagen hat. Eine so begründete Pathologienadiagnose verfährt demnach bezeichnend als eine immanente Kritik der modernen Gesellschaft: „Insofern war Hegel der Überzeugung, daß soziale Pathologien als das Resultat einer Unfähigkeit von Gesellschaften aufzufassen seien, ein in ihnen bereits angelegtes Vernunftspotential in den Institutionen, Praktiken und Alltagsroutinen angemessen zum Ausdruck zu bringen.“¹⁹ Und zweitens sei Hegel in seiner Rechtsphilosophie auch bezeichnenderweise von der Absicht geleitet, die Entstehung von gesellschaftlichen Pathologien eng mit empfindlichen Phänomenen eines „Unbestimmtseins, der Leere oder Unausgefülltheit“, das heißt mit sozialen Leidenszuständen, kategorial zu verbinden.²⁰ Diese seien eben dadurch verursacht, dass die Subjekte, sobald sie einseitig auf einer Quelle ihrer Autonomie beharren und sie verabsolutieren, die erforderlichen intersubjektiven Bedingungen und sittlichen Gründe für eine gelingende Verwirklichung ihrer Autonomie unterminieren, sodass sie endlich an einem Zustand von sozialer Unbestimmtheit zu leiden haben. Zur Klärung dieser Vorstellung eines Leidens an Unbestimmtheit ist es deshalb notwendig, zunächst zu überprüfen, inwiefern rechtliche und moralische Freiheit nach Honneth als potenzielle Quellen von Sozialpathologien angenommen werden müssen. Sowohl dem Handlungskomplex rechtlicher Freiheit wie auch dem der moralischen Autonomie kommt Honneth zufolge zweifellos eine maßgebende Bedeutung im Hinblick auf die Verwirklichung der Freiheit von Subjekten in modernen Lebensfor    

Vgl. Honneth 2001, S. 50. Honneth 2001, S. 73. Honneth 2001, S. 52. Honneth 2007b, S. 33. Honneth 2001, S. 78.

7.1 Pathologien der Freiheit

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men zu; denn in ihnen haben sich die bedeutsamen Vorstellungen der negativen (Privatautonomie) und reflexiven Freiheit (moralische Selbstbestimmung) praktisch niedergeschlagen, sodass sie für die moralische Reproduktion von liberaldemokratischen Gesellschaften im Ganzen ausschlaggebend seien. Mit ihnen, so fasst Honneth ihren ethischen Wert zusammen, werden den Subjekten berechtigte Rückzugsmöglichkeiten aus den etablierten sozialen Verhältnissen gegeben, die insofern für die freie Erkundung und Selbstbestimmung ihres persönlichen Willens von grundlegender Bedeutung sind. Wie bereits Hegel in seiner Darstellung des Systems abstrakten Rechts hervorgehoben hatte,²¹ besteht nach Honneth die freiheitsermöglichende Relevanz von modernen subjektiven Rechten wesentlich darin, eine gesetzlich geschützte private Sphäre zu schaffen, innerhalb der die Subjekte sich legitim von allen etablierten sozialen Beziehungen vorübergehend zurückziehen dürfen, um ihre „eigene Vorstellung des Guten“ aufzuklären und ihrem persönlichen Willen eine selbstbestimmte Gestalt zu geben.²² Was dann aus der Außenperspektive hauptsächlich als eine Ermöglichung von Willkürfreiheit erscheint, bedeutet für das Rechtssubjekt zugleich die intersubjektiv anerkannte Chance einer „legitimen Vereinzelung“, die es immer in Anspruch nehmen kann, um ohne Rechtfertigungsbedarf von allen vorhandenen Bindungen und deren Rollenverpflichtungen vorübergehend entlastet zu werden.²³ Und mit der Institutionalisierung der moralischen Autonomie sei nach Honneth den Subjekten eine weitere sozial beglaubigte Rückzugsmöglichkeit aus dem eingespielten Netzwerk kommunikativer Interaktionen gegeben; denn auf deren Grundlage dürfen sie im Fall von handlungswirksamen Uneinigkeiten immer in der jeweiligen Situation ihren Blick „nach innen“ richten und reflexiv prüfen, ob die gegebenen Verhältnisse und ihre normativen Zumutungen tatsächlich auf allgemein zustimmungsfähigen Gründen beruhen, und, wenn nötig, neue, vernünftigere Handlungsmotive fordern.²⁴ In diesem Sinne lässt sich nach Honneth schließlich die normative Struktur von diesen beiden freiheitsermöglichenden institutionalisierten Handlungssystemen als einen durch Anerkennungsnormen regulierten sozialen Praxiszusammenhang beschreiben, weil darin die Subjekte – vermittels spezifischer sozialer Praktiken – sich wechselseitig einen normativen Status zuschreiben, mit dem Erwartungen und Handlungsverpflichtungen entstehen, die für die Ermöglichung ihrer individuellen Freiheit maßgeblich sind.²⁵

 Siehe Hegel 1821, § 34 ff.  Vgl. Honneth 2011, S. 132 ff.  Vgl. Honneth 2011, 57 ff. Wie oben angemerkt, gilt dies nach Honneth für die negativen Freiheitsrechte und die sozialen Rechte, nicht aber für die politischen Teilnahmerechte, sofern diese mit einem kommunikativ zu vollziehenden Rechtfertigungsdruck verbunden seien.  Vgl. Honneth 2001, S. 63. Insofern besitzt die moralische Autonomie sowohl eine kritische wie auch eine positive Bedeutung – vgl. Honneth 2011, S. 179, 182.  Aus diesem Grund unterscheidet Honneth rechtliche und moralische Freiheit von sozialer Freiheit auch danach, welche Bedeutung die Anerkennungsnormen jeweils haben: Während sie in sittlichen

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Von besonderer Bedeutung zum Verständnis von Honneths Pathologiendiagnose ist nun zusätzlich die Tatsache, dass diese durch Anerkennungsnormen regulierten Handlungssysteme eine „besondere Form von Subjektivität“ voraussetzen – sie verlangen, so führt Honneth aus, „die Konstitution eines spezifischen Selbstverhältnisses […], welches darin mündet, die für Teilnahme an den konstitutiven Praktiken erforderlichen Kompetenzen und Einstellungen auszubilden“.²⁶ Das Rechtssubjekt muss dementsprechend die Fähigkeit erwerben, von ihren „eigenen moralischen oder ethischen Überzeugungen gegebenenfalls zu abstrahieren“ und sich auf eine ausschließlich rechtsvermittelte Handlungskoordination einzulassen, sowie auch die Bereitschaft besitzen, die rechtlich zulässigen Entscheidungen anderer Subjekte auch dann zu respektieren, wenn diese sich mit den eigenen ethischen Überzeugungen als inkompatibel erweisen: „Ingesamt muß die Rechtsperson […] gelernt haben, an sich und allen anderen Rechtsgenossen zwischen Oberfläche und Hintergrund, zwischen erlaubten Handlungsäußerungen und dahinterliegenden Absichten zu unterscheiden; ihr wird eine Differenzierungsleistung abverlangt, die in extremen Situationen bis zum Opfer der Selbstverleugnung reichen kann.“²⁷ Und nicht anders sieht es für das moralische Subjekt aus, weil dieses auch nur aufgrund eines praktischen Bildungsprozesses wirklich in die Lage versetzt wird, seinen Willen nach moralischen Grundsätzen frei zu bestimmen.²⁸ Sofern zudem moralische Selbstbestimmung notwendigerweise eine Übernahme der Perspektive von anderen impliziert, handelt es sich hier um einen noch anspruchsvolleren Bildungsprozess als für den Fall der rechtlichen Freiheit, weil diese Freiheitsform mit einem Rechtfertigungsdruck einhergeht: Im Unterschied zur Praktizierung der ‚rechtlichen Freiheit‘ ist diejenige der ‚moralischen Freiheit‘ insofern an die wechselseitige Bereitschaft gebunden, auf Nachfrage die eigenen Entscheidungen intersubjektiv zu rechtfertigen und für sie mit nachvollziehbaren Argumenten einzustehen. Bin ich in der Sphäre rechtlicher Interaktionen ‚frei‘, im Rahmen der bestehenden Gesetze nach Gutdünken und also ohne Rechtfertigungspflicht zu handeln, so kann ich in der Sphäre moralisch bestimmter Interaktionen nur dann die ‚Freiheit‘ beanspruchen, mir die Richtlinien meines Handelns selbst aufzuerlegen, wenn ich gleichzeitig bereit bin, für deren allgemeine Akzeptierbarkeit intersubjektiv einsehbar die Gründe zu benennen.²⁹

In diesen Ausführungen wird bereits der Schlüssel angedeutet, mit dem Honneth zufolge die Entstehung von sozialen Pathologien aufzufassen ist – und zwar ist dies die strukturelle Abhängigkeit rechtlicher und moralischer Handlungssysteme von Institutionen eine Freiheitserfahrung tatsächlich konstituieren, sofern diese nur auf kooperative Weise zu erreichen ist, regulieren die Anerkennungsnormen in den anderen Handlungssystemen freiheitsermöglichende Praktiken. Vgl. Honneth 2011, S. 224 f.  Honneth 2011, S. 147 f.  Honneth 2011, S. 150 f.  Vgl. dazu auch Hegels Ausführungen über die Formierung des persönlichen Willens als geistige Aufhebung von Neigungen und Trieben – Hegel 1821, § 11, § 20.  Honneth 2011, S. 193 f.

7.1 Pathologien der Freiheit

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sittlichen Sphären oder Institutionen sozialer Freiheit. In der Tat lassen sich in Honneths Ausführungen verschiedene Gründe erkennen, warum es sinnvoll ist, diese Freiheitsformen als derivativ, parasitär oder unselbstständig zu bezeichnen. Zunächst handelt es sich selbstverständlich darum, so Honneth, dass die von ihnen ermöglichte Distanzierung gegenüber der sozialen Welt notwendig voraussetzt, dass die Subjekte bereits an sozial etablierten Interaktionen teilnehmen und ihren sie kennzeichnenden Handlungsverpflichtungen nachkommen – in diesem Sinne stellen rechtliche und moralische Freiheit eine Art von „Reaktionsbildung auf Zerwürfnisse“ oder auch auf „Kommunikationsabbrüche“ dar, die aus dem normativ regulierten Umgang mit anderen Subjekten alltäglich hervorgehen können.³⁰ Eine stärkere Bedeutung der Unselbstständigkeit dieser Freiheitsformen kann andererseits darin gesehen werden, dass rechtliche und moralische Autonomie intersubjektiv gültige Rückzugsmöglichkeiten darstellen, das heißt, ihre jeweilige Inanspruchnahme wird im Wesentlichen möglich, weil in der sittlichen Struktur von liberaldemokratischen Gesellschaften bereits ein geteiltes und handlungswirksames Wissen angelegt ist, demzufolge jedes einzelne Mitglied einen sozial berechtigten Anspruch auf eben diese Autonomieformen hat.³¹ Noch weitere, anspruchsvollere Gründe lassen sich hinsichtlich des bereits angesprochenen Bildungscharakters von Sphären sozialer Freiheit feststellen. Wie oben erwähnt, seien nach Hegels Sittlichkeitslehre rechtliche und moralische Autonomie auch unter sozialisatorischen Gesichtspunkten untergeordnete Freiheitsformen, weil die für ihre angemessene Verwirklichung erforderlichen subjektiven Kompetenzen und Einstellungen ausschließlich im Zusammenhang von sittlichen Institutionen, vor allem in der Familie, ausgebildet werden können.³² Wie aber bisher bereits häufig hervorgehoben worden ist, beschränkt sich der Bildungscharakter von sittlichen Institutionen nicht einfach auf frühkindliche Entwicklungsprozesse; vielmehr lässt sich die Sittlichkeit nach Hegels Grundprämissen erst tatsächlich als eine zweite Natur annehmen, wenn ihre Struktur im Sinne eines fortwährenden, zur Autonomie befähigenden Lernprozesses beschrieben wird. Eine solche Leseart des Bildungscharakters von Institutionen sozialer Freiheit scheint Honneth schließlich auch zu übernehmen, wenn er die Möglichkeit einer angemessenen Realisierung von den beiden entlastenden Freiheitsformen – moralischer und rechtlicher Autonomie – im Anschluss an Hegel als dauerhaft abhängig von Anerkennungsbeziehungen erklärt: „Hegel muß daher […] die Konstruktion einer gerechten Ordnung, eines Systems freiheitsverbürgender Institutionen, vor der Entscheidungsfindung der isolierten oder vereinigten Subjekte rücken […] Die Anerkennung in Institutionen hat, so ließe sich vielleicht zusammenfassend sagen, der Freiheit der vereinzelten Person und der Freiheit der diskursiv miteinander Beratenden vorauszugehen.“³³    

Honneth 2011, S. 114 ff. Vgl. Honneth 2011, S. 124 ff. Siehe oben 6.1. und ausführlich dazu auch Neuhouser 2000, S. 150 ff. Honneth 2011, S. 111.

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Diese nicht nur sozialisatorische Bedeutung von sittlichen Institutionen hat Honneth demnach vor Augen, wenn er die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer angemessenen Verwirklichung der beiden unselbstständigen Autonomieformen ausführt. Das Freiheitsversprechen subjektiver Rechte kann insofern nur dann gelingen, wenn das Rechtssubjekt immer noch die Fähigkeit bewahrt, die momentan außer Kraft gesetzten sittlichen Verhältnisse nicht völlig aus dem Blick zu verlieren – und zwar deshalb, weil die durch Rechte ermöglichte „ethische Formung des Willens“ zwangläufig voraussetzt, dass das Subjekt seinen jeweiligen Interaktionspartner nicht nur als ein strategisch handelndes, sondern zugleich als ein ebenso ethisch motiviertes Subjekt versteht, um unter Einbeziehung von dessen Perspektive seinen eigenen Willen erst frei bestimmen zu können.³⁴ So hält Honneth schließlich fest: „Das Recht soll, so ließe sich auch sagen, eine Form von individueller Freiheit erzeugen, deren Existenzbedingungen es weder selbst hervorbringen noch aufrechterhalten kann; es lebt von dem bloß negativen, unterbrechenden Bezug auf einen sittlichen Praxiszusammenhang der sich aus sozialer Interaktion von nicht rechtlich kooperierenden Subjekten speist.“³⁵ Und dasselbe gilt für die moralische Autonomie, wie bereits Hegel mit seiner Kritik an der vertragstheoretischen Tradition hervorgehoben hatte.³⁶ Denn die moralische Selbstbestimmung von Subjekten sei ebenso abhängig von einer Vielzahl von lebensweltlichen Gewissheiten (Bindungen, Rollen, Verpflichtungen), deren sittlicher Gehalt die Verwirklichung moralischer Autonomie maßgeblich bestimmt, ja erst möglich macht: „Der einzelne stößt im Vollzug der Freiheit, die es jedem wechselseitig erlauben soll, sein Handeln nur auf selbstgesetzte, subjektiv für richtig gehaltene Grundsätze zu stützen, immer wieder auf normative Regeln, die er nicht als selbstgesetzt begreifen kann; vielmehr ist er gezwungen, sie zunächst einmal als institutionelle Tatsachen hinzunehmen.“³⁷ Damit ist bereits der Gesichtspunkt nahegelegt, unter dem Honneth die rechtliche und moralische Freiheit als potenzielle Quelle von sozialen Pathologien interpretieren kann. Anders als das sittliche Gefüge von Institutionen sozialer Freiheit verkörpern diese beiden anderen Handlungssysteme intersubjektiv anerkannte, aber dennoch letztlich sozial unbestimmte und daher unselbstständige Autonomiechancen: Das tatsächliche Gelingen der von ihnen ermöglichten Freiheitsform hängt letzten Endes immer von dem Ausmaß ab, in dem das Subjekt bei ihrer jeweiligen Inanspruchnahme immer auch die Fähigkeit aufrechterhält, mit kooperativ organisierten, sittlichen Zusammenhängen in handlungswirksamer Verbindung zu bleiben. Soziale Pathologien müssen demnach immer dann auftreten, wenn jene erforderliche „Wiederanknüpfung an die lebensweltlichen Routinen“³⁸ nicht eintritt, das heißt, wenn aufgrund gesell    

Siehe Honneth 2011, S. 151. Honneth 2011, S. 156. Siehe Honneth 2001, S. 63 und Hegel 1821, § 258. Honneth 2011, S. 203 f. Honneth 2011, S. 155.

7.2 Soziale Unbestimmtheit als Leidensquelle

197

schaftlicher Ursachen die Einzelnen einseitig auf den entlastenden Ansprüchen rechtlicher oder moralischer Autonomie beharren, was schließlich – und paradoxerweise – zu einer mangelhaften oder defizitären Verwirklichung beider Freiheitsformen führt. Der aus dieser gescheiterten Freiheitsverwirklichung resultierende empfindliche Freiheitsverlust sei das, was sich mit Hegels Rechtsphilosophie als ein „Leiden an Unbestimmtheit“ beschreiben lasse.

7.2 Soziale Unbestimmtheit als Leidensquelle Nach den bisherigen Ausführungen sind soziale Pathologien zusammenfassend von den zuvor erläuterten normativen Fehlentwicklungen und sozialen Ungerechtigkeiten vor allem dadurch zu unterscheiden, dass sie auf einer höheren Ebene gesellschaftlichen Lebens auftreten: Anstatt der ungleichmäßigen Durchsetzung einer sphärenspezifischen Anerkennungsnorm geht es hier um die systematische Fehldeutung einer normativ regulierten sozialen Praxis, um die gesellschaftlich erzwungene Unfähigkeit also, einen „reflexiven Zugang zu den primären Handlungs- und Normensystemen“ rechtlicher und moralischer Freiheit zu erreichen.³⁹ In diesem Sinne lassen sich soziale Pathologien Honneth zufolge auch als „Rationalitätsdefizite“ oder Störungen zweiter Ordnung (second-orders disorders) begreifen,⁴⁰ weil mit ihnen verhindert wird, die institutionalisierten Regeln der rechtlichen und moralischen Autonomiekomplexe auf gelungene, nicht selbstzerstörerische Weise in die soziale Praxis umzusetzen. Damit ist auch bereits aufgeklärt, wie maßgebend die Vorstellung einer freiheitsermöglichenden zweiten Natur von modernen Lebensformen auch für Honneths Diagnose von sozialen Pathologien ist; denn jener normative Gehalt, der ihm zufolge von Gesellschaftsmitgliedern missverstanden werden kann, verkörpern eine historisch ausgebildete und in modernen Institutionen und Praktiken handlungswirksam gewordene soziale Vernunft: „Insofern stellen soziale Pathologien das Ergebnis der Verletzung einer gesellschaftlichen Rationalität dar, die als ‚objektiver Geist‘ in der normativen Grammatik der institutionalisierten Handlungssysteme verkörpert ist.“⁴¹ Eine solche Auffassung könnte vielleicht leicht zu dem Missverständnis führen, dass soziale Pathologien nach Honneths Verständnis als primär im Kopf der Betroffenen liegende Verwirrungen zu verstehen seien.⁴² Gegen eine solche Leseart scheint jedoch bereits die Tatsache zu sprechen, dass Honneth die verschiedenen modernen Freiheitskomplexe als Wissens- und Handlungssphäre, als „Netzwerk von institutionalisierten Routinen und Verpflichtungen“ beschreibt,⁴³ was demnach eine vereinfachte Beschreibung von Pathologien als Nichtübereinstimmung zwischen einem fehlerhaft     

Honneth 2011, S. 157. Zum Begriff „second-orders disorders“ siehe Zurn 2011. Honneth 2011, S. 206. Diesen Einwand formuliert beispielsweise Freyenhagen 2015, S. 136. Siehe Honneth 2011, S. 26.

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gewordenen kognitiven Verständnis und einem unberührt gebliebenen sozialen Praxiszusammenhang grundbegrifflich fragwürdig macht.⁴⁴ Pathologien der rechtlichen Freiheit werden insofern immer dann ausgelöst, wenn die eigene Autonomie vornehmlich im Sinne von einklagbaren Rechtsansprüchen verstanden und praktiziert wird, sodass ihre „Ergänzungsbedürfigkeit“ durch sittliche Handlungsgründe systematisch in Vergessenheit gerät.⁴⁵ Wird damit das Motiv einer Verselbstständigung rechtlicher Freiheit als Quelle einer sozialen Pathologie wieder ins Spiel gebracht, so ist es allerdings ganz anders zu verstehen, als es für die frühe materialistische Leidenskritik kennzeichnend gewesen war: Während für jene, wie oben gesehen, die pathologischen Verselbstständigungstendenzen des modernen Rechts – vor allem im Anschluss an Lukácsʼ Verdinglichungsdiagnose – unmittelbar mit seinen entpersonalisierenden, von qualitativen Persönlichkeitsmerkmalen abstrahierenden Struktureigenschaften zusammenhängen, die letzten Endes auf die kapitalistische Verwertungslogik zurückzuführen seien, sieht Honneth nun diese Art anonym gewordener Kommunikation eben als die freiheitsermöglichende Substanz von modernen Rechten.⁴⁶ Eine pathologische Entwicklung modernen Rechts findet deshalb erst statt, wenn die Subjekte im Anspruch auf ihre rechtliche Freiheit die zugrunde liegenden Anerkennungsverhältnisse und deren Handlungsverpflichtungen systematisch übersehen. Viel näher scheint Honneths Ansatz hier Habermasʼ Verrechtlichungskritik zu stehen, derzufolge sich rechtliche Regelungen – wie oben erklärt – erst pathologisch, freiheitseinschränkend auswirken, wenn sie in sozial integrierte Zusammenhänge nicht bloß als ergänzende Maßnahmen, sondern als Mechanismen eingreifen, die eine vorgängige kommunikative Handlungskoordination zu verdrängen neigen.⁴⁷ Nicht nur die Bezeichnung der notwendig vorausgehenden Interaktionen als Anerkennungsverhältnisse, sondern auch die Erkennung einer weiteren, in der Verwirklichung moralischer Autonomie selbst angelegten Pathologie zeichnet jedoch Honneths Erklärung von Habermasʼ Diagnose aus. Denn Honneth zufolge kann eine weitere Art von Pathologie individueller Freiheit immer dann auftreten, wenn die mit dem „moralischen Standpunkt“ zwingend einhergehende Abstraktion von allen gegebenen Bindungen⁴⁸ von den Subjekten so weit verabsolutiert wird, dass schließlich

 Selbst wenn Hegel gewiss versucht hätte, so führt auch Honneth aus, „die unterschiedlichen Erscheinungen des sozialen Leidens diagnostisch auf eine konzeptuelle, eine begriffliche Verwirrung zurückzuführen“, muss dies aber „nicht bloß im Sinne eines kognitiven Irrtums verstanden werden, weil dann aus dem Blick geriete, daß die konzeptuelle Verwirrung mehr als eine falsche Behauptung darstellen muß; um uns ‚gefangen halten‘ zu können, ja um soziale Leidenszustände zu verursachen, muß die fehlerhafte Konzeption vielmehr hinter unserem Rücken bereits zur Grundlage lebenspraktischer Einstellungen geworden sein.“ Honneth 2001, S. 73.  Vgl. Honneth 2011, S. 159. Es handelt sich deshalb um das, was Hegel bereits als das fehlerhafte Verhalten eines „reinen Eigensinns“ der Rechtsperson beschrieben hatte – siehe Hegel 1821, § 37 Z.  Siehe dazu Honneth 2005, S. 95 ff.  Siehe oben 4.1.1.  Siehe dazu auch Hegel 1821, § 107 f.

7.2 Soziale Unbestimmtheit als Leidensquelle

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eine „Kontextblindheit“ entsteht – das heißt, sie die Fähigkeit verlieren, die in der Gesellschaft bereits bestehende Normativität angemessen in die eigene reflexive Stellungnahme zu integrieren.⁴⁹ Es ließe sich wohl argumentieren, dass bereits Habermas eine Gefahr in der Verabsolutierung des moralischen Standpunkts gesehen hatte – in diesem Fall verkennt man allerdings, so hatte er in der Tat ausgeführt, dass sich moralische Gesichtspunkte „nur auf eine Dimension innerhalb einer Lebenswelt [beziehen], und zwar auf institutionelle Ordnungen und legitim geregelte Interaktionen, die mit dem Anspruch auf normative Geltung auftreten“⁵⁰. Zumindest zwei kategoriale Unterschiede müssen jedoch besonders beachtet werden: Zum einen stellen Pathologien moralischer Freiheit für Honneth eine Möglichkeit dar, die in der Praxis moralischer Selbstbestimmung selbst immer eingeschlossen ist, sofern sie einen Rückzug aus sittlich verfassten Interaktionen impliziert – für Habermas ist dagegen nicht deutlich einzusehen, woraus eine solche Gefahr entstehen könnte; und zum anderen kann eine solche Verabsolutierung der Moral für Habermas tatsächlich nicht als eine Pathologie individueller Freiheit gelten, da er – wie gesehen – pathologische Zustände ausschließlich auf die Kolonialisierung von kommunikativen Verhältnissen durch verselbstständigte systemische Imperative zurückführt.⁵¹ Werden diese Ausführungen der frühen Kritischen Theorie und der Habermasʼschen Gesellschaftsanalyse als Vergleich herangezogen, lässt sich zusätzlich eine besondere Schwierigkeit von Honneths Pathologiendiagnose erkennen – und zwar den Umstand, dass sie keine ausführliche sozialtheoretische Ursachenbestimmung enthält. Denn zwar führt er soziale Pathologie auf die Struktureigenschaften von rechtlichen und moralischen Freiheiten zurück,⁵² doch handelt es sich dabei eben nur um (strukturell bedingte) Möglichkeiten, deren tatsächliche Inkraftsetzung allerdings letztendlich eher ungeklärt bleibt. Anders als die zuvor erörterten Erklärungsansätze, die stets auf den (mehr oder weniger problematischen) Vorstellungen einer Verwertungslogik (Horkheimer) oder einer Tendenz zur Kolonialisierung (Habermas) von kapitalistischen Gesellschaften beruhen konnten, lassen sich in Honneths Ansatz kaum konkretere Angaben über die sozialen Ursachen von Pathologien festmachen.⁵³

 Vgl. Honneth 2001, S. 64.  Habermas 1991b, S. 47.  Der wesentliche Unterschied besteht aber jedenfalls darin, was als die notwendige „sittliche Einbettung“ moralischer Autonomie verstanden wird: Während es sich für Habermas dabei eher um entsprechende Bedingungen einer modernen Lebensform handelt, geht Honneth mit Hegel stärker davon aus, dass sich nur in sittlichen Institutionen die individuelle Autonomie ausbilden kann – sie stellen demnach freiheitsverbürgende Bedingungen dar.Vgl. etwa Habermas 1991b und Honneth 2000i, S. 307.  Vgl. Honneth 2011, S. 231. Dass das moderne Recht, sofern es eine durch „sittliche Indifferenz“ ermöglichte Autonomie verkörpert, in sich selbst die Möglichkeit ihres pathologischen Gebrauchs ständig enthält, wird sehr deutlich auch in Menke 2009 erklärt.  Mit Bezug auf die frühere Schriften Honneths erhebt Zurn bereits den Einwand, dass es diesen, auch wenn sie die symptomatischen Ausdrücke von Pathologien eindringlich beschreiben, letztlich an

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Trotz dieser Schwierigkeit lässt sich festhalten, dass Honneth sich auch von der besonderen Absicht leiten lässt, die Verfehlung in der Realisierung von unselbstständigen Freiheitsformen in Verbindung mit Leidensphänomenen zu bringen, das heißt von jener Vorstellung eines Leidens an Unbestimmtheit, die Hegel in seiner Rechtsphilosophie „als Sammelbegriff für die pathologischen Schäden, die eine lebensweltliche Orientierung an nur einseitigen, unvollständigen Freiheitsmodellen verursachen können soll“, verwendet habe.⁵⁴ Zur genaueren Bestimmung des Verhältnisses zwischen sozialen Pathologien und Leidenszuständen müssen aber nach Honneths Ausführungen zwei notwendige Vorkehrungen getroffen werden. Zunächst lassen sich – so hebt er an verschiedenen Stellen hervor – soziale Pathologien nicht bloß „im Sinne einer sozialen Häufung von individuellen Pathologien oder psychische Störungen“ ausdeuten,⁵⁵ weil zwischen der Ebene der Gesellschaft als einer „Entität sui generis“ und dem Leben von einzelnen Subjekten eine „ontologische Differenz“ bestehe: „Es bedarf des Übergangs zur selbstständigen Organisationseinheit der Gesellschaft, die nicht in der Summe des Verhaltens ihrer Mitglieder aufgeht, um von irgendwelchen Pathologien oder Krankheiten eines sozialen Lebenszusammenhangs sprechen zu können.“⁵⁶ Und andererseits sei auch die Deutung der von Hegel umrissenen Gedankenfigur eines Leidens an Unbestimmtheit insofern als unzulänglich zu verstehen, als es sich dabei um Erkrankungserscheinungen handeln würde; anstatt von „individuellen Verhaltensauffälligkeiten oder charakterlichen Deformationen“ steht diese Vorstellung eher für die Bezeichnung von „Tendenzen zur Verhaltenserstarrung, zur Rigidisierung [des] Sozialverhaltens und Selbstbezuges, die sich in schwer greifbaren Stimmungen der Niedergedrücktheit und Orientierungslosigkeit offenbaren“.⁵⁷ Wenn schon nicht mehr unter Einbeziehung einer psychoanalytisch informierten Charakterologie, wie es für die materialistische Leidenskritik kennzeichnend gewesen war, scheint Honneth mit der Idee eines Leidens an Unbestimmtheit doch noch die für die Kritische Theorie bedeutsame Einsicht bewahren zu wollen, dass sich gesellschaftliche Reproduktionsstörungen (Pathologien) letztlich in einem subjektiven Leidensdruck niederschlagen, der die Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern zwingend beeinträchtigen muss, auch wenn diese Auswirkung für die Betroffenen selbst eher unauffällig bleibt. Am Beispiel der aus rechtlichen Pathologien resultierenden Unbestimmtheit lässt sich diese Einsicht besonders verdeutlichen. Honneth illustriert diese Art von Pathologie individueller Freiheit anhand der Figur einer „unentschlossenen, handlungsarmen Persönlichkeit“, in der jene durch rechtliche Freiheiten eröffnete Entlastungsmöglichkeit die pathologische Form einer übermäßigen Neigung annimmt,

einer soziologisch informierten Ursachenanalyse („lack of substantive sociological details“) oder einer inhaltreicheren Ätiologie mangelt – vgl. Zurn 2011, S. 363.  Honneth 2001, S. 78 f.  Honneth 2011, S. 157.  Honneth 2014b, S. 50.  Honneth 2011, S. 158.

7.2 Soziale Unbestimmtheit als Leidensquelle

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alle etablierten Interaktionsbeziehungen und deren normativen Verpflichtungen weitgehend auszuklammern, was schließlich zu einer „Handlungshemmung“ oder zum Zustand eines „bloßen Getriebensein[s]“ führen muss.⁵⁸ Diese „Willenlosigkeit“ sei jedoch vom affizierenden Zustand einer „Willensschwäche“ notwendig zu unterscheiden, weil es hier nicht um die Schwächung der Durchsetzungskraft eines persönlichen Willens geht, sondern tatsächlich um die vorausliegende Unfähigkeit, jede Art von langfristigem Handlungsmotiv erst einmal auszubilden. Und gerade deshalb wird das dadurch ausgelöste Leiden an Unbestimmtheit von den Betroffenen typischerweise ohne ein „Krisenbewußtsein“ erfahren, denn ihre besondere Lage zeichnet sich hingegen eben dadurch aus, dass sie „sich auf eine eigentümlich undramatische Weise als willenlos empfinden“.⁵⁹ In diesem Sinne stellt die aus sozialen Pathologien sich ergebende Unbestimmtheit einen besonderen, sozusagen über den konkreten Erfahrungshorizont von den Betroffenen selbst hinaus eintretenden Leidensdruck dar: Aus der Verabsolutierung von unselbstständigen Freiheitsformen folgt eine Einschränkung individueller Autonomie, die sich allerdings dadurch auszeichnet, dass die Betroffenen selbst allzeit die praktische Überzeugung bewahren, auf diesem Weg ihre Freiheit vollständig zu verwirklichen. Es ließe sich demnach festhalten, dass in Honneths Ansatz die Entstehung einer Pathologie individueller Freiheit – nicht anders, wie oben gesehen, als Habermasʼ Diagnose verzerrter Kommunikation – immanent mit einem Naturalisierungseffekt verbunden wird. Die soeben angesprochene mangelhafte sozialtheoretische Erklärung der konkreten Ursachen von Pathologien lässt sich allerdings in Honneths Beschreibung von Zuständen individueller Unbestimmtheit wiedererkennen. Denn sowohl für die Einstellung desjenigen Subjekts, das in seiner Wahrnehmung und Bearbeitung eines Handlungskonflikts nur einseitig auf seinen rechtlich einforderbaren Ansprüchen beharrt, sowie für die Haltung desjenigen „unverbundenen Moralisten“, der – nach Hegels Formulierung – alle gegebenen Inhalte einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung nur als Schranke seiner eigenen Autonomie versteht,⁶⁰ gibt Honneth die sozialen Ursachen nicht an, ja umreißt sie nicht einmal.Es scheint deshalb so zu sein, als ob diejenigen Subjekte aus unbekannten Gründen die jeweiligen Freiheitsformen missverstehen, was aber Honneths Aussage selbst widerspricht, dass „als Ursache für die Übernahme der vereinseitigten Freiheitsvorstellungen die Verdrängung einer vorgängigen Intersubjektivität“ festzustellen sei; was tatsächlich zu einer solchen Verdrängung führen kann, bleibt allerdings ungeklärt.⁶¹

 Vgl. Honneth 2011, S. 167 ff.  Honneth 2011, S. 171. Dazu siehe auch Hegels Anmerkungen zu dem „Charakterlose[n]“, der am „Zaudern“ leidet – vgl. Hegel 1821, § 13.  Vgl. Hegel 1821, § 5. Zu Honneths Beispielen siehe Honneth 2011, S. 161 ff. und 207 ff.  Honneth 2001, S. 76. Daraus kann wohl das genannte Missverständnis entstehen, dass soziale Pathologien nach Honneths Ansatz ausschließlich kognitive Fehler seien.

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Kapitel 7 Soziale Pathologien

Jedenfalls lassen sich aber in der Vorstellung eines Leidens an Unbestimmtheit zwei wesentliche Gesichtspunkte einer im kategorialen Rahmen Kritischer Theorie verfahrenden Leidenskritik deutlich ausmachen. Zum einen führt Honneth die von Pathologien verursachte Unbestimmtheit nicht als eine Freiheitseinschränkung aus, die für die Betroffenen subjektiv harmlos sein könnte; vielmehr handelt es sich immer um einen Freiheitsverlust, der notwendig mit einer subjektiven Beeinträchtigung – einer „reflexiven Deformation des Sozialverhaltens“ – einhergeht, infolge derer die Betroffenen nicht nur die Möglichkeit verlieren, ihre rechtliche beziehungsweise moralische Autonomie angemessen zu verwirklichen, sondern einen darüber hinausgehenden Schaden erleiden müssen, und zwar eine „Beeinträchtigung der rationalen Fähigkeiten […], an maßgeblichen Formen der sozialen Kooperation teilzunehmen“⁶². Wie bereits für die materialistische Leidenskritik, auch wenn nicht länger nach dem Muster einer Verkümmerung von Ich-Kräften, bezeichnet das aus sozialen Pathologien sich ergebende Leiden in Honneths Ansatz auch eine gesellschaftlich induzierte Beschädigung von subjektiven Fähigkeiten, die von wesentlicher Bedeutung für die Verwirklichung menschlicher Freiheit seien. Und zum anderen ist in der von Hegel inspirierten Vorstellung eines Leidens an Unbestimmtheit auch deutlich die Einsicht enthalten, dass es sich dabei um historisch überflüssige Freiheitseinschränkungen handelt. Der Grund ist nicht nur darin zu sehen, dass sich Pathologien individueller Freiheit offensichtlich nicht auf die notwendigen dezentrierenden Leistungen von kooperativen Bildungsprozessen zurückbeziehen lassen, sondern auch in dem Umstand, dass die Pathologien auslösende Verabsolutierung von unselbstständigen Freiheitsformen zugleich die Verletzung eines für moderne Gesellschaften maßgebenden „lebensweltlichen Hintergrundwissens“ bedeutet – denn mit sozialen Pathologien wird nämlich das „Unterscheidungsvermögen“ von Subjekten erheblich beeinträchtigt, zwischen den verschiedenen Rollen von Handlungssphären und ihren kennzeichnenden normativen Verpflichtungen angemessen zu unterscheiden.⁶³ In diesem Sinne stellt das Leiden an Unbestimmtheit letztlich eine Erfahrung dar, die aus einer Verletzung der normativen Grundlagen von modernen sozialen Lebensformen hervorgeht.

7.3 Ansätze für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik Bisher ist Honneths Konzeption sozialer Freiheit hauptsächlich mit Bezug auf die Möglichkeit einer anerkennungstheoretischen Ätiologie sozialen Leidens rekonstruiert worden. Sowohl in sittlichen Institutionen wie auch in der Verwirklichung von rechtlichen und moralischen Autonomiechancen werden die Subjekte ständig – so ist

 Honneth 2011, S. 157.  Vgl. Honneth 2011, S. 228.

7.3 Ansätze für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik

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es möglich, den Grundgedanken einer derartigen Ätiologie zusammenzufassen – historisch sich wandelnden Gefährdungen (normative Fehlentwicklungen, Pathologien) ausgesetzt, aus denen sie eine überflüssige Einschränkung ihrer individuellen Freiheit erleiden können. Es bleibt allerdings bislang nur angedeutet, ob und inwiefern mit Honneths Anerkennungstheorie auch eine überzeugende Antwort auf die andere, emanzipationstheoretische Frage sozialphilosophischer Leidenskritik formuliert werden kann. Mit der auf Hegel zurückgehenden Vorstellung einer zweiten Natur der sozialen Welt verbindet die Kritische Theorie tatsächlich auch die Aufgabe, jene gesellschaftlichen Prozesse und handlungswirksamen kulturellen Deutungsschemata zu erklären, die die von Menschen geschaffene, historisch ausgebildete Zustände letztlich nur als naturgegebene Phänomene erscheinen lassen können – das heißt eine kritische Leseart des Begriffs „zweite Natur“. Für eine sozialphilosophische Leidenskritik ergibt sich daraus das Erfordernis, wie oben anhand Horkheimers Ideologiekritik und Mitleidsethik angezeigt wurde, die mögliche Naturalisierung sowie in emanzipatorischer Absicht die Bedingungen einer potenziellen Entnaturalisierung von sozialen Leidenserfahrungen aufzuklären, sofern der Unterschied zwischen bloßer Natur und sittlichen Verhältnissen – den Grundprämissen Hegels Geistphilosophie entsprechend – nicht einfach auf ontologische Gegebenheiten zurückgeführt, sondern als eine immer im historischen Vollzug sozialer Praktiken ausgehandelte Grenzziehung konzipiert wird.⁶⁴ Anders aber als der positive Sinn von zweiter Natur, auf dem ganz deutlich die bisher geschilderte anerkennungstheoretische Ätiologie beruht, nehmen diese Art von Überlegungen – der Entwurf einer Naturalisierungskritik – eher eine untergeordnete Rolle in Honneths Schriften ein. Dazu kommt noch die Schwierigkeit, dass einigen kritischen Bewertungen zufolge seine Anerkennungsbegrifflichkeit so grundsätzlich die machtvermittelte Dimension von sozialen Leidenserfahrungen unterschätze, dass für die Ausarbeitung einer Naturalisierungskritik tatsächlich andere gegenwärtige theoretische Ansätze, etwa Bourdieus Konzeption symbolischer Gewalt oder Foucaults Darstellung von disziplinierenden Machttechnologien, viel angemessener seien.⁶⁵ Zum Schluss soll hier deshalb die Frage überprüft werden, ob sich tatsächlich aus Honneth Überlegungen nicht auch wertvolle Einsichten für eine Kritik an der Naturalisierung von sozialen Leiden gewinnen lassen. In der Tat wurde bereits im Zusammenhang mit Honneths Idee eines Leidens an Unbestimmtheit auf einen eigentümlichen Naturalisierungsvorgang hingewiesen; denn mit der soziale Pathologien verursachenden Verabsolutierung von unselbstständigen Freiheitsformen wird – wie gesehen – stets ein individueller Leidensdruck ausgelöst, der jedoch die besondere Eigenschaft aufweist, für die Betroffenen selbst

 Besonders erhellend dazu siehe Pippin 2008.  Mit Bezug auf Bourdieus Theorie vgl. exemplarisch McNay 2008, S. 128 ff. Im Anschluss an Foucault siehe etwa Allen 2014 sowie McNay 2012.

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Kapitel 7 Soziale Pathologien

unauffällig zu bleiben, und zwar deshalb, weil sie weiterhin nach der praktischen Überzeugung handeln, auf diesem Weg ihre Freiheit vollständig zur Durchsetzung zu bringen. Während Honneth selbst diese subjektive Unzugänglichkeit als eine strukturelle Eigenschaft von sozialen Pathologien festhält,⁶⁶ stellt es eine noch offene und schwierige Frage dar, wie jene Leidenserfahrungen, die innerhalb der sittlichen Institutionen persönlicher Beziehungen, des ökonomischen Markts und demokratischer Willensbildung entstehen mögen, auch für die Betroffenen unauffällig werden können. Die Schwierigkeit besteht insbesondere darin, dass diese Erfahrungen – wie oben bereits erklärt wurde – aus der Verletzung von moralischen Anerkennungsnormen hervorgehen, die – selbst wenn sie nicht notwendig sprachlich artikuliert oder gar bewusst sind – durch die Vermittlung von sphärenspezifischen Rollenmustern wesentlicher Teil des praktischen Selbstverständnisses der Subjekte geworden sind. Ein Schlüssel dafür ist in Honneths Versuch zu finden, moralisch gerechtfertigte von ideologischen Formen sozialer Anerkennung kategorial zu unterscheiden.⁶⁷ Dabei geht er nämlich von der Feststellung aus, dass sich ideologische Anerkennungsweisen insbesondere mit Bezug auf ein charakteristisches „Rationalitätsdefizit zweiter Stufe“ beschreiben lassen, das heißt angesichts ihrer „strukturellen Unfähigkeit“, ihr normatives Anerkennungsversprechen tatsächlich in sozial wirksamer Weise – aufgrund des Fehlens von den entsprechenden „materiellen Voraussetzungen“, etwa „angemessene Verhaltensweisen“ oder „institutionelle Maßnahmen“ – auch zu verwirklichen.⁶⁸ Zwei besondere Eigenschaften müssen Honneth zufolge jene Überzeugungssysteme notwendigerweise verkörpern, die eine derartige ideologische Funktion eigentlich auszuüben vermögen: Zum einen müssen sie fähig sein, in den Subjekten selbst ein positives Selbstverhältnis anzuregen, womit ihre „freiwillige Übernahme“ möglich gemacht wird; und zum anderen müssen sie auch historisch ausgebildeten normativen Glaubwürdigkeitskriterien entsprechen, das heißt „in den Werthorizont eingespannt [sein], der die normative Kultur der modernen Gesellschaften umfaßt“⁶⁹. Diese letzte Voraussetzung impliziert nicht nur, so Honneth, dass derartige Überzeugungssysteme sich zwingend auf sozial gewünschte, Anerkennung versprechende Wertvorstellungen beziehen, sondern wesentlich auch eine Anpassungsfähigkeit an historisch sich wandelnden normativen Bedingungen besitzen müssen, von der eben ihre Glaubwürdigkeit letztlich abhängt:  Insofern hält er bezüglich der Absicht einer Pathologiendiagnose in der Tradition kritischer Gesellschaftstheorie fest: „Stets wird mit solchen Begriffen ein System von Überzeugungen und Praktiken charakterisiert, das die paradoxe Eigenschaft besitzt, diejenigen sozialen Umstände der Kenntnisnahme zu entziehen, durch die es gleichzeitig auch strukturell erzeugt worden ist.“ Honneth 2007b, S. 41.  Siehe Honneth 2010d.  Honneth 2010d, S. 128 ff. Als Beispiel führt Honneth hier das Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“ an: „[D]ie Adressaten [werden] bei unveränderten Arbeitsbedingungen dazu gezwungen, intrinsische Motive, Flexibilität und Begabungen dort vorzutäuschen, wo es in der eigenen Bildungsgeschichte keine Wurzeln dafür gibt.“ Honneth 2010d, S. 129.  Honneth 2010d, S. 123.

7.3 Ansätze für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik

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Nur solche Wertaussagen werden geeignet sein, von den Adressaten akzeptiert zu werden, die nicht auf eine evaluative Stufe zurückfallen, die durch den Prozeß der Überwindung einseitiger oder unangemessener Identitätszuschreibungen bereits verlassen worden ist. Positiv gewendet und einfacher ausgedrückt ergibt sich daraus, daß Ideologie der Anerkennung nur solche Wertaussagen benutzen können, die gewissermaßen auf der Höhe des evaluativen Vokabulars der jeweiligen Gegenwart sind.⁷⁰

Zum Zweck einer anerkennungstheoretischen Naturalisierungskritik ließen sich nun diese Ausführungen folgendermaßen umdeuten: Die im Zusammenhang von sittlichen Institutionen möglicherweise auftretenden sozialen Leidenserfahrungen können nur in dem Maße naturalisiert werden, wie gleichzeitig gesellschaftliche Mechanismen oder kulturelle Deutungsschemata im Alltagsleben der Betroffenen in Kraft treten, aus denen sie letztendlich eine glaubwürdige Rechtfertigung für den erlittenen Schaden herzuleiten vermögen. Da sittlichen Institutionen rollenvermittelte Anerkennungspraktiken darstellen, anhand deren die Subjekte verschiedene Dimensionen ihres positiven Selbstverständnisses ausbilden, müssen diese naturalisierenden Rechtfertigungen von Leid notwendig die Fähigkeit besitzen, die individuelle Deutung von den jeweiligen Rollenverpflichtungen erheblich zu prägen. Dies heißt: Sie können nur handlungswirksam werden, indem sie den erlittenen Schaden irgendwie als vereinbar mit der angemessenen (oder sogar notwendig für die angemessene) Verrichtung der entsprechenden Rollen ansehen und sich damit das erfahrene Leid gewissermaßen als Voraussetzung für eine ungestörte Reproduktion der jeweiligen sittlichen Interaktion erweist. In diesem Fall könnte man demnach sehr wahrscheinlich von einem Naturalisierungsvorgang sprechen, weil das handlungswirksam gewordene Rechtfertigungsmuster das erlittene Leid nicht einfach verweigert, sondern auf die normativen Bestandsvoraussetzungen der jeweiligen sittlichen Institution selbst zurückführt. Es ist wohl ratsam, das hier grob umrissene Erklärungsmuster von Naturalisierungsvorgängen an konkreten Beispielen zu verdeutlichen versuchen. Dafür können zunächst einmal jene von Honneth selbst angeführten Beispiele dienen, die ihm zufolge in der Geschichte moderner Gesellschaften als Rechtfertigungsmuster von Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten in den verschiedenen Sphären sozialer Freiheit fungiert haben. Dazu steht zunächst etwa jene unter verschiedenen Gestalten wiederholt erscheinende „naturalistische Vorstellung“ von „gefährlichen Klassen“, das heißt die Annahme, dass „die arbeitslosen und unterbeschäftigten Teile der Bevölkerung zur Primitivierung und zum ‚Sittenverfall‘ neigen und mithin ein bedrohliches Potential besitzen“.⁷¹ Unschwer lassen sich in dieser Legitimationsfigur von sozialem Unrecht die soeben angesprochenen Eigenschaften eines naturalisierenden Rechtsfertigungsmusters deutlich ausmachen: Zum einen wird mit dieser Vorstellung behauptet, dass die betroffenen Subjekte die erforderlichen Fähigkeiten zu einer an-

 Honneth 2010d, S. 121.  Honneth 2011, S. 417.

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gemessenen Verrichtung der entsprechenden Rollen weder besitzen noch ausbilden können, sofern sie von Natur aus mit anderen Eigenschaften ausgestattet seien, die für eine ungestörte Reproduktion der jeweiligen Interaktionsbeziehung – also freie Marktverhältnisse – gefährlich seien. Und schließlich lässt sich auch mühelos erkennen, dass ein solches Rechtfertigungsmuster eine grundlegende historische Anpassungsfähigkeit aufweist; denn diejenigen Gruppen, die als „gefährliche Klassen“ wahrgenommen werden, haben im Laufe der Geschichte verschiedene Gestalten angenommen.⁷² Auch in der Sphäre demokratischer Öffentlichkeit weist Honneth auf eine naturalistische Vorstellung hin, auf derer Grundlage die dort auftretenden Benachteiligungen in der Geschichte eine Rechtfertigung gefunden haben können; denn hier sei die Möglichkeit einer naturalisierenden Rechtfertigung von Ungerechtigkeiten bereits in dem Umstand begründet, dass sich die moderne Öffentlichkeit historisch im nationalstaatlichen Rahmen bildete, was immer zur Gefahr führte, ihr Freiheitsversprechen mit Kriterien wie „die Zugehörigkeit zu einem natürlichen Volk oder gar zu einer Rasse“ unrechtmäßig begrenzen zu wollen.⁷³ Eine gewissermaßen ähnliche, aber subtilere Funktion üben in diesem Zusammenhang auch jene „kulturellen Ausschlussmechanismen“ aus, mit denen einzelnen Subjekten oder Gruppen aus naturalistischen Annahmen eben diejenigen Fähigkeiten abgesprochen werden, die zur politischen Selbstbestimmung befähigen – beispielsweise die Vorstellung eines „Mangels an politischer Entschlußkraft oder Besonnenheit“⁷⁴. Auch in diesem Fall handelt sich demnach um ein historisch sich wandelndes Rechtfertigungsmuster, demzufolge sich das vorhandene Unrecht mit Bezug auf die Gewährleistung einer unverhinderten Reproduktion der jeweiligen Institution begründen lasse, da die Ausgeschlossenen die dafür erforderlichen Fähigkeiten nur in geringem Maße oder sogar überhaupt nicht besitzen würden. Diese zwei von Honneth selbst behandelten Beispiele könnten vielleicht den Eindruck erwecken, dass es sich dabei lediglich um normative Rechtfertigungen sozialen Unrechts handelt, die aber nicht notwendigerweise von den Betroffenen selbst akzeptiert werden müssen – sie würden folglich wahrscheinlich sozial glaubwürdige Legitimationsmuster von Ungerechtigkeiten beschreiben, die allerdings nicht zwingend tatsächliche Naturalisierungsvorgänge darstellen. Um diesen Zweifel ganz aufklären zu wollen, bedarf es sicherlich einer ausführlicheren, hier nicht möglich zu vollführenden historisch informierten Beschreibung von diesen oder anderen Rechtsfertigungsmustern; jedenfalls darf aber zumindest die allgemeine Tatsache nicht übersehen werden, dass solche Rechtfertigungsmuster nicht ungewöhnlich auch die Eigenschaft besitzen, ein positives Selbstverhältnis in den Betroffenen gleichzeitig dadurch anzuregen, dass sie ihnen kompensatorisch andere wertge-

 Siehe dazu etwa Castel 2000, S. 86 ff.  Honneth 2011, S. 490.  Honneth 2011, S. 535.

7.3 Ansätze für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik

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schätzte Fähigkeiten zusprechen.⁷⁵ Honneth zufolge stellt eben eine kontrastive Dimension eine weitere kennzeichnende Eigenschaft von ideologischen Anerkennungsformen dar, weil sie sich die „motivationale Bereitschaft zur freiwilligen Unterwerfung“ sichern können, indem sie zugleich „eine Gewähr für die Empfindung besonderer Auszeichnung“ liefern.⁷⁶ Es sollte jedoch besonders darauf geachtet werden, dass die Überzeugungskraft solcher kompensatorischer kultureller Mechanismen – nach den Grundprämissen von Honneths Anerkennungstheorie selbst – nicht überschätzt werden dürfen; denn mit der Ansicht von an sphärenspezifische Anerkennungsnormen gebundene Freiheitserfahrungen verbindet sich vielmehr die Vorstellung von je eigentümlichen Verletzungen, sodass kompensatorische Effekte ausschließlich irgendeinen Erfolg erreichen können, wenn sie sich (auf die eine oder auf andere Weise) auf die ursprünglich verletzte Anerkennungsnorm zurückbeziehen oder in ihre besondere evaluative Sprache übersetzen lassen.⁷⁷ Auf jedem Fall ist es der soziale Nahraum von familiären und haushaltlichen Verhältnissen, woraus sich am deutlichsten historische Beispiele über die naturalisierenden Auswirkungen von kulturellen Deutungsschemata gewinnen lassen. In ihrer Untersuchung über die hauptsächlichen kulturellen Hindernisse, die die Möglichkeiten staatlicher Interventionen in Fällen häuslicher Gewalt historisch eingeschränkt haben, macht Elisabeth Pleck beispielsweise auf drei eng miteinander zusammenhängende Umstände aufmerksam: die verkürzte Vorstellung der familiären Privatheit als einem von staatlichen Maßnahmen völlig unantastbaren Lebenszusammenhang, die asymmetrische Zuerkennung von Rechten auf der Grundlage naturalistischer Rollenverständnisse und schließlich den Glaube an den Wert von le-

 Ein deutliches Beispiel dafür liefert die lange Zeit anhaltende kulturelle Vorstellung, nach der der Ausschluss von Frauen aus politischen Mitbestimmungsprozessen nicht zuletzt ihrer vergleichsweise ausgezeichneten Fähigkeit entspräche, sich mit häuslichen Tätigkeiten besonders fürsorglich zu beschäftigen.  Vgl. Honneth 2010d, S. 122.  Ich formuliere es unter anderem als Erwiderung auf eine Kritik von Amy Allen. Sie behauptet nämlich, dass nach Honneths Begrifflichkeit beispielsweise eine Erziehung nach „Anforderungen normativer Weiblichkeit“ nicht ideologisch sein könne, wenn sich daraus eine „materielle Erfüllung“ ergebe: „Hier scheint es gar keine Lücke zwischen dem evaluativen Versprechen durch das Überzeugungssystem normativer Weiblichkeit und dessen materieller Erfüllung zu geben. Im Gegenteil, Frauen, die im Einklang mit den Normen weiblicher Schönheit, Fügsamkeit und emotionaler Fürsorge handeln, heimsen substantielle materielle und ökonomische Gewinne dafür ein, vor allem durch die Heirat mit reichen Männern. Und Frauen, die substantiell von diesen Normen abweichen, müssen hohe materielle (ökonomische und in manchen Fällen physische) Kosten auf sich nehmen.“ Allen 2014, S. 275. Dabei wird jedoch vor allem übersehen, dass sowohl Verletzungen als auch die „materielle Erfüllung“ eines Freiheitsversprechens nach Honneths Konzeption einen viel stärkeren sphärenspezifischen Charakter besitzen – und dies heißt: Was einem nur nach traditionellen Wertvorstellungen erzogenen Mädchen abgesprochen wird, besteht nicht unerheblich in der von persönlichen Beziehungen ermöglichten Chance, ihre Bedürfnisnatur frei erkunden zu können. Ob sich daraus gesellschaftliche (ökonomische) Vorteile herleiten, muss demnach nicht unmittelbar als „materielle Erfüllung“ angenommen werden.

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benslanger Ehe – insbesondere um der Kinderziehung willen.⁷⁸ Dieses kulturelle Überzeugungssystem, das heute nach einer Reihe soziokultureller Wandlungen offenbar zunehmend brüchig geworden ist,⁷⁹ erlaubte es in der Tat lange Zeit, eine Vielzahl an Leidenserfahrungen (insbesondere gegen Kinder und Frauen) hinsichtlich der Möglichkeit einer angemessenen Reproduktion von Familienverhältnissen nicht nur in der Öffentlichkeit,⁸⁰ sondern auch in den Selbstverständnissen ihrer Mitglieder selbst als bloß private Angelegenheiten wahrzunehmen; denn immer konnte man daraus rechtfertigende Gründe herleiten, nach denen der erfahrene Schaden als vereinbar mit den jeweiligen Rollenverpflichtungen sowie mit der unberührten Aufrechterhaltung von innerfamiliären Beziehungen zu betrachten war. Wenn mit diesen Ausführungen die Perspektive einer anerkennungstheoretischen Naturalisierungskritik zumindest in groben Zügen bereits umrissen worden ist, bleibt noch offen, ob sie auch hinsichtlich der anderen damit verbundenen Frage, das heißt wie eine potenzielle Entnaturalisierung von überflüssigen Leidenserfahrungen denkbar ist, über angemessene Erklärungsmittel verfügt. Denn die emanzipatorische Absicht einer im kategorialen Rahmen Kritischer Theorie verfahrenden sozialphilosophischen Leidenskritik besteht nicht lediglich – wie oben am Beispiel von Horkheimers Überlegungen gezeigt wurde – in einer sozialtheoretischen Erklärung von naturalisierenden Mechanismen, sondern auch und wesentlich in dem Nachweis, dass trotz aller Naturalisierungsvorgänge die Subjekte immer noch die Chance bewahren, sich selbst von sozial überflüssigen Leidenserfahrungen zu befreien. Es kann sicherlich kein Zweifel daran bestehen, dass Honneth diese Ansicht einer alle potenziellen Verzerrungen überlebenden emanzipatorischen Instanz ebenfalls teilt, denn nach ihm stellt gerade eine Grundprämisse kritischer Gesellschaftstheorie die Annahme dar, dass „die menschlichen Subjekte sich gegenüber einer Einschränkung ihrer rationalen Fähigkeiten nicht indifferent verhalten können“⁸¹. Die eigentliche Schwierigkeit besteht demnach erst darin, wie genau sich diese Ansicht mit anerkennungstheoretischen Mitteln begründen lässt –insbesondere nachdem jene frühen naturalistischen Alternativen, die etwa auf der Grundlage der Objektbeziehungstheorie auf einen psychisch angelegten Anstoß für individualisierende Erfahrungen verwiesen, in Honneths Gesellschaftskritik gewissermaßen an Bedeutung verloren haben. Es soll deshalb gezeigt werden können, dass Honneths Konzeption sozialer Freiheit weiterhin diese emanzipatorische Möglichkeit offenlässt, das heißt, dass sich innerhalb der institutionellen Struktur einer demokratischen Sittlichkeit immer noch Chancen für eine Befreiung aus überflüssigen Leidenserfahrungen finden lassen.

 Siehe Pleck 1987, S. 7 ff.  Siehe etwa Honneth 2011, S. 296 ff.  Vgl. dazu etwa die historische Darstellung der im europäischen Strafrecht verschiedenartig ausgedrückten „Selbstverständlichkeit“ der Gewalttätigkeiten gegen Frauen in Leuze-Mohr 2001, S. 7 ff.  Honneth 2007b, S. 52.

7.3 Ansätze für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik

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In dieser Hinsicht kann zunächst einmal daran erinnert werden, dass nach Honneths Gerechtigkeitskonzeption die Mitglieder moderner Gesellschaftsordnungen im Prinzip stets auch andere institutionalisierte Freiheitsmöglichkeiten – wie oben erläutert: rechtliche und moralische Autonomiechancen – in Anspruch nehmen dürfen, wenn sie sich in sozialen Institutionen gegenüber ihrer Würde verletzenden Erfahrungen oder angesichts von für unerträglich gehaltenen normativen Zumutungen distanzieren wollen. Unbestreitbar ist aber zugleich die Tatsache, dass die Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten in sozialen Institutionen eben so beschaffen sein können, dass die tatsächlichen Wahrnehmungschancen von diesen Freiheiten für die Subjekte – etwa aufgrund von institutionalisierten oder nur informellen Hindernissen – sehr beschränkt sind. Es lassen sich beispielsweise Fälle heranziehen, in denen die Betroffenen selbst eine nur geringe Bereitschaft zur Inkraftsetzung von rechtlichen Möglichkeiten aufweisen, sofern dies mit einem schweren Rechtfertigungsdruck dadurch einhergeht, dass die Situation von ihnen selbst und von anderen als eine rein private Angelegenheit wahrgenommen wird.⁸² Was sich damit abzeichnet, scheint gewissermaßen in dem Umstand zu bestehen, dass rechtliche Ansprüche im Blick auf eine Entnaturalisierung von sozialen Leidenserfahrungen erst in einem zweiten Schritt eintreten können: Immer müssen die Subjekte selbst ihre Lage als nicht bloß naturgegebene, sondern bereits als sozial bedingte Erfahrung verstanden haben, bevor sie einen rechtlichen Schutz fordern können. Auch in diesem Sinne ließe sich deshalb behaupten, dass rechtliche Freiheiten notwendig auf vorausliegende, nicht rechtlich konstituierte Aufklärungsprozesse einer demokratischen Sittlichkeit angewiesen bleiben. Eine zweite Möglichkeit einer potenziell kritischen Einstellung gegenüber sozialen Leidenserfahrungen kann in der Tatsache eingesehen werden, dass die Rollenverständnisse von Subjekten in sittlichen Sphären zwar stets durch kulturelle Vorstellungsmuster mitgeprägt, nicht aber festgestellt seien – sie müssen immer individuell angeeignet und deshalb interpretiert werden. Interessanterweise kann mit diesem Gedankengang eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik bereits auf einer basalen, handlungstheoretischen Ebene von anderen gegenwärtigen Ansätzen abweichen, für die die alltäglichen Distanzierungsmöglichkeiten von Subjekten gegenüber etablierten normativen Handlungsmustern äußerst beschränkt sind und deshalb die Bezeichnung einer emanzipatorischen Fähigkeit eher offenlassen müssen.⁸³ Denn anstatt dem Vorbild von übersozialisierten Subjekten und normativ

 Ein deutliches Beispiel dafür sind die Schwierigkeiten von Opfern häuslicher Gewalt bezüglich einer Anklage, sofern daraus typischerweise eine Stigmatisierung hervorgeht, die unter anderem darin besteht, etwas ganz „Privates“ zu offenbaren. Siehe dazu etwa Leuze-Mohr 2001.  In seinen methodischen Bemerkungen zu Das Elend der Welt beschreibt Bourdieu beispielsweise das dort verwendete Verfahren als eine „zugleich provozierte und unterstützte Selbstanalyse“, die es den Subjekten erlauben soll, ihr durch alltägliche Zensurmechanismen unterdrücktes Unbehagen und Leiden wieder zur Sprache zu bringen, wenn nicht sogar erst zu entdecken. Dabei bleibt allerdings völlig ungeklärt, auf welche subjektiven Fähigkeiten oder Kräfte sich eine solche „geistige Übung“

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völlig integrierten Handlungszusammenhängen verpflichtet zu bleiben, wie es auch für die materialistische Leidenskritik kennzeichnend war, nimmt eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik bereits auf dieser grundlegenden handlungstheoretischen Ebene an, dass die Subjekte in der Verrichtung ihrer alltäglichen Rollen Aneignungs- und Umdeutungspraktiken vollziehen müssen, mit denen sie möglicherweise auch naturalisierende Rechtfertigungen auf Distanz bringen können.⁸⁴ Im Hinblick auf eine anerkennungstheoretische Erklärung von potenzieller Entnaturalisierung überflüssiger Leiden kommt schließlich eine besondere Bedeutung der Frage zu, ob Kämpfe um Anerkennung – wie oben angedeutet – auch als Versuche interpretiert werden können, den unnötigen, sozial vermeidbaren Charakter von negativen Erfahrungen bloßzustellen.⁸⁵ In seiner Konzeption sozialer Freiheit geht Honneth weiterhin von der Feststellung aus, dass in jeder Sphäre sozialer Freiheit je eigentümliche, auf die entsprechende Anerkennungsnorm bezogene Kämpfe auftreten, mit denen die Subjekte eine Überprüfung ihrer jeweiligen Voraussetzungen zu veranlassen vermögen, aus der schließlich nicht nur „Revisionen“, sondern auch „Entdeckungen“ folgen: „[A]lle die Normen, die sich kollektiv aneignen und damit zum sittlichen Prinzip erheben lassen, […] sind nämlich nicht nur deutungsoffen genug, um sehr verschiedene Anwendungen zu erlauben, sondern wirken kognitiv auch wie Scheinwerfer, in deren Licht stets unter sie fallende Sachverhalte und Umstände in Erfahrung gebracht werden können.“⁸⁶ Ausgehend von dieser Vorstellung eines durch Kämpfe um Anerkennung ausgelösten Aufklärungs- und Lernprozesses ließe sich deshalb für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik der Umstand klarmachen, dass negative Erfahrungen, die früher als naturgemäß und deswegen ganz unproblematisch wahrgenommen wurden, später als sozial verursacht und kritikwürdig erwiesen werden können: Unter Berufung auf ihre historisch sich wandelnden normativen Voraussetzungen können die Subjekte die je vorherrschende soziale Deutung einer Anerkennungsnorm immer infrage stellen und auf diese Weise die Folge erzwingen, dass bestimmte Erfahrungen, die für sie unrechtmäßig die angemessene Verwirklichung der jeweiligen Freiheitsform verhindern, als sozial verursacht und deshalb als vermeidbar oder regulierungsbedürftig gesehen werden müssen. Zu diesem Gedanken kommt in Honneths Konzeption sozialer Freiheit zusätzlich die Einsicht hinzu, dass die Sphäre moderner Öffentlichkeit eine gewisse höherstufige

letztlich stützen oder an welche sie appellieren kann, um den gewünschten „Bruch mit den Selbstverständlichkeiten des Alltagsdenkens“ in den Betroffenen zu schaffen. Vgl. Bourdieu 1997, S. 779 ff.  Damit soll nicht behauptet werden, dass solche interpretierenden Leistungen in einem normativ leeren oder von Machtbeziehungen ganz befreiten Raum verlaufen, sondern nur, dass trotz aller kultureller Prägung die Subjekte distanzierungsfähig bleiben. Ähnlich argumentiert etwa Joas – aber mit Fokus auf eine „irreduzible Kreativität des menschlichen Handelns“. Vgl. Joas 2011, insb. S. 108 ff.  Siehe oben 5.2.  Honneth 2014a, S. 798.

7.3 Ansätze für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik

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Funktion im Rahmen demokratischer Sittlichkeit spielt. Denn der „Verweisungszusammenhang zwischen den verschiedenen Sphären demokratischer Sittlichkeit“ ist Honneth zufolge nicht nur in dem oben bereits angesprochenen Sinne zu verstehen, dass eine freie Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung notwendigerweise auf vorausliegende Bildungsprozesse angewiesen bleiben muss, sondern auch mit Bezug auf die Idee, dass die demokratische Öffentlichkeit eine aufklärende Funktion über jene in den anderen sittlichen Institutionen möglicherweise auftretenden Hindernisse übernehmen kann: „[S]ie wird ihren eigenen Legitimationsprinzipien nur dann gerecht, wenn sie in einem Prozeß wiederholter Auseinandersetzung über die Bedingungen sozialer Einbeziehung lernt, daß den Kämpfen um soziale Freiheit in den beiden anderen Sphären Beistand zu leisten ist.“⁸⁷ Damit ist folglich gemeint, dass es sich in einer demokratischen Sittlichkeit immer auch öffentliche Aufklärungs- und Lernprozesse geben kann, mit denen die Subjekte die in den verschiedenen sittlichen Institutionen angesiedelten Erfahrungen neu deuten und problematisieren können. Zum Verständnis dieser Einsicht ist aber besonders die Annahme wichtig, dass dabei – wie Honneth im Anschluss an Deweys Grundgedanke erklärt – die Unterscheidung zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ nicht essenzialistisch konzipiert werden muss; vielmehr würde eine öffentliche Angelegenheit immer dann entstehen, wenn die Subjekte erfolgreich den Nachweis erbringen, dass ein Handlungszusammenhang einer „allgemeinen Regelung“ bedarf.⁸⁸ Zum Schluss müssen zusammenfassend drei besondere Eigenschaften der hier vorgeschlagenen anerkennungstheoretischen Erklärung einer erkämpften Entnaturalisierung von sozialen Leidenserfahrungen hervorgehoben werden. Zunächst zeigt sich deutlich, dass nach der Anerkennungsbegrifflichkeit die Frage, warum eine Leidenserfahrung als sozial verursacht wahrgenommen wird, nicht notwendig gleichbedeutend mit der Größe ihrer öffentlichen Darstellung oder Resonanz – beispielsweise in den artikulierten Forderungen von sozialen Bewegungen oder in den Problemstellungen von öffentlichen Kommunikationsmedien – ist.⁸⁹ Viel stärker wird dagegen die Tatsache in den Vordergrund gerückt, dass es sich eher um eine vorausliegende, normalerweise nur auf subtile und umkämpfte Weise vollführte normative Bestimmung dahingehend handelt, ob für eine Leidenserfahrung, die beispielsweise ausschließlich in privaten Kontexten auftritt, auch soziale Ursachen oder weitreichende Folgen zu erkennen sind oder aber ob diese nur als eine private An-

 Honneth 2011, S. 473.  Vgl. Honneth 2000i, S. 301. So stellt etwa Dewey fest: „Was heute Verbrechen sind, die der öffentlichen Untersuchung und Rechtsprechung unterliegen, waren einst private Ausbrüche mit einem Status, den heute eine persönliche Beleidigung besitzt.“ Dewey 1996, S. 54.  In der Tat gibt es verschiedene Darstellungsformen von sozialen Leiden in der etablierten Öffentlichkeit, die vielmehr zu ihrer Entproblematisierung oder gar Privatisierung beitragen können. Siehe dazu etwa Boltanski 1999.

212

Kapitel 7 Soziale Pathologien

gelegenheit gelten muss.⁹⁰ Die Kämpfe um Anerkennung können demnach als Versuche von Subjekten interpretiert werden, die eigenen negativen Erfahrungen mit übergreifenden gesellschaftlichen Bedingungen in Beziehung zu stellen und sie damit als sozial vermeidbar oder regulierungsbedürftig nachzuweisen.⁹¹ Zweitens ist der als Folge einer Entnaturalisierung von überflüssigen Leiden vollzogene Perspektivwechsel in der Verantwortungszuschreibung nach Honneths Anerkennungsbegrifflichkeit wesentlich als ein Aufklärungs- und Lernprozess zu verstehen möglich, den die Subjekte aufgrund der normativen Ressourcen demokratischer Sittlichkeit von sich selbst aus anstoßen können – wie gesehen vor allem deshalb, weil die Anerkennungsnormen und Rollenverständnisse mit Bezug auf ihre normative Bedeutung und gesellschaftliche Voraussetzungen überprüfbar sind. Es bedarf daher keines „ontologischen Sprung[s]“ (Bourdieu), damit die erzwungene Selbstverständlichkeit und Naturalisierung von Leiden ausbrechen können;⁹² vielmehr sei es die moralische Sprache moderner Gesellschaften selbst, die immer mit Blick auf eine Infragestellung von bislang als unproblematisch gesehenen Leidenserfahrungen mobilisiert und neu gedeutet werden könnte. In diesem Sinne können Kämpfe um Anerkennung dann auch als Versuche verstanden werden, die gegebenen normativen Rahmenbedingungen demokratischer Sittlichkeit mit Bezug auf bisher als bloß naturgemäß angenommenen Erfahrungen zu überprüfen und zu erweitern.⁹³ Und schließlich lassen sich ausgehend von der hier umrissenen Begrifflichkeit jene subjektiven Blockaden, die einer Entnaturalisierung entgegenwirken und zu Zuständen eines „doppelten Leidens“ führen können⁹⁴, anders als gewöhnlich auffassen. Denn es handelt sich nicht nur darum, wie häufig in diesem Zusammenhang hervorgehoben wird, dass die Betroffenen wegen ökonomischer Ungleichheit oder kultureller Stigmatisierung über die notwendigen Darstellungs- und Artikulations-

 In diesem Sinne entspricht nach Dewey bekanntermaßen die Unterscheidung „öffentlich“ und „privat“ nicht der von Individuellem und Sozialem. Vgl. Dewey 1996, S. 27 ff.  Vgl. dazu beispielsweise Frasers Ausführungen über die umkämpfte Anerkennung von häuslicher Misshandlung als eine nicht lediglich familiäre Angelegenheit. Fraser 1994b, S. 264 ff.  Den Ausdruck „ontologischer Sprung“ verwendet Bourdieu mit dem Ziel, die Idee einer „doppelten Naturalisierung“ durch die Auswirkungen symbolischer Gewalt auf die subjektiven Dispositionen der Betroffenen hervorzuheben. Siehe Bourdieu 2001, S. 238.  Dass sich durch soziale Kämpfe ein kognitiver Lernprozess vollzieht, kann auch mit Honneths Vorstellung einer „sozialisatorischen Rückwirkung des Kampfes um Anerkennung“ erklärt werden – das heißt der Umstand, dass die Subjekte nach der Etablierung von neuen Deutungen „den Wert der bislang gültigen Norm nicht mehr verstehen könnten“.Vgl. Honneth 2014a, S. 799. Ein gutes Beispiel für die Erweiterung der moralischen Sprache moderner Gesellschaften hinsichtlich der Einbeziehung neuer Leidenserfahrungen stellen Kategorien wie „Doppelbelastung durch Beruf und Familie“, „Misshandlung oder Vergewaltigung in der Ehe“ dar, die insbesondere die Frauenbewegung in die Öffentlichkeit gebracht hat. Dazu siehe Fraser 1994b, S. 266.  Man spricht von „doppelten Leiden“ häufig dann, wenn die Betroffenen aufgrund sozialer Ursachen nicht die Fähigkeit besitzen, ihr eigenes Leid als solches zu artikulieren. Siehe dazu etwa McNay 2014, S. 35. In eben diesem Sinne spricht Bourdieu von „doppelter Naturalisierung“ – Bourdieu 2001, S. 233 f.

7.4 Schluss

213

mittel nur mangelhaft verfügen können, um sich von den vorherrschenden, naturalisierenden Deutungen ihrer Leidenserfahrungen erfolgreich zu distanzieren.⁹⁵ Sondern über diese Art von Blockaden hinaus, die von Honneth ebenfalls thematisiert werden,⁹⁶ kann man auf der Grundlage seiner Konzeption von sozialer Freiheit auch eine intersubjektiv wirkenden Unzugänglichkeit sozialen Leidens erschlossen werden. In diesem Sinne ließen sich beispielsweise auch die Folgen normativer Fehlentwicklungen in den Sphären sozialer Freiheit verstehen, aus denen – wie gesehen – desozialisierte Vorstellungen der Interaktionsverhältnisse und deren Rollenverpflichtungen entstehen. Als Folge einer solchen „Entwertung“ oder „Entnormativierung“ von moralischen Anerkennungsprinzipien wäre deshalb als eine Art sprachlicher Enteignung zu erkennen möglich, von der nicht nur einige Subjekte oder Gruppen, sondern die Verständigungsmöglichkeiten der Gesellschaft überhaupt betroffen wären, sofern die dafür notwendigen normativen Ressourcen, das heißt die geteilten Anerkennungsnormen, einen Bedeutungsverlust erfahren. Denn ohne einen intersubjektiv gültigen normativen Boden können Kämpfe um Anerkennung nur – so stellt Honneth selbst fest – desymbolisierte, anomische Ausdruckformen finden oder sich „in das Innere der Subjekte“ verschieben – „sei es in Form von gestiegenen Versagensängsten, sei es in Form von kalter, ohnmächtiger Wut“⁹⁷. Über den Blickwinkel einer verteilungstheoretischen Auffassung von subjektiven Blockaden hinaus eröffnet sich deshalb für eine anerkennungstheoretische Naturalisierungskritik schließlich auch die Möglichkeit, die erzwungene Unzugänglichkeit sozialen Leidens in einem viel stärkeren intersubjektiven Sinn zu erklären.⁹⁸

7.4 Schluss In diesem Kapitel habe ich anhand einer Rekonstruktion von Honneths Diagnose sozialer Pathologien die Idee einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik unter einem letzten Gesichtspunkt auszuzeichnen versucht. Im Anschluss an Hegels Rechtsphilosophie geht Honneth in diesem Zusammenhang von der Feststellung aus, dass rechtliche und moralische Freiheiten, auch wenn sie eine wesentliche Bedeutung für die Autonomie von Mitgliedern moderner sozialer Lebensformen besitzen, immer  Im Anschluss an Bourdieus Naturalisierungskritik arbeitet Charlesworth eine solche sprachliche Enteignung und den daraus resultierenden durchdringenden Charakter (pervasiveness) von Leidenserfahrungen exemplarisch heraus. Siehe Charlesworth 2002, insb. Kapitel 5.  Vgl. etwa Honneth 2007a, S. 24.  Honneth 2013, S. 35. Im Rahmen marktwirtschaftlicher Verhältnisse sei nach Honneth beispielsweise eine desozialisierte Vorstellung auch „verantwortlich für die Tendenz, das moralische Unbehagen allein privat zu artikulieren und nur zu entsprachtlichten Formen der Abkehr zu greifen.“ Honneth 2011, S. 468.  Dass Kämpfe um Anerkennung letztlich nur im Sinne von Verteilungskämpfen verstanden werden, ist gerade einer der Einwände Honneths gegen Bourdieus Sozialtheorie. Siehe dazu Honneth 1999c, S. 180.

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Kapitel 7 Soziale Pathologien

dann zu sozialen Pathologien führen, wenn sie verabsolutiert werden – das heißt, wenn sie ohne Anknüpfung an sittliche Handlungszusammenhänge durchgesetzt werden und deshalb letztlich paradox, ja selbstzerstörerisch wirken. In dieser Argumentation ist nicht nur die Schlüsselstellung der Vorstellung einer zweiten Natur der sozialen Welt und von ihrem wesentlichen Bildungscharakter sehr deutlich wiederzuerkennen – denn rechtliche und moralische Autonomie sind fortwährend auf einen in sittlichen Institutionen und Praktiken verlaufenden Bildungsprozess angewiesen; sondern es zeichnet sich auch die Möglichkeit ab, eine weitere Einsicht einer möglichen anerkennungstheoretischen Ätiologie sozialen Leidens auszuformulieren: Soziale Wesen können Honneths Diagnose zufolge ihre individuelle Freiheit nicht nur aufgrund von sphärenspezifischen Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen, die, wie gesehen, aus normativen Fehlentwicklungen oder Anomien hervorgehen, gefährdet sehen, sondern ebenso als Folge des Missverstehens des ethischen Sinns von jenen anderen, entlastenden Freiheitsformen, die sich in den Handlungssystemen der rechtlichen und moralischen Autonomie niedergeschlagen. Damit wird jene kategoriale Unterscheidung, auf die bereits Habermas aufmerksam gemacht hatte, zwischen Ungerechtigkeiten und Pathologien nun mit anerkennungstheoretischen Mitteln umformuliert sowie die Ansicht eines paradoxen Freiheitsverlusts in einer anderen Form wieder zur Darstellung gebracht: Nur im historischen Zusammenhang moderner Institutionen und Praktiken, in dem die Ansprüche auf rechtliche und moralische Autonomie zu einem wesentlichen Teil der normativen Reproduktion von Gesellschaften sowie des Selbstverständnisses der Subjekte geworden sind, kann eine solche Art von sozialen Missständen eintreten. Pathologien individueller Freiheit ergeben sich demnach nur aus einer mangelhaften, sittlich ungebundenen Verwirklichung einer Freiheitsmöglichkeit, die erst in modernen sittlichen Lebensformen – in deren zweiten Natur – eine institutionalisierte Form annimmt. Weder rein anthropologische Ausgangsbedingungen menschlicher Existenzweise noch eine vermeintlich invariante Struktur des Sozialen können deshalb, wie auch bereits Habermas in seiner Kritik verzerrter Kommunikation hervorgehoben hatte, die Maßstäbe einer anerkennungstheoretischen Diagnose sozialer Pathologien klarmachen. Die Bedeutung dieses Verständnisses für eine Ätiologie sozialen Leidens lässt sich aber erst nachvollziehen, wenn zusätzlich die Idee einer aus Pathologien resultierende Unbestimmtheit in Betracht gezogen wird: Mit der von Hegel umrissenen Figur eines „Leidens an Unbestimmtheit“ lässt sich tatsächlich eine subjektive Beeinträchtigung, eine gesellschaftlich induzierte Beeinträchtigung von in sittlichen Kontexten ausgebildeten Interaktionsfähigkeiten erschließen, von denen nicht nur die Verwirklichungschancen rechtlicher und moralischer Autonomie, sondern die Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern überhaupt abhängt. Eine besondere Schwierigkeit tritt jedoch nun damit auf, dass sich bei Honneth kaum konkretere Angaben über die sozialen Ursachen von Pathologien individueller Freiheit erkennen lassen; versteht er die Möglichkeit der Entstehung von Pathologien als eine strukturelle Eigenschaft jener für unselbstständig gehaltenen Freiheitsformen, führt er allerdings nicht die gesell-

7.4 Schluss

215

schaftlichen Bedingungen weiter aus, die zu einer derartigen übermäßigen, sittlich ungebundenen Inanspruchnahme von jenen in modernen Gesellschaften auch institutionalisierten Rückzugsmöglichkeiten der rechtlichen und moralischen Autonomie führen können. Daraus ergibt sich nicht nur eine gewisse explanatorische Lücke, sondern es wird auch etwas unklar, ob und inwiefern eine so formulierte Pathologiendiagnose noch den Zielen einer Kapitalismuskritik gerecht werden kann.⁹⁹ Trotz dieser Unklarheit lässt sich in Bezug auf die emanzipationstheoretischen Fragen sozialphilosophischer Leidenskritik auch eine Antwort anhand Honneths Konzeption sozialer Freiheit umreißen. Denn während er in seiner Pathologiendiagnose jene für die Kritische Theorie bedeutsame Einsicht eines Leidensdrucks, der über den konkreten Erfahrungshorizont von Subjekten hinaus auswirkt und deshalb ihre Freiheit auf unauffällige Weise einschränkt, wieder aufnimmt und anerkennungstheoretisch umformuliert, lässt sich auch für jene in sittlichen Institutionen naturalisierten Leidenserfahrungen – so habe ich ansatzweise gezeigt – einen anerkennungstheoretischen Erklärungsansatz entwerfen: Gesellschaftliche Mechanismen oder kulturelle Deutungsschemata können in diesem Zusammenhang naturalisierende Auswirkungen haben, indem sie das individuelle Verständnis von sozialen Rollen und deren kennzeichnende Verpflichtungen derart prägen, dass sich ein erfahrenes Leid letztlich als vereinbar mit der angemessenen oder gar notwendig für die angemessene Reproduktion einer für das Selbstverständnis der Betroffenen wesentlichen sozialen Institution erweist. Und schließlich lässt sich auch mit Honneths Konzeption sozialer Freiheit eine kategoriale Perspektive andeuten, mit der sich die potenzielle Entnaturalisierung von überflüssigen Leidenserfahrungen anerkennungstheoretisch erklären lässt. In der zu diesem Zweck umrissenen Erklärung ist besonders die Tatsache hervorzuheben, dass die Chancen einer Entnaturalisierung überflüssigen Leids auf die moralische Grundstruktur selbst von modernen Gesellschaften bezogen werden – vor allem auf den überprüfbaren Charakter von Rollen und Anerkennungsnormen. Damit eröffnet sich gewissermaßen ein Mittelweg zwischen zwei entgegengesetzten gegenwärtigen theoretischen Positionen, die die Möglichkeit einer erkämpften Entnaturalisierung von sozialem Unrecht und Leiden auf verschiedene Weise thematisieren – nämlich zwischen einerseits dem Ansatz, demzufolge für die von Naturalisierungsmechanismen betroffenen Subjekte eine Distanzierungsmöglichkeit so gut wie unmöglich sei, und andererseits dem Ansatz, nach dem gesellschaftliche Möglichkeiten moralischer

 Daraus zieht Freyenhagen die kritische Schlussfolgerung, dass in Honneths Ansatz die sozialen Ursachen von Pathologien zwar mit kapitalistischen Verhältnissen zusammenfallen können, es gebe aber nicht mehr einen notwendigen Zusammenhang – vgl. Freyenhagen 2015, S. 135. Auf diese Diskussion und das damit angedeutete veränderte Verhältnis zwischen Kapitalismus und sozialem Leid werde ich in den Schlussbetrachtungen zurückkommen.

216

Kapitel 7 Soziale Pathologien

Konflikte so gut wie immer vorhanden seien.¹⁰⁰ Mit Honneths Begrifflichkeit lässt sich dagegen die Einsicht vorschlagen, dass zwar die Subjekte aufgrund der normativen Ressourcen einer demokratischen Sittlichkeit im Prinzip immer verschiedenartige Aufklärungs- und Lernprozesse anzustoßen vermögen, diese aber letztlich stets auch vom jeweiligen historischen Zustand jener freiheitsverbürgenden sozialen Institutionen abhängig seien.¹⁰¹

 Exemplarisch lassen sich diese Alternativen in der Gegenüberstellung zwischen „kritischer Soziologie“ (Bourdieu) und „Soziologie der Kritik“ (Boltanski) ausmachen. Zur ausführlichen Diskussion vgl. Celikates 2009.  Vgl. dazu auch Honneths kritische Feststellung zu Boltanskis und Thévenots Konzeption moralischer Anprangerung, in denen er gerade den Begriff der zweiten Natur in den Vordergrund rückt: „[D] ie Forderung, das normative Arrangement zu ändern, prallt also nicht mit puren Vorstellungen oder Überzeugungen zusammen, sondern mit habitualisierten, zur zweiten Natur gewordenen Praktiken, deren Aggregatzustand um einiges fester ist als derjenige von mentalen Zuständen. […] Wenn die eingespielte, bislang bewährte Rechtfertigungsordnung für uns eine lebensweltliche Selbstverständlichkeit bildet, wird sie mehr an Beharrungsvermögen besitzen, als die Vorstellung einer bloßen Aushandlung von moralischen Konflikten zuläßt.“ Honneth 2010e, S. 153 f.

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch Zu Beginn meiner Untersuchung habe ich angedeutet, dass sich aus dem begrifflichen Rahmen einer sozialphilosophischen Leidenskritik wertvolle Einsichten zu gegenwärtigen Debatten um soziale Gerechtigkeit gewinnen lassen. Dieser Absicht entsprechend möchte ich in diesem Kapitel den Versuch unternehmen, am Beispiel der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Rechtfertigung und den Wert von „sozialen Wohlfahrtsrechten“ die mögliche Fruchtbarkeit einer sozialphilosophischen Leidenskritik kurz zu illustrieren. In der Tat will ich hier versuchsweise die Grundzüge einer alternativen Begründung sozialer Rechte skizzieren, in deren Mittelpunkt eben die Ansicht stehen soll, dass sich soziale Wohlfahrtsrechte auch als sittliche Schutzvorrichtungen gegenüber dem möglichen Auftreten sozialer Leidenserfahrungen verstehen lassen.¹ Es mag wohl auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, die bisher geleistete Rekonstruktion des Begriffs „soziales Leiden“ mit einer Behandlung des normativen Sinns sozialer Rechte abzuschließen – und zwar vor allem deshalb, weil heute insbesondere in sozialpsychologischen Studien oder mit Bezug auf gravierende soziale Notstände und Gewalterfahrungen von „sozialem Leid“ gesprochen wird.² Wie aber bislang mehrfach herausgestellt wurde, steht die Idee eines sozial verursachten Leidens in der Tradition der Kritischen Theorie nicht einfach für die Bezeichnung von psychischen Erkrankungen, sondern vielmehr für die Darstellung eines gesellschaftlich hervorgerufenen Freiheitsverlusts, aus dem – je nach den jeweiligen Grundprämissen der Gesellschaftskritik unterschiedlich verstandene – subjektive Beeinträchtigungen hervorgehen müssen. Ausgehend von dieser Vorstellung lassen sich tatsächlich bereits einige einleitende Gesichtspunkte andeuten, die auf die Möglichkeit einer Klärung der normativen Bedeutung sozialer Rechte aus der Perspektive einer Leidenskritik hinweisen. Zunächst einmal handelt es sich um den häufig hervorgehobenen Umstand, dass der Sozialstaat eine moderne Institution darstellt, die im Wesentlichen darauf eingerichtet ist, die Gesellschaftsmitglieder vor verschiedenartigen Gefahren und Risiken zu schützen, die aus den Strukturen moderner Gesellschaftsformen (insbesondere,

 Notwendig hervorzuheben ist die Tatsache, dass man hier keine systematische Begründung sozialer Rechte zu leisten versucht. Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht – wie gesagt – nur darin, den möglichen Beitrag einer sozialphilosophischen Leidenskritik zu gegenwärtigen Gerechtigkeitsdebatten zu illustrieren.  Siehe Wilkinson 2004. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-008

218

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch

aber nicht ausschließlich aus deren Wirtschaftssphäre) entstehen.³ Im normativen Kern der Wohlfahrtsstaatlichkeit lässt sich deshalb gewissermaßen in einer veränderten Form wieder jene Paradoxie ausmachen, die für die Darstellung von sozialen Leidenserfahrungen in der Tradition einer kritischen Gesellschaftstheorie als maßgeblich gezeigt worden ist: Es ist in den charakteristischen Institutionen und Praktiken moderner sozialer Lebensformen, in deren zweiten Natur also, wo sich für die Subjekte neuartige Freiheitsmöglichkeiten eröffnen, mit denen aber auch neue, historisch sich wandelnde Gefährdungen einhergehen. Wird der Sozialstaat in diesem Sinne als eine soziale Institution begriffen, mit der man Schutzeinrichtungen gegen potenzielle, historisch wandelbare Freiheitseinschränkungen zu etablieren versucht, so setzt die Institutionalisierung von sozialen Wohlfahrtsrechten zwingend eine vorherige Bestimmung dessen voraus, was als eine sozial verursachte (und daher schutzbedürftige) Gefährdung individueller Autonomie gelten kann. Insofern stellt die Wohlfahrtsstaatlichkeit, wie besonders die feministische Kritik hervorgehoben hat, nicht einfach eine Instanz der Bedürfnisbefriedigung, sondern eigentlich der normativen Bestimmung von sozial anerkannten Bedürfnissen und legitimen Befriedigungsweisen dar.⁴ Damit scheint die Frage nach der Begründung sozialer Rechte auf die emanzipationstheoretische Dimension sozialphilosophischer Leidenskritik hinzuweisen; denn mit der Sozialstaatlichkeit wird eine immer umstrittene normative Grenze gezogen, und zwar zwischen einerseits Erfahrungen, die als sozial verursachte, vermeidbare und daher schutzbedürftige Autonomiegefährdungen angenommen werden, und andererseits denjenigen Erfahrungen, die eher als unvermeidbar oder unproblematisch angesehen werden. Die erkämpfte Institutionalisierung von sozialen Rechten lässt sich mithin als Ergebnis der Anstrengungen von Subjekten verstehen, ihre negativen Erfahrungen als sozial verursachte Autonomiegefährdungen zu beweisen und dementsprechend sozialpolitische Vorsorge- oder Entschädigungsmechanismen zu fördern. Im Folgenden möchte ich diese Anmerkungen als Ausgangspunkte einer möglichen alternativen Begründung sozialer Rechte nehmen, wobei insbesondere die These zu skizzieren ist, dass sich die Wohlfahrtsrechte auch als Schutzmechanismen interpretieren lassen, die die Autonomie von Gesellschaftsmitgliedern gegenüber potenziell auftretenden gesellschaftlichen Einschränkungen – das heißt, was bisher als „soziale Leidenserfahrungen“ erklärt worden ist – wahren sollen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst kurz einige der Gründe beschreiben, weshalb die normative Begründung sozialer Rechte häufig als problematisch angesehen wird (8.1). Im zweiten Schritt sollen zwei in Honneths Anerkennungstheorie zu findende Begründungen

 In diesem Sinne stellt der Sozialstaat – wie etwa Robert Castel herausgestellt hat – eine Antwort auf jene Art sozialer Verwundbarkeiten dar, die mit modernen Gesellschaftsstrukturen verbunden sind. Siehe Castel 2000, insb. S. 141 ff.  Dazu siehe etwa Fraser 1994a. Die Idee von sozialstaatlichen Versicherungen als sozialen, von Macht geprägten Konstruktionen hat bekanntermaßen – unter Foucault’schen Prämissen – François Ewald herausgearbeitet. Vgl. Ewald 1993.

8.1 Zur umstrittenen Begründung sozialer Wohlfahrtsrechte

219

sozialer Wohlfahrtsrechte dargestellt werden, wobei besondere Aufmerksamkeit dem Umstand zu widmen ist, dass sich mit Honneths Begrifflichkeit die Möglichkeit eines Verständnisses der immanenten, nicht nur instrumentellen Bedeutung von Rechtsgarantien für die Freiheitserfahrungen von Gesellschaftsmitgliedern eröffnet, die allerdings in Bezug auf die sozialen Rechte nicht angewendet wird. Vielmehr lässt sich Honneth weiterhin von der sehr verbreiteten Vorstellung leiten, dass den sozialen Rechten hauptsächlich eine ergänzende Bedeutung bezüglich der Verwirklichung von anderen, bereits ausgebildeten Autonomieformen zukommt (8.2). Aus einer kurzen kritischen Betrachtung des Verständnisses Honneths lassen sich deshalb im letzten Schritt die Grundzüge einer alternativen, ebenso freiheitstheoretischen Auffassung skizzieren, der zufolge der Sinn von sozialen Wohlfahrtsrechten darin bestünde, eine kooperativ gesicherte Vermeidung von überflüssigen, sozialen Leidenserfahrungen einzurichten (8.3).

8.1 Zur umstrittenen Begründung sozialer Wohlfahrtsrechte In den Auseinandersetzungen zum Sinn und Wesen sozialer Rechte geht man häufig von der grundlegenden Schwierigkeit aus, dass die sogenannten Wohlfahrtsrechte im Vergleich zu klassischen liberalen Freiheits- und politischen Teilnahmerechten weniger Gegenstand von systematischen Begründungsversuchen gewesen sind.⁵ Dieser Mangel wird nicht nur durch die berühmte Feststellung von Thomas H. Marshall erklärt, der zufolge die Institutionalisierung sozialer Rechte erst eine spätere Errungenschaft in der historischen Entwicklung der modernen Staatsbürgerschaft darstellt, mit der die tatsächlichen Wahrnehmungschancen von bereits früher etablierten zivilen und politischen Rechten verbessert worden waren,⁶ sondern auch maßgeblich unter Bezug auf die normative Vorstellung begründet, dass die sozialen Rechte eine nachrangige Bedeutung oder einen nur abgeleiteten Wert hätten: Sowohl für liberale wie auch für demokratietheoretische Gerechtigkeitskonzeptionen ist dementsprechend der Gesichtspunkt gewöhnlich, dass soziale Wohlfahrtsrechte hauptsächlich in dem Maße gerechtfertigt sind, wie sie zum effektiven Gebrauch von fundamentalen Autonomieformen – das heißt Freiheits- und politische Rechte – beitragen.⁷ Mit diesem Argumentationsmuster werden nicht einfach – so ist leicht zu erkennen – normative Gründe umrissen, von denen ausgehend etwa eine Verkürzung oder ein Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Sicherungen (beispielsweise ange-

 Siehe etwa Kaube 2003.  Marshall 1992.  In diesem Sinne spricht Habermas beispielsweise den sozialen Rechten – den „nur relativ begründeten Teilhaberechte[n] – die Bedeutung zu, eine „chancengleiche Nutzung“ der „absolut begründeten Freiheits- und Teilnahmerechte[]“ zu ermöglichen. Vgl. Habermas 1992, S. 155 ff. Eine systematische Kritik zur Nachrangigkeit sozialer Rechte liefert aus einer handlungstheoretischen Perspektive Nullmeier 2000.

220

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch

sichts einer ökonomischen Krise) letztlich immer daraufhin gerechtfertigt werden kann, dass die auf der Grundlage von Rechtsstaatlichkeit und politischer Demokratie grundsätzlich bereits gesicherte private und öffentliche Autonomie von den Gesellschaftsmitgliedern dadurch nicht erheblich beeinträchtigt wird.⁸ Darüber hinaus wird mit dieser Argumentation aber auch fast völlig aus dem Blick verloren, welche Bedeutung die Ausübung von sozialen Rechten für die Freiheitserfahrungen von Subjekten selbst besitzen, indem sie nur äußerlich – als materielle Ergänzungsbedingungen – auf die gesellschaftlichen Prozesse der Bildung und Verwirklichung individueller Freiheit bezogen werden. Mit den sozialen Wohlfahrtsrechten werden dieser Vorstellung nach äußere (vor allem materielle) Anwendungsbedingungen für ausgebildete und deshalb bereits mehr oder weniger gesicherte Autonomieformen geschaffen, was häufig schließlich mit der Gegenüberstellung zusammengefasst wird, dass während liberale und demokratische Rechte unmittelbar auf den Wert der Freiheit verweisen, soziale Rechte sich eher auf den der Gleichheit normativ beziehen.⁹ Neben diesen allgemeinen Begründungsdefiziten lässt sich auch eine Reihe von nicht weniger gravierenden Schwierigkeiten festmachen, die sich aus dem heutigen Zustand von liberaldemokratischen Gesellschaften und der in der Nachkriegszeit auf verschiedenen Wegen sich entwickelten Wohlfahrtsstaaten ergeben. In den gegenwärtigen Diskussionen zum Sozialstaat wird insofern auch häufig darauf hingewiesen, dass jene normativen Grundvorstellungen und politischen Ideale, die als legitimatorische Basis für die Entstehung und Verbreitung sozialstaatlicher Garantien in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dienten, als Folge von verschiedenen jüngsten gesellschaftlichen Umwandlungen (etwa dem demografischen Wandel, den Veränderungen in den Beschäftigungsverhältnissen und der Entstehung von neuartigen Formen sozialer Ausschließung) zunehmend an Überzeugungskraft verloren haben. Aus diesem Grund werden heutzutage soziale Wohlfahrtsrechte nicht nur bezüglich ihrer finanziellen Schwierigkeiten, sondern schon auf ihre normativen Grundprämissen hin als problematisch und zunehmend rechtsfertigungsbedürftig gesehen.¹⁰ Im Rahmen dieser jüngsten Diskussionen hat die These eine sehr prägende Rolle gespielt, der zufolge sozialstaatliche Maßnahmen und Dienstleistungen, auch wenn sie im Namen einer Förderung der Autonomie und Gleichheit von Bürgern institutionalisiert werden, ebenfalls eine entmündigende, letzten Endes freiheitsunterminierende Wirkung ausüben können. Dieser Verdacht, der tatsächlich im Sinne einer inneren Spannung seit jeher die Herausbildung von sozialpolitischen Regelungen

 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Prämisse nach der Idee des verfassungsrechtlichen Charakters sozialer Wohlfahrtsrechte vgl. Fabre 2004.  Zum problematischen Verhältnis zwischen sozialen Rechten und Freiheit vgl. etwa Vobruba 2003.  In diesem Sinne spricht man etwa von einer philosophischen oder auch von einer konzeptuellen Krise des Sozialstaats. Vgl. dazu etwa Rosanvallon 2000 und Olson 2006.

8.2 Anerkennung und soziale Rechte

221

begleitet hat,¹¹ hat kürzlich – besonders unter dem Einfluss von neoliberalen Konzeptionen – die besondere Form einer Kritik angenommen, für die jene entwürdigende Wirkung eine notwendige Konsequenz distributiver Gerechtigkeit selbst darstellt,¹² was schließlich als Legitimationsgrundlage von wichtigen Umstrukturierungen der traditionellen sozialstaatlichen Institutionen und Rechtsgarantien gedient hat – unter anderem von jener in den letzten Jahren vollzogenen „aktivierenden Wende“ der wohlfahrtsstaatlichen Politik.¹³ Sowohl aufgrund grundlegender normativer Schwierigkeiten als auch wegen jüngster sozialpolitischer Entwicklungen scheint es zusammenfassend schwer zu sein, die Gewährleistung sozialer Wohlfahrtsrechte mit gesellschaftlichen Bildungsprozessen individueller Freiheit – und nicht nur mit der Förderung sozialer Gleichheit oder demokratischer Partizipation – normativ in Verbindung zu bringen. In der in den vorherigen Kapiteln erörterten Kritischen Theorie Axel Honneths ist gewissermaßen gerade eine solche Einsicht enthalten, sofern die Bedeutung der Anerkennung von Rechten im Hinblick auf die intersubjektiven Bedingungen der Bildung – und nicht einfach einer nachträglichen Ausübung – individueller Freiheit interpretiert werden.

8.2 Anerkennung und soziale Rechte Wie oben dargestellt wurde, ist Honneths Konzeption sozialer Freiheit besonders von dem Interesse geleitet, jene für prozeduralistische Gerechtigkeitstheorien von ihm als kennzeichnend angesehene „Logik der Nachträglichkeit“ zu überwinden – und zwar jene Vorstellung, der zufolge die soziale Wirklichkeit eher nur im Sinne von Ergänzungs- und Anwendungsbedingungen individueller Autonomie verstanden wird. Daraus ergibt sich die in diesem Zusammenhang besonders relevante Einsicht, die Bedeutung von Rechten nicht bloß instrumentalistisch aufzufassen, sondern dagegen den „Interaktionscharakter von Rechten“ hervorzuheben – das heißt den Umstand, dass sie nicht einfach als „sekundäre Garanten von andernorts erkämpften Ansprüchen“, sondern „in modernen Gesellschaften als eine unabhängige, originäre Quelle von sozialer Anerkennung begriffen werden sollen“.¹⁴ Ein solches Verständnis hat Honneth auffälligerweise jedoch nicht mit Bezug auf die Bedeutung von sozialen Wohlfahrtsrechten expliziert; vielmehr lässt er sich für ihre Rechtfertigung immer noch von der Vorstellung leiten, dass sie einen eher abgeleiteten Wert bezüglich der anderen Grundrechten liberaldemokratischen Gesellschaften hätten.

 Vgl. dazu Habermas’ Ausführungen über die „Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug“ in sozialstaatlichen Regelungen – Habermas 1981b, S. 530 ff. Exemplarisch dazu auch Guldimann/Rodenstein 1978.  Vgl. etwa Kersting 2000.  Dazu siehe Lessenich 2008.  Honneth 2003 g, S. 289. Zu dieser ethischen Bedeutung von Rechten siehe auch Honneth 2001, S. 31 f.

222

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch

In der Tat kann bereits in Kampf um Anerkennung ein solches Argumentationsmuster deutlich gesehen werden. Wie oben dargestellt, geht Honneth dabei von der wesentlichen Feststellung aus, dass unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen die Subjekte ihre Autonomie nur durch die jeweiligen Anerkennungsverhältnisse der Liebe, des Rechts und der sozialen Wertschätzung ausbilden und sichern können.Viel stärker als Habermas’ Ansatz – so wurde oben hervorgehoben – stellt er damit den Umstand in den Vordergrund, dass durch die Zuerkennung subjektiver Rechte die Einzelnen eine für ihre Freiheit wesentliche Chance gewinnen, nämlich auf sich selbst positiv beziehen zu können (Selbstachtung). Unschwer ist zu erkennen, dass sich mit dieser Auffassung eben die Möglichkeit eröffnet, die immanente Bedeutung von Rechtsgarantien für die Freiheitserfahrungen von Gesellschaftsmitgliedern zu reflektieren – und deswegen möglicherweise auch den Sinn von sozialen Wohlfahrtsrechten über die Idee einer egalitären Anwendung von anderen rechtlichen Freiheiten hinaus zu deuten. Trotz dieser angedeuteten Erweiterung scheint Honneth im Kampf um Anerkennung noch die Ansicht zu teilen, der zufolge die sozialen Rechte eher nur eine nachrangige Bedeutung oder einen hauptsächlich abgeleiteten Wert haben. Dafür verantwortlich ist vor allem die Tatsache, dass er dort die normative Bedeutung von modernen Rechtsverhältnissen – nicht anders als Habermas’ Verständnis – hauptsächlich in Hinsicht auf ihre moralischen Legitimationsgrundlagen auffasst. Sofern die moderne Rechtsordnung bezeichnenderweise auf einem „universalistischen Begründungsprinzip“ oder „allgemeinen Gleichheitsgrundsatz“ beruht, so Honneth, bilden die verschiedenen Arten von subjektiven Rechten liberaldemokratischer Gesellschaften jene notwendigen Voraussetzungen, unter denen die Bürger gleichberechtigt an der Erzielung einer „rationalen Übereinkunft“ teilnehmen können.¹⁵ Wenn nicht mehr mit Bezug auf ein kommunikationstheoretisches Verständnis individueller Autonomie, vertritt Honneth demnach nicht anders als Habermas eine demokratiezentrierte Auffassung subjektiver Rechte: „[W]ie jene legitimierende Basisprozedur vorgestellt wird, haben sich auch die Eigenschaften zu ändern, die einer Person zugeschrieben werden müssen, wenn sie an ihr gleichberechtigt soll teilnehmen können.“¹⁶ Im Anschluss daran kann er dann Thomas H. Marshalls Auffassung einer allmählichen Anreicherung der modernen Staatsbürgerschaft – von liberalen über demokratische bis zu sozialen Rechten – unter anerkennungstheoretischen Kategorien umformulieren: Die kumulative Erweiterung individueller Rechtsansprüche, mit der wir es in modernen Gesellschaften zu tun haben, läßt sich als ein Prozeß verstehen, in dem der Umgang der allgemeinen Eigenschaften einer moralisch zurechnungsfähigen Person sich schrittweise vergrößert hat, weil

 Siehe Honneth 1994a, S. 184.  Honneth 1994a, S. 185.

8.2 Anerkennung und soziale Rechte

223

unter dem Druck eines Kampfes um Anerkennung stets neue Voraussetzungen zur Teilnahme an der rationalen Willensbildung hinzugedacht werden mußten.¹⁷

Die Einführung sozialer Wohlfahrtsrechte ergibt sich folglich aus der Überzeugung, dass ohne einen „bestimmten Grad an sozialem Lebensstandard und ökonomischer Sicherheit“ die Subjekte eigentlich nicht in der Lage sein können, sich selbst als vollwertige Mitglieder einer politischen Gemeinschaft zu verstehen und unter gleichberechtigten Bedingungen an öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen mitzuwirken. Die normative Bedeutung von sozialen Rechten wird deshalb mit Bezug auf eine „Forderung nach vollwertiger Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen“ erklärt, wobei schließlich ihr eben nur abgeleiteter Wert zum Ausdruck gebracht wird: Sie ermöglichen vor allem eine „aktive Wahrnehmung“ anderer Rechtsgarantien oder, wie Honneth es auch ausdrücklich formuliert, die sozialen Rechten sollen „jedem Staatsbürger die Möglichkeit der Ausübung all seiner Rechtsansprüche zusichern“¹⁸. Es ließe sich jedoch argumentieren, dass jene mit der Anerkennung subjektiver Rechte in den Subjekten unterstellte Fähigkeit, „in individueller Autonomie über moralische Fragen vernünftig zu entscheiden“ („moralische Zurechnungsfähigkeit“), auch in einem weiteren Sinne verstanden werden könnte – und zwar als die Möglichkeit, an unterschiedlichen (nicht nur öffentlichen) Willensbildungsprozessen frei teilzunehmen. Diese alternative Auffassung, auf die ich zurückkommen werde, thematisiert Honneth selbst im Kampf um Anerkennung allerdings nicht, da er dort die rechtlichen Freiheiten – wie gesagt, nicht anders als Habermas – noch hauptsächlich mit Bezug auf die notwendigen Voraussetzungen einer gleichberechtigten Teilnahme an demokratischen Legitimationsprozessen versteht. Die historische Entwicklung der Grundrechte wird dementsprechend als die allmähliche Verwirklichung der normativen Prämissen einer demokratisch verfassten Rechtsordnung dargestellt: „[J]ede Anreicherung der rechtlichen Befugnisse des Einzelnen läßt sich als ein weiterer Schritt in der Einlösung der moralischen Vorstellung verstehen, daß alle Gesellschaftsmitglieder aus vernünftiger Einsicht der etablierten Rechtsordnung müssen zugestimmt haben können, wenn von ihnen individuelle Folgebereitschaft erwartet werden soll.“¹⁹ Eine andere, nicht länger demokratiezentrierte Deutung des normativen Sinns sozialer Wohlfahrtsrechte lässt sich im Zusammenhang mit Honneths Begriff „sozialer Freiheit“ ausmachen. Ausgehend von Hegels Darstellung des Systems des abstrakten Rechts formuliert Honneth nun eine „ethische Deutung der Substanz der liberalen Grundrechte“, der zufolge mit deren Institutionalisierung in modernen Gesellschaften – wie oben gesehen – eine Privatsphäre geschaffen wird, innerhalb der die Sub-

 Honneth 1994a, S. 185 f.  Honneth 1994a, S. 189.  Honneth 1994a, S. 189.

224

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch

jekte ihren ethischen Willen – ihre eigenen Vorstellungen des Guten – frei erkunden und gestalten dürfen. Mit der Etablierung subjektiver Rechte wird insofern den Gesellschaftsmitgliedern eine rechtlich beanspruchbare Möglichkeit gegeben, sich aus kommunikativen Beziehungen und ihren normativen Verpflichtungen vorübergehend zurückzuziehen, sodass rechtliche Freiheiten unter der Bedingung gegenseitiger Achtung einen „Freiraum für ethische Selbstproblematisierungen“ schaffen.²⁰ Auf der Grundlage dieser ethischen Konzeption von Rechten ist Honneth nun in die Lage versetzt, den normativen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Arten von Grundrechten anders zu deuten. Denn während bisher liberale Freiheits- und politische Teilnahmerechte (als die zwei Grundformen der privaten und öffentlichen Autonomie) auf der einen Seite und soziale Teilhaberechte als deren materielle Ergänzungsbedingungen auf der anderen Seite standen, begründet er nun bürgerliche Freiheiten und soziale Wohlfahrtsrechte im Hinblick auf eine Gewährung „soziale[r] Existenzgrundlage“ der Privatautonomie.²¹ Damit wird die Vorstellung des abgeleiteten Werts sozialer Rechte allerdings nicht aufgegeben, sondern jetzt auf die ethische Substanz der klassischen liberalen Freiheitsrechte (Privatautonomie) enger bezogen: In Form einer „zusätzliche[n] Gewährung“ – so hält Honneth fest – gewähren soziale Wohlfahrtsrechte dem Einzelnen „die materiellen Voraussetzungen, unter denen er seine liberalen Freiheitsrechte effektiver wahrnehmen kann“²². Mit dieser neuen Klassifizierung von Grundrechten will Honneth besonders die strukturellen Merkmale hervorheben, die jene Rechtskategorien der Privatautonomie von politischen Teilnahmerechten normativ unterscheiden. Zunächst handele es sich darum, dass politische Rechte Möglichkeiten eröffnen, an der kooperativen „Bildung eines gemeinsamen Willens“ teilzunehmen, während Freiheits- und Wohlfahrtsrechte einen „Schutzwall“ errichten, anhand dessen „Chancen zur Bildung eines privaten Ichs“ gegeben werden. Und gerade damit hänge ein weiterer Unterschied bezüglich des Selbstverständnisses der jeweiligen Rechtspersonen zusammen: Während in der Inanspruchnahme der ersten Kategorien von Rechten die Subjekte sich nur als „passive Nutznießer“ verstehen müssen, erfordern die politischen Rechte dagegen zwingend, sich in die „Autorenrolle“ hineinzuversetzen. Diese Asymmetrien bringen schließlich Honneth zufolge einen normativen Grundunterschied zum Ausdruck, nämlich dass „die politischen Rechte im Grunde genommen einen anderen Typus von individueller Freiheit hervorbringen“, die „in ihrer konstitutiven Angewiesenheit auf andere Subjekte mit derjenigen des privaten Rückzugs nichts mehr gemeinsam hat“.²³ Daraus ergibt sich zusammenfassend eine andere, nicht länger demokratiezentrierte, sondern auf der Idee privater Autonomie beruhende Rechtfertigung sozialer Teilhaberechte, die Honneth folgendermaßen zusammenfasst: „Insofern verweisen die liberalen Freiheitsrechte konzeptuell auf eine Ergänzung durch soziale Rechte, die    

Honneth 2011, S. 138. Honneth 2011, S. 146. Honneth 2011, S. 142. Honneth 2011, S. 145.

8.3 Bemerkungen zum Entwurf einer alternativen Begründung

225

den Individuen das Maß an ökonomischer Sicherheit und materiellem Wohlstand garantieren, das nötig ist, um im Rückzug von den gesellschaftlichen Kooperationszusammenhängen privat die eigenen Lebensziele zu erkunden.“²⁴

8.3 Bemerkungen zum Entwurf einer alternativen Begründung Auch wenn mit Honneths Ansatz der nicht instrumentelle Sinn von Rechtsgarantien insofern vor Augen geführt wird, als die Zuerkennung von Rechten als Bestandteil der intersubjektiven Bildungsprozesse individueller Freiheit selbst – und nicht einfach als äußerliche Bedingungen – betrachtet wird, ist für sein Verständnis der Bedeutung sozialer Wohlfahrtsrechte weiterhin eine „Logik der Nachträglichkeit“ maßgeblich: Ob soziale Rechte konzeptuell aus den Erfordernissen öffentlicher oder privater Autonomie konzeptuell abgeleitet und gerechtfertigt werden, sie werden immer als Ergänzungsbedingungen begriffen, die die tatsächlichen Wahrnehmungschancen von bereits etablierten Autonomieformen sichern sollen. Im Folgenden möchte ich daher Honneths Auffassung kurz kritisch hinterfragen, um damit die Grundzüge einer alternativen, an das charakteristische Verfahren einer sozialphilosophischen Leidenskritik ansetzenden Begründung sozialer Wohlfahrtsrechte zu umreißen. Zunächst kann nämlich gefragt werden, ob es tatsächlich angemessen ist, den ethischen Sinn von sozialen Rechten und die von ihnen ermöglichten Freiheiten – wie Honneth annimmt – im Gegensatz zu politischen Teilnahmerechten normativ zu erklären. Insbesondere kann in diesem Zusammenhang gefragt werden, ob nicht auch die Existenzbedingungen von sozialen Rechten weitgehend sittlich geprägt sind, sodass sie ebenso eine „konstitutive Angewiesenheit auf andere Subjekte“ normativ voraussetzen und dementsprechend die von ihnen etablierten Schutzvorrichtungen keine bloß privaten Freiheitserfahrungen zum Ausdruck bringen. In seiner Argumentation geht Honneth tatsächlich von der Überzeugung aus, dass die „Existenz der durch die politischen Rechte ermöglichten Freiheit vollständig von dem Engagement [abhängt], mit dem die Subjekte von ihr Gebrauch machen“, und daraus zieht er den Schluss, dass „der normative Sinn der durch sie ermöglichten Art von Freiheit nur unter Einbeziehung all der sozialen Einstellung und Praktiken zu erläutern [ist], die zu ihrer gemeinsamen Verwirklichung nötig sind“.²⁵ Aber genau deswegen ließe sich hier die Frage stellen, ob nicht auch die Herausbildung und Institutionalisierung von sozialen Rechten in gleichem Maße abhängig von „sittlichen Verhaltensweisen“ oder kooperativen Praktiken zu betrachten ist, in denen Autonomiegefährdungen, Schutzbedürftigkeiten und dementsprechend gemeinsame Verantwortlichkeiten (rechtliche Schutzmechanismen) kontinuierlich ausgehandelt und institutionalisiert werden.

 Honneth 2011, S. 143.  Honneth 2011, S. 146.

226

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch

Natürlich könnte man dieser Betrachtungsweise entgegenhalten, dass die öffentliche Willensbildung zwingend eine kooperative Tätigkeit darstellt, während soziale Rechte auf der Grundlage sittlicher Praktiken und Überzeugungen letztlich nur individuelle Ansprüche auf Wohlfahrtsleistungen institutionalisieren. Wenn dem aber so ist, entsteht zwingend die Frage, ob dies nicht gleichermaßen für die rechtliche Dimension der öffentlichen Autonomie behauptet werden müsste, die gerade mit den politischen Teilnahmerechten institutionalisiert wird. Es ist sicherlich nicht zu leugnen, dass mit der Einführung sozialer Rechte – so wie mit jeder rechtlichen Freiheit – Rückzugsmöglichkeiten gegeben werden, sondern vielmehr der Umstand hervorzuheben, dass soziale Wohlfahrtsrechte allein aus einem kooperativen Netz von Praktiken und Überzeugungen, in dem Schutzbedürftigkeiten und Schutzmechanismen ausgehandelt und bestimmt werden, hervorgehen können. Die Existenzbedingungen von sozialen Wohlfahrtsrechten erschöpfen sich deshalb auch nicht, wie Honneth ausdrücklich nur für die politischen Rechte einräumt, in „einer einfachen Auflistung von Grundsätzen subjektiver Rechte“; auch sie hängen dagegen von der ständigen Erneuerung eines „ganze[n] Ensembles von sittlichen Verhaltensweisen“²⁶, das heißt von den umfassenderen Bedingungen einer demokratischen Sittlichkeit ab. Mit diesem Einwand hängt auch zweitens die Frage zusammen, ob die von sozialen Rechten ermöglichten Freiheiten ausschließlich – wie Honneth auch annimmt – in Rückzugsmöglichkeiten bestehen. Selbst wenn nach vielen Auffassungen die sozialstaatlichen Sicherungen vor allem Exit-Optionen aus Marktverhältnissen gewährleisten (Decommodification)²⁷, lässt sich jedoch die die Frage stellen, ob damit nicht zugleich wesentliche Vorbedingungen geschaffen werden, die die Subjekte nicht nur entlasten, sondern vielmehr dazu befähigen, an verschiedenen (nicht nur öffentlichen oder politischen) Willensbildungsprozessen aktiv teilzunehmen.²⁸ Hier bietet sich zusätzlich die Möglichkeit, an Honneths frühe Begründung sozialer Rechte wieder anzuknüpfen und sie über ihren ursprünglichen demokratietheoretischen Rahmen hinaus zu interpretieren: Soziale Wohlfahrtsrechte würden insofern zur Gewährung der sittlichen Grundlagen individueller Autonomie beitragen, als sie in jeder Sphäre einer gemeinsamen Willensbildung (mit Honneths Worten: in den Freiheitssphären der Familie, des Markts und der Öffentlichkeit) die Subjekte mit Sicherheiten ausstatten, die ihnen sowohl Rückzugs- wie auch Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen. Diese erweiterte Deutung des normativen Sinns sozialer Wohlfahrtsrechte wird interessanterweise von Honneth selbst an einigen Stellen angedeutet – beispielsweise in seinen Ausführungen über die institutionellen Bedingungen der Verwirklichung sozialer Freiheit in der Familie. Die als Folge der Demokratisierung ihrer inneren Verhältnisse eröffneten Chancen sozialer Freiheit können – so hält Honneth selbst  Honneth 2011, S. 146.  Siehe vor allem Esping-Andersen 1990, S. 35 ff.  Eine solche Auffassung arbeitet etwa Kevin Olson unter den Begriffen Exit und Voice heraus, allerdings ausschließlich mit Bezug auf politische Meinungs- und Willensbildungsprozesse. Siehe Olson 2006.

8.3 Bemerkungen zum Entwurf einer alternativen Begründung

227

fest – „nur dann institutionell Fuß fassen und gedeihen, wenn dafür die entsprechenden Voraussetzungen in der sozioökonomischen Umwelt bereitstehen“, woraus dann die Notwendigkeit entsteht, die Familien-, Sozial- und Arbeitspolitik so auszurichten, dass „sie die besondere Art der sozialen Freiheit in den demokratisierten Familien unserer Zeit“ gewährleisten können.²⁹ Die hier notwendigen sozialen Sicherungssysteme werden deshalb ausdrücklich nicht nur aus der Perspektive von rechtlich gewährleisteten Rückzugsmöglichkeiten, sondern zugleich als wesentliche Voraussetzungen für die „institutionelle Verwirklichung der Familie als Solidargemeinschaft“ interpretiert.³⁰ Wenn dem so ist, dann lässt sich vorschlagen, dass der normative Sinn von sozialen Wohlfahrtsrechten nicht nur in der Gewährung von Entlastungsmöglichkeiten, sondern auch in der Befähigung oder Ermächtigung zu einer freien Mitwirkung an den verschiedenartigen Willensbildungsprozessen besteht, die für die Herausbildung und Sicherung individueller Autonomie von Subjekten in den unterschiedlichen Sphären sozialer Freiheit, in den kooperativen Bildungssphären eines jeweils anders verfassten „Wir“ nötig sind. Diese beiden hier als Einwände gegen Honneths Auffassung sozialer Rechte umrissenen Überlegungen lassen sich schließlich in die zuvor entwickelte besondere Sprache einer sozialphilosophischen Leidenskritik übersetzen, um auf diesem Weg in groben Zügen eine alternative, doch ebenso freiheitstheoretische Begründung sozialer Wohlfahrtsrechte zu skizzieren. In den Sphären sozialer Freiheit müssen die Subjekte – so ist der Ausgangspunkt einer solchen Auffassung zu formulieren – verschiedenen, historisch sich wandelnden Gefährdungen immer begegnen, sofern sie ihre Autonomie nur durch intersubjektive Bildungsprozesse erwerben und sichern können. Wenn diese möglicherweise auftretenden Autonomiegefährdungen nach der bisherigen Rekonstruktion eben als soziale Leiden verstanden werden, lassen sich soziale Wohlfahrtsrechte dann auch als sittlich geprägte Einrichtungen begreifen, die den Subjekten innerhalb jeder sittlichen Sphäre vor überflüssigen Freiheitseinschränkungen (sozialen Leidenserfahrungen) in dem Maβe schützen, wie sie dadurch mit sozialstaatlichen Sicherheiten ausgestattet werden, die ihnen sowohl Entlastungswie auch Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen. Wie die hier geleistete Rekonstruktion zudem gezeigt hat, sind jene durch die Gewährleistung sozialer Rechte zu vermeidenden Leidenserfahrungen weder als rein anthropologisch noch als je nach kulturellen Besonderheiten auf eine ganz spezifische Weise zu verstehen. Vielmehr wäre die Frage, was als eine Freiheitsgefährdung betrachtet wird und daher als potenzielle Quelle einer Forderung nach sozialstaatlichen Schutzmechanismen wirken kann, erst unter Einbeziehung der innerhalb jeder sittlichen Sphäre jeweils vorhandenen Autonomiechancen und deren Gefährdungen, das

 Honneth 2011, S. 310 ff.  Honneth 2011, S. 312.

228

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch

heißt angesichts der historisch wandelbaren zweiten Natur von sozialen Institutionen möglich zu beantworten.³¹ Auf eine ausführliche Behandlung dieser alternativen, aus der Perspektive einer Leidenskritik entworfenen Begründung sozialer Rechte kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; es könnte jedoch wichtig sein, einige ihrer Implikationen bezüglich der gegenwärtigen Debatten um die Rechtfertigung sozialer Wohlfahrtsrechte abschließend kurz hervorzuheben. Zunächst lässt sich festhalten, dass eine derartige Auffassung eben in der Lage wäre, die sozialen Rechte mit Bezug auf den Wert der Freiheit – und nicht nur als ein Erfordernis sozialer Gleichheit oder demokratischer Teilnahme – zu rechtfertigen. Da die Bedeutung von sozialen Wohlfahrtsrechten zusätzlich – wie vorgeschlagen – nicht nur in einer Entlastung, sondern auch in einer Befähigung oder Ermächtigung zur kooperativen Verwirklichung von Freiheitsformen bestehen würde, handelte es sich hier um eine freiheitstheoretische Begründung, die sich aber nicht lediglich auf den Gesichtspunkt einer sozialen Ermöglichung privater Autonomie reduziert.³² Damit würde außerdem jene für prozeduralistische Gerechtigkeitstheorien charakteristische „Logik der Nachträglichkeit“ auch in der Begründung sozialer Rechte durch eine Hervorhebung ihrer immanenten freiheitssichernden Bedeutung möglich zu ersetzen. Andererseits würde sich mit dieser Auffassung auch die Möglichkeit eröffnen, das berühmte Verständnis der Wohlfahrtsstaatlichkeit im Sinne einer institutionellen Verteilung von Risiken (Esping-Andersen) anerkennungstheoretisch umzudeuten und zu erweitern: Nicht nur die Verteilung von sozialen Risiken zwischen Familien, Markt und Staat, sondern auch ihre Gestaltung innerhalb jeder sittlichen Sphäre wäre von besonderer Bedeutung für eine so begründete Konzeption sozialer Wohlfahrtsrechte. Und schließlich würde eine weitere mögliche wichtige Konsequenz der hier skizzierten Begründung in dem Umstand bestehen, dass sich soziale Wohlfahrtsrechte weder bezüglich konstitutiver Güter oder Grundbedürfnisse noch angesichts einer nur minimalen Konzeption physischen Leidens angemessen rechtfertigen lassen.³³ Vielmehr handelte es sich – wie gesagt – um historisch sich wandelnde Freiheitsgefährdungen, die stets aus der Entwicklung der verschiedenen Institutionen sozialer Freiheit und deren jeweiligen Bildungsprozessen hervorgehen können. Gerade in diesem Sinne

 Ähnlich verfährt beispielsweise Judith Shklar, wenn sie aus den historisch geprägten Ängsten der amerikanischen Gesellschaft (und zwar aus der freiheitsbedrohenden Erfahrung eines Verlusts ökonomischer Selbstständigkeit) die Notwendigkeit von Wohlfahrtsrechten ableitet; oder auch Robert Castel, wenn er „soziale Unsicherheiten“ nicht einfach als Folge von gegenwärtig bestehenden Risiken, sondern auch als Ausdruck von im historischen Rahmen des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit konsolidierten Sicherheitserwartungen bestimmt. Vgl. jeweils Shklar 1991 und Castel 2005, insb. S. 81 ff. Anders als mein Deutungsvorschlag aber handelt es sich bei ihnen doch eher um spezifische kulturelle Hintergrundsüberzeugungen, nicht aber um die umfassendere zweite Natur von modernen sozialen Lebensformen.  Zur Begrünung sozialer Rechte bezüglich privater Autonomie vgl. etwa Waldron 1993a.  Exemplarisch für die erste Argumentationslinie gelten etwa die Aufsätze von Martha Nussbaum – vgl. Nussbaum 1999. Zu der zweiten Begründung siehe beispielsweise Fabre 2004.

8.4 Schluss

229

wäre eine derartige alternative Begründung sozialer Rechte, so habe ich hier plausibel zu machen versucht, notwendigerweise auf die Erkennung von historisch wandelbaren Freiheitseinschränkungen, das heißt auf das charakteristische Verfahren einer sozialphilosophischen Leidenskritik konzeptuell angewiesen.

8.4 Schluss In diesem Kapitel habe ich kurz zu illustrieren versucht, inwiefern sich aus der zuvor bezeichneten Idee einer sozialphilosophischen Leidenskritik auch wertvolle Einsichten zu gegenwärtigen Debatten um soziale Gerechtigkeit gewinnen lassen. Dieser Absicht entsprechend habe ich am Beispiel der umstrittenen normativen Rechtfertigung sozialer Rechte angedeutet, dass die in den vorherigen Kapiteln beschriebene Konzeption sozialen Leidens – das heißt die Idee eines gesellschaftlich induzierten Freiheitsverlusts, aus dem subjektive Beeinträchtigungen hervorgehen – auch wichtige gerechtigkeitstheoretische Implikationen besitzen kann. Soziale Wohlfahrtsrechte werden in der Tat häufig als problematisch angesehen oder nur als nachrangig betrachtet, weil sie sich vermeintlich nicht so deutlich auf den Wert der Freiheit beziehen; anders als die liberalen Freiheits- und die politischen Teilnahmerechte werden soziale Rechte demzufolge lediglich als materielle Ergänzungsbedingungen aufgefasst, die die tatsächlichen Wahrnehmungschancen von essenziellen, bereits ausgebildeten Autonomieformen verbessern müssen. Ein Verständnis der immanenten freiheitssichernden Bedeutung von sozialen Rechten ließe sich jedoch unter Rekurs auf jene für eine sozialphilosophische Leidenskritik wesentliche Feststellung herausarbeiten, der zufolge jene Institutionen und Praktiken, in denen die Subjekte ihre individuelle Autonomie ausbilden, auch durch das Auftreten von historisch sich wandelnden Gefährdungen gekennzeichnet sind. Diese Einsicht, die – wie in den vorherigen Kapiteln ausführlich gezeigt wurde – im Zentrum der Idee einer anerkennungstheoretischen Ätiologie sozialen Leidens steht, kann deshalb als Grundlage einer möglichen alternativen Begründung sozialer Wohlfahrtsrechte herangezogen werden. Dieser Begründung zufolge ließen sich die sozialen Rechte wesentlich als sittlich verfasste Schutzmechanismen verstehen, die die Subjekte in jeder Institution sozialer Freiheit (persönliche Beziehungen, Markt, Öffentlichkeit) gegenüber potenziellen Freiheitseinschränkungen schützen sollen. Eine solche Auffassung setzt allerdings voraus, sich von Honneths Ausführungen selbst in zwei wichtigen Punkten zu distanzieren – und zwar in der Vorstellung, der zufolge der Sinn von Wohlfahrtsrechten hauptsächlich in einer Gewährung der materiellen Voraussetzungen privater Autonomie besteht, sowie in der damit verbundenen Ansicht, dass soziale Rechte lediglich Entlastungsmöglichkeiten verleihen. Es lässt sich hingegen vorschlagen, dass die sozialen Rechte auch zwangsläufig von einer ständigen Erneuerung sittlicher Praktiken abhängen und deswegen sich bloß als Ausdruck privater Autonomie nicht verstehen lassen, und zudem auch die These aufstellen, dass die Subjekte als Folge so-

230

Kapitel 8 Leidenserfahrungen und soziale Rechte – Ein Deutungsversuch

zialstaatlicher Sicherheiten neben Entlastungsmöglichkeiten auch bessere Chancen erlangen, um an jenen für die Ausbildung und Sicherung ihrer individuellen Autonomie wichtigen Institutionen und deren kennzeichnenden Bildungsprozessen frei mitwirken zu können. Im Unterschied zu anderen gegenwärtigen Begründungen hätte eine derartige alternative Auffassung schließlich vor allem den Vorteil, die Bedeutung von sozialen Rechten mit Bezug auf den Wert der Freiheit zu erklären. Und sie könnte dies zusätzlich auf eine besondere Weise machen, denn eine solche Rechtfertigung müsste sich zwingend von der zentralen Einsicht einer sozialphilosophischen Leidenskritik leiten lassen – das heißt von der Vorstellung, dass sich die Bedingungen einer ungestörten Freiheitsverwirklichung von Gesellschaftsmitgliedern ein für allemal nicht feststellbar, sondern immer erst unter Betrachtung der historisch wandelbaren zweiten Natur sozialer Welt möglich zu erkennen sind.

Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden Im begrifflichen Rahmen der Kritischen Theorie bezeichnet „soziales Leiden“ – so lässt sich das wesentliches Ergebnis der hier vollzogenen Rekonstruktion zusammenfassen – eine Art von subjektiver Beeinträchtigung, die aus gesellschaftlichen Phänomenen einer unnötigen oder überflüssigen Einschränkung menschlicher Autonomie hervorgeht, deren Entstehungsbedingungen auf eine mangelhafte oder defizitäre Entwicklung von charakteristischen Strukturen und Praktiken moderner sozialer Lebensformen zurückzuführen sind. Im Hintergrund dieser Feststellung steht immer – wenngleich unter sehr verschiedenen sozialtheoretischen Prämissen – jene sich auf Hegels Geistphilosophie zurückbeziehende Freiheitsvorstellung, der zufolge die Subjekte ihre individuelle Autonomie überhaupt erst im Rahmen einer historisch herausgebildeten und wandelbaren zweiten Natur sozialer Lebensformen erwerben und verwirklichen können. Insofern ist „soziales Leiden“ für die Tradition kritischer Gesellschaftstheorie nicht gleichbedeutend mit bloß gesellschaftlich bedingten schmerzvollen Erfahrungen, sondern – im anspruchsvolleren Sinne – die Idee „sozialen Leidens“ weist auf subjektive Beeinträchtigungen hin, die an einem historischen Zustand – an den jeweils in der sozialen Wirklichkeit bereits verfügbaren Freiheitsmöglichkeiten – bemessen werden und sich deshalb im geschichtlichen Sinne als sinnlos erweisen lassen. Das darin implizierte Bild von geschichtlichen Bildungsprozessen, die Gesellschaftsmitgliedern neue Autonomiechancen eröffnen, aber zugleich die Entstehung von neuartigen Gefährdungen bedingen, kann mit Sicherheit nicht ausschließlich für das Verfahren einer Leidenskritik angenommen werden.¹ Diese Idee eines paradoxen Freiheitsverlusts – das heißt einer sozial verursachten Freiheitseinschränkung, die aber erst unter modernen, freiheitsermöglichenden gesellschaftlichen Bedingungen möglich wird – wird von einer im kategorialen Rahmen der Kritischen Theorie formulierten Leidenskritik durch zwei wichtige und miteinander zusammenhängende Grundannahmen ergänzt: zum einen nämlich durch jene eben in Hegels Begriff „zweite Natur“ enthaltene Vorstellung, der zufolge die freiheitsermöglichende Struktur der sozialen Welt nicht nur als historisch herausgebildet, sondern maßgeblich auch als Ausdruck einer geschichtlich wirksamen Vernunft zu erfassen ist; und zum anderen durch die Einsicht, dass jener erst mit modernen Gesellschaftsformen möglicherweise eintretende Freiheitsverlust keinen subjektiv harmlosen Zustand, sondern  Man könnte sich hier beispielsweise begnügen, an die berühmte Diagnose von Emile Durkheim über anomische Arbeitsteilungsformen zu erinnern, um eine ähnliche Verfahrensweise auch deutlich zu erkennen: Mit dem sozialen Zusammenleben eröffnet sich für die Menschen – so nimmt Durkheim an – ein eigentümlicher, weder auf ihre bloße organische Beschaffenheit noch auf das Zusammenkommen von rein individuellen Interessen reduzierbarer Freiheitsraum, mit dessen Entstehung und Entwicklung aber zugleich höherstufige Missstände möglich gemacht werden. Siehe Durkheim 1988, insb. S. 416 ff. Eine ähnliche Herangehensweise könnte etwa auch an Rousseaus Theorie der amour-prope gesehen werden. Vgl. dazu die Rekonstruktion von Neuhouser 2012, insb. Kap. 2. https://doi.org/10.1515/978-3-11-067827-7-009

232

Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden

notwendigerweise eine Quelle von subjektiven Beschädigungen darstellt. Aus diesen beiden Gedanken lässt sich dann eine weitere wichtige Eigentümlichkeit des Verständnisses von sozialen Leidenserfahrungen in der Tradition der Kritischen Theorie feststellen: „Soziales Leiden“ bezeichnet für die Kritische Theorie nicht einfach ein gesellschaftlich hervorgerufener individueller Schaden, sondern es handelt sich um eine sozial induzierte Beeinträchtigung von subjektiven Fähigkeiten, die als besonders wichtig in dem Maße angenommen werden, wie deren Beschädigung die Verunmöglichung einer vernünftigen, freiheitsbejahenden sozialen Praxis impliziert. Nicht irgendwelche, sondern gerade diejenigen subjektiven Fähigkeiten, von denen die Freiheitsverwirklichung sozialer Wesen streng abhängig ist, so lässt sich deswegen auch sagen, werden mit dem Auftreten überflüssiger, sozialer Leidenserfahrungen geschädigt.² Für eine nach den Grundprämissen kritischer Gesellschaftstheorie verfahrende Ätiologie sozialen Leidens stellt sich insofern zuallererst die Frage, welche sozialen Praktiken als unverzichtbar für die Ausbildung und Verwirklichung menschlicher Freiheit angenommen werden müssen. In Horkheimers Ansatz nimmt diese Schlüsselrolle – so hat sich im ersten Teil der Untersuchung gezeigt – die Idee einer naturbearbeitenden menschlichen Praxis ein, aus deren historischen Errungenschaften deshalb die wesentlichen Struktureigenschaften – die zweite Natur – sozialer Lebensformen hervorgehen und sich wandeln. Im Anschluss daran kann eine materialistische Ätiologie darum von der wesentlichen Feststellung ausgehen, dass die menschliche Naturbeherrschung mit den kapitalistischen Gesellschaftsformen bereits eine geschichtliche Stufe erreicht hat, in der eine Reihe von Entbehrungen und Freiheitseinschränkungen ausschließlich auf der Wirkung von klassenherrschaftlichen Strukturen beruht. Der damit einhergehende Verlust an Selbstbestimmung bringt insofern den veralteten Charakter von kapitalistischen Lebensformen zum Ausdruck und lässt sich zusätzlich als die Entstehungsbedingung von sozialen Leidenserfahrungen dadurch verstehen, dass sich diese Freiheitseinschränkung notwendigerweise in einer systematischen Verkümmerung von Ich-Kräften – in jener selbstzerstörerischen Erfahrung von Ohnmacht – niederschlägt. Als Ausgangspunkt der Idee einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik lässt sich – so habe ich im zweiten Teil argumentiert – eine ähnliche sozialontologische Prämisse erkennen: Nicht mehr auf gattungsgeschichtlichen Errungenschaften der Naturbeherrschung basierend stellen Anerkennungsverhältnisse auch einen histo-

 Sehr wahrscheinlich kann hier auch eine gewisse Ambivalenz festgestellt werden. In einigen Fällen verweist man mit diesen subjektiven Beeinträchtigungen auf eine Art negativer Erfahrungen, von denen behauptet wird, dass die Betroffene selbst als solche verspürt werden müssen. In anderen Fällen dagegen weist das Argument eher darauf hin, dass von Leiden zu sprechen auch gerechtfertigt ist, wenn die Betroffene selbst jene Beeinträchtigungen nicht notwendig verspüren. Auch wenn aus dieser Ambivalenz gewisse Schwierigkeiten folgen können, halte ich sie auch potenziell produktiv für eine freiheitstheoretische Leidenskritik, die – wie gesehen – auch als Aufgabe übernimmt, die Naturalisierung von Leidenserfahrungen zu kritisieren.

Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden

233

risch herausgebildeten Raum dar, in dem soziale Wesen ihre individuelle Freiheit überhaupt erst ausbilden und verwirklichen können. Diesem intersubjektiven Verständnis der zweiten Natur sozialer Welt entsprechend wird die Idee eines „sozialen Leidens“ nun nicht mehr nach dem Muster einer Verkümmerung von Ich-Fähigkeiten, sondern nach dem Vorbild von gesellschaftlich verursachten Störungen der kooperativen Bildungsprozesse individueller Autonomie aufgefasst, die letztlich auf eine Schädigung der Interaktionsfähigkeiten hinauslaufen. Sowohl Erfahrungen von moralischer Missachtung als auch normative Fehlentwicklungen lassen sich insofern als Quelle überflüssiger Freiheitseinschränkungen interpretieren, als sie jenen in der moralischen Infrastruktur (Anerkennungsordnung) moderner Gesellschaftsformen bereits institutionalisierten Freiheitsmöglichkeiten widersprechen. Und dieser sozial bedingte Freiheitsverlust führt schließlich ebenso zu sozialen Leidenserfahrungen in dem Maße, wie jene historisch gegebenen Autonomiechancen in Form von Anerkennungserwartungen zugleich ein wesentlicher Teil des praktischen Selbstverständnisses von Gesellschaftsmitgliedern darstellen. Besonders interessant für die Zwecke einer Leidenskritik hat sich außerdem jene auf der Grundlage von Hegels Beschreibung des Bildungscharakters sittlicher Institutionen gewonnene Einsicht gezeigt, der zufolge unnötige Freiheitseinschränkungen nicht einfach hinsichtlich allgemeiner moralischer Grundsätze moderner Gesellschaftsformen, sondern immer auch nach den historischen Veränderungsprozessen innerhalb jeder freiheitsermöglichenden sozialen Institutionen – die Sphären sozialer Freiheit – festzustellen sind.³ Schließlich hat sich auch angedeutet, dass eine anerkennungstheoretische Ätiologie – so habe ich anhand einer Rekonstruktion von Honneths Diagnose sozialer Pathologien argumentiert – jene für die Kritische Theorie bestimmende Idee umzuformulieren vermag, wonach als Folge von höherstufigen gesellschaftlichen Störungsprozessen ein subjektiver Leidensdruck entstehen kann, der paradoxerweise für die Betroffene selbst – auch wenn sie dadurch ihre Freiheit erheblich beeinträchtigt sehen – unauffällig bleibt. Trotz dieser gemeinsamen Verfahrenweise sind aber die begrifflichen Unterschiede zwischen einer materialistisch und einer anerkennungstheoretisch begründeten Leidenskritik nicht zu übersehen. Offensichtlich ist zunächst einmal die Tatsache, dass sie von verschiedenen Freiheitsvorstellungen ausgehen und dementsprechend die Struktur von sozialen Lebensformen auf unterschiedliche Weise verstehen – wie gesehen, einerseits als Ergebnis von gattungsgeschichtlich angehäuften Arbeitsvollzügen und andererseits als Ausdruck der Herausbildung und Institutionalisierung von ausdifferenzierten Anerkennungssphären. Von nicht weniger großer Bedeutung ist zugleich der im Laufe der Rekonstruktion bereits mehrfach aufgetretene Umstand, dass in beiden Ansätzen die Konstellation zwischen einer ersten und einer zweiten

 Was als soziales Leiden gilt, ist dementsprechend nicht ein für allemal festzustellen, sondern es hängt immer davon ab, mit welchen historisch wandelnden Herausforderungen sich die jeweiligen kooperativen Bildungsprozesse sozialer Freiheit konfrontieren müssen.

234

Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden

Natur jeweils anders gedacht wird: Während für den anerkennungstheoretischen Ansatz die natürlichen Bedingungen von sozialen Wesen vor allem im Sinne von zunächst bloß gegebenen Aspekten (etwa Triebe und Neigungen) vorliegen, die hinsichtlich der Verwirklichung von Freiheit nach sittlichen Gründen umgeformt werden müssen, spricht die materialistische Leidenskritik diesen Naturaspekten ausdrücklich eine emanzipatorische Bedeutung zu, da sie die Eigenschaft besitzen würden, niemals gänzlich in soziale Zusammenhänge integrierbar zu sein.⁴ Im Rahmen der jeweiligen ätiologischen Erklärungen lassen sich noch weitere wichtige Unterschiede feststellen. Zunächst handelt es sich um die explanatorische Rolle von psychoanalytischen Kategorien: Während für die frühe Leidenskritik das Freudʼsche Gesundheitsmodell stets als allgemeingültig angenommen war, greift Honneth zwar in seinen frühen Aufsätzen auf die Objektbeziehungstheorie, aber später – in seiner Konzeption „sozialer Freiheit“ – überhaupt nicht mehr auf psychoanalytische Erklärungsansätze zurück, um die Struktur von freiheitsunterminierenden Sozialphänomenen zu erläutern. Nicht so deutlich sind allerdings die Gründe, die dieser Preisgabe von psychoanalytischen Kategorien zugrunde liegen. Denn dies hat zwar wohl mit Honneths Überzeugung zu tun, dass soziale Pathologien keine bloße Anhäufung individueller Leidenszustände darstellen, sowie mit seiner Ansicht, dass der Blickwinkel der kritischen Gesellschaftstheorie sich nicht ausschließlich auf als Erkrankungen verstandene Störungen beschränken müsse;⁵ doch gehen diese beiden Fehlorientierungen – die einseitige Konzentrierung auf individuelle Zustände und die Medikalisierung von sozialen Missständen – nicht notwendigerweise mit der Einbeziehung von psychoanalytischen Kategorien zusammen, wie sich gerade am Beispiel der frühen materialistischen Leidenskritik andeuten lässt: Als Folge der Inanspruchnahme einer psychoanalytisch fundierten Persönlichkeitstheorie wurde diese niemals gezwungen, die Grundvorstellung von höherstufigen, nicht auf individuelle Belastungen reduzierbaren gesellschaftlichen Störungen preiszugeben, sowie ebenso wenig dazu angehalten, ihre kritische Aufmerksamkeit ausschließlich auf als Krankheiten anerkannte negative Erfahrungen zu lenken. Es mag vielleicht sein, dass dieser Verzicht auf psychoanalytische Erklärungsansätze auch mit Bezug auf den soeben erwähnten Unterschied erklärbar ist, sofern für die Psychoanalyse eben – so

 Zu erinnern ist aber an die Tatsache, dass Horkheimer zufolge eine derartige Beziehung zur Natur nur emanzipatorisch sein kann, wenn sie geistig vermittelt ist: Mitleiden ist eine naturbezogene solidarische Praxis, der aber nur soziale Wesen fähig sind. Der Unterschied besteht folglich darin, ob die (erste) Natur hinsichtlich der Verwirklichung von Freiheit als eine notwendig auszubildende Voraussetzung oder aber eher als eine ständig fortwirkende Dimension menschlicher Freiheit angenommen wird. Erhellend dazu können Menkes Ausführungen über ein phänomenologisches und ein genealogisches Verständnis der Naturgeschichte des Geists sein: „Die Phänomenologie behauptet, daß dies verlangt, das Leben bloß als Voraussetzung des Geistes zu verstehen. Die Entstehung des Geistes beginnt demnach im Leben, aber die Entstehung des Geistes besteht darin, diesen Beginn hinter sich zu lassen. […] Dagegen versteht eine Genealogie des Geistes seine Entstehung so, daß der Geist als Leben beginnt und dieser Beginn als Leben den Geist fortwährend bestimmt.“ Menke 2007, S. 339.  Siehe etwa Honneth 2014b, S. 50 ff.

Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden

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hatte Honneth selbst in früheren Aufsätzen angemerkt – das Bild einer nicht gänzlich vergesellschaftbaren Erfahrungssicht menschlicher Natur charakteristisch ist.⁶ Ein weiterer Unterschied kann im Verständnis des Zusammenhangs zwischen Kapitalismuskritik und Leidenskritik gesehen werden. Denn während die frühe materialistische Leidenskritik sich stets von der Annahme leiten ließ, dass soziale Leidenserfahrungen eine notwendige Konsequenz des kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus darstellen, ist ein solcher notwendiger Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Leiden im anerkennungstheoretischen Ansatz nicht so deutlich erkennbar. Vor allem in Honneths Pathologiendiagnose ist – wie gesehen – die Schwierigkeit einer eher unbestimmten Ursachenanalyse aufgetaucht, was die Ansicht andeutet, dass die Verursachung freiheitsunterminierender Sozialphänomene von ihm nicht auf eigentümliche Entwicklungszüge kapitalistischer Gesellschaftsordnungen zurückgeführt, sondern – wie bereits in Habermasʼ Gesellschaftskritik – als eine notwendigerweise empirisch zu lösende Frage angenommen wird.⁷ Wenn darin wohl eine explanatorische Lücke einer anerkennungstheoretischen Leidenskritik zu sehen ist, darf man aber zugleich die Tatsache nicht übersehen, dass diese Distanzierung von verallgemeinernden Schlüssen auch mit der Einführung einer ausdifferenzierteren Vorstellung menschlicher Freiheit zu tun hat: Anders als für die frühe Kritische Theorie sind die gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen von Freiheit nach Honneth Ansatz nicht auf eine einzige soziale Praxis (die Naturbeherrschung), sondern auf verschiedene, ebenso bedeutsame sittliche Interaktionsmuster angewiesen. Damit eröffnet sich nicht nur die Möglichkeit, so hat sich bereits im Laufe der Untersuchung gezeigt, jene allzu vereinfachenden Erklärungen einer ausschließlich auf der Arbeitspraxis beruhenden Ätiologie zu überwinden, sondern zugleich entwirft man eine theoretische Perspektive, anhand welcher der Übergang von individuellen Leidenserfahrungen zu sozialen, kollektiven emanzipatorischen Kämpfen auf eine angemessenere Art und Weise – als ein sozialhistorischer Vorgang – erklärt werden kann. Ausgehend von diesen allgemeinen Eigenschaften einer (unter verschiedenen sozialtheoretischen Prämissen) an Hegels Begriff „zweite Natur“ anknüpfenden Leidenskritik möchte ich zum Schluss einige zentrale Schlussfolgerungen hervorheben, die angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Leidensbegriff besonders wichtig sind und mit denen sich zudem auch noch näher definieren lässt,

 Zur Diskussion vgl. Whitebook 2008. Damit ist nicht gemeint, dass sich eine Leidenskritik notwendigerweise auf Freudʼsche Annahmen stützen muss. Es handelt sich nur darum, den Umstand hervorzuheben, dass aus der Psychoanalyse nicht unbedingt jene Fehlorientierungen einer Pathologiendiagnose folgen.  Anders als Horkheimers Ansatz, in dem jener für kapitalistische Gesellschaften kennzeichnende Verlust an Selbstbestimmung als ein klassenübergreifender Zustand erläutert wird, weist Honneth beispielsweise darauf hin, dass soziale Pathologien „einige oder alle Gesellschaftsmitglieder“ betreffen können – siehe Honneth 2011, S. 157.

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Schluss Kritische Theorie und soziales Leiden

welche Art von Gesellschaftskritik die hier dargelegte sozialphilosophische Leidenskritik darstellt. Zuerst muss der Umstand betont werden, dass für die hier behandelten materialistischen und anerkennungstheoretischen Ansätze einer Leidenskritik die Absicht einer Ätiologie sozialen Leidens nicht auf den Gesichtspunkt einer deskriptiven Behandlung von psychosozialen Phänomenen reduziert wird, wie es gegenwärtig häufig der Fall ist. Vielmehr ist für eine im begrifflichen Rahmen der Kritischen Theorie formulierten Ätiologie die Vorstellung maßgeblich, so hat sich in der vorliegenden Arbeit mehrfach herausgestellt, dass in sozialen Leidenserfahrungen nicht weniger als die Freiheit von Gesellschaftsmitgliedern auf dem Spiel steht. Die Rede von Leidenserfahrungen wird in diesem Zusammenhang deshalb nicht hauptsächlich mit Bezug auf gesundheitliche Probleme angewendet, sondern durch die These gerechtfertigt, dass ein gesellschaftlich verursachter Freiheitsverlust sich zwingend in subjektiven Beeinträchtigungen niederschlagen muss. Soziales Leid wird dementsprechend als Indiz oder subjektiver Ausdruck einer mangelhaften Verwirklichung von gesellschaftlich gegebenen Freiheitsmöglichkeiten aufgefasst, sodass die Idee einer Leidenskritik letztlich als eine Art freiheitstheoretischer Gesellschaftskritik verstanden werden kann.⁸ Zweitens hat sich hier auch deutlich gezeigt, dass für diese Tradition einer sozialphilosophischen Leidenskritik soziale Leidenserfahrungen – auch anders, als es heute häufig angenommen wird – nicht je nach kulturellen Kontexten auf sehr spezifische Weise zu bestimmen sind. Aber ebenso ist die hier charakterisierte Ätiologie andererseits von der Gegenthese entfernt, das heißt von der Ansicht, der zufolge Leidenszustände hauptsächlich basierend auf rein anthropologischen Erfordernissen menschlicher Existenzweise erkennbar seien. Vielmehr lässt sich diese sozialphilosophische Leidenskritik – wie oben bereits erwähnt – von der Vorstellung leiten, dass Freiheitsmöglichkeiten und Freiheitsgefährdungen den historischen Veränderungsprozessen der zweiten Natur von sozialen Lebensformen unterworfen sind.⁹ Die Idee einer Leidenskritik lässt sich deswegen auch als eine immanente Gesellschaftskritik verstehen, denn deren wesentliche Maßstäbe – ihre Freiheitsvorstellungen – werden nicht von außen herangetragen, sondern aus den geschichtlichen Entwicklungsprozessen der sozialen Welt selbst gewonnen.¹⁰  Damit wird der Einwand entkräftigt, dass mit dem Hinweis auf den Leidensbegriff notwendigerweise therapeutische – und daher entpolitisierende – Vorstellungen einhergehen.Vgl. dazu etwa Brown 1995, S. 52 ff. Zur Diagnose einer zunehmenden Bedeutung eines therapeutischen Narratives in der gegenwärtigen Kultur siehe auch Illouz 2009, insb. S. 257 ff.  Diese Einsicht einer historischen Formbarkeit von Leidenszuständen wird gewissermaßen bereits von Marx in den Grundrissen mit seiner berühmten Beschreibung des Hungergefühls vorweggenommen – „Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt.“ Marx 1857, S. 624.  Zur Bezeichnung der Verfahrensweise einer immanenten Kritik sozialer Lebensformen siehe Jaeggi 2014, S. 277 ff.

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Drittens beschränkt sich die Idee sozialer Leidenserfahrungen in den hier rekonstruierten ätiologischen Überlegungen auch nicht ausschließlich auf diejenigen subjektiv belastenden Erfahrungen, die bereits die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt haben und infolgedessen heftig diskutiert werden – wie heute etwa Depressionen oder das Burnout- Syndrom. Das Soziale von Leidenserfahrungen wird von dieser Art sozialphilosophischer Leidenskritik deshalb nicht mit der Häufigkeit individueller Leidenszustände gleichgesetzt, sondern – wie erwähnt – nach dem Deutungsmuster von historisch überflüssigen Freiheitseinschränkungen bemessen, die auf die Unzulänglichkeiten gesellschaftlicher Einrichtungen zurückzuführen sind. Diese Eröffnung bis hin zu öffentlich nicht thematisierten Leidensformen entspricht zudem dem anderen Grundinteresse, von dem eine sozialphilosophische Leidenskritik getragen wird – das heißt die Frage, ob es in modernen Gesellschaftsformen auch soziale Mechanismen oder kulturelle Deutungsschemata gibt, die soziale Leidenserfahrungen naturgemäß erscheinen lassen. Diese emanzipationstheoretische Frage sozialphilosophischer Leidenskritik besteht nicht nur – so hat sich in der Untersuchung gezeigt – in der Erklärung der möglichen Naturalisierung von Leidenserfahrungen, wofür nun der negative oder kritische Bedeutungsgehalt des Hegel’schen Begriffs „zweite Natur“ von besonderer Relevanz ist, sondern maßgeblich auch in der Absicht, den Nachweis zu erbringen, dass sich in der sozialen Wirklichkeit selbst noch immer – aller Verzerrung menschlicher Vernunft zum Trotz – Emanzipationsmöglichkeiten, das heißt Chancen einer Abschaffung von überflüssigen Leiden ausfindig machen lassen. Im Unterschied zu anderen gegenwärtigen Anwendungen des Leidensbegriffs ist insofern eine im begrifflichen Rahmen Kritischer Theorie verfahrende Leidenskritik vor allem durch das Interesse gekennzeichnet, ätiologische und emanzipationstheoretische Fragestellungen in Form einer reflexiven Einheit zu bearbeiten. Darin kommt schließlich deutlich ihre grundsätzliche Überzeugung zum Ausdruck, dass soziales Leiden nicht ein bloßer Erkenntnisgegenstand, sondern ein Indiz der sozial erzwungenen Unfreiheit von Menschen darstellt. Das Ziel der Leidenskritik ist daher – so lässt sich zusammenfassend sagen – nichts anderes als Befreiung.

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Personenverzeichnis Adorno, Theodor W. 5, 12, 37 – 39, 46, 51, 56, 60 f., 65, 72, 80, 83 – 86, 88 f., 98, 113, 120, 122 f., 188 Apel, Karl-Otto 115 Bohman, James 183 Boltanski, Luc 2, 211, 216 Bourdieu, Pierre 1 f., 203, 209 f., 212 f., 216 Castel, Robert 177, 206, 218, 228 Dewey, John 171, 179, 181, 184, 211 f. Durkheim, Émile 43, 170, 176, 181, 184, 231 Feuerbach, Ludwig 17, 31, 127 Foucault, Michel 121 – 123, 127, 203, 218 Fraser, Nancy 212, 218 Freud, Sigmund 3, 37, 54 f., 57, 69, 73, 124, 189 Freyenhagen, Fabian 197, 215 Fromm, Erich 27, 53 – 55, 57, 67, 69 f., 72 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3 – 5, 7 f., 12 f., 15, 22 f., 31, 33, 37, 45, 48, 56, 98, 100, 127, 129, 159, 161, 163 – 168, 170 – 176, 178, 184 – 186, 188 f., 191 – 203, 213 f., 223, 231, 233, 235, 237 Hobbes, Thomas 17 Illouz, Eva 162 f., 236 Jaeggi, Rahel 40 f., 49, 55, 68, 72, 117, 236

Lukács, György 5, 26, 41, 47, 50 – 52, 55, 76 Machiavelli, Niccolò 17 Marcuse, Herbert 12, 18 f., 31, 37 – 40, 49, 62, 64, 71, 82, 85, 113, 127 Marshall, Thomas H. 219, 222 Marx, Karl 14, 16, 19 f., 22, 25 f., 30 – 34, 36 – 38, 40 – 42, 44, 48 f., 53, 58, 60, 63, 66, 68, 70, 77, 99, 111, 120 f., 124, 126, 236 Mead, George H. 100, 185 Menke, Christoph 5, 8, 46, 56, 65, 84, 86, 199, 234 Neuhouser, Frederick 165 – 167, 173, 195, 231 Neumann, Franz 56 f. Nietzsche, Friedrich 14, 16, 24, 67 Parsons, Talcott 103 Pippin, Robert 5, 203 Renault, Emmanuel 1 f., 112, 122, 170 Schmid Noerr, Gunzelin 35 f., 85, 88 – 90 Schopenhauer, Arthur 5 f., 11, 16 f., 19, 30, 33, 35 – 37, 60, 86 f. Simmel, Georg 41, 43, 52 Weber, Max 52, 100 Wellmer, Albrecht 174 f. Winnicott, Donald 185

Sachwortverzeichnis Anpassung 54, 68 f., 74, 78, 81, 83, 121, 166 Ätiologie 1, 3 f., 6, 27, 30, 32, 40, 53 – 61, 111, 119, 122, 160 f., 185, 200, 202 f., 214, 229, 232 f., 235 f. Autonomie 6 f., 24, 44, 59 f., 97, 99, 101, 104, 106, 109 f., 113 f., 119, 127 – 130, 159 f., 164, 166, 168 – 171, 182 – 186, 188 f., 191 – 193, 195 – 199, 201 f., 213 – 215, 218, 220 – 231, 233

Gerechtigkeit 7, 16, 21, 26, 33, 63 – 65, 70, 74, 76, 78, 80, 86, 91, 117, 130, 221 – soziale Gerechtigkeit 2, 7, 50, 97 f., 113, 115, 117 f., 123, 128 – 130, 159 f., 191, 217, 229 Gewalt 53, 67, 83, 107, 112, 168, 203, 207, 209, 212 Gleichheit 21, 46, 63, 65, 68, 70, 72, 74, 80, 220 f., 228 Glück 18, 33, 64 – 66, 74, 80, 86 f., 93

Befreiung 4, 30, 34, 43, 51, 62, 64, 74, 77, 80, 83, 90 – 92, 94, 161, 208, 237

Herrschaft 35, 47, 52, 63, 67 f., 71, 74, 78 – 80, 83 f., 92, 121, 125 f.

Demokratie 2, 81, 175, 179, 181, 183, 220 Diskursethik 98, 113 – 116, 120, 129

Identität 23, 100 – 102, 104, 106, 111, 113 – 115, 117 f., 167 Ideologie 21, 24, 35, 39, 42, 63 f., 68, 72, 83, 205 – Ideologiekritik 35, 42, 54, 63 – 68, 72 – 74, 79, 88, 93, 203 Immanente Kritik 171, 176, 192, 236 Intersubjektivität 100, 112, 123 – 126, 128 f., 201

Emanzipation 3, 12, 25 f., 42 f., 60, 62, 74 – 76, 78 f., 88 f., 91 f. Entfremdung 53, 55 f., 89 f., 100, 111 Entrechtung 146, 150 ff. Fähigkeiten 4, 6, 27, 31 – 34, 40 f., 44, 46, 48 f., 52 f., 55 – 58, 60 – 63, 75, 84, 86 – 88, 91, 94, 112, 160, 183 f., 202, 205 – 209, 232 f. Familie 72 f., 81 – 83, 108, 159 f., 162, 164 f., 168 f., 186, 195, 212, 226 – 228 Fehlentwicklung 63, 70, 83, 104, 124, 160 f., 168, 174, 176, 181 f., 184 – 188, 191, 197, 203, 213 f., 233 Freiheit 4 f., 8, 18, 21, 24, 26, 32, 38, 40, 44 – 46, 48, 50, 53, 55, 57 f., 60 – 65, 68, 70 – 72, 74 – 80, 88, 91, 93, 97 – 101, 104, 108 f., 116, 119, 130, 159 – 162, 164 – 171, 175 – 180, 182, 184, 188 – 204, 209, 213 – 215, 219 – 226, 228 – 230, 232 – 236 – Freiheitseinschränkung 4, 6 f., 15, 24, 28, 31, 40, 46 – 48, 58, 62, 98, 119 f., 130, 176 f., 184 f., 202, 218, 227, 229, 231 – 233, 237 – Freiheitsverlust 4, 30, 46, 49, 53, 58 f., 104, 110, 119, 129, 161, 176 f., 182, 184 – 186, 189, 197, 202, 214, 217, 229, 231, 233, 236 – Kommunikative Freiheit 7, 97 f., 104 – 106, 109, 111, 119, 123 f., 191 – Soziale Freiheit 7, 130, 159 – 161, 163 – 172, 174, 176 – 186, 188 f., 191, 193, 195 f., 202, 205, 208, 210 f., 213, 215, 221, 223, 226 – 229, 233 f.

Kampf um Anerkennung 127 f., 212, 222 f. Kapitalismus 30, 41 f., 54 – 58, 61, 63, 67, 86, 92 – 94, 111 f., 175, 215, 235 – Kapitalismuskritik 6, 30, 38, 40 f., 44, 46 f., 52, 58, 65, 104, 215, 235 Kolonisierung der Lebenswelt 108 Kommunikation 7, 57, 77, 85, 97 f., 100, 105 – 107, 112, 120, 130, 164, 190, 198, 201, 214 – kommunikatives Handeln 101, 103, 191 Lebensform 5, 13, 16 f., 19, 24, 28, 33, 37 – 39, 41, 50 f., 59 f., 63 f., 66, 71, 74, 78, 82, 85, 87, 91, 93, 98, 101, 111, 113 – 120, 128, 130, 164, 167, 182, 188, 191, 193, 197, 199, 214, 232 – soziale Lebensform 3 – 5, 7, 19, 28 – 30, 34, 36 f., 42, 44 – 46, 50, 52, 59 f., 62, 66, 85, 87, 93 f., 97, 100, 107, 110 – 113, 117, 128 – 130, 185, 192, 202, 213, 218, 228, 231 – 233, 236 Lebenswelt 38, 41, 97 – 113, 118 f., 124 – 126, 129, 191, 199 Liebe 8, 16, 57, 61, 88, 163 f., 166, 169, 222 Macht 4, 22, 35, 43, 47, 56, 66 – 68, 70 f., 74, 177, 190 f., 196, 198, 207, 218

254

Sachwortverzeichnis

Markt 70 – 72, 81 f., 160, 172 – 176, 182, 204, 226, 228 f. Materialismus 16 – 19, 22, 29, 33 f., 41, 60 – 62, 64, 76, 86 f., 93 Missachtung 7, 15, 59, 61, 94, 128, 130, 186, 233 Mitleid 64, 87 – 89, 92 f., 234 – Mitleidsethik 7, 17, 27, 38, 63, 78, 86, 88, 92, 115, 203 Natur 4 f., 17 f., 26, 32 – 39, 42 – 47, 49 – 52, 54, 60, 63 f., 68, 76, 80 f., 83 f., 86, 88 – 90, 92 f., 97, 99 f., 102, 113 f., 119, 161, 164 f., 185 f., 203, 206, 234 f. – Naturbeherrschung 13, 18 f., 28, 30, 33 – 37, 42, 44, 46, 50, 52, 57 – 59, 68, 75 – 77, 80, 85, 87, 91, 93 f., 98 – 100, 104, 111, 113, 120 f., 123, 232, 235 Naturalisierung 3, 5 – 7, 29, 62 f., 69, 73, 78, 80 f., 83, 89 f., 92, 112, 189, 203, 212, 232, 237 Naturwüchsigkeit 5, 51, 54, 60, 85, 89 Öffentlichkeit 2, 116, 160, 162, 169, 174, 177 – 184, 206, 208, 210 – 212, 226, 229, 237 Ohnmacht 14 f., 26 f., 31, 53 f., 68 f., 129, 232 Pathologie 46, 50, 97, 99, 104 f., 108, 117, 188 – 192, 197 – 203, 214 f. – soziale Pathologie 105, 109 f., 112, 188 – 190, 192, 194, 196 – 204, 213 f., 233 – 235 Psychoanalyse 27, 53 f., 69, 234 f. Schmerz 20, 39, 59, 61, 111, 114

Selbstbestimmung 6, 18, 31, 40, 48 – 50, 52, 54, 60, 62, 101, 104, 159 f., 182, 184, 193 f., 196, 199, 206, 232, 235 Selbstverwirklichung 49, 51, 60, 101, 116 f., 128, 177, 186, 188 f. Sinnlichkeit 31, 33, 39, 185 Sittlichkeit 126, 160 f., 166 f., 171, 175, 180 f., 185, 188, 195, 208 f., 211 f., 216, 226 Solidarität 29, 38, 40, 60, 78, 85 – 87, 89, 92 f., 99, 102 soziale Kämpfe 59, 75 – 77, 122 f., 125, 127, 129, 174 f., 212 soziale Rechte 7, 180, 193, 217 – 230 Systemtheorie 121, 125 Teilnahmerechte 179 f., 182 f., 193, 219, 224 – 226, 229 – soziale Unbestimmtheit 192, 197 Unbehagen 78, 91, 169, 209, 213 Ungerechtigkeit 1 f., 46, 118, 161 f., 177, 187, 197, 205 f., 209, 214 Vergänglichkeit 15 – 17, 19, 28, 30, 37 – 40, 60, 63, 78, 85, 87, 89, 92 f., 113 f. Verletzbarkeit 114 f., 119, 162, 171 Wertschätzung 222 Wohlfahrtsrechte 7, 180, 217 – 229 Zweite Natur 3 – 7, 19, 28, 30, 34, 36, 44, 46, 51 f., 55 f., 64, 66, 74, 87, 93 f., 100, 111, 113, 128, 130, 159, 161, 185, 192, 195, 197, 203, 214, 216, 218, 228, 230 – 237