Soziale Fürsorge der Weg zum Wohltun [Reprint 2019 ed.] 9783486733198, 9783486733181


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German Pages 290 [292] Year 1904

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
Adressen der sozialen Fürsorge
Verzeichnis allgemeiner Bücher und Zeitschriften
I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge
II. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege
III. Allgemeine Zentralstellen für Propaganda gesunder Anschauungen
IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit
V. Örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen der Wohlfahrtseinrichtungen und insbesondere der Armenpflege
VI. Sorge für das Säuglings- — vorschul- Pflichtige — Alter im allgemeinen
VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen
VIII. Fürsorge für verwaiste, uneheliche, gefährdete, verwahrloste Kinder
X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend
XI. Wohlfahrtseinrichtungen für die männliche Jugend
XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene
XIII. Gemeinnützige Wohnungsftirsorge
XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung. Konsumvereine, Genossenschaftswesen im allgemeinen
XV. Förderung der geistigen und körperlichen Ausbildung, edler Geselligkeit
XVI. Arbeiterversicherung, Spar-, Darlehenskassen
XVII. Fürsorge für Arbeitslose
XVIII. Wanderwesen
XIX. Soziale Hygiene
XX. Soziale Kranken- und Hauspflege
XXI. Armenpflege
Sachregister
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Soziale Fürsorge der Weg zum Wohltun [Reprint 2019 ed.]
 9783486733198, 9783486733181

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Soziale Fürsorge der Weg zum Wohltun. *

Von

DR. KARL SINGER MÜNCHEN.

MQnchen und B e r l i n 1904. Druck und Verlag von R. Oldenbourg.

Vorwort. D a s weite Gebiet der Wohlfahrts- und Wohltätigkeits-Bestrebungen gleicht in seinem fortgesetzt wachsenden, aber einer festen Leitung entbehrenden Umfange heute einem regellos dahinfließenden, aus vielen kleinen Rinnsalen bestehenden Wasserlaufe. Außerordentlich vielfach ist der gute Wille zum Wohltun vorhanden, aber es fehlt häufig die Anleitung und der Uberblick über das, was am zweckmäßigsten zu schaffen wäre. Nur vereinzelt erst sind in Deutschland die Einrichtungen, welche eine innigere Berührung zwischen den verschiedenen Volksklassen herbeiführen und nur sehr selten erst ist Männern und Frauen die Möglichkeit geboten, sich systematisch zur Ausübung der Wohlfahrtspflege auszubilden. Recht oft fehlt die Erkenntnis, daß die mit sorgfältigen Recherchen verbundenen Spesen infolge der richtigeren Verwendung der Mittel reichlich wieder hereinkommen. Infolge der großen Zersplitterung der Wohltätigkeitsbestrebungen erwachsen für die Sammlung zahlreicher kleiner B e i träge große Spesen, und häufig ist eine gewisse Müdigkeit vorhanden, an vielen kleinen Unternehmungen gleichzeitig mitzuarbeiten. E b e n s o werden die Gaben oft zersplittert und in geringen Einzelbeträgen verhältnismäßig nutzlos hinausgegeben, während durch Widmung derselben Mittel zu einem großen Zwecke, sei es zur Förderung der Volksbildung, der gemeinnützigen Bautätigkeit usf., die Volkswohlfahrt nachhaltig gefördert werden könnte. Der Mangel einer örtlichen Zentralstelle erschwert die Einziehung zuverlässiger Information über angeblich B e dürftige und macht es dem Skrupellosen leicht, die verschiedenen Wohltäter und Wohltätigkeitsvereine zu brandschatzen. Dagegen ist bemerkenswert, daß das, was bei der Organisation der gesetzlichen Armenpflege als Hauptziel mit vorgeschwebt hat, nämlich der Armut vorzubeugen, statt den arm Gewordenen zu unterstützen, nun in wachsendem Maße durch die Bestrebungen der freien Wohltätigkeit zu erreichen versucht wird. Indem sich die Wohltätigkeit zugleich nicht mehr an den I*

IV

Vorwort.

einzelnen, sondern soweit möglich an die Gesamtheit der Volksgenossen wendet, tritt an die Stelle der Wohltätigkeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes die Volkswohlfahrtspflege oder soziale Fürsorge, welche sowohl aus sittlichen, wirtschaftlichen, wie soziologischen Erwägungen der Armenpflege weit überlegen ist. Durch die M i t w i r k u n g der beteiligten Kreise selbst, insbesondere also der Arbeiterschaft im engeren Sinne, wird nicht nur die üble Nebenwirkung des „Almosens", die sonst leicht der Wohltätigkeit anhaftet, beseitigt, sondern werden auch die Verwendung der Mittel und Ausgestaltung der Einrichtungen nach dem tatsächlichen Bedürfnisse dieser Volkskreise erleichtert und gleichzeitig frische Kräfte für die großen Aufgaben der Wohlfahrtspflege mobil gemacht. Nicht Dank oder Undank des einzelnen, sondern der Erfolg in der Förderung des klar erkannten Zieles werden den Mitarbeitern wahre Befriedigung gewähren. In diesem Sinne soll die s o z i a l e F ü r s o r g e den W e g z u m W o h l t u n führen. In diesen Blättern ist nur beabsichtigt, die Gliederung des gesamten Problems und eine Reihe der w i c h t i g s t e n und v o r b i l d l i c h erscheinenden Einrichtungen vorzuführen. Es gilt dies insbesondere auch für die Einrichtungen des Auslandes, welche teilweise einbezogen sind. Der Stoff ist so gruppiert, daß die ersten Abschnitte die allgemeinen Fragen, dann die Schaffung der zentralen Organisationen erörtern, während die weiteren sich an die Hauptaltersstufen und die sozialen Bedürfnisse anschließen. Der Verfasser ist einer großen Zahl von Mitarbeitern, welche die Güte hatten, die einzelnen Abschnitte durchzusehen und durch Zusendung von Berichten und sonstigen Drucksachen die Verwertung vieles sonst schwer zugänglichen Materials ermöglichten, zu wärmstem Dank verbunden. Der Verfasser ist für die Mitarbeit bei der Vorbereitung des Buches endlich insbesondere Fräulein Marie Hasselwander zu lebhaftem Danke verpflichtet. Wenn die Rücksicht auf die Aufgabe des Buches, möglichst weiten Kreisen zu dienen, zu mancher Beschränkung genötigt hat, so wird doch von allen Mitteilungen aus dem Kreise der Leser zur Ergänzung und Verbesserung des Inhalts bei eventuell sich weiterbietender Gelegenheit gern Gebrauch gemacht werden. M ü n c h e n , Juli 1904. Hohenzollernstraße 7.

Dr. Karl Singer.

Inhaltsübersicht. Seite

Vorwort

III I . Allgemeine F r a g e n der sozialen Fürsorge.

Die Entwicklung von der Armenpflege und W o h l t ä t i g k e i t zur Wohlfahrtspflege (sozialen F ü r s o r g e ) Die v o r b e u g e n d e Aufgabe der Wohlfahrtspflege D i e Definition der sozialen F ü r s o r g e Wohlfahrtspflege und V e r b e s s e r u n g der R a s s e A b g r e n z u n g der amtlichen und privaten Wohlfahrtspflege . . G e m e i n d l i c h e soziale Politik und P r a x i s S o z i a l e K o m m i s s i o n e n . Soziale B e i g e o r d n e t e S o z i a l e Aufgaben der F r a u D i e Industriellen als Organe der Wohlfahrtspflege Die Stellung der A r b e i t e r s c h a f t zu den Wohlfahrtseinrichtungen Gesellschaft für soziale Reform B u r e a u für Sozialpolitik in Berlin Zentralverwaltung der sozialen F ü r s o r g e

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I I . Ausbildung zur Wohlfahrtspflege. M ä d c h e n - und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit Frauendienst-Genossenschaft Settlements . . . W o m e n s University Settlement Soziale Kurse Die Ausbildung zur sozialen Arbeit auf den a m e r i k a n i s c h e n Universitäten und die „Schulen für soziale A r b e i t " . Ausbildung von „ A g e n t e n " Zentralstelle für private F ü r s o r g e in Frankfurt a. M S o z i a l e s Museum. Institut für Gemeinwohl, Frankfurt a. M . . . E r z i e h u n g s a n s t a l t für soziale Arbeit, Amsterdam ( S i e h e auch Diakonie, R o t e s Kreuz usf.)

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Inhaltsübersicht. Seite

III. Allgemeine Zentralstellen für Propaganda gesunder Anschauungen. Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit Poor Law Union Association. Amerikanische National Conference of Charities and Correction Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in Berlin . . Z.-St. f. A.-W.-E., Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit. Ausschuß für Wohlfahrtspflege auf dem Lande . . . Sozial-Museen. Musée social, Paris. Ständige Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt in Charlottenburg. Museum für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in München Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen . . . . . Charitasverband für das katholische Deutschland. Österr. Charitas Office central des Institutions charitables, Paris Charity Organisation Societies IT. Allgemeine Zentralstellen fllr praktische Arbeit. Das Rote Kreuz, Zentralkomitee der deutschen Vereine, Landesvereine, Frauenvereine Innere Mission (der evangelischen Kirche) Diakone, Diakonissen Katholische Ordensgenossenschaften Heilsarmee Landes- und Provinzialzentralen. Zentralleitung des Württembergischen Wohltätigkeitsvereins. St. Johannisverein in Bayern Größere Verbände für einzelne Zweige der Wohlfahrtspflege (Wanderwesen, Sommerpflege etc.) Y. Örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen der Wohlfahrtseinrichtungen und Insbesondere der Armenpflege. Die verschiedenen Wege zur Zentralisation Zentralstellen zur Auskunftserteilung über Bedürftige Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, Berlin Örtliche Zentralstellen und Vereine für praktische Wohlfahrtspflege. Verein Volkswohl, Dresden Ortliche Zentralvereine für praktische Armenpflege Verein gegen Armennot und Bettelei in Dresden Auskunft über bestehende Einrichtungen. Handbücher über Wohlfahrtseinrichtungen

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Inhaltsübersicht.

VII Seite

Auskunftsstellen der Frauenvereine Ortliche Zentralisation durch organische Verbindung der Wohlfahrtseinrichtungen (Verbindung und Meinungsaustausch der Organisationen in Konierenzen etc.) Charity Buildings. Gebäude für Privatwohltätigkeit . . . - . YI. Sorge fUr das Sänglings- — vorschulpflichtige — Alter Im allgemeinen. Versorgungshäuser für außereheliche Mütter und deren Kinder Säuglingsheim, Säuglingshospital. Ausbildung von Pflegerinnen Findelhäuser Krippen (Säuglingsbewahranstalten) Beschaffung von Kindermilch. Goutte de lait Kinderbewahranstalten, Kleinkinderschulen . Kindergärten, Volkskindergärten . . . . . . . , Seminare für Kinderpflegerinnen und Kindergärtnerinnen . . . YII. Kinderfilrsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen. Knabenhorte, Mädchenhorte Ferienhorte Handfertigkeitsunterricht. Deutscher Verein für Knabenhandarbeit. Lehrerseminar in Leipzig Schulgärten Schülervorstellungen Schülerwanderungen Schulärzte Schulbäder Speisung bedürftiger Kinder Ferienkolonien. Zentralstelle der Vereinigungen für Sommerpflege in Deutschland. Outing Stadtkolonien (Halbkolonien) T i n . FUrsorge für verwaiste, aneheliche, gefährdete, verwahrloste Kinder. Die Ausdehnung der Kinderfürsorge Waisenpflege Gemeindewaisenrat Waisenpflegerinnen Besoldete Waisenpflegerinnen. Aufsichtsdamen Generalvormundschaft Fürsorge-(Zwangs-)Erziehung

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VIII

Inhaltsübersicht. Seite

Erziehungsvereine Kinderschutzvereine. National Society for Prevention of Cruelties against Children Ragged-School-Union Barnardo-Homes Die Durchführung der vollständigen Fürsorge Vergleich der Kosten der verschiedenen Formen der Kinderfürsorge Waisenerziehung in großen, geschlossenen Anstalten Anstalts-Gruppensystem. Waisenheime. C o t t a g e - H o m e s . . . Rettungshäuser. Reformatory and ¿Industrial Schools Familien-Gruppen-Erziehung. Geschwisterheime auf dem Lande. Asilo famiglia. Scattered-Homes Familienpflege. Stadt- und Landpflege Fürsorge der englischen Armenpflege für Kinder. Boardingout (Unterbringung in Familienpflege) Halte-, Kost-, Zieh-Kinderüberwachung Verbindung mit innerer Kolonisation IX. Fürsorge fllr Gebrechliche. Hilfsschulen für schwachsinnige Kinder. Fürsorgeverein . . . Pflege- und Erziehungsanstalten für Gebrechliche Blindenanstalten Taubstummenanstalten Idioten-, Epileptischen-Fürsorge Krüppelfürsorge X. Wohlfahrtseinrlchtnngren fllr die weibliche J a g e n d . Einleitung Obersicht der Einrichtungen zur praktischen Ausbildung der weiblichen Jugend Hauswirtschaftlicher Unterricht Wanderkochkurse Ausbildung weiblicher Dienstboten. Mägdebildungsschulen . Ausbildung in weiblichen Handarbeiten Fortbildungsunterricht für Mädchen. Gewerbliche und kaufmännische Ausbildung. Sonstige berufliche Ausbildung . Die wirtschaftliche Frauenschule auf dem Lande. Der freiwillige Dienst in der wirtschaftlichen Frauenhochschule Mägdeherbergen Mädchenheime, Arbeiterinnenheime

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IX

Inhaltsübersicht.

Seite

Töchterheime. Heime für alleinstehende weibliche — beruflich gebildete — Erwerbstätige Verein der Freundinnen junger Mädchen. Katholische Mädchenschutz-Vereine Deutsche Bahnhofsmission. Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend in Berlin Jungfrauen- und Arbeiterinnenvereine. Patronage. Arbeiterinnenklubs Magdalenenhäuser. Zufluchtsstätten für Gefallene. Homes and Refuges for Penitents Internationale Bekämpfung des Mädchenhandels XI. Wohlfahrtseinrlchtungen für die männliche Jugend. Einleitung. Der Mann von morgen Fortbildungs- und Fachschulen für die männliche Jugend . . Jugendklubs (Boys-Clubs) . . . Jünglingsvereine, Gesellenvereine, Lehrlingsvereine, Lehrlingshorte Lehrlingsheime, Gesellenheime A n h a n g : Seemannsmission. Komitee für deutsche evangelische Seemannsmission Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger XII. Einiges aas der FUrsorge für Erwachsene. Einleitung Arbeiterschutz, Arbeitszeit, Arbeitslohn, Tarifgemeinschaften . Gewerbegericht. Conseils de Prud'hommes Einigungsämter Arbeitsnachweis, Arbeitsämter Arbeitsnachweis für Dienstboten Verein für Stellenvermittlung, Hamburg Arbeiterberufsvereine, Gewerkvereine, Trade Unions Arbeitersekretariate, Volksbureaus, Auskunftsstellen, Rechtsschutzstellen XIII. Gemeinnützige Wohnungsflirsorge. Einleitung Die Wohnung als Grundlage des Familienlebens Die soziale und wirtschaftliche Bedeutung der Wohnung. . . Die Einwirkung der Wohnung auf die Gesundheit Wohnungsbedarf und Bauspekulation. Mangel an abgeschlossenen kleinen Wohnungen S i n g e r , Soziale Fürsorge.

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X

Inhaltsübersicht. Seite

Wohnen in geteilten Wohnungen Schlafgängerwesen Beschaffung kleiner Wohnungen durch die gemeinnützige Bautätigkeit Wachsende Zahl der Mietskasernen Gemeinsamkeit des Besitzes und gemeinnützige Verwaltung der Bauvereine Ausschluß der Steigerung des Mietzinses Die Formen der gemeinnützigen Bautätigkeit Geldbeschaffung. Tätigkeit der Versicherungsanstalten. . . . Wohnungsinspektion Erbbaurecht Bodenreform Fürsorge für Ledige Rowton-Häuser in London, Albergo popolare in Mailand . . . Sonstige Ledigenheime für Männer Heime für weibliche Personen XIY. Beschaffung:. guter und billiger Nahrung'. KonsumYereine. Genossenschaftswesen im allgemeinen. Einleitung Volksküchen. Speisehallen Berliner Volksküchenverein Volkskaffeehallen Volkskaffee- und Speisehallengesellschaft in Berlin Kochkiste Speisentransport Genossenschaftswesen. Workmens Coopérative Societies. Sociétés coopératives. Allgemeine Entwicklung Entwicklung in Deutschland Allgemeiner Verband deutscher Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Konsumvereine Großeinkaufsgenossenschaften A n h a n g : Genossenschaftsstatistik

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XY. Förderung der geistigen und körperlichen Ausbildung, edler Geselligkeit. Volksbildungsbestrebungen. Bildungsvereine 163 Ausschuß für Volksvorlesungen in Frankfurt a. M. . . . . 165 Volksbibliotheken. Free Libraries 167

Inhaltsübersicht.

XI Seite

Lesehallen 168 Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung 169 Veranstaltung von Vorträgen 170 Volkshochschulkurse. University Extension 170 Volkskonzerte, Theateraufführungen 172 Museumsbesuche, Volksmuseen 173 Toynbee-Hall, Cambridge-House 173 Volksheime 174 Volks- und Jugendspiele 174 Schrebergärten (Arbeitergärten). Ligue Française du Coin de Terre et du Foyer 176 Volksparks 178 König Albert-Park, Dresden 179 Heidepark, Dresden. Heidefahrten 179 XYI. Arbelteirerslchernug, Spar-, Darlehenskassen. Arbeiterversicherung Internationale Arbeiterversicherungskongresse Umfang der Arbeiterversicherung Ende 1903 Fürsorge für staatliche, städtische und industrielle Beamte, Bedienstete und Arbeiter — Ruhegehalt, Hinterbliebenenversorgung Hilfs- und Unterstützungskassen. Secours mutuels Friendly Societies Sparkassen, Sparbanken. Saving Banks Postsparkassen öffentliche Leihhäuser. Monts de piété Darlehenskassen. Raiffeisenkassen XTII. Fllrsorg« für Arbeitslose. Einleitung Ateliers nationaux. Notstandsarbeiten, Winterarbeiten . . . . Vorschriften für Notstandsarbeiten Schreibstuben Arbeitslosenversicherung Arbeitslosenunterstützung der Berufsvereine Fakultative allgemeine Arbeitslosenversicherung Obligatorische allgemeine Arbeitslosenversicherung Genter kombiniertes Zuschußsystem Fürsorge für entlassene Gefangene. Verband der deutschen Schutzvereine für entlassene Gefangene II*

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Inhaltsübersicht.

XYIII. Wanderwesen. Herbergen zur Heimat, Gesellenhäuser, Hospize, Gewerkschaftshäuser, Deutscher Herbergsverein. Der Wanderer . . . . Naturalverpflegungsstationen, Wanderarbeitsstätten. Gesamtverband deutscher Verpflegungsstationen Arbeiterkolonien. Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien Frauenheime Elevators — Asyle für Obdachlose, Shelters Wärmestuben Schrippenkirche

Seite

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XIX. Soziale Hygiene. Hygienische Einrichtungen der Städte. Vereine für öffentliche Gesundheitspflege 210 Vereine für Volkshygiene. Förderung der hygienischen Kenntnisse 211 Volksbäder 212 Desinfektionsanstalten 213 Alkoholismus und seine Bekämpfung 214 Temperenz-(Mäßigkeits-)Bewegung 215 Abstinenz-(Enthaltsamkeits-)Bewegung -215 Guttempler 216 Das Blaue Kreuz 216 Gothenburger System. Deutscher Verein für Gasthausreform. 216 Trinkerheilstätten 217 Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 219 Fédération abolitionniste 220 Weißes Kreuz. Allgemeine Konferenz deutscher Sittlichkeitsvereine 220 (Siehe auch Bekämpfung der Tuberkulose.)

XX. Soziale Kranken- und Haaspflege. Die englische Pflegerin (Nurse) Ausbildung der Pflegerin Die Pflegerin im Krankenhaus, Krankenstation des Armenhauses Gemeindepflege Die Krankenpflege in Deutschland. Pflegepersonal Evangelischer Diakonieverein Schwestern vom Roten Kreuz Gemeindepflege Vereine für Hauspflege. Wöchnerinnenpflege

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Inhaltsübersicht.

XIII Seite

Landkrankenpflegerinnen Krankenanstalten Krankenküchen Bekämpfung der Tuberkulose. Volksheilstätten, Lungenheilstätten. Deutsches Zentralkomitee zur Errichtung von Heilstätten für Lungenkranke. Volksheilstätten-Verein vom Roten Kreuz Kinderheilstätten. Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten Walderholungsstätten Kindererholungsstätten Fürsorgestellen für Tuberkulose (Dispensaires) Provident Dispensaries in England Fürsorge für Genesende, Rekonvaleszentenhäuser Rettungsdienst, Samariterbund, Sanitätswachen Krankenpflegeschränke, Sanitätskasten

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XXI. Armenpflege. Armut und ihre Ursachen Geistige Defekte der Bettler Öffentliche Armenpflege in Deutschland Armenwesen des Auslands Armenverwaltung. Ehrenamtliche Pflege Ouvrier enquêteur, Agent Elberfelder System Offene oder geschlossene Armenpflege? In-door or Out-door Relief Offene Armenpflege. Unterstützung mit Geld, — mit Naturalien Geschlossene Armenpflege, Armenhäuser, Workhouses, Armenarbeitshäuser Die Frau als Armenpflegerin Freiwillige Armenpflege Kirchliche Armenpflege. Vincentiusvereine — Innere Mission Schädlichkeit planlosen Almosengebens. Vereine für freiwillige Armenpflege. Antibettelvereine. Frauenvereine Suppenküchen Brockensammlungen (Armenkrankenpflege siehe Gemeindepflege Abschnitt XX.) (Zentralisation der Armenpflege siehe Abschnitt IV.)

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Adressen der sozialen Fürsorge. Eine Anzahl von Auskunftsbüchern über Wohlfahrtseinrichtungen, die vorwiegend für örtlich begrenzte Bezirke veröffentlicht worden sind, so die Auskunftsbücher für B e r l i n , B r e m e n , B r e s l a u , H a m b u r g , H i l d e s h e i m , M ü n c h e n , N ü r n b e r g , P o s e n sind nachfolgend Seite 51 genannt. Unsere sonst so vorzüglichen Reisehandbücher, welche weiteste Kreise auf vorbildliche soziale Anstalten hinweisen könnten und in anderen Richtungen bis ins kleinste Detail gehen, lassen ja bedauerlicherweise bezüglich bedeutender Wohlfahrtseinrichtungen sehr häufig vollständig im Stiche. Erfreuliche Ausnahmen in dieser Richtung haben u. a. Dr. Scheven und Arbeitersekretär Timm für Dresden bezw. München, dann das Handbuch des Internationalen Frauenkongresses Berlin 1904 gemacht. Für größere Bezirke, Provinzen oder Länder Deutschlands schließen sich, jedoch meist mit konfessioneller Beschränkung, eine Mehrzahl von ebenda bezeichneten Veröffentlichungen a n , ohne solche Beschränkung das vorzügliche Werk „Wohlfahrtspflege in den Provinzen R h e i n l a n d , W e s t f a l e n " (Düsseldorf 1902), dann „Wohltätigkeitsanstalten und -Vereine im Königreich W ü r t t e m b e r g " , bearbeitet von der Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins (Stuttgart 1898). Für das R e i c h s g e b i e t , jedoch wieder mit konfessioneller Beschränkung, sind zwei Veröffentlichungen durchgeführt, nämlich S t a t i s t i k d e r I n n e r e n M i s s i o n der deutschen evangelischen Kirche, vom Zentralausschuß für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, Berlin 1899 und S o z i a l e s A d r e ß b u c h , herausgegeben vom Volksverein für das katholische Deutschland, Kevelaer 1904. Endlich sind an verschiedenen Stellen für einzelne Zweige der Wohlfahrtspflege spezielle Nachweisungen, so im „ R a t g e b e r des Vereins der Freundinnen junger Mädchen", über Heimaten, Herbergen, Heimat- und Jungfrauenvereine, Stellenvermittlungen, Hospize, Erholungshäuser und ebenso im „Handbuch des Mädchenschutzes", im I. Bericht des „Sozialen Museums" über Volksbureaus,

Adressen der sozialen Fürsorge.

XV

Rechtsschutzstellen und Arbeitersekretariate, im „Roten Kreuz" über die Verbände freiwilliger Krankenpfleger im Kriege u. a. m. veröffentlicht. Doch sind diese Verzeichnisse in der Hauptsache immerhin nur einem beschränkten Kreise bequem erreichbar. Der Verfasser glaubt, innerhalb des diesem Buche gesteckten Rahmens mit dem nachfolgenden Adressenverzeichnis, das in erster Linie die Zentralstellen der sozialen Fürsorge berücksichtigt, einem praktischen Bedürfnisse zu dienen. Die Anordnung schließt sich im allgemeinen der Einteilung des Buches an. Einzelne Vereine sind nur aus besonderen Gründen genannt. Der Verfasser wird für alle Ergänzungen, Berichtigungen und Vorschläge zu Verbesserungen zu bestem Danke verbunden sein.

I . Gesellschaft für soziale Re- Berlin, Vors. Dr. Frhr. v. Berlepsch, Staatsminister, S e e b a c h , Kreis form Langensalza. — Gen.-Sekr. Prof. Dr. E. F r a n c k e , Berlin W. 30, Nollendorfstraße 29/30. Berlin W. 30, Prof. Dr. E. Francke, Bureau für Sozialpolitik Nollendorfstraße 29/30. I I . Mädchen- u. Frauengruppen Berlin, Frl. Alice Salomon, Friedrich für soziale Hilfsarbeit Wilhelmstraße 7. Berlin-Zehlendorf, Prof. Dr. Zimmer. Frauendienst-Genossenschaft Women's University Settlement London 44, Nelson Square, Blackfriars Road S.E. siehe Charities Register and Digest. Sonstige Settlements Hamburg, Senator Dr. Traun. Gesellschaft Volksheim Zentrale für private Fürsorge Frankfurt a. M., Direktor Dr. Klumker, Hochstraße. 25. Frankfurt a. M., Dr. Philipp Stein, Soziales Museum Börsenstraße 20. Institut für Gemeinwohl G. m. Frankfurt a. M., Guiollettstraße 18. b. H. Erziehungsanstalt für soziale Amsterdam, Frl. E. Boissevain, Ons Huis, Rozenstraat. Arbeit I I I . Freie kirchlich-soziale Konferenz Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen Z.-St. f. A.-W.-E., Abteilung für Armenpflege u. Wohltätigkeit

Berlin N. 24, Generalsekretär Lie. Mumm, Auguststraße 82. Leipzig, Stadtrat Ludwig-Wolf, Obstmarkt. BerlinSW., Dessauerstraße 14. Vors. Geheim. Ober-Reg.-Rat Dr. Post. Berlin SW., Stadtrat Dr. Münsterberg, Dessauerstraße 14.

XVI

Adressen der sozialen Fürsorge.

Z.-St. f. A.-W.-E., Ausschuß für Berlin, Geschäftsführer H. Sohnrey, Steglitz, Albrechtstraße 90. Wohlfahrtspflege auf dem Lande Musée social Paris, 5 rue les Cases, Directeur Gér. L. Mabilleau. Ständige Ausstellung für Ar- Charlottenburg, Fraunhoferstr. 11/12. beiterwohlfahrt Museum f. Arbeiter-Wohlfahrts- München, Kegelhof 3 (B. Maximilianstraße 14). einrichtungen Zentralverein für das Wohl der Schöneberg bei Berlin, Stubenrauchstraße 8. arbeitenden Klassen M.-Gladbach, Generaldirektor Dr. Volksverein für das katholische A. Pieper. Deutschland, Zentralstelle M.-Gladbach, Generaldirektor Dr. Die soziale Auskunftsstelle A. Pieper. Charitasverband für das katho- Freiburg i. Br., Msgr. Dr. Lorenz Werthmann, Charitasstift. lische Deutschland Office central des Institutions Paris, 175 Boulevard St. Germain. charitables Charity Organisation Society London W.C., 15 Buckingham Street, Strand. Gen.-Sekretär C. S. Loch. Sonstige in England u. in den siehe Charities Register and Digest Vereinigten Staaten S. 4 ff. I T . Zentralkomitee d. Deutschen Vereine vom Roten Kreuz Vaterländischer Frauenverein, Hauptverein Bayerischer Frauenverein vom Roten Kreuz Badischer Frauenverein*) Zentralausschuß für die Innere Mission der d. evang: Kirche. Generalkonferenz der Diakonissen-Mutterhäuser Konferenz der Brüderhäuser u. Diakonenanstalten (Wanderkonferenz) Heilsarmee

Berlin W., Professor Dr. Pannwitz, Wilhelmstraße 73. Berlin NW.7, Unter den Linden 72/73. München,Zentralkomitee, Nymphenburgerstraße 163. Karlsruhe, Gartenstraße 47. Berlin W. 35, Genthinerstraße 38. Kaiserswerth a. Rh., Pastor Zöllner. Berlin-Moabit, Pastor Philipps, Johannisstift. Berlin SW., Nationales quartier, Blücherplatz 1.

Haupt-

Landes- u. Provinzialzentralen : Bergischer Verein für Gemein- Barmen, Kommerzienrat Dr. Wittenwohl stein. St. Johannisverein (Bayern) München, Kassier: Min.-Sekretär Eimer, Theatinerstraße 21/1. *) Außerdem Landesverbän le in Sachsen, Württemberg, Hessen, Mecklenburg und Weimar.

Adressen der sozialen Fürsorge.

Zentralleitung des Württembergischen Wohltätigkeitsvereins Verein zurFörderung des Wohls der arbeitenden Klassen im Kreise Waldenburg Linksrheinischer Verein für Gemeinwohl Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit (Reg.Bezirk Aachen) Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde „Arbeiterwohl" Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft T . Auskunftsstelle d. Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur Verein für Berliner Stadtmission Gemeinnütziger Verein Verein Volkswohl Gesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde Hainburger patriotische Gesellschaft Gemeinnützige Gesellschaft Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen Stadtvereine für Innere Mission

XVII

Stuttgart, Oberregierungsrat Falch, Königstraße 74. Waldenburg in Schlesien, Vorsitzender Oeh. Regierungsrat Dr. Ritter, Generalsekretär Eisner. M.-Gladbach. Aachen. M.-Gladbach, Fabrikant Fr. Brandts. Zürich, Professor F. Hunziker, Mühlbachstraße 32. Berlin W., Dr. Albert Levy, Unter den Linden 16. Berlin SW., Stadtmissionshaus, Johanniterstraße 6. ! Dresden, Jüdenhof 5/1. | Dresden, Professor Dr. V. Böhmert, | Königsbrückerstraße 21. Frankfurt a. M., Lahnstraße 1. Kiel. Hamburg. Leipzig, Justizrat Gluse. Stuttgart. in zahlreichen Städten.

Ortliche Zentralvereine für in zahlreichen größeren Städten, praktische Armenpflege: hievon seien a n g e f ü h r t : Verein gegen Verarmung Verein gegen Armennot Bettelei Verein zu Rat und Tat Verein gegen Armennot Bettelei.

Berlin, Wirkl. Geh. Legationsrat Reichardt, Deutscher Dom, Gensdarmenmarkt. und Breslau. Chemnitz, Dresdenerstraße 1. und Dresden, Elbgäßchen 8 (Vereinshaus).

XVIII

Adressen der sozialen Fürsorge.

Verein zu Rat und Tat Armenverein Verein für freiwillige Armenpflege Verein für freiwillige Armenpflege Generalrat d. Vincentiusvereine Vincentiusvereine

Dresden, Schießgasse 6/II. Frankfurt a. M., Predigerstraße 3. Hannover. München, Justizrat Hausmann, Salvatorstraße 16. Paris, 6 rue Fürstenberg. in zahlreichen Städten.

Dresden, Professor Dr. Schloßmann, Johannstadt. T I I . Deutscher Verein für Leipzig, Direktor Dr. Pabst, ScharnKnabenhandarbeit (Lehrerhorststraße 19. seminar) Zentralstelle der Vereinigungen Berlin, Stadtrat Seiberg, AugustfürSommerpflege in Deutschstraße 91/11. land T l . Säuglingsheim

T m . Verband deutscher Ret- Berlin W. 35, P. Fritsch, Genthinertungshäuser und Erziehungsstraße 38/3. vereine Society for Prevention of Cru- London W.C., Leicester Square. elties against children I X . Verein zur Förderung der Berlin N., Schönhauserallee 73. Interessen der Blinden Zentralverein für das Wohl der Berlin NO., Elisabethstraße 45a. Taubstummen Viktoria X. Letteverein zur Förderung : Berlin W., Lettehaus, Luiseplatz 6 (BesichtigungFreitag höherer Bildung und Erwerbs10 Uhr). fähigkeit des weiblichen Geschlechts Deutscher Nationalverein der Berlin W., Frl. A. Vollmar, Leipzigerplatz 5. Freundinnen junger Mädchen Marianischer Mädchenschutz- München, Frau Gräfin P r e y s i n g , Bureau Tegernseerlandstraße 2/01. verein in Bayern Internationaler Verband der Freiburg i. d. Schweiz. kath. Mädchenschutzvereine Verein zur Fürsorge für die Berlin N., Tieckstraße 17. weibliche Jugend Vorständeverband der evang. Berlin, Pastor J. Burckhardt, Tieckstraße 17. ungfrauenvereine Deutschanas Deutsches Nationalkomitee zur Berlin W. 62, Lützowplatz 14. Bekämpfung des Mädchenhandels Internationales Bureau zur Be- London. kämpfung d. Mädchenhandels

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Adressen der sozialen Fürsorge.

X I . Deutscher Verein für das Fortbildungsschulwesen Nationalvereinigung der evang. iinglingsbündnisse in Deutschland Generalpräses der katholischen Gesellenvereine Komitee für deutsche evangelische Seemannsmission Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger

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XIX

Leipzig-Lindenau, Direktor Pache. Barmen, P. Klug. Köln, Rektor Franz Schweitzer. Berlin W. 35, P. Fritsch, Genthinerstraße 38. Bremen.

X I I . Verband deutscher Ge- Frankfurt a. M., Stadtrat Dr. Flesch. werbegerichte Internationales Arbeitsamt Basel, Prof. Stefan Bauer. Verband deutscher Arbeits- Berlin C., Dr. F r e u n d , Klosterstraße 41. nachweise Verband bayerischer Arbeits- München, Rechtsrat Dr. Menzinger, Rathaus. nachweise Verein Stellenvermittlung Hamburg, Große Theaterstraße 24/11. Gesamtverband der evang. Ar- M.-Gladbach, Pfarrer Lic. Weber. beitervereine Deutschlands Generalsekretariat der kathol. Berlin, Kaiserstraße 97. Arbeitervereine Generalkommission der Ge- Berlin SO., Engelufer, Vorsitzender werkschaftlichen ZentralverDr. Legren, Mitglied d. Reichstags. bände Gesamtverband d. christlichen München-Gladbach, Joh. Giesberts, Bettratherstraße 3. GewerkschaftenDeutschlands Verband der deutschen Gewerk- Berlin, Dr. Max Hirsch. vereine Generalsekretariat der christ- Köln a. Rh., A. Stegerwald, Palmlichen Gewerkschaften straße 14. Verzeichnis siehe Soziales Museum, Arbeitersekretariate I. Jahresbericht, Anlage I. Verzeichnis kath. Volksbureaus, Volksbureaus siehe Soziales Museum, I. Jahresbericht, Anlage II. Rechtsschutzstellen Verzeichnis siehe Soziales Museum, I. Jahresbericht, Anlage III. X I I I . V e r b a n d d e r a u f d e r G r u n d - Berlin-Großlichterfelde, Prof. Dr. Albrecht, Schillerstraße 11. lage des gemeinschaftlichen Eigentums stehenden deutschen Baugenossenschaften Verband deutscher Baugenos- Blumenthal a. Weser, Landrat Bertsenschaften hold.

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Adressen der sozialen Fürsorge.

Deutscher Verein „Arbeiter- Bielefeld-Gadderbaum, P. v. Bodelheim" schwingh. Hessischer Zentralverein für Er- Darmstadt, Wilhelminenstraße 3. richtung billiger Wohnungen Rheinischer Verein zur För- Düsseldorf, Adersstraße 1. derung des Arbeiterwohnungswesens Verband der Rheinischen Bau- Düsseldorf, Adersstraße 1. genossenschaften Verband Deutscher Mieter- Geschäftsstelle Leipzig, Wintervereine gartenstraße 15. Verband schleswig-holsteini- Vorsitzender Landesversicherungsscher Baugenossenschaften rat Hansen-Kiel. Verein für Förderung des Ar- Frankfurt a. M., Börsenstraße 20. beiterwohnungswesens u. verwandte Bestrebungen Verein für Verbesserung der München, Geschäftsstelle Thal 1/1. Wohnungsverhältnisse Verein Reichswohnungsgesetz Frankfurt a. M., Brönnerstraße 14. (Deutscher Verein für Wohnungsreform) Verein zur Bekämpfung der Wiesbaden. Schwindsuchtsgefahr und zur Förderung desBaues gesunder und billiger Wohnungen im Reg.-Bezirk Wiesbaden Westfälischer Verein zur För- MUnster, Bispinghof 3. Vorsitzende: derung des KleinwohnungsLandesrat Dr. Althofi. wesens Deutsche Gartenstadtgesell- Schlachtensee bei Berlin, A. Otto, schaft Seestr. 35. XIV. Allgemeiner Verband der Berlin-Charlottenburg, Dr. Hans auf Selbsthilfe beruhenden Criiger, Grolmanstraße 58. deutschen Erwerbs- u. Wirtschaftsgenossenschaften Zentralverband der deutschen Dresden,Verbandsdirekt. Radestock. Konsumvereine XV. Gesellschaft für Verbrei- Berlin NW., Liibeckerstraße 6. tung von Volksbildung Ausschuß für Volksvorlesungen Frankfurt a./M., Professor Dr. Mannheimer, Schmidtstube 7. Wissenschaftl. Zentralverein, Berlin W., Gen.-Sekretär Dr. Hirsct, Genthinerstraße 14. Humboldtakademie Gehestiftung Dresden, Regierungsrat Dr.Schahzc, Große Brudergasse 21/1.

Adressen der sozialen Fürsorge.

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Verband für volkstümlicheKurse Berlin SW., Geh. Oberregierungsrat Dr. Post, Dessauerstraße 14. von Hochschullehrern des Deutschen Reichs Zentralausschuß für Volks- u. Görlitz, Frhr. v. Schenckendorff. Jugendspiele Verband derLeipzigerSchreber- Leipzig. vereine X V I . Deutscher Sparkassenverband Landwirtschaftliche Zentraldarlehenskasse für Deutschland Generalverband ländlicher Genossenschaften für Deutschland (Raiffeisenverband) Allgemeiner Verband der deutschen landwirtschaftlichenGenossenschaften X V I I . Verband der deutschen Schutzvereine für entlassene Gefangene Rheinisch-WestfälischeGefängnisgesellschaft (mit 63 Einzelvereinen) Verein zur Obsorge für entlassene Strafgefangene (zugleich Zentralstelle fiir alle bayerischen Obsorgevereine) Verein „Dienst an Arbeitlosen" X V i n . Deutscher Herbergsverein (mit 14 Unterverbänden) Gesamtverband deutscher Verpflegungsstationen Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien Konferenz der Frauenheime u. Zufluchtsstätten Zentralauskunftsstelle für Auswanderer St. Raphaels-Verein zum Schutz katn. deutscher Auswanderer

Hannover, Direktor Drape. Neuwied, Generaldirektor Rexerodt. Neuwied, derselbe. Darmstadt.

Karlsruhe, Geh. Oberfinanzrat Fuchs, Herrenstraße 1. Düsseltal bei Düsseldorf, Direktor Pastor Karsch. München, Weinstraße 13.

Berlin N. 31, Ackerstraße 52. Bethel bei Bielefeld, Pastor Mörchen. Bethel bei Bielefeld, Pastor Mörchen. Potsdam, Geh. Regierungsrat von Massow, Lenndstraße 12. Elberfeld, Pastor Heinersdorf, Straßburgerstraße. Berlin W. Limburg a. d. Lahn.

XIX. Deutscher Verein f. öffent- Kiel, Vors. Oberbürgermeister Fuß. Köln, S. Dr. Pröbsting, Zeughausstr.9. liche Gesundheitspflege Deutsche Gesellschaft für öffent- Charlottenburg. Schriftführer Prof. liche Gesundheitspflege Proskauer, Uniandstraße I84/I.

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Adressen der sozialen Fürsorge.

Deutscher Verein für Volkshygiene Niederrheinischer Verein für öffentliche Gesundheitspflege DeutscheGesellschaft fürVolksbäder Berliner Verein für häusliche Gesundheitspflege Deutscher Verein gegen Mißbrauch geistiger Getränke Internationaler Bund derMäßigkeitsvereine des Blauen Kreuzes Deutscher Verein für Gasthausreform Fédération abolitionniste Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Allg. Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine Bund des Weißen Kreuzes

Berlin W.,Dr.Beerwald,Motzstraße 77.

X X . Evang. Diakonieverein Abteilung für Walderholungsstätten des Volksheilstättenvereins vom Roten Kreuz Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten Deutsches Zentralkomitee zur Errichtung von Heilstätten für Lungenkranke

Berlin-Zehlendorf, Prof. Dr. Zimmer. Berlin, Fr. Staatsminister Exzellenz Dr. Studt, Unter den Linden 4.

Düsseldorf. Berlin, Prof. Dr. Lassar, Karlstraße 19. Berlin, Steinmetzstraße 16. Berlin, Dr. v. Strauß und Torney, Fasanenstraße 74. Bern. Weimar, Dr. W. Bode. Genf, Rue de Saint Léger 6. Berlin W., Potsdamerstraße 20. Berlin, Bureau Yorkstraße 84a, Vors. P. Lie. Weber, M.-Gladbach. Berlin, Forstmeister a.D.v. Rothkirch

Berlin W., Königin Augustastraße5l.

Berlin, Gen.-Sekretär Professor Dr. Pannwitz, Geschäftsstelle BerlinCharlottenburg 2 , Hardenbergstraße 1. Volksheilstättenverein vom Charlottenburg, Schriftführer Prof. Roten Kreuz Dr. Pannwitz, Knesebeckstraße 29. Verein zur Bekämpfung der Kassel. Schwindsuchtsgefahr für die Provinz Hessen-Nassau und das Fürstentum Waldeck Genossenschaft freiwilliger Berlin W. 64, Ministerialdirektor Krankenpfleger im Kriege Wirkl. Geh. Oberregierungsrat D. Schwarzkopf, Unter den Linden 4.

Verzeichnis allgemeiner Bücher und Zeitschriften. Zur weiteren Verfolgung der in den vorliegenden Blättern g e g e b e n e n Anregungen m ö g e in Ergänzung der bei den einzelnen Abschnitten angegebenen Literatur auf nachstehende allgemeine Werke, Schriftenreihen und Zeitschriften aus dem Gebiet der sozialen F ü r s o r g e hingewiesen w e r d e n : I. Prof. Dr. H. A l b r e c h t , Handbuch der Sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland. Berlin, Heymann. 1902. Heinrich . S o h n r e y , Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege. Berlin, Deutscher Dorfschriftenverlag. (2) 1901. S t a t i s t i k d e r I n n e r e n M i s s i o n der deutschen evangelischen Kirche. Berlin, Zentralausschuß für Innere Mission. 1899. D. Th. S c h ä f e r , Leitfaden der Inneren Mission. Hamburg. (4) 1903. E v a n g e l i s c h e s V o l k s l e x i k o n . Redigiert von D. Th. Schäfer. Bielefeld und Leipzig, Velhagen & Klasing. 1900. Dr. E. M ü n s t e r b e r g , Die Armenpflege. Berlin, Liebmann. 1897. — Generalbericht über die Tätigkeit des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit während der ersten 15 Jahre seines Bestehens 1880 bis 1895. Leipzig, Duncker & Humblot. 1896. — Zentralstellen für Armenpflege und Wohltätigkeit. Jena, Fischer. 1897. — Bibliographie des Armenwesens. Berlin, Heymann 1900, 1902. C h a r i t i e s Register and Digest. London u . a . m . Dr. Otto T h i s s e n , Soziale Tätigkeit der Gemeinden. M.-Gladbach. (2) 1903.

II. Reihen von Schriften. Schriften der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Berlin, C. Heymann. Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit. Leipzig, Duncker & Humblot.

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Verzeichnis allgemeiner Bücher und Zeitschriften.

Schriften der Gesellschaft für soziale Reform. Jena, Fischer. Hefte der freien kirchlich-sozialen Konferenz. Berlin, Vaterland. Verlag und K.-A. Verhandlungen des evangelisch-sozialen Kongresses (jährlich). Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Charitas-Schriften. Freiburg i. Br., Charitasverband. Soziale Tagesfragen. Zwanglose Hefte. Herausgegeben vom Volksverein für das katholische Deutschland. M.-Gladbach.

III. Zeitschriften. S o z i a l e P r a x i s . Herausgegeben von Prof. Dr. E. Francke. V o l k s w o h l . Herausgegeben von Prof. Dr. V. Böhmert und Dr. P. Scheven. „ C o n c o r d i a . " Zeitschrift der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Z e i t s c h r i f t f ü r d a s A r m e n w e s e n . Organ der Z.-St. f. A.-W.-E., Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit. D e r A r b e i t e r f r e u n d . Organ des Zentral Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen. D a s R o t e K r e u z . Offizielle Zeitschrift der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz. Blätter für Volksgesundheitspflege. Organ des Deutschen Vereins für Volkshygiene. F l i e g e n d e B l ä t t e r a u s d e m R a u h e n H a u s e . Organ des Zentralausschusses für Innere Mission. C h a r i t a s - B l ä t t e r . Herausgegeben vom Charitasverband. T h e C h a r i t y O r g a n i s a t i o n R e v i e w . H e r a u s g e g e b e n von der Charity Organisation Society. London.

Druckfehlerberichtigung. S. 31, Überschrift zu lesen: „Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen".

I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge. Die Entwicklung von der Armenpflege u. Wohltätigkeit zur Wohlfahrtspflege (sozialen Fürsorge). Die vorbeugende Aufgabe der Wohlfahrtspflege. Die Definition der sozialen Fürsorge. Wohlfahrtspflege und Verbesserung der Rasse. Abgrenzung der amtlichen und privaten Wohlfahrtspflege. Gemeindliche soziale Politik und Praxis.

Soziale Kommissionen. Soziale Beigeordnete. Soziale Aufgaben der Frau. Die Industriellen als Organe der Wohlfahrtspflege. Die Stellung der Arbeiterschaft zu den Wohlfahrtseinrichtungen. Gesellschaft für soziale Reform. Bureau für Sozialpolitik in Berlin. Zentralverwaltung der sozialen Fürsorge.

Die Entwicklung von der Armenpflege und Wohltätigkeit zur Wohlfahrtspflege (sozialen Fürsorge). Dr. Robert v. Erdberg, Die Wohlfahrtspflege, eine sozialwissenschaftliche Sudie. Jena 1903. — E. Münsterberg, Die Armenpflege. Berlin 1897. Durch Jahrhunderte hat es als die wichtigste Aufgabe d e r Nächstenliebe gegolten, dem Armen und Notleidenden in seiner Bedrängnis beizustehen. Durch die allmähliche öffentliche Organisation dieser dem einzelnen Mitmenschen — individuell — gebrachten Hilfe entstand unsere heutige A r m e n p f l e g e . Die daneben bestehende private F ü r s o r g e für P e r s o n e n , die, wenn auch nicht a r m , so doch aus irgend welchen Gründen unterstützungsbedürftig erscheinen, wird in ihren vielgestaltigen Formen als W o h l t ä t i g k e i t bezeichnet. Die Leistungen der privaten Wohltätigkeit sind, solange sie von einzelnen P e r sonen , Wohltätern a u s g e h e n , in hohem Maße Zufälligkeiten und außerdem, insbesondere bei dem Almosengeben, häufigem Mißbrauch ausgesetzt. S i n g e r , Soziale Fürsorge.

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I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

Die Übung der Wohltätigkeit ist in der Gegenwart vielfach von Einzelpersonen an Wohltätigkeitsvereine übergegangen. Auch bei diesen Vereinen tritt häufig eine gewisse Zufälligkeit ihrer Entwicklung und eine sehr erhebliche Zersplitterung ihrer Leistungen, überhaupt der Mangel einer planmäßigen Berücksichtigung der Gesamtaufgaben der sozialen Fürsorge hervor. Da der Umstand, daß jemand in Armut oder Not geraten, sehr häufig dadurch hervorgerufen wird, daß irgend ein Übelstand, z. B. Krankheit oder Trunksucht, schon weit eingedrungen ist, können oft die Bemühungen, dem Armen zu helfen, zu keinem Erfolge oder doch keinem befriedigenden, dem Arbeits- und Geldaufwand entsprechenden, dauernden Erfolge mehr führen. Von diesen Erwägungen ausgehend, wird in den Wohltätigkeitsbestrebungen heute immer wachsendes Gewicht darauf gelegt, nicht nur den Bedürftigen in seiner Notlage zu unterstützen, sondern durch eine v o r b e u g e n d e , s y s t e m a t i s c h e Fürsorge, .die sich nicht mehr an einzelne, sondern an ganze Volksklassen wendet, nach Möglichkeit zu verhindern, daß solche Notlagen entstehen. Mit diesem zielbewußten, umfassenden, tunlichst vorbeugenden Vorgehen tritt an Stelle der Wohltätigkeit dann die W o h l f a h r t s p f l e g e oder s o z i a l e F ü r s o r g e . Für den vollen Erfolg der „sozialen Fürsorge" ist wichtig, daß sie sich nicht nur auf gelegentliche Erfahrungen stützt, sondern auf möglichst vollkommene wissenschaftliche und technische Grundlagen, auf die gesamten psychologischen und biologischen, sozialen und ethischen, ebenso wie wirtschaftlichen und verwaltungsrechtlichen Fortschritte aufbaut und diese berücksichtigt. So ist für die soziale Fürsorge die Tätigkeit der gebildeten und wohlhabenden Klassen, welche Wohltaten zu erweisen bereit sind, nicht genügend, sondern in zweckentsprechender Organisation muß auch die M i t w i r k u n g der Kreise, denen die Wohlfahrtseinrichtungen zugute kommen sollen, wenn dies auch manchmal mit Schwierigkeiten verknüpft ist, erstrebt werden. In dieser Auffassung der sozialen Fürsorge ist auch für jene Gebildeten, welche sich der Arbeit widmen wollen, eine t h e o r e t i s c h e und p r a k t i s c h e E i n f ü h r u n g in die speziellen Arbeitsgebiete wichtig, und sind die hierfür entstehenden

I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

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Einrichtungen besonders zu begrüßen. Hierzu mitzuhelfen, ist ein Hauptziel der vorliegenden Blätter. Nicht minder wichtig ist, daß die soziale Fürsorge sich Z e n t r a l s t e l l e n schafft, und zwar nach doppelter Richtung. Solche Zentralstellen sind aus praktischen Gründen erforderlich, insbesondere für die Gewinnung eines Z u s a m m e n h a n g e s zwischen den bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen und für deren Arbeit mit gemeinsamem Ziele. Nicht minder bedeutend sind aber jene Zentralstellen, die die jüngste Zeit entstehen sieht, die als w i s s e n s c h a f t l i c h e O r g a n e zur Klärung aller Grundfragen der sozialen Fürsorge und zur Förderung einer zeitgemäßen Entwicklung aller Einzelrichtungen dienen sollen. Diese wenigen Beispiele sollen nur andeuten, wie die Aufgaben der Wohlfahrtspflege in der Gegenwart sicher weitern und wie die Wege zum Wohltun auf eine neue wissenschaftlich und praktisch durchzuarbeitende Grundlage gestellt werden müssen.

Die vorbeugende Aufgabe der Wohlfahrtspflege. In einem gewissen Sinne finden wir eine Analogie für den Nachdruck, der in der Wohlfahrtspflege auf eine zielbewußte vorbeugende Tätigkeit gelegt wird, in der modernen Richtung der Hygiene, welche ebenso bestrebt ist, durch die Schaffung von gesunden Lebensbedingungen Krankheiten vorzubeugen und hierdurch die H e i l k u n d e so weit als möglich auf das Gebiet der unvermeidlichen Krankheiten und Schäden zu beschränken. Nach dem Grundsatz „vorbeugen ist besser als heilen" ist also auch das Verhältnis von Wohlfahrtspflege einerseits, von Wohltätigkeit und Armenpflege anderseits aufzufassen. Sehr schön führt dies M ü n s t e r b e r g in seiner „Armenpflege" a u s : „Wen allgemeine Wohlfahrtsmaßregeln vor dem Verfall in Armut nicht zu bewahren vermocht haben, wer im Falle der geschwundenen Erwerbsfähigkeit oder des Mangels an Arbeit weder auf eigene Mittel, noch auf die Hilfe von dritten Verpflichteten zurückgreifen kann, ist angewiesen auf die Hilfe derjenigen,, die zu ihm in keinem persönlichen Verhältnisse stehen . . . . So steht, was nicht oft genug, nicht eindringlich genug betont werden kann, die A r m e n p f l e g e an l e t z t e r Stelle aller Maßregeln wider die Armut, und nur wenn sie bescheiden erkennt, daß ihr 1*

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I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

der letzte Platz zukommt, wird sie in gewissen Grenzen nützlich wirken können. Wer dem Bedürftigen dazu hilft, daß er sich selbst helfen kann, tut b e s s e r e s als der, der den Armen unterstützt. Das ernstliche Bestreben j e d e s wahren Freundes der Armen kann nur darauf gerichtet sein, die Armenpflege selbst so überflüssig wie möglich zu machen."

Die Definition der sozialen Fürsorge. Die verschiedenen D e f i n i t i o n e n der W o h l f a h r t s p f l e g e in diesem S i n n e sind von Erdberg in seiner gleichgenannten Broschüre kritisch untersucht worden. Erdberg definiert schließlich s e l b s t : „Wohlfahrtseinrichtungen sind Einrichtungen, welche beruhen auf freiwilliger Tätigkeit der Gesellschaft und welche geschaffen werden zur Linderung oder Beseitigung solcher aus der wirtschaftlichen Entwicklung notwendig hervorgehender s o z i a l e r Schäden, die auf dem Wege rechtlicher Zwangsnormen noch nicht oder überhaupt nicht gemildert oder beseitigt werden können." E s ist wohl einseitig, die wirtschaftliche Entwicklung als die alleinige Quelle der sozialen Schäden, welche die Hilfe der Wohlfahrtspflege verlangen, aufzustellen. Gibt es doch auf dem Gebiete des körperlichen Befindens und der geistigen und sittlichen Befähigung des Menschen eine Reihe von Momenten, welche von der wirtschaftlichen Entwicklung absolut unabhängig sind und doch das Eintreten der Wohlfahrtspflege erfordern. Als private W o h l f a h r t s p f l e g e oder s o z i a l e F ü r s o r g e dürfen wir also v e r s t e h e n : die G e s a m t h e i t d e r n i c h t g e setzlichen, aber doch planmäßig organisierten Fürsorge und der a l l g e m e i n e n M a ß n a h m e n zur F ö r d e rung der geistigen, körperlichen, sittlichen und w i r t s c h a f t l i c h e n E n t w i c k l u n g d e s V o l k e s . Wohltätigkeit und Armenpflege bilden in diesem Sinne die Ausläufer der Wohlfahrtspflege.

Wohlfahrtspflege und Verbesserung der Rasse. Th. Ribot, Die Vererbung. Psychologische Untersuchung ihrer Gesetze, ethischen und sozialen Konsequenzen. Leipzig 1895. — Dr. A. Plötz, Sozialpolitik und Rassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnisse. Archiv f. soz. Hyg. u. Stat. 1902. — Dr. W. Schallmayer, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie.

I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

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Preisschrift aus der Sammlung „Natur und Staat". H e r a u s g e g e b e n v o n Prof. Dr. E. Ziegler. Jena 1903. Mit zahlreichen Literaturangaben. — G. Schmoller, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. 1. Teil. Leipzig 1900.

Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit hat die soziologische Wissenschaft begonnen, die natürliche Gestaltung der Gesellschaft auf wissenschaftlicher Grundlage zu studieren. Trotz mancher hierbei unterlaufener Irrtümer kann für den naturwissenschaftlich gebildeten Menschen kein Zweifel darüber bestehen, d a ß die Gesellschaft als Gesamtheit der Individuen von den Naturgesetzen der Entwicklung abhängig ist. Es sind die Gesetze der Vererbung, der Variabilität, der überschüssigen Fruchtbarkeit, der natürlichen Auslese oder des Überlebens der Bestangepaßten sowie der geschlechtlichen Auslese, deren letztere wieder unter dem Begriffe des Kampfes ums Dasein zusammengefaßt werden. Diese Gesetze treten beim Menschen weniger greifbar zutage, weil wir sie nicht wie beim Tiere durch willkürliche Experimente der Paarung etc. demonstrieren können und weil ihre Wirkung bei den Einzelindividuen durch zahlreiche sonstige unabhängige Momente modifiziert wird. Indessen haben zahlreiche Beobachtungen und ausdauernde Forschungen genügende Beweise für ihre Gültigkeit erbracht. Zahlreiche Forscher sind der Meinung, der Schutz d e r S c h w a c h e n werde schließlich durch ihre Erhaltung und Mischung mit den Starken das Niveau der allgemeinen Tüchtigkeit herabdrücken und der Weiterentwicklung der menschlichen Anlagen einen Riegel vorschieben. Auch wenn es heute noch verfrüht erscheint, an der Hand dieser Naturgesetze ein abschließendes Urteil über die einzelnen Maßnahmen der sozialen Fürsorge zu bilden, so wird doch die künftige wissenschaftliche Kritik hier einsetzen und die s e l e k t o r i s c h e , n o n s e l e k t o r i s c h e oder a n t i s e l e k t o r i s c h e Wirkung der einzelnen Maßnahmen prüfen müssen. Insoweit dann Maßnahmen und Einrichtungen mit a n t i s e l e k t o r i s c h e r Wirkung aus anderen Gründen, um sonstige große Übelstände zu vermeiden, nicht umgangen werden können (z. B. die Fürsorge für Arbeitslose, die Armenpflege), werden dann jene Beschränkungen und Vorsichtsmaßregeln festgelegt werden müssen, welche die Nachteile der Einrichtungen in bezug auf

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I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

Verbesserung der Rasse möglichst beseitigen. Ansätze in dieser Richtung sind bereits mannigfach vorhanden. Ein wertvolles Ergebnis ist es, wenn wir heute zur Fixierung eines allgemeinen Grundsatzes und Richtpunktes gelangen. Für die R a s s e , worunter eine durch Generationen lebende Gesamtheit von Menschen in bezug auf ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften verstanden sein soll, ist es durchaus wichtig die soziale Fürsorge in der Richtung zu betreiben, daß ihre Förderung und Unterstützung möglichst tauglichen Elementen zugewendet wird. Wir werden sicher größeren Fortschritt der menschlichen Rasse, der kommenden Generationen, erwarten dürfen, wenn wir deren tüchtige Elemente fördern, als wenn wir deren minder taugliche, vielleicht auch untaugliche Elemente über Wasser zu halten uns bestreben. Die W o h l f a h r t s p f l e g e im engeren Sinne steht also in bezug auf den Fortschritt der Gesamtheit, im Hinblick auf die Verbesserung der Rasse w e i t ü b e r der A r m e n p f l e g e , so daß d a s , was Münsterberg in erster Linie aus sittlichen und wirtschaftlichen Gründen sagt, daß unser Ziel sein müsse, die Armenpflege möglichst überflüssig zu machen, in noch erhöhtem Maße aus der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Entwicklung der Gesellschaft sich ergibt. Wie die Hygiene, die moderne Richtung der öffentlichen Gesundheitspflege, den Standard einer ganzen Nation zu heben geeignet ist, zeigen uns aufs klarste jene Nationen, welche in der öffentlichen Gesundheitspflege der deutschen vorangegangen sind, und es kann wohl kein Zweifel bestehen, daß in dem gleichen Sinne die Wohlfahrtspflege, nicht aber die Armenpflege zur Verbesserung der Rasse führt. Wir dürfen hierbei nicht übersehen, daß weder Wohlfahrtspflege, noch öffentliche Gesundheitspflege bereits eine ideale Höhe und Vollkommenheit erreicht haben, daß wir also vorläufig noch damit rechnen müssen, daß durch unvorhergesehene körperliche oder wirtschaftliche Schäden am einzelnen d e r Eintritt der Krankenpflege und der Armenpflege zur Wiederherstellung sonst tüchtiger Elemente notwendig sind. Es ändert dies aber nichts an dem prinzipiellen Vorrang, der sozialen Maßnahmen zur Vorbeuge von Schäden zukommt.

I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

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Abgrenzung der amtlichen und privaten Wohlfahrtspflege. Dr. v. Erdberg, Die Wohlfahrtspflege etc. J e nach der volkswirtschaftlichen und kulturellen und insbesondere der sozialen Entwicklung eines Volkes ist der Umfang der staatlichen Wohlfahrtpflege und danach auch das der privaten Wohlfahrtspflege übrigbleibende Gebiet verschieden abgegrenzt. E s können also auch keine allgemeinen absoluten Grenzlinien gezogen werden, um so mehr j a auch innerhalb j e d e s Staates diese Grenzlinie sich im Laufe der Zeit verschiebt. Immerhin aber erscheint es möglich, den Umfang der privaten Wohlfahrtspflege wenigstens prinzipiell abzugrenzen. In seinem Referat „Uber kommunale Wohlfahrtspflege" zu den Verhandlungen der VI. Konferenz der Z.-St. f. A.-W.-E. kennzeichnet Flesch die Wohlfahrtseinrichtungen als die „Experimente der Sozialwissenschaft". „Sie haben für den sozialen Fortschritt und die organische Entwicklung unserer Volkswirtschaft eine ähnliche Bedeutung, wie sie früher j e n e n unklaren Experimenten der Alchymisten und später den zielbewußten Versuchen unserer Chemiker für die Entwicklung der Naturwissenschaft zukommt." Die private Wohlfahrtspflege stellt also — und hiermit fällt ihr eine weitere wichtige Aufg a b e zu — eine Vorstufe für sozialpolitische Maßnahmen des Staates dar, der j e n e Einrichtungen leichter mit bindender Kraft einführen kann, die sich in freier Organisation bereits bewährt haben. Bezüglich der e i n z e l n e n Gebiete der Wohlfahrtspflege zeigen die Anschauungen, welche Gebiete zweckmäßig der freien Pflege zu überlassen, welch andere staatlich zu organisieren, auch zwischen den Nationen, welche sonst auf annähernd gleicher Stufe s t e h e n , große Schwankungen. In E n g l a n d z. B. geht die Tendenz im allgemeinen dahin, der privaten Wohlfahrtspflege den weitesten Spielraum zu ü b e r l a s s e n , in der Wohnungsfürsorge dagegen war das Eingreifen des Staates und der Gemeinden ein viel entschiedeneres als in Deutschland. Eine Reihe von Aufgaben der Wohlfahrtspflege ist so sehr von ö r t l i c h e n Verhältnissen abhängig, daß ihre Förderung wohl stets der privaten Initiative überlassen bleiben muß.

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I. Allgemeine F r a g e n der sozialen Fürsorge.

Gemeindliche soziale Politik und Praxis. E. M ü n s t e r b e r g , Die A u f g a b e n städtischer Sozialpolitik. Hamb u r g 1896. — Flesch, Kommunale Wohlfahrtseinrichtungen. Schriften der Z.-St. f. A.-W.-E. 1897, Nr. 12 (auch Bericht ü b e r Konferenz 10. Mai 1897). — A. D a m a s c h k e , A u f g a b e n der Gemeindepolitik (vom Gemeindesozialismus [5] 1903). — C. H u g o , Die d e u t s c h e Städteverwaltung. Ihre A u f g a b e n auf d e m Gebiete der Volksh y g i e n e , des S t ä d t e b a u e s u n d d e s Nahrungswesens. 1901. — Dr. O. T h i s s e n , Soziale Tätigkeit der Gemeinden. M.-Gladbach 1903. — Dr. A d i c k e s ( O b e r b ü r g e r m . Frankfurt a. M.) und Geh. F i n a n z r a t Dr. Beutler ( O b e r b ü r g e r m . D r e s d e n ) , Die sozialen Aufg a b e n der d e u t s c h e n Städte. Zwei V o r t r ä g e auf dem Ersten D e u t s c h e n S t ä d t e t a g D r e s d e n 1903. Die G e m e i n d e nimmt auf d e m Gebiete der. sozialen Fürsorge eine Mittelstellung insofern ein, als bei ihrem beschränkteren Umfange bereits ein liebevolleres Eingehen auf die einzelnen Gruppen v o n A n g e h ö r i g e n möglich ist und auch bei der größeren Beweglichkeit hinsichtlich der Beschlußfassung g e g e n ü b e r dem Staate, die G e m e i n d e n manche Einrichtungen mit bestimmter Zeitbegrenzung, v e r s u c h s w e i s e , einführen können. Bei den Verhandlungen d e s Verbandes „ A r b e i t e r w o h l " in Krefeld 1899 präzisierte Franz Brandts die sozialen Hauptaufgaben der G e m e i n d e n in f o l g e n d e m Überblick: Besserung der Wohnungsverhältnisse durch Beg ü n s t i g u n g e n bei E r r i c h t u n g von A r b e i t e r w o h n u n g e n , durch ents p r e c h e n d e B e a c h t u n g dieses G e s i c h t s p u n k t e s bei F e s t s e t z u n g des städtischen B e b a u u n g s p l a n e s , d u r c h Minimalvorschriften f ü r die Beschaffenheit der W o n n u n g e n und B e s c h r ä n k u n g der Zahl der Insassen, d u r c h E r r i c h t u n g eines W o h n u n g s i n s p e k t o r a t e s , durch möglichste S t e u e r e r m ä ß i g u n g d e r W o h n u n g e n der kleinen Leute, durch E r b a u u n g e i g e n e r H ä u s e r f ü r die städtischen Arbeiter und kleinen Angestellten, durch Beteiligung an g e m e i n n ü t z i g e n Baugesellschaften eventuell durch Garantieleistung für Kapitalien. H e b u n g des gesundheitlichen Zustandes durch g u t e s und billiges Wasser, Kanalisierung, Volksgärten, N a h r u n g s mittelkontrolle, Anstellung von Schulärzten. F ö r d e r u n g der Interessen des Volkes nach der g e i s t i g e n , s i t t l i c h e n u n d e r z i e h l i c h e n S e i t e durch gute, nicht überfüllte Schulen, durch E r r i c h t u n g resp. U n t e r s t ü t z u n g von Fortbildungs-, H a u s h a l t u n g s - und Handarbeitsschulen, von Volksbibliothekeri, durch Volkskonzerte, durch ortsstatutarische Einf ü h r u n g von L o h n b ü c h e r n für m i n d e r j ä h r i g e Arbeiter im Interesse d e s Familienlebens. Belehrung d e s Volkes durch öffentliche Vorträge wie Publikationen ü b e r solche Dinge, deren B e a c h t u n g besonders g e e i g n e t i s t , d a s W o h l e r g e h e n des Volkes zu fördern, dasselbe geistig und materiell zu heben. F ö r d e r u n g d e r V e r k e h r s i n t e r e s s e n durch Straßenb a h n e n mit Ausschluß übermäßig, langer Dienstzeit der dabei beschäftigten P e r s o n e n .

I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

9

Förderung der g e w e r b l i c h e n I n t e r e s s e n durch Arbeitsnachweis und Auskunftsbureau, Einführung von Gewerbegerichten und städtischen sozialen Kommissionen. K o n t r o l l e der Durchführung der gesetzlichen A r b e i t e r s c h u t z b e s t i m m u n g e n , Ergänzung derselben durch Erlaß von Ortsstatuten. W o h l g e o r d n e t e A r m e n p f l e g e , Fürsorge für städtische Arbeiter durch Wohlfahrtseinrichtungen, Pensionen.

Der im September 1903 im Anschluß an die Deutsche Städteausstellung abgehaltene Erste Deutsche Städtetag hat in den Vorträgen des Oberbürgermeisters Dr. Adickes-Frankfurt a. M. und Oberbürgermeisters Geh. Finanzrats BeutlerDresden zwei wertvolle zusammenfassende, zugleich anregende und kritische Darlegungen über die sozialen Aufgaben der deutschen Städte gebracht. Als Niederschlag der an der Spitze der Verwaltung zweier großer Gemeinwesen gewonnenen Erfahrungen werden dieselben ebenso wie als Ausdruck zweier zurzeit herrschenden Anschauungsweisen dauernde Bedeutung besitzen.

Soziale Kommissionen.

Soziale Beigeordnete.

Dr. 0 . Thissen, Soziale Tätigkeit der Gemeinden. M.-Gladbach 1903.

Wenn die Tätigkeit der Gemeinden auf den einzelnen Gebieten der Wohlfahrtspflege soweit möglich zweckmäßig bei den einzelnen Abschnitten berührt wird, so ist hier der Zentralorgane zu gedenken, die in der Gemeindeverwaltung den Fortschritten auf sozialpolitischem Gebiete folgen, einschlägige Vorlagen prüfen und selbst veranlassen sollen. Es sind dies zunächst die s o z i a l e n K o m m i s s i o n e n , deren ersprießliche Tätigkeit für die Entwicklung und Fortbildung der gemeindlichen Wohlfahrtspflege von großer Bedeutung ist. Hieran schließt sich die Aufstellung eines s o z i a l e n B e i g e o r d n e t e n , zu dessen Ressort zunächst die Ausführung der sozialpolitischen Gesetze, und zwar sowohl hinsichtlich der obligatorischen wie der fakultativen, eigentlich sozialpolitischen Aufgaben der Gemeinde gehört, der ferner das Korreferat in denjenigen Zweigen der Verwaltung zu übernehmen hätte, wo vor allem soziale Gesichtspunkte zu beobachten sind, wie Feststellung der Arbeitsverträge, Verbesserungen des Stadtbauplanes und der Stadtbauordnung, Baupolizei, Verwendung der Sparkassenüberschüsse usw. Die dritte Aufgabe des „sozialen Bei-

10

I. Allgemeine F r a g e n der sozialen Fürsorge.

g e o r d n e t e n " wäre die K e n n t n i s n a h m e v o n allen privaten

Wohl-

f a h r t s b e s t r e b u n g e n in d e r G e m e i n d e , um hierdurch ein m ö g l i c h s t g ü n s t i g e s Ineinandergreifen der öffentlichen und privaten W o h l f a h r t s b e s t r e b u n g e n bewirken zu k ö n n e n .

Soziale Aufgaben der Frau. Alice Salomon, Soziale Frauenpflichten. Berlin, O. Liebmann. 1902. — Dies, in Hillgers illustriertem Frauen-Jahrbuch 1904'05, S. 5 7 1 . — Zeitschrift für das Armenwesen 1903, S. 57. D u r c h die Tätigkeit und Stellung der Frau im e i g e n e n Haushalt muß ihr im allgemeinen eine a u s g e d e h n t e A u f g a b e bei einem g r o ß e n Teile der W o h l f a h r t s b e s t r e b u n g e n , die so vielfach auf eine V e r b e s s e r u n g d e r häuslichen Verhältnisse als letztes Ziel z u r ü c k g e h e n , z u g e s p r o c h e n werden. G a n z b e s o n d e r s wird ihre Tätigkeit a b e r dort eine e n t s c h e i d e n d e S t e l l u n g e i n n e h m e n m ü s s e n , w o es sich um A u f g a b e n handelt, die nach der Natur der Frau als Gattin und Mutter als zu ihrem e i g e n s t e n G e b i e t g e h ö r i g e r a c h t e t werden m ü s s e n . Als soziale Aufgaben — G e b i e t e d e r Frau sind d a h e r zu b e z e i c h n e n : die S o r g e für das S ä u g l i n g s und vorschulpflichtige Alter, die F ü r s o r g e im schulpflichtigen Alter, die F ü r s o r g e für verwaiste, uneheliche, gefährdete und verwahrloste Kinder mit e i n e r B e s c h r ä n k u n g hinsichtlich der reiferen männlichen J u g e n d , die Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche J u g e n d , N a h r u n g s b e s c h a f f u n g , soziale K r a n k e n - und Hauspflege, wie endlich A r m e n w e s e n . D e r Umfang des B e d ü r f n i s s e s verlangt auch für die Tätigkeit der Frau, wie a n a n d e r e r S t e l l e h e r v o r g e h o b e n , die Organisation. In vielen Punkten wird sich die Frau zu ihrer B e t ä t i g u n g auf den einzelnen F ü r s o r g e g e b i e t e n z w e c k m ä ß i g in a l l g e m e i n e r e V e r b ä n d e und V e r e i n i g u n g e n zu g e m e i n s a m e r Arbeit mit dem Manne einordnen. F e r n e r ist nicht zu ü b e r s e h e n , daß die organisierte W o h l fahrtspflege, wenn sie wirtschaftlich arbeiten soll, b e r e i t s ein g e w i s s e s M a ß von g e s c h ä f t l i c h e r P r a x i s , Objektivität im Urteil und L e b e n s e r f a h r u n g v o r a u s s e t z t . S o w e i t diese E r f o r d e r n i s s e bei der Frau in E r m a n g l u n g g e n ü g e n d e r P r a x i s sich nicht v e r einigen, wird die Mitarbeit d e s M a n n e s auch auf den für weibliche Hilfe g e e i g n e t s t e n G e b i e t e n nicht entbehrt werden k ö n n e n .

I. Allgemeine F r a g e n der sozialen Fürsorge. Anderseits

ist a b e r u n b e d i n g t zu v e r l a n g e n ,

11

daß

die F r a u

im I n t e r e s s e d e s G e m e i n w o h l s dort, wo sie b e s o n d e r s qualifiziert ist, a u c h vollständig z u r Mitarbeit h e r a n g e z o g e n wird und daß eine o r g a n i s c h e E i n g l i e d e r u n g der F r a u in die W o h l f a h r t s p f l e g e erfolgt.

Die Industriellen als Organe der Wohlfahrtspflege. Ehrentafel des „Arbeiterfreund", Zeitschrift für die Arbeiterfrage. — Dr. J. P o s t und Dr. H. A l b r e c h t , Musterstätten persönlicher F ü r s o r g e von A r b e i t g e b e r n für ihre G e s c h ä f t s a n g e h ö r i g e n . Berlin. 2 B ä n d e 1889, 1893. — Gg. Kolleck und Dr. Franz Ziegler, Private Wohlfahrtspflege für F a b r i k a r b e i t e r , B e a m t e und ihre Familien. H e r a u s g e g e b e n vom B e r g i s c h e n Verein für Gemeinwohl. Berlin 1902. F ü r die A u s g e s t a l t u n g d e r

m o d e r n e n W o h l f a h r t s p f l e g e war

e s von e n t s c h e i d e n d e m Einfluß, daß d u r c h die E n t w i c k l u n g m o d e r n e n Industrie an die S t e l l e der früheren kleinen vielfach die G r o ß b e t r i e b e mit e i n e r a u ß e r o r d e n t l i c h Zahl von A r b e i t e r n g e t r e t e n sind. Unternehmer

befindlichen

ermöglichen

der

Betriebe

gestiegenen

D e n n die in den H ä n d e n der

Kapitalien

und

o h n e allzu g r o ß e O p f e r

sonstigen

erhebliche

Hilfsmittel

Aufwendungen

für die Wohlfahrt der A r b e i t e r und ihrer Familien.

Ist es d o c h

a u c h dem A r b e i t g e b e r , der eine p e r s ö n l i c h e A n t e i l n a h m e an der Wohlfahrt s e i n e r A r b e i t e r fühlt,

v e r h ä l t n i s m ä ß i g am

leichtesten,

die B e d ü r f n i s s e e i n e r b e s t i m m t a b g e g r e n z t e n , mit s e i n e r e i g e n e n Tätigkeit v e r w a c h s e n e n Zahl von P e r s o n e n zu ü b e r s e h e n .

Aus

diesen G r ü n d e n sind wohl die f r ü h e s t e n und g r ö ß t e n , nicht von öffentlichen Institutionen a u s g e g a n g e n e n W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n auf

dem

Gebiete

wichtigsten usf.,

des Wohnungswesens,

Lebensbedürfnisse,

innerhalb d e s R a h m e n s

worden.

Die

hier g e d a c h t e n

der

der

Fürsorge

Beschaffung

der

gegen

Krankheit

einzelner Großbetriebe

geschaffen

Einrichtungen

liegen

nicht

nur

im I n t e r e s s e der A r b e i t e r , s o n d e r n e b e n s o in dem d e r A r b e i t g e b e r . Bei

Berücksichtigung

der

allgemeinen Interessen

der

Ar-

b e i t e r s c h a f t wird die F ü r s o r g e der Industriellen für d e r e n W o h l fahrt, ob sie nun praktischen

aus rein m e n s c h l i c h e m W o h l w o l l e n

Erwägungen

hervorgeht,

mit

oder

aus

verhältnismäßig

ge-

ringen Mitteln a u ß e r o r d e n t l i c h B e d e u t e n d e s leisten

können.

A u c h dort, wo die Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t der B e s c h ä f t i g t e n eines

Betriebes

mehr verwischt,

hinsichtlich wie

in

Wohlfahrtseinrichtungen,

der

Wohnungsverhältnisse

der G r o ß s t a d t , die

auch

wird

ihren

sich

die F ü r s o r g e Arbeitern

für

zugute

12

I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

k o m m e n , eine wichtige Aufgabe der Industriellen bilden. Es sind in dieser Hinsicht v e r s c h i e d e n e F o r m e n d e n k b a r und zum Teil auch bereits verwirklicht, um auch hier B e z i e h u n g e n zwischen dem B e t r i e b e und den Wohlfahrtseinrichtungen aufrechtzuerhalten. E s sei hier z. B . nur daran erinnert, daß von seiten des R e i c h e s als A r b e i t g e b e r s Unterstützungen an allgemeine B a u g e n o s s e n s c h a f t e n mit der B e d i n g u n g gewährt worden sind, daß die Vorteile d e r g e s c h a f f e n e n W o h n u n g e n zu einem bestimmten S a t z e den B e d i e n s t e t e n zugute k o m m e n . D i e B e d e u t u n g der G r o ß b e t r i e b e für die Entwicklung der Wohlfahrtseinrichtungen usw. wird am besten dadurch g e k e n n z e i c h n e t , daß m e h r e r e G r o ß b e t r i e b e die F ö r d e r u n g der W o h l fahrtsbestrebungen besonderen, entsprechend vorgebildeten B e a m t e n anvertraut haben und so eine Garantie bieten, daß die g e s c h a f f e n e n E i n r i c h t u n g e n auch tatsächlich auf d e r H ö h e der Zeit s t e h e n . In A m e r i k a sind auch Frauen von industriellen U n t e r n e h m u n g e n mit diesem Ziele angestellt. D e r „ B e r g i s c h e Verein für G e m e i n w o h l " hat sich durch die H e r a u s g a b e des von Kolleck und Dr. Z i e g l e r bearbeiteten H a n d b u c h e s ü b e r die Wohlfahrtseinrichtungen e i n e s modernen F a b r i k b e t r i e b e s ein e r h e b l i c h e s Verdienst um die F ö r d e r u n g d i e s e r Aufgaben der modernen Industrie erworben. D e r Umfang, in dem diese F ü r s o r g e erfolgt, wird am besten durch die W i e d e r g a b e der einzelnen A b s c h n i t t e des zweiten Teils d i e s e s B u c h e s e r s i c h t l i c h : I. Die ehemalige Arbeiterfürsorge als „Arbeiter-Kranken- und S t e r b e k a s s e " . II. Die Krankenversicherung und die Fabrikkrankenkasse. III. Die Unfallversicherung. IV. Die Invalidenversicherung. V. Die außerordentliche Unterstützungskasse und die Wöchnerinnenpflege. VI. Unterstützungskasse der zu den militärischen Friedensübungen einberufenen Mannschaften. VII. Die Darlehenskasse für Arbeiter. VIII. Spareinrichtung mit Zwang für jugendliche Arbeiter und unverheiratete Arbeiter unter 25 Jahren sowie für freiwillige Sparer. IX. Einrichtungen zur Förderung des Beamten- und Arbeiterwohnungswesens. X . Auskunftsstelle für Arbeiterangelegenheiten. XI. A r b e i t e r - P e n s i o n s - , Witwen- und Waisenkasse. XII. Die B e a m t e n - K r a n k e n - , S t e r b e - und Unterstützungskasse. XIII. Der Geschäftspensionsfonds für alte Beamte, Witwen und Waisen. X I V . B e a m t e n - P e n s i o n s - , Witwen- und Waisenkasse. X V . Die Unfallstation. X V I . Gesundheitspflege, Bildungspflege, Geselligkeit u. dgl.

I. Allgemeine F r a g e n der sozialen F ü r s o r g e .

13

Stellung der Arbeiterschaft zu den Wohlfahrtseinrichtungen. Von Seiten der Arbeiterschaft besteht häufig gegen Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber für die in ihrem Betrieb Beschäftigten ein Mißtrauen, dieselben seien in erster Linie zum Vorteil der Gründer errichtet. Bei völlig objektiver Würdigung kann indessen sicher kein Einwand gegen diese Einrichtungen erhoben werden, sobald zwei Bedingungen erfüllt sind. In erster Linie ist es wichtig, daß jene Kreise, denen die Wohlfahrtseinrichtungen zugute kommen sollen, soweit dies, insbesondere im Hinblick auf tunlichste Einfachheit der Verwaltung, möglich ist, selbst mit an der Ausgestaltung und Leitung der Wohlfahrtseinrichtungen .beteiligt werden. Aus dieser Erwägung sind solche Wohlfahrtseinrichtungen auch direkt zu Angelegenheiten der Arbeiterschaft gemacht worden, deren Unterhalt durch Gewährung von Darlehen, Zuschüssen, geeigneten Räumlichkeiten, durch Überlassung gebildeter Arbeitskräfte etc. erleichtert wird. In zweiter Hinsicht ist es wichtig, daß die für die Wohlfahrtseinrichtungen bestehenden Bestimmungen natürlicherweise wohl das Interesse ihrer Urheber oder Unterstützer mit berücksichtigen, aber nicht die Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber direkt verstärken, um nicht ein Mißtrauen gegen die gemeinnützigen Bestrebungen des Arbeitgebers zu nähren. Solche Nachteile können jedoch z. B. in der Wohnungsfürsorge durch Einhaltung der gewöhnlichen Kündigungsfristen statt des Zwanges, mit dem Tage des Austritts die Wohnung zu verlassen, vermieden werden, ohne in der Regel erhebliche Schwierigkeiten zu verursachen. Unter fortschreitender Verbesserung ihrer Lage und unter der Stärkung ihrer Organisation hat die Arbeiterschaft, nachdem sie diesen Bestrebungen lange feindlich gegenübergestanden, in der jüngsten Zeit selbst in den mit ihren Berufsvereinen verbundenen Unterstützungskassen, auf dem Gebiete der Baugenossenschaften, wie der Konsumvereine, sehr bedeutende Wohlfahrtseinrichtungen geschaffen. Ausdrücklich ist hervorzuheben, wie wichtig es für die Wohlfahrtspflege im allgemeinen ist, daß die Kreise der Minderbemittelten und insbesondere die Arbeiterschaft, denen diese

14

I. Allgemeine F r a g e n der sozialen Fürsorge.

E i n r i c h t u n g e n z u m g r o ß e n Teil z u g u t e k o m m e n , a u c h an d e r V e r w a l t u n g u n d D u r c h f ü h r u n g soweit i r g e n d möglich mitbeteiligt w e r d e n . Zweifellos ist bei der Tätigkeit e i n e s A r b e i t e r s als A r m e n pfleger z. B. die G e b u n d e n h e i t d e s A r b e i t e r s in b e z u g auf seine Z e i t e i n t e i l u n g ein e r h e b l i c h e s H i n d e r n i s . Bei g u t e m Willen wird es a b e r s i c h e r z u e r r e i c h e n sein, d a ß d e m A r b e i t e r , d e m in der V e r w a l t u n g d e r öffentlich r e c h t l i c h e n V e r s i c h e r u n g b e r e i t s eine wichtige S t e l l u n g z u k o m m t , die e n t s p r e c h e n d e Mitwirkung in der W o h l f a h r t s p f l e g e z u m N u t z e n der A l l g e m e i n h e i t e r m ö g licht wird. Die p r a k t i s c h e E r f a h r u n g z. B. auf d e m G e b i e t e der W o h n u n g s f r a g e zeigt, d a ß t r o t z m a n c h e r a n f ä n g l i c h e r S c h w i e r i g keiten d u r c h die M i t w i r k u n g der A r b e i t e r s c h a f t nicht n u r eine wichtige M ö g l i c h k e i t g e s c h a f f e n wird, j e n e n , welche ihre Kräfte g e r n e ihren M i t m e n s c h e n z u r V e r f ü g u n g s t e l l e n , a u c h eine e n t s p r e c h e n d e G e l e g e n h e i t h i e r z u zu bieten, s o n d e r n daß, w a s a u ß e r o r d e n t l i c h wertvoll, der g a n z e n E i n r i c h t u n g der C h a r a k t e r der W o h l t ä t i g k e i t g e n o m m e n u n d d i e s e l b e d u r c h die g e m e i n s a m e A r b e i t als W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g im b e s t e n Sinne g e k e n n z e i c h n e t wird.

Gesellschaft für soziale Reform (Sektion der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz). Schriften der G. f. s. R. Bis Ende 1903 12 Hefte. — E. Francke, Der internationale Arbeiterschutz. Dresden 1903. Als S e k t i o n d e r a m 28. Juni 1900 g e g r ü n d e t e n I n t e r n a t i o n a l e n V e r e i n i g u n g f ü r A r b e i t e r s c h u t z u n d v o n d e m W u n s c h e geleitet, d a ß die n a t i o n a l e n B e s t r e b u n g e n z u r B e s s e r u n g d e r L a g e d e r L o h n a r b e i t e r in D e u t s c h l a n d k r ä f t i g e n F o r t g a n g n e h m e n m ö c h t e n , hat sich die „ G e s e l l s c h a f t f ü r soziale R e f o r m " f o l g e n d e A u f g a b e gestellt: 1. als Glied der I n t e r n a t i o n a l e n V e r e i n i g u n g für g e s e t z lichen Arbeiterschutz, im Z u s a m m e n wirken mit den Vertretern a n d e r e r Staaten, die Hindernisse zu b e s e i t i g e n , die der F ö r d e r u n g des Arbeiterschutzes mit Rücksicht auf die Konkurrenzfähigkeit der Industrie auf dem Weltmarkt e n t g e g e n g e s t e l l t w e r d e n ; 2. als n a t i o n a l e V e r e i n i g u n g der v e r s c h i e d e n e n Bestrebungen, welche in Deutschland für die soziale Reform auf dem Gebiet der Arbeiterfrage tätig s i n d , diese zu s t ä r k e n , durch Aufklärung in

I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

15

W o r t und Schrift Verständnis für die soziale Reform zu wecken u n d zu tätiger Mitarbeit a n z u r e g e n . A l s n ä c h s t e A u f g a b e n d i e s e r Reform b e t r a c h t e t sie n a m e n t l i c h : den Ausbau des Arbeiterschutzes und der Gewerbeaufsicht, die F ö r d e r u n g des Arbeitsnachweises, die Fortbildung der Einrichtungen zur V e r h ü t u n g und Beilegung von Streitigkeiten a u s d e m Arbeitsverhältnis, d e n Ausbau der A r b e i t e r v e r s i c h e r u n g im weitesten Sinne, die F ö r d e r u n g der Bestrebung der A r b e i t e r , in Berufsvereinen und Genossenschaften ihre Lage zu bessern. D u r c h die V e r e i n i g u n g aller Kreise, die f ü r soziale R e f o r m e n e i n t r e t e n , ist schnellere F ö r d e r u n g d i e s e r Ziele, die a u c h im S i n n e d e s Kaiserlichen E r l a s s e s v o m 4. F e b r u a r 1890 liegen, u n d die B e s e i t i g u n g d e r H i n d e r n i s s e , die fast n a t u r g e m ä ß sich e i n e m in f e s t g e w u r z e l t e G e w o h n h e i t e n u n d M i ß b r ä u c h e e i n s c h n e i d e n d e n R e f o r m w e r k e n t g e g e n s t e l l e n , zu e r w a r t e n . Die G e s e l l s c h a f t f ü r s o z i a l e R e f o r m hat eine Reihe v o n O r t s g r u p p e n g e g r ü n d e t ; fast s ä m t l i c h e nicht s o z i a l d e m o k r a t i s c h e A r b e i t e r - u n d G e h i l f e n v e r b ä n d e mit r u n d 6 0 0 0 0 0 Mitgliedern h a b e n sich a n g e s c h l o s s e n .

Das Bureau für Sozialpolitik in Berlin. Soziale Praxis vom 17. und 24. D e z e m b e r 1903. D a s B u r e a u f ü r Sozialpolitik in Berlin soll n a c h d e n im D e z e m b e r 1903 g e t r o f f e n e n V e r e i n b a r u n g e n z w i s c h e n d e r G e s e l l s c h a f t f ü r soziale Reform, d e r G e s e l l s c h a f t S o z i a l e P r a x i s , d e m Verein f ü r Sozialpolitik und d e m Institut f ü r G e m e i n w o h l in F r a n k f u r t a. M. als H e i m s t ä t t e u n d Mittelpunkt d e r in d i e s e n G r u p p e n v e r t r e t e n e n p r a k t i s c h e n u n d w i s s e n s c h a f t l i c h e n Bestrebungen dienen. N a c h d e n vorläufigen P l ä n e n soll d a s B u r e a u u n t e r Leitung d e s P r o f e s s o r s Dr. F r a n c k e - B e r l i n e i n e r s e i t s die I n t e r e s s e n j e n e r G e s e l l s c h a f t e n vertreten, a n d e r s e i t s Bibliothek, A r c h i v , L e s e z i m m e r u n d B e r a t u n g s z i m m e r s o z i a l p o l i t i s c h e n Intere s s e n t e n z u r V e r f ü g u n g stellen u n d in A r b e i t e r a n g e l e g e n h e i t e n A u s k u n f t u n d Rechtshilfe g e w ä h r e n .

Zentralverwaltung der sozialen Fürsorge. Dr. E. M ü n s t e r b e r g , Bericht über das ausländische A r m e n w e s e n . V e r h a n d l u n g e n vom 12. Sept. 1900. Lübeck, Sch. d. D. V. f. A. u. W. 56. Heft, S. 21 ff. — A C h a n t i e s Board in Char. Org. Rev. Nov. 1903. Wie die statistischen N a c h w e i s u n g e n über Wohlfahrtseinrichtungen, Wohltätigkeit und Armenpflege in einzelnen Städten

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I. Allgemeine Fragen der sozialen Fürsorge.

und auch Bezirken ergeben, wie insbesondere auch die Vierteljahrschrift „Der Arbeiterfreund" fortgesetzt nachweist, werden für Aufgaben der sozialen Fürsorge von Jahr zu Jahr nicht nur in England und Amerika, sondern auch in Deutschland enorme Summen aufgewendet. Trotzdem sind die meisten Fragen mit Ausnahme der Armenpflege im engeren Sinne bisher vorwiegend gelegentlich, also ohne eine bestimmte allgemeine Organisation, behandelt worden. Wenn dies schon für die theoretische Erörterung der einschlägigen Fragen zutrifft, so noch viel mehr für Fragen der Verwaltung. Wie wichtig eine Zentralstelle aber wäre, geht z. B. aus den Verlusten hervor, welche durch Stiftungen entstehen, deren Aufgaben nicht mehr zeitgemäß oder nicht ausführbar sind. Wenn also auch dem Wesen der sozialen Fürsorge entsprechend die freie Organisation in keiner Weise angetastet werden soll, so bedarf doch anderseits die Frage einer Zentralstelle für Verwaltungsfragen der ernstesten Würdigung. In der Zentralverwaltung des eben berührten speziellen Teils der Fürsorge, nämlich der Armenpflege, ist das Ausland bereits vorangeeilt. Während in Deutschland in keinem Staate eine eigentliche spezialistische Aufsicht stattfindet, gibt es umgekehrt im Ausland kaum einen Staat, in dem nicht eine Spezialarmenbehörde existierte. Ein Bericht des Landesausschusses von S t e i e r m a r k , wo Landesinspektoren eingeführt sind, enthält die Bemerkung, daß die Schulung, die stete Verfügbarkeit des beamteten Aufsichtsorgans (des Landesinspektors) und die dadurch gewährleistete volle Verläßlichkeit Vorteile sind, welche der dezentralisierten Organisation naturgemäß mangeln. Eine b e l g i s c h e Kommission spricht von der Einführung dieser Aufsichtsinstanz fast mit Enthusiasmus: „Wir haben die feste Überzeugung, daß ein Stab tätiger und aufmerksamer Inspektoren, die auf der Höhe ihrer Aufgabe stehen und ihrer Pflicht sich bewußt sind, fähig sein würde, in wenigen Jahren das ganze Aussehen unserer öffentlichen Armenpflege völlig zu verändern." Am bedeutsamsten ist die Spezialaufsicht in G r o ß b r i t a n n i e n entwickelt. Die Einrichtungen des Armenwesens werden durch Inspektoren beaufsichtigt. Die Beaufsichtigung der Kinderund Familienpflege liegt wesentlich in den Händen weiblicher

II. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

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Generalinspektoren. Vom „Local Government Board" sind hierüber spezielle Reports veröffentlicht. Eine nahe verwandte Einrichtung findet sich für F r a n k r e i c h in dem Directeur de l'assistance publique et de l'hygiène, der als Beirat den „Conseil supérieur" neben sich hat. In den Vereinigten Staaten von N o r d - A m e r i k a sind in der Hälfte der Staaten etwa „State Boards" eingeführt.

II. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege. Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit. Frauendienst-Genossenschaft. Settlements. Womens University Settlement. Soziale Kurse. Die Ausbildung zur sozialen Arbeit auf den amerikanischen Universitäten und die „Schulen

für soziale Arbeit". Ausbildung von „Agenten". Zentrale für private Fürsorge, Frankfurt a. M. Soziales Museum. Institut für Gemeinwohl, Frankfurt a. M. Erziehungsanstalt für soziale Arbeit, Amsterdam. (Siehe auch Diakonie, Rotes Kreuz usf.)

Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit. Denkschrift anläßlich des 10jährigen Bestehens 1893 bis 1903 der M.- u. Fr.-Gr. für soziale Hilfsarbeit zu Berlin. (Selbstverlag.)

Die Erfahrung zeigt, daß in der Wohlfahrtspflege der gute Wille allein nicht hinreicht, sondern daß eine Schulung hinsichtlich der wissenschaftlichen Begründung der Aufgaben und hinsichtlich der geschäftlichen Praxis im Verkehr mit einer Mehrzahl von Personen, die nicht immer von den lautersten Motiven beseelt sind, notwendig ist. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die Organisation der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit z u B e r l i n 1893 geschaffen worden. In der Einleitung zu deren Aufgaben wird darauf hingewiesen, wie der wirtschaftliche und kulturelle Notstand in großen Bevölkerungsschichten des Vaterlandes, die zunehmende Verbitterung innerhalb weiterer Kreise des Volkes auch die Frauen gebieterisch zu sozialer Hilfstätigkeit aufrufen. Es darf nicht länger verkannt werden, daß gerade die S i n g e r . Soziale Fürsorge.

2

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II. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

Frauen und j u n g e n M ä d c h e n d e r b e s i t z e n d e n S t ä n d e vielfach eine s c h w e r e Mitschuld dafür trifft, j e n e V e r b i t t e r u n g durch den Mangel an I n t e r e s s e und V e r s t ä n d n i s für die A n s c h a u u n g e n und Empfindungen der unbemittelten K l a s s e n , durch den Mangel j e d e s pers ö n l i c h e n V e r k e h r s mit diesen V o l k s k r e i s e n g e s t e i g e r t zu h a b e n . D a ß hier Wandel g e s c h a f f e n werden muß, haben die b e s t e n unter den d e u t s c h e n Frauen vielfach erkannt. J e d e U m s e t z u n g dieser E r k e n n t n i s in p r a k t i s c h e B e s t r e b u n g e n a b e r stößt unter den m o d e r n e n , namentlich den g r o ß s t ä d t i s c h e n V e r h ä l t n i s s e n auf ernste S c h w i e r i g k e i t e n und erfordert um s o d r i n g e n d e r ein organisiertes V o r g e h e n . E s handelt sich d a r u m , j u n g e M ä d c h e n und Frauen zu e r n s t e r Pflichterfüllung im D i e n s t e der G e s a m t h e i t h e r a n z u z i e h e n . S e i t e n s e i n e r g r ö ß e r e n Anzahl von Frauen B e r l i n s wurde hierzu unter Mitwirkung der L e i t e r der Wohlfahrtsinstitute usw. eine Organisation auf breiter G r u n d l a g e ins L e b e n gerufen. B e a b s i c h t i g t ist eine t h e o r e t i s c h e A u s b i l d u n g durch V o r t r ä g e , die zu planmäßiger Tätigkeit a n r e g e n sollen, sowie eine praktische Tätigkeit der Frauen und j u n g e n M ä d c h e n . D i e p r a k t i s c h e Tätigkeit soll durchaus im V o r d e r g r u n d e s t e h e n . S i e b e s t e h t in der Tätigkeit in W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n für das j u g e n d l i c h e Alter (Krippen, M ä d c h e n h o r t e n , V o l k s k i n d e r g ä r t e n , W a i s e n h ä u s e r n ) , in Anstalten der A r m e n p f l e g e , in V o l k s k ü c h e n , in Krankenanstalten wie in anderweiter s o z i a l e r Hilfstätigkeit ( p e r s ö n l i c h e r F ü r s o r g e bei hilfsbedürftigen Familien u. a. m.). E i n z e l n e d i e s e r Tätigkeiten werden n a t u r g e m ä ß Frauen in reiferem Alter vorzubehalten sein. D e r Umfang d e r Mitarbeit soll sich durchaus nach dem Maße der verfügbaren Zeit richten; e s wird der individuellen Neigung und Fähigkeit der w e i t e s t e Spielraum g e l a s s e n . B e s o n d e r s h e r v o r z u h e b e n i s t , daß sich die Vereinigung durch P r o p a g a n d a in den S c h u l e n B e r l i n s , durch V e r s a m m l u n g e n für j u n g e M ä d c h e n eine Anzahl s e h r j u g e n d l i c h e r Mita r b e i t e r i n n e n g e w o r b e n hat. S o hat sich den Gruppen in den letzten J a h r e n eine R e i h e von Seminaristinnen a n g e s c h l o s s e n , die zwar durch die V o r b e r e i t u n g e n für ihren Beruf stark in A n spruch g e n o m m e n sind, a b e r immerhin sich etwas Zeit n e h m e n , um w e n i g s t e n s einen E i n b l i c k in die s o z i a l e Arbeit zu tun. Die Hilfe aus diesen Kreisen wird b e s o n d e r s h o c h g e s c h ä t z t , denn die V e r e i n i g u n g glaubt in d e r H e r a n z i e h u n g s o l c h e r

II. A u s b i l d u n g zur Wohlfahrtspflege. Mitarbeiterinnen finden.

das b e s t e P r o p a g a n d a m i t t e l für s o z i a l e I d e e n z u

Z u einer ständigen Einrichtung d e r G r u p p e n sind e r w e i -

terte K o m i t e e s i t z u n g e n aller

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Anstalten

überweisen,

und

geworden,

Vereine,

denen

an

die

d e n e n die Gruppen

Vertreter

Helferinnen

teilnehmen.

Große Bedeutung

haben

auch

die

Besichtigungen

von

W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n und a n d e r e n g e m e i n n ü t z i g e n V e r a n s t a l tungen, die bei den M i t g l i e d e r n g r o ß e s I n t e r e s s e e r w e c k e n eine

ausgezeichnete

Ergänzung

für die V o r l e s u n g e n

s a m m l u n g e n bei d e r A u s b i l d u n g d e r Mitarbeiterinnen Als Mitglieder

der Gruppen

werden

und

und V e r sind.

betrachtet:

1. Frauen

u n d M ä d c h e n , die sich an d e r G r u p p e n a r b e i t praktisch b e t e i l i g e n ; 2. Frauen und M ä d c h e n , die 1 ihr Interesse an d e n B e s t r e b u n g e n der Gruppen

durch Z a h l u n g e i n e s j ä h r l i c h e n B e i t r a g s

betätigen.

D a s B e i s p i e l Berlins führte z u r G r ü n d u n g einer S c h w e s t e r v e r e i n i g u n g in W i e n 1896.

E s f o l g t e n dann s o z i a l e

Hilfsgruppen

in B r e m e n ( g e g r ü n d e t v o m B r e m e r M ä ß i g k e i t s v e r e i n ) , burg

und

Hilfsarbeit

Königsberg;

und

besondere

wurden

den

Frauenvereinen

bei

Abteilungen in

in

Ham-

für s o z i a l e

Halle,

Leipzig,

Kassel, M a n n h e i m , Frankfurt a. M . g e g r ü n d e t .

Frauendienst-Genossenschaft. Zeitschrift „Frauendienst".

H e r a u s g e g e b e n v o n Prof. Dr. Zimmer.

Im A n s c h l u ß an d e n e r f o l g r e i c h e n V e r s u c h d e s E v a n g e l i s c h e n D i a k o n i e v e r e i n s (s. d . )

soll die v o n P r o f . D r . Z i m m e r

Leben gerufene „Frauendienst-Genossenschaft" der Wohlfahrtspflege stätten, S e m i n a r e Frauen

herleiten,

gründen

und

in S c h w e s t e r n s c h a f t e n

für

diese

den

Berufe

im B e r u f e

1903 ins

neue B e r u f e aus Ausbildungs-

alleinstehenden

feste Organisationen,

die

ihnen

sicheren Halt und Stütze bieten, schaffen.

Settlements (Niederlassungen). English W o m e n ' s Y e a r b o o k 1903.—Charity R e g i s t e r and D i g e s t 1903. — S c h ä f e r , E v a n g e l i s c h e s V o l k s l e x i k o n . — Prof. H e n d e r s o n , Social Settlements. N e w Y o r k 1899. Bespr. Municipal A f f a i r s März 1899. — A l i c e Salomon, S o z i a l e Frauenpflichten. Berlin 1902. Einen

Versuch,

•der B e v ö l k e r u n g

in

die

gebildeten

und

enge Verbindung

wohlhabenden

mit

Kreise

den I n w o h n e r n

der

A r m e n v i e r t e l z u b r i n g e n und h i e r d u r c h z u g l e i c h das Verständnis 2*

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II. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

für die Lebensverhältnisse der Armen wie die praktische F ö r d e r u n g der Wohlfahrtseinrichtungen zu deren G u n s t e n zu e r r e i c h e n , stellen die Settlements ( N i e d e r l a s s u n g e n ) dar. Das w a c h s e n d e Gefühl des u n b e f r i e d i g e n d e n Z u s t a n d e s d e r künstlichen T r e n n u n g in arme und reiche Distrikte in u n s e r e n G r o ß s t ä d t e n , w o d u r c h j e d e Klasse den Sinn für die g e m e i n s a m e n Interessen verliert, u n d das S u c h e n nach Möglichkeiten der Hilfeleistung h a b e n den Anlaß g e g e b e n , eine Wiederherstellung m e h r natürlicher Beziehungen a n z u b a h n e n . Es würde schwer sein, zu sagen, o b das G r u n d m o t i v der Settlements m e h r das der Sympathie u n d des W u n s c h e s ist, in einem gewissen Maße das Los der Minderglücklichen zu teilen, das gegenseitige Verständnis zu fördern und Freundlichkeit zwischen den Mitgliedern v e r s c h i e d e n e r Klassen zu entwickeln; o d e r ob es auf der a n d e r e n Seite d a s bestimmtere Motiv ist, in einer G e g e n d nützlich zu sein, w o wenige fähig sind, soziale Dienste zu leisten u n d gebildete u n d über Zeit v e r f ü g e n d e Mitbürger dort zur F ü h r u n g zu b e s c h a f f e n , wo Initiative notwendig ist. Wahrscheinlich sind die beiden Absichten, wenn auch in w e c h s e l n d e m Verhältnisse, in j e d e m Settlement u n d in j e d e m seiner Mitglieder u n t r e n n b a r g e m i s c h t . Welches Motiv aber auch vorwiegt, so ist d o c h die E r k e n n t n i s klar, daß für die A u s f ü h r u n g der Idee des Settlements tatsächliches Kennenlernen des Volkes u n d seiner Lebensweise, also direktes nachbarliches Leben mit d e m s e l b e n wichtig ist. B a h n b r e c h e r in der S e t t l e m e n t s b e w e g u n g war T o y n b e e (1875), nach d e s s e n f r ü h e m T o d e (1883) seine F r e u n d e ein Kapital z u einer Stiftung in seinem Sinne sammelten und in der ersten größeren Niederlassung (Toynbee-Hall in Whitechapel) ein e i g e n e s Heim mit W o h n u n g für 15 bis 22 pekuniär u n a b h ä n g i g e j u n g e Männer schufen. Die von dort a u s g e h e n d e soziale Hilfe umfaßt insb e s o n d e r e U n t e r b r i n g u n g schwächlicher Kinder in Ferienkolonien, Beaufsichtigung von Koch- und Spielschulen, Anlage von Kinderspielplätzen, Rechtsbeistand, Veranstaltung von volkstümlichen Vorlesungen und Vorträgen über wirtschaftliche, sittliche, philosophische Fragen, von k u r z e n Reiseausflügen, von Unterrichtskursen für j u n g e Leute. Die zweite N i e d e r l a s s u n g wurde 1884 in Bethnal-Green g e g r ü n d e t . Dem 1891 g e g r ü n d e t e n B e r m o n d s e y Settlement in London S.O. g e h ö r t e n im Jahre 1902 19 „ R e s i d e n t s " für wenigstens drei Monate an.

II. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

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Women's University Settlement. Municipal Affairs

Sept.

1898. — 17. Jahresbericht London 1904.

der W. U. S.,

Die Niederlassungen der F r a u e n datieren von 1 8 8 7 , in w e l c h e m J a h r e die W o m e n ' s C o l l e g e s ihre H o c h s c h u l n i e d e r l a s s u n g im S ü d o s t e n L o n d o n s gründeten. Die F r a u e n n i e d e r l a s s u n g e n haben sich mit b e m e r k e n s w e r t e r Stetigkeit seitdem ausgebreitet, so daß sie über die meisten Distrikte von L o n d o n verstreut sind und in den h a u p t s ä c h l i c h s t e n Provinzstädten Wurzel faßten. D a s Hauptwerk d i e s e r N i e d e r l a s s u n g e n ist, durch Entwerfen g e e i g n e t e r Pläne und Erteilen von R a t s c h l ä g e n die ä r m e r e B e v ö l k e r u n g p h y s i s c h , geistig und moralisch zu h e b e n und ihr G e l e g e n h e i t zur W e i t e r b i l d u n g und zur E r h o l u n g zu verschaffen. Die N i e d e r l a s s u n g e n b e s i t z e n Häuser, welche den Frauen, die sich diesem m e n s c h e n f r e u n d l i c h e n und erzieherischen W e r k e widmen, zur W o h n u n g dienen. E i n e weitere A u f g a b e ist, alle der G e s e l l s c h a f t gestifteten S u m m e n ihrem Z w e c k zuzuführen. Ein weiteres b e d e u t e n d e s U n t e r n e h m e n dieser R i c h t u n g ist C a n n i n g Town W o m e n ' s S e t t l e m e n t , d e s s e n Aufgabe es ist, W o h n u n g für Frauen zu bieten, die unter den Armen arbeiten wollen, und j e n e p e r s ö n l i c h e n D i e n s t e für Frauen und Mädchen zu leisten, die Mansfield H o u s e für M ä n n e r leistet. In E r g ä n z u n g von Klubs, einem Heim und Hospital für Pflegerinnen, Müttervers a m m l u n g e n usf. b e s t e h t auch eine A b t e i l u n g für Pflege und e i n e Arztliche Mission. Die Räume sind für 22 D a m e n eingerichtet. D a s C h a r i t i e s R e g i s t e r and D i g e s t 1903 bietet n o c h eine Reihe v o n A n g a b e n über ähnliche E i n r i c h t u n g e n . D e s g l e i c h e n bringt d a s English W o m e n ' s Y e a r b o o k 1903, S . 2 0 4 ff., sowohl eine allg e m e i n e E r ö r t e r u n g über s o l c h e Niederlassungen von Frauen wie « i n e Liste derselben in L o n d o n und anderen englischen Städten. A u c h in Amerika hat die S e t t l e m e n t s - B e w e g u n g in den letzten J a h r e n erheblich an B e t e i l i g u n g und A u s d e h n u n g g e w o n n e n , so b e s o n d e r s in New Y o r k , B o s t o n , Philadelphia. Ihre Z i e l e sind dieselben wie in E n g l a n d . B e z e i c h n e n d ist, daß In Amerika in der H a u p t s a c h e Frauen als Mitarbeiterinnen tätig sind. In D e u t s c h l a n d ist eine g l e i c h e B e s t r e b u n g in H a m b u r g im G a n g e ( S e n a t o r Dr. Traun), außerdem in Wien seitens Frau Marie L a n g ( S . Pr. 1902/03).

22

IL Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

Soziale Kurse. V e r h a n d l u n g e n des 8. Evang. sozialen K o n g r e s s e s 1897 u. f. G ö t tingen 1897 f. — Berichte des Volksvereins für das katholische Deutschland. D a s B e d ü r f n i s , d a s V e r s t ä n d n i s f ü r soziale F r a g e n in w e i t e r e n Kreisen d e r B e v ö l k e r u n g z u e r w e i t e r n u n d zu vertiefen, hat hier u n d da d a z u g e f ü h r t , spezielle K u r s e f ü r soziale F r a g e n a b z u h a l t e n . S o sind s o l c h e z. B. in Elberfeld v e r a n s t a l t e t w o r d e n ; f ü r einen K u r s u s am 11. u n d 12. J a n u a r 1903 w a r e n V o r t r ä g e ü b e r die W o h n u n g s f r a g e , ü b e r E i n i g u n g s ä m t e r u n d S c h i e d s g e r i c h t e in A u s s i c h t g e n o m m e n . H i e r h e r sind a u c h b e s o n d e r s die b e d e u t u n g s v o l l e n , stark besuchten Versammlungen des V o l k s v e r e i n s f ü r d a s k a t h o l i s c h e D e u t s c h l a n d sowie die T a g e d e s C h a r i t a s v e r b a n d e s u n d d e r E v a n g e l i s c h - s o z i a l e K o n g r e ß zu r e c h n e n , w e l c h e in g r ö ß e r e m U m f a n g e in d i e s e r R i c h t u n g tätig sind. Die n e u b e g r ü n d e t e soziale G e s c h ä f t s s t e l l e f ü r d a s e v a n g e l i s c h e D e u t s c h l a n d u n d d a s B u r e a u f ü r Sozialpolitik in Berlin beteiligen sich gleichfalls an d e r A b h a l t u n g e v a n g e l i s c h e r A r b e i t e r k u r s e .

Die Ausbildung zur sozialen Arbeit auf den amerikanischen Universitäten und die „Schulen für soziale Arbeit". Ausbildung von „Agenten". Dr. G. Herzfeld (Berlin) in Zeitschr. f. d. A r m e n w e s e n März 1904.. Die E r k e n n t n i s , d a ß zu g e w i n n b r i n g e n d e r Tätigkeit auf sozialem G e b i e t eine g r ü n d l i c h e t h e o r e t i s c h e u n d p r a k t i s c h e V o r b i l d u n g unerläßlich ist, h a t an d e r J o h n H o p k i n s - U n i v e r s i t ä t in Baltimore z u r E r r i c h t u n g e i n e s e i g e n e n L e h r s t u h l s f ü r A r m e n u n d G e f ä n g n i s w e s e n g e f ü h r t . Die G e l e g e n h e i t z u r t h e o r e t i s c h e n A u s b i l d u n g in d i e s e m Z w e i g e der S o z i a l w i s s e n s c h a f t wird v o n d e n S t u d e n t e n a u s g i e b i g b e n u t z t . N e b e n h e r g e h t n o c h bei d e n m e i s t e n eine p r a k t i s c h e Mitarbeit in einer der g r o ß e n W o h l t ä t i g k e i t s g e s e l l s c h a f t e n . A n vielen a m e r i k a n i s c h e n U n i v e r s i t ä t e n werden ähnliche Vorlesungen gehalten. F ü r die s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h u n d a r m e n p f l e g e r i s c h a u s g e b i l d e t e n j u n g e n L e u t e b i e t e t sich allerdings in d e n V e r e i n i g t e n S t a a t e n ein viel w e i t e r e s Feld b e r u f s m ä ß i g e r B e t ä t i g u n g wie in Deutschland. D e r Bedarf d e r C h a r i t y O r g a n i s a t i o n Societies.

II. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

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sowie d e r g r o ß e n W o h l t ä t i g k e i t s g e s e l l s c h a f t e n , die fast a u s schließlich v o n b e r u f s m ä ß i g a u s g e b i l d e t e n G e n e r a l s e k r e t ä r e n geleitet w e r d e n , an b e z a h l t e n Mitarbeitern ist kein g e r i n g e r . Z u d e m t h e o r e t i s c h e n U n t e r r i c h t k o m m t seit 1898 die z w e c k m ä ß i g v e r b u n d e n e t h e o r e t i s c h - p r a k t i s c h e A u s b i l d u n g in sozialer A r b e i t in s p e z i e l l e n S c h u l e n . S o l c h e s i n d : Die S u m m e r s c h o o l in P h i l a n t h r o p i e W o r k in N e w Y o r k , die S c h o o l for practical T r a i n i n g of C h a r i t y , die T r a i n i n g S c h o o l for Social W o r k e r s . S o b a l d die n ö t i g e n Mittel v o r h a n d e n sind, soll die A u s g e s t a l t u n g der v o n der C h a r i t y O r g a n i s a t i o n S o c i e t y g e g r ü n d e t e n S u m m e r S c h o o l in P h i l a n t h r o p i e W o r k zu einer s t ä n d i g e n A n stalt mit z w e i j ä h r i g e m L e h r g a n g erfolgen. Auf die in d e n j e t z i g e n k ü r z e r e n K u r s e n zu T a g e s v o r t r ä g e n z u s a m m e n g e f a ß t e n T h e m a t a soll in der S c h u l e a u s f ü h r l i c h e r e i n g e g a n g e n w e r d e n . D a s e r s t e J a h r soll a l l g e m e i n e r e V o r b i l d u n g b i e t e n , w ä h r e n d d a s z w e i t e Jahr dem berufsmäßigen Spezialstudium einzelner Gebiete gewidmet sein soll, die in f o l g e n d e r W e i s e u n t e r s c h i e d e n w e r d e n : U n t e r s t ü t z u n g s w e s e n , O r g a n i s a t i o n der A r m e n p f l e g e , K i n d e r s c h u t z , S e t t l e m e n t s - A r b e i t , A n s t a l t s f ü r s o r g e , Kirchliche F ü r s o r g e , F ü r s o r g e f ü r S c h w a c h s i n n i g e , G e i s t e s k r a n k e , G e f a n g e n e etc. Ein Teil d e s J a h r e s wird z u m S t u d i u m u n d z u r p r a k t i s c h e n B e t ä t i g u n g in z w e i v e r s c h i e d e n e n S t ä d t e n b e n u t z t . E i n i g e der g r ö ß e r e n C h a r i t y O r g a n i s a t i o n Societies lassen a u c h d u r c h ihre G e n e r a l s e k r e t ä r e A n w ä r t e r f ü r d a s A m t eines „ A g e n t " ( b e z a h l t e r R e c h e r c h e n t in der A r m e n p f l e g e ) in t h e o r e tisch-praktischen Kursen ausbilden. Weitere Fortbildung finden d i e s e l b e n in ihrer p r a k t i s c h e n Tätigkeit. Beispiele s o l c h e r Vere i n i g u n g e n sind die „ M o n d a y E v e n i n g C l u b s " in B o s t o n u n d Cincinnati. A u c h a u s d e n „Social S e t t l e m e n t s " ( s i e h e d i e s e ) g e h e n h ä u f i g b e r u f s m ä ß i g v o r g e b i l d e t e soziale A r b e i t e r h e r v o r .

Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M. Jahresberichte der Zentrale mit Anlagen.

P r o g r a m m der Kurse.

Die Z e n t r a l e will d e m sich in der öffentlichen A r m e n p f l e g e wie in d e r p r i v a t e n Wohltätigkeit f ü h l b a r m a c h e n d e n Mangel an p f l e g e r i s c h e n Kräften a b h e l f e n u n d b e a b s i c h t i g t zu d i e s e m Z w e c k die E i n r i c h t u n g eines Instituts f ü r die p r a k t i s c h e A u s b i l d u n g in allen Z w e i g e n d e r W o h l f a h r t s p f l e g e . V e r s u c h s w e i s e war z u nächst im J a h r e 1903 ein p r a k t i s c h e r K u r s v o n ca. fünf W o c h e n

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II- Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

in d e r K i n d e r f ü r s o r g e in A u s s i c h t g e n o m m e n . D a d i e s e r K u r s einen h ö c h s t b e f r i e d i g e n d e n Verlauf n a h m , wird d e r s e l b e w i e d e r holt u n d ein w e i t e r e r K u r s z u r A u s b i l d u n g in d e r G e n e s e n d e n f ü r s o r g e a n g e g l i e d e r t . Die Z e n t r a l e , die ein r e i c h e s A r b e i t s g e b i e t u m f a ß t (offene A r m e n p f l e g e , A u s k u n f t s e r t e i l u n g , A n s t a l t s p f l e g e , K i n d e r f ü r s o r g e ) , ist s e h r g e e i g n e t , einen p r a k t i s c h e n Einblick in die v e r s c h i e d e n s t e n G e b i e t e sozialer Tätigkeit zu g e w ä h r e n .

Soziales Museum, Frankfurt a. M., und das Institut für Gemeinwohl. Das Soziale Museum in Frankfurt a. M., seine Aufgaben und seine Organisation. Denkschrift, h e r a u s g e g e b e n vom Vorstand. 1903. A m 18. März 1903 w u r d e in F r a n k f u r t a. M. die Z e n t r a l s t e l l e f ü r ländliche u n d s t ä d t i s c h e W o h l f a h r t s p f l e g e in d e r P r o v i n z H e s s e n - N a s s a u u n t e r d e m N a m e n „ S o z i a l e s M u s e u m " ins L e b e n g e r u f e n . D a s Soziale M u s e u m ist a u s d e r A u s k u n f t s s t e l l e f ü r A r b e i t e r a n g e l e g e n h e i t e n d e s Instituts f ü r G e m e i n w o h l u n d d e m Verein f ü r F ö r d e r u n g d e s A r b e i t e r w o h n u n g s w e s e n s u n d verw a n d t e B e s t r e b u n g e n zu F r a n k f u r t a. M. h e r v o r g e g a n g e n . Die A u f g a b e n d e s Sozialen M u s e u m s w e r d e n dahin b e stimmt: 1. S a m m l u n g der auf die einzelnen A r b e i t s g e b i e t e b e z ü g l i c h e n W e r k e , Materialien, Modelle etc. in einem „Sozialen Museum". 2. A u s k u n f t s e r t e i l u n g in allen einschlägigen A n g e l e g e n h e i t e n . 3. Bereitstellung und N u t z b a r m a c h u n g der S a m m l u n g f ü r die Interessenten durch leihweise Ü b e r l a s s u n g , durch r e g e l m ä ß i g e Veröffentlichungen in dem Organ der Zentralstelle. 4. Wissenschaftliche B e a r b e i t u n g einzelner F r a g e n . 5. F ö r d e r u n g und V e r t r e t u n g der Interessen der sozialen Tätigkeit durch A n r e g u n g und Stellung von A n t r ä g e n an Gemeinden und S t a a t s b e h ö r d e n und an die g e s e t z g e b e n d e n Körperschaften. D a s ältere Institut f ü r G e m e i n w o h l v e r d a n k t zwei G e d a n k e n reihen s e i n e n U r s p r u n g : Die eine g e h t a u s v o n d e r m a n g e l n d e n O r g a n i s a t i o n d e r p r a k t i s c h e n sozialen Tätigkeit u n d s u c h t ihre A u f g a b e in d e r S c h a f f u n g v o n Z e n t r a l e n , die, geleitet v o n v o l k s w i r t s c h a f t l i c h u n d sozialpolitisch g e s c h u l t e n B e r u f s b e a m t e n , a u s g e s t a t t e t mit allen e r f o r d e r l i c h e n s a c h l i c h e n Hilfsmitteln, die private wie die öffentliche soziale Tätigkeit f ö r d e r n sollen.

1!. Ausbildung zur Wohlfahrtspflege.

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Die a n d e r e G e d a n k e n r e i h e n i m m t ihren A u s g a n g s p u n k t in d e m b i s h e r zu g e r i n g e n t w i c k e l t e n V e r s t ä n d n i s d e r b e s i t z e n d e n K l a s s e n f ü r die B e d ü r f n i s s e u n d A n s c h a u u n g e n d e r a r b e i t e n d e n Klassen u n d e r s t r e b t eine F ö r d e r u n g v o n v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e r u n d sozialer T h e o r i e u n d P r a x i s d u r c h eine V e r b i n d u n g b e i d e r . Von d e m Institut f ü r G e m e i n w o h l sind ausgegangen: ein b e s o n d e r e s „ B u r e a u f ü r A r m e n p f l e g e " , d a s s p ä t e r u n t e r F o r t b e s t a n d d e s e n g e n Z u s a m m e n h a n g e s mit ihm in der Z e n t r a l e f ü r p r i v a t e F ü r s o r g e a u f g e g a n g e n ist; f e r n e r die „ B l ä t t e r f ü r s o z i a l e P r a x i s " , die E r w e i t e r u n g d e r s e l b e n z u r „ S o z i a l e n P r a x i s , Z e n t r a l b l a t t f ü r S o z i a l p o l i t i k " v o m 1. A p r i l 1895; die E r r i c h t u n g d e r „ R e c h t s a u s k u n f t s s t e l l e f ü r A r b e i t e r a n g e l e g e n h e i t e n " z u n ä c h s t f ü r d a s G e b i e t d e r Stadt F r a n k f u r t a. M. im H e r b s t 1895; die G r ü n d u n g d e r „ G e m e i n n ü t z i g e n B l ä t t e r f ü r H e s s e n - N a s s a u " 1899; die M i t w i r k u n g bei d e r Gründung des „ V e r e i n s f ü r F ö r d e r u n g d e s Arbeiterwohnungswesens u n d v e r w a n d t e B e s t r e b u n g e n " im F r ü h j a h r 1900.

Erziehungsanstalt für soziale Arbeit in Amsterdam. Soziale P r a x i s VIII, Sp. 1060; X, Sp. 1318. Die 1899 g e g r ü n d e t e E r z i e h u n g s a n s t a l t f ü r soziale A r b e i t in A m s t e r d a m hat sich ebenfalls die H e r a n z i e h u n g d e r o b e r e n Kreise z u r sozialen Arbeit, die s y s t e m a t i s c h e A u s b i l d u n g z u r g e m e i n n ü t z i g e n Tätigkeit z u r A u f g a b e g e m a c h t . D e r L e h r g a n g d e r A n s t a l t u m f a ß t zwei J a h r e . Im e r s t e n L e h r g a n g e h a b e n n u r F r a u e n an d e m v o l l s t ä n d i g e n U n t e r r i c h t e t e i l g e n o m m e n . Von d e n D a m e n , w e l c h e bis j e t z t d a s D i p l o m erhielten, h a t t e n sich die m e i s t e n als A u f s e h e r i n n e n v o n A r b e i t e r w o h n u n g e n , a n d e r e f ü r die p r a k t i s c h e Tätigkeit in d e r A r m e n p f l e g e , f ü r die S o r g e v o n v e r n a c h l ä s s i g t e n o d e r v e r l a s s e n e n K i n d e r n u n d ähnliche Berufe speziell a u s g e b i l d e t , w ä h r e n d w i e d e r a n d e r e keinen b e s t i m m t e n Beruf g e w ä h l t h a b e n , s o n d e r n sich n u r t h e o r e t i s c h a u s b i l d e t e n . Die A n s t a l t läßt a u ß e r d e m f ü r w e i t e r e Kreise t ü c h tige V o r t r ä g e ü b e r allerlei soziale G e g e n s t ä n d e d u r c h die b e s t e n S a c h v e r s t ä n d i g e n a b h a l t e n u n d hat s c h o n jetzt, n a c h so k u r z e r Zeit d e s B e s t e h e n s , treffliche E r f o l g e a u f z u w e i s e n .

2 6 HI. A l l g e m . Z e n t r a l s t e l l e n f. P r o p a g a n d a g e s u n d e r A n s c h a u u n g e n .

III. Allgemeine Zentralstellen für Propaganda gesunder Anschauungen. Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit. Poor Law Union Association. Amerikanische National Conference of Charities and C o r r e c tion. Zentralstelle .für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in Berlin. Z.-St. f. A . - W . - E . , Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit. A u s s c h u ß für Wohlfahrtspflege auf dem Lande.

Sozial-Museen. Musée social, Paris. Ständige Ausstellung f. Arbeiterwohlfahrt in Charlottenburg. Museum für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in München. Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen. Charitasverband für das katholische Deutschland. Österreich. Charitasverband. Office central des Institutions charitables, Paris. Charity Organisation Societies.

Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit. S c h r i f t e n des D. V. f. A. u. W . G e n e r a l b e r i c h t im 24. Heft. S a c h r e g i s t e r im 56. Heft. — S t a d t r a t L u d w i g - W o l f in V e r h a n d l u n g e n der 21. J a h r e s v e r s a m m l u n g . L ü b e c k 1901.

Der im Jahre 1880 gegründete Verein hat im ersten Jahrzehnt sich mehr den Fragen des A r m e n w e s e n s im engeren Sinne zugewendet und erst später sich intensiver mit den Fragen der a l l g e m e i n e n W o h l f a h r t s p f l e g e beschäftigt. An der Hand statistischer Aufnahmen wie an der Hand von Einzelbearbeitungen hat der Verein von Anfang an Klarheit Uber den tatsächlichen Zustand der Armenpflege und der Wohlfahrtspflege in Deutschland zu schaffen gesucht und zugleich hierdurch eine vorzügliche Grundlage für die jeweiligen Beratungen geboten. Von diesen Arbeiten sei nur an „Das Armenwesen in 77 deutschen Städten" von Professor Dr. Böhmert, dann „Die ländliche Armenpflege und ihre Reform" von v. Reitzenstein hier erinnert. Auch über das Armenwesen des Auslandes hat der Verein ausgezeichnete Schriften von v. Reitzenstein und Münsterberg veröffentlicht. Der Verein ist auch bemüht gewesen, in Fragen der Gesetzgebung — so z. B. des Bürgerlichen Gesetzbuches —

III. Allgem. Zentralstellen f. P r o p a g a n d a g e s u n d e r A n s c h a u u n g e n . 27 den gesetzgebenden Faktoren H a n d zu g e h e n .

mit g e e i g n e t e m Material an

die

E i n e n H a u p t p u n k t d e r E r ö r t e r u n g e n d e s V e r e i n s bildet die O r g a n i s a t i o n d e s A r m e n w e s e n s ; es sind a b e r auch infolge der B e r ü h r u n g mit d e r A r m e n p f l e g e F r a g e n d e r H y g i e n e , d e s A r b e i t s n a c h w e i s e s , d e r A r b e i t e r v e r s i c h e r u n g , d e r wirtschaftlichen Vorb i l d u n g f ü r d a s F a m i l i e n l e b e n u n d d e s s e n E r h a l t u n g in U n g l ü c k s fällen u n d N o t s t ä n d e n oft G e g e n s t a n d d e r V e r h a n d l u n g e n g e wesen. D a s Ziel d e s V e r e i n s ist, g e s u n d e A n s c h a u u n g e n ü b e r die A u s ü b u n g d e r A r m e n p f l e g e u n d Wohltätigkeit d u r c h W o r t u n d Schrift zu v e r b r e i t e n . Z u d i e s e m Z w e c k e f i n d e n jährlich Vers a m m l u n g e n statt, auf d e n ö n h i e r h e r g e h ö r i g e G e g e n s t ä n d e auf der Grundlage ausführlicher Druckberichte erörtert werden.

Poor Law Union Association. Amerikanische National Conference of Charities and Correction. U b e r die a u s l ä n d i s c h e n z e n t r a l e n O r g a n i s a t i o n e n , die ä h n liche Ziele wie d e r D e u t s c h e Verein f ü r A r m e n p f l e g e u n d Wohltätigkeit v e r f o l g e n , b e r i c h t e t in s e h r e i n g e h e n d e r Weise M ü n s t e r b e r g im 52. Heft d e r Schriften d e s D. V. f. A. u. W. In E n g l a n d halten die A r m e n v e r w a l t u n g e n der e i n z e l n e n G r a f s c h a f t e n r e g e l m ä ß i g e V e r s a m m l u n g e n ab. Die P o o r Law U n i o n s A s s o c i a t i o n , w e l c h e ein Z e n t r a l g l i e d d e r A r m e n v e r w a l t u n g darstellt, tritt alljährlich zu einer G e n e r a l v e r s a m m l u n g — Annual Central Conference — zusammen. D e r a m e r i k a n i s c h e A r m e n p f l e g e - K o n g r e ß g e h t bis auf d a s Jahr 1874 z u r ü c k . Die O r g a n i s a t i o n hat sich zu e i n e m der b e d e u t e n d s t e n F a k t o r e n in d e r a m e r i k a n i s c h e n Wohltätigkeitspflege entwickelt. D a s Gebiet, d a s die K o n f e r e n z b e h a n d e l t , ist s e h r a u s g e d e h n t u n d u m f a ß t a u c h einen Teil d e r sozialen F ü r s o r g e m i t ; die V e r h a n d l u n g e n e r f o l g e n in G l i e d e r u n g n a c h 11 b e s o n d e r e n K o m i t e e s mit speziellen F a c h a u f g a b e n . Durch die n a t i o n a l e K o n f e r e n z a n g e r e g t , h a b e n sich auch einzelstaatliche K o n f e r e n z e n g e b i l d e t , d e r e n M i i n s t e r b e r g 18 zählt. O r g a n der K o n f e r e n z ist T h e N a t i o n a l B u l l e t i n of C h a r i t i e s and Correction.

2 8 III- Allgem. Zentralstellen i. P r o p a g a n d a g e s u n d e r A n s c h a u u n g e n .

Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in Berlin. Schriften der Z.-St. f. A.-W.-E. — Zeitschrift „Concordia". — Zeitschrift für das Armenwesen. — Dr. v. Erdberg, Die Wohlfahrtspflege, eine sozialwissenschaftliche Studie. Jena 1903. Im II. Teil s e i n e r S t u d i e ü b e r die W o h l f a h r t s p f l e g e hat Dr. R. v. E r d b e r g e i n g e h e n d die G r ü n d e g e s c h i l d e r t , w e l c h e im J a h r e 1891 z u r E r r i c h t u n g d e r Z.-St. f. A.-W.-E. g e f ü h r t h a b e n . E s galt, n a c h d e m d e r Staat d u r c h die S c h a f f u n g d e r sozialen V e r s i c h e r u n g g r o ß e S c h r i t t e auf d e m G e b i e t e d e r W o h l f a h r t s p f l e g e g e t a n , n u n dahin zu wirken, d a ß die g a n z e G e s e l l s c h a f t als s o l c h e mitarbeite, u m e i n e s K u l t u r s t a a t e s w ü r d i g e soziale Zustände herbeizuführen. Von b e s o n d e r e r B e d e u t u n g w a r e s , einen Mittelpunkt zu schaffen, d e r eine g e n a u e u n d allgemein z u g ä n g l i c h e K e n n t n i s aller B e s t r e b u n g e n auf d e m G e b i e t e d e r W o h l f a h r t s p f l e g e zu e r r e i c h e n v e r m a g , d e r endlich a u c h s o l c h e B e s t r e b u n g e n , soweit tunlich, selbst ins L e b e n rufen k a n n . Als A u f g a b e n d e r Z e n t r a l s t e l l e sind f e s t g e s e t z t : I. Sammlung, Sichtung, O r d n u n g und Katalogisierung von Bes c h r e i b u n g e n , Statuten und Berichten über Einrichtungen, welche zum Besten der unbemittelten Volksklassen getroffen sind. II. Auskunftserteilung auf Anfragen über Arbeiterwohlfahrtse i n r i c h t u n g e n zunächst an die beteiligten Vereine u n d , soweit Zeit und Mittel es gestatten, auch an Nichtbeteiligte. III. Mitteilung ü b e r b e m e r k e n s w e r t e E r s c h e i n u n g e n auf dem Gebiet der Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen an die Zeitschriften der beteiligten Vereine und a n d e r e Blätter, welche sich zu diesem Zweck zur V e r f ü g u n g stellen. An d e r G r ü n d u n g w a r e n n e u n g r ö ß e r e g e m e i n n ü t z i g e V e r e i n e , so d e r Z e n t r a l v e r e i n f ü r d a s Wohl d e r a r b e i t e n d e n Klassen in B e r l i n , die G e s e l l s c h a f t f ü r V e r b r e i t u n g von Volksb i l d u n g in B e r l i n , d e r G e s a m t v e r b a n d d e r evangelischen A r b e i t e r v e r e i n e D e u t s c h l a n d s in M ü n c h e n - G l a d b a c h u. a. m., beteiligt. Für eine Reihe v o n G e b i e t e n hat die Z e n t r a l s t e l l e z u r E r leichterung der Organisation ausführliche Schemata ausarbeiten l a s s e n , so f ü r die B e g r ü n d u n g v o n B a u g e n o s s e n s c h a f t e n , die E r r i c h t u n g v o n Hilfs- u n d P e n s i o n s k a s s e n , die E i n r i c h t u n g v o n

III. Allgem. Zentralstellen f. Propaganda gesunder Anschauungen. 29 Fabrikbibliotheken und Lesezimmern, die G r ü n d u n g von J u g e n d klubs. — D a s Organ der Zentralstelle, das f r ü h e r unter dem N a m e n „Zeitschrift der Z.-St. f. A.-W.-E." erschien, führt nun nach V e r s c h m e l z u n g des Vereins C o n c o r d i a mit der Zentralstelle den Namen Concordia. Diese Zeitschrift hat u. a. die Entwicklung der W o h n u n g s f r a g e in weitestgehender Weise g e fördert. Umfangreiche U n t e r s u c h u n g e n zur Wohnungsfrage, insb e s o n d e r e über die B e s c h a f f u n g der Geldmittel für gemeinnützige Bautätigkeit, ferner ü b e r die zweckmäßige V e r w e n d u n g der Sonn- u n d Feiertagszeit, über das S p a r k a s s e n w e s e n usf. hat die Zentralstelle unter der B e z e i c h n u n g „Schriften" bis zum Jahre 1903 in 23 Heften erscheinen lassen. Alljährliche Konferenzen und Informationsreisen sollen dazu dienen, die beteiligten Kreise immer weiter in das Gebiet der Volkswohlfahrtspflege e i n z u f ü h r e n . Über die einzelnen von der Zentralstelle geförderten Anstalten, so i n s b e s o n d e r e den Berliner Spar- und Bauverein, hat wiederholt P r o f e s s o r Dr. Albrecht, dann Dr. v. E r d b e r g a. a. 0 . berichtet.

Z.-St. f. A.-W.-E., Abteilung für Armenpflege und Wohltätigkeit. Ausschufs für Wohlfahrtspflege auf dem Lande. Als b e s o n d e r e Abteilungen je mit eigenem Vorstand die A b t e i l u n g f ü r A r m e n p f l e g e u n d W o h l t ä t i g k e i t der A u s s c h u ß f ü r W o h l f a h r t s p f l e g e auf d e m L a n d e Zentralstelle späterhin angegliedert worden. Der Etat Zentralstelle und ihrer Abteilungen balanciert 1903 etwa M. 75 000.

sind und der der mit

Die „ A b t e i l u n g f ü r A r m e n p f l e g e u n d W o h l t ä t i g k e i t " veröffentlicht seit dem Jahre 1900 die „ Z e i t s c h r i f t f ü r d a s A r m e n w e s e n " , die in monatlichen Heften erscheint und eine reiche und wertvolle F u n d g r u b e für eingehende Information auf ihrem Gebiete darstellt. Im Auftrage u n d u n t e r Mitwirkung des A u s s c h u s s e s für Wohlfahrtspflege a. d. L. ist von H. S o h n r e y der vorzügliche Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und HeimatP f l e g e (2) Berlin 1901 h e r a u s g e g e b e n worden.

3 0 'II. Allgem. Zentralstellen f. Propaganda gesunder Anschauungen.

Sozialmuseen. Musée social, Paris. Ständige Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt, Charlottenburg. Museum für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, München. P. Schmid, Soziale Museen.

„Arbeiterfreund" 1899.

Die Idee zur E r r i c h t u n g sozialer M u s e e n ist bereits Mitte d e s 19. J a h r h u n d e r t s z u n ä c h s t in England an die Öffentlichkeit g e t r e t e n , indem Twining s c h o n 1852 darlegte, wie s e h r die Verb e s s e r u n g der L a g e der a r b e i t e n d e n Klassen in b e z u g auf ihre W o h n u n g , ihre M ö b e l und H a u s g e r ä t e , ihre K l e i d u n g , ihre Nahrungsmittel usf. erleichtert werden könne durch ein ö k o n o m i s c h e s Museum für die a r b e i t e n d e n K l a s s e n . D a s ausführliche P r o g r a m m Twinings ist a. a. 0 . S . 2 7 2 w i e d e r g e g e b e n . Seine A n r e g u n g wurde bei den P a r i s e r Weltausstellungen durch eigene planmäßige A b t e i l u n g e n für S o z i a l ö k o n o m i e verwertet. Das im J a h r e 1889 hierbei g e s a m m e l t e u n g e h e u r e Material wurde, nachdem Graf C h a m b r u n sein H a u s und Barmittel zur Verfügung gestellt, im M u s é e s o c i a l dauernd zugänglich g e m a c h t . Dass e l b e ist nicht auf nationale Wirksamkeit b e s c h r ä n k t , sondern will j e d e r Nation die B e s t r e b u n g e n anderer V ö l k e r , ihre Wohlf a h r t s e i n r i c h t u n g e n , ihre P u b l i k a t i o n e n und ihre Erfahrungen und L e i s t u n g e n zugänglich m a c h e n . V o n d e r Mehrzahl a n d e r e r ähnlicher Museen seien hier i n s b e s o n d e r e die beiden d e u t s c h e n h e r v o r g e h o b e n . ( D a s Soziale M u s e u m in Frankfurt a. M . ist bereits in V e r b i n d u n g mit dem Institut für G e m e i n w o h l b e r ü h r t . ) Die 1903 v o m Reich e r r i c h t e t e s t ä n d i g e Ausstellung f ü r A r b e i t e r w o h l f a h ' r t in B e r l i n - C h a r l o t t e n b u r g , die sich auf E r s c h e i n u n g e n auf den G e b i e t e n der Unfallverhütung, G e w e r b e h y g i e n e , W o h l f a h r t s v e r h ä l t n i s s e ( W o h n u n g s - , Ernähr u n g s w e s e n ) , Literatur e t c . e r s t r e c k t , ist auf die Anregungen des R e i c h s t a g s , der B e r u f s g e n o s s e n s c h a f t e n und der Z . - S t . f. A . - W . - E . zurückzuführen. D e r e r s t e Keim zur Errichtung des M u s e u m s lag in der A u s s t e l l u n g für Unfallversicherung in Berlin 1889. B a y e r n besitzt eine g l e i c h e von der F a b r i k - und G e w e r b e inspektion e i n g e r i c h t e t e A u s s t e l l u n g in dem M u s e u m für A r b e i t e r w o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n in M ü n c h e n .

III. Allgem. Zentralstellen f. Propaganda gesunder Anschauungen. 31

Zentralverein für das Wohl arbeitender Klassen. „Der Arbeiterfreund" 1904.

42. Jahrg. — Volkswohl.

Die Aufgabe des Zentralvereins ist, für die Verbesserung des sittlichen und wirtschaftlichen Zustandes der arbeitenden Klassen auf dem Gebiete des Deutschen Reiches anregend und fördernd zu wirken. Organ des Vereins ist der „ A r b e i t e r f r e u n d " , der nicht nur den Zusammenhang zwischen dem Zentralverein und seinen Mitgliedern vermittelt, sondern, indem er bestehende und noch entstehende zweckmäßige Einrichtungen bespricht, zu deren weiterer Verbreitung Anregung zu geben sucht. Neben dem „Arbeiterfreund" erscheint als Organ des Zentralvereins die „Sozial-Korrespondenz", die unter dem Titel „Volkswohl" wöchentlich einmal und als Zeitungsausgabe zweimal erscheint. Der Zentralverein hat die Entstehung allgemein wichtiger Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt durch bedeutende Zuwendungen auch praktisch unterstützt. — Dem Verein gehören Ende 1902 1062 Mitglieder an.

Charitasverband für das katholische Deutschland mit dem Sitz in Freiburg i. Br. Monatsschrift „Charitas". Zeitschrift f.d. Armenwesen Februar 1903.

Die Zusammenfassung der Bestrebungen der katholischen Charitas ist wesentlich jüngeren Datums als jene der gleichgerichteten des evangelischen Deutschlands. Der Charitasverband, 1897 gegründet, stellt sich die Aufgabe, die gesamten, an der Übung der katholischen Wohltätigkeit und Wohlfahrtspflege interessierten Kreise zur planmäßigen Förderung der Werke der Nächstenliebe zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufassen. Seine Ziele sind im einzelnen wie folgt bestimmt: 1. Jährliche Abhaltung allgemeiner charitativer Versammlungen (Charitastage) zur Besprechung der mannigfaltigen charitativen Fragen und Bestrebungen. 2. A n r e g u n g zur Gründung von Lokal- und Diözesan-Charitaskomitees bzw. -verbänden, d. h. freien Vereinigungen von Vertretern und Freunden der Charitas zur planmäßigen Betätigung von Wohltätigkeitsbestrebungen.

32 III. Allgem. Zentralstellen f. Propaganda gesunder Anschauungen. 3. Anregung charitativer Fach- und Diözesankonferenzen. 4. Gründung einer zentralen charitativen Auskunftsstelle. 5. Veranstaltung von Erhebungen über die Werke der katholischen Charitas sowie einer systematischen Darstellung derselben. 6. Herausgabe einer populär-wissenschaftlichen charitativen Monatsschrift unter dem Titel „Charitas". 7. Veröffentlichung größerer wissenschaftlicher Werke und kleinerer populärer Schriften über die verschiedenen Zweige der Charitas. 8. Anlegung einer allgemeinen wissenschaftlichen CharitasBibliothek. 9. Förderung sonstiger Bestrebungen der Charitas. Dem Verbände gehören Ende 1902 über 2000 Mitglieder an, unter denen 8 Bischöfe, 10 Mitglieder regierender Häuser, 817 Geistliche, 261 Vereine und Anstalten sich befinden. Lokale Organisationen des katholischen Charitasverbandes bestehen u. a. in Berlin, Frankfurt a. M., Essen, Straßburg und München. Der Charitasverband für das katholische Deutschland hat in vielseitiger Weise z u r Belebung der katholischen Wohltätigkeitsbestrebungen beigetragen. Der Verband ist hierbei überall b e m ü h t , seine Tätigkeit auf die in der Fachwissenschaft als g e s u n d bekannten Grundlagen zu stellen. Seine Bibliothek umfaßt 1300 Bände und 140 Zeitschriften; sie soll die gesamte Literatur über Armenpflege vereinigen. Die H e r a u s g a b e von H a n d b ü c h e r n über die einzelnen Zweige d e r Charitas, so über Jugendfürsorge usf., ist ins Auge gefaßt. Die Zeitschrift „Charitas" erscheint Anfang 1904 bereits im 9. Jahrgang. In Österreich wurde auf dem 2. Osterreichischen Wohltätigkeitskongreß in Graz im Juni 1903 ein Charitasverband d e s g a n z e n Reiches konstituiert, dessen Programm dem des d e u t s c h e n Charitasverbandes gleich ist.

Office central des Institutions charitables (Oeuvre libre d'assistance), Paris. Dasselbe verfolgt das Ziel, ein Band zwischen den wohltätigen Einrichtungen d e s g a n z e n Landes zu bilden. Über die eingeschlagenen Wege teilt Münsterberg in seiner „Armenp f l e g e " 1 ) Näheres mit. >) a. a. O. S. 88.

III. Allgem. Zentralstellen f. Propaganda gesunder Anschauungen. 3 3

Charity Organisation Societies. Als Vorbild f ü r die B e s t r e b u n g e n z u r Z u s a m m e n f a s s u n g d e r W o h l t ä t i g k e i t s e i n r i c h t u n g e n k a n n i n s b e s o n d e r e die L o n d o n e r C h a r i t y O r g a n i s a t i o n Society d i e n e n . Die P r o g r a m m p u n k t e d e r s e l b e n s i n d : 1. Verbreitung gesunder Grundsätze und Ansichten in bezug auf die Ausübung der Wohlfahrtspflege. 2. Förderung des Zusammenwirkens wohltätiger Institute zum Besten ihrer gemeinsamen Aufgaben. 3. Die Befürwortung von Wohlfahrtseinrichtungen, die g e sunden Grundsätzen und dem Bedürfnisse entsprechen. 4. Die Erörterungen praktischer einschlägiger Fragen, die Sammlung und Verbreitung von Information über wohltätige Einrichtungen. 5. Die Einziehung von Erkundigungen über bestimmte Pers o n e n , Unterdrückung des Bettels, Unterstützung des Bezirkspflegers usf.Das nun jährlich erscheinende H a n d b u c h der Wohltätigk e i t s e i n r i c h t u n g e n , d a s f ü r 1903 allein 738 Seiten u m f a ß t , gibt in s e i n e r E i n l e i t u n g a u s g e z e i c h n e t e D a r l e g u n g e n d e r Mittel u n d d e r B e s t i m m u n g e n f ü r die W o h l f a h r t s p f l e g e im w e i t e r e n S i n n e u n d in s e i n e m R e g i s t e r nicht n u r eine s y s t e m a t i s c h e Liste d e r wichtigen W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n in L o n d o n , teilweise a u c h in g a n z E n g l a n d mit allen n ä h e r e n D a t e n , s o n d e r n b e i j e d e m einz e l n e n A b s c h n i t t eine k u r z e k r i t i s c h e W ü r d i g u n g d e r e i n s c h l ä g i g e n F r a g e n , weiter einen J a h r e s b e r i c h t ü b e r die W o h l f a h r t s p f l e g e , endlich eine Liste s o w o h l d e r e n g l i s c h e n als d e r k o l o n i a l e n und ausländischen Wohltätigkeitsorganisationen. Die G e s e l l s c h a f t gibt a u ß e r d e m die monatlich e r s c h e i n e n d e „ C h a r i t y O r g a n i s a t i o n R e v i e w " heraus. Nach dem Muster der Londoner Gesellschaft sind nicht nur in E n g l a n d , s o n d e r n i n s b e s o n d e r e a u c h in A m e r i k a ä h n l i c h e O r g a n i s a t i o n e n in g r o ß e r Zahl g e s c h a f f e n w o r d e n .

S i n g e r , Soziale Fürsorge.

3

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JV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit.

IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit. Das Rote Kreuz, Zentralkomitee der deutschen Vereine, Landesvereine. Frauenvereine. Innere Mission (der evangelischen Kirche). Diakone, Diakonissen. Kathol. Ordensgenossenschaften. Heilsarmee.

Landes- und Provinzialzentralen. Zentralleitung des Württembergischen Wohltätigkeitsvereins. St. Johannisverein in Bayern. Größere Verbände für einzelne Zweige der Wohlfahrtspflege (Wanderwesen, Sommerpflege etc.).

Das Rote Kreuz. „Das Rote Kreuz". Offizielle Zeitschrift der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz. Berlin 1904. XXII. Jahrg. — Blätter des Bayer. Frauenvereins vom Roten Kreuz. — Blätter des Badischen Frauenvereins. Herausgegeben vom Zentralkomitee. — Prof. Dr. P a n n witz, Das Rote Kreuz in Krieg und Frieden. Ansprache. D. R. Kr. 5. Juni 1904. D a s „ R o t e K r e u z " ist entstanden durch die G e n f e r K o n v e n tion ( 1 8 6 4 ) , welche d i e s e s Z e i c h e n annahm, um die Neutralität d e r K r a n k e n p f l e g e o r g a n e und der Verwundeten zu sichern. Im A n schluß an die von den S t a a t e n getroffenen Vereinbarungen z u r Minderung d e r Greuel des K r i e g e s kam bald das Gefühl zum D u r c h b r u c h , daß n e b e n den staatlichen und militärischen E i n richtungen eine freie, vom H e r z e n j e d e s E i n z e l n e n a u s g e h e n d e F ü r s o r g e geschaffen werden m ü ß t e : die V e r e i n s o r g a n i s a t i o n e n v o m Roten Kreuz. In dem Kriege 1870/71 war der D r a n g z u r B e t ä t i g u n g d e r freiwilligen Krankenpflege s e h r g r o ß ; er führte dazu, d i e s e s freiwillige A u f g e b o t in ein f e s t g e g l i e d e r t e s Unternehmen zu verwandeln. S o w o h l die Notwendigkeit der p r a k t i s c h e n S c h u l u n g im Frieden für die Eventualität d e s K r i e g e s wie der W u n s c h , die zahlreichen s c h l u m m e r n d e n Kräfte zur F ö r d e r u n g der V o l k s wohlfahrt b e i z u z i e h e n , haben in j ü n g s t e r Zeit zu einer A u s dehnung der Vereinstätigkeit auf s o z i a l e G e s u n d h e i t s - und Krankenpflege wie s o z i a l e F ü r s o r g e überhaupt geführt. Die G e s a m t o r g a n i s a t i o n des R o t e n K r e u z e s in D e u t s c h l a n d gliedert sich wie f o l g t : A n der S p i t z e steht das Z e n t r a l -

IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit.

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komitee der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz, d a s sich in zehn Abteilungen gliedert, von denen nur j e n e f ü r internationale Angelegenheiten, für die M o b i l m a c h u n g s a n g e l e g e n heiten, f ü r Krankenpflegewesen, für Krankentransportwesen, für D e p o t w e s e n und für Friedenstätigkeit genannt sein m ö g e n . An d a s Zentralkomitee schließen sich die einzelstaatlichen L a n d e s v e r e i n e v o m R o t e n K r e u z und die P r o v i n z i a l v e r e i n e . Weitere Organisationen sind die freiwilligen S a n i t ä t s k o l o n n e n vom Roten Kreuz mit dem g e s c h ä f t f ü h r e n d e n A u s s c h u ß der F ü h r e r u n d A r z t e v e r s a m m l u n g e n , e b e n s o der g e s c h ä f t f ü h r e n d e A u s s c h u ß d e r G e n o s s e n s c h a f t freiwilliger Krankenpfleger im Kriege, d e r g e s c h ä f t f ü h r e n d e A u s s c h u ß d e s V e r b a n d e s d e u t s c h e r Krankenpflegeanstalten vom Roten K r e u z , endlich d e r ständige A u s s c h u ß d e r D e u t s c h e n Frauenhilfs- und Pflegevereine u n t e r d e m Roten Kreuz. In Preußen allein b e s t e h e n 1903 etwa 500 M ä n n e r vereine, 800 Sanitätskolonnen vom Roten Kreuz. Von g r ö ß t e r B e d e u t u n g ist die Tätigkeit der Frauen, die in d e n vaterländischen Frauenvereinen mit dem HaUptverein in Berlin, d e m Badischen, Bayerischen Frauenverein etc. organisiert sind. A u c h die Frauenvereine haben in Erweiterung ihrer ersten Aufgabe, d e r Vorbereitung für die Hilfe im Kriege, die Beseitig u n g u n d V e r h ü t u n g wirtschaftlicher und sittlicher Not zu ihrer Aufgabe g e m a c h t . Die F r a u e n v e r e i n e s u c h e n nicht nur in K r a n k e n h ä u s e r n , Asylen, Krippen und anderen Anstalten d u r c h S c h w e s t e r n und Aufbringen von Geldmitteln ihrer freiwillig übern o m m e n e n Aufgabe gerecht zu w e r d e n , ihre Mitglieder g e h e n immer m e h r selbst hinaus ins Volk. „Sie z ü n d e n selbst den Armen d e n Weihnachtsbaum an, b e s u c h e n die Kranken, speisen die H u n g r i g e n , trösten die B e k ü m m e r t e n . In H a u s h a l t u n g s k u r s e n lehren sie die Mädchen aus dem lohnarbeitenden S t a n d e u n d verbringen mit ihren Müttern gesellige A b e n d e . An der Peripherie d e r Stadt werden Arbeitergärten a n g e l e g t . . . . An allen Enden e n t s t e h e n Erholungsstätten für Lungen- u n d N e r v e n kranke u n d zahlreiche andere Wohlfahrtseinrichtungen vom Roten K r e u z . . . Im inneren Z u s a m m e n h a n g hiermit fängt das S c h w e s t e r n wesen im Roten Kreuz an, immer m e h r aufzublühen . . Einen Nachweis der u m f a s s e n d e n Tätigkeit d e r F r a u e n vereine v o m Roten Kreuz enthält die Zeitschrift im X X . Jahrg., Nr. 22. Die sämtlichen 1125 Zweigvereine d e s Vaterländischen 3*

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IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit.

F r a u e n v e r e i n s (mit 276 130 Mitgliedern) hatten 1903 eine Einn a h m e von rund M. 5 1 7 7 0 0 0 , eine A u s g a b e von M. 4 3 9 5 0 0 0 u n d einen Bestand v o n M. 14000000. Der B a d i s c h e F r a u e n verein umfaßte in 250 Zweigvereinen 35815 Mitglieder.

Innere Mission. Zentralausschufs für Innere Mission in Berlin. Dr. Th. Schäfer, Pastor, Direktor der Diakonissenanstalt zu Altona, Leitfaden der Inneren Mission (4). Hamburg 1903. Mit umfassender weiterer Literatur. — Fliegende Blätter a. d. Rauhen Hause. Organ des Zentralausschusses f. I. M. 1904, 6. Jahrg. — Monatschrift f. I. M., Gütersloh. Den geistigen u n d leiblichen N o t s t ä n d e n d e r unbemittelten o d e r leidenden B e v ö l k e r u n g auf dem Wege freier Organisation, a b e r d o c h unterstützt durch die Einrichtungen der evangelischen Kirche u n d in deren Geiste abzuhelfen, ist Aufgabe der Inneren Mission. Der Beginn ihrer öffentlichen Arbeit in g r ö ß e r e m Stile g e h t bis auf das Jahr 1848 zurück, in welchem Wichern sein P r o g r a m m auf d e r Wittenberger Versammlung entwickelte. Die a u s g e d e h n t e n und vielseitigen Arbeiten der Inneren Mission lassen sich g r u p p i e r e n wie f o l g t : 1. H i l f e f ü r g e i s t l i c h e N o t s t ä n d e , von welchen hier Auswanderermission, Seemannsmission, Stadtmission, Sonntagsschule, Volksbibliotheken, Bestrebungen für Sonntagsruhe und -heiligung usf. einschlägig sind. 2. H i l f e f ü r s i t t l i c h e N o t s t ä n d e : Rettungshäuser, Erziehungsvereine, Kinderhorte, Gefangenen- und Entlassenenpflege, Magdalenenanstalten, Zufluchtshäuser, Versorgungshäuser, Kampf gegen die Sittenlosigkeit, gegen die Trunksucht, Morphiumsucht, Herbergen zur Heimat, Lehrlingsheime, Jünglingsvereine aller Berufsklassen, Seemannsheime, Marthaheime (Haushaltungsschule, Mägdeherberge), Fabrikarbeiterinnen-, Ladnerinnen-, Gouvernantenheime, Jungfrauenvereine, Arbeiter- und Arbeiterinnenkolonien usw. 3. H i l f e f ü r ä u ß e r e N o t s t ä n d e : Krankenpflege (Irrenpflege, Siechenpflege), Sol- und Seebäder für schwächliche Kinder, Gemeindepflege, Armenpflege, Anormalenfürsorge (für Blinde, Taubstumme, Blöde, Epileptische, Krüppel), Krippen, Kleinkinderschulen, Waisenhäuser, Seuchen- und Kriegspflege, Sparkassen, Hausfleißschulen, Bauvereine usw. Eine z u s a m m e n f a s s e n d e Darstellung der Arbeit der Inneren Mission bietet d a s a u s g e z e i c h n e t e Werk von Schäfer (a. a. O.

IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit.

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S . 116 ff.), auf w e l c h e hier wohl B e z u g g e n o m m e n werden darf. E i n e S t a t i s t i k der I n n e r e n Mission ist v o n dem Zentralauss c h u ß 1899 veröffentlicht worden. Die Organisation der Inneren Mission ist e i n e lediglich freiwillige, sowohl was die Mitgliedschaft als die B e i t r ä g e anlangt. D e n Mittelpunkt für D e u t s c h l a n d bildet der Z e n t r a l a u s s c h u ß zu Berlin, g e g r ü n d e t 1848. V o n den g r ö ß e r e n , das g a n z e G e b i e t d e r Inneren Mission in allen o d e r d o c h den meisten s e i n e r Z w e i g e umfassenden .Vereinen seien u. a. h i e r g e n a n n t die E v a n g e l i s c h e G e s e l l s c h a f t in Stuttgart 1830, die V e r e i n e für I n n e r e Mission in H a m b u r g 1848,

Pommern

1848,

1849, R h e i n p r o v i n z

Baden

1849,

Bremen

1849,

Ostpreußen

1849.

U n t e r den Mitarbeitern sind die B e r u f s a r b e i t e r , V e r e i n s g e i s t l i c h e , D i a k o n e und D i a k o n i s s e n von b e s o n d e r e r B e d e u t u n g . D i e auf A n r e g u n g e i n z e l n e r Mitglieder e n t s t e h e n d e n Anstalten k ö n n e n e n t w e d e r an den Lokalverein und damit den Provinzialund L a n d e s v e r e i n für I n n e r e Mission A n s c h l u ß finden, o d e r auch an V e r b ä n d e , welche für spezielle A u f g a b e n d e r Inneren Mission g e b i l d e t w e r d e n ; so kann sich z. B . eine n e u e r r i c h t e t e H e r b e r g e z u r Heimat an den D e u t s c h e n H e r b e r g s v e r e i n a n s c h l i e ß e n usf.

Diakone, Diakonissen. Die D i a k o n e o d e r B r ü d e r und die Diakonissen werden in e i g e n e n B i l d u n g s s t ä t t e n für ihren B e r u f ausgebildet. Die D i a k o n e n s a c h e wurde von W i c h e r n in der F o r m d e r G e n o s s e n s c h a f t , in w e l c h e r allein die altkirchliche D i a k o n i e in der G e g e n w a r t m ö g l i c h w a r , wieder e r w e c k t . Wichern g r ü n d e t e d a s e r s t e B r ü d e r h a u s in o r g a n i s c h e m Z u s a m m e n h a n g mit der E r z i e h u n g s a n s t a l t des R a u h e n H a u s e s in H o r n bei H a m b u r g 1833, das die g r ö ß t e und für alle a n d e r e n z u m Vorbild g e w o r d e n e B r ü d e r a n s t a l t ist. E s b e s t e h e n zurzeit in D e u t s c h land 18 B r ü d e r - bzw. D i a k o n e n h ä u s e r mit ü b e r 2 6 0 0 B r ü d e r n . Im J a h r e 1876 h a b e n sich die Anstalten z u e i n e r K o n f e r e n z z u s a m m e n g e s c h l o s s e n . A l s Hauptarbeitsfelder der n a c h erfolgter A u s b i l d u n g v o n den A n s t a l t e n e n t s a n d t e n B r ü d e r k ö n n e n g e nannt w e r d e n : A r m e n - und A r b e i t s h ä u s e r , R e t t u n g s a n s t a l t e n , W a i s e n h ä u s e r , K r a n k e n h ä u s e r , Idiotenanstalten, A r b e i t e r k o l o n i e n , H e r b e r g e n , S t a d t m i s s i o n e n usw.

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IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit.

Unvergleichlich bedeutender hat sich die D i a k o n i s s e n s a c h e , d. h. die weibliche Mitarbeit an der evangelischen Liebestätigkeit entwickelt. Von dem durch Fliedner, den Erneuerer der Diakonissensache, im Jahre 1836 in Kaiserswerth begründeten ersten Diakonissenmutterhaus gingen zahlreiche Tochtergründungen aus, die teils selbst wieder Mutterhäuser wurden. Da nach dem Muster von Kaiserswerth auch andere selbständige Diakonissenanstalten begründet wurden, gewann die Ausbildung der Diakonissinnen eine außerordentliche Ausbreitung. Im „Kaiserswerther Verband" sind 49 reichsdeutsche Diakonissenmutterhäuser zusammengeschlossen (im ganzen 79) mit über 12000 Schwestern; außerdem gibt es in Deutschland noch wenigstens 12 nicht zu diesem Verbände gehörige Diakonissenhäuser mit rund 1000 Schwestern. Die Schwestern werden nach zwei- oder dreijähriger Ausbildungszeit in den Anstalten als Diakonissen eingesegnet und dann ähnlich wie die katholischen Ordensschwestern von den Mutterhäusern zur praktischen Arbeit entsandt. Ein Hauptarbeitsgebiet der Diakonissen ist die Krankenpflege in geschlossenen Krankenhäusern wie in der offenen Gemeindepflege. Außerdem wirken sie jedoch noch in allen Arten von geschlossenen Anstalten, in Krippen, Kleinkinderschulen, der offenen Gemeindearmenpflege usf. Ein weiteres Arbeitsgebiet, die A u s bildung der Diakonissen zum Lehrberuf, ist begründet worden. Die Bedeutung der Diakonissenanstalten liegt nicht nur in ihrer Tätigkeit als Zentralstellen für die Förderung der Volkswohlfahrtspflege im allgemeinen, in der Ausbildung und Fortbildung, welche sie den Schwestern gewähren, sondern ganz besonders auch in dem inneren Zusammenschlüsse, dem geistigen und materiellen Rückhalte, den die zahlreichen Schwestern in ihnen finden.

Katholische Ordensgenossenschaften. Eine umfassende Tätigkeit in vielen Zweigen der Wohlfahrtspflege verfolgen die katholischen, meist weiblichen Ordensgenossenschaften. So die von Vincenz de Paulo 1633 begründete Ordensgenossenschaft der B a r m h e r z i g e n Schwestern, ferner die Genossenschaften der Franziskanerinnen,

IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit. Dienstmägde Christi, Elisabethinerinnen, stinerinnen, S c h w e s t e r n vom Guten Hirten

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Auguu. a. m.

D i e Mitglieder der G e n o s s e n s c h a f t e n weihen ihr g a n z e s L e b e n dem Dienste christlicher N ä c h s t e n l i e b e . Nach einer im Mutterhause verbrachten Probezeit binden sie sich durch ein G e l ü b d e dauernd an die G e n o s s e n s c h a f t , w e l c h e ihrerseits die Verpflichtung übernimmt, auf L e b e n s z e i t für die Mitglieder zu s o r g e n . Die dem Mutterhaus v o r s t e h e n d e Oberin e n t s e n d e t die S c h w e s t e r n dann nach Bedarf zu v e r s c h i e d e n e r Tätigkeit. Die S c h w e s t e r n sind großenteils in K r a n k e n h ä u s e r n , E r z i e h u n g s anstalten, Armenhäusern und Pflegeanstalten aller A r t , also v o r w i e g e n d in der g e s c h l o s s e n e n Pflege tätig, d o c h wirken a u c h viele als G e m e i n d e s c h w e s t e r n in der offenen A r m e n p f l e g e , oft im A n s c h l u ß an die am Ort b e s t e h e n d e n religiösen V e r e i n e . Die S c h w e s t e r n sind während ihrer A r b e i t in der offenen G e m e i n d e p f l e g e dem örtlichen geistlichen Amt unterstellt, k ö n n e n a b e r vom Mutterhause jederzeit zurückgerufen werden. M ü n s t e r b e r g (Armenpflege S. 6 0 ) s c h ä t z t die G e s a m t z a h l der S c h w e s t e r n in D e u t s c h l a n d auf über 2 0 0 0 0 . G e n a u e N a c h richten hierüber sind nicht bekannt.

Heilsarmee. Charities Register and Digest 1903. — Der Kriegsruf. — wohl 1903, Nr. 4.

Volks-

Die in England begründete Heilsarmee (Salvation A r m y ) nimmt unter den sozial-religiösen O r g a n i s a t i o n e n u n s e r e r Zeit unstreitig mit einen ersten R a n g ein. D e r B e g r ü n d e r und Leiter der A r m e e , der bekannte Philanthrop G e n e r a l B o o t h , b e s c h l o ß anfangs d e r 9 0 e r J a h r e die Heilsarmee, die früher a u s s c h l i e ß l i c h die „ S e e l e n r e t t u n g " b e z w e c k t e , zur L ö s u n g der sozialen F r a g e b e i z u z i e h e n . B o o t h machte sich trotz mancherlei S c h w i e r i g k e i t e n und trotzdem auch seine Mitarbeiter diese n e u e n weltlichen Z i e l e nicht billigten, mutig an die Verwirklichung s e i n e r Pläne. Ein Weckruf („Im dunkelsten England* von G e n e r a l B o o t h ) an das britische Volk b r a c h t e ihm in kurzer Zeit ein Grundkapital von £ 1 0 0 0 0 0 e i n ; durch seinen großen Einfluß auf die M e n g e , d e r ihm die B e s c h a f f u n g der ungeheuren benötigten S u m m e n möglich machte, durch sein F i n a n z g e n i e und O r g a n i s a t i o n s t a l e n t g e l a n g

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IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit.

es ihm, großartige Einrichtungen zum Wohle der Elendesten unter den Armen ins Leben zu rufen. In erster Linie wandte er sich an die verkommensten, arbeitsscheuen und elendesten Menschen, die in den Schlupfwinkeln Londons und anderer englischer Großstädte ein menschenunwürdiges Dasein fristen, und versuchte, sie in nützliche Mitglieder der Gesellschaft umzuwandeln. Vor allem eröffnete er in den englischen Großstädten Asyle (Shelters), in denen Obdachlose schon für 2 Pence (17 Pf.) pro Nacht einen warmen Raum, ein gutes Bett und freundlichen Rat fanden. Ferner errichtete er 132 Rettungspikette oder „Schlupfwinkelposten" im Herzen der schlimmsten Armenviertel. Diese Posten sind mit meist weiblichen Offizieren der Armee besetzt, welche ihr Leben der Aufgabe weihen, die Ärmsten der Armen aufzuspüren und einem menschenwürdigen Dasein zuzuführen. Endlich will Booth noch überseeische Kolonien gründen, welche die letzte Station vieler „Geretteter" bilden sollen. Solange dieser Plan, der bisher nur in ganz kleinen Anfängen verwirklicht werden konnte, nicht ausgeführt ist, ist keine Hoffnung vorhanden, daß das soziale Unternehmen sich allein erhalten kann. Bis jetzt bestehen nur zwei Rettungskolonien in Amerika, welche jedoch ausschließlich für die in den amerikanischen Städten „Geretteten" bestimmt sind. Das soziale Rettungswerk der Heilsarmee erstreckt sich nicht nur auf alle englisch sprechenden Länder, sondern auch auf Skandinavien, Indien, Holland, Belgien, Deutschland, Frankreich, die Schweiz u. a. In Indien und Ceylon hat die Armee 23 Dorfbanken errichtet, um dem wucherischen Treiben der einheimischen Gelddarleiher entgegenzuarbeiten; den größten Erfolg erzielte sie in den australischen Kolonien, wo man sie als philanthropisches Werkzeug der Regierungen betrachtet. Einen Begriff von der Ausdehnung der Liebesarbeit der Heilsarmee gibt folgende dem Volkswohl entnommene Zusammenstellung der bestehenden Einrichtungen: Kinderasyle 31 (fast alle außerhalb Großbritanniens); Schlupfwinkelposten: Großbritannien 41, Ausland 91, zusammen 132; Rettungsheime 25 + 88 = 113; Exverbrecherheime 1 + 12 = 13; Nahrungs- und Obdachdepots 2 4 + 1 3 3 = 157; Arbeitsbureaus 1 3 + 1 0 = 23; Arbeitsstätten (Elevators) 9 + 67 = 76; landwirtschaftliche

IV. A l l g e m e i n e Z e n t r a l s t e l l e n f ü r p r a k t i s c h e A r b e i t .

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Kolonien 1 + 1 5 = 16; a n d e r e Institute 8 + 58 = 66; z u s a m m e n Großbritannien 122, Ausland 505, total 627 Institute. Uber die einzelnen dieser zahlreichen Einrichtungen, wie die O b d a c h h ä u s e r (Shelters), die Heime für entlassene Sträflinge, die Elevators, die Zufluchtsstätten für verlassene Mädchen usf., bringen die einschlägigen Abschnitte in dem Charities Register and Digest e i n g e h e n d e Berichte.

Landes- und Provinzialzentralen. Zentralleitung des Württembergischen Wohltätigkeitsvereins. St. Johannisverein in Bayern. Ahnlich wie die später b e s p r o c h e n e n örtlichen Zentralvereine für Wohlfahrts- und Armenpflege gibt es auch eine g r ö ß e r e Reihe von Landesvereinen, die sich in a u s g e d e h n t e r e m Maßstabe die Schaffung von Wohlfahrtseinrichtungen für das betreffende Gebiet und weiterhin solche, die sich die A u s b r e i t u n g und Organisation der freiwilligen A r m e n p f l e g e sowie die Z u s a m m e n f a s s u n g u n d U n t e r s t ü t z u n g der b e s t e h e n d e n einzelnen Wohltätigkeitsvereine zur Aufgabe machen. In ersterer Richtung sind u. a. der „Bergische Verein für Gemeinwohl", der „ A a c h e n e r Verein zur B e f ö r d e r u n g der Arbeitsamkeit" , dann der „Verein zur F ö r d e r u n g des Wohls der arbeitenden Klassen im Kreise W a l d e n b u r g in Schlesien" hervorzuheben. Zur zweiten G r u p p e g e h ö r e n die „ Z e n t r a l l e i t u n g d e s Württembergischen Wohltätigkeitsvereins" und der „St. J o h a n n i s v e r e i n in B a y e r n " . — Der erstere hat die Aufgabe, den Wohltätigkeitssinn im Lande zu beleben, die richtige Behandlung der A r m e n f ü r s o r g e zu fördern, einzelne Wohltätigkeitsvereine zu beraten, zu unterstützen u n d selbst ins Leben zu rufen. Der Verein ist in Bezirksvereine gegliedert. Der St. Johannisverein in Bayern befaßt sich mit der religiösen, sittlichen und geistigen Pflege der Armen, mit materieller Hilfeleistung durch F ö r d e r u n g von Kinderhorten, Haushaltungs- und Handarbeitsschulen, Suppenanstalten, Arbeiterkolonien usf. Ferner unterstützt der Verein b e s o n d e r s Maßregeln und Einrichtungen für Gesundheitspflege, Kranken- und G e b r e c h l i c h e n f ü r s o r g e . Im Jahre 1903 hat er 340 V e r e i n i g u n g e n und Anstalten mit zusammen M. 54500 unterstützt.

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IV. Allgemeine Zentralstellen für praktische Arbeit.

Gröfsere Verbände für einzelne Zweige der Wohlfahrtspflege. Für abgegrenzte Zweige der Wohlfahrtspflege hat sich sowohl in Deutschland als im Auslande eine große Reihe von Zentralstellen gebildet, von welchen an dieser Stelle nur einzelne erwähnt werden können. Soweit tunlich, sind diese Verbände bei den einzelnen Abschnitten nochmals berührt: Die Zentralstelle für Sommerpflege, der Gesamtverband deutscher Verpflegungsstationen, der Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien, der Deutsche Herbergsverein, der Verband der Arbeitsnachweise, der Allgemeine Verband deutscher Erwerbsund Wirtschaftsgenossenschaften, die Verbände landwirtschaftlicher Genossenschaften, der Neuwieder Verband der Raiffeisenschen Darlehenskassen, die Verbände der Baugenossenschaften etc., eine Mehrzahl von Vereinigungen zur Förderung des Wohnungswesens, der Verband der Konsumvereine, der Verein gegen Mißbrauch geistiger Getränke, die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder, die Zentralvereine zur Verbreitung von Volksbildung u. a. m. Nur als B e i s p i e l e der außerordentlich zahlreichen ausländischen und internationalen Vereinigungen mögen hier die amerikanische National conférence of charities and correction, die Société internationale pour l'étude des questions d'assistance, ferner die Fédération abolitioniste internationale (Genf), der „Verein der Freundinnen junger Mädchen" genannt sein.

V. Örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

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V. Örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen der Wohlfahrtseinrichtungen und insbesondere der Armenpflege. Die verschiedenen Wege zur Zentralisation. Zentralstellen zur Auskunftserteilung über Bed ü r f t i g e . Auskunftsstelleder Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, B e r l i n . O r t l i c h e Z e n t r a l s t e l l e n und Vereine für praktische Wohlfahrtspflege. Verein Volkswohl Dresden. Ö r t l i c h e Zentral v e r e i n e für praktische Armenpflege. Verein gegen Armennot und Bettelei in Dresden u. a. m.

A u s k u n f t üb e r b e s t e h e n d e Einrichtungen. Auskunftsstellen der Frauenvereine. Handbücher über Wohlfahrtseinrichtungen. Charities Register and Digest. Die Wohlfahrtseinrichtungen B e r l i n s und seiner Vororte u. a. m. Örtliche Zentralisation durch organische Verbindung d e r W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n . (Verbindung und Meinungsaustausch der Organisationen in Konferenzen etc.) Charity Buildings.

Die verschiedenen Wege zur Zentralisation. Dr. E. M ü n s t e r b e r g , Z e n t r a l s t e l l e n für A r m e n p f l e g e und W o h l t ä t i g k e i t . J e n a 1897. Z e i t s c h r i f t für das A r m e n w e s e n 1. J a h r g . , Nr. 2, 3, 7/8, 1900. S c h r i f t e n des D e u t s c h e n V e r e i n s für A r m e n p f l e g e und W o h l tätigkeit. 1880 R ö s t e l ; Seyffardt, O r g a n i s a t i o n der freien W o h l t ä t i g k e i t , A n l e h n u n g d e r s e l b e n an die öffentliche A r m e n p f l e g e . 1891 M ü n s t e r b e r g ; R o t h f e l s , V e r b i n d u n g der ö f f e n t l i c h e n und privaten A r m e n p f l e g e . 1894 E b e r t y ; K ü n z e r , D i e B e s t r e b u n g e n und ihre Z u s a m m e n f a s s u n g .

der P r i v a t w o h l t ä t i g k e i t

1896 M ü n s t e r b e r g , G e n e r a l b e r i c h t S. 50 ff. Dr. L. Maaß, A r m e n s t a t i s t i k u. A r m e n v e r w a l t u n g . M ü n c h e n 1902. L i t e r a t u r des A u s l a n d e s s i e h e Z e i t s c h r . f. d. A r m e n w e s e n 7/8, J u l i - A u g u s t 1900. In

der Wohlfahrtspflege

großer

Städte

macht

mehr das Bedürfnis nach einem Zusammenwirken privaten B e s t r e b u n g e n öffentlichen

sowohl untereinander,

Armenpflege

fühlbar.

als

sich

der

immer

einzelnen

a u c h mit

der

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V. örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

Diese gegenseitige Verständigung sucht man: 1. durch Auskunftserteilung über die Bedürftigen, 2. d u r c h G r ü n d u n g von örtlichen Zentralvereinen, welche möglichst umfassend auf dem Gebiet der F ü r s o r g e zu wirken bestrebt sind, 3. durch Sammlung und Erteilung von A u s k u n f t über alle bestehenden Einrichtungen zur Beseitigung von Notständen, 4. durch Veröffentlichung von Handbüchern über Wohlfahrtseinrichtungen, 5. durch wechselseitigen Meinungsaustausch der verschiedenen Organisationen in Konferenzen etc: herbeizuführen.

Zentralstellen zur Auskunftserteilung über Bedürftige. Zeitschrift für das Armenwesen 1. Jahrg.. 7/8, Juli-August 1900 und obengenannte Scnriften. Wendet sich der Bedürftige an die öffentliche Armenverwaltung, an Stiftungen, Vereine etc. um Unterstützung, so ist es von g r o ß e r Wichtigkeit zu wissen, von wem der Bittende sonst noch Gaben empfängt, welche Erfahrungen andere armenpflegerische Stellen mit demselben machten. Einerseits wird hierdurch einem Mißbrauch der Unterstützungen vorgebeugt, anderseits aber auch können sich in Fällen, wo dies zur zweckmäßigen Hilfe not tut, mehrere Vereine etc. zu einem um so wirksameren Vorgehen verbinden. Dies ist das sehr einfache Problem, das der Auskunftserteilung über Bedürftige z u g r u n d e liegt. In kleinen Orten ist eine Feststellung der Verhältnisse der Armen durch persönliche Aussprache der Wohltätigkeitsorgane sehr leicht zu bewerkstelligen. Anders jedoch in den Städten, vor allem in den Großstädten, in welchen f ü r eine eingehende E r k u n d u n g der Verhältnisse der Bedürftigen e i g e n e , diesem Zweck dienende Einrichtungen unbedingt notwendig sind. Es werden also in größeren Städten meistens direkte Auskunftsstellen errichtet, und zwar entweder seitens der Stadtgemeinde, d. h. zunächst der Armenverwaltung oder seitens der Aufsicht über die Stiftungen, oder es haben Privatvereine an der Hand ihres sorgfältig gesammelten Materials und manchmal unter Zuhilfenahme der öffentlichen Armenakten dies sich zur

V. Örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

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A u f g a b e g e m a c h t . S o die „ B e r l i n e r V e r e i n i g u n g der W o h l f a h r t s b e s t r e b u n g e n " , die „Auskunftsstelle der G e s e l l s c h a f t für e t h i s c h e Kultur" in B e r l i n , der „Armenunterstützungsverein'' in D a n z i g , der „Verein zu Rat und T a t " in C h e m n i t z , die „ G e s e l l s c h a f t freiwilliger Armenfreunde" in K i e l , die „ A r m e n d i a k o n i e " in L e i p z i g , die „Zentrale für private F ü r s o r g e " und d e r „Bund der Frankfurter Vereine für Armenpflege und W o h l t ä t i g k e i t " in F r a n k f u r t , die „Auskunftsstelle für A r m e n p f l e g e und Wohltätigkeit" in C h a r l o t t e n b u r g , der kath. C h a r i t a s v e r b a n d in München. A u c h in K ö l n hat sich in j ü n g s t e r Zeit eine Z e n t r a l s t e l l e f ü r ö f f e n t l i c h e W o h l t ä t i g k e i t gebildet, deren A u f g a b e a u ß e r der Erteilung von Auskunft ü b e r bedürftige P e r s o n e n auch Mitteilung über alle Einrichtungen der A r m e n pflege und Wohltätigkeit, dann die Herbeiführung eines g e m e i n s a m e n V o r g e h e n s umfaßt.

Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, Berlin. Die Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur. Einleitung: Dr. A. L e v y ; Organisation der A.-St.: Dr. E. Friedeb e r g ; Pflegerische Tätigkeit: Luise Roloff. Berlin 1903. E i n e n Einblick in die Tätigkeit einer dieser zentralen W o h l tätigkeitsstellen gewährt der a n g e g e b e n e Bericht der A . - S t . d. D . G . f. e. K., d e r Aufsätze verdienter Mitglieder über die O r g a n i s a t i o n und pflegerische Tätigkeit der Auskunftsstelle einem weiteren Kreis vorlegt. — D e r Z w e c k der im Mai 1893 errichteten A u s kunftsstelle war ursprünglich nur die Erteilung v o n A u s k u n f t : F ü r H i l f e s u c h e n d e über die Vereine und W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n , an die sie sich zweckmäßigerweise wenden k ö n n e n ( d a s von der Auskunftsstelle h e r a u s g e g e b e n e Handbuch für Berlin s i e h e n a c h f o l g e n d ) ; für h e l f e n W o l l e n d e über die P e r s ö n l i c h k e i t e n derer, die ihre Hilfe g e s u c h t , über die Mittel und W e g e , Hilfe z u schaffen. In der Verfolgung dieses Z w e c k e s hat sich d e r A u s kunftsstelle ein g r o ß e s Arbeitsfeld e r s c h l o s s e n . W e n n ein Rat allein nicht ausreicht oder nach Lage der V e r h ä l t n i s s e nicht s o g l e i c h erteilt werden kann, so hat die Ermittlung e i n z u s e t z e n ; e s folgen B e s u c h e in der W o h n u n g des B e d ü r f t i g e n , B e s p r e c h u n g e n mit Familienangehörigen, Nachfragen bei Arbeit-

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V. örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

g e b e r n , kurz alle E r k u n d i g u n g e n , die dem R e c h e r c h e n t e n erforderlich erscheinen. Weiter b e g n ü g t sich j e d o c h die A u s k u n f t s stelle nicht, d e m Bedürftigen mitzuteilen, wie u n d wo er Hilfe finden könnte, s o n d e r n sie verhilft ihm a u c h z u r E r r e i c h u n g seines Zieles u n d setzt sich zu diesem Zweck direkt mit d e n jenigen Stellen in Verbindung, die sie für g e e i g n e t hält, einzutreten. Sie empfiehlt den Bittsteller an Vereine und Stiftungen z u r Berücksichtigung, sie verschafft ihm S p e i s e m a r k e n , sie verhandelt mit Gläubigern, b e s o n d e r s Hauswirten ü b e r S t u n d u n g o d e r Nachlaß, sie verschafft ihren Pfleglingen g e e i g n e t e Arbeit, sie vermittelt die U n t e r b r i n g u n g von K r a n k e n , sie ermöglicht Familienmüttern die Arbeit a u ß e r dem Hause, indem sie die Kinder in H o r t e n u n t e r b r i n g t ; auch schreitet sie ein, wo ihr K i n d e r a u s n u t z u n g o d e r Mißhandlung bekannt wird u n d versucht F ü r s o r g e e r z i e h u n g zu v e r a n l a s s e n usw. Bei all dieser Hilfstätigkeit sucht die A u s k u n f t s s t e l l e aber nur als Vermittlerin aufzutreten, u n d erst in allerletzter Linie gelangt sie zu dem, womit a n d e r e Institutionen beginnen, z u r materiellen U n t e r s t ü t z u n g ; a b e r auch dann b e s c h r ä n k t sie sich nie auf H i n g a b e von Geld, s o n d e r n läßt stets eine e i n g e h e n d e pflegerische B e h a n d l u n g h i n z u t r e t e n . Sie g e h t dabei von dem G r u n d s a t z a u s : „Nicht g e b e n , s o n d e r n helfen." Die Mitglieder der A u s k u n f t s s t e l l e zerfallen in sog. aktive, d. h. arbeitende, und passive, d. h. zahlende. Unter den arbeitenden Mitgliedern sind M ä n n e r u n d Frauen vertreten. Bei j e d e m einzelnen Falle wird erwogen, ob die in Frage k o m m e n d e Wirksamkeit b e s s e r durch männliche oder weibliche Mitglieder a u s g e ü b t wird. Da trotz der zahlreichen opferfreudigen Mitglieder d o c h häufig für schleunige Ermittlungen nicht g e n ü g e n d freiwillige Hilfskräfte v o r h a n d e n waren, mußten in letzter Zeit s t ä n d i g e b e s o l d e t e R e c h e r c h e n t e n 1 ) z u g e z o g e n w e r d e n . An den d a d u r c h e n t s t e h e n d e n Kosten darf, nicht A n s t o ß g e n o m m e n werden u n d mit Recht b e m e r k t im A n s c h l u ß hieran der Berichterstatter Dr. E. F r i e d e b e r g : „ E s i s t e i n e v e r a l t e t e u n d ') Eine verwandte Einrichtung der „ O u v r i e r e n q u ê t e u r " d e r belgischen und französischen Dispensaires ist unter Fürsorgesteilen für Tuberkulose berührt.

V. örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

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n i c h t g e n u g zu b e k ä m p f e n d e A n s i c h t , d a ß W o h l tätigkeit kostenlos geübt werden müsse. Die durch eine gut organisierte Privatwohltätigkeit ents t e h e n d e n V e r w a l t u n g s k o s t e n w e r d e n , so h o c h sie auch sein mögen, immer nur einen kleinen Bruchteil d e r j e n i g e n S u m m e n bilden, welche d u r c h sie erspart werden." N e b e n d e r p f l e g e r i s c h e n Tätigkeit läuft die n e g a t i v e Wirksamkeit der Auskunftsstelle: D i e A u s m e r z u n g unwürdiger Personen aus der Privatwohltätigkeit. E s ist g e n ü g s ä m b e k a n n t , d a ß in d e r G r o ß s t a d t g e r a d e z u Bettelbrieffabriken bestehen, und daß unter den zahlreichen Hausbettlern u n d B i t t b r i e f s c h r e i b e r n sich n u r ein v e r s c h w i n d e n d kleiner B r u c h t e i l w a h r h a f t B e d ü r f t i g e r b e f i n d e t . S o s e t z t sich die A u s k u n f t s s t e l l e n e b e n ihrem B e s t r e b e n , A r m e n zu helfen, n o c h d a s h ö h e r e Ziel, d a s P u b l i k u m zu e i n e r p l a n m ä ß i g e n W o h l t ä t i g k e i t zu e r z i e h e n . Sie s u c h t a n z u k ä m p f e n g e g e n d a s n o c h so weitv e r b r e i t e t e G e f ü h l , d a ß es eine g u t e Tat sei, d e m Bettler v o r d e r T ü r ein A l m o s e n zu r e i c h e n u n d e r s t r e b t , an die Stelle d i e s e s G e f ü h l s die E r k e n n t n i s zu s e t z e n , d a ß z u r A u s ü b u n g e i n e r z i e l b e w u ß t e n A r m e n p f l e g e m e h r g e h ö r t als e t w a s G e l d u n d G u t m ü t i g k e i t : nämlich vor allem A r b e i t u n d s o z i a l e s V e r s t ä n d n i s . Wie d e r v e r d i e n t e e r s t e V o r s i t z e n d e Dr. A. L e v y a u s f ü h r t , ist d a s h ö c h s t e Ziel d e r A u s k u n f t s s t e l l e , d a z u zu helfen, d a ß durch Vertiefung und Veredelung der Auffassung und Ausgestaltung der Methoden d i e A r m e n p f l e g e z u einem vollgültigen und b e d e u t s a m e n Zweig sozial-ethis c h e r W i r k s a m k e i t w e r d e , u n d d a ß ihr d a d u r c h a u c h d e r Erfolg im e i n z e l n e n g e s i c h e r t w e r d e , d e n sie, u n g e a c h t e t d e r B e g r e n z t h e i t d e s N u t z e n s j e g l i c h e n sozialen W i r k e n s , d o c h immerhin erringen k a n n .

Örtliche Zentralstellen und -Vereine für praktische Wohlfahrtspflege. Verein Volkswohl, Dresden. Weidauer, Handbuch der Liebestätigkeit im Königreich Sachsen mit Nachweis der Schriften des Vereins. — Berichte des Vereins Volkswohl. Die G r ü n d u n g örtlicher Z e n t r a l v e r e i n e , die sich s e l b s t auf v e r s c h i e d e n e n G e b i e t e n der W o h l f a h r t s p f l e g e b e t ä t i g e n u n d a n

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V. Örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

die sich a u c h alle örtlichen B e s t r e b u n g e n z u m B e s t e n d e s V o l k e s a n s c h l i e ß e n k ö n n e n , ist f ü r die E n t w i c k l u n g der W o h l f a h r t s p f l e g e in d e n e i n z e l n e n S t ä d t e n v o n g r ö ß t e r B e d e u t u n g . Solche, einen Mittelpunkt f ü r alle lokalen W o h l f a h r t s b e s t r e b u n g e n b i l d e n d e V e r e i n e sind u. a. der Verein V o l k s w o h l in D r e s d e n , der G e m e i n n ü t z i g e Verein in D r e s d e n , der Verein f ü r V o l k s w o h l in Leipzig, d e r Verein f ü r V o l k s w o h l in Halle a. S., die G e s e l l schaft f ü r W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n in F r a n k f u r t a. M., die H a m b u r g e r p a t r i o t i s c h e G e s e l l s c h a f t , der Verein für d a s W o h l d e r a r b e i t e n d e n Klassen in S t u t t g a r t , die G l a d b a c h e r V e r e i n i g u n g f ü r g e m e i n n ü t z i g e Z w e c k e in M . - G l a d b a c h , die G e s e l l s c h a f t z u r B e f ö r d e r u n g g e m e i n n ü t z i g e r Tätigkeit in L ü b e c k , die Kieler G e s e l l s c h a f t freiwilliger A r m e n f r e u n d e . M a n c h e d i e s e r V e r e i n e sind erst allmählich v o n i h r e m u r s p r ü n g l i c h e n Z w e c k , d e r A r m e n p f l e g e , zu d e r A u f s t e l l u n g eines a l l g e m e i n e n W o h l f a h r t s p r o g r a m m e s ü b e r g e g a n g e n . Die e n g e r e A r m e n f ü r s o r g e bildet d a h e r a u c h h e u t e n o c h bei einigen einen Teil d e s A u f g a b e n kreises. Als Beispiel d e s W i r k e n s eines örtlichen Z e n t r a l v e r e i n s f ü r W o h l f a h r t s p f l e g e sei hier k u r z auf die u m f a s s e n d e Tätigkeit d e s b e r e i t s e r w ä h n t e n V e r e i n s V o l k s w o h l in D r e s d e n hing e w i e s e n . D e r Verein w u r d e im J a h r e 1888 mit der A u f g a b e b e g r ü n d e t „ f e r n e v o n j e d e r p o l i t i s c h e n u n d kirchlichen P a r t e i b e s t r e b u n g die W o h l f a h r t aller V o l k s k l a s s e n z u f ö r d e r n u n d eine Geist u n d G e m ü t b i l d e n d e Geselligkeit u n t e r s e i n e n Mitg l i e d e r n zu p f l e g e n " . D i e U n t e r n e h m u n g e n d e s V e r e i n s s i n d : a) 7 Volksheime, b) ein Lehrlingsheim, c) ein Mädchenheim mit Dienstvermittlungsstelle, d) der Volkspark „Heidepark" mit den Kinderfahrten, e) kleinere V e r e i n i g u n g e n innerhalb des V e r e i n s , wie der F r a u e n a b e n d und der M ä d c h e n a b e n d (auch Näh- und Kochunterricht), f) die V o l k s u n t e r h a l t u n g s a b e n d e großen Stils mit Vorträgen, Konzerten etc., g) die F a m i l i e n a b e n d e im Volksheim, G u t e n b e r g s t r a ß e , h) ärztliche und allgemein-wissenschaftliche Vorträge, i) Volksleseabende, k) Unterrichtskurse (für f r a n z ö s i s c h e und englische Sprache, Buchführung, Rechnen, k a u f m ä n n i s c h e Korrespondenz),

V. Örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

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1) die Vereinsbibliothek, m) die gemeinnützige Auskunftsstelle. Der Verein zählt n u n über 6000 Mitglieder. Mit a n d e r e n D r e s d e n e r Vereinen, wie i n s b e s o n d e r e dem Dresdener Bezirksverein gegen Mißbrauch geistiger G e t r ä n k e u n d dem G e m e i n n ü t z i g e n V e r e i n steht der Verein Volkswohl in enger Fühlung.

Örtliche Zentralvereine für praktische Armenpflege. Jahresberichte der Vereine. In enger V e r b i n d u n g mit dem Bedürfnisse nach A u s k u n f t steht der W u n s c h , dem einzelnen Privatwohltäter die Unters u c h u n g der Verhältnisse eines Hilfesuchenden a b z u n e h m e n und gleichzeitig die Einsicht zu verbreiten, daß mit Almosen, die ohne j e d e Kenntnis der Verhältnisse d e s Hilfesuchenden an der Tür, auf der Straße oder auf Bettelbriefe hin durch die P o s t g e g e b e n werden, nur S c h a d e n gestiftet wird. Dieser vielfach e m p f u n d e n e W u n s c h hat z u r G r ü n d u n g d e r allgemeinen Wohltätigkeitsvereine, der Antibettelvereine g e f ü h r t . Der Wohltäter zahlt diesem Verein einen Beitrag und verweist j e d e n u n b e k a n n t e n Bettler an diesen Verein, d e s s e n A d r e s s e an einem an der H a u s t ü r zu befestigenden Schild a n g e g e b e n wird. Solche Vereine sind z. B. der Verein g e g e n V e r a r m u n g in B e r l i n , der Verein g e g e n A r m e n n o t und Bettelei und d e r Verein zu Rat und Tat in D r e s d e n , der F r a n k f u r t e r A r m e n verein, der Verein für freiwillige Armenpflege in M ü n c h e n , die Vincentiusvereine (siehe diese) u. a. m. Wenn die Tätigkeit dieser Vereine bei der zahlreichen Konkurrenz von Einzelvereinen nicht erlahmen soll, so ist eine fortgesetzte P r o p a g a n d a o d e r V e r b i n d u n g mit Auskunftsstellen erforderlich.

Verein gegen Armennot und Bettelei in Dresden. Der ü b e r a u s r ü h r i g e Verein, welcher 1903 6540 Mitglieder zählte, strebt in erster Linie an, die A r m e n n o t zu verhüten u n d die Bettelei durch positive Veranstaltungen zu bekämpfen. E s sind d i e s : 1. die G e s c h ä f t s - u n d Auskunftsstelle, bei welcher alle Mitglieder E r k u n d i g u n g e n Uber u n t e r s t ü t z u n g s w ü r d i g e P e r sonen einziehen k ö n n e n u n d an welche sich einheimische u n d S i n g e r , Soziale Fürsorge.

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V. örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

durchreisende Bedürftige mit der Bitte um Unterstützung wenden k ö n n e n , 2. das Helferinstitut, wodurch der Vorstand bei der Erörterung der Bittgesuche von freiwilligen Helfern und Helferinnen unterstützt wird, 3. die Mietzinssparkasse, 4. die Berufsbildung armer Knaben und M ä d c h e n , 5. die Arbeitsstätte zur vorübergehenden Beschäftigung von einheimischen Armen und durchreisenden Fremden, 6. die Arbeitsvermittlungsstelle, 7. die Speisung armer Schulkinder im Winter, 8. die Brockensammlung. Neben diesen vorbeugenden Einrichtungen gewährt der Verein Hilfe in Form von Barunterstützung, Darlehen, Nahrungsmitteln, Heizmaterialien, Kleidern usw. Wie die Zentralvereine für praktische Wohlfahrtspflege sich teilweise in der Armenfürsorge betätigen, so haben die g r o ß e n Vereine für Armenpflege, wie aus vorhergehendem ersichtlich, umgekehrt auch einige über den Rahmen der engeren Armenpflege hinausragende Arbeiten in ihre Tätigkeit aufgenommen.

Auskunft über bestehende Einrichtungen. Handbücher über Wohlfahrtseinrichtungen. Eine notwendige E r g ä n z u n g von Nachrichten über die einzelnen Unterstützten bildet die Sammlung und Namhaftmachung von Wohlfahrtseinrichtungen, um j e n e n , welche Hilfe suchen, und denen, die Wohltätigkeit zu üben wünschen, nachzuweisen, welche Mittel und Einrichtungen dafür vorhanden sind und an wen sie sich wenden müssen, um dazu zu gelangen. Angesichts der Unkenntnis eines großen Teiles der Bevölkerung hinsichtlich der einzelnen gemeinnützigen Einrichtungen ist eine Aufklärung über dieselben in geordneter Weise nicht nur wünschenswert, sondern absolut notwendig. S i e gehört zu den wesentlichsten Mitteln, die Wohlfahrtspflege zu beleben und die verschiedensten Richtungen der öffentlichen und privaten Wohltätigkeit miteinander in Verbindung zu setzen. Das erste Hilfsmittel dieser örtlichen Auskunftsstellen ist die Herausgabe von H a n d b ü c h e r n , gedruckten systematischen Verzeichnissen der sämtlichen Wohlfahrtseinrichtungen und Vereine mit den näheren Angaben über deren Ziel, Mittel, Aufnahmebedingungen usf. Unter diesen systematischen Verzeichnissen sind hervorzuheben die größere Zahl der Charities Register

V. örtliche Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

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and Digest, die bei der Charity Organisation Society bereits besprochen, „Die Wohlfahrtseinrichtungen B e r l i n s und seiner V o r o r t e h e r a u s g e g e b e n von der D. G. f. e. K., ferner die Auskunftsbücher von M ü n c h e n , B r e s l a u , N ü r n b e r g , H i l d e s h e i m . Münsterberg führt außerdem noch auf „ H a m b u r g s christliche Liebestätigkeit von Pastor Lindner (1887)", ferner die Auskunftsbücher von B r e m e n und P o s e n . Verzeichnisse der Wohlfahrtseinrichtungen größerer Bezirke oder ganzer Länder sind „Die Wohlfahrtspflege in den Provinzen R h e i n l a n d , W e s t f a l e n etc.", „Die Wohltätigkeitsstiftungen B a y e r n s " . Zu erwähnen sind hier auch die von konfessioneller Seite veröffentlichten Nachweisungen; so auf evangelischer Seite die Handbücher der Inneren Mission, z. B. Schäfer: Die Innere Mission in H a n n o v e r , W ü r t t e m b e r g , B a y e r n , L ü b e c k , B r e m e n , S c h l e s i e n ; Basedow: Die Innere Mission in T h ü r i n g e n ; Graebenteich: ebenfalls in T h ü r i n g e n ; Grünberg: Handbuch der Inneren Mission in E l s a ß - L o t h r i n g e n ; Scheffen: in Provinz W e s t p r e u ß e n ; Weidauer: Handbuch der Liebestätigkeit im Königreich S a c h s e n usf. Auf katholischer Seite entfaltet der Charitasverband gerade auf diesem Gebiete der Auskunftserteilung und Sammlung von Material über Wohlfahrtseinrichtungen eine umfassende Tätigkeit; es sind hier zu nennen: Brandts: „Die katholischen Wohltätigkeitsanstalten in der Erzdiözese K ö l n " ; Winterstein: Diözese W ü r z b u r g ; vom katholischen Charitassekretariat Straßburg: Diözese S t r a ß b u r g u. a. m. Auch das bereits erwähnte „ C h a r i t i e s R e g i s t e r a n d D i g e s t " enthält zum Teil Mitteilungen über Einrichtungen in ganz England. Die amerikanischen Auskunftsbücher nennen sich „ D i r e c t o r y o f c h a r i t a b l e a n d b e n e f i c e n t o r g a n i s a t i o n s " ; durch besonders gute Anordnung zeichnet sich das Register von B o s t o n aus. Das Office central des institutions charitables in P a r i s gibt ein „ M a n u e l d e s o e u v r e s " heraus. Häufig sind Nachweisungen über Stiftungen etc. in den V e r w a l t u n g s b e r i c h t e n und E t a t s der Gemeinden mit enthalten.

Auskunftstellen der Frauenvereine. Die mündliche Auskunftserteilung über bestehende Wohlfahrtseinrichtungen haben sich mehrere gemeinnützige Vereine, 4»

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V. ö r t l i c h e Zentralisation, Auskunftsstellen etc.

insbesondere auch die Frauenvereine, zur Aufgabe gemacht. S o hat u. a. der Verein für Fraueninteressen in München e i n e eigene Auskunftsstelle über Wohlfahrtseinrichtungen errichtet.

Örtliche Zentralisation durch organische Verbindung der Wohlfahrtseinrichtungen. (Verbindung und M e i n u n g s a u s t a u s c h der s a t i o n e n in K o n f e r e n z e n etc.)

Organi-

Münsterberg, Zentralstellen f. Armenpflege und Wohltätigkeit. Dem Bedürfnisse nach der gegenseitigen Unterstützung d e r Wohlfahrtseinrichtungen im einzelnen Falle tritt n o c h das h ö h e r e Bedürfnis nach einer organisatorischen Verbindung der b e s t e h e n den Wohlfahrtseinrichtungen eines Ortes ergänzend hinzu — in der Weise, daß eben nicht nur von Fall zu Fall, sondern systematisch ein enger Zusammenhang zwischen den Wohlfahrtseinrichtungen konstruiert wird. Dieser Zusammenhang kann erstens durch teilweise P e r s o n a l u n i o n , durch D e l e g i e r u n g von Vorstandsmitgliedern des einen Vereins in den Vorstand eines zweiten Vereins, in die Verwaltung der öffentlichen A r m e n pflege usf. erfolgen, oder zweitens durch regelmäßige g e m e i n s a m e S i t z u n g e n ( K o n f e r e n z e n ) von Vertretern aller in Betracht kommenden Vereine hergestellt werden. Beide Arten sind einer vielfachen Ausgestaltung möglich. Wichtig ist, daß die ideale innere Ergänzung, die höhere Einheit der Wohlfahrtseinrichtungen auch äußerlich zum Ausdruck kommt und hierdurch erst die Organisation der gesamten Wohlfahrtspflege vollendet wird. Eine Reihe von einzelnen Einrichtungen dieser Art von M ü n s t e r b e r g a. a. 0 . S . 42 ff. erörtert.

sind

Charity Buildings. Gebäude für Privatwohltätigkeit.

Münsterberg, Zentralstellen etc. (siehe oben). Daß die organisatorische Verbindung der Wohlfahrtseinrichtungen erleichtert wird, wenn die Geschäftsstellen aller dieser Einrichtungen auch räumlich in möglichst engem Z u sammenhang stehen, leuchtet wohl ohne weiteres ein. Die in Amerika, insbesondere in B o s t o n und später in N e w Y o r k unter Leitung der Charity Organisation Society erfolgte Errich-

VI. Sorge f. d. Säuglings

vorschulpflichtige — Alter im allgem. 5 3

t u n g von Gebäuden, in denen sich die Geschäftsräume einer großen Zahl von Wohltätigkeitseinrichtungen befinden ( C h a r i t y B u i l d i n g s ) muß deshalb nicht nur äußerlich, sondern auch ideell als ein wesentlicher Fortschritt der Wohlfahrtspflege erachtet werden. C. Winthrop in Boston hat die Errichtung sehr klar begründet: Solch ein gemeinschaftliches und zentrales Hauptquartier für die Verwaltung von Wohltätigkeitseinrichtungen würde die beste Gelegenheit zu wechselseitiger Verständigung und zum Zusammenwirken geben. Die Verwalter würden voneinander sehr leicht und ohne Aufschub alle Information erhalten, die in Ansehung eines Unterstützten bei einer der anderen Stellen vorhanden sind, wodurch dem Mißbrauch auf der einen Seite entgegengewirkt, der rechte Gebrauch der Wohltätigkeit auf der anderen wirksam befördert werden könnte. . . . Solch eine Zentralisation der verschiedenen Wohltätigkeitseinrichtungen müßte mit Naturnotwendigkeit zu einer vollständigen Konsolidation des gesamten Systems der Wohltätigkeit führen, wie es für Geber und Nehmer und die verwaltenden Stellen nur erwünscht sein könnte.

VI. Sorge für das Säuglings- — vorschulPflichtige — Alter im allgemeinen. Versorgungshäuser für außereheliche Mütter und deren Kinder. Säuglingsheime, Säuglingshospital. Ausbildung von Pflegerinnen. Findelhäuser. Krippen (Säuglingsbewahranstalten).

Beschaffung von (Kindermilch. Goutte de lait. Kinderbewahranstalten, Kleinkinderschulen. Kindergärten, Volkskindergärten. Seminare für Kindergärtnerinnen und -pflegerinnen.

Obersichtliche Darstellung über alle hier einschlägigen Fragen und Einrichtungen bietet: Dr. H. Neumann, öffentlicher Kinderschutz (aus Handbuch der Hygiene, herausgegeben von Dr. Weyl).

Versorgungshäuser für aufsereheliche Mütter und deren Kinder. Albrecht, Soz. Wohlfahrtspflege. — Schäfer, Evang. Volkslexikon.

Die Verpflegung unehelicher Säuglinge in geschlossenen Anstalten findet sich in Deutschland nur noch in den Ver-

54 VI. Sorge f. d. Säuglings

vorschulpflichtige — Alter im allgem.

sorgungshäusern, welche Mutter und Kind zugleich aufnehmen. Manche Versorgungshäuser b e h e r b e r g e n Mutter und Kind n u r einige Wochen, andere gewähren ihnen 6 oder 8 Monate lang Unterkunft. Bedingung für die Aufnahme ist, daß die Mutter das Kind selbst nähren kann oder daß sie sich, wenn vor d e r Entbindung aufgenommen, ihr Kind, wenn möglich, zu nähren verpflichtet. Die Mütter m ü s s e n unter genauer Anleitung u n d Aufsicht ihre Kinder selbst verpflegen. Durch den hierdurch bedingten engeren Z u s a m m e n s c h l u ß von Mutter und Kind wirken die Versorgungshäuser in moralischer Hinsicht in hohem Maße erziehlich auf die Mädchen. Durch die natürliche E r n ä h r u n g der Kleinen ist es ferner gelungen, die Säuglingssterblichkeit in den Versorgungshäusern auf ein sehr geringes Maß zu b e schränken. Das erste Versorgungshaus, das für die später errichteten vorbildlich geblieben ist, wurde 1873 in Bonn errichtet. Weitere von gemeinnützigen Vereinen oder konfessionellen Verbänden errichtete Anstalten bestehen in Breslau, Dresden, Berlin (2), Hamburg, Marburg, Leipzig etc. Außer in Deutschland gibt e s solche in Holland, Norwegen und in der Schweiz.

Säuglingsheim (Säuglingshospital), Ausbildung von Pflegerinnen. Volkswohl 22. Mai 1902, Nr. 21. Die hohe Säuglingssterblichkeit, wie sie in breiten Schichten der Bevölkerung noch besteht, und die Erfahrung der Polikliniken, daß mit gutem Rat allein nicht viel genutzt ist — denn die Vorbedingungen zur Heilung, unausgesetzte Pflege, äußerste Reinlichkeit, z w e c k e n t s p r e c h e n d e Ernährung kann eben in vielen Fällen weder die Frau des Arbeiterstandes, noch die Frau eines kleinbürgerlichen Haushaltes ihrem Säugling bieten — haben dazu geführt, f ü r kranke Säuglinge im Anschluß an Polikliniken oder auch selbständig sog. Säuglingsheime, d. h. Säuglingshospitale zu gründen. Äußerst sorgliche Pflege und g e s u n d e Nahrung, d. i. F r a u e n m i l c h , sind die wichtigsten Heilfaktoren, welche in Betracht kommen. Das Bemühen muß also dahin gerichtet sein, tüchtige Pflegerinnen und g e s u n d e Ammen in g e n ü g e n d e r Zahl zu erhalten. Schon der erste Punkt machte in dem in D r e s d e n errichteten Säuglingsheim große Schwierig-

VI. Sorge f. d. Säuglings

vorschulpflichtige — Alter im allgem. 55

keiten, es wurde daher sehr bald das Säuglingsheim nebenbei zu einer eigentlichen Lehranstalt für Säuglingspflege, in der junge Mädchen berufsmäßig theoretisch und praktisch im Laufe eines Jahreskursus ausgebildet werden. Nach Ablegung der Prüfung bleiben dieselben entweder noch im Heim oder erwerben sich dann als gesuchte Kinderpflegerinnen ihren Unterhalt. Viel Kopfzerbrechen machte der Leitung die Lösung der Ernährungsfrage. Durch Verbindung mit der Kgl. Frauenklinik und durch spezielle Fürsorge für die Ammen ist es gelungen, deren eine genügende Zahl zu erhalten. Auch wenn die kranken Säuglinge genesen sind und ihren Müttern wieder übergeben werden, werden die Kleinen noch längere Zeit dem Säuglingsheim behufs Beobachtung zugeführt, und viele Mütter holen sich die Nahrung für den Säugling, portionsweise zubereitet, täglich aus der Anstalt. Die täglichen Kosten ohne Miete für ein Kind sind mit M.3,20 allerdings sehr hoch. Für Unbemittelte werden niedrigere Sätze berechnet. Ein besonderes Verdienst hat sich die Anstalt dadurch erworben, daß sie die Versorgung mit Ammen und die Unterbringung von deren Kindern auch f ü r ' d a s Publikum in möglichst rationeller Weise zu gestalten sich bestrebt. Nach dem Vorgange von Dresden sind solche Säuglingsheime in Berlin und München eingerichtet.

Findelhäuser. Das verwerfliche Findelhaussystem, das durch sein Prinzip, jedes verlassene Kind prüfungslos aufzunehmen, zu verpflegen und zu erziehen, direkt zur Kinderaussetzung aufforderte und dem Leichtsinn und der Pflichtverletzung Vorschub leistete, kommt zwar in romanischen Ländern noch vor, ist jedoch in Deutschland nun vollkommen verschwunden.

Krippen (Säuglingsbewahranstalten), La Crèche. Zeitschrift für das Armenwesen März 1900. Mit zahlreichen Anaben über Krippenwesen. — Hauser, Fürsorge für Säuglinge, chriften der Z.-St. f. A.-W.-E. Nr. 17. Berlin 1900. — Schlosser, Über Fürsorge für arme aufsichtslose Kinder 1885. — HagenbachBurckhardt, Die Krippen und ihre hygienische Bedeutung. 1899. — Manuel de la crèche. Paris 1886. —Albrecht, Soziale Wohlfahrtspflege.

§

Um zum Unterhalt des Lebens mitzuverdienen, sind viele Mütter, trotzdem das Kind in den ersten Monaten ihrer Pflege

56 VI. Sorge f. d. Säuglings

vorschulpflichtige — Alter im allgem.

dringend bedürfte, genötigt, tagsüber von Hause entfernt zu sein. Die hierdurch gefährdeten, der richtigen Obhut entbehrenden Säuglinge während des Tages zu pflegen, ist Aufgabe d e r Krippen. Am stärksten sind die Krippen in Frankreich, Belgien u n d Osterreich verbreitet; in Deutschland haben sie wegen d e r Kosten des Betriebs verhältnismäßig wenig Eingang gefunden. Die Krippen nehmen in der Regel nur eheliche Kinder im Alter von 4 Wochen bis zu 2 oder 3 Jahren auf; kranke Kinder müssen von der Aufnahme in Krippen ausgeschlossen werden. Die Beiträge der Mütter, in der Regel täglich ca. 20 Pf., decken nur vielleicht ein Viertel der Kosten, die ein Kind pro Tag verursacht. Die Kinder werden morgens von den Müttern in die Krippe gebracht, in einem eigenen Warteraum von der Pflegerin entgegengenommen, dann gebadet oder gewaschen, mit Anstaltskleidung versehen und in die Aufenthaltsräume verbracht. Abends erhalten die Kleinen, bevor sie von den Müttern abgeholt werden, wieder die eigene Kleidung. Gesunde Ernährung und sorgfältige körperliche Pflege, wie stete ärztliche Kontrolle der Kinder sind die wichtigsten Aufgaben der Krippen. Die Erziehung richtet ihr Augenmerk auf gute Gewöhnung, Sprechenund Laufenlernen. Die erforderlichen Räume und deren innere Einrichtung sind von A l b r e c h t S. 33 beschrieben. Die Krippen Deutschlands sind sowohl von kirchlichen Vereinigungen (so Innere Mission: 102) wie von gemeinnützigen Vereinen errichtet und betrieben, oder sie sind großen Fabrikbetrieben angegliedert. Beispiele der zweiten Art sind die drei Krippen des B e r l i n e r Krippenvereins, von welchen besonders die im PestalozziFröbel-Haus eingerichtete als mustergültig geschildert wird. Besonders gut geleitet ist auch die vom Badischen Frauenverein eingerichtete Krippe in K a r l s r u h e . In M ü n c h e n sind von den Krippenvereinen links und rechts der Isar und von dem Verein für Innere Mission zusammen zehn Krippen eingerichtet, welche, wie auch die gut eingerichteten Krippen in F r a n k f u r t a. M., K i e l , D a n z i g , G i e ß e n etc. stets lebhaft in Anspruch genommen werden. Gelegentlich werden städtische Zuschüsse zu den von Vereins wegen geschaffenen Krippen gegeben, so in E l b e r f e l d .

V I . Sorge f. d. Säuglings

vorschulpflichtige — Alter im allgem. 5 7

D e r früher häufig den Krippen g e m a c h t e Vorwurf g e s u n d heitlicher Gefahren durch Ü b e r t r a g u n g a n s t e c k e n d e r Krankheiten trifft bei der Anwendung der m o d e r n e n h y g i e n i s c h e n E i n r i c h t u n g e n nicht m e h r z u ; in sozialer Hinsicht m ü s s e n sie, a u c h w e n n das Verantwortlichkeitsgefühl der Eltern prinzipiell nicht vermindert werden soll, d o c h in den g e s c h i l d e r t e n N o t s t a n d s fällen als eine s e g e n s r e i c h e Einrichtung e r a c h t e t werden. Ü b e r die neue Einrichtung einer „ F a m i l i e n k r i p p e " in Frankfurt a. M. berichtet das Volkswohl v o m 24. M ä r z 1904.

Kindermilch-Beschaffung.

Qoutte de lait.

Biedert, Kinderernährung im Säuglingsalter. (4_) Stuttgart 1900. — Stadtrat E. Pütter, Das Ziehkinderwesen. Schriften des Deutschen V e r e i n s f. Armenpfl. und Wohltätigkeit 59. Heft. — Soziale Praxis. — Prof. Fränkel-Halle im Techn. Gemeindeblatt 1903, S. 17. Zahlreiche Aufsätze im Z e n t r a l b l a t t f ü r a l l g e m e i n e G e s u n d h e i t s p f l e g e , insbes. 1903, wos. S. 415 reiche Literaturangabe. In den letzten J a h r e n war man in m a n c h e n S t ä d t e n D e u t s c h lands bestrebt, nach dem Vorbilde f r a n z ö s i s c h e r und e n g l i s c h e r S t ä d t e durch B e s c h a f f u n g guter, billiger Kindermilch der g r o ß e n S ä u g l i n g s s t e r b l i c h k e i t entgegenzuwirken. V o n den b e d e u t e n d s t e n Männern auf dem G e b i e t e der S ä u g l i n g s e r n ä h r u n g , s o G e h e i m rat H e u b n e r und Geheimrat Biedert, wird die E r r i c h t u n g und Verwaltung von Milchwirtschaften aus k o m m u n a l e n Mitteln für die A b g a b e von Kindermilch gefordert. In H a l l e a. S . b e s c h l o ß im J a h r e 1902 der Magistrat, sterilisierte Milch auf den S t r a ß e n billig verkaufen und an U n b e m i t t e l t e gratis a b g e b e n zu l a s s e n . F ü r den ersten V e r s u c h wurden M. 1000 bewilligt. In S t r a ß b u r g i. E . unterstützt gleichfalls der G e m e i n d e r a t die B e s c h a f f u n g guter Milch, indem e r durch eine Milchanstalt sterilisierte Milch an Bedürftige unter Preis a b g e b e n läßt und die Differenz a u s städtischen Mitteln bezahlt. Auch einige gemeinnützige V e r e i n e greifen helfend in die B e w e g u n g ein, so u. a. der B e r l i n e r Verein für h ä u s l i c h e Gesundheitspflege, der sich die billige oder teilweise u n e n t g e l t liche A b g a b e guter Milch zu e i n e r Hauptaufgabe g e m a c h t hat. Im Ausland sind sowohl G e m e i n d e n als auch p h i l a n t h r o p i s c h e Vereine s c h o n seit längerer Zeit zu derartigen Maßregeln g e schritten. In E n g l a n d hat S t . H e l e n s und B a t t e r s e a mit dem

58 VI. Sorge f. d. Säuglings

vorschulpflichtige — Alter im allgem.

kommunalen Milchverschleiß begonnen und damit eine wesentliche Verringerung der Säuglingssterblichkeit erzielt. In F r a n k r e i c h unterhalten u . a . la Goutte de Lait à F é c a m p und L'oeuvres philanthropiques du Lait in den ärmsten Stadtteilen von P a r i s und anderen Städten Depots, von welchen an Arme sterilisierte Milch für Säuglinge unter Preis abgegeben wird.

Kinderbewahranstalten (auch Kleinkinderschulen). Brückner, Öffentliche und private Fürsorge I. Heft, S. 37 ff. — Schäfer, Leitfaden der Inneren Mission. — Albrecht, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege.

Wie die Krippen dem frühesten Alter, so bieten die Kinderbewahranstalten den Kindern vom zweiten bis sechsten Jahre tagsüber Pflege und Aufsicht, wenn die Mütter gezwungen sind, dem Erwerb nachzugehen. In den K i n d e r b e w a h r a n s t a l t e n , deren erster Begründer 1779 Pfarrer Oberlin (Elsaß) war, werden die Kinder durch Spiel in angemessener Weise beschäftigt, an Ordnung und Anstand gewöhnt und vor schädlichen Einflüssen auf Leib und Seele geschützt. Die Anstalten müssen einen hellen, großen Aufenthaltsraum besitzen, der mit niedrigen Lehnenbänken und einem Schrank zur Aufbewahrung der Spielsachen, Anschauungsbilder etc. ausgestattet sein soll. Bleiben die Kinder den ganzen Tag in der Anstalt, so ist auch für die kleineren ein Schlafraum sehr notwendig. Ein Spielplatz im Freien ist ferner für jede Anstalt unentbehrlich. Da die Kinder häufig mittags nicht nach Hause genommen werden können, so wird in sehr vielen Kleinkinderschulen den Kleinen auf Wunsch ein einfaches Mittagbrot (nahrhafte Suppe und Brot oder Ähnliches) gegen geringes Entgelt verabreicht. Ein kleines Schulgeld wird fast durchwegs erhoben. Doch werden in vielen Anstalten besonders Bedürftigen Freistellen gewährt.

Kindergärten, Volkskindergärten. Die von Friedrich Fröbel nach den Grundsätzen Pestalozzis begründeten Kindergärten legen Hauptwert auf methodische Beschäftigung, Anschauungsunterricht und Spiel und verfolgen eigentliche Erziehungszwecke.

V I . S o r g e f. d. Säuglings

vorschulpflichtige — Alter im allgem. 5 9

W e g e n der erforderlichen teureren Ü b u n g s m i t t e l stellen s i c h d i e B e t r i e b s k o s t e n der Kindergärten w e s e n t l i c h h ö h e r als die d e r einfachen B e w a h r a n s t a l t e n ; die Kindergärten k o m m e n d e s h a l b in der H a u p t s a c h e für Kinder b e m i t t e l t e r Eltern in B e t r a c h t . D o c h sind v e r s c h i e d e n e V e r e i n e , i n s b e s o n d e r e g e m e i n n ü t z i g e B a u v e r e i n e und Private, b e s t r e b t , a u c h den ärmeren Kindern d e n B e s u c h F r ö b e l s c h e r Kindergärten zu e r m ö g l i c h e n . E s g e s c h i e h t dies teilweise durch E r m ä ß i g u n g e n , wie z. B . bei dem Kindergartenverein in M ü n c h e n , der ein m o n a t l i c h e s H o n o r a r v o n M. 2 und M. 3 fordert, U n b e m i t t e l t e n j e d o c h V e r g ü n s t i g u n g e n gewährt, o d e r d a d u r c h , daß man alle k o s t s p i e l i g e r e n B e s c h ä f t i g u n g s a r t e n nach Kräften vermeidet und so bei A u f n a h m e e i n e r g r ö ß e r e n Anzahl von Kindern in d e r L a g e ist, das S c h u l g e l d m ö g l i c h s t niedrig zu b e m e s s e n ( e t w a M. 1,25). In D e u t s c h l a n d b e s t e h e n ü b e r a u s z a h l r e i c h e Kinderbewahranstalten und Kindergärten. D i e s e l b e n sind sowohl von k o m m u n a l e r wie kirchlicher S e i t e , von V e r e i n e n wie P r i v a t p e r s o n e n b e g r ü n d e t ; die I n n e r e Mission allein unterhielt im J a h r e 1898 2 7 0 0 Kinderbewahranstalten in D e u t s c h l a n d , die von rund 1 8 8 0 0 0 Kindern b e s u c h t wurden. D i e Leitung der Anstalten liegt in H ä n d e n v o n D i a k o n i s s e n , katholischen Ordensschwestern o d e r weltlichen Kleinkinderlehrerinnen.

Ausbildung der Kinderpflegerinnen und Kindergärtnerinnen. Eliza Ichenhäuser, Erwerbsmöglichkeiten für Frauen. — Albrecht, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege S. 45 ff. — PestalozziFröbel-Haus, Berlin, Jahresberichte u. a. m. D e r unendliche Gewinn, den die F r ö b e l s c h e J u g e n d e r z i e h u n g für das Volk b e d e u t e t , ist allen klar, w e l c h e deren E i n w i r k u n g auf das Kind zu b e o b a c h t e n in der L a g e sind. Die F r ö b e l s c h e M e t h o d e hat a b e r zugleich z a h l r e i c h e n j u n g e n M ä d c h e n einen n e u e n Beruf eröffnet, der innerste B e f r i e d i g u n g zu g e w ä h r e n g e e i g n e t ist. Die g e d e i h l i c h e Erledigung der vielfachen A u f g a b e n in d e r Pflege des Kindes in Kindergarten und B e w a h r a n s t a l t wie auch in V e r t r e t u n g der Mutter in der Familie verlangt eine s y s t e m a t i s c h e A u s b i l d u n g der j u n g e n M ä d c h e n in allen e i n s c h l ä g i g e n

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VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen.

p ä d a g o g i s c h e n und h y g i e n i s c h e n F r a g e n . Zu unterscheiden ist die A u s b i l d u n g d e r Kinderpflegerin von der Ausbildung d e r Kindergärtnerin, bei welch l e t z t e r e r häufig wieder zwei Klassen unterschieden werden. Die Anstalten zur A u s b i l d u n g sind teis k o n f e s s i o n e l l e r Natur, wie das D i a k o n i s s e n m u t t e r h a u s „Oberlin-Haus" in N o w a w e s bei P o t s d a m ( A u s b i l d u n g v o n Kleinkinderlehrerinnen n e b e n den D i a k o n i s s e n ) und d a s katholische Kleinkinderlehrerinnenseminar in B r e s l a u . U n t e r städtischer Verwaltung steht d a s Kindergärtnerinnenseminar in S t r a ß b u r g i. E . Von den i n t e r k o n f e s s i o n e l l e n Anstalten d e s F r ö b e l s c h e n S y s t e m s b e s t e h e n e i n e g a n z e R e i h e , von w e l c h e n hier nur an das P e s t a l o z z i Fröbel-Haus ( B e r l i n ) , d a s sowohl Kindergärtnerinnen wie Kinderpflegerinnen ausbildet, das Kindergärtnerinnenseminar des B e r l i n e r F r ö b e l - V e r e i n s , dann das Kindergärtnerinnenseminar in M ü n c h e n und die Kinderpflegerinnenschule des F r a u e n b i l d u n g s vereins in B r e s l a u g e n a n n t sein m ö g e n . Die A u s b i l d u n g von Kinderpflegerinnen für das S ä u g l i n g s alter ist unter „ S ä u g l i n g s h e i m e " berührt.

VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen. Knabenhorte, Mädchenhorte, Ferienhorte. Handfertigkeitsunterricht (Deutscher Verein für Knabenhandarbeit). Lehrerseminar in Leipzig. Schulgärten. Schülervorstellungen. Schülerwanderungen.

Schulärzte. Schulbäder. Speisung bedürftiger Kinder. Ferienkolonien (Zentralstelle der Vereinigungen f. Sommerpflege in Deutschland). Outing. Stadtkolonien (Halbkolonien).

Knabenhorte, Mädchenhorte. Dr. N. B r ü c k n e r , Die öffentliche und private Fürsorge. Frankfurt a. M. 1892. — Ders., Erziehung und Unterricht vom Standpunkt der Sozialpolitik. Berlin 1895. — Dr. H. Albrecht, Handbuch etc. — Jahresberichte des Vereins Knabenhort, München. Die schulpflichtige J u g e n d der unteren V o l k s k l a s s e n ist in d e r schulfreien Zeit nur zu häufig o h n e Aufsicht, weil sowohl

VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen.

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der Vater, als auch die Mutter dem Verdienste außer dem H a u s e n a c h g e h e n m ü s s e n . Um zu verhüten, daß die Kinder auf den Straßen sich herumtreiben, z u m Nachteil für ihr g a n z e s späteres Leben auf schlechte Wege geraten, n e h m e n die Kinderhorte die Kinder w ä h r e n d eines Teiles der schulfreien Zeit, meist von 4 bis 7 Uhr, an schulfreien Nachmittagen länger, in ihre Obhut. Die Aufsicht wird von Lehrern o d e r Lehrerinnen, manchmal auch von D a m e n im E h r e n a m t geübt. Für die Schulaufgaben ist täglich eine bestimmte Arbeitszeit festgesetzt, der Rest wird der E r h o l u n g gewidmet. Bei s c h ö n e m Wetter wird möglichst viel B e w e g u n g in freier Luft erstrebt. Von b e s o n d e r s erziehlichem Wert hat sich die B e s c h ä f t i g u n g der Kinder mit Gartenb e s o r g u n g erwiesen. Verbietet die Witterung den Aufenthalt im Freien, so werden die Kinder mit harmlosen Spielen unterhalten, die größeren Knaben in a n r e g e n d e r Weise mit P a p p - oder Schnitzarbeiten, die Mädchen mit weiblichen H a n d a r b e i t e n beschäftigt. In den meisten Horten wird den Kindern eine kleine V e s p e r verabreicht. Es ist empfehlenswert, n u r in b e s o n d e r e n Fällen von einem Entgelt für die Verpflegung u n d Ü b e r w a c h u n g der Kinder g a n z a b z u s e h e n u n d die Bedürfnisfrage einer sorgfältigen P r ü f u n g zu unterziehen. Die K i n d e r h o r t e , die nach einer ersten von P r o f e s s o r Dr. S c h m i d t - S c h w a r z e n b e r g ( E r l a n g e n ) a u s g e g a n g e n e n Anr e g u n g namentlich von M ü n c h e n aus in fast allen g r ö ß e r e n Städten D e u t s c h l a n d s E i n g a n g g e f u n d e n haben, sind großenteils Veranstaltungen der Inneren Mission u n d des katholischen C h a r i t a s v e r b a n d e s ; d o c h w e r d e n auch viele von Gemeinden unterhalten und zahlreiche v e r d a n k e n g e m e i n n ü t z i g e n Vereinen, F r a u e n v e r e i n e n u n d privaten Stiftungen ihre E n t s t e h u n g .

Ferienhorte. Viele Kinderhorte erstrecken sich auch auf die Ferienzeit und n e h m e n die Kinder in dieser schulfreien Zeit teils den ganzen Tag, teils nur nachmittags in ihre Obhut. In diesen Ferienhorten werden die Kinder gegen g e r i n g e s Entgelt auch verköstigt.

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VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen.

Handfertigkeitsunterricht. Deutscher Verein für Knabenhandarbeit. Lehrerseminar in Leipzig. Blätter für Knabenhandarbeit. Organ des D. Vereins f. Knabenhandarbeit in Leipzig. — Wohlfahrtspflege in den Provinzen Rheinland etc. Düsseldorf 1902. — Albrecht, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege. — Rotes Kreuz Nr. 13, 1. Juli 1902; Nr. 26, 20. Dez. 1903. In den M ä d c h e n s c h u l e n wird längst der H a n d a r b e i t s u n t e r richt gepflegt u n d n e u e r d i n g s wird auch, so i n s b e s o n d e r e in der Schweiz u n d in Baden, in m a n c h e n Schulen in der o b e r e n Klasse o d e r in der Fortbildungsschule f ü r Mädchen der Haushaltungsunterricht eingeführt. D a g e g e n fehlen in den meisten Knabenschulen fast gänzlich L e h r g e g e n s t ä n d e , die geeignet sind, den Tätigkeits- und Gestaltungstrieb zu berücksichtigen u n d zu unterstützen u n d die J u n g e n zu den H a n t i e r u n g e n d e s praktischen L e b e n s vorzubereiten. Nur in vorerst noch vereinzelten, freiwillig b e s u c h t e n Schülerwerkstätten und Knabenhorten w e r d e n P a p p - u n d Laubsägearbeiten, Hobelbankarbeiten, Kerbschnitzerei, Modellieren etc. gelehrt. Da man von der Einf ü h r u n g des Knabenhandfertigkeitsunterrichts als L e h r g e g e n s t a n d d e r Volksschule mit Recht b e s s e r e E n t w i c k l u n g d e r G e s c h i c k l i c h k e i t u n d G e w a n d t h e i t , bessere E r z i e h u n g des Auges und Bildung des Geschmackes sowie F ö r d e r u n g der Initiative und Willenskraft erwarten darf, wird derselbe v o n den F r e u n d e n einer zeitgemäßen A u s g e s t a l t u n g der Schule allgemein angestrebt. In Deutschland hat sich der „ D e u t s c h e Verein f ü r Knabenhandarbeit" g r o ß e Verdienste um die F ö r d e r u n g des Knabenhandfertigkeitsunterrichts erworben. In seiner Lehrerbildungsanstalt in Leipzig w e r d e n die Lehrer in allen Arbeitsfächern ausgebildet. V e r s c h i e d e n e B u n d e s s t a a t e n s u b v e n t i o n i e r e n den Verein mit namhaften Beträgen, u n d in einzelnen Staaten, z. B. in Baden und W ü r t t e m b e r g , ist der Handfertigkeitsunterricht als fakultativer L e h r g e g e n s t a n d in den Volksschulen eingeführt. In M ü n c h e n ist der Handfertigkeitsunterricht mit den 8. Knabenklassen v e r b u n d e n . Am weitesten fortgeschritten auf dem Gebiete d e s Handfertigkeitsunterrichtes ist Frankreich. In Paris waren im Jahre 1900 in 133 Volksschulen Werkstätten für Holzarbeit, in 43 solche für Eisenarbeit eingerichtet und Frs. 346 300

VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen. für den Unterricht aufgewendet worden.

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N ä c h s t den f r a n z ö s i s c h e n

sind die e n g l i s c h e n und a m e r i k a n i s c h e n E i n r i c h t u n g e n b e s o n d e r s beachtenswert.

In E n g l a n d betrug der S t a a t s b e i t r a g zum Hand-

fertigkeitsunterricht im J a h r e 1902 M. 7 1 5 0 0 0 . Besonders

hervorzuheben

sind

auf

diesem

Gebiete

die

A r b e i t s s c h u l e n des V e r e i n s zur F ö r d e r u n g des W o h l s der arbeitenden Klassen im Kreise W a l d e n b u r g in S c h l e s i e n , in welchen der

Unterricht

unter

Oberleitung

durch H a n d w e r k s m e i s t e r

von

erteilt wird.

vorgebildeten D e r Verein

hat

Lehrern bisher

über 2 0 0 0 S c h ü l e r ausgebildet.

Schulgärten. M. Wegner, Warum wir Schulgärten und landwirtschaftliche Frauenschulen brauchen. Neue Bahnen Nr. 18, 1902. — Anna Blum, Laubenkolonien und Schulgärten. Mitteilungen des Vereins zur Förderung des Frauenerwerbs durch Obst- und Gartenbau. Berlin, April 1903. — Münchener Neueste Nachrichten 25. Juni 1903, Nr. 291. — Albrecht, Handbuch etc. — Jahresberichte des Vereins Knabenhort, München. In h y g i e n i s c h e r wie p ä d a g o g i s c h e r Hinsicht hervorragend wichtig hat sich die B e s c h ä f t i g u n g der schulpflichtigen J u g e n d mit Gartenpflege erwiesen. Fast alle Kinderhorte unterhalten d a h e r S c h u l g ä r t e n , wenn die räumlichen V e r h ä l t n i s s e es irgend g e s t a t t e n . E i n e mustergültige A n l a g e hat der Verein K n a b e n h o r t in M ü n c h e n g e s c h a f f e n , der einen neuen 2 1 / 2 Tagwerk g r o ß e n S c h u l g a r t e n außerhalb der Stadt in staubfreier Luft anlegen ließ. D a s Terrain enthält einen b o t a n i s c h e n Garten mit den wichtigsten Pflanzenarten im Naturzustande, einen G e m ü s e garten, in dem die Z ö g l i n g e selbst pflanzen, säen, anlegen und ernten k ö n n e n , sowie einen g r o ß e n Rasenplatz, der zur B e w e g u n g und zum S p i e l e n dient. D e r S c h u l g a r t e n in der Großstadt wird in erster Reihe Pflanzen für den b o t a n i s c h e n Unterricht liefern und G e l e g e n h e i t zur B e o b a c h t u n g der E n t w i c k l u n g der Pflanzen bieten. Auf dem L a n d e d a g e g e n , wo das unterrichtliche Pflanzenmaterial leicht aus der Natur selbst zu beschaffen ist, soll der S c h u l g a r t e n in e r s t e r Linie G e l e g e n h e i t zur U n t e r w e i s u n g im O b s t und G e m ü s e b a u bieten. D i e S c h u l g ä r t e n in Erziehungsanstalten m ü s s e n den Hauptraum für G r a b e l a n d r e s e r v i e r e n , denn hier k o m m t es b e s o n d e r s darauf an, daß die Kinder die Gartenarbeit lernen und liebgewinnen.

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VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen.

Die Ausgaben, welche die Anlage und Unterhaltung d e r Schulgärten verursachen, werden reichlich durch den Gewinn aufgewogen, den die Kinder aus der Gartenarbeit ziehen. Abgesehen von der sich alljährlich ergebenden reichen Ernte, die häufig unter die Kinder verteilt wird, hat man noch bei keiner Beschäftigung einen so günstigen Einfluß auf das kindliche Gemüt beobachtet wie bei der Tätigkeit im Garten, dem steten Umgang der Kinder mit der Pflanzenwelt.

Schülervorstellungen. Soziale Praxis 1902. Neben den an anderer Stelle besprochenen Theatervorstellungen und Musikaufführungen, welche in mehreren Städten für die minderbemittelten Volksklassen zu ermäßigten P r e i s e n veranstaltet werden, geht das B e s t r e b e n , der S c h u l j u g e n d den B e s u c h k l a s s i s c h e r S t ü c k e zu ermöglichen. Wo man den Versuch mit solchen Schülervorstellungen machte, konnte von dem tiefen Eindruck auf die Kinder berichtet werden. Dem Beispiele Hamburgs, das die erste Anregung zur V e r anstaltung gab, sind u. a. Berlin, Bremen, Elberfeld, Leipzig, jüngst auch München gefolgt. Die Kosten werden zum Teil durch kleines Eintrittsgeld, zum Teil aus verfügbaren Stiftungen bestritten.

Schülerwanderungen. Umfangreiche Literatur in dem III. Bericht über Wanderungen Schuljugend in den Jahren 1899, 1900, 1901. Zusammengestellt Dr. Otto Bayer, Leipzig-Eutritzsch, im Jahrbuch für VolksJugendspiele 1902. — Mitteilungen in den' Jahresberichten Zentrale für private Fürsorge, Frankfurt a. M.

der von und der

Die Jugendspiele, denen für die Schuljugend eine außerordentliche Bedeutung zukommt, sind des inneren Zusammenhanges wegen unter dem Stichworte Volks- und Jugendspiele behandelt. D e r gleich wichtigen Schülerwanderungen sei hier gedacht. In den Schweizer Pensionaten für j u n g e Mädchen waren schon vor Jahrzehnten mehrtägige Fußtouren üblich. Auch in Deutschland wird immer mehr erkannt, daß planvollen W a n d e rungen der Jugend und insbesondere auch der Schuljugend in vielfacher Beziehung großer Wert beizumessen ist, und ist daher

VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen.

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d i e a l l g e m e i n e r e Einführung d e r s e l b e n in den d e u t s c h e n S t ä d t e n l e b h a f t angestrebt worden. Die S c h ü l e r w a n d e r u n g e n sind nicht lediglich v o m gesundheitlichen S t a n d p u n k t als B e w e g u n g in freier reiner Luft von B e d e u t u n g , s o n d e r n sie üben auch durch die A n f o r d e r u n g e n , die sie an die Fähigkeit d e r Kinder z u m E r t r a g e n von Strapazen, an die G e s c h u l t h e i t der S i n n e , an die M a r s c h t ü c h t i g k e i t , an ihre G e ü b t h e i t , sich rasch zu orientieren, s i c h in u n g e w o h n t e n Verhältnissen rasch zurechtzufinden, g r o ß e n e r z i e h e r i s c h e n Einfluß. S i e lehren ferner die Kinder ihre Heimat und d i e U m g e b u n g d e r s e l b e n g e n a u k e n n e n und tragen nicht w e n i g dazu bei, die Lrebe zur Heimat zu befestigen und zu vertiefen. D i e Zentrale für private F ü r s o r g e in Frankfurt a. M. v e r a n s t a l t e t 8 - bis 14 tägige F e r i e n w a n d e r u n g e n unter der F ü h r u n g v o n L e h r e r n und L e h r e r i n n e n . Im S o m m e r 1903 fanden fünf s o l c h e statt. Die W a n d e r u n g e n wurden teils von s e l b s t z a h l e n d e n K i n d e r n u n t e r n o m m e n , teils von u n b e m i t t e l t e n , für w e l c h e F r e u n d e der J u g e n d die S u m m e n s p e n d e t e n . Die K o s t e n b e t r u g e n für ein Kind täglich d u r c h s c h n i t t l i c h M. 2,30. E s wird h e r v o r g e h o b e n , daß es sich nicht sowohl um ein V e r g n ü g e n h a n d e l t , d a s sich das unbemittelte Kind später nicht m e h r g e statten kann, sondern um eine planmäßige E r z i e h u n g zu e i n e m innigen U m g a n g mit der Natur und zur Vertiefung der K e n n t n i s s e v o n Land und Leuten des e i g e n e n Vaterlandes. In e i n e r g r o ß e n R e i h e d e u t s c h e r S t ä d t e haben denn a u c h die S c h u l v e r w a l t u n g e n diese B e s t r e b u n g e n unterstützt und S c h ü l e r w a n d e r u n g e n , sowohl einfache T a g e s m ä r s c h e , als auch zwei- und dreitägige W a n d e r u n g e n ( F e r i e n w a n d e r u n g e n ) mit b e s t e m E r f o l g e veranlaßt. D e r o b e n a n g e g e b e n e III. B e r i c h t von B a y e r gibt ein g e n a u e s V e r z e i c h n i s der Orte, welche die W a n d e r u n g e n eingeführt h a b e n .

Schulärzte. D. W. Feilchenfeld, Der Arzt in der Schule. Sammig. klin. V o r träge. Leipzig 1893. — Dr. H. Neumann, öffentlicher Kinderschutz in W e y l s Handbuch der Hygiene. 7. Band. (2) Jena. — Brückner, Erziehung und Unterricht vom Standpunkt der Sozialpolitik. — R o t e s Kreuz X X , Nr. 1 vom 1. Jan. 1902. — Soziale Praxis. D i e E r k e n n t n i s , wie wichtig eine h y g i e n i s c h e B e u r t e i l u n g der S c h u l r ä u m e und ihrer E i n r i c h t u n g e n sei, wie das Z u s a m m e n treffen v o n vielen Hunderten, j a fast von T a u s e n d e n von Kindern S i n g e r , Soziale Fürsorge.

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VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen.

m a n n i g f a c h e G e f a h r e n mit sich bringt, hat die a n f ä n g l i c h e n Bed e n k e n g e g e n die A u f s t e l l u n g v o n S c h u l ä r z t e n v e r s t u m m e n l a s s e n . In sozialer H i n s i c h t ist b e s o n d e r s wichtig, d a ß eine rechtzeitige ärztliche B e o b a c h t u n g u n d U n t e r s u c h u n g d e r Kinder oft d a z u führt, d a ß K r a n k h e i t s a n l a g e n so f r ü h e n t d e c k t w e r d e n , d a ß die n ö t i g e n V o r b e u g u n g s m a ß r e g e l n d a g e g e n ergriffen w e r d e n k ö n n e n . Bei d e r M e h r z a h l d e r S c h u l j u g e n d in d e n V o l k s s c h u l e n h a n d e l t es sich a b e r u m Kinder, d e n e n ärztliche A u f s i c h t zu H a u s e n u r w e n i g zuteil wird. D e m S c h u l a r z t e liegt d e s h a l b v o r allen D i n g e n ob, die n e u a u f g e n o m m e n e n Kinder zu u n t e r s u c h e n , nicht n u r auf K r a n k h e i t e n , s o n d e r n a u c h auf Krankheitsanlagen. Die E r g e b n i s s e d i e s e r U n t e r s u c h u n g e n an d e n Berliner S c h u l e n h a b e n n a c h d r ü c k l i c h d e n B e w e i s f ü r d e r e n N o t w e n d i g k e i t e r b r a c h t . D e m S c h u l a r z t e obliegt n i c h t die ärztliche B e h a n d l u n g k r a n k e r Kinder, er hat die Eltern auf v o r h a n d e n e D e f e k t e u n d d e n W e g zu d e r e n B e s e i t i g u n g a u f m e r k s a m zu m a c h e n . — Belgien u n d F r a n k r e i c h sind mit d e r E i n f ü h r u n g d e r S c h u l ä r z t e v o r a n g e g a n g e n ; in D e u t s c h l a n d F r a n k f u r t a. M. im J a h r e 1883; a n d e r e S t ä d t e f o l g t e n bald. Die A u f g a b e n d e s S c h u l a r z t e s w u r d e n z u m Teil Ä r z t e n im H a u p t a m t , z u m Teil als F u n k t i o n im N e b e n a m t e n e b e n i h r e r Privatpraxis übertragen. Nur einzelne deutsche Städte haben a u c h eine r e g e l m ä ß i g e z a h n ä r z t l i c h e A u f s i c h t , L o n d o n j ä h r l i c h viermal w i e d e r h o l t e U n t e r s u c h u n g .

Schulbäder. Dr. O. Thissen, Soziale Tätigkeit der Gemeinden. Köln 1903. — V e r w a l t u n g s b e r i c h t e der Stadt München u. a. m. — Festschriften der Stadtverwaltungen. E i n e b e d e u t e n d e W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g sind die S c h u l b ä d e r , d u r c h w e l c h e d e n s c h u l p f l i c h t i g e n Kindern die W o h l t a t regelm ä ß i g e r B ä d e r zuteil u n d d a s Volk im a l l g e m e i n e n zu b e s s e r e r K ö r p e r p f l e g e e r z o g e n wird. — Die E i n r i c h t u n g v o n B ä d e r n in V o l k s s c h u l e n ist a u s s c h l i e ß l i c h ein W e r k d e r G e m e i n d e n . F a s t alle S t ä d t e D e u t s c h l a n d s h a b e n in d e n n e u e r r i c h t e t e n S c h u l e n B r a u s e b ä d e r a n g e b r a c h t , m e h r e r e S t ä d t e h a b e n a u c h in d e n alten S c h u l e n B ä d e r e i n g e r i c h t e t . So b e s t e h e n u. a. in M ü n c h e n E n d e 1902 26 S c h u l b r a u s e b ä d e r , w e l c h e j e d e r Klasse einmal wöchentlich zur unentgeltlichen Benutzung zur Verfügung stehen.

VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im allgemeinen.

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Unentgeltlicher Schwimmunterricht wird in verschiedenen Städten, wie Frankfurt a. M., Magdeburg, Dresden, erteilt.

Speisung bedürftiger Kinder. Die Wohlfahrtseinrichtungen Münchens. 1901. — Die Wohlfahrtseinrichtungen Berlins und seiner Vororte. Berlin 1899. — Fürsorge für arme Schulkinder durch Speisung bzw. Verabreichung von Nahrungsmitteln. 26. Heft der Schriften des D. V. f. A. u. W. Kinder, deren beide Eltern außer Hause arbeiten o d e r s e h r arm sind, werden häufig nur unzureichend ernährt. Deshalb haben Städte und Gemeinden selbst die Verabreichung einer kräftigen Mittagssuppe etc. an die Kinder Unbemittelter in die Hand g e n o m m e n , oder sie gewähren Wohltätigkeitsvereinen erhebliche Unterstützungen zu diesem Zweck. So können z. B. von den städtischen Suppenanstalten in M ü n c h e n in allen Schulhäusern arme Schulkinder unentgeltlich, weniger bedürftige g e g e n eine kleine Bezahlung während der Mittagspause S u p p e und Brot erhalten. Es sind auch mehrere Vereine entstanden, die Suppenanstalten unterhalten. Wenngleich die Speisung armer Kinder, wie die starke Ina n s p r u c h n a h m e der bestehenden Einrichtungen zeigt, einem Bedürfnisse entspricht, so darf man sich doch nicht verhehlen, daß dieselbe ohne eingehende P r ü f u n g der Bedürfnisfrage leicht zu einer Vernachlässigung der elterlichen Pflichten führen kann. Der D r e s d e n e r V e r e i n z u r S p e i s u n g b e d ü r f t i g e r S c h u l k i n d e r verabreicht den Kindern nicht das Essen in der Schule selbst, sondern bietet ihnen dasselbe in nahegelegenen sorgsam gewählten Gasthäusern mit besonderem Z u g a n g für die Kinder unter Aufsicht, da der Speisung in der Schule Schwierigkeiten in bezug auf Beschaffung der Speisen und eines geeigneten Raumes entgegenstehen. Der Verein hat mit dieser Art d e r Speisung gute Erfahrungen gemacht. Der V e r e i n f ü r K i n d e r - V o l k s k ü c h e n i n B e r l i n hatte für das Jahr 1902/03 zwölf von ehrenamtlichen Vorsteherinnen geleitete Küchen in allen Stadtteilen so verteilt, daß sie notleidende Kinder von 223 Schulen versorgen konnten. Im Winter 1903/04 wurden 463600 Portionen Mittagessen unentgeltlich, 62000 zu je 5 Pfennig abgegeben. Im S o m m e r bleiben die Küchen des Vereins geschlossen. 5*

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VII. Kinderfürsorge im schulpflichtigen Alter im a l l g e m e i n e n .

Ferienkolonien. Outing. Zentralstelle der Vereinigungen für Sommerpflege in Deutschland. Bion, Die Ferienkolonien und verwandte Bestrebungen auf dem Gebiete der Kindergesundheitspflege. Zürich IV. Sekretariat der Züricher Ferienkolonien. 1901. — Ergebnisse der Sommerpflege in Deutschland. 1901. — Lee, Constructive and preventive Philanthropy. New York 1902. —.. Albrecht, Handbuch der sozialen Fürsorge. — Brückner, Öffentliche und private Fürsorge.

In den Ferienkolonien soll das Gesamtbefinden schwächlicher oder kränklicher und in der Entwicklung zurückgebliebener Kinder durch einen mehrwöchigen Landaufenthalt gekräftigt werden. Die guten Resultate, die 1876 Pfarrer Bion in Z ü r i c h mit der Gewährung eines Sommeraufenthaltes an schwächliche Kinder und der Wohltätige Schulverein in H a m b u r g gleicherweise mit der Entsendung von Kindern machte, und die Anregung, die Dr. Varrentrapp-Frankfurt 1878 zur Einführung d e r Sommerpflege in Deutschland gab, führten eine sehr rasche Verbreitung der Ferienkolonien herbei. 1885 wurde die Z e n tralstelle der Vereinigungen für Sommerpflege gegründet, an deren Spitze der Verein für häusliche Gesundheitspflege in Berlin steht. Von den Lehrern werden die unbemittelten und der Erholung bedürftigen Kinder den betreffenden Vereinen genannt. Wenn nach Prüfung der häuslichen Verhältnisse durch besondere Kommissionen und nach ärztlicher Untersuchung des Kindes ein zeitweiliges Versetzen des Kindes in vollständig andere, gesunde Lebensverhältnisse erfolgverheißend erscheint, so wird dasselbe in eine Kolonie aufgenommen. Die Art der Verpflegung ist eine verschiedene. Manche Vereine quartieren je 30 bis 40 Kinder unter Aufsicht eines Lehrers oder einer Lehrerin in einem Wirtshaus ein und lassen sie dort verpflegen — andere geben die Kinder in zuverlässige Familien in Pflege und beauftragen den Ortslehrer mit der Aufsicht. Dieser unternimmt mit den Kindern Spaziergänge und vereinigt sie zu Unterhaltungen und Spielen. Die Familienpflege ist bedeutend billiger als die Verpflegung in Gasthäusern. In jüngster Zeit hat man auch geeignete Gebäude zur Unterbringung der Kinder gemietet und die Verpflegung selbst

VII. K i n d e r f ü r s o r g e im s c h u l p f l i c h t i g e n A l t e r im a l l g e m e i n e n .

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in die Hand g e n o m m e n . N a c h d e m diese n e u e Einrichtung sich in j e d e r Hinsicht b e s t e n s bewährte, h a b e n m e h r e r e Vereine e i g e n e H ä u s e r e r w o r b e n o d e r gebaut und die S o m m e r p f l e g e dahin verlegt. Es werden dann natürlich mehrere G r u p p e n n a c h e i n a n d e r a u f g e n o m m e n u n d die Pflege über den g a n z e n Sommer ausgedehnt. D a n k dem E n t g e g e n k o m m e n der Eisenbahnverwaltungen ist man nicht genötigt, die Kolonien in nächste Nähe der Städte z u verlegen. Bei der Wahl der Orte ist wichtig, daß dieselben d e n Charakter der Einfachheit bewahren. Was die Verbreitung der Ferienkolonien anbetrifft, so waren nach dem Jahresberichte der Zentralstelle der Vereinigungen f ü r Sommerpflege im Jahre 1901 in 119 d e u t s c h e n Städten 185 Vereine, B e h ö r d e n , Korporationen etc. für die Sommerpflege tätig. 35 Vereine unterhielten eigene S o m m e r h e i m e . Wie Lee ausführt (a. a. 0 . S. 185 f.) haben auch in den Vereinigten Staaten seit drei J a h r z e h n t e n die Ferienkolonien weite V e r b r e i t u n g g e f u n d e n . Von b e s o n d e r e m Interesse sind die G e w i c h t s z u n a h m e n , welche bei schulpflichtigen Kindern in verhältnismäßig k u r z e r Zeit konstatiert werden.

Stadtkolonien (Halbkolonien). Da wohl selten die Mittel ausreichen, allen schwächlichen Kindern die Wohltat eines Landaufenthaltes zu erweisen, haben die Vereine f ü r die z u r ü c k b l e i b e n d e n Kinder S t a d t k o l o n i e n eingerichtet. Die Stadtkolonien h a b e n die Aufgabe, die Kinder t a g s ü b e r unter Aufsicht von Lehrern ins Freie zu führen, ihnen kräftige N a h r u n g zu verabreichen und sie mit Spielen zu unterhalten. Viele Vereine sorgen im Anschluß an die Sommerpflege auch im Winter noch f ü r a n d a u e r n d schwächliche Kinder durch Verabreichung von Milch u n d a n d e r e n Stärkungsmitteln. Die an anderer Stelle b e s p r o c h e n e n Heidefahrten in D r e s d e n , welche für eine große Zahl g e s u n d e r Kinder bestimmt sind, wie die W a l d e r h o l u n g s s t ä t t e n , die einer b e s c h r ä n k t e r e n Zahl schwächlicher Kinder F ü r s o r g e bieten, stellen auch in gewissem Sinne solche Halbkolonien dar.

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VIJI. F ü r s o r g e für g e f ä h r d e t e Kinder.

VIII. Fürsorge für verwaiste, uneheliche, gefährdete, verwahrloste Kinder. Die Ausdehnung der Kinderfürsorge. Waisenpflege. Gemeindewaisenrat. Waisenpflegerinnen. Besoldete Waisenpflegerinnen. Aufsichtsdamen. Generalvormundschaft. Fürsorge-(Zwangs-)Erziehung. Erziehungsvereine. Kinderschutzvereine. National Society for Prevention of Cruelties against Children. Ragged-School-Union. Barnardo-Homes. Die Durchführung der vollständigen Fürsorge. Vergleich der Kosten der verschiedenen Formen der Kinderfürsorge.

Waisenerziehung in großen, geschlossenen Anstalten. Anstalts-Gruppen-System. Waisenheime. Cottage-Homes. Rettungshäuser. Reformatory and Industrial Schools. Familien-Gruppen-Erziehung. Geschwisterheime auf dem LandeAsilo famiglia. Scattered Homes. Familienpflege. Stadt- und Landpflege. Fürsorge der englischen Armenpflege für Kinder. Boarding-out (Unterbringung in Familienpflege). Halte-, Kost-, Zieh - Kinderüberwachung. Verbindung mit innerer Kolonisation.

Die Ausdehnung der Kinderfürsorge. Rein menschliche Liebe zu den Verwaisten als bedürftigsten Gliedern der Gemeinde, vielleicht vermischt mit der Freude an dem gedeihlichen Heranwachsen des Kindes haben der Fürsorge für die V e r w a i s t e n häufig sehr reiche Mittel zugeführt. A u c h aus allgemeinen sozialen Erwägungen ist die Fürsorge für die Waisen ein im Interesse der Gesamtheit sehr wichtige, wie bei ordentlichen Verhältnissen der Familie, der sie entstammen, dankbare Aufgabe. In sehr viel jüngerer Zeit ist die Fürsorge für die anderen großen Gruppen hilfsbedürftiger Kinder, der u n e h e l i c h e n , g e f ä h r d e t e n o d e r v e r w a h r l o s t e n Kinder, entstanden. D i e Verpflichtung, hier ordnend oder fürsorgend einzugreifen, ist

VIII. F ü r s o r g e für g e f ä h r d e t e Kinder.

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weniger aus individuellen Gefühlen, wie aus der Erkenntnis der Notwendigkeit, ja aus dem Zwange, einer ungünstigen, vielleicht kriminellen Entwicklung vorzubeugen, entstanden. Ist doch im allgemeinen die Erzielung eines günstigen Erfolgs durch vielfach unglückliche Vorbedingungen erschwert, so daß die erforderlichen Aufwendungen häufig nur durch das Gesamtinteresse begründet werden. Zwei Momente sind hier für die Entwicklung der jüngsten Zeit charakteristisch: In erster Linie ist dies die besonders aus der Kriminalstatistik hervorgegangene Erkenntnis, daß es sich bei den gefährdeten und verwahrlosten Kindern nicht um Einzelsondern um M a s s e n e r s c h e i n u n g e n handelt und die Organisation der Hilfe also auf Massenerscheinungen berechnet sein muß. In zweiter Linie ist es die Erkenntnis, daß der Staat berechtigt und verpflichtet ist, auch in das von der Natur geschaffene Band der Familie einzugreifen und die Erziehung der Kinder den Eltern fortzunehmen und selbst auszuüben, wenn es die Interessen des Staatswohls erfordern. In den Fällen, in welchen die F a m i l i e n i c h t genügende Garantien für eine Erziehung der heranwachsenden Generation zu ordentlichen Staatsbürgern bietet, soll durch z w a n g s w e i s e Erziehung außerhalb der Familie das Fehlende ersetzt werden. Die Maßnahmen zur Fürsorge für die ihrer bedürftigen Kinder sind vielfach noch nach dem Ursprünge des Bedürfnisses getrennt, doch finden sich in allerjüngster Zeit Ansätze zu einer e i n h e i t l i c h e n zweckmäßigen Organisation. Das Wort Waisenpflege ist eine gebräuchliche, jedoch sprachlich nicht richtige Bezeichnung für die vollständige Kinderfürsorge. Denn nicht nur verwaiste Kinder, sondern auch alle jene, deren Eltern infolge besonderer Umstände, wie Krankheiten oder moralische Mängel, ihrer Erziehungspflicht nicht genügen können, fallen in Ermangelung sonstiger Hilfe der öffentlichen Fürsorge anheim. Durch bessere und umfassendere Organisation der letzteren in den Gesetzen über Fürsorge- und Zwangserziehung, die Schaffung des Gemeindewaisenrats und die Beiziehung des weiblichen Elements zur Beaufsichtigung dieser Fürsorge sind in Deutschland in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte erzielt worden.

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

Waisenpflege. Stadtrat Cuno (Königsberg) und Dr. Schmidt, Beigeordneter (Mainz), Die Organisation der Gemeindewaisenpilege. Schriften des D. V. f. A. u. W. 1900, Heft 47. — Dr. N. Brückner, Die öffentliche und private Fürsorge. 1. Heft. Erziehung und Unterricht. S. 27 f. — Schäfer, Leitfaden der Inneren Mission. — Lina Helm, G e d a n k e n ü b e r G r ü n d u n g von Heimstätten zur F ö r d e r u n g der Waisenpflege und A u s b i l d u n g der weiblichen Jugend. In d e m g r o ß e n Kreise d e r spezieller F ü r s o r g e b e d ü r f t i g e n K i n d e r n e h m e n die d u r c h d e n T o d i h r e r Eltern b e r a u b t e n Kinder, d i e W a i s e n , wie in d e r E i n l e i t u n g d a r g e l e g t , d e n e r s t e n Platz ein. E s h a n d e l t sich hier u m v o l l s t ä n d i g e F ü r s o r g e , die alle B e d ü r f n i s s e d e s L e b e n s , d e s U n t e r h a l t s s o w o h l wie d e r E r z i e h u n g , u m f a ß t . In d e r alten Zeit u n d im Mittelalter n a h m die Pflege d e r Waisen eine h e r v o r r a g e n d e Stelle in d e r L i e b e s a r b e i t d e r C h r i s t e n h e i t ein. Eine w e s e n t l i c h e V e r b e s s e r u n g d e r f ü r die Waisen g e s c h a f f e n e n A n s t a l t e n b r a c h t e d a s Vorbild d e s b e r ü h m t e n H a l l e s c h e n W a i s e n h a u s e s , d a s A. H. F r a n c k e 1695 b z w . 1698 b e g r ü n d e t e u n d d a s bis z u m h e u t i g e n T a g e als eine d e r g r ö ß t e n S c h u l e i n r i c h t u n g e n d e r Welt mit r e i c h e m S e g e n wirkt. Die B e d e u t u n g der A n s t a l t s p f l e g e ist s p ä t e r z e i t w e i s e w i e d e r b e stritten u n d F a m i l i e n p f l e g e als die einzig richtige L ö s u n g hingestellt w o r d e n . In f o l g e n d e n A b s c h n i t t e n ist z u z e i g e n v e r s u c h t , wie jede der beiden Erziehungsarten bestimmten Aufgaben entspricht. Die V e r t r e t u n g d e r R e c h t e d e r W a i s e n ist in D e u t s c h l a n d d u r c h die B e s t i m m u n g e n d e s B ü r g e r l i c h e n G e s e t z b u c h e s ü b e r die V o r m u n d s c h a f t § 1773 f. g e r e g e l t . Als A u f s i c h t s o r g a n in U n t e r s t ü t z u n g d e s V o r m u n d s c h a f t s g e r i c h t e s ist d e r „ G e m e i n d e waisenrat" geschaffen worden. E i n e W o h l t ä t i g k e i t s v e r a n s t a l t u n g g r o ß e n Stils f ü r die E r r i c h t u n g v o n W a i s e n h ä u s e r n ist die R e i c h s f e c h t s c h u l e . D i e s e l b e o r g a n i s i e r t d a s p l a n m ä ß i g e S a m m e l n kleiner B e i t r ä g e u n d hat v o n d e n E r t r ä g n i s s e n b e r e i t s vier g r o ß e W a i s e n h ä u s e r erbaut.

Gemeindewaisenrat. Cuno und S c h m i d t , Organisation der Gemeindewaisenpflege. — Der Gemeindewaisenrat, Vormund etc. mit b e s o n d e r e r Berücksicht i g u n g der bayer. Verhältnisse. München 1900, Gerber. dem

D a s B ü r g e r l i c h e G e s e t z b u c h hat in d e n §§ 1849 bis 1851 mit „ G e m e i n d e w a i s e n r a t " als e i n e m H i l f s o r g a n d e r O b e r v o r -

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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mundschaft ein wichtiges Organ der 'Waisenpflege geschaffen. Er hat darüber zu wachen, daß die Vormünder pflichtgemäß iür die Person der Mündel, insbesondere für ihre Erziehung und körperliche Pflege, sorgen. Er ist deshalb insbesondere berechtigt, über Pflege und Erziehung der Mündel Aufschluß zu verlangen und bei Antreffen von Pflichtverletzungen seitens d e r Pfleger oder Vormünder verpflichtet, dem Vormundschaftsgerichte Anzeige zu erstatten. Die Organisation des Gemeindewaisenrats ist meist den einzelnen Gemeinden überlassen; dieselben können in Preußen z. B. entweder einige ihrer Mitglieder hierzu wählen oder dessen Verpflichtungen bereits bestehenden Organen übertragen. In d e r Regel ist das Amt der Waisenräte unbesoldetes Ehrenamt. Im Hinblicke auf die notwendige fortlaufende Überwachung der einzelnen Mündel ist die vom Bürgerlichen Gesetzbuch vorgesehene Berufung weiblicher Hilfskräfte als Waisenpflegerinnen (siehe diese) von besonderer Wichtigkeit. Der Aufsicht des Gemeindewaisenrats sind durch das Gesetz a l l e Mündel unterstellt, und es können ihr daher die der A r m e n p f l e g e anheimgefallenen Waisen nicht entzogen werden. Dort, wo die Geschäfte des Gemeindewaisenrats der Armenverwaltung übertragen sind, ergibt sich das Zusammenfallen der Aufsicht beider Organe von selbst. Besteht jedoch neben den zur Überwachung der Armenwaisen berufenen Organen der Armenpflege noch ein besonderer Gemeindewaisenrat, so wird zum Teil eine doppelte Aufsicht geübt. Deshalb sind Vereinbarungen nach dem Beispiele von Berlin und Hamburg zweckmäßig, durch die den Organen des Gemeindewaisenrats auch die a m t l i c h e Aufsicht über die Armenwaisen mit übertragen wird. — Nicht minder ist Kollision mit der polizeilichen Ziehkinderkontrolle zu vermeiden.

Waisenpflegerinnen. Münsterberg, Armenpflege. S. 141. — Cuno und Schmidt, G e m e i n d e waisenpflege (s. vor.) pass. — Stadtrat Ernst Pütter (Halle a. S.), Das Ziehkinderwksen. Schriften des D. V. f. A. u. W. 1902, 49. Heft.

Die Frau ist sowohl nach ihren natürlichen Anlagen wie nach ihrer Tätigkeit als Mutter und Frau z u r Ü b e r w a c h u n g d e r W a i s e n u n d i h r e r P f l e g e p l ä t z e besonders geeignet.

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

Ihre Mitarbeit hat sich auch dort, wo der Gemeindewaisenrat auf Grund der Ausführungsgesetze zum Bürgerlichen Gesetzbuch oder der sonstigen Landesgesetze für diese Aufgabe Frauen als ehrenamtliche W a i s e n p f l e g e r i n n e n aufgestellt hat, als besonders segensreich erwiesen und bürgert sich immer mehr ein. Vielfach sind durch ein Abkommen des Gemeindewaisenrates mit Frauenvereinen deren Mitglieder verpflichtet, innerhalb bestimmter Bezirke die Aufsicht über die Familien zu führen und sich durch regelmäßige Besuche von der ordentlichen Verpflegung der Waisen zu überzeugen. Bezüglich der der Entscheidung des Vorsitzenden des Gemeindewaisenrats vorbehaltenen Teilnahme der Frauen an den Sitzungen wird die Praxis wohl bald überall zu dem richtigen Verhältnisse führen.

Besoldete Waisenpflegerinnen (Aufsichtsdamen). Eine wesentliche Verbesserung der Aufsicht ist durch die Aufstellung besoldeter Waisenpflegerinnen erzielt worden, deren Aufgabe g l e i c h z e i t i g die Kontrolle der sämtlichen in Familienpflege untergebrachten Kinder, Ziehkinder etc. umfaßt. In B e r l i n sind seit 1901 auf Anordnung des Ministers des Innern zehn den besseren Ständen angehörige, in der Kinderstation der Kgl. Charité besonders ausgebildete Damen, die ihrerseits der Kontrolle des Haltekinderarztes unterstehen, gegen ein Jahresgehalt von M. 500 auf Grund von Dienstverträgen und nach Ableistung des Staatsdienereides mit der Aufsicht über die Haltefrauen betraut worden. Diese Aufsichtsdamen besuchen diejenigen Haltefrauen, die Säuglinge in Pflege haben, alle 14 Tage, die übrigen alle Monate einmal und berichten, wenn sie Mißstände vorfinden, die sie nicht selbst abstellen können, darüber an die vorgesetzte Abteilung. Die Zahl der Pflegestellen jedes Bezirkes schwankt zwischen 150 und 225. Die Regelung ist noch nicht abgeschlossën. In D a n z i g werden jetzt alle Haltekinder, sowohl die polizeilichen, als die von der Stadt unterhaltenen durch einen Ziehkinderarzt und b e s o l d e t e W a i s e n p f l e g e r i n n e n in ihren Wohnungen, wie in monatlichen Vorstellungen vor dem Arzte kontrolliert. Die Waisenpflegerinnen sind bei der Vorstellung bei dem Arzte anwesend. Eine gleiche Kontrolle durch Ziehkinderarzt und b e s o l d e t e P f l e g e r i n n e n hat Dresden schon längere Zeit.

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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Zuerst auf diesem Gebiete bahnbrechend v o r a n g e g a n g e n ist L e i p z i g . Früher wurden jedoch nur die unehelichen Kinder beaufsichtigt, seit 1901 ist die Kontrolle auf alle bei fremden Leuten untergebrachten Kinder ausgedehnt worden. Im Frühjahr 1904 sind n a c h einer persönlichen Mitteilung 26 Aufsichtsdamen mit a u s g e z e i c h n e t e m Erfolge tätig. In H a l l e a. S. ist die Beaufsichtigung seit 1900 einheitlich gestaltet. Für die Beaufsichtigung der gesamten — rund 500 — Kinder sind ein Ziehkinderarzt und vier besoldete Waisenpflegerinnen angestellt. Nach dem Vorgang der vorgenannten Städte führt auch die Armenverwaltung K a s s e l seit 1901 die Aufsicht über die Kostkinder bis zum 6. Jahre im Einvernehmen mit der Kgl. Polizeidirektion durch eine besoldete Pflegerin und die Armenärzte.

Die sehr wichtigen Anweisungen, welche von den fünf erstgenannten Städten im wesentlichen übereinstimmend erlassen worden sind, wie die Altersgrenzen der der Beaufsichtigung unterstellten Kinder etc. finden sich in dem Gutachten von Pütter ü b e r das Ziehkinderwesen 59. Heft der Schriften d. D. V.f. A. u. W. S. 14 ff. Die Städte, in welchen die Aufsicht nur ehrenamtlich durchgeführt wird, sind an gleicher Stelle nachgewiesen.

Generalvormundschaft. Cuno und Schmidt, Gemeindewaisenpflege (s. vor.). — Verwaltungsberichte der Stadt Leipzig. — Dr. Taube, Das Haltekinderwesen. Schriften der Z.-St. f. A.-W.-E. Nr. 17. Berlin 1900.

Die praktische Erfahrung lehrt, daß die durch das Bürgerliche Gesetzbuch § 1773 vorgesehene Aufstellung eines Einzelvormundes von Fall zu Fall für jedes Kind, das nicht unter elterlicher Gewalt steht oder dessen Eltern nicht zur Vertretung des Minderjährigen berechtigt sind, nicht immer zweckmäßig ist. Für diese individuelle Vormundschaft kommen insbesondere zwei Schwierigkeiten in Betracht: 1. die durch räumliche Entfernungen bei einem Wohnungswechsel der Pflegeeltern bedingte Erschwerung der Vormundschaft und die hierdurch veranlaßten öfteren Wechsel der Vormundschaft und alle hiermit verbundenen Nachteile, 2. die für den privaten Vormund außerehelicher Kinder bestehende Schwierigkeit, dem Kinde die Erziehungsbeiträge des Vaters zu sichern.

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

W e n n n i c h t j e m a n d als V o r m u n d bestellt werden k a n n , d e r sich wirklich für das Kind interessiert ( u n e h e l i c h e Mutter, Pflegevater, P f l e g e m u t t e r o d e r n a h e r Verwandter), s o kann ein V o r m u n d oft nur mit g r o ß e r M ü h e vom G e m e i n d e w a i s e n r a t b e schafft werden. Nach e i n e r Ermittlung von Stadtrat C u n o - K ö n i g s b e r g b e standen bei 9 0 durch die A r m e n p f l e g e u n t e r g e b r a c h t e n Kindern nur in 13 Fällen p e r s ö n l i c h e B e z i e h u n g e n z w i s c h e n V o r m u n d und K i n d ; s o n s t kümmerte sich nur n o c h in 10 Fällen der V o r mund um sein M ü n d e l , während in allen a n d e r e n Fällen j e d e Fühlung fehlte. Leipzig und andere s ä c h s i s c h e Städte haben a u s diesen G r ü n d e n s c h o n früher auf G r u n d e i n e r s ä c h s i s c h e n V e r o r d n u n g v o m J a h r e 1886 die G e n e r a l v o r m u n d s c h a f t in der W e i s e eing e f ü h r t , daß d e r V o r s t a n d o d e r einzelne B e a m t e d e r A r m e n verwaltung den u n e h e l i c h e n Kindern überhaupt o d e r nur den Ziehkindern o d e r nur den der öffentlichen F ü r s o r g e a n h e i m gefallenen u n e h e l i c h e n Kindern als G e n e r a l v o r m u n d bestellt wurde. D e r D e u t s c h e Verein für A r m e n p f l e g e und Wohltätigkeit hat hier a n s c h l i e ß e n d im J a h r e 1893 auf Grund e i n e s B e r i c h t s von Stadtrat Ludwig-Wolf, Leipzig den G e m e i n d e n empfohlen, weitere V e r s u c h e mit d e r Einführung d e r G e n e r a l v o r m u n d s c h a f t z u m a c h e n . A b w e i c h e n d hiervon äußert sich P ü t t e r (a. a. O . S . 2 3 ) . F e r n e r hat der p r e u ß i s c h e Justizminister im J a h r e 1893 den S t ä d t e n die F r a g e v o r l e g e n l a s s e n , ob sich nicht eine N a c h a h m u n g des s ä c h s i s c h e n V e r f a h r e n s e r m ö g l i c h e n lasse. A l s V o r z u g der Einrichtung wird h e r v o r g e h o b e n , »daß sowohl die S o r g e für die P e r s o n des Mündels wie die W a h r n e h m u n g d e r V e r m ö g e n s r e c h t e d e s s e l b e n namentlich g e g e n ü b e r s e i n e m u n e h e lichen E r z e u g e r in den H ä n d e n des b e a m t e n m ä ß i g g e s c h u l t e n und mit öffentlicher Autorität bekleideten G e n e r a l v o r m u n d s regelmäßig b e s s e r e E r f o l g e aufweise, als dies v o n E i n z e l v o r m ü n d e r n , d e n e n e s oft an Erfahrung o d e r g u t e m Willen fehle, erwartet werden dürfe". Inzwischen hat auf G r u n d des E i n f ü h r u n g s g e s e t z e s (Art. 136) zum B ü r g e r l i c h e n G e s e t z b u c h S a c h s e n die G e n e r a l v o r m u n d s c h a f t in w e i t e s t e m Umfange a n g e n o m m e n , und h a b e n auch andere S t a a t e n , allerdings in w e c h s e l n d e m Umfang, d i e s b e z ü g l i c h e B e s t i m m u n g e n getroffen.

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Fürsorge-(Zwangs-)Erziehung. Schmitz, Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger (in 3. Auflage erschienen). — Dr. F. Schiller (Breslau), Landesrat H. Schmidt (Düsseldorf) und Dr. P. Köhne ( B e r l i n ) , Z w a n g s - ( F ü r s o r g e - ) E r ziehung und Armenpflege. Schriften des D. V. f. A. u. W. 1903, 6.4- Heft. — Löning, Art. „Zwangserziehung" im Handwörterbuch d. Staatsw. 2. Auflage. — Dr. Menzinger, Rechtsrat, Zwangserziehung und Fürsorgeerziehung in Deutschland. Charitas März 1903. — Schmedding, Ausführung usf. der Fürsorgeerziehung in Preußen im K. Seelsorger. Sept. 1903. — J. Reeb, Das bayerische Z w a n g s erziehungsgesetz und seine Durchführung etc. München 1903. — Weitere Literatur bei Schäfer, Leitfaden der Inneren Mission. S. 447. D e r G r u n d g e d a n k e , daß strafbare Handlungen nicht b l o ß bestraft, sondern möglichst verhindert werden s o l l e n , und d a ß hierzu — n e b e n anderen F a k t o r e n , wie V e r b e s s e r u n g der W o h n u n g s v e r h ä l t n i s s e — eine richtige E r z i e h u n g gewährleistet werden muß, hat zu immer erweiterter A u s g e s t a l t u n g der F ü r s o r g e - ( Z w a n g s - ) E r z i e h u n g geführt. Nach dem deutschen S t r a f g e s e t z b u c h k ö n n e n Kinder, w e l c h e eine strafbare Handlung b e g a n g e n , a b e r das 12. L e b e n s j a h r nicht vollendet haben, zwar nicht strafrechtlich verfolgt werden, j e d o c h k ö n n e n für solche K i n d e r , die g e m ä ß den l a n d e s g e s e t z lichen B e s t i m m u n g e n zur B e s s e r u n g und B e a u f s i c h t i g u n g g e e i g n e t e n Maßregeln getroffen w e r d e n . Die im A n s c h l u ß hieran e r l a s s e n e n V e r o r d n u n g e n e r w i e s e n sich bald als verbesserungsbedürftig. D e n n die Erfahrung lehrte, daß man bei der Verbringung der Kinder in öffentliche Z w a n g s erziehung n a c h B e g e h u n g einer strafbaren Handlung nicht stehen bleiben dürfe, sondern daß die A n o r d n u n g d e r F ü r s o r g e erziehung b e s o n d e r s auch ein d r i n g e n d e s Erfordernis in allen j e n e n Fällen sei, in welchen die Verwahrlosung mit R ü c k s i c h t auf die Veranlagung der Kinder, auf ihre L e b e n s v e r h ä l t n i s s e , die Persönlichkeit d e r Eltern etc. als s i c h e r b e v o r s t e h e n d e r s c h e i n t . E s waren z u n ä c h s t einige kleinere B u n d e s s t a a t e n , dann B a d e n und H e s s e n , die dahin gehende B e s t i m m u n g e n erließen. P r e u ß e n hat durch das F ü r s o r g e e r z i e h u n g s g e s e t z von 1900 und B a y e r n durch das Z w a n g s e r z i e h u n g s g e s e t z von 1902 sich a n g e s c h l o s s e n . D i e A n o r d n u n g der Z w a n g s e r z i e h u n g , welche i n d e r R e g e l bis z u m 16. J a h r e erfolgen, deren D a u e r sich bis zum 18. J a h r e (in Ausnahmefällen länger) e r s t r e c k e n kann, steht dem V o r mundschaftsgericht zu.

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

In Preußen sind zum Antrag berechtigt: der Landrat, in Städten mit über 10000 Einwohnern und in Stadtkreisen d e r Gemeindevorstand und der Vorstand der Polizeibehörde. D a s Bürgerliche Gesetzbuch weist dem Gemeindewaisenrat die Aufgabe z u , die Fälle, welche Zwangserziehung notwendig erscheinen lassen, dem Vormundschaftsgericht anzuzeigen. Das bayerische Zwangserziehungsgesetz kennt keine A n t r a g s b e r e c h t i g t e n ; es nennt nur einige A n z e i g e p f l i c h t i g e n , wie die Staatsanwaltschaften, die Polizeibehörden und die Schulbehörden. D a s R e c h t d e r A n z e i g e steht jedermann z u , ja eine wirksame Durchführung des Gesetzes kann nur durch die freiwillige aber o r g a n i s i e r t e M i t a r b e i t aller Kreise der Bevölkerung erfolgen. Geistliche, Lehrer, Ärzte sind natürlich b e s o n d e r s oft in der Lage, eine Verwahrlosung oder den d r o h e n d e n Anfang einer solchen zu bemerken. Dann kommen hier vor allem die Vereine in Betracht, welchen das Wohl der Kinder am^ Herzen liegt (Kinderschutzvereine, E r z i e h u n g s v e r e i n e , Frauenvereine), und welche neben der Ermittlung der Fälle ihre segensreiche Mitarbeit auch noch bei der Unterbringung der Kinder in Familien und Anstalten, der Überwachung d e r Pflegefamilien etc. leisten. Durch eine solche opferfreudige Mitwirkung der Bevölkerung an der Durchführung des G e s e t z e s wird auch eine bureaukratische Handhabung des Gesetzes, der strafrechtliche Beigeschmack vermieden werden und sein Erziehungscharakter voll zur Geltung kommen können. Uber die Schwierigkeiten, die sich der Ausf ü h r u n g des Gesetzes in jenen Fällen entgegenstellen, wo möglicherweise die gewöhnliche Unterstützung der Armenverb ä n d e hinreicht, berichtet u. a. Landesrat S c h m e d d i n g (Charitas, April 1904). Die Erziehung der von der öffentlichen Fürsorge übernommenen verwahrlosten Kinder erfolgt in Familien oder in Anstalten. In zahlreichen Fällen verbietet sich eine Familienerziehung von vornherein durch den Charakter des Pfleglings oder dessen Bedürfnisse; das gilt namentlich bei vorhandener Neigung zu Landstreicherei etc. oder bei verbrecherischen Gelüsten oder zu weit vorgeschrittener körperlicher Verwahrlosung, in welchen Fällen, wie späterhin wieder berührt, die Anstaltserziehung eingreifen muß.

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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Erziehungsvereine. Schäfer, Leitfaden der Inneren Mission (mit Lit. S. 439).

Zwischen der Gruppe der normalen und in normalen Verhältnissen aufwachsenden Kinder einerseits und der mißratenen und verwahrlosten anderseits steht die Klasse der g e f ä h r d e t e n u n d b e d r o h t e n . Diese Gefährdung ist vorhanden bei Waisen oder bei solchen, deren Eltern infolge Krankheit, längerer Haft oder häufiger Abwesenheit die Erziehung nicht leiten können. Kinder in solchen Notlagen will der Erziehungsverein in seine Pflege nehmen. Zum Teil bezwecken die Vereine auch die Erziehung von bereits verwahrlosten Kindern. Die ersten Vereine bestanden in der Schweiz und in Siiddeutschland. 1845 wurden sie nach Nordwestdeutschland verpflanzt. Zu erwähnen ist b e s o n d e r s der 1845 gegründete Münchener katholische Verein für Erziehung verwahrloster Kinder, der 1849 gegründete Elberfelder Verein, der Pestalozzi-Verein in Hannover, der SchleswigHolsteinische Erziehungsverein. D e r Erziehungsverein hat sein örtliches Zentrum in einem Vereinshaus, das vornehmlich zur ersten Unterbringung der Kinder dient und es dem Leiter ermöglicht, das Kind kennen zu lernen. Die zweite Aufgabe der Vereine ist, geeignete Familien zu suchen für die Unterbringung der Kinder, und die dritte, Beaufsichtigung und Beratung der betreffenden Familien und d e r ihnen anvertrauten Kinder zu üben. Urteilsfähige, zuverlässige und tätige Vertrauensmänner sind wichtig als Helfer des Agenten des Hauses. Die Aufgabe und Tätigkeit der Vereine arbeitete also jenen Zielen vor, welche die Gesetzgebung der jüngsten Jahre über die Zwangs- und Fürsorgeerziehung näher geregelt hat.

Kinderschutzvereine. National Society for Prevention of Cruelties against Children. Münsterberg, Ausländisches Armenwesen. 52. Heft der Schriften des D . V. f. A. u. W. S. 96 ff. — Volkswohl 16. Jahrg., Nr. 34.

Immer wieder neu bekanntwerdende eklatante Fälle von Kindermißhandlung und -Verwahrlosung seitens grausamer Eltern und Erzieher lassen das unendliche Elend ahnen, in welchem

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

viele Kinder v e r k o m m e n m ü s s e n . Solche unglückliche Kinder einem m e n s c h e n w ü r d i g e n D a s e i n zuzuführen, s t r e b e n die K i n d e r s c h u t z v e r e i n e an. D i e s e l b e n m a c h e n sich zur A u f g a b e , bei j e d e m ihnen b e k a n n t w e r d e n d e n Falle sofort e i n z u s c h r e i t e n , die unnatürlichen Eltern und g r a u s a m e n Zieheltern d e r g e r e c h t e n Strafe z u überantworten und die g e q u ä l t e n Kleinen z u v e r l ä s s i g e n Pflegern anzuvertrauen o d e r in Kinderasylen u n t e r z u b r i n g e n . B e s o n d e r s in den Schlupfwinkeln und A r m e n v i e r t e l n L o n d o n s und e n g l i s c h e r Hafenstädte s c h r i e n die g e g e n K i n d e r v e r übten G r a u s a m k e i t e n wie in k e i n e m a n d e r e n L a n d e zum H i m m e l . D i e e n g l i s c h e G e s e l l s c h a f t zur V e r h ü t u n g von G r a u s a m k e i t e n g e g e n K i n d e r (National S o c i e t y for P r e v e n t i o n of C r u e l t i e s against Children — N. S . P. C . C . ) — 1884 für L o n d o n g e gründet, 1899 durch V e r s c h m e l z u n g mit anderen auf E n g l a n d , W a l e s und Irland a u s g e d e h n t — hat s c h o n außerordentlich s e g e n s r e i c h und für andere L ä n d e r n a c h a h m e n s w e r t gewirkt. In allen S t r a ß e n der S t ä d t e , in allen O r t e n d e s K ö n i g r e i c h s spüren ihre B e a m t e n die traurigen Fälle auf, um die armen Kinder aus ihrer Not zu befreien. D u r c h die tatkräftige Unterstützung d e s P u b l i k u m s ( 1 9 0 2 : 8 0 0 0 0 Mitglieder) beläuft sich die J a h r e s e i n n a h m e auf c a . £ 6 0 0 0 0 . D o c h sind n o c h i m m e r m e h r Mittel für Hilfskräfte nötig. D e r Tätigkeit der G e s e l l s c h a f t , i n s b e s o n d e r e der b e g e i s t e r t e n E n e r g i e B e n j a m i n W a u g h s , d e s D i r e k t o r s der N. S . P . C. C., i s t die A n n a h m e d e s g r o ß e n K i n d e r s c h u t z g e s e t z e s von 1889 im englischen Parlament zu danken. In D e u t s c h l a n d b e s t e h e n zahlreiche kleinere, meist örtliche Vereine, welche diese Z i e l e verfolgen. E n t w e d e r h a b e n sich eigene K i n d e r s c h u t z v e r e i n e gebildet, wie in Berlin, M ü n c h e n , Wien etc., o d e r andere p h i l a n t h r o p i s c h e V e r e i n i g u n g e n , b e s o n d e r s F r a u e n v e r e i n e haben die B e k ä m p f u n g der Mißhandlung, d e r sittlichen und g e s u n d h e i t l i c h e n V e r w a h r l o s u n g der Kinder in ihren Wirkungskreis e i n b e z o g e n .

Ragged-School-Union. Charities Register and Digest. — Volkswohl 1902, Nr. 16. Die

1844

(R. S. U.)

in

London

verdankt

Lord

gegründete Shaftesbury

Ragged-School-Union ihre

Entstehung.

Der

VIII. F ü r s o r g e für g e f ä h r d e t e

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Kinder.

Zweck dieser Vereinigung ist, sich aller armen Kinder anzunehmen, welche durch gewissenlose Eltern verwahrlost oder schon in frühester Jugend zu den schlimmsten Lastern angehalten werden. Neben der Verbesserung des Loses armer kleiner Krüppel, welche sich die R. S. U. zu einer Hauptaufgabe gemacht hat, strebt sie eifrigst die Gründung möglichst vieler Freiküchen, Bekleidungsvereine, Freischulen, Missionen und Ferienkolonien an. 63 bezahlte und 3370 freiwillige Lehrer und Hilfskräfte suchen in den schlimmsten Schlupfwinkeln Londons die verwahrlosten Kinder auf und bereiten sie auf ein nützliches Leben vor. In zahlreichen Tages- und Abendschulen, Industrieklassen, Bibelklassen und nützlichen Einrichtungen aller Art, durch Sammlung der Jugend in Vereinen und Horten will die R. S. U. die dem Abschaum der Menschheit entstammenden Kinder vom Wege des Lasters ablenken und zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft erziehen. Im Jahre 1901/02 wurden von der Gesellschaft, die derzeit ein Jahreseinkommen von JE 20000 besitzt, über 67000 Kleidungsstücke verteilt, 51000 Kinder in kleinen Gruppen für einen Tag auf das Land gebracht und 6274 auf 14 Tage auf das Land oder an die See gesandt.

Barnardo-Homes. C h a r i t i e s R e g i s t e r and D i g e s t 1903. — V o l k s w o h l 1902, Nr. 3 4 ; 1903, Nr. 30. — M ü n s t e r b e r g , A u s l ä n d i s c h e s A r m e n w e s e n . 52. H e f t d e r S c h r i f t e n d. D . V. f. A. u. W . S. 99. — R e v i e w of R e w i e w s . — Z e i t s c h r i f t f. A . - W . 1903.

Im Gegensatz zur Ragged School Union, welche sich hauptsächlich der verwahrlosten und mißhandelten Kinder annimmt, erstreckt sich die menschenfreundliche Fürsörge Dr. Barnardos, der im Volksmund „der Vater von niemandes Kindern" genannt wird, besonders auf alle jene Kinder, die einsam und verlassen in der Welt stehen. Mitte der 60 er Jahre wurde Dr. Thomas Barnardo als 21 jähriger Student durch Zufall in einem Armenviertel Londons auf die schreckliche Notlage dieser armen kleinen Ausgestoßenen aufmerksam; voll leidenschaftlichen Mitleids mit ihnen beschloß er, sein Leben der Rettung und Erziehung dieser Verlassenen S i n g e r , Soziale Fürsorge.

6

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

zu weihen und g r ü n d e t e , völlig o h n e e i g e n e Mittel und vollk o m m e n auf milde S p e n d e n a n g e w i e s e n , sein e r s t e s H e i m mit 18 Kindern in S t e p n e y C a u s e w a y . S e i t d e m hat das U n t e r n e h m e n eine riesige A u s d e h n u n g g e n o m m e n . In S t e p n e y C a u s e w a y allein sind nun 4 0 0 K n a b e n u n t e r g e b r a c h t , welche S c h u l u n t e r richt empfangen und in 17 G e w e r b e n unterrichtet werden k ö n n e n . F ü r Mädchen sind die nahe an 5 0 V i l l a g e - H o m e s in Ilford bei L o n d o n errichtet, die von j e 15 bis 2 0 M ä d c h e n unter Aufsicht einer H a u s m u t t e r b e w o h n t werden. G a n z kleine Kinder beiderlei G e s c h l e c h t s finden in dem B a b i e s C a s t l e in Kent Aufnahme. A u ß e r d e m e r s t r e c k t sich die F ü r s o r g e Dr. B a r n a r d o s n e u e r dings auch auf J ü n g l i n g e , die er in einem J ü n g l i n g s a r b e i t s h a u s an regelmäßige Arbeit g e w ö h n t und körperlich kräftigt, um sie dann auf einer g r o ß e n Farm in Kanada zu tüchtigen Landarbeitern auszubilden, und auf v e r l a s s e n e j u n g e M ä d c h e n und F r a u e n , denen e r Zufluchtsstätten eröffnete. Die Anstalten umfassen g e g e n w ä r t i g 8 6 Heime und 2 4 Miss i o n s s t c l l e n . V o n diesen sind 35 in L o n d o n , 70 in e n g l i s c h e n P r o v i n z e n , 4 in Kanada, 1 in J e r s e y . Zur D e c k u n g d e r ung e h e u r e n K o s t e n , w e l c h e für die Nahrung der I n s a s s e n der H e i m e und der 3 0 0 A n g e s t e l l t e n täglich £ 140, für Instandhaltung der G e b ä u d e , Kleidung von 7 0 0 0 Kindern, G e h ä l t e r der A n g e s t e l l t e n , Mieten, B e t r i e b der Werkstätten täglich £ 3 8 4 b e tragen, ist Dr. B a r n a r d o heute n o c h immer nur auf freiwillige Unterstützungen a n g e w i e s e n . Und die Freigebigkeit d e r e n g lischen Nation bringt d i e s e S u m m e n zur Hilfe für ihre unglücklichen M i t m e n s c h e n auf.

Die Durchführung der vollständigen Fürsorge. Die U n t e r b r i n g u n g der von öffentlichen Korporationen o d e r von Stiftungen zu v e r s o r g e n d e n Kinder kann auf vier Arten erfolgen, nämlich d u r c h : 1. E r z i e h u n g in g r o ß e n , g e s c h l o s s e n e n Anstalten, 2. A n s t a l t s - G r u p p e n - E r z i e h u n g , W a i s e n h e i m e , C o t t a g e - H o m e s ( R a u h e s H a u s bei H a m b u r g ) , 3. F a m i l i e n - G r u p p e n - E r z i e h u n g , Homes, 4. F a m i l i e n e r z i e h u n g .

Asilo famiglia,

Scattered-

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

B e i d e r Anstaltserziehung wird eine g r ö ß e r e Zahl von K i n d e r n in einer großen Anstalt ( W a i s e n h a u s e t c . ) u n t e r g e b r a c h t . Bei d e r A n s t a l t s - G r u p p e n - E r z i e h u n g ist die Anstalt in kleine G r u p p e n von 12—15 Kindern, die in kleinen H ä u s c h e n w o h n e n , a u f g e l ö s t . J e d e G r u p p e ist der Aufsicht eines älteren Helfers o d e r einer Handwerkerfamilie unterstellt, die g l e i c h s a m E l t e r n s t e l l e an den Kindern vertreten. D i e G r u p p e n bilden j e d o c h räumlich und nach d e r Verwaltung eine Einheit. Bei d e r F a m i l i e n - G r u p p e n - E r z i e h u n g ist j e d e G r u p p e unter L e i t u n g einer Hausmutter o d e r von Hauseltern völlig selbständig und örtlich g e s o n d e r t . B e i d e r Familienpflege endlich werden z u g e e i g n e t e n Pflegeeltern g e g e b e n .

die Kinder

einzeln

D a s älteste S y s t e m d e r W a i s e n p f l e g e ist die Unterbringung d e r Kinder in g e s c h l o s s e n e n A n s t a l t e n , den W a i s e n h ä u s e r n . A u c h heute n o c h bestehen zahlreiche W a i s e n h ä u s e r , und haupts ä c h l i c h halten n o c h viele private, meist konfessionelle V e r e i n e an der Anstaltserziehung fest. S t a a t und G e m e i n d e n , in deren H ä n d e nun die Waisenfürsorge meist ü b e r g e g a n g e n , b e v o r z u g e n in d e r R e g e l die Familienpflege. D i e allgemeine A n s c h a u u n g g e h t nun dahin, daß für moralisch einwandfreie, verwaiste und g e f ä h r d e t e , a b e r nicht v e r d o r b e n e K i n d e r die Familienpflege vorz u z i e h e n , für Z w a n g s z ö g l i n g e und K i n d e r , die wegen irgend w e l c h e r D e f e k t e nicht gern in Familien aufgenommen werden, die Anstaltspflege j e d o c h nicht zu entbehren ist. Die z w i s c h e n i i e g e n d e n F o r m e n der Unterbringung s u c h e n die V o r t e i l e d e r Anstalts- und der Familienpflege zu vereinigen. F ü r v o r ü b e r g e h e n d e n Aufenthalt, bei plötzlicher Verwaisung e t c . sind Unterkunftsstätten nötig.

Vergleich der Kosten der verschiedenen Formen der Kinderfürsorge. Brückner, Erziehung und Unterricht. — Ergebnisse der Zwangserziehungsstatistik für Bayern 1902/03. Zeitschrift des K. B. Statist. Bur. 1903. — Münchener Jahresübersichten. In M ü n c h e n k o s t e t e im D u r c h s c h n i t t der letzten J a h r e ein Kind mit E r z i e h u n g s b e i t r a g M. 3 9 , ein Kind in Pflegeplätzen M. 7 8 , ein Kind in auswärtigen Anstalten M. 1 4 4 , ein Kind im städtischen Kinderasyl M. 7 7 6 (hiervon für Verwaltung e t c . 6*

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

M. 61, für Verpflegung und Erziehung M. 368, für Mietanschlaganteil M. 347); im städtischen W a i s e n h a u s (1902 nach der erfolgten Vermehrung der Zöglinge) M. 8 0 0 , hiervon als Kopfanteil für Verwaltung M. 72, Verpflegung und Erziehung M. 417 und Gebäude bzw. Mietanschlaganteil M. 310. Für F r a n k f u r t a. M. (a. a. O. S. 33) berechnet Brückner den Jahresaufwand für ein Kind auf mindestens M. 300 bis 3 5 0 ; in den unter Verwaltung von Vereinen stehenden Anstalten e r heblich höher. Für C h e m n i t z stellt sich o h n e Anschlag für Miete ein Kind für ein Jahr im Waisenhaus (86 Zöglinge) rund auf M. 500 r im Kinderversorgungshaus (mit durchschnittlichem Tagesbestand: 213) ebenfalls ohne Mietanschlag auf M. 305. Für D r e s d e n berechnen sich die Aufwandsummen wie folgt: im Findelhaus mit 66 Pfleglingen auf den Kopf M. 814,40 (hievon für allgemeinen Aufwand M. 116, für den persönlichen Aufwand M. 494,50, für Mietwert M. 204); in der Kinderpflegeanstalt (116 Pfleglinge) M. 5 6 5 ; in der Kinderbesserungsanstalt „Marienhof" (56 Zöglinge) M. 721,60. Für B a y e r n berechnet sich das Verhältnis der fortlaufenden Kosten für die auf Grund des Zwangserziehungsgesetzes untergebrachten Minderjährigen wie folgt: bis M. 100 in Familien 56 v. H., in Anstalten 6 v. H., dagegen über M. 100 jährlich 4 4 bzw. 94 v. H.

Waisenerziehung in grofsen, geschlossenen Anstalten. Die Vorzüge der Anstaltserziehung liegen neben einer erleichterten Körperpflege in der strengeren Zucht, regelmäßigen Ordnung und dadurch leichteren schulmäßigen Ausbildung der Kinder. Ihre großen Nachteile bestehen in der Gefahr gegenseitiger Ansteckung in sittlicher und physischer Beziehung wie in der schablonenhaften Behandlung der Kinder, ganz besonders aber darin, daß die Pflege in großen Anstalten nicht geeignet ist, die Kinder mit den wirklichen Verhältnissen und Anforderungen des Lebens bekannt zu machen und sie für den Kampf ums tägliche Brot, der ihnen später besonders droht, vorzubereiten. Um tunlichst das Schablonenhafte der Anstaltserziehung zu vermeiden, hat man versucht, das System der Gruppenbildung

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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in den Waisenheimen auch auf große Anstalten zu übertragen. Hierdurch k o m m t , wenn auch eine räumliche Trennung der Gruppen hier nicht möglich, doch ein engeres Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppen ebenso wie die Individualität der einzelnen Kinder mehr zur Geltung.

Anstalts-Gruppen-System. Waisenheime. Cottage-Homes. Municipal Journal 1902, 1903. Um ein Bild der Waisenpflege im Cottagesystem geben zu können, seien zwei ähnliche englische Einrichtungen kurz beschrieben. Von den Armenpflegern von Greenwich wurde durch die Eröffnung von Cottageheimen für Kinder, die der Armenpflege anheimgefallen sind, eine derartige bedeutungsvolle Unternehmung ins Leben gerufen. Die Heime von Greenwich liegen auf einem großen Gute in Sidcup (Kent). Die Gebäude bieten Raum für 6 0 0 Kinder, wobei die 300 Knaben in vier Einzelgebäuden und einigen Cottages, die 300 Mädchen und Kinder in zehn Paaren von Cottages untergebracht werden. Auf der Mädchenseite sind also j e 15 Mädchen und Kinder in einem abgeschlossenen Häuschen unter einer Hausmutter untergebracht. In das System der großen Barackenschulen der englischen Armenpflege, das in j e d e r Hinsicht zu bedauern war, ist hiermit eine wichtige B r e s c h e gelegt. Die neue Einrichtung ist auch insofern von einer allgemeinen Bedeutung, als sie das Prinzip der Anstaltspflege mit der Erziehung in kleinen Gruppen in ländlicher Umgebung in glücklichster Weise vereinigt. Auch die Armenpfleger von Croydon haben für die ihrer Fürsorge anheimfallenden Kinder auf einem ausgedehnten Grundstück s e c h s Heime für j e 12 Kinder und eine Pflegemutter erbaut. In den einstöckigen Häuschen sind Schlafräume für 5, 4 und 3 Betten angeordnet. Die durchschnittlichen wöchentlichen Verpflegungskosten für ein Kind belaufen sich auf M. 4,45. Für die Zukunft der Mädchen ist es sehr wichtig, daß sie bereits eine Kenntnis der häuslichen Arbeiten erlangen. Ein vorzügliches deutsches Beispiel des Cottagesystems bildet das 1833 gegründete Rauhe Haus in Horn b. Hamburg.

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Rettungshäuser. Reformatory and Industrial Schools.

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Wichern, Die Einrichtung von Anstalten für sittlich gefährdete onfirmierte Knaben. 1893. — Albrecht, Soziale Wohlfahrtspflege. — Schäfer, Leitfaden der Inneren Mission. — Charities R e g i s t e r and Digest 1903. N e b e n einigen von Provinzen und Städten erbauten R e t t u n g s h ä u s e r n , wie T e m p e l b u r g in W e s t p r e u ß e n , S t r a u s b e r g in B r a n d e n b u r g , S c h u b i n in P o s e n , Lublinitz in S c h l e s i e n , Zeitz in S a c h s e n , R u m m e l s b u r g bei Berlin, die meist in n e u e r e r Zeit entstanden sind, k o m m e n hier hauptsächlich die W e r k e e v a n g e l i s c h e r Liebestätigkeit in B e t r a c h t . Nach S c h ä f e r (a. a. 0 . ) gibt e s in D e u t s c h l a n d ü b e r 4 0 0 Rettungsanstalten mit Uber 1 4 0 0 0 P l ä t z e n . A u c h von k a t h o l i s c h e r S e i t e sind zahlreiche e n t s p r e c h e n d e Anstalten g e s c h a f f e n . Die G r u n d b e d i n g u n g für die Erreichung des Z i e l e s d e r R e t t u n g s h ä u s e r liegt in der g e e i g n e t e n P e r s ö n l i c h k e i t der den Anstalten v o r s t e h e n d e n L e i t e r , Hauseltern und Hilfskräfte. Wichern hat deshalb in dem von ihm 1833 g e g r ü n d e t e n R a u h e n H a u s in Horn bei H a m b u r g , das wegen seiner vorzüglichen Einrichtung vorbildlich für viele später entstandene R e t t u n g s h ä u s e r g e b l i e b e n ist, eine „Brüderanstalt" geschaffen, in w e l c h e r die Leiter und Gehilfen für die Rettungsanstalten und mannigfache andere Z w e i g e der evangelischen Liebestätigkeit a u s gebildet werden. F a s t alle von evangelischer S e i t e e r r i c h t e t e n R e t t u n g s h ä u s e r sind von Hausvätern geleitet, die in e i n e r B r ü d e r anstalt ihre A u s b i l d u n g empfingen. D i e weiblichen Hilfskräfte der Rettungshäuser rekrutieren sich aus gleichfalls in den Mutterhäusern für ihren Beruf v o r bereiteten D i a k o n i s s e n und katholischen O r d e n s s c h w e s t e r n . Wie bereits b e r ü h r t , ist bei sittlich v e r d o r b e n e n und m i ß ratenen Kindern Anstaltserziehung vorzuziehen, da in s o l c h e n Fällen durch eine zielbewußte Anstaltserziehung b e s s e r e E r f o l g e errungen werden und Familien kaum zur Aufnahme s o l c h e r Kinder bereit sind. B e i der inneren Einrichtung der Anstalten ist in n o c h h ö h e r e m Maße als bei den Waisenhäusern die A b teilung der K i n d e r in kleinere familienähnliche Gruppen, b e s o n ders auch mit räumlicher Trennung, von g r o ß e r Wichtigkeit. Erst mit d e r A n n a h m e dieses durch D. Wichern e r s o n n e n e n und zuerst im „Rauhen H a u s " eingeführten S y s t e m s haben d i e

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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R e t t u n g s h ä u s e r sich erfolgreich entwickelt. Im Rauhen H a u s und in den ihm nachgebildeten Anstalten bilden immer j e 12 bis 15 K i n d e r v e r s c h i e d e n e n Alters eine familienähnliche G e m e i n s c h a f t , w e l c h e ein e i g e n e s kleines Haus bewohnt. J e d e Familiengruppe steht unter Leitung eines H a u s e l t e r n p a a r e s o d e r wenn die Anstalt nur Knaben aufnimmt, eines H a u s vaters o d e r B r u d e r s ; wenn die Familie nur aus Mädchen b e steht, steht d e r s e l b e n eine Hausmutter ( D i a k o n i s s i n ) vor. Der U n t e r r i c h t wird g e m e i n s a m erteilt. D a n e b e n werden die Kinder auch im Garten, in der Hauswirtschaft und mit ähnlichem beschäftigt. S e h r fühlbar machte sich bis vor kurzem im R e t t u n g s h a u s wesen der Mangel an g e e i g n e t e n Erziehungsanstalten für bereits s c h u l e n t l a s s e n e gefährdete o d e r mißratene K n a b e n . In d e r letzteren Zeit haben j e d o c h v e r s c h i e d e n e R e t t u n g s h ä u s e r diesen wichtigen Zweig in ihren Aufgabenkreis h e r e i n g e z o g e n und in L e h r l i n g s a n s t a l t e n , in welchen die Knaben v o r z u g s w e i s e mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt werden und in allen möglichen Handwerken ausgebildet werden k ö n n e n , die B e s s e rung d i e s e r Gefährdeten versucht. S o l c h e E r z i e h u n g s a n s t a l t e n sind u. a. im R a u h e n H a u s ( H a m b u r g ) , M a r s c h a l l h o f b e i Neuhof (Straßburg), Stefansstift (Hannover), Warsow (Pommern), Meldienen (Ostpreußen), G e m ü n d (Eifel). Im A n s c h l u ß hieran ist die vom B a d i s c h e n F r a u e n v e r e i n b e g r ü n d e t e B e s s e r u n g s a n s t a l t für s c h u l e n t l a s s e n e Mädchen in S c h e i b e n h a r d t in B a d e n zu nennen, in welcher die Z ö g l i n g e mit g ä r t n e r i s c h e n Arbeiten und Hausarbeit beschäftigt w e r d e n . Auch die an anderer Stelle b e s p r o c h e n e n M a g d a l e n e n h ä u s e r sind hier zu e r w ä h n e n . Die R e f o r m a t o r y S c h o o l s nehmen a u s g e s p r o c h e n v e r b r e c h e r i s c h e j u g e n d l i c h e Sträflinge von 12 bis 16 J a h r e n auf (children c o n v i c t e d of an offence punished with penal servitude or imprisonment). Die v o r g ä n g i g e Einsperrung ist seit 1899 abgeschafft. D i e Zuweisung erfolgt auf 2 ( 3 ) bis 5 J a h r e bis zum Höchstalter von 19 J a h r e n ( R e f o r m a t o r y S c h o o l s A c t 1893, 1899). I n d u s t r i a l S c h o o l s sind für Kinder unter 14 J a h r e n , die der G e f a h r d e s L a s t e r s und V e r b r e c h e n s a u s g e s e t z t sind. Die Kinder k ö n n e n nach dem 16. J a h r e nicht mehr z u r ü c k g e h a l t e n werden, d o c h verbleiben sie nach dem G e s e t z von 1894 unter

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

Aufsicht der Leiter bis zum 18. J a h r e . Kinder, w e l c h e bettelnd ( a u c h mit dem Vorwand des H a u s i e r e n s ) , o b d a c h l o s , der elterlichen F ü r s o r g e beraubt, im V e r k e h r mit D i e b s g e s e l l s c h a f t o d e r Prostituierten getroffen werden, k ö n n e n von j e d e r m a n n zur g e richtlichen B e h a n d l u n g zur V e r w e i s u n g in die Industrial S c h o o l g e b r a c h t werden (Industrial S c h o o l s A c t , dann N o v e l l e von 1880). D i e weiteren g e s e t z l i c h e n G r ü n d e für die Aufnahme in Industrial S c h o o l s sind in Charities R e g i s t e r and D i g e s t für 1903, E i n leitung S . 114, 115, ausführlich n a c h g e w i e s e n . F ü r den Unterhalt d e r Kinder gewährt die S t a a t s k a s s e Z u s c h ü s s e ; in bestimmten Fällen sind die Eltern zur Zahlung v e r pflichtet. Als Reformatory und Industrial S c h o o l s werden a u c h acht Schiffe verwendet. D i e Zahl der in beiden S c h u l a r t e n unterg e b r a c h t e n Kinder, soweit sie d e n s e l b e n v o m S t r a f r i c h t e r ü b e r wiesen waren, b e t r u g 1 8 9 0 : 2 8 5 8 9 , davon etwa 4/t> K n a b e n . A u ß e r d e m b e s t e h e n in England freie Heime für v e r n a c h lässigte und verwahrloste K n a b e n , welche keine T e n d e n z zur Unehrenhaftigkeit g e z e i g t haben, und auch einige wenige Heime für K n a b e n , w e l c h e nach ihren Taten in die Z w a n g s s c h u l e g e hörten. A u c h S p e z i a l s c h i f f e sind für verwahrloste, aber n o c h nicht verurteilte Knaben v o r h a n d e n .

Familien-Gruppen-Erziehung. Geschwisterheime auf dem Lande, Asilo famiglia, Scattered-Homes. Münsterberg,

Ausländisches Armenwesen 52. Heft der Schriften des D. V. f. A. u. W. S. 92.

In Italien und E n g l a n d ist man b e s t r e b t , die Nachteile der Anstaltserziehung dadurch zu vermeiden, daß etwa 12 bis 15 Kinder bei einer tüchtigen Mutter u n t e r g e b r a c h t werden, wobei natürlich eine Beaufsichtigung d i e s e r Familiengruppen durch e n t s p r e c h e n d vorgebildete Inspektorinnen notwendig ist. D e r „Verein zur G r ü n d u n g von G e s c h w i s t e r h e i m e n auf dem L a n d e " in I t a l i e n 1 ) strebt folgende Ziele a n : in dem Kinde Familiensinn, häusliche T u g e n d e n durch praktische B e t ä t i g u n g zu e n t w i c k e l n ; das Kind zu einem g e s u n d e n , arbeitsamen, selbständigen M e n s c h e n zu e r z i e h e n ; der Landflucht entgegen') Der Verfasser verdankt diese prinzipiell bedeutenden Mitteilungen Fräulein Felic. Buchner, z. Z. Genf.

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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z u w i r k e n ; den Nationalreichtum zu v e r m e h r e n durch s a c h g e m ä ß e Anleitung der Kinder zu ertragsreicherer Bewirtschaftung d e s B o d e n s und der landwirtschaftlichen N e b e n b e t r i e b e . Diese Ziele will der Verein dadurch e r r e i c h e n , d a ß er d a s z u v e r s o r g e n d e Kind nach k u r z e r B e o b a c h t u n g in einem Zentralz u f l u c h t s h a u s e sofort in die U m g e b u n g versetzt, in d e r es sein Leben verbringen soll und wo es die Pflichten und Arbeiten s e i n e s Berufes von klein an üben lernt; es erscheint d e m Verein u n z w e c k m ä ß i g , die Kinder in städtische Anstalten zu p f e r c h e n , w o sie Natur, Welt und Familienleben nur aus B ü c h e r n k e n n e n lernen, und sie d a n n weltfremd und u n s e l b s t ä n d i g in d e n Kampf u m s Dasein zu stoßen. D e r Verein ist der A n s i c h t , daß die Erziehungsarbeit an Waisen und verlassenen Kindern b e s o n d e r s liebevolles Eingehen auf die Individualität, b e s o n d e r e Umsicht und Opferwilligkeit erfordert, weshalb die Oberleitung der Heime in H ä n d e n einer lebenserfahrenen, warmherzigen, mit p ä d a g o g i s c h e m Takte u n d organisatorischem Talente b e g a b t e n , wirtschaftlich praktischen Frau liegen müsse. Diese Oberleiterin hat die zu Hausmüttern g e e i g n e t e n Frauen und Mädchen in ihre Obliegenheiten e i n z u w e i s e n , die Heime öfters im Jahr zu besuchen und eventuell im Bedürfnisfalle einz u s p r i n g e n . Junge Mädchen der gebildeten Kreise, welche sich in d e r Wohlfahrtspflege ausbilden wollen, werden als Praktikantinnen eventuell die H a u s m u t t e r unterstützen und im Bedarfsfalle aushelfen k ö n n e n . Die Kinder sollen alle ihren Kräften a n g e m e s s e n e n Haus-, Stall- und Gartenarbeiten b e s o r g e n , freilich so, d a ß ihnen noch Zeit zu fröhlichem Spiel bleibt. Wenn tunlich, w e r d e n z w e i H e i m s t ä t t e n in e i n e m D o r f errichtet; d o c h nicht mehr, damit die A n s i e d l u n g nicht den Anstrich einer Armenkolonie erhalte und die Kinder nicht von d e r übrigen ländlichen B e v ö l k e r u n g a b g e s o n d e r t w e r d e n . A n s t e c k e n d kranke, erblich belastete Kinder, Zwangszöglinge, gefallene Mädchen passen nicht für diese Familienerziehung, s o n d e r n müssen in Anstalten untergebracht w e r d e n . Die Familie soll aus s e c h s , acht oder h ö c h s t e n s zwölf Kindern beiderlei G e s c h l e c h t s und j e d e r Altersstufe b e s t e h e n . Vom 15. o d e r 16. Jahre an wird den Kindern f ü r im M u t t e r h a u s e geleistete Arbeit ein kleines Entgelt gereicht. Für die Kinder

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VIII. F ü r s o r g e f ü r g e f ä h r d e t e K i n d e r .

m ü s s e n Staat, G e m e i n d e o d e r W o h l t ä t e r ein m ä ß i g e s K o s t g e l d entrichten. Die E i n r i c h t u n g d e r g e s u n d h e i t l i c h e i n w a n d f r e i e n H ä u s e r ist s e h r einfach. S t a l l g e b ä u d e , H ü h n e r - u n d B i e n e n h a u s , Gem ü s e - u n d O b s t g a r t e n , W i e s e u n d Kartoffelfeld g e h ö r e n d a z u . Die Kost ist einfach, a b e r n a h r h a f t . Die K l e i d u n g ist die ortsübliche. Die S c a t t e r e d - H o m e s , G e s c h w i s t e r h e i m e in E n g l a n d , sind ähnlich g e d a c h t . Sie sind v o n d e r öffentlichen A r m e n p f l e g e eing e r i c h t e t u n d b e f i n d e n sich im G e g e n s a t z zu d e n italienischen H e i m e n in d e n S t ä d t e n . Die H a u s m ü t t e r sind m ü t t e r l i c h e F r a u e n a u s d e m Volke o d e r e h e m a l i g e K r a n k e n p f l e g e r i n n e n etc. Die H ö c h s t z a h l d e r u n t e r e i n e r H a u s m u t t e r v e r e i n i g t e n Kinder b e t r ä g t 12 bis 16, u n d z w a r M ä d c h e n bis z u m 15., K n a b e n bis z u m 10. J a h r e . Altere K n a b e n w e r d e n in g r ö ß e r e , u n t e r d e r L e i t u n g v o n H a u s e l t e r n s t e h e n d e H e i m e g e b r a c h t . Eine I n s p e k t o r i n b e s u c h t täglich j e d e s H e i m . Die E r g e b n i s s e sind im g a n z e n g ü n s t i g , die K o s t e n g e r i n g e r als in g r o ß e n A n s t a l t e n , d o c h liegen a b s c h l i e ß e n d e Urteile n o c h nicht vor.

Familienpflege. Stadt- und Landpflege. Stalmann, Beaufsichtigung der in Familienpflege u n t e r g e b r a c h t e n Kinder. Schriften des D. V. f. A. u. W. 43. Heft 1899. A u s m e h r f a c h b e r ü h r t e n u n d a u c h finanziellen G r ü n d e n sind die s t a a t l i c h e n u n d s t ä d t i s c h e n B e h ö r d e n m e h r d e r Familienp f l e g e g e n e i g t . A u c h die m e i s t e n d e u t s c h e n A r m e n v e r w a l t u n g e n s p r e c h e n sich f ü r d i e s e l b e aus. Man ist zu d e r Ü b e r z e u g u n g g e k o m m e n , d a ß die richtigste Art d e r E r z i e h u n g d a s A u f w a c h s e n d e r K i n d e r in d e r Familie ist, w o sie an d e n S o r g e n u n d F r e u d e n i h r e r P f l e g e e l t e r n t e i l n e h m e n u n d in d e n V e r h ä l t n i s s e n aufw a c h s e n , die s p ä t e r die ihrigen sein w e r d e n . Die G r u n d b e d i n g u n g zu einer g u t e n F a m i l i e n p f l e g e ist natürlich eine sorgfältige Wahl der Pflegeeltern und ständige behördliche Überwachung ders e l b e n . Die P f l e g e s t e l l e n auf d e m L a n d e o d e r in kleinen S t ä d t e n sind d e n g r o ß s t ä d t i s c h e n v o r z u z i e h e n , da hier die g e s u n d h e i t lichen Verhältnisse, b e s o n d e r s in b e z u g auf W o h n u n g u n d N a h r u n g bei d e m s e l b e n A u f w ä n d e g ü n s t i g e r , die G e f a h r e n s c h l e c h t e r B e e i n f l u s s u n g g e r i n g e r sind als in G r o ß s t ä d t e n .

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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Die Aufsicht wird am besten durch Frauen geübt. Um die d i e s e m Amte entsprechende Vorbildung zu erlangen, würde wohl z w e c k m ä ß i g zu fordern s e i n , daß die Frauen sich durch einen praktischen Kursus in einem Kinderspital die nötigen hygienischen Kenntnisse erwerben, um bei Überwachung der Pfleglinge konstatieren zu können, wo e s fehlt und ob von den Eltern die P f l e g e richtig gehandhabt wird. Ferner sollte sie eine A u s bildung in einer wirtschaftlichen Frauenschule b e f ä h i g e n , da richtige A n w e i s u n g e n g e b e n zu können, w o es in wirtschaftlicher B e z i e h u n g mangelt. Die gleichen Erwägungen wie für Waisen lassen auch für F ü r s o r g e z ö g l i n g e die F a m i l i e n p f l e g e vorziehen, soweit e s sich um Kinder handelt, die von ihren Eltern mißhandelt oder verwahrlost, persönlich aber noch nicht verdorben sind.

Fürsorge der englischen Armenpflege für Kinder. Boarding out (Unterbringung in Familienpflege). Charities Register etc.

Introduction S. 93—95.

Die Aufgabe der Armenpflege, für verwaiste und v e r l a s s e n e Kinder zu sorgen durch deren Hinausgeben in Familienpflege, ist in England geregelt durch die V e r o r d n u n g zum A r m e n g e s e t z vom 28. Mai 1889. F r ü h e r konnten die Armenpfleger nur innerhalb ihres Bezirkes (Union) Kinder unterbringen, während sie nun diese Grenze a u c h überschreiten k ö n n e n ; dies ist eine n o t w e n d i g e Maßnahme, wenn die Armenpflege großer Städte das System a n n e h m e n soll. Die Kinder werden in kleinen Häusern u n t e r g e b r a c h t u n t e r F ü r s o r g e von Pflegeeltern und unter Aufsicht eines B o a r d i n g - o u t Komitees. Letzteres wird aus drei bis vier Mitgliedern gebildet. Die wöchentlich zu bezahlende Summe für ein in Familienpflege s t e h e n d e s Kind soll 4 Sh. mit Ausschluß von Kleidung, Schulgeld und ärztlichem Honorar nicht überschreiten. Näheres siehe Ch. R. a. D. Einleitung S. 93. Die F r a g e des U n t e r b r i n g e n s der Kinder in Familienpflege wird in England stark befürwortet und ebenso stark opponiert. Letzteres i n s b e s o n d e r e a u s dem Grunde, weil die Z a h l u n g von 4 Sh. in der Woche mit den weiteren Kosten des Schulgeldes etc. d a s Kind eines Armen in eine bessere Stellung bringt als d a s Kind des freien A r b e i t e r s und des Pflegevaters, welch letztere nur selten wöchentlich 4 Sh. für ein Kind ausgeben können. Dies führt den Arbeiter dazu, das oft u n g ü n s t i g e r e Los seiner eigenen Kinder zu

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

vergleichen mit dem der oft illegitimen Kinder minderwertiger Eltern, die in der Nachbarschaft untergebracht sind. Im Jahre 1896 war eine Abteilungskommission der Lokalverwaltung bestimmt, einen Bericht Uber die verschiedenen Schulen der Armenpflege in London zu erstatten. D i e s e r Bericht behandelt die Erziehung und die Fürsorge armer Kinder im allgemeinen. Wenn in vielen Punkten auch noch Meinungsverschiedenheiten bestehen, so wird doch eine Übereinstimmung in der Richtung konstatiert, daß die Zahl der Kinder unter einem Dach möglichst klein sein soll. Deshalb ist das C o t t a g e - H e i m oder Dorfsystem, bei welchem vielleicht 20 Kinder unter einer guten Hausmutter untergebracht werden, besser als die Unterbringung in einem großen Gebäudeblock. Das Cottage - Heim - System ermöglicht individuelle F ü r s o r g e , gewährt bessere Möglichkeiten, Haushaltführung und häusliche Pflichten zu lernen, und gewährt doch einige der Vorteile der größeren Anstalten, wie bessere Mittel zu gewerblicher Ausbildung, Schwimmbäder etc. Das große Übel, das durch die Anhäufung von Kindern verursacht wird, ist die erhöhte Gefahr der Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Es werden daher kleine Anstalten empfohlen oder Familienpflege. Letztere ist eine sehr gute Methode, wenn eine fortgesetzte und tätige Überwachung b e s t e h t , sie ist besonders notwendig für mutterlose Kinder, Waisen und Verlassene, wie dies in der V e r ordnung auch vorgesehen ist. Die Village-Homes (Dorf-CottageSystem) oder kleinen Anstalten und Familienpflege sollten als sich gegenseitig ergänzend betrachtet werden. (Einleitung S. 95.)

Halte-, Kost-, Zieh-Kinderüberwachung. Dr. N. Brückner, Öffentliche und private Fürsorge. Frankfurt a. M. — Dr. Taube, Das Haltekinderwesen. Schriften der Z.-St. f. A . - W - E . Nr. 17, S. 44—84. Berlin 1900. — Pütter, Stadtrat, Das Ziehkinderwesen (siehe oben). — H. Neumann, Der Berliner Kinderschutzverein in den Jahren 1880—1889. — Vierteljahrschrift f. öffentl. Gesundheits pflege Bd. XIII und Vereinsberichte. Da nur in sehr seltenen Fällen außereheliche Mütter ihre Kinder bei sich behalten können, müssen diese fast alle in fremde Pflege gebracht werden. Angesichts der großen Sterblichkeit der nicht bei ihren Eltern erzogenen Kinder ist eine sorgfältige behördliche Überwachung der Ziehkinder geboten. Die Hauptursachen der mangelhaften P f l e g e , durch welche diese hohe Sterblichkeit bedingt wird, sind die Unwissenheit der Pflegemütter und besonders der unregelmäßige E i n g a n g derPflegegelder.

VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

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In v e r s c h i e d e n e n d e u t s c h e n Staaten, wie B a y e r n , W ü r t t e m b e r g , H e s s e n , S a c h s e n - W e i m a r , S a c h s e n - A l t e n b u r g , ist das Z i e h k i n d e r w e s e n durch l a n d e s g e s e t z l i c h e V e r o r d n u n g e n g e r e g e l t . In P r e u ß e n , B a d e n u. a. haben die B e h ö r d e n die B e f u g n i s , örtliche P o l i z e i v e r o r d n u n g e n zu erlassen. D i e s e V e r o r d n u n g e n betreffen meist die Verpflichtung der polizeilichen A n - und A b m e l d u n g d e r Pflegekinder, ferner eine B e s c h r ä n k u n g der Erlaubnis z u r Haltepflege, indem dieselbe von dem Verhalten der Pflegeeltern und von den Verhältnissen ihrer W o h n u n g e n a b h ä n g i g g e m a c h t wird. Die h e r v o r r a g e n d s t e und v o l l k o m m e n s t e Z i e h k i n d e r ü b e r w a c h u n g b e s t e h t in L e i p z i g . D a s dort eingeführte S y s t e m ist h a u p t s ä c h l i c h so wertvoll, weil der Vorstand d e s A r m e n a m t e s , w e l c h e m d a s Ziehkinderwesen unterstellt ist, zugleich die „ V o r m u n d s c h a f t " über sämtliche beaufsichtigte u n e h e l i c h e Kinder hat. Die G e n e r a l v o r m u n d s c h a f t betreibt, wie b e s o n d e r s erörtert, vor allem die tunlichste Heranziehung der Väter zur Alimentation und verhindert so, daß, wie e s früher in den meisten Fällen war, d e r Mutter allein die Unterhaltspflicht für das Kind zufällt. Hierdurch werden also die nötigen Unterhaltsmittel bereitgestellt. B e i d e r Überwachung, die seit 1901 auch die e h e l i c h e n , bei fremden Leuten untergebrachten Kostkinder u m f a ß t , legt die Leipziger Organisation das Hauptgewicht auf g e s u n d h e i t l i c h e Kontrolle, welche einem Arzt und den b e s o l d e t e n Pflegerinnen obliegt. N a c h d e m j e d e s Kind in der ersten W o c h e der Aufnahme dem Arzte vorgestellt wird und sich d e r s e l b e innerhalb der n ä c h s t e n acht T a g e durch B e s u c h bei den Pflegeeltern überzeugt, o b die Pflegestelle in gesundheitlicher B e z i e h u n g entspricht, die W o h n r ä u m e zur Aufnahme des Pfleglings g e e i g n e t sind etc., unterliegt die betreffende Pflegestelle einer ständigen K o n trolle durch die Pflegerinnen. Durch j ä h r l i c h e K o n t r o l l v e r s a m m lungen, in welchen j e ü b e r 3 0 0 Kinder gleichzeitig untersucht werden, wird der Ehrgeiz der Pflegemütter g e w e c k t , ihre Pfleglinge s o g ü n s t i g wie möglich v o r z u s t e l l e n ; den b e s t e n Z i e h müttern werden Prämien ausbezahlt. A h n l i c h e s e h r z w e c k m ä ß i g e Regelungen d e s Z i e h k i n d e r w e s e n s b e s t e h e n u. a. in D r e s d e n , K i e l , B e r l i n und H a l l e a. S . Nur ist in den drei letzteren Städten die G e n e r a l v o r m u n d s c h a f t nicht eingeführt. In Charlottenburg obliegt die B e a u f s i c h t i g u n g

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VIII. Fürsorge für gefährdete Kinder.

d e r H a l t e k i n d e r g e n a u so wie die d e r v o n d e r A r m e n v e r w a l t u n g in Pflege g e g e b e n e n W a i s e n k i n d e r d e n W a i s e n r ä t e n , W a i s e n p f l e g e r i n n e n u n d S t a d t a r m e n ä r z t e n . D e r e i n z i g e U n t e r s c h i e d ist der, d a ß a u s s t ä d t i s c h e n Mitteln kein P f l e g e g e l d b e z a h l t wird. Z a h l r e i c h e V e r e i n i g u n g e n wirken in d e n v e r s c h i e d e n e n S t ä d t e n mit den B e h ö r d e n z u m S c h u t z e d e r Z i e h k i n d e r z u s a m m e n , so d e r Berliner K i n d e r s c h u t z - V e r e i n , Verein z u r Fürs o r g e f ü r Z i e h k i n d e r in B o n n , Verein z u m S c h u t z d e r Haltek i n d e r in A l t o n a , d e r A u f s i c h t s v e r e i n f ü r K o s t k i n d e r in B r e s l a u , d e r K l e i n k i n d e r - R e t t u n g s v e r e i n in S t u t t g a r t etc. Ferner beteiligen sich fast alle F r a u e n v e r e i n e d u r c h S t e l l u n g e h r e n a m t licher A u f s i c h t s d a m e n etc. an d i e s e m wichtigen Z w e i g d e r Wohlfahrtspflege. D e r Verein f ü r A r m e n p f l e g e u n d Wohltätigkeit einigte sich bei s e i n e n V e r h a n d l u n g e n ü b e r Z i e h k i n d e r w e s e n am 19. S e p t e m b e r 1902 in Kolmar auf f o l g e n d e L e i t s ä t z e : 1. Alle in einer G e m e i n d e b e f i n d l i c h e n u n e h e l i c h e n s o w i e d i e j e n i g e n e h e l i c h e n Kinder, die in f r e m d e r P f l e g e g e g e n E n t g e l t u n t e r g e b r a c h t sind, sind u n t e r öffentliche A u f s i c h t zu stellen. 2. Die A u f s i c h t s b e h ö r d e hat sich z u r D u r c h f ü h r u n g d e r A u f s i c h t ärztlicher Hilfe u n d e h r e n a m t licher O r g a n e zu b e d i e n e n ; als letztere e i g n e n sich v o r z u g s w e i s e weibliche P e r s o n e n , es empfiehlt sich, a u ß e r d e m z u r Beaufsichtig u n g v o n K i n d e r n bis z u m z w e i t e n L e b e n s j a h r e b e s o l d e t e , g e schulte Pflegerinnen anzunehmen. 3. Die A u f s i c h t ist l a n d e s g e s e t z l i c h zu r e g e l n .

Verbindung mit innerer Kolonisation. Stalmann, Beaufsichtigung der in Familienpflege u n t e r g e b r a c h t e n Kinder. 43. Heft etc. 1899. A u s einer g r o ß e n Reihe v o n G r ü n d e n bieten ländliche o d e r k l e i n s t ä d t i s c h e V e r h ä l t n i s s e w e s e n t l i c h e V o r z ü g e f ü r die Erz i e h u n g v o n Kindern, w e s h a l b s c h o n v o n Seite d e r E r z i e h u n g s v e r e i n e bei d e r Wahl d e r Pflegefamilien e r s t e r e v o r g e z o g e n wurden. Auch unter den größeren Verhältnissen der Armenv e r w a l t u n g e n u n s e r e r G r o ß s t ä d t e tritt im I n t e r e s s e d e r E r z i e h u n g g e f ä h r d e t e r K i n d e r die N o t w e n d i g k e i t h e r v o r , s o l c h e in die einf a c h e r e n u n d n a t ü r l i c h e r e n V e r h ä l t n i s s e d e s ländlichen L e b e n s zu v e r p f l a n z e n . S e l b s t v e r s t ä n d l i c h ist nötig, d a ß die auf d e m

VIII. F ü r s o r g e für g e f ä h r d e t e

Kinder.

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Lande untergebrachten Kinder in ihrer Erziehung genau beaufsichtigt werden, was nach auswärtigen Erfahrungen zweckmäßig durch entsprechend vorgebildete, bezahlte Inspektorinnen geschieht. Noch weiter geht Dr. Barnardo, der die Zöglinge, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, in Kanada unterbringt. Jedenfalls verdienen diese Bestrebungen, zugleich für das Wohl der Kinder zu sorgen wie auch durch diese Kinder des Staates dem Staatswohle als solchem zu nützen, die größte B e achtung. Übrigens ist diese Verpflanzung der Kinder auf das Land im Sinne einer Förderung der sozial-politischen Aufgaben, nämlich des vernünftigen Ausgleiches zwischen Stadt- und Landbevölkerung, ganz besonders begründet, wenn man, wie dies Stalmann getan hat, die Herkunft der Kinder untersucht. Von den Eltern der im Jahre 1898 der öffentlichen Pflege in Hamburg überwiesenen Kinder waren nur 1 8 % der ehelichen Väter, 2 2 % der ehelichen Mütter und 2 7 % der unehelichen Mütter in Hamburg selbst g e b o r e n ; alle übrigen waren von auswärts zugezogen und alsbald in der Stadt verarmt.

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IX. Fürsorge für Gebrechliche.

IX. Fürsorge für Gebrechliche. Hilfsschulen für schwachsinnige Kinder. Pflege- und Erziehungsanstalten für Gebrechliche.

Blindenanstalten. Taubstummenanstalten. Idioten-, Epileptischen-F&rsorge. Krüppelfürsorge.

Die Gebrechlichenfürsorge ist nur kurz behandelt, da vielfach Bekanntes zu wiederholen wäre. Wie sehr die Einrichtungen j e doch in den letzten Jahrzehnten ausgedehnt worden sind, g e h t beispielsweise daraus hervor, daß im Jahre 1900 die Zahl der in den Irrenanstalten Preußens verpflegten Geisteskranken 71 000 b e trug, während sich dort im Jahre 1875 nur 18 267 Geisteskranke in Irrenpflege befanden.

Hilfsschulen für schwachsinnige Kinder. Erziehungs- und Fürsorge-Verein für schwachsinnige Kinder, Berlin. Soziale Praxis 2. Mai 1900. — Zeitschrift für das Arrnenwesen März 1900. — Die Kinderfehler. Zeitschrift für Kinderiorschung mit besonderer Berücksichtigung der p ä d a g o g i s c h e n Pathologie. Herausgeber J. Trüper, Jena. V. Jahrg., 1. Heft.

Bei der fortschreitenden Durchführung der allgemeinen Schulpflicht und den steigenden Leistungen der Volksschule, damit aber auch den steigenden Anforderungen ebensowohl an Lehrer wie an Schüler bedingen geistig zurückgebliebene Kinder erhebliche Schwierigkeiten. Sie sind einerseits ein Hemmschuh für den allgemeinen Unterrichtserfolg und können anderseits durch den für die durchschnittliche Begabung geeigneten Unterricht, dem sie nicht folgen können, nur eine ungenügende Ausbildung für ihr späteres Leben erreichen. Man hat deshalb in den meisten Städten Deutschlands (nach dem Vorbilde Dresdens, 1867) begonnen, Hilfsschulen oder den Volksschulen angegliederte Nebenklassen für schwachbefähigte Kinder einzurichten, woselbst sie in den gewöhnlichen Schulfächern mit größerem Eingehen auf ihre Individualität unterrichtet werden.

IX. Fürsorge für Gebrechliche.

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Nach einer Feststellung aus dem J a h r e 1901 konnten von den in 9 0 d e u t s c h e n Städten in Hilfsschulen unterrichteten Kindern c a . 8 3 % zu völlig erwerbsfähigen M e n s c h e n e r z o g e n w e r d e n . In D e u t s c h l a n d gibt es nun etwa 100 Hilfsschulen für Schwachbegabte Kinder mit 3 3 0 K l a s s e n , e b e n s o v i e l Lehrkräften und über 7 0 0 0 S c h ü l e r n . In Berlin wurde an solchen Hilfsklassen beobachtet, d a ß bei einem g r o ß e n Teil der Kinder trostlose häusliche V e r hältnisse, s c h l e c h t e E r n ä h r u n g und s c h l e c h t e B e h a n d l u n g auf die angeborene Beanlagung zum Schwachsinn noch verschärfend wirken, weshalb in Berlin ein „ E r z i e h u n g s - u n d F ü r s o r g e v e r e i n für g e i s t i g z u r ü c k g e b l i e b e n e (schwachsinnige) K i n d e r " sich zu ihrem S c h u t z e bildete. D i e s e r Verein erstrebt hauptsächlich auch die Unterbringung d e r schulentlassenen Schwachsinnigen in p a s s e n d e n Lehrstellen o d e r häuslichen D i e n s t e n . Ähnlich in K ö n i g s b e r g ( 1 9 0 2 ) . W i n t e r m a n n - B r e m e n hat die V e r s o r g u n g der aus der Hilfss c h u l e entlassenen Zöglinge b e s o n d e r s untersucht. Die F ü r s o r g e soll nicht mit der Entlassung aus der Hilfsschule a b g e s c h l o s s e n sein, sondern sich noch auf Berufswahl und weitere B e a u f s i c h t i gung erstrecken.

Pflege- und Erziehungsanstalten für Gebrechliche. Schäfer, Leitfaden der Inneren Mission. — P. Chr. Hansen, D i e Erweiterung des Handarbeitsunterrichtes für nicht vollsinnige und verkrüppelte Personen. Sehr. d. D. V. f. A. u. W. 1902, 60. Heft. Körperlich o d e r geistig g e b r e c h l i c h e Kinder erfordern meist eine Art der Pflege, die in der Familie nur in seltenen Fällen und dann nur in wohlhabenden K r e i s e n d a r g e b o t e n werden kann. Die F ü r s o r g e für Blinde, T a u b s t u m m e , Idioten und V e r krüppelte obliegt daher meist g e s c h l o s s e n e n A n s t a l t e n , d i e größtenteils, mit A u s n a h m e d e r Idiotenanstalten, vom S t a a t e unterhalten werden. Die Unterstützungsbedürftigkeit der G e b r e c h l i c h e n in dem hier g e d a c h t e n S i n n e schließt in s e h r vielen Fällen nicht mit den S c h u l j a h r e n ab, so daß e s vielfach nötig ist, die U n t e r stützung auch auf die späteren L e b e n s j a h r e a u s z u d e h n e n . E i n e Reihe von Anstalten nimmt diesem Bedürfnisse e n t s p r e c h e n d auch ältere Pfleglinge auf. S i n g e r , Soziale Fürsorge.

7

IX. Fürsorge für Gebrechliche.

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Blindenanstalten. Zeitschrift „Der Blindenfreund", Düren 1881 ff. Bei Blinden ist die Unterbringung in g e s c h l o s s e n e Anstalten, wenigstens für die Zeit der E r z i e h u n g , dringend g e b o t e n . Die Anstalten streben n e b e n d e r Ausbildung in den g e w ö h n l i c h e n Schulfächern als Hauptsache a n , den Blinden durch Unterweisung in S e i l e r e i , Strohflechterei, B ü r s t e n b i n d e r e i , S t r i c k e n , Klöppeln u. ä. den B r o t e r w e r b zu ermöglichen. B e s o n d e r s eigentümlich bei dem Unterricht d e r Blinden ist d a s L e s e n und S c h r e i b e n . D a s L e s e n g e s c h i e h t mittels e r h a b e n g e d r u c k t e r resp. e i n g e s t o c h e n e r B u c h s t a b e n , die mit den F i n g e r spitzen gefühlt w e r d e n . D a s S c h r e i b e n g e s c h i e h t durch Eind r ü c k e n von S t a c h e l t y p e n in Papier o d e r mit Hilfe b e s o n d e r s konstruierter Lineale. D a für die Blinden nur die in Blindenschrift übertragenen Schriften zugänglich sind, ist diese U b e r tragung möglichst vieler D r u c k s a c h e n eine b e s o n d e r s wichtige Aufgabe d e r B l i n d e n f ü r s o r g e . Die „Mädchen- und F r a u e n gruppen für soziale Hilfsarbeit" in Berlin haben für ihre Helferinnen zu d i e s e m Z w e c k e i g e n e Kurse zur E r l e r n u n g der Blindenschrift eingerichtet. Die Erziehungsanstalten für Blinde bleiben mit den nach vollendeter E r z i e h u n g austretenden Zöglingen in Fühlung und bilden ein Asyl, das d e n s e l b e n im Notfalle offensteht. V o n den in Deutschland b e s t e h e n d e n etwa 3 3 Blindenanstalten besitzt nur Berlin eine städtische B l i n d e n s c h u l e für E x t e r n e , in welche die Blinden durch W a i s e n m ä d c h e n geführt werden. D i e s e S c h u l e hat den Vorteil, die Eltern nicht g a n z von ihren Pflichten g e g e n das blinde Kind zu e n t w ö h n e n . Die Blindenanstalten D e u t s c h l a n d s sind nun fast ausschließlich staatliche o d e r k o m m u n a l e Veranstaltungen.

Taubstummenanstalten. Blätter für Taubstummenbildung, Berlin. — „Der Taubstummenfreund", Organ des Zentralvereins für das Wohl der Taubstummen in Berlin. Die näherung

Taubstummenerziehung,

deren

erstes

Ziel

an die Leistungsfähigkeit der Vollsinnigen

auch

An-

und A u s -

bildung zu einem p a s s e n d e n Beruf ist, kann in Internaten oder

IX. Fürsorge für Gebrechliche.

99

E x t e r n a t e n geleitet w e r d e n . Die A u f n a h m e in eine A n s t a l t sollte mit d e m 7. J a h r e erfolgen, d e r Aufenthalt bis z u m 15. Jahre d a u e r n . N a c h d e r Schulzeit k ö n n e n die m e i s t e n d e r K i n d e r in einer L e h r e o d e r e i n e m h ä u s l i c h e n D i e n s t u n t e r g e b r a c h t w e r d e n . D o c h b l e i b e n a u c h die T a u b s t u m m e n a n s t a l t e n n o c h in F ü h l u n g mit d e n e h e m a l i g e n Z ö g l i n g e n . D e r w i c h t i g s t e Teil d e r A u s b i l d u n g ist die m ö g l i c h s t e Erl e r n u n g d e r S p r a c h e . W ä h r e n d m a n sich f r ü h e r bei der T a u b s t u m m e n b i l d u n g auf die E r l e r n u n g einer Z e i c h e n s p r a c h e b e s c h r ä n k t e , wird jetzt in allen T a u b s t u m m e n a n s t a l t e n die Lauts p r a c h e g e l e h r t . Die A u s b i l d u n g darin erfolgt n a c h einer M e t h o d e d e s e h e m a l i g e n V o r s t e h e r s d e r T a u b s t u m m e n a n s t a l t in Leipzig, S a m u e l H e i n i c k e . Die von ihm b e r e i t s Mitte d e s 18. J a h r h u n d e r t s e r f u n d e n e L a u t s p r e c h m e t h o d e d r a n g v e r h ä l t n i s m ä ß i g erst spät d u r c h , da H e i n i c k e sie n u r g e g e n eine h o h e K a u f s u m m e preisg e b e n wollte. D e r S c h u l z w a n g f ü r T a u b s t u m m e , d e r als „die u n e n t b e h r liche G r u n d b e d i n g u n g f ü r eine g e d e i h l i c h e O r g a n i s a t i o n d e s Taubstummenbildungswesens" dringend gewünscht werden muß ( O b e r l e h r e r B e c k - N a g o l d ) , b e s t e h t n o c h nicht in allen d e u t s c h e n B u n d e s s t a a t e n ; a u ß e r in D e u t s c h l a n d ist er in D ä n e m a r k u n d Norwegen eingeführt.

Idioten-, Epileptischen-Fürsorge. Zeitschrift für die B e h a n d l u n g Schwachsinniger und Epileptischer, Dresden. N e b e n d e n b e s o n d e r s b e s p r o c h e n e n Hilfsschulen f ü r s c h w a c h sinnige K i n d e r ist bei Kindern, bei w e l c h e n die Idiotie in stärk e r e n G r a d e n auftritt, ein V e r b r i n g e n in g e s c h l o s s e n e A n s t a l t e n n o t w e n d i g , wo m a n ihnen eine s a c h g e m ä ß e B e h a n d l u n g a n g e d e i h e n lassen k a n n . Die nicht g a n z b i l d u n g s u n f ä h i g e n Kinder werden zur möglichsten Erwerbsfähigkeit erzogen. Manche k ö n n e n sich n a c h v o l l e n d e t e r A u s b i l d u n g in H a u s , Feld o d e r G a r t e n u n t e r g e d u l d i g e r Aufsicht nützlich m a c h e n . Für die m e i s t e n ist j e d o c h ein V e r b l e i b e n in d e r Anstalt am z w e c k m ä ß i g s t e n . Die b e d e u t e n d s t e d e r d e u t s c h e n I d i ö t e n a n s t a l t e n ist die mit d e r Irrenanstalt Dalldorf v e r b u n d e n e d e r S t a d t Berlin. D i e s e l b e u m f a ß t 200 Plätze u n d n i m m t in e r s t e r Linie die in 7*

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IX. Fürsorge für Gebrechliehe.

Berlin o r t s a n g e h ö r i g e n i d i o t i s c h e n K i n d e r auf, die d e r ö f f e n t lichen A r m e n p f l e g e b e d ü r f t i g sind. S o n s t w e r d e n die in D e u t s c h l a n d b e s t e h e n d e n Idiotenanstalten im G e g e n s a t z zu d e r g r ö ß t e n t e i l s s t a a t l i c h e n Blind e n - u n d T a u b s t u m m e n f ü r s o r g e b e i n a h e ausschließlich von d e r freien L i e b e s t ä t i g k e i t u n t e r h a l t e n . In d e n m e i s t e n I d i o t e n a n s t a l t e n w e r d e n a u c h E p i l e p t i s c h e verpflegt. Eine g e s o n d e r t e A n s t a l t f ü r letztere b e s t e h t in Bielefeld. D i e s e l b e ist v o n P a s t o r v. B o d e l s c h w i n g h in g r o ß a r t i g e m M a ß s t a b errichtet u n d u m f a ß t eine g a n z e Kolonie von G e b ä u d e n .

Krüppelfürsorge. Schäfer, Jahrbuch der Krüppelfürsorge, IV. Jahrg., 1902. H a m b u r g , Agentur des Rauhen Hauses. 1903. — Oskar Vulpius, Das Krüppelheim. Heidelberg, Karl Winter. 1902. V e r h ä l t n i s m ä ß i g s p ä t ist m a n z u r A n s t a l t s v e r p f l e g u n g k r ü p p e l hafter Kinder g e s c h r i t t e n . Die älteste d e r b e s t e h e n d e n A n s t a l t e n ist die 1832 in M ü n c h e n errichtete, j e t z t staatliche „Kgl. Z e n t r a l anstalt f ü r E r z i e h u n g u n d B i l d u n g k r ü p p e l h a f t e r K i n d e r " , w e l c h e 82 Freistellen umfaßt. Zur weiteren Ausbreitung der Krüppelfürsorge gab jedoch erst ein von d e m M i s s i o n a r P a s t o r K u n d s e n in K o p e n h a g e n 1872 b e g r ü n d e t e r Verein A n r e g u n g . Die in D e u t s c h l a n d b e s t e h e n d e n 23 A n s t a l t e n mit z u s a m m e n 12000 P l ä t z e n g e n ü g e n bei d e r m e h r als 6 0 0 0 0 b e t r a g e n d e n Zahl v e r k r ü p p e l t e r K i n d e r k e i n e s w e g s dem Andränge der Hilfesuchenden. Gut eingerichtete Anstalten sind d a s K i n d e r k r ü p p e l h a u s d e s O b e r l i n h a u s e s in N o w a w e s bei P o t s d a m u n d d a s S a m a r i t e r h a u s f ü r g e b r e c h l i c h e K i n d e r in Krakau bei M a g d e b u r g . N e u e r d i n g s w u r d e ein a u s freiwilligen L i e b e s g a b e n e r b a u t e s K r ü p p e l h e i m in A n g e r b u r g eröffnet, d a s 200 K i n d e r n A u f n a h m e g e w ä h r t . Die A n s t a l t e n g e w ä h r e n d e n geistig meist n o r m a l e n K i n d e r n n e b e n m ö g l i c h s t e r o r t h o p ä d i s c h e r H e i l u n g eine g u t e S c h u l b i l d u n g u n d A u s b i l d u n g zu einer ihren Kräften a n g e m e s s e n e n E r w e r b s tätigkeit. G a n z b i l d u n g s u n f ä h i g e n k r ü p p e l h a f t e n K i n d e r n sind sie eine d a u e r n d e Z u f l u c h t s s t ä t t e .

X. W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n für die weibliche Jugend.

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X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend. Einleitung. Übersicht der Einrichtungen zur praktischen Ausbildung der weiblichen Jugend. Hauswirtschaftlicher Unterricht. Wanderkochkurse. Ausbildung weiblicher Dienstboten. Mägdebildungsschulen. Marthastifte. Ausbildung in weiblichen Handarbeiten. Fortbildungsunterricht für Mädchen. Gewerbliche und kaufmännische Ausbildung. Sonstige berufliche Ausbildung. Die wirtschaftliche Frauenschule auf dem Lande. Der freiwillige Dienst in der wirtschaftlichen Frauenhochschule. Mägdeherbergen.

Mädchenheime, Arbeiterinnenheime. Töchterheime. Heime für alleinstehende weibliche — beruflich gebildete — Erwerbstätige (Erziehungs- und kaufmännisches Personal). Verein der Freundinnen junger Mädchen. Kath. Mädchenschutz Vereine. Deutsche Bahnhofsmission. Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend in Berlin. Jungfrauen- und Arbeiterinnenvereine. Patronage. Magdalenenhäuser. Zufluchtsstätten für Gefallene. Homes and Refuges for Penitents. Internationale Bekämpfung des Mädchenhandels.

Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend. Einleitung. Infolge d e r g e g e n f r ü h e r so w e s e n t l i c h v e r ä n d e r t e n g e w e r b lichen u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e n Verhältnisse, infolge der Schwierigkeiten, f ü r d a s h e r a n w a c h s e n d e M ä d c h e n d e r v e r s c h i e d e n e n Klassen in d e r Familie j e n e A u s b i l d u n g zu finden, d e r e n sie f ü r die Z u k u n f t b e d ü r f t e , sind f ü r die G e g e n w a r t eine Reihe n e u e r A u f g a b e n hier e n t s t a n d e n . Das junge Mädchen der gebildeten und wohlhabenden S t ä n d e bedarf in d e r H a u s w i r t s c h a f t u n d K ü c h e , in G e s u n d h e i t s l e h r e u n d i n s b e s o n d e r e in d e r E r z i e h u n g s l e h r e j e n e r t h e o r e t i s c h e n u n d p r a k t i s c h e n A u s b i l d u n g , w e l c h e sie s p ä t e r h i n befähigt, einem g r ö ß e r e n H a u s h a l t e v o r z u s t e h e n u n d ihre Pflichten als Gattin u n d Mutter zu erfüllen. E b e n s o soll d a s M ä d c h e n d e r a r b e i t e n d e n Klassen, w e l c h e s h ä u f i g so f r ü h in d a s E r w e r b s -

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X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

leben eintritt, durch eine gründliche hauswirtschaftliche A u s bildung in den S t a n d g e s e t z t werden, später als Frau d e s A r b e i t e r s mit einfachen Mitteln sowohl einen Haushalt zu führen, als d a s g e s u n d h e i t l i c h e und wirtschaftliche Wohl d e r Familie zu fördern. Die veränderte Auffassung über die Aufgaben des weiblichen G e s c h l e c h t s , die vertiefte und erweiterte Vorbildung, welche heute in d e r S c h u l e auch dem M ä d c h e n g e b o t e n wird, hat einen lebhaften Tätigkeitsdrang in dem h e r a n w a c h s e n d e n Mädchen e r w e c k t , der g e g e n ü b e r früheren Verhältnissen d e s h a l b b e s o n d e r s zu b e g r ü ß e n ist, weil er die Vertrödelung der Zeit und das B r a c h l i e g e n l a s s e n der Kräfte d e r j u n g e n Mädchen verhütet und sie veranlaßt, durch eine g e r e g e l t e , vielfach g e m e i n nützige Tätigkeit nützlich zu wirken. D a an anderen Stellen g e z e i g t ist, wie wichtig die Unterstützung der Tätigkeit d e s M a n n e s durch die nicht g l e i c h a r t i g e , sondern eigenartige und e r g ä n z e n d e Tätigkeit der Frau für d a s öffentliche W o h l ist, so m u ß die Mitarbeit des j u n g e n M ä d c h e n s nicht nur aus p e r s ö n l i c h e n , e t h i s c h e n , sondern auch aus sozialen G r ü n d e n aufs wärmste begrüßt werden. Durch die g r ö ß e r e n A n s p r ü c h e , w e l c h e an den Haushalt der gebildeten K r e i s e in finanzieller B e z i e h u n g heute gestellt werden, wird das durchschnittliche Heiratsalter h i n a u s g e s c h o b e n und steigt die Zahl der U n v e r h e i r a t e t e n . D a s j u n g e M ä d c h e n sucht daher auch aus wirtschaftlichen Gründen häufig eine s e l b ständige berufliche Tätigkeit, sei es nun auf wissenschaftlichem, künstlerischem o d e r g e w e r b l i c h e m G e b i e t e , und es ist wichtig, da& hierfür g e e i g n e t e A u s b i l d u n g s m ö g l i c h k e i t e n geschaffen werden. A u c h aus den einfacheren Kreisen erfolgt vielfach, allerdings s e h r oft mit u n g e n ü g e n d e r Vorbildung, ein Eindringen in den kaufmännischen Beruf, und e s sollte, soweit die erforderliche B e g a b u n g vorhanden ist, auch für diesen E r w e r b s z w e i g eine gründliche Ausbildung durch e n t s p r e c h e n d e Einrichtungen e r möglicht werden. Eine letzte R e i h e von Wohlfahrtseinrichtungen ist endlich dadurch hervorgerufen worden, daß für d a s arbeitende M ä d c h e n die Großstadt, in die e s fremd kommt, eine Reihe von Gefahren und Schwierigkeiten bietet, die e s s e h r wertvoll erscheinen l a s s e n , hier von vornherein Einrichtungen zu schaffen, welche der e r w e r b s tätigen weiblichen J u g e n d U n t e r k o m m e n und Anleitung bieten.

X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

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Mit Rücksicht auf den diesen Darlegungen g e s t e c k t e n Umf a n g ist o h n e die B e d e u t u n g der tiefgehenderen wissenschaftlichen Ausbildung der Frau in dem Universitätsstudium, d e r m o d e r n e n h ö h e r e n Töchterschule und dem M ä d c h e n g y m n a s i u m usf. z u u n t e r s c h ä t z e n , hier eine B e s c h r ä n k u n g auf die praktische A u s b i l d u n g nötig.

Übersicht der Einrichtungen zur praktischen Ausbildung der weiblichen Jugend. Die praktische Ausbildung der weiblichen J u g e n d vom 14. Jahre ab etwa ist nach Maßgabe der Hauptziele und d e r Leistungsfähigkeit in b e z u g auf Lehrgeld etc. wie der Unterrichtsmöglichkeiten, a b g e s e h e n von der älteren „Feiertagsschule" v o m 14. bis 16. Jahre, die lediglich eine W i e d e r h o l u n g u n d Bef e s t i g u n g d e s Unterrichts der Volksschule darstellt, in folgende G r u p p e n zu o r d n e n : 1. der h a u s w i r t s c h a f t l i c h e K o c h - u n d H a u s h a l t u n g s u n t e r r i c h t als Teil einer w e i b l i c h e n F o r t b i l d u n g s s c h u l e vom 14. bis 16. Jahre (Beispiel: Städtische M ü n c h e n e r Fortbildungsschule, hauswirtschaftliche Abteilung); 2. der Koch- und Haushaltungsunterricht in b e s o n d e r e n f r e i e n , vielfach von Vereinen unterhaltenen, als K o c h - o d e r H a u s h a l t u n g s s c h u l e n bezeichneten Unterrichtsanstalten, die von Mädchen w o h l h a b e n d e r e r Kreise zum Teil im reiferen Alter besucht werden; 3. die M ä g d e b i l d u n g s s c h u l e n , die vielfach von Töchtern bäuerlicher Kreise besucht w e r d e n ; 4. ähnlich, wenn auch wohl weniger systematisch, in Verb i n d u n g mit sprachlichen o d e r ästhetischen Zielen in einer m o d e r n e n Form d e r P e n s i o n a t e : die H a u s h a l t u n g s p e n s i o n a t e ; 5. d e r Unterricht in w e i b l i c h e n H a n d a r b e i t e n (Beispiel: Frauenarbeitsschule des Münchener Volksbildungsvereins), von Mädchen v e r s c h i e d e n e n Alters und v e r s c h i e d e n e r Vorbildung besucht; 6. die I n d u s t r i e s c h u l e , die diese v e r s c h i e d e n e n A u s bildungen vereinigt und den Schülerinnen häufig die freie Wahl zwischen den einzelnen Fächern läßt (z. B. Industrie- u n d Fortbildungsschule in Rheydt bis 1902, Industrieschule in Kassel);

104

X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

7. die g e w e r b l i c h e A u s b i l d u n g s s c h u l e e n t w e d e r auf allgemein k a u f m ä n n i s c h e m G e b i e t (so die s t ä d t i s c h e H a n d e l s schule f ü r M ä d c h e n in M ü n c h e n ) o d e r in e i n z e l n e n g e w e r b l i c h e n auch k u n s t g e w e r b l i c h e n F ä c h e r n ( A b t e i l u n g e n d e s L e t t e v e r e i n s in Berlin, H a n d e l s - u n d G e w e r b e s c h u l e in R h e y d t ab 1902, in P o t s d a m a b 1904, G e w e r b e - u n d H a u s h a l t u n g s s c h u l e in P o s e n , G a r t e n b a u s c h u l e in M a r i e n f e l d e ) ; 8. die u m f a s s e n d e r e A u s b i l d u n g d e r W i r t s c h a f t l i c h e n F r a u e n s c h u l e n a u f d e m L a n d e mit t h e o r e t i s c h e r u n d p r a k t i s c h e r A u s b i l d u n g in K ü c h e und H a u s w i r t s c h a f t , G e s u n d h e i t s pflege, e i n z e l n e n Teilen d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t e n , G a r t e n b a u etc. u n d E i n f ü h r u n g in die W o h l f a h r t s p f l e g e (Reifenstein i. Thür., O b e r n k i r c h e n , P r o v . H e s s e n , G e i s e l g a s t e i g bei M ü n c h e n ) ; 9. die a n s c h l i e ß e n d e s e m i n a r i s t i s c h e A u s b i l d u n g zu Lehrerinnen für Industrie-, Koch- und Haushaltungsunterricht (im A n s c h l u ß an v o r g e n a n n t e S c h u l e n , d a n n S e m i n a r e in Kassel, Karlsruhe, d e s L e t t e v e r e i n s etc.).

Hauswirtschaftlicher Unterricht, Koch- und Haushaltungsunterricht. Dr. G. K e r s c h e n s t e i n e r , S c h u l r a t , E r r i c h t u n g achter Volksschulklassen für Mädchen. — P a t s c h o k y und Sumper, V o r b e r e i t u n g für den H a u s h a l t u n g s u n t e r r i c h t an den achten Mädchenklassen Münchens und den weiblichen Fortbildungsschulen. — Dr. N. Brückner, E r z i e h u n g und Unterricht vom Standpunkt der Sozialpolitik. Berlin 1895. — Ders., Die öffentliche und private Fürsorge. 1. Heft. Erz i e h u n g und Unterricht. Frankfurt 1892. — D. Theodor Schäfer, Leitfaden der Inneren Mission. H a m b u r g 1903. — F ü r s o r g e für die schulentlassene Jugend. 9. Konferenz, 23. und 24. April 1900. Sehr. d. Z.-St. f. A.-W.-E. Berlin 1900. — „Rotes Kreuz" (Berlin) Jahrg. 1902 und 1903 in zahlreichen Aufsätzen mit Abbildungen. — Berliner Verein für Volkserziehung (Pestalozzi-Fröbelhaus), Jährl. Verwaltungsberichte. — Jahresberichte der H a u s h a l t u n g s schule des Volksbildungsvereins München u. a. m. — Kalle und Kamp, Wiesbaden, V e r s c h i e d e n e Schriften über hauswirtschaftliche Unterweisung in Sehr. d. D. V. f. A. u. W. — Prof. Dr. Albrecht, H a n d b u c h der sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland. Berlin, C. Heymann. 1902. — Dr. Otto Thissen, Soziale Tätigkeit der Gemeinden. M.-Gladbach 1903. Viele M ä d c h e n d e r u n b e m i t t e l t e n Klassen t r e t e n sofort nach ihrer E n t l a s s u n g a u s d e r V o l k s s c h u l e in F a b r i k e n o d e r s o n s t i g e g e w e r b l i c h e Arbeit ein u n d h a b e n nie G e l e g e n h e i t , im e i g e n e n H e i m o d e r im D i e n s t e K o c h e n u n d H a u s h a l t f ü h r u n g zu e r l e r n e n .

X. W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n f ü r d i e w e i b l i c h e J u g e n d .

105

G r ü n d e n dann solche Mädchen einen H a u s s t a n d , so zeigen sich bald die üblen Folgen ihrer wirtschaftlichen Untüchtigkeit. Sie verstehen w e d e r die richtige Z u b e r e i t u n g der Speisen, noch wissen sie mit den zu G e b o t e stehenden knappen Mitteln ausz u k o m m e n . In wie vielen Fällen hat dieser Notstand schon zur V e r a r m u n g und inneren Z e r r ü t t u n g der Familie g e f ü h r t ! In einem Aufsatz „Die soziale B e k ä m p f u n g der Tuberkulose" hebt Dr. A. Fuld hervor, daß die u n g e n ü g e n d e Ernährung, unter der die Mehrzahl der Arbeiter leidet, neben anderen ungünstigen sozialen Verhältnissen ein Hauptfaktor für die E n t s t e h u n g der Tuberkulose ist und in hohem G r a d e einen bösartigen Verlauf begünstigt. Die Errichtung von Volksheilstätten g e n ü g t nicht, dem Übel wirksam zu steuern. Man muß trachten, ihm an der Wurzel b e i z u k o m m e n u n d neben der V e r b e s s e r u n g der Wohnungsverhältnisse wird man dabei sein A u g e n m e r k b e s o n d e r s auf eine bessere, kräftigere E r n ä h r u n g d e s Volkes richten müssen. Die erste G r u n d b e d i n g u n g hierfür ist, die zukünftigen Hausfrauen in der zweckmäßigen Z u b e r e i t u n g einfacher, billiger, nahrhafter Kost zu unterrichten und ihnen Unterweisung in der F ü h r u n g eines einfachen Haushalts zu erteilen. Auguste Förster bestimmte im Jahre 1889 die Kasseler S c h u l v e r w a l t u n g , ihr einen Versuch mit der Einführung des Haushaltungsunterrichtes in der obersten Klasse einer Mädchenvolksschule zu gestatten. Da der Versuch vollkommen gelang, fand der Haushaltunterricht allmählich in den Volksschulen m e h r e r e r deutscher Städte Eingang. Bei dem jugendlichen Alter der Schülerinnen kann derselbe aber noch nicht g a n z den vollen Erfolg aufweisen, zumal er sich angesichts der sonstigen Aufgaben nur auf wenige Stunden erstrecken kann. Eine glücklichere Lösung der Frage ermöglichen die in München und N ü r n b e r g im Anschluß an die sieben Volksschulklassen geschaffenen 8. Klassen, die einen vollständig auf praktische Ausbildung gerichteten Charakter haben und bei deren Lehrplan H a u s h a l t u n g s k u n d e und Gesundheitslehre, Schulküchen- u n d Handarbeitsunterricht die Grundlage bilden. Ferner bestehen auch in m e h r e r e n Städten auf freiwilligen Besuch g e g r ü n d e t e Fortbildungsschulen für Mädchen, deren H a u p t a u f g a b e ') B e i l a g e zu Nr. 208, 1903, d e r A l l g . Z e i t u n g .

106

X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

die h a u s w i r t s c h a f t l i c h e A u s b i l d u n g ist. D a a b e r in E r m a n g l u n g o b l i g a t o r i s c h e r F o r t b i l d u n g s s c h u l e n f ü r M ä d c h e n die bisher g e s c h a f f e n e n E i n r i c h t u n g e n nicht e n t f e r n t z u r e i c h e n , bleibt hier d e r freien W o h l f a h r t s p f l e g e n o c h ein g r o ß e s A r b e i t s f e l d . Viele F r a u e n v e r e i n e u n d W o h l f a h r t s v e r e i n i g u n g e n aller Art h a b e n in T a g e s - o d e r A b e n d s t u n d e n K o c h - o d e r H a u s h a l t u n g s k u r s e eingerichtet, u m einer g r ö ß e r e n Zahl von M ä d c h e n Gelegenheit z u r A u s b i l d u n g zu g e b e n . Die z a h l r e i c h e n A b e n d k u r s e sind b e s o n d e r s f ü r M ä d c h e n u n d F r a u e n b e s t i m m t , die t a g s ü b e r in g e w e r b l i c h e n B e t r i e b e n b e s c h ä f t i g t sind. Auch mehrere Fabrikbesitzer haben besondere Schulen oder Unterr i c h t s k u r s e errichtet, u m ihren A r b e i t e r i n n e n die Möglichkeit zu bieten, sich die f ü r die F ü h r u n g eines e i n f a c h e n H a u s h a l t s nötigen Kenntnisse anzueignen.

Wanderkochkurse. Anleitung für W a n d e r k o c h k u r s e vom Badischen, W ü r t t e m b e r g i s c h e n Frauenverein, Bayerischen Verein für wirtschaftliche F r a u e n s c h u l e n auf dem Lande. Eine s e h r wertvolle E i n r i c h t u n g sind n a m e n t l i c h f ü r kleinere Orte, in w e l c h e n d e r K o s t e n p u n k t die E r r i c h t u n g einer ständigen S c h u l e v e r h i n d e r t , die v o m B a d i s c h e n F r a u e n v e r e i n ausg e g a n g e n e n W a n d e r k o c h k u r s e , w e l c h e im A n s c h l u ß an lokale K o m i t e e s von einer Z e n t r a l s t e l l e a u s in v e r s c h i e d e n e n O r t e n tunlichst a n e i n a n d e r s c h l i e ß e n d e i n g e r i c h t e t w e r d e n . Diese Z e n t r a l s t e l l e stellt die Lehrerin z u r V e r f ü g u n g ; auch liefert sie auf W u n s c h H e r d u n d K o c h g e r ä t e . In s e c h s - bis a c h t w ö c h e n t lichen K u r s e n erhalten M ä d c h e n u n d F r a u e n Unterricht g e g e n g a n z g e r i n g e s E n t g e l t (etwa M. 20) im K o c h e n u n d d e r einfachen Haushaltführung. In d e r Pfalz hat d e r „ V e r b a n d p f ä l z i s c h e r O r t s g r u p p e n d e s B a y e r i s c h e n V e r e i n s f ü r F r a u e n i n t e r e s s e n " die W a n d e r k o c h k u r s e mit b e s t e m E r f o l g e e i n g e f ü h r t , in W ü r t t e m b e r g d e s g l e i c h e n der S c h w ä b i s c h e F r a u e n v e r e i n , im r e c h t s r h e i n i s c h e n Bayern ist mit d e r E i n f ü h r u n g d e r s e l b e n b e g o n n e n . A u c h in S a c h s e n - M e i n i n g e n u n d einigen Kreisen P r e u ß e n s finden d i e s e K u r s e lebhaften Anklang.

X . Wohliahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

107

Ausbildung weiblicher Dienstboten. Mägdebildungsschulen. Marthastifte. D i e Mägdebildungsanstalten nehmen in der Reihe der Haushaltungsschulen eine gesonderte Stellung ein. D e r Hauptzweck derselben ist, die Mädchen durch Unterweisung in allen Zweigen der Hauswirtschaft zu tüchtigen Dienstboten auszubilden. Es gibt in vielen großen Städten Deutschlands derartige Anstalten, so in A l t o n a , B e r l i n , - H a m b u r g , M a g d e b u r g , M ü n c h e n , S t u t t g a r t etc. Sie sind größtenteils von evangelischer Seite, Diakonissenanstalten oder Frauenvereinen veranstaltet und unter dem Namen Marthastifte, Marthaschulen bekannt. A l s sehr zweckmäßig hat sich die Angliederung dieser Mägdebildungsschulen an andere größere Anstalten erwiesen, da im Betrieb einer solchen Gelegenheit zu aller Hausarbeit g e b o t e n ist und die Kosten vermindert werden. S o sind z. B. in A l t o n a und M ü n c h e n Mägdebildungsschulen in Verbindung mit Diakonissenhäusern eingerichtet. In M a r t h a s h o f in B e r l i n , w e l c h e s Mägdeherberge, Mägdeschule, Kleinkinderbewahranstalt und Mädchenelementarschule umfaßt, ist den Zöglingen der Mägdeschule auch Gelegenheit g e g e b e n , in der Kleinkinderschule die Kinderpflege zu lernen. D i e Dauer der Ausbildung beträgt in den meisten Anstalten ein bis zwei Jahre, das monatliche Kostgeld schwankt zwischen M. 3 urtd M. 33. Für die unbemittelten Kreise kommen die Mägdeschulen weniger in Betracht, da die schulentlassenen Mädchen aus d i e s e r Klasse nur sehr selten noch ein bis zwei Jahre gegen Zahlung eines Kostgeldes zu ihrer Ausbildung verwenden können. In München hat sich eine Kommission zur Heranbildung weiblicher Dienstboten gebildet, die die Ausbildung der Mädchen dadurch zu sichern sucht, daß sie denselben gute Lehrstellen vermittelt und zu diesem Zwecke besondere Abkommen mit Hausfrauen trifft. Neuerdings hat sie auch spezielle Kochkurse in Verbindung mit einer Speiseanstalt errichtet.

Ausbildung in weiblichen Handarbeiten. Jahresberichte der Münchner Frauenarbeitsschule u. a. m. D e r schulmäßige Unterricht in den weiblichen Handarbeiten ist s c h o n sehr viel älter als der hauswirtschaftliche Unterricht.

108 An

X . W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n für die weibliche J u g e n d . allen

Mädchenvolksschulen

ist

er

seit

geraumer

Zeit

als

o b l i g a t o r i s c h e s L e h r f a c h e i n g e f ü h r t . A u c h für die h e r a n w a c h s e n d e w e i b l i c h e J u g e n d b e s t e h e n in e i n e r g r o ß e n Z a h l d e u t s c h e r S t ä d t e z u r A u s b i l d u n g in den w e i b l i c h e n H a n d a r b e i t e n e i g e n e , gut eing e r i c h t e t e und stark b e s u c h t e S c h u l e n , d e r e n F r e q u e n z nur hier und

da

durch

die E i n f ü h r u n g

schulen vermindert

von v o l l s t ä n d i g e n

Fortbildungs-

wurde.

Die fabrikmäßige Herstellung

der

Wäsche

und

Kleidungs-

s t ü c k e aller Art hat mit R ü c k s i c h t auf die d a d u r c h

ermöglichte

Verbilligung

Herstellung

in

den

wohlhabenderen

Kreisen

die

d u r c h die A r b e i t der e i g e n e n H ä n d e b e d e u t e n d In

den

minderbemittelten

den H a n d a r b e i t e n

zurückgedrängt.

Bevölkerungsklassen

der F r a u a n g e s i c h t s

jedoch

d e r viel

kommt

weitgehenderen

A u s n u t z u n g d e s Materials u n v e r m i n d e r t e B e d e u t u n g zu. B e z ü g l i c h der E i n r i c h t u n g e n die P r o s p e k t e kunft. daß

oder

der

Jahresberichte

ja

einzelnen

Schulen

überall

genügende

Nur b e i s p i e l s w e i s e m ö g e d e s h a l b hier a n g e f ü g t die

vereins

Münchener aus

fünf

Frauenarbeitsschule

Klassen

besteht,

von

des

und

Kleidernähen

dienen.

Außerdem

sind

Aus-

werden,

Volksbildungs-

denen

K l a s s e n dem U n t e r r i c h t im H a n d n ä h e n , S t i c k e n ,

geben

die

einzelnen

Maschinennähen

eine

selbständige

G a n z t a g s k l a s s e für K u n s t s t i c k e n ( A t e l i e r ) , eine s o l c h e für F e i n w a s c h e n , B ü g e l n und G l a n z i e r e n ,

eine H a l b t a g s k l a s s e für P u t z -

m a c h e n s o w i e endlich e i n e K l a s s e für g e w e r b l i c h e B u c h f ü h r u n g und S t e n o g r a p h i e e i n g e r i c h t e t .

D e r U n t e r r i c h t umfaßt in allen

Klassen insbesondere praktische Übungen, Nähklassen auch Schnittzeichnen verbunden Ein A r b e i t s l e h r e r i n n e n s e m i n a r

ist

mit w e l c h e n in den ist.

der Schule

angegliedert

Um den m i n d e r b e m i t t e l t e n und e r w e r b s t ä t i g e n M ä d c h e n G e legenheit arbeiten

zur zu

Erlernung

bieten,

Frauenvereine

in

der

haben

in

notwendigsten den

den A b e n d s t u n d e n

meisten

weiblichen deutschen

HandStädten

F l i c k - und N ä h k u r s e

ein-

gerichtet.

Fortbildungsunterricht für Mädchen. Gewerbliche und kaufmännische Ausbildung. Sonstige berufliche Ausbildung. Elizalchenhäuser,Erwerbsmöglichkeitenfür Frauen.—Jahresberichte, Statuten und P r o g r a m m e des L e t t e v e r e i n s , Berlin. Festschrift zu

X . Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

109

dessen 25 jähr. Jubiläumsfeier 1891. — Jahresberichte des Vorstandes des Badischen Frauenvereins. — Prospekt der Obst- und Gartenbauschule Marienfelde bei Berlin. — Dr. Brückner, Die öffentliche und private Fürsorge. Frankfurt 1892. — Prof. Dr. Albrecht, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege. — Kerschensteiner, Aufsatz in der Zeitschrift „Frauenbildung" 1. Jahrg. Die Fortbildung

der aus der E l e m e n t a r s c h u l e

Mädchen ist, namentlich teiligung

der Frauen

an

wegen der

entlassenen

der f o r t g e s e t z t steigenden

beruflichen

Erwerbsarbeit,

Beeine

dringende F o r d e r u n g der G e g e n w a r t . D e n obligatorischen Fortbildungsunterricht für M ä d c h e n haben W ü r t t e m b e r g und B a d e n . Einige andere d e u t s c h e Staaten haben den G e m e i n d e n gesetzlich das R e c h t g e g e b e n , M ä d c h e n fortbildungsschulen mit B e s u c h s z w a n g einzurichten, d o c h h a b e n die G e m e i n d e n nur geringen G e b r a u c h davon g e m a c h t . D i e s e s e h r bedauerliche L ü c k e d e s öffentlichen U n t e r r i c h t s w e s e n s suchen zahlreiche F r a u e n b i l d u n g s v e r e i n e wie kaufm ä n n i s c h e und g e w e r b l i c h e Hilfsvereine für weibliche A n g e s t e l l t e auszufüllen. Die g r ö ß t e U n t e r n e h m u n g d i e s e r Art in D e u t s c h l a n d ist d e r 1866 g e g r ü n d e t e Letteverein in Berlin. Er umfaßt eine G e w e r b e schule z u r Ausbildung in der K ü c h e und Haushaltführung, allen weiblichen Handarbeiten, Frisieren etc., eine B u c h b i n d e r e i w e r k stätte, eine S e t z e r i n n e n s c h u l e , ferner eine H a n d e l s s c h u l e , einen K u r s u s für B u r e a u b e a m t i n n e n , S e m i n a r für Handarbeits-, H a u s haltungs- und Industrielehrerinnen und eine p h o t o g r a p h i s c h e Lehranstalt zur Ausbildung für alle Zweige der p h o t o g r a p h i s c h e n Praxis. F ü r die Ausbildung der j u n g e n Mädchen in den Handelsfächern (in kaufmännischem R e c h n e n , B u c h f ü h r u n g , K o r r e s p o n denz, S p r a c h e n , Waren- und W e c h s e l k u n d e e t c . ) b e s t e h t eine Reihe s e h r guter A n s t a l t e n , wie die städtische R i e m e r s c h m i e d sche H a n d e l s s c h u l e in München. A u c h zahlreiche Privatinstitute wollen auf diesem G e b i e t Ausbildung g e w ä h r e n , doch kann, soweit die D a u e r der einzelnen Kurse auf wenige W o c h e n o d e r M o n a t e b e s c h r ä n k t ist und nicht bereits e i n e b e s t e Vorbildung v o r h a n d e n ist, eine befriedigende Ausbildung natürlich nicht erzielt werden.

110

X . Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

F e r n e r sind bei den E i n r i c h t u n g e n z u r F ö r d e r u n g h ö h e r e r Erwerbsfähigkeit n o c h zu n e n n e n die Kgl. G e w e r b e s c h u l e in P o s e n , welche j u n g e M ä d c h e n im nachschulpflichtigen Alter für den H a u s h a l t , einen g e w e r b l i c h e n Beruf o d e r als t e c h n i s c h e Lehrerinnen ausbildet, die Industrie- und F o r t b i l d u n g s s c h u l e in Rheydt, die 1904 eröffnete H a n d e l s - und G e w e r b e s c h u l e für Mädchen in P o t s d a m , die Industrieschule des F r a u e n b i l d u n g s vereins in K a s s e l , die Industrieschule d e s V a t e r l ä n d i s c h e n F r a u e n vereins in S t r a ß b u r g i. E . , die k u n s t g e w e r b l i c h e S c h u l e in München u. a. m. E i n e O b s t - und G a r t e n b a u s c h u l e für g e b i l d e t e Frauen b e steht in Marienfelde bei Berlin. D i e s e l b e , von Fräulein Dr. E . C a s t n e r geleitet, verfolgt den Z w e c k , F r a u e n und Mädchen mit g u t e r S c h u l b i l d u n g durch t h e o r e t i s c h e n Unterricht und praktische Arbeiten so auszubilden, daß sie imstande s i n d , als B e r u f s gärtnerinnen S t e l l u n g e n zu b e k l e i d e n .

Die wirtschaftliche Frauenschule auf dem Lande. Der freiwillige Dienst in der wirtschaftlichen Frauen-Hochschule.

Ida v. Kortzfleisch (I. Pillau), Der freiwillige Dienst in der wirtschaftlichen Frauenhochschule. H a n n o v e r , C. Meyer. 1895. — Prospekte der wirtschaftlichen Frauenschulen Reifenstein, Obernkirchen, Geiselgasteig bei München. — Dr. Elvira Castner (Marienfelde bei Berlin), Zwei Vorträge über Obst- und Gartenbau. Berlin, R. Rohde. 1895. In ihrer B r o s c h ü r e „ D e r freiwillige D i e n s t in der wirtschaftlichen F r a u e n h o c h s c h u l e " regte Ida v. Kortzfleisch den G e d a n k e n an, daß das e r w a c h s e n e M ä d c h e n e b e n s o wie der j u n g e Mann ein J a h r ihres L e b e n s dazu verwenden s o l l t e , sich unter g e d i e g e n e r Leitung für ihre späteren A u f g a b e n und z u g l e i c h für den Dienst am V o l k e vorzubilden und g a b damit den A n s t o ß zur Errichtung der wirtschaftlichen F r a u e n s c h u l e n auf dem Lande. S o l c h e S c h u l e n b e s t e h e n in D e u t s c h l a n d n u n m e h r drei, in Reifenstein in T h ü r i n g e n , in O b e r n k i r c h e n in H e s s e n und in G e i s e l g a s t e i g bei München. Ihr Ziel ist, durch gründliche Vorbereitung in Hauswirtschaft, K ü c h e und den e i n s c h l ä g i g e n landwirtschaftlichen N e b e n b e t r i e b e n den p r a k t i s c h e n F r a u e n b e r u f zu vertiefen und zu erweitern. D u r c h den L e h r g a n g , d e r sich im allgemeinen auf die V o r bildung e i n e r h ö h e r e n T ö c h t e r s c h u l e aufbaut, wollen die S c h u l e n

X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

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f ü r d e n Beruf d e r H a u s f r a u o d e r d e r e n S t e l l v e r t r e t e r i n , d e r L e h r e r i n an H a u s h a l t u n g s s c h u l e n u n d in l a n d w i r t s c h a f t l i c h e n N e b e n b e t r i e b e n , f ü r die B e t r i e b s l e i t u n g in A n s t a l t e n , die T ä t i g keit in d e r W o h l f a h r t s p f l e g e v o r b e r e i t e n . D u r c h die V e r l e g u n g d e r S c h u l e n auf d a s L a n d wird die F r e u d e an d e r N a t u r g e w e c k t u n d d e r K ö r p e r d u r c h die p r a k t i s c h e Arbeit in O b s t - u n d G a r t e n b a u , a m B i e n e n s t a n d e , im G e fliigelhofe etc. gekräftigt. Die wirtschaftliche F r a u e n s c h u l e m u ß z u g l e i c h d e n Mittelp u n k t bilden, von d e m a u s d u r c h die in ihr a u s g e b i l d e t e n L e h r kräfte die w e i t e s t e n Kreise d e s Volkes u n d i n s b e s o n d e r e die F r a u e n zu e i n e r e r s p r i e ß l i c h e n W i r t s c h a f t s f ü h r u n g s o w o h l im H a u s e , wie in Hof und G a r t e n angeleitet w e r d e n .

Mägdeherbergen. Fürsorge für die schulentlassene Jugend. (Siehe oben.) — Prof. Dr. Albrecht, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege. Die M ä g d e h e r b e r g e n sind z u r v o r ü b e r g e h e n d e n A u f n a h m e s t e l l e n l o s e r D i e n s t m ä d c h e n b e s t i m m t . D e r e r s t e M a r t h a s h o f , 1854 von P a s t o r F l i e d n e r in Berlin g e g r ü n d e t , hat sich a u s s e h r kleinen A n f ä n g e n b e d e u t e n d entwickelt u n d f ü r viele s p ä t e r e A n r e g u n g u n d Vorbild g e g e b e n . Die M ä g d e h e r b e r g e n s i n d m e i s t e n s k o n f e s s i o n e l l e E i n r i c h t u n g e n , d o c h w e r d e n a u c h viele von Frauenvereinen unterhalten. In allen H e r b e r g e n wird ein g e r i n g e s K o s t g e l d , im Marthashof 20 bis 50 Pfg. p r o Tag, j e n a c h d e m sich die M ä d c h e n f ü r die Anstalt b e s c h ä f t i g e n , in d e r Marienanstalt M ü n c h e n 60 Pf. p r o Tag, e r h o b e n . In m e h r e r e n A n s t a l t e n w e r d e n die M ä d c h e n w ä h r e n d d e r Zeit i h r e s A u f e n t h a l t e s z u r Mithilfe bei d e r H a u s a r b e i t h e r a n gezogen. M a n c h e n H e r b e r g e n ist eine M ä g d e b i l d u n g s a n s t a l t a n g e g l i e d e r t ; alle sind mit S t e l l e n n a c h w e i s v e r b u n d e n .

Mädchenheime, Arbeiterinnenheime. Die M ä d c h e n - u n d A r b e i t e r i n n e n h e i m e b i e t e n a l l e i n s t e h e n d e n j u g e n d l i c h e n A r b e i t e r i n n e n billige W o h n u n g u n d V e r k ö s t i g u n g . D u r c h die Möglichkeit d e r F o r t b i l d u n g , d u r c h ein g e r e g e l t e s L e b e n in d e r a r b e i t s f r e i e n Zeit, d u r c h die D a r b i e t u n g einer wirklichen Heimat, wollen die H e i m e d e n M ä d c h e n einen E r s a t z f ü r d a s E l t e r n h a u s g e b e n . Mit d e m A u f e n t h a l t im H e i m

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X . W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n für die w e i b l i c h e J u g e n d .

ist Gelegenheit zur Ausbildung in der Hauswirtschaft, in Handarbeiten, manchmal auch Fortbildungsunterricht verbunden. Leider ist diese wertvolle Einrichtung nicht leicht durchführbar, da die Mädchen die in den Heimen nötige, etwas strengere Hausordnung häufig scheuen und ein vollkommen selbständiges Leben, in dem sie keinerlei Rücksichten unterworfen sind, vielfach vorziehen. Die Mädchenheime nehmen entweder nur Fabrikarbeiterinnen oder in verschiedenen Berufszweigen tätige Mädchen auf. Die in Deutschland bestehenden Heime sind Werke religiöser und gemeinnütziger Vereinigungen oder von Fabrikleitungen g e schaffen. Die Anstalten werden von Diakonissen, katholischen Ordensschwestern oder gebildeten Frauen geleitet. Ein von katholischer Seite errichtetes hervorragendes Mädchenheim, das für viele später entstandene Anstalten vorbildlich geworden ist, ist das A r b e i t e r i n n e n h o s p i z in M . - G l a d b a c h , das für Fabrikarbeiterinnen bestimmt ist. Die Mittel sind teils durch Arbeitgeber aufgebracht, teils von der Pfarrgemeinde geliehen. Für 80 Pf. täglich erhalten die Mädchen Wohnung und vollständige Verpflegung.

Töchterheime. Heime für alleinstehende weibliche — beruflich gebildete — Erwerbstätige. Was die Mädchenheime den Arbeiterinnen und Mädchen aus dem Volke bieten, möglichst billige Wohnung, Beköstigung und zugleich A n s c h l u ß , wollen die Töchterheime den A n g e hörigen gebildeter Kreise, den Lehrerinnen, B o n n e n , sowie Frauen und Mädchen, welche in kaufmännischen oder sonstigen Berufen tätig sind, gewähren. Diese Heime, welche auch durchreisenden oder stellenlosen jungen Mädchen offen stehen, stehen häufig auf konfessioneller Basis (evangelische Töchterheime e t c . ) , doch sind auch von dem Verein der Freundinnen j u n g e r Mädchen und anderen gemeinnützigen Vereinigungen in verschiedenen Großstädten interkonfessionelle Heimathäuser errichtet. Einige Gesichtspunkte zur Ausgestaltung der Heime für weibliche Erwerbstätige sind am Schlüsse des Abschnitt 9 „Gemeinnützige W o h n u n g s f ü r s o r g e " dargelegt.

X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

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Verein der Freundinnen junger Mädchen. Katholische Mädchenschutz-Vereine. Fürsorge für die schulentlassene Jugend. (Siehe oben.) S. 256, 281 ff. — Dr. W. Liese, Handbuch des Mädchenschutzes. Freiburg 1904. — Jahresberichte der Landesvereine des Internat. Vereins der Freundinnen. Zum Schutze vor Gefahren, denen j u n g e , alleinreisende Mädchen ausgesetzt sein können, haben sich verschiedene weitverzweigte Vereine gebildet, deren Mitglieder zugleich Rat und Auskunft gewähren sollen. Die bedeutendsten Vereinigungen sind der internationale, auf evangelischer Grundlage stehende Verein der Freundinnen junger Mädchen und die katholischen Marianischen Mädchenschutzvereine Deutschlands. Der 1877 in der Schweiz begründete Verein der Freundinnen j u n g e r Mädchen gibt in einem „ R a t g e b e r " benannten Büchelchen eine Liste von Heimstätten und Vereinen etc. bekannt, an welche die Mädchen sich wenden können. Der deutsche Nationalverein ist an 1217 Orten vertreten und zählt rund 4 0 0 0 Mitglieder. E r hat in Deutschland 60 Bureaus für kostenlose Stellenvermittlung und mehr als 100 Heime. Die Freundinnen melden die Ankunft der ihren Aufenthaltsort wechselnden Mädchen einer Freundin in dem neuen Wohnort an. In den einzelnen Städten hält der Verein Sonntagnachmittags-Versammlungen für in Stellung befindliche Mädchen. Der MUnchener M a r i a n i s c h e M ä d c h e n s c h u t z v e r e i n , der im Jahre 1896 gegründet wurde, gibt gleichfalls durch Z u sammenstellung und Verbreitung eines Führers den Mädchen Adressen und Empfehlungen für alle Länder. Nach dem V o r bilde des Münchener Vereins hat sich in Deutschland eine Reihe weiterer katholischer Mädchenschutzvereine gebildet. (Dr. Liese S. 186.) 1897 wurde der Internationale Verband der katholischen Mädchenschutzvereine mit dem Sitz in Freiburg i. d. Schweiz gegründet, der einen Monatsbericht veröffentlicht. Die vorgenannten Vereine beteiligen sich an der in folgendem Abschnitt besprochenen Bahnhofsmission. S i n g e r , Soziale Fürsorge.

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X . Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

Deutsche Bahnhofsmission. Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend in Berlin. Fürsorge für die schulentlassene Jugend. (Siehe oben.) — Prof. Dr. Albrecht, Handbuch etc. S. 95 ff.

S. 282 ff.

Die gleiche bewahrende Fürsorge, welche die beiden vorgenannten Vereinigungen in erster Linie den gebildeten berufstätigen Mädchen erweisen, bietet der Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend mit dem Sitz in Berlin den Dienstmädchen und jugendlichen Arbeiterinnen. Ein Hauptarbeitsfeld des Vereins ist die von ihm ins Leben gerufene Bahnhofsmission. Die im Dienste derselben stehenden Frauen haben die Aufgabe, fremd ankommende Mädchen in Empfang zu nehmen, ihnen mit Rat zur Seite zu stehen und ihnen, wenn nötig, passende Unterkunft zu verschaffen. Die außer dem Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend auch von den beiden vorgenannten Vereinen und Frauenvereinen nun an ca. 55 Orten Deutschlands errichteten Bahnhofsmissionen haben sich im Jahre 1897 zu einem Verbände zusammengeschlossen, der sich „Deutsche Bahnhofsmission" nennt. Die Bahnhofsmissionen sind teils täglich, teils am 1. und 15. jeden Monats oder an den Ziehterminen tätig. Doch holen alle j e d e s Mädchen ab, dessen Ankunft ihnen gemeldet wird. Die Helferinnen der Bahnhofsmission sind durch Armbinden mit Aufschrift kenntlich. Viele in den Bahnhöfen und Eisenbahnwagen angebrachte Plakate verweisen ferner die jungen Mädchen auf geeignete Adressen.

Jungfrauen- und Arbeiterinnenvereine. Arbeiterinnenklubs. Hillgers Frauen-Jahrbuch 1904/05.

Patronage.

Berlin.

Wenn das Bedürfnis für den männlichen jugendlichen Arbeiter, zu einer möglichst günstigen Ausnutzung seiner freien Zeit, Anschluß an Altersgenossen zu finden, schon sehr groß ist, und es besonders dabei erwünscht ist, daß reifere Männer mit größeren Erfahrungen solchen Vereinigungen ihre Kräfte leihen, s o muß dies Bedürfnis für die jugendliche Arbeiterin, soweit sie ihre freie Zeit nicht in der Familie verbringen kann, noch als ein viel dringlicheres erachtet werden. Denn der Verbindung

X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

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zu geselligen Vereinigungen, der Veranstaltung von gemeinsamen Ausflügen usf. stehen bei der jugendlichen Arbeiterin sowohl die Schwierigkeiten der niedrigeren Entlohnung und der dadurch bedingten Beschränkung, wie auch die durch althergebrachte, nur erst in einzelnen Ländern beseitigte Gewohnheiten den Mädchen gezogenen Schranken entgegen. Um den jungen Arbeiterinnen in den Mußestunden und insbesondere an den Sonntagen Gelegenheit zur Geselligkeit und Erholung zu bieten, haben gebildete Damen entweder ihre eigenen Räume zur Verfügung gestellt oder regelmäßige Versammlungen in gemieteten Lokalen arrangiert, auch größere Ausflüge selbst begleitet usf. Diese Bestrebungen faßt man unter dem Namen Patronage zusammen. Die englischen und amerikanischen A r b e i t e r i n n e n k l u b s sind Organisationen, die unter den arbeitenden Frauen und Mädchen als Mittel zur Selbsthebung und zu edlerem geselligen Verkehr geschaffen wurden. Entweder stehen Arbeiterinnen selbst an der Spitze der Klubs, oder sie wählen doch selbst ihre Vorstandsmitglieder und ihr Programm und nehmen an allen Beratungen mit Stimmrecht teil. Zur Weiterbildung ihrer Mitglieder werden von den Klubs Kurse aller Art veranstaltet. Der monatliche Beitrag schwankt zwischen 40 Pf. und M. 1. Die amerikanischen Klubs bilden eine nationale Liga, der 1900 5 Vereinigungen und 86 Klubs angehörten. In England sind außer der London Club Union, die 1900 35 Klubs umfaßte, eine große Reihe von Klubs an andere Vereinigungen angeschlossen.

Magdalenenhäuser. Zufluchtsstätten für Gefallene. Homes and Refuges for Penitents. Church Penitentiary Association. Women's Mission to Women. Ewald Aders, Zufluchtsstätten für weibliche P e r s o n e n . 39. Heft der Schriften des D. V. f. A. u. W. — Charities R e g i s t e r and D i g e s t 1903, S. 432 ff.

Leichtsinn, die Ungunst wirtschaftlicher Verhältnisse, insbesondere die niedrige Entlohnung der Mädchen in manchen Berufen, die verderbliche Einwirkung ungünstiger Wohnungsund Familienverhältnisse und anderseits die Aussicht auf müheloses Leben sind die Ursachen, aus welchen viele Mädchen 8*

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X. Wohlfahrtseinrichtungen für die weibliche Jugend.

sich unsittlichem Lebenswandel hingeben. Um die Gefallenen auf den rechten Weg zurückzuführen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, durch Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hat Pastor Fliedner im Jahre 1833 in Kaiserswerth ein Asyl für sittlich gesunkene Mädchen gegründet und dadurch den Anstoß zur Errichtung der „Magdalenen"-Häuser gegeben. Die Anstalten nehmen in erster Linie j u g e n d l i c h e Gefallene auf, die sie durch religiöse Einwirkung, Gewöhnung an regelmäßige Arbeit zu einem geordneten Leben führen wollen. Die Zöglinge werden hauptsächlich mit Waschen, aber auch mit sonstiger Hausarbeit, Gartenarbeit, Nähen etc. beschäftigt. Die Dauer des Aufenthalts in der Anstalt soll ein paar Jahre sein. Mit den Entlassenen bleiben die Asyle noch in Fühlung, vermitteln ihnen Dienststellen Und beraten sie in allen wichtigen Lebensfragen. Die zahlreichen Asyle in Deutschland sind ausschließlich Werke freier Liebestätigkeit und werden meist von religiösen Vereinigungen unterhalten. Von evangelischer Seite sind 39 Anstalten errichtet, die von Diakonissen geleitet werden. Dem Magdalenenstift in Plötzensee bei Berlin ist ein Diakonissenmutterhaus angegliedert, in welchem die Schwestern speziell für die Rettungsarbeit an den Verlorenen ausgebildet werden. Auf katholischer Seite sind es die Ordensgenossenschaften »der Frauen vom guten Hirten", „der Vinzentinerinnen", „der Töchter vom heiligen Kreuz" u. a. m., die Bedeutendes für die Besserung der gesunkenen Mädchen wirken. Durch die neuen Zwangserziehungsgesetze ist ein neuer Zug in die Rettungsarbeit in Magdalenenasylen gekommen. Während früher der Eintritt in die Anstalten stets ein freiwilliger war, können nach diesen Gesetzen minderjährige Mädchen, die einen unzüchtigen Lebenswandel führen, zwangsweise in solche verbracht werden. Eine vorzügliche Darstellung über die Fürsorge für Gefallene in E n g l a n d gibt Edith Wethered in Charities Register. Die Arbeit zerfällt in ein Aufsuchen der Mädchen in den Hospitälern, in den Arbeitshäusern, in den Straßen und in den Logierhäusern, die Gewährung einer ersten Zufluchtsstätte, in der eine Auswahl der Mädchen erfolgen kann, die längere Fürsorge in einem Heim, die Beschaffung von Arbeit nach dem Verlassen desselben.

X. W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n für die weibliche J u g e n d .

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Von besonderer Bedeutung ist auf diesem Gebiete in England die C h u r c h P e n i t e n t i a r y A s s o c i a t i o n , die 1852 gegründet wurde; im Juli 1901 waren an dieselbe angeschlossen 56 Zufluchtsstätten (Refuges) für 442 Mädchen und 44 Magdalenenhäuser (Homes for Penitents) für 1548 Gefallene, ferner die weibliche Mission für Gefallene und weibliche Hilfsgesellschaft ( W o m e n ' s M i s s i o n t o W o m e n ) , die in Verbindung mit d e r 1856 gegründeten R e f o r m a t o r y a n d R e f u g e U n i o n steht (an angegebener Stelle S. 406). Besonders wichtig sind auch das L o n d o n D i o c e s a n C o u n c i l f o r P r e v e n t i v e , R e s c u e a n d P e n i t e n t i a r y W o r k (1889) und die Hilfskomitees für Mädchen in Werkhäusern, von welchen das Handbuch eine größere Zahl nachweist. Von der H e i l s a r m e e werden jährlich 5000 bis 6000 weibliche Gefallene in die weiblichen Rettungshäuser (Industrial Rescue Homes) aufgenommen (in den Londoner Anstalten 1901/02 allein 3295 Fälle), von wo erwiesenermaßen nach erfolgter Lehrzeit 7 0 % der Unglücklichen tatsächlich einem besseren Leben zugeführt werden.

Internationale Bekämpfung des Mädchenhandels. Dr. W. Liese, H a n d b u c h des M ä d c h e n s c h u t z e s . (Siehe oben.) — Z e n t r a l b l a t t d e s B u n d e s d e u t s c h e r F r a u e n v e r e i n e IV. Jahrg., Nr. 14; V. Jahrg., Nr. 16.

Ein schreckliches soziales Übel ist der Mädchenhandel, d. h. das Verlocken der Mädchen unter Vorspiegelung glänzender Engagements in das Ausland, wo sie dann von den gewissenlosen, verbrecherischen Händlern in Bordelle verschleppt und dem Verderben preisgegeben werden. Da naturgemäß eine Bekämpfung des Mädchenhandels nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie international ist, hat sich eine aus verschiedenen nationalen Komitees bestehende internationale Vereinigung gebildet. Die Arbeit dieser Gesellschaft besteht in der Warnung der weiblichen Jugend vor leichtsinniger Annahme von Engagements ins Ausland, in der Aufstellung von gewandten, womöglich kriminalistisch gebildeten Vertrauensmännern, welche den schwer faßbaren Händlern nachspüren, den Schiffsverkehr etc. überwachen und alles Verdächtige sofort zur Anzeige bringen. Ferner ist eine ihrer Hauptaufgaben,

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XI. Wohlfahrtseinrichtungen für die männliche Jugend.

die Lücken in der Gesetzgebung zu beseitigen. Wie auf der II. Konferenz (Oktober 1903) des Deutschen Nationalkomitees gegen den internationalen Mädchenhandel berichtet wurde, g e lang es dem Komitee, die Behörden zur Aufnahme des Kampfes gegen den Mädchenhandel zu veranlassen. Ferner wurden, außer von Deutschland, von Frankreich, England und Spanien auf die Bekämpfung des Mädchenhandels bezügliche Gesetzesänderungen als Gesetzesvorschläge angenommen. Alle 3 Jahre treten die nationalen Komitees zu internationalen Kongressen zusammen, und jedes Jahr halten die einzelnen Nationalkomitees Nationalkonferenzen ab. Frühjahr 1904 wurde eine Zentralstelle für Deutschland in Berlin geschaffen.

XI. Wohlfahrtseinrichtungen für die männliche Jugend. Einleitung. Der Mann von morgen. Fortbildungs- und Fachschulen für die männliche Jugend. Jugendklubs (Boys-Clubs). Jünglingsvereine, Gesellenvereine, Lehrlingsvereine, Lehrlingshorte.

Einleitung.

Lehrlingsheime, Gesellenheime. Anhang: Seemannsmission. Komitee für deutsche evangelische Seemannsmission. Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.

Der Mann von morgen.

Dr. Gg. Kerschensteiner, Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend. Gekrönte Preisarbeit (2.). Erfurt 1901. — Dr. Gg. Kerscnensteiner, Die gewerbliche obligatorische Fortbildungsschule. IV. Deutscher Handwerks- und Gewerbekammertag München, 11. September 1903. — Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Vorberichte von Dr. Andr. Vogt-Frankfurt a. M., Generalsekretär Dr. Pieper-M.-Gladbach u. a., dann Verhandlungen der 9. Konferenz der Z. f. A.-W.-E. 23. und 24. April 1900 in Berlin. Schriften Nr. 19. Berlin 1900. — Die Fürsorge für die schulentlassene gewerbliche männliche Jugend. Vorberichte von Prof. Dr. H. AlbreclitGroß-Lichterfelde, A. Kolb-Geislingen (Tätigkeit der Arbeitgeber),

XI. Wohlfahrtseinrichtungen für die männliche Jugend.

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Pastor E. Fritsch-Berlin, Dr. Pieper-M.-Gladbach (Tätigkeit der Innern Mission bzw. der katholischen Vereine). Verhandlungen der 10. Konferenz vom 6. und 7. Mai 1901. (Die Diskussion ist nach 18 Gesichtspunkten geordnet. 34 Anlagen geben A u s z ü g e aus Satzungen, Schulordnungen, Hausordnungen von Herbergen usf.) Schriften Nr. 21 der Z.-St. f. A.-W.-E. Berlin 1901. — Jugendklubs, Leitfaden für Begründer und Leiter von Jugendvereinigungen. Schriften Nr. 23. Berlin 1903. — Joseph Lee, Constructive and Preventive Philanthropy. New York 1902. Insbesondere Kap. 10, Kap. 13 Boys-Clubs, Kap. 14 Industrial training.

Die Fürsorge für die schulentlassene gewerbliche männliche Jugend bildet neben der Fürsorge für das Heim des Arbeiters die wichtigste der Aufgaben, welche die Gegenwart an den Menschenfreund stellt. Nach einer Aufstellung von Vogt gibt es in Deutschland ungefähr 2600000 männliche selbständige Erwerbstätige zwischen 14 und 20 Jahren. Diese Ziffer allein bringt die enorme Bedeutung der Frage zum Ausdruck. Die Aufgabe ist gegen früher außerordentlich dadurch erschwert, daß die Aufsicht und der Familienanhalt, welchen der Lehrling in früheren Zeiten in der Familie seines Meisters hatte, in der modernen industriellen Entwicklung zu einem großen Teile verloren gegangen ist. Dazu kommt, daß gerade für das kritische Alter, in dem die Jungen aus der strengen Zucht der Schule herauskommen und nun zu einem großen Teile sich selbst überlassen sind, vielfach auch bereits selbständige Einnahmen haben, unsere modernen Großstädte mit ihren zahlreichen Schaustellungen und Vergnügungslokalen eine große Reihe von früher unbekannten Gefahren bieten. Durch den häufigen Wechsel des Arbeitsortes, durch die Entfernungen der großen Städte wird der Zusammenhang mit dem elterlichen Haus und die Kontrolle über die jungen Leute erschwert. Die Zunahme der jugendlichen Kriminalität hat gezeigt, daß dem Volksleben hier tiefgehende und schwere Gefahren drohen. Nicht nur Deutschland, auch andere Staaten, wie England, Amerika, befinden sich in derselben Lage. Die großen Schwierigkeiten, die in dem persönlichen Verhältnisse, in der Auffassung der gegenseitigen Stellung zwischen Erwachsenen und jugendlichen Arbeitern bestehen, sind in der Einleitung über die Vereinigungen St. Paulianer Lehrlinge in Hamburg-St. Pauli (Schriften Nr. 23) von Pastor Clemens Schulz

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X I . W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n für die m ä n n l i c h e

Jugend.

a u s g e z e i c h n e t dargelegt worden. Die soziale L a g e , die S c h u l bildung, die Bildungsfähigkeit, die häuslichen V e r h ä l t n i s s e der J u g e n d sind überall v e r s c h i e d e n . F ü r den A r b e i t e r an d e r J u g e n d ist e s also notwendig, daß er nicht nur d i e J u g e n d , sondern s e i n e J u g e n d versteht, die ihn g e r a d e umgibt. Ein Punkt, der bei d e r B e h a n d l u n g der J u g e n d b e s o n d e r e B e a c h tung verdient, ist, daß sie durchaus als E r w a c h s e n e behandelt sein will und andernfalls sofort ihre Gefolgschaft v e r s a g t . Es g e h ö r t also g r o ß e s p e r s ö n l i c h e s G e s c h i c k der Leiter dazu, wenn die J u g e n d in freien V e r e i n i g u n g e n Anhalt gewinnen soll. Nicht minder g r o ß sind die S c h w i e r i g k e i t e n in der S c h u l e ; e s ist nun allgemein wohl klar, daß eine bloße F o r t s e t z u n g d e s U n t e r r i c h t e s der V o l k s s c h u l e keinen Erfolg haben kann, s o n d e r n daß die Fortbildung für die s c h u l e n t l a s s e n e J u g e n d sich dem G e d a n k e n - und Aufgabenkreis anschließen muß, dem die I n t e r e s s e n d e r J u g e n d nach ihren g e w e r b l i c h e n Zielen a n g e h ö r e n sollen. Die in D e u t s c h l a n d a n g e r e g t e Bildung von J u g e n d k l u b s , in welchen unter einer g e w i s s e n S e l b s t v e r w a l t u n g die J u g e n d Spiel und E r n s t v e r b i n d e t , haben in den Vereinigten S t a a t e n bereits einen b e d e u t e n d e n Aufschwung g e n o m m e n . Ihre F ö r d e r u n g auf g e d e i h l i c h e r G r u n d l a g e ist eine d e r allerwichtigsten Aufgaben.

Fortbildungs- und Fachschulen für männliche Jugend. Direktor Pache-Leipzig, Fortbildungs- und Fachschulen in Schriften der Z.-St. f. A.-W.-E. Nr. 19. Berlin 1900. Die F o r t b i l d u n g s s c h u l e n haben den Z w e c k , die schulentlassenen K n a b e n neben ihrer praktischen Tätigkeit als Lehrlinge durch B e f e s t i g u n g der in d e r V o l k s s c h u l e erworbenen K e n n t n i s s e , durch Weiterbildung im A n s c h l u ß an ihre berufliche Arbeit für das praktische L e b e n und ihren g e w e r b l i c h e n B e r u f b e s s e r zu befähigen. D a ß der Unterricht in der F o r t b i l d u n g s s c h u l e sich nicht lediglich auf eine W i e d e r h o l u n g der L e h r g e g e n s t ä n d e der V o l k s schule b e s c h r ä n k e n soll, hat man, wie b e r e i t s bemerkt, längst erkannt. D i e Erfahrung lehrte, daß j u n g e Leute im Alter von 14 bis 18 J a h r e n , welche b e r e i t s im E r w e r b s l e b e n stehen, einem solchen Unterricht nur g e r i n g e s Interesse e n t g e g e n b r i n g e n ; der

XI. W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n für die m ä n n l i c h e J u g e n d .

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wenig erfreuliche Eindruck, den die Schüler auf dritte machten, bekundete dies deutlich. Tatsächlich war aber auch der Nutzen dieser Fortbildungsschulen für die spätere Erwerbstätigkeit nicht hoch zu veranschlagen. Ganz andere Erfolge hat man mit Schulen erzielt, in welchen man den gewerblichen, auf das praktische Leben gerichteten Unterricht in den Vordergrund stellte. Bald zeigte sich, wie die aufs engste mit der praktischen Arbeit der Schüler verknüpfte Betätigung an der Hobel- und Drehbank, am Schraubstock usf. geeignet ist, das wirkliche Interesse der jungen Leute zu erwecken. Dieser Erkenntnis entsprechend hat ein Teil der kleineren Fortbildungschulen je nach der beruflichen Umgebung einen speziellen Charakter angenommen. In Orten mit vorwiegend Landwirtschaft treibender Bevölkerung wird naturgemäß Hauptgewicht auf landwirtschaftliche Unterweisung gelegt werden usf. Bei größeren Städten wird jedoch die Scheidung der Schüler nach ihrer Beschäftigung notwendig. Wenn möglich, vereinigt man in einer Schule die Angehörigen verwandter Berufe. In Großstädten jedoch ist man bereits zur Errichtung abgeteilter fachgewerblicher Klassen geschritten, in welchen spezieller auf die berufliche Eigenart eingegangen werden kann. So bestehen in München bereits 30 fachlich organisierte Fortbildungsschulen mit etwa 2500 Schülern. Die Errichtung weiterer steht bevor. In steter Fühlung mit den einschlägigen Gewerbsmeistern und Berufsverbänden hat sich diese Umwandlung der allgemeinen Fortbildungsschulen in fachgewerbliche vollzogen. Wie Schulrat Dr. Kerschensteiner in seinem ausgezeichneten Referate über die gewerbliche, obligatorische Fortbildungsschule auf dem IV. Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag in München, September 1903, mitteilte, besteht in der Organisation dieser Schulen die größte Mannigfaltigkeit. Das Entgegenkommen der Meisterschaft hat Dr. Kerschensteiner als Leiter des städtischen Schulwesens in München dadurch zu vergelten gesucht, daß er in der Frage der Unterrichtszeit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen jedes einzelnen Gewerbes in möglichster Weise Rechnung zu tragen suchte, indem er die arbeits- und geschäftsreichen Monate des Jahres entlastete und die sogenannten stillen Monate dagegen belastete. Die Forderung der Einführung von Wechsellehre,

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XI. Wohlfahrtseinrichtungen für die männliche Jugend.

Buchführung und Kalkulationskursen in den Fortbildungsschulen zur zweckmäßigen Ergänzung der Zeichen- und praktischen Kurse findet lebhaften Anklang. Denn nicht nur technische Fertigkeiten, sondern auch kaufmännische Selbständigkeit verhelfen dem Handwerker und Arbeiter, sich eine sichere Existenz zu verschaffen. Eine einfache Belehrung über alle wichtigen Einrichtungen in Staat und Gesellschaft, über die Pflichten j e d e s einzelnen als Mitarbeiter im Staatsorganismus soll beitragen, die jungen Leute zu tüchtigen Bürgern zu erziehen. Der B e s u c h der Fortbildungsschule ist nicht in allen deutschen Bundesstaaten gesetzlich geregelt. Die reichsgesetzliche Einführung obligatorischer Fortbildungsschulen wird allgemein angestrebt. Einen Mittelpunkt für die Förderung dieser Bestrebungen bildet der D e u t s c h e V e r e i n f ü r d a s F o r t b i l d u n g s s c h u l w e s e n (Leipzig). An die gewerblichen Fortbildungsschulen schließen sich die F a c h s c h u l e n und Lehrwerkstätten an, welche für die weitere Ausbildung der jungen Leute in den Fächern ihrer Gewerbe bestimmt sind.

Jugendklubs (Boys-Clubs). Literatur siehe oben. Joseph Lee führt als ersten Jugendklub den in der WilsonMission in New York an, der 1878 eröffnet wurde mit der Aufgabe, ruhige und harmlose, genügend anziehende Unterhaltung zu schaffen, um die Jungen von den Gefahren der Straße wegzuziehen. E r zählt nun etwa 5 0 0 0 Mitglieder. Nahezu j e d e protestantische Kirche, welche unter den armen Klassen arbeitet, hat eine Mehrzahl von K l u b s ; der Vinzentiusverein hat in New York Klubs ins Leben gerufen und die Bewegung ist mit beschleunigter G e schwindigkeit vorangegangen. In Boston allein sind nun ungefähr 3 0 Klubs. Die Größe eines Jugendklubs variiert von mehreren 1000 bis herunter zu 5 oder 6 Mitgliedern. In der gegenwärtigen Klubarbeit ist die kleine Gruppe von ungefähr ein Dutzend mehr und mehr als eine Grundlage genommen. Die Klubs haben g e wöhnlich einmal in der W o c h e am Abend eine Versammlung, vereinzelt drei- und viermal, vereinzelt auch jeden Abend. Klubs für Knaben unter 12 Jahren sollen nicht am Abend, sondern nach der Schule, oder am Samstag Zusammenkünfte haben.

X I . Wohlfahrtseinrichtungen für die männliche Jugend.

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D a s A l t e r d e r K n a b e n zur Zeit der Aufnahme b e w e g t sich von 8 zu 18 J a h r e n . Mitglieder pflegen dem Klub weiter a n z u g e h ö r e n , a u c h wenn sie erwachsen sind. Die Klubs haben eine R e i h e v o r z ü g l i c h e r E i n r i c h t u n g e n . Z u n ä c h s t d u r c h w e g s S p i e l e , meist B i b l i o t h e k e n , viele auch D e b a t t i e r g r u p p e n . S e h r viele b e s i t z e n T u r n h a l l e n , einige s o g a r B ä d e r . Mit vielen Klubs sind M a r k e n sparbanken verbunden. D a s Auswandern von G r u p p e n von K n a b e n auf das Land, g e w ö h n l i c h für ungefähr 10 T a g e , ist in vielen Fällen ein w i c h t i g e r T e i l der Arbeit g e w o r d e n , und einige Klubs pflegen b e s o n d e r s d i e A u s f l ü g e auf das Land und das Naturstudium, für das s i e G e l e g e n h e i t liefern. E i n i g e Klubs haben nun auch e i g e n e G e b ä u d e . D e r g r o ß e Klub in Fall River mit 2 0 0 0 Mitgliedern hat a u ß e r d e m n o c h ein Landgut von 140 a c r e s außerhalb d e r S t a d t , in dem im S o m m e r j u g e n d l i c h e s , r e p u b l i k a n i s c h e s L e b e n herrscht. Ein n e u e r W e g ist durch die F ö r d e r u n g der K l u b s durch öffentliche O r g a n e b e g o n n e n . Im Winter 1 8 9 9 / 1 9 0 0 g a b e s in N e w Y o r k fünf g r o ß e S p i e l z e n t r e n , die an j e d e m A b e n d d e r W o c h e durch die S c h u l k o m m i s s i o n in S c h u l g e b ä u d e n im u n t e r e n östlichen Stadtteil b e t r i e b e n wurden. 1901 waren e s b e reits s e c h s . E i n e g e w i s s e Kontrolle, wenigstens am Anfang, wird von L e e bei allem S t r e b e n nach S e l b s t v e r w a l t u n g empfohlen.

Jünglingsvereine, Gesellenvereine, Lehrlingsvereine, Lehrlingshorte. ( N a t i o n a l k o n f e r e n z der e v a n g e l i s c h e n j ü n g l i n g s v e r e i n e . ) D i e in D e u t s c h l a n d b e s t e h e n d e n V e r e i n i g u n g e n der m ä n n lichen erwerbstätigen J u g e n d , welche b e z w e c k e n , den j u n g e n L e u t e n in ihrer freien Zeit eine S t ä t t e edler Geselligkeit und B e l e h r u n g zu schaffen, waren b i s h e r fast ausschließlich auf k o n f e s s i o n e l l e r B a s i s errichtet. E s sind dies die christlichen J ü n g l i n g s v e r e i n e , die katholischen G e s e l l e n v e r e i n e , die auch fast d u r c h w e g auf k o n f e s s i o n e l l e r G r u n d l a g e s t e h e n d e n Lehrlingsvereine. D i e zahlreichen e v a n g e l i s c h e n J ü n g l i n g s v e r e i n e ( 1 8 9 8 b e standen in D e u t s c h l a n d 1993) sind zum g r o ß e n Teil an n e u n provinziale V e r b ä n d e a n g e s c h l o s s e n , die wiederum alle in d e r „ N a t i o n a l k o n f e r e n z der e v a n g e l i s c h e n J ü n g l i n g s v e r e i n e " zu-

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XI. Wohlfahrtseinrichtungen für die männliche Jugend.

sammengeschlossen sind. Als Beispiel dieser Vereine kann der 1883 in Berlin gegründete „Verein christlicher j u n g e r Männer" dienen, der ein eigenes g r o ß e s Vereinshaus mit mehreren Sälen und einer großen Turnhalle besitzt. D e r Verein bietet den sich a u s allen Berufsklassen rekrutierenden Mitgliedern durch Unterhaltungs- und Lesezimmer, eine Bibliothek, Unterricht in B u c h führung, Stenographie, englischer und französischer Sprache, Singen und Turnen reiche Gelegenheit zur Erholung und Fortbildung. Die meisten Jünglingsvereine haben sich besonders auch die Fürsorge für die in die Großstädte einwandernde männliche Jugend zur Aufgabe g e m a c h t ; alle neu zuwandernden jungen Leute werden von einem Vereinsmitglied besucht und zum Anschluß an das christliche Vereinsleben aufgefordert. Auch auf katholischer Seite bestehen Jugendvereinigungen aller Art; doch sind hier besonders die „Gesellenvereine" zu nennen, deren erster im Jahre 1849 von A. Kolping in Köln gegründet wurde. Dieselben haben sich nun über ganz Deutschland verbreitet und auch im Ausland vielfach Nachahmung g e funden. Die Gesellenvereine streben besonders eifrig die geistige und fachliche Weiterbildung ihrer Mitglieder an. An der Spitze aller deutschen Vereine steht ein Generalpräses mit dem Wohnsitz in Köln. Da das Zusammenleben von 14- bis 18jährigen mit den etwas älteren Mitgliedern der Jünglingsvereine sich in vielen Fällen als für beide Teile hinderlich erwies, hat man seit Anfang der achtziger Jahre begonnen, diesen Vereinen Jugendabteile anzugliedern oder eigene Lehrlingsvereine zu gründen. In diesen Vereinen ist besonders dem Bedürfnis der Mitglieder nach Spiel und Sport als Erholung mehr Rechnung getragen. Die nicht konfessionellen Veranstaltungen auf diesem Gebiet sind zum großen Teil sogenannte Lehrlingshorte, die den jungen Leuten durch Turn-, Gesangs-, Leseabende, durch Vorträge aller Art die Möglichkeit bieten, ihre freien Stunden in einer, die körperliche und geistige Entwicklung fördernden Art zuzubringen.

Lehrlingsheime, Gesellenheime. Trotzdem man die großen Gefahren, die mit dem Wohnen in den privaten Schlafstellen verbunden sind, längst erkannt

XI. Wohlfahrtseinrichtungen

fiir die m ä n n l i c h e J u g e n d .

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hat, sind die Anfänge zur Beschaffung geeigneter Wohnungen für alleinstehende, gewerblich tätige junge Leute verhältnismäßig noch gering. Dem Wirken eines Jugendgeistlichen in Stuttgart gelang e s im Jahre 1867 das erste Jugendvereinshaus mit einem Lehrlingsheim für ca. 8 0 Lehrlinge und einem Logierhaus für Gesellen zu errichten. Im Jahre 1904 hatte der J u g e n d v e r e i n in S t u t t g a r t s e c h s Vereinshäuser (Lehrlingsheime, Gesellenheime und Herbergen zur Heimat) mit 434 Betten zur Verfügung, teils noch im Bau. Die Jahreseinnahme 1903 betrug M. 237 440. Von evangelischer Seite wurden dann u. a. Heime in Berlin, Leipzig, Hannover, Fürth, von der katholischen Charitas solche in Köln, Salzburg etc. errichtet. Weitere entsprechende Veranstaltungen bestehen u. a. in Augsburg und München (mustergültiges Heim des Vereins „Lehrlingsschutz"). Die Heime enthalten meist Küche, Speisesaal und Aufenthaltssaal für die Freizeit, Schlafsäle und Lehrzimmer. Der monatliche Preis für Wohnung und Verpflegung beträgt zirka M. 22 bis 30. Für höhere Altersstufen haben die katholischen G e s e l l e n vereine mehrere Heime errichtet, die in den meisten Fällen auch vorübergehend wandernden Vereinsmitgliedern Unterkunft bieten. Den Charakter des Familienlebens tragen die Gesellenheime des ostdeutschen Jünglingsbundes in Berlin, die nur für j e 12 bis 16 j u n g e Leute bestimmt sind und sich in gemieteten Räumen befinden. Diese Einrichtung hat in Hannover, Chemnitz und Dresden (Verein Volkswohl) Nachahmung gefunden und sich überall bestens bewährt. Außer den erwähnten Veranstaltungen sind auch einige Heime durch die Leitungen großer industrieller Betriebe g e schaffen worden.

Seemannsmission. Komitee für deutsche evangelische Seemannsmission. Schäfer, Leitfaden der Innern Mission. — Albrecht, H a n d b u c h sozialen Wohlfahrtspflege.

der

Die Seeleute verfallen häufig bei ihren kurzen Aufenthalten auf dem Lande, wo sie sich in schlechten Kneipen einmieten,

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XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

nach den E n t b e h r u n g e n d e r Fahrten, in unsolides L e b e n und v e r s c h w e n d e n den Verdienst l a n g e r Seefahrten in kurzer Zeit. G e w i s s e n l o s e Stellenvermittler ( H e u e r b a s e ) , durch deren Hände d i e g e s a m t e Arbeitsvermittlung für S e e l e u t e g e h t , und welche meist mit den Wirten der K n e i p e n g e m e i n s a m e S a c h e machen, tragen das Ihre bei, die L e u t e a u s z u b e u t e n . Die d e u t s c h e S e e m a n n s m i s s i o n , welche nach einigen bereits durch W i c h e r n ( 1 8 4 8 ) g e g e b e n e n A n r e g u n g e n und kleinen Anf ä n g e n erst in den letzteren J a h r e n sich mehr entwickelte, hat ihre Zentralstelle in dem 1895 in Berlin b e g r ü n d e t e n „ K o m i t e e für d e u t s c h e e v a n g e l i s c h e S e e m a n n s m i s s i o n * . Die Arbeit der Mission b e s t e h t n e b e n der V e r a n l a s s u n g der R e e d e r zur Errichtung e i g e n e r Heuerstellen, um dem Treiben d e r ausbeuterischen V e r mittler ein E n d e zu machen, in der B e g r ü n d u n g von S e e m a n n s heimen, L o g i e r h ä u s e r n , K a f f e e s c h e n k e n etc., welche den Leuten einen a n z i e h e n d e n E r s a t z für d a s L e b e n in den Kneipen, auf d a s sie a n g e w i e s e n sind, bieten. Ein Hauptziel der S e e m a n n s mission ist natürlich auch die S o r g e für das geistliche Wohl der S e e l e u t e , die sich in S c h i f f s b e s u c h e n , V e r b r e i t u n g von Schriften, G o t t e s d i e n s t e n , H o s p i t a l s e e l s o r g e usf. betätigt. Im Ausland geht die S e e m a n n s m i s s i o n bis zum Anfang des J a h r h u n d e r t s zurück. In E n g l a n d sind tätig die „Incorporated S e a m e n and B o a t m e n ' s Friend S o c i e t y " seit 1846 mit zahlreichen lokalen O r g a n i s a t i o n e n , dann die M i s s i o n s to S e a m e n seit 1856, die Royal National Mission to D e e p S e a F i s h e r m e n u. a. m.

Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Die D e u t s c h e G e s e l l s c h a f t zur Rettung Schiffbrüchiger, deren Z w e c k die Hilfeleistung V e r u n g l ü c k t e r in S e e n o t ist, wurde 1865 in Kiel ins L e b e n g e r u f e n . D i e Gesellschaft, die ihren Sitz nun in B r e m e n hat, hat an den Küsten der Nord- und O s t s e e über 100 Rettungsstationen errichtet und bereits viele M e n s c h e n l e b e n ( b i s 1903 etwa 2 5 0 0 ) gerettet.

XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

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XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene. Einleitung. Arbeiterschutz, Arbeitszeit, Arbeitslohn, Tarifgemeinschaften. Gewerbegericht. Conseil de prud'hommes. Einigungsämter. Arbeitsnachweis, Arbeitsämter.

Arbeitsnachweis für Dienstboten. Wien. Verein Stellenvermittlung Hamburg. Arbeiterberufsvereine. Arbeitersekretariate,Volksbureaus, Auskunftsstellen, Rechtsschutzstellen.

Einleitung. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, (2) insbesondere Band 1. — Wörterbuch der Volkswirtschaft. Herausgegeben von Dr. Elster. 2 Bände. J e n a 1898. — Handbuch der Arbeiterwohlfahrt. Herause g e b e n v.on Dr. Otto Dammer. 2 Bände. Stuttgart 1903. — chriften der Gesellschaft für soziale Reform, bis 1903 11 Hefte. — Prof. Dr. E. Francke, Der internationale Arbeiterschutz. Dresden 1903. — Bulletin des internationalen Arbeitsamtes. Jena. — P. Schmidt, Bibliothekar, Bibliographie der Arbeiterfrage. Nach Materien g e ordnet. Jährlich. Für 1903 Beilage zum Arbeiterfreund 1904. — ahresbericht der Gewerbeaufsichtsbeamten (sowohl Reich wie linzelstaaten). — Veröffentlichungen des Kais. Statist. Amtes, A b teilung für Arbeiterstatistik, insbesondere Beiträge zur Arbeiterstatistik. Nr. 1. Die Fortschritte der amtlichen Arbeitsstatistik mit reichen Literaturangaben. — Labour Department im Board of Trade. London, zahlr. Berichte. — United States Department of L a b o r und einzelstaatliche Departments of Labor. Annual R e ports etc. — Reichsarbeitsblatt. Herausgegeben vom Kais. Statist. Amt, Abteilung für Arbeiterstatistik, Berlin. — Labour-Gazette. London, Board of Trade. — Soziale Rundschau. Herausgegeben vom arbeitsstatistischen Amt im k. k. Handelsministerium. Wien. — Soziale Praxis. Zentralblatt für Sozialpolitik. Leipzig. — Volkswohl. Allgemeine Ausgabe der „Sozial-Korrespondenz". Dresden. — Concordia. Zeitschrift der Zentralstelle f. A.-W.-E. Berlin. — Der Arbeiterfreund. Zeitschrift für die Arbeiterfrage. Organ des Zehtralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen. Berlin, Simion Nachf. u. a. m.

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i

Unter die Aufgaben der sozialen F ü r s o r g e im weiteren Sinne d e s W o r t e s gehören in erster Linie jene Maßnahmen und Einrichtungen, welche sich auf den Schutz des gewerblichen A r beiters hinsichtlich der Erhaltung seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zweckmäßige Regelung der Arbeitsbedingungen und die Sicherung des Lebensunterhalts für den Arbeiter und seine Familie beziehen.

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XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

Ein großer Teil der hier einschlägigen Fragen ist in D e u t s c h land gesetzlich geregelt, i n s b e s o n d e r e durch die G e w e r b e o r d n u n g und die zu derselben erlassenen A u s f ü h r u n g s b e s t i m m u n g e n . Uber andere Fragen wird die Diskussion noch geführt. Ferner sind die Maßnahmen zur Vermittlung der Arbeit und verwandte Fragen, ferner die G e w e r b e g e r i c h t e u n d Einigungsämter, endlich die Arbeitersekretariate, welche zu einem g r o ß e n Teil die Beseitigung von Differenzen in den v o r g e n a n n t e n Richtungen zum Ziele haben, hier zu b e r ü h r e n . Die B e h a n d l u n g des Abschnittes ist sowohl durch den außerordentlichen Umfang der G e g e n s t ä n d e und deren auss c h l a g g e b e n d e Wichtigkeit für die g e s a m t e Arbeiterschaft wie durch die Verschiedenartigkeit des U m f a n g e s , in dem eine g e setzliche Regelung in den v e r s c h i e d e n e n Ländern stattgefunden hat, sehr erschwert. Unsere Aufgabe kann deshalb nur sein, e i n i g e p r i n z i p i e l l e Fragen und allgemeine G e s i c h t s p u n k t e hier v o r z u f ü h r e n . Zur n ä h e r e n Information darf auf die vielfachen e r s c h ö p f e n d e n in dieser Richtung b e s t e h e n d e n Werke B e z u g g e n o m m e n werden.

Arbeiterschutz, Arbeitszeit, Arbeitslohn, Tarifgemeinschaften. Die A r b e i t e r s c h u t z - G e s e t z g e b u n g knüpft vor allem an die Mißstände a n , welche die E i n f ü h r u n g der Maschine u n d der d a d u r c h h e r v o r g e r u f e n e n Fabrik- u n d G r o ß b e t r i e b e in den Arbeitsverhältnissen geschaffen hatte. Der gesetzliche Arbeiterschutz muß dort, wo die einzelnen U n t e r n e h m e r mit Rücksicht auf die K o n k u r r e n z von vielleicht kostspieligen V e r b e s s e r u n g e n absehen zu m ü s s e n g l a u b e n , durch gesetzliche B e s t i m m u n g e n gewisse allgemein gültige N o r m e n aufstellen. Wie wichtig g e r a d e dieser letztere Punkt ist, geht z. B. d a r a u s hervor, daß i n s b e s o n d e r e die S o n n t a g s r u h e im Handelsg e w e r b e , speziell in den offenen V e r k a u f s l ä d e n , wiewohl sie vielleicht von sehr vielen Ladeninhabern einzeln g e w ü n s c h t wird', d o r t , wo sie nicht bereits besteht, nur durch eine allgemein verbindliche Vorschrift eingeführt w e r d e n kann. Das Ziel aller dieser gesetzlichen Bestimmungen geht d a h i n , dem Arbeiter ein m e n s c h e n w ü r d i g e s Kulturdasein zu ermöglichen u n d i n s b e s o n d e r e auch diejenigen V o r k e h r u n g e n zur Erhaltung der

XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

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Gesundheit des Arbeiters und der Arbeiterin zu treffen, die eine Verschlechterung der Rasse verhindern und die möglichste Gesunderhaltung der Arbeiterschaft im weitesten Sinne zum Ziel haben. Im einzelnen handelt es sich also um Regelung der Arbeitszeit, Sonn- und Feiertags-, Nachtarbeit, der Arbeitsdauer, und zwar in diesem Fall meist in einer Weise, welche die verschiedenen Alter, das Geschlecht und die Beschäftigungsart individualisiert, dann des Arbeitslohnes, insbesondere der Lohnzahlung, der Beschaffenheit der Arbeitsräume, der Vorkehrungen zur Vermeidung von Gefahren für Gesundheit, Sittlichkeit und Leben der Arbeiter. Abgesehen von dem Interesse des Gesamtstaates an der Durchführung des Arbeiterschutzes sind in jüngster Zeit auch die finanziellen Interessen von Organisationen der Arbeiterversicherung, insbesondere der deutschen Berufsgenossenschaften, auf diesem Gebiete hervorgetreten; die von den Berufsgenossenschaften erlassenen Unfallsverhütungsvorschriften bilden eine wesentliche Ergänzung der sonstigen gesetzlichen Bestimmungen. Die Arbeiterschaft selbst hat in nicht seltenen Fällen, sei es im Hinblick auf angenommenen Verdienstentgang oder aus Bequemlichkeit der Durchführung von Betriebsverbesserungen , Widerstand entgegengesetzt. Anderseits sind durch die Organisationen der Arbeiterschaft, zum Teil im Kampfe mit den Unternehmern, zum Teil durch Verständigung mit diesen, weitere Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für einzelne Gewerbegruppen erzielt worden. (Tarifgemeinschaft der Buchdrucker usw.) Prinzipielle Bedenken gegen staatliche Vorschriften über die Regelung der Arbeitsverhältnisse in dem hier gedachten Sinne treten um so mehr zurück, als eine größere Anzahl von industriellen Betrieben auch in Deutschland bereits einen solchen Umfang angenommen haben, daß die Lebensbedingungen großer Gemeinden vollständig von der Entwicklung der Unternehmungen abhängig sind. Im allgemeinen wird für den Erfolg der Bestimmungen die Frage wichtig sein, in welcher Weise dieselben auf die Konkurrenzfähigkeit der Industrie gegenüber dem Auslande einwirken, damit nicht etwa der nationalen Produktion die Konkurrenz mit dem Auslande erschwert, vielS i n g e r , Soziale Fürsorge.

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XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

leicht u n m ö g l i c h g e m a c h t wird, o b also ein s o l c h e r S c h u t z a u c h mit d e m w o h l v e r s t a n d e n e n I n t e r e s s e d e r A r b e i t g e b e r s o w o h l , wie der A r b e i t n e h m e r im Einklang steht u n d die zu b r i n g e n d e n O p f e r d u r c h die zu e r r e i c h e n d e n Vorteile a u f g e w o g e n w e r d e n . V e r k ü r z u n g d e r Arbeitszeit u n d h ö h e r e L ö h n u n g k ö n n e n i n d e s s e n bei e r h ö h t e r A r b e i t s l e i s t u n g u n d v e r b e s s e r t e n m a s c h i nellen E i n r i c h t u n g e n s e h r wohl zu einer h ö h e r e n R e n t e d e r U n t e r n e h m u n g b e i t r a g e n , G e s i c h t s p u n k t e , w e l c h e bei d e r Reg e l u n g f ü r die e i n z e l n e n Industrien, die natürlich u n t e r B e r ü c k s i c h t u n g d e r e n t e c h n i s c h e r u n d k o m m e r z i e l l e r E i g e n a r t e n usf. zu e r f o l g e n hat, zu b e a c h t e n sind.

Gewerbegericht.

Conseils de Prud'hommes.

Dr. Wilhelmi u. Dr. Bewer, Gewerbegerichtsgesetz i. d. F. v. 1901. (2) Berlin 1903. — Dass., erläutert von Dr. Menzinger u. Dr. Prenner. München 1902. — Dass., erläutert von M. v. Schultz. Berlin 1902. — Soziale Praxis mit ständiger Rubrik „Gewerbegerichte, Einigungsämter, Schiedsgerichte". — W. Stieda im Handwörterbuch der Staatswissenschaiten (2) mit weiteren Literaturangaben. Band 4. — Das Gewerbegericht. Monatsschrift des Verbandes deutscher Gewerbegerichte. Seit 1895. S c h o n im Mittelalter g a b es eine Z u n f t g e r i c h t s b a r k e i t , die Streitigkeiten v o r w i e g e n d in g e w e r b l i c h e n A n g e l e g e n h e i t e n zu e r l e d i g e n h a t t e . Die m o d e r n e n G e w e r b e g e r i c h t e g e h e n auf die französischen Conseils de P r u d ' h o m m e s z u r ü c k , deren erstes N a p o l e o n I. 1806 f ü r die S t a d t L y o n als ein a u s F a b r i k a n t e n und Werkmeistern gebildetes Gewerbegericht einführte. Der Z w e c k d e s s e l b e n war, die g e w e r b l i c h e n Streitigkeiten z w i s c h e n d e n F a b r i k a n t e n u n d ihren A r b e i t e r n u n d z w i s c h e n d e n W e r k m e i s t e r n u n d d e n ihnen u n t e r s t e l l t e n A r b e i t e r n u n d L e h r l i n g e n z u n ä c h s t auf g ü t l i c h e m W e g e zu s c h l i c h t e n , eventuell d u r c h Urteil zu e n t s c h e i d e n . Die E i n r i c h t u n g b e w ä h r t e sich derart, d a ß sie bald f ü r eine Reihe von weiteren I n d u s t r i e s t ä d t e n F r a n k r e i c h s e i n g e f ü h r t u n d im W e g e der G e s e t z g e b u n g i m m e r weiter a u s g e b i l d e t w u r d e . Die C o n s e i l s b e s t e h e n a u s einer g l e i c h e n Z a h l v o n A r b e i t g e b e r n u n d A r b e i t n e h m e r n , die v o n ihren Ber u f s g e n o s s e n g e w ä h l t w e r d e n . Sie zerfallen in eine Vergleichsk a m m e r ( B u r e a u particulier) u n d einem a u s d e m V o r s i t z e n d e n u n d je zwei A r b e i t g e b e r n u n d A r b e i t n e h m e r n z u s a m m e n g e s e t z t e n B u r e a u g é n é r a l , d a s , falls die V e r g l e i c h s k a m m e r eine gütliche

XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

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Beilegung des Streites nicht zustande bringt, denselben durch Urteil entscheidet. Ähnliche Einrichtungen bestehen in Belgien, in der Schweiz und in geringem Umfange in Italien. Die d e u t s c h e n Gewerbegerichte bestehen aus einem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter und der erforderlichen Zahl von Beisitzern, die zur Hälfte den Arbeitgebern, zur anderen Hälfte den Arbeitern zu entnehmen sind und zu ihrem Amte durch unmittelbare und geheime Wahlen der Arbeitgeber bzw. Arbeiter berufen werden. Das Gewerbegericht hat vor allem auf eine gütliche Erledig u n g des Rechtsstreites hinzuwirken und erst, wenn ein Vergleich nicht zustandekommt, den Rechtsstreit zu entscheiden. Das Verfahren vor den Gewerbegerichten ist durch besondere Beschleunigung ausgezeichnet. Die Kosten sind außerordentlich niedrig bemessen. Abgesehen von ihrer rechtsprechenden Tätigkeit sind die Gewerbegerichte auch berufen, G u t a c h t e n über gewerbliche Angelegenheiten auf Aufforderungen des Staatsverbandes oder der Kommunalbehörden abzugeben. Die Tatsache, daß am Gewerbegericht Arbeitgeber und Arbeitnehmer berufen sind, als Richter unter Vorsitz eines unbeteiligten Dritten zusammenzuwirken vermag wesentlich zur Förderung des sozialen Friedens beizutragen.

Einigungsämter.

v. Schulze-Gaevernitz, Zum sozialen Frieden. L e i p z i g , 1890.— Schriften des Vereins für Sozialpolitik 2, 4, 45 (daselbst auch Nachweise der englischen Literatur).

Die moderne Entwicklung der industriellen Organisationen, und zwar sowohl der Organisationen der Arbeitgeber, wie der ihnen vorausgegangenen Organisationen der Arbeitnehmer führt d a z u , die gesamte Regelung der Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht mehr zu einer individuellen Angelegenheit des einzelnen Arbeitgebers oder-nehmers, sondern zu einer Angelegenheit der gesamten Gruppen zu machen. Diese Entwicklung bringt es mit sich, daß entstandene Differenzen nicht auf einen Betrieb beschränkt bleiben, sondern sehr häufig sich auf die Gesamtheit der Betriebe einer Gewerbegruppe innerhalb eines Ortes, eventuell auch noch innerhalb eines größeren Bezirkes ausdehnen. 9*

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XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

A u s diesen G r ü n d e n sind unter den g r o ß e n wirtschaftlichen Kämpfen der Neuzeit die Differenzen z w i s c h e n U n t e r n e h m e r n und ihren Arbeitern von g a n z b e s o n d e r e r B e d e u t u n g . Die s c h w e r e n S c h ä d i g u n g e n , welche dem g e s a m t e n W i r t s c h a f t s l e b e n und dem W o h l s t a n d e der Nation durch s o l c h e D i f f e r e n z e n und die damit verknüpften S t r e i k s und A u s s p e r r u n g e n z u g e f ü g t w e r d e n , haben zur E r r i c h t u n g von E i n i g u n g s ä m t e r n , die sich zum Teil an die G e w e r b e g e r i c h t e a n s c h l i e ß e n , g e f ü h r t . Die Einrichtungen E n g l a n d s ( M a s t e r s and W o r k m e n A r bitration Act 1824, C o u n c i l s of Conciliation A c t 1 8 6 7 , die zurzeit g e l t e n d e n Arbitration Act 1889 und Conciliation A c t 1 8 9 6 ) sind in ihrer heutigen G e s t a l t i n s b e s o n d e r e dem P a r l a m e n t s mitgliede Mundella zu v e r d a n k e n . Die d e u t s c h e n E i n i g u n g s ä m t e r als eine g e s e t z l i c h e E i n richtung in A n l e h n u n g an die G e w e r b e g e r i c h t e sind durch d a s R e i c h s g e s e t z von 1890 eingeführt und durch G e s e t z v o n 1901 (in Kraft seit 1. J a n u a r 1902) mit Einführung des E r s c h e i n u n g s z w a n g e s der Parteien wirksamer a u s g e s t a l t e t . Die R e g e l u n g in F r a n k r e i c h beruht auf dem G e s e t z von 1892 „sur la Conciliation et l'Arbitrage en matière de différends collectifs entre P a t r o n s et Ouvriers ou E m p l o y é s " .

Arbeitsnachweis, Arbeitsämter. F. v. Reitzenstein, Der Arbeitsnachweis. Berlin 1897. — Der Arbeitsmarkt, Monatsschrift. Org. d. Verbandes deutscher A r b e i t s n a c h weise. Redig. v. Jastrow seit 1897. — G. Adler im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. (2) 1. Bd. mit weiteren Literaturangaben. Die Erweiterung der industriellen und g e w e r b l i c h e n T ä t i g keit in den m o d e r n e n Kulturstaaten bringt es mit s i c h , daß einerseits die Nachfrage nach A r b e i t e r n wie die Z a h l d e r A r b e i t s u c h e n d e n außerordentlich g e w a c h s e n i s t , a n d e r s e i t s das Arbeitsverhältnis infolge s e i n e r A b h ä n g i g k e i t von u n b e r e c h e n baren K o n j u n k t u r e n , der M o d e usf. s e h r viel w e c h s e l n d e r g e w o r d e n ist. Hierdurch w ä c h s t das Bedürfnis n a c h Einricht u n g e n , welche das A n g e b o t von offenen Stellen und von A r b e i t s u c h e n d e n vermitteln. Die F r a g e des A r b e i t s n a c h w e i s e s greift aber in ihrer B e d e u t u n g weit über die T r a g w e i t e für ihre unmittelbaren I n t e r e s s e n t e n hinaus. Der Arbeitsnachweis berührt S t a a t und G e s e l l s c h a f t im Hinblick auf eine h i n r e i c h e n d e

XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

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B e f r i e d i g u n g d e s B e d a r f s an A r b e i t s k r ä f t e n f ü r die n a t i o n a l e Produktion. G l e i c h e r w e i s e sind Staat u n d G e s e l l s c h a f t a b e r a u c h im Hinblick auf die g r ö ß t m ö g l i c h e V e r w e r t u n g d e r v o r h a n d e n e n A r b e i t s k r a f t als Mittel d e s U n t e r h a l t s e r w e r b e s der A r b e i t e r b e v ö l k e r u n g u n d damit eines so g r o ß e n Teiles der Bev ö l k e r u n g beteiligt. Die V e r m i t t l u n g z w i s c h e n A r b e i t s a n g e b o t u n d N a c h f r a g e .durch I n s e r i e r e n in d e n Z e i t u n g e n o d e r d u r c h U m s c h a u d e r A r b e i t e r an d e n A r b e i t s s t e l l e n v e r m a g d e m B e d ü r f n i s s e nicht zu g e n ü g e n . Die p r i v a t e n S t e l l e n v e r m i t t l u n g s b u r e a u s b e r ü c k sichtigen e r k l ä r l i c h e r w e i s e d e n Vorteil ihrer I n h a b e r an erster Stelle. Die v o n d e r einen Seite d e r I n t e r e s s e n t e n , e n t w e d e r d e n Arbeitgebern oder den Arbeitnehmern getrennt unterhaltenen A r b e i t s n a c h w e i s e s t e h e n s t e t s in G e f a h r , v o n d e r a n d e r e n Seite d e r I n t e r e s s e n t e n nicht a n e r k a n n t zu w e r d e n , weil immerhin die A n n a h m e n a h e liegt, d a ß die F ü h r u n g d e s A r b e i t s n a c h w e i s e s als ein Machtmittel b e n u t z t w e r d e n will. Die E n t w i c k l u n g d e s A r b e i t s n a c h w e i s e s d r ä n g t also e n t w e d e r auf d e n v o n A r b e i t g e b e r n und Arbeitnehmern g e m e i n s a m unterhaltenen N a c h w e i s o d e r , u n d hierin ist in D e u t s c h l a n d die s t ä r k s t e E n t w i c k l u n g zu v e r z e i c h n e n , auf d e n A r b e i t s n a c h w e i s d e r A r b e i t s ä m t e r , w e l c h e v o n öffentlichen S t e l l e n , z u n ä c h s t d e n Gemeinden, unterhalten werden. In d e m letzteren Falle kann d u r c h Z u s a m m e n w i r k e n d e r A r b e i t s n a c h w e i s e in S t a d t u n d Land i n n e r h a l b eines g r ö ß e r e n R a h m e n s , so z. B. einer P r o v i n z , eine O r g a n i s a t i o n g e s c h a f f e n w e r d e n , w e l c h e d a s A n g e b o t an Stellen u n d d e n Bedarf an Arbeit in z w e c k m ä ß i g s t e r Weise zu ü b e r sehen vermag. Neben solchen Verbänden von Arbeitsnachweisen für bestimmte Bezirke, wie d e m R h e i n - M a i n i s c h e n V e r b a n d , d e m B a d i s c h e n u n d B a y e r i s c h e n , hat sich in D e u t s c h l a n d ein V e r b a n d d e u t s c h e r A r b e i t s n a c h w e i s e gebildet, welcher alle die e i n z e l n e n O r g a n i s a t i o n e n v e r e i n i g t u n d s o w o h l auf seinen V e r b a n d s t a g e n die K l ä r u n g s c h w e b e n d e r F r a g e n e r m ö g licht, wie d u r c h seine Initative die A u s b r e i t u n g d e r öffentlichen A r b e i t s n a c h w e i s e f o r d e r t u n d i n s b e s o n d e r e die G e m e i n d e n z u r Schaffung solcher anzuregen versucht. Die B e d e u t u n g d e r A r b e i t s n a c h w e i s e f ü r die öffentliche W o h l f a h r t wird d a r a u s ersichtlich, d a ß d a s s t ä d t i s c h e A r b e i t s a m t

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XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

in München im J a h r e 1903 5 6 6 1 0 Angebote von offenen S t e l l e n , 6 5 4 4 8 Arbeitsgesuche entgegengenommen und 4 2 1 7 2 Stellen, vermittelt hat. D a s städtische Arbeitsamt bietet die Möglichkeit einer organischen Verbindung mit selbständigen Arbeitsnachweisen für einzelne spezielle Berufe.

Arbeitsnachweis für Dienstboten. Die Arbeitsvermittlung für den gewerblichen, insbesondere den. unständigen Arbeiter ist insofern eine verhältnismäßig leichtere Aufgabe, als persönliche Beziehungen zwischen Arbeitgeber u n d Arbeitnehmer wenig in Betracht kommen. Anders dagegen b e i den häuslichen Dienstboten, welche in den Haushalt der D i e n s t herrschaft eintreten und vielfach in der Familie desselben l e b e n . Für die Stellenvermittlung der Dienstboten hat man mehrfach, so z. B. am städtischen Arbeitsamt in München, b e s o n d e r e beratende, aus Frauen, Vertreterinnen von Frauenvereinen, g e bildete Kommissionen eingesetzt. W i e n hat für den, seinem städtischen Arbeitsvermittlungsamt angegliederten A r b e i t s n a c h w e i s f ü r d a s H a u s g e s i n d e folgende Grundsätze aufgestellt: Die Dienstvermittlungsstellen sind nach Bedarf in den einzelnen Bezirken zu e r r i c h t e n ; eventuell sind denselben weibliche Kräfte (Beamtinnen) z u z u weisen, welche vorläufig provisorisch ernannt werden. Die Dienstvermittlung ist für Dienstnehmer unentgeltlich, D i e n s t g e b e r haben eine kleine Gebühr als Regiebeitrag zu entrichten. D i e n s t suchende können auch in auswärtige Stellen vermittelt werden. Mitte 1904 waren in Wien bereits 20 Bezirksstellen in Tätigkeit.

Verein für Stellenvermittlung in Hamburg. In Hamburg gründet die Ortsgruppe des Allgem. deutschen Frauenvereins in der Erkenntnis, daß eine Besserung der Stellenvermittlungsverhältnisse nur von einer unparteiischen, pekuniär am Stellenwechsel nicht interessierten Organisation zu erwarten sei, im Jahre 1900 den Verein „Stellenvermittlung", der nun bereits über 5 0 0 0 Mitglieder zählt. D e r Nachweis ist für die Mädchen unentgeltlich. Die Herrschaften müssen Mitglieder des Vereins sein, einen jährlichen Beitrag von M. 3 und eine nach dem Jahreslohn berechnete Vermittlungsgebühr von M. 1,50 bis zu M. 3 zahlen.

XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

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Ahnlich haben in anderen S t ä d t e n F r a u e n v e r e i n e , s o in B r e m e n der Verein der Freundinnen j u n g e r M ä d c h e n , die S t e l l e n vermittlung für Hausgesinde in ihr P r o g r a m m a u f g e n o m m e n .

Arbeiterberufsvereine, Gewerkvereine, Trade Unions. B r e n t a n o , Die Arbeitergilden der Gegenwart. Leipz. 1872. — S. u. B . Wett, Industrial Democracy. Lond. 1897. — Bassermann u. Giesberts, D i e Arbeiterberufsvereine. Schriften der Gesellschaft f. soz. Reform. Heft 2. J e n a 1901. — L. Brentano, W. Kulemann etc. Art. „Gewerkv e r e i n e " im Handwörterbuch d. Staatswissenschaften. (2) 4. Band. Mit vielen Angaben über die umfangreiche Literatur. A r b e i t e r v e r e i n e in ihren v e r s c h i e d e n e n , außerordentlich z a h l r e i c h e n Organisationsformen und Prinzipien sind E i n r i c h t u n g e n , welche b e z w e c k e n , die Lage der Klasse der L o h n a r b e i t e r in wirtschaftlicher, moralischer, sozialer und politischer Hinsicht zu heben. In ihnen verkörpert sich innerhalb der m o d e r n e n A r b e i t e r b e w e g u n g die Selbsthilfe der g e g e n Lohn beschäftigten Personen. D i e B e d e u t u n g der Arbeitervereine wuchs, als im 19. J a h r h u n d e r t die Entwicklung der modernen Fabrikindustrie eine n e u e , in s t a r k e r P r o g r e s s i o n z u n e h m e n d e A r b e i t e r k l a s s e schuf. Je m e h r das S t r e b e n der Arbeiterklasse nach g r ö ß t m ö g l i c h e r E n t faltung aller Anlagen ihrer A n g e h ö r i g e n und der e n t s p r e c h e n d e n B e t e i l i g u n g eines j e d e n an den Gütern der Kultur als b e r e c h t i g t a n e r k a n n t wurde, desto mehr bildete sich in allen industriellen S t a a t e n ein umfassendes A r b e i t e r v e r e i n s w e s e n a u s , das sich allerdings j e nach der wirtschaftlichen, politischen und sozialen E n t w i c k l u n g der Staaten in den einzelnen L ä n d e r n s e h r v e r s c h i e d e n gestaltete. Neben den politischen V e r e i n e n b e s t e h e n u n p o l i t i s c h e , g e w e r k v e r e i n l i c h e , und seitdem die K i r c h e , die k a t h o l i s c h e e b e n s o wie die p r o t e s t a n t i s c h e , O r g a n i s a t i o n s v e r s u c h e unter den Arbeitern unternimmt, k o n f e s s i o n e l l e , christliche, katholische, e v a n g e l i s c h e oder christlich-soziale V e r b ä n d e . D a s Arbeiterbildungswesen, die Arbeiterversicherung, und zwar in D e u t s c h l a n d sowohl Z u s c h u ß k a s s e n für K r a n k e , wie A r b e i t s losen und S t r e i k v e r s i c h e r u n g , der A r b e i t s n a c h w e i s usf. führen allen diesen Arbeiterberufsvereinen n e u e Mitglieder zu. Da auch die Unternehmungsformen durch g e n o s s e n s c h a f t l i c h e V e r b ä n d e , A r b e i t e r - B a u - K o n s u m - V e r e i n e etc. zu reformieren v e r s u c h t

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XII. Einiges aus der Fürsorge für Erwachsene.

w e r d e n , so zeigt d a s A r b e i t e r v e r e i n s w e s e n ein ü b e r a u s b u n t e s u n d vielgestaltiges Bild. N e b e n d e n örtlichen B e r u f s v e r e i n e n s t e h e n z a h l r e i c h e nationale, B e r u f s g r u p p e n u m f a s s e n d e u n d internationale V e r b ä n d e . Die V e r l e i h u n g d e r K o r p o r a t i o n s r e c h t e an die A r b e i t e r b e r u f s v e r e i n e in D e u t s c h l a n d , die g e s e t z l i c h e R e g e l u n g ihrer R e c h t e s o w o h l wie ihrer Pflichten e r s c h e i n t a u c h v o m S t a n d p u n k t e d e r s o z i a l e n F ü r s o r g e als eine wichtige A u f g a b e .

Arbeitersekretariate, Volksbureaus, Auskunftsstellen, Rechtsschutzstellen. Soudek, Die d e u t s c h e n Arbeitersekretariate. Heft 7 der v.-w. und w.-g. Abhandlungen, h e r a u s g e g e b e n von Prof. Dr. Stieda. Leipzig 1902. — Jahresberichte der A r b e i t e r s e k r e t a r i a t e in München, Nürnb e r g etc. — Korrespondenzblatt der Gen.-Komm, der Gewerksch. Deutschlands, Berlin 1903 Nr. 26. Im S i n n e der S e l b s t b e t ä t i g u n g der a r b e i t e n d e n Klassen wird d e m d r i n g e n d e n B e d ü r f n i s s e n a c h Rechtshilfe namentlich auf d e m G e b i e t e der S o z i a l g e s e t z g e b u n g , d e r Mietsstreitigkeiten, d e s G e s i n d e - u n d A r b e i t e r r e c h t e s d u r c h die E r r i c h t u n g v o n A r b e i t e r s e k r e t a r i a t e n , V o l k s b u r e a u s entgegengekommen. Eine ä h n l i c h e Hilfe wird d u r c h die i n s b e s o n d e r e d u r c h F r a u e n v e r e i n e g e g r ü n d e t e n R e c h t s s c h u t z s t e l l e n g e b o t e n . Die v o n d e r o r g a n i s i e r t e n A r b e i t e r s c h a f t e r r i c h t e t e n A r b e i t e r s e k r e t a r i a t e , die d e n R e c h t s s c h u t z d e r A r b e i t e r u n d die U n t e r s t ü t z u n g der Soz i a l g e s e t z g e b u n g als wichtigste A u f g a b e n h a b e n , sollen d a n e b e n a u c h soziale B e o b a c h t u n g s s t a t i o n e n s e i n , die ihre W a h r n e h m u n g e n z u r K e n n t n i s w e i t e r e r Kreise b r i n g e n , S c h ä d e n aufd e c k e n u n d Abhilfe f o r d e r n . Im J a h r e 1902 b e t r u g die Zahl der A r b e i t e r s e k r e t a r i a t e d e r freien G e w e r k s c h a f t e n 35. Die F r e q u e n z d e s A r b e i t e r s e k r e t a r i a t e s F r a n k f u r t a.M. e r r e i c h t e 2 6 2 3 2 A u s k u n f t s u c h e n d e , j e n e in N ü r n b e r g b e t r u g 17007. Im g a n z e n w u r d e n 197 927 A u s k ü n f t e erteilt. Im e i n z e l n e n b e t r e f f e n die A u s k u n f t s e r t e i l u n g e n Streitigkeiten a u s d e m A r b e i t s v e r h ä l t n i s , A r b e i t e r versicherungs- und Arbeiterschutzfragen, Unterstützungsfragen, ') Ein Verzeichnis der deutschen Arbeitersekretariate, Volksbureaus und Rechtsschutzstellen ist von Dr. E. Cahn im I. Jahresberichte des Sozialen Museums, Frankfurt a. M. 1904, veröffentlicht.

XIII. G e m e i n n ü t z i g e Wohnungsfürsorge. insbesondere

betreffend

Armenunterstützung,

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Pensionen,

Stif-

t u n g e n , Z i v i l v e r s o r g u n g , dann Heimatsfragen, B ü r g e r r e c h t , V e r f a s s u n g s e i d , E r w e r b der Staatsangehörigkeit, Schulwesen, Ähnlich wie

Hygiene, die

Zivilrecht

und

Gemeindeordnung,

Zivilprozeß

freien Gewerkschaften haben

u. a.

m.

a u c h die christ-

lichen G e w e r k s c h a f t e n eine Reihe von Sekretariaten usf.geschaffen. Die Arbeitersekretariate usf. erfüllen also unzweifelhaft eine w i c h t i g e Funktion

d e s öffentlichen L e b e n s .

Speziell unter den

nicht v o n Arbeitern g e g r ü n d e t e n , sondern g e m e i n n ü t z i g e n U n t e r nehmungen legenheiten e i n e der

ist

die

des

Auskunftsstelle Frankfurter

für

Instituts für

ArbeiterangeGemeinwohl

bedeutendsten.

XIII. Gemeinnützige Wohnungsftirsorge. Die Wohnung als Grundlage des Familienlebens. Die soziale und wirtschaftliche Bedeutung der Wohnung. Die Einwirkung der Wohnung auf die Gesundheit. Wohnungsbedarf und Bauspekulation. Mangel an abgeschlossenen kleinen Wohnungen. "Wohnen in geteilten Wohnungen. Schlafgängerwesen. Beschaffung kleiner Wohnungen durch die gemeinnützige Bautätigkeit. "WachsendeZahl derMietskasernen.

Gemeinsamkeit des Besitzes und gemeinnützige Verwaltung der Bauvereine. Ausschluß der Steigerung des Mietzinses. Die Formen der gemeinnützigen Bautätigkeit. Geldbeschaffung. Tätigkeit der Versicherungsanstalten. Wohnungsinspektion. Erbbaurecht. Bodenreform. Fürsorge für Ledige. Rowton-Häuser in London, Albergo popolare in Mailand. Sonstige Ledigenheime fürMänner. Heime für weibliche Personen.

Einleitung. O . Trüdinger, Die Arbeiterwohnungsfrage und die B e s t r e b u n g e n zur L ö s u n g derselben. J e n a 1888. — Dr. E. J ä g e r , Die W o h n u n g s frage. 2 B ä n d e . Berlin 1902/03. — Thompson, Housing Handbook. — J. L e e , C o n s t r u c t i v e and P r e v e n t i v e Philanthropy. New Y o r k

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XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

1902. — Dr. K. Singer, Die Wohnungen der Minderbemittelten i n München und die Schaltung unkündbarer kleiner Wohnungen. München 1899. — Deutscher Verein lür öffentliche Gesundheitspflege, Verhandlungen über die hygienischen Fragen des W o h nungswesens. Berichte in der Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege. Band 8, 18. 21, 22, 23, 24, 26, 28, 31. — Z e n tralstelle f. A.-W.-E. Schriften Nr. 1, 3, 5, 14, 17, 20, 22. — Prof. Dr. Albrecht, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland. Mit Atlas mit 87 Tafeln. Berlin 1902. — Artikel B a u g e n o s s e n schaften etc. im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. — Stübben, Festschrift des Rhein. Vereins zur Förderung des Arbeiterwohnungswesens in Düsseldorf. Mit vielen Grundrissen von Arbeiterwohnhäusern. — M. Spiegel, D i e Arbeiterwohnungen in London. Reisebericht. Wien 1902. — Internationaler W o h n u n g s kongreß Düsseldorf 1902, Verhandlungen. — Zeitschrift für Wohnungswesen. H e r a u s g e g e b e n von Prof. Dr. Albrecht. — Zeitschrift für W o h n u n g s w e s e n in Bayern. H e r a u s g e g e b e n vom Verein für Verbesserung der Wohnungsverhältnisse, München. — Satzungen, Jahresberichte etc. einzelner Vereine und Genossenschaften.

Von den Fundamentalaufgaben der sozialen Wohlfahrtspflege bildet die F ü r s o r g e f ü r d i e W o h n u n g des Minderbemittelten heute e i n e d e r w i c h t i g s t e n , wenn nicht die wichtigste. Ethische, soziale, wirtschaftliche, hygienische Forderungen drängen darauf, daß die Beschaffung der Wohnungen für Minderbemittelte, die in dem rapiden Wachstum der Großstädte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vielfach nur als eine rein private Aufgabe der Bauspekulation betrachtet wurde, nun als eine öffentliche Frage von allgemeinen Gesichtspunkten aus behandelt wird.

Die Wohnung als Grundlage des Familienlebens. Eine gesunde und ordentliche Wohnung ist die Grundlage eines gedeihlichen Familienlebens. Dort, wo die Familie in der Wohnung mit verschiedenen fremden Elementen durchsetzt ist, wo der Inwohner der Unsicherheit preisgegeben, die Wohnung schlecht imstande hält und die Wohnung jedes Schmuckes entbehrt, wo den Inwohner keinerlei Gefühl der Zugehörigkeit mit seiner Wohnung verbindet, da muß sowohl bei den Alten, als bei der heranwachsenden Jugend jedes Sicherheitsgefühl, jede Liebe zur Heimat verschwinden. Dort, wo die Jugend nur ungünstige Eindrücke in sich aufnimmt, wird auch in ihrem späteren Leben die Gefahr der Kriminalität eine sehr hohe werden.

XIII. Gemeinnützige W o h n u n g s f ü r s o r g e .

139

Aus diesem Gesichtspunkt sagt P r o f e s s o r v. L i s z t 1 ) daß e i n e g r ü n d l i c h e B e s e i t i g u n g der Mißstände, die h e u t e fast überall, n i c h t nur in den Großstädten, mit dem W o h n u n g s w e s e n der arbeitenden K l a s s e n verbunden sind, sich ganz zweifellos als ein wirksameres Mittel zur V e r m i n d e r u n g der Kriminalität erweisen wird, als eine g r o ß e Anzahl von neuen P a r a g r a p h e n im S t r a f g e s e t z b u c h . Und im gleichen Sinne nebt P a s t o r v. B o d e l s c h w i n g h aul der G e n e r a l v e r s a m m l u n g des V e r e i n s für Sozialpolitik 1886 hervor, wie g a n z besonders verderblich die Unzulänglichkeit der F a b r i k a r b e i t e r w o h n u n g e n für die bereits aus der S c h u l e entlassene J u g e n d wirkt. Er schildert, wie diese b l u t j u n g e n B u r s c h e n und M ä d c h e n sich in allerlei Quartieren einmieten, deren entsittlichende W i r k u n g nur zu offenbar an den T a g tritt, und betont, daß a l s n o t w e n d i g e Grundlage aller anderen Arbeit, dieser r a s c h um s i c h greifenden Verwilderung unseres aufwachsenden G e s c h l e c h t e s e n t g e g e n z u a r b e i t e n , die L ö s u n g der W o h n u n g s f r a g e g a n z u n e n t b e h r lich ist. D i e j u n g e n Leute müssen nicht allein in den W o h n u n g e n ihrer Eltern bis zu reiferem Alter Platz behalten, sondern es muß ihnen das e i g e n e Daheim und die e i g e n e S c h o l l e selbst zu e i n e r s i c h e r e n S p a r k a s s e für ihre e i g e n e Zukunft werden.

Die soziale u. wirtschaftliche Bedeutung derWohnung. Die B e d e u t u n g der W o h n u n g in s o z i a l e r B e z i e h u n g hat L o r d B e a c o n s f i e l d im J a h r e 1877 mit b e r e d t e n W o r t e n a u s gedrückt, wie aus der W o h n u n g als der T r ä g e r i n der Zivilisation alle j e n e Einflüsse hervorgehen, welche der G e s e l l s c h a f t eine b e stimmte R i c h t u n g zum Guten oder Schlimmen g e b e n , welche v e r edelnd oder zerstörend auf sie einwirken. Ein M e n s c h , welcher fühlt, daß seine W o h n u n g ein Heim, „ein s ü ß e s H e i m " ist, ist stolz auf das G e m e i n w e s e n , in dessen Mitte er l e b t ; während ein M e n s c h , welcher fühlt, daß sein Haus ein Abgrund des Elends und V e r b r e c h e n s ist, die Gesellschaft angreift, deren u n g e r e c h t e s Opfer e r zu sein glaubt. Auch R i i s - N e w York s a g t in dem Vorwort zu L e e s Philanthropy, daß der wichtigste Teil des Kampfes für e i n e gute R e g i e r u n g die Erhaltung des Heimes i s t ; denn sofern d a s selbe nicht erhalten, oder besser, nicht in den Städten wiederhergestellt werden kann, wird man sich nicht lange der R e g i e r u n g der Freiheit erfreuen können. Die w i r t s c h a f t l i c h e B e d e u t u n g der W o h n u n g des A r beiters b e s o n d e r s in den Großstädten geht aufs klarste daraus h e r vor, daß die A u s g a b e für die W o h n u n g für den gewöhnlichen L o h n arbeiter auch bei einer b e s c h e i d e n e n W o h n u n g mit, s a g e n wir zwei R ä u m e n , nicht etwa nur V„ sondern bis zu '/s und auch '/ 4 s e i n e r G e s a m t e i n n a h m e ausmacht, so daß die A u s g a b e n zur B e s t r e i t u n g s e i n e s Lebensunterhaltes, b e s o n d e r s wenn in schwierigen Zeiten die Einnahmen durch ungünstige K o n j u n k t u r , durch K r a n k heit vermindert sind und sich j e d e Mark fühlbar m a c h t , zu einem großen T e i l e durch die A u s g a b e n für die W o h n u n g e i n g e s c h r ä n k t werden. Die wirtschaftlichen Nachteile der U n s t e t i g k e i t , des h ä u figen W o h n u n g s w e c h s e l s drückt der F r a n z o s e j a am klarsten a u s mit dem W o r t e „drei Umzüge kommen einem B r a n d e g l e i c h " . Prof. v.Liszt, D a s V e r b r e c h e n a l s s o z i a l p a t h o l o g i s c h e E r s c h e i n u n g .

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XIII. Gemeinnützige

Wohnungsfürsorge.

Die Einwirkung der Wohnung auf die Gesundheit. Noch heute fehlt den breitesten S c h i c h t e n der B e v ö l k e r u n g das klare V e r s t ä n d n i s für den h y g i e n i s c h e n E i n f l u ß , den die W o h n u n g auf ihren Inwohner h a t ; sind doch B e v ö l k e r u n g s m a s s e n der Großstädte zu einem großen Teil vom Lande zugeströmt, wo die h y g i e n i s c h e n Nachteile der häufig s e h r schlechten W o h n u n g s verhältnisse durch den fortgesetzten täglichen Aufenthalt im F r e i e n wenigstens zum Teil wieder a u s g e g l i c h e n werden. Wenn dann an die Stelle der Arbeit im F r e i e n in staubfreier reiner Luft, in der Großstadt die Arbeit in g e s c h l o s s e n e n , wenn auch b e s t konstruierten, a b e r infolge des B e t r i e b s mit S t a u b und sonstigen S c h ä d l i c h k e i t e n erfüllten Räumen tritt, so muß e i n e s c h l e c h t g e haltene, s c h l e c h t zu lüftende oder s c h l e c h t gelüftete Wohnung, die der S o n n e nur g e r i n g e n Z u g a n g gewährt, die G e s u n d h e i t dreifach gefährden. Professor B u c h n e r hat in einem G u t a c h t e n zur W o h n u n g s f r a g e ausgeführt, wie die H y g i e n e in allen ihren V e r tretern darin vollkommen einig ist, daß der Einfluß der W o h n u n g auf die Gesundheit als ein g e w a l t i g e r betrachtet werden muß. Zum Gedeihen des m e n s c h l i c h e n O r g a n i s m u s sind ein g e w i s s e s Mindestmaß von frischer Luft und e i n e g e w i s s e Menge von S o n n e n licht als normale „ L e b e n s r e i z e " zur Aufrechterhaltung der L e b e n s v o r g ä n g e unentbehrlich. Wenn die normalen L e b e n s r e i z e nur ung e n ü g e n d vorhanden, entstehen krankhafte Störungen namentlich im B e r e i c h e der Blutbildung, welche sich schließlich in Neigung zu Erkrankungen an Skrofulöse, T u b e r k u l o s e etc. entwickeln. D a s allzudichte Z u s a m m e n l e b e n in überfüllten W o h n u n g e n steigert die Gefahr der Ü b e r t r a g u n g von A n s t e c k u n g s s t o f f e n . Andere Gefahren entstehen durch die a l l g e m e i n e Unreinlichkeit e i n e r Wohnung. Die Gefahr drohender Epidemien hat j a auch, wie bekannt, wiederholt die V e r a n l a s s u n g zu durchgreifenden örtlichen V e r b e s s e r u n g e n der Wohnungsverhältnisse, g e g e b e n , so die Hamburger Choleraepidemie von 1892. Neben die direkten hygienischen Nachteile u n g e n ü g e n d e r Wohnverhältnisse treten dann noch die tiefgreifend e n indirekten Nachteile, welche in ihrer unheilvollen Wirkung den direkten S c h ä d e n mindestens g l e i c h k o m m e n . Dahin gehört die F ö r d e r u n g des Alkoholismus und damit eine V e r g e u d u n g des E i n k o m m e n s , die eine richtige E r n ä h r u n g verhindert. D i e unbehagliche W o h n u n g treibt den Mann ins Wirtshaus. Durch die Mißstände im S c h l a f g ä n g e r w e s e n entsteht eine ungeheure S c h ä d i g u n g der Moralität und im Z u s a m m e n h a n g damit der physischen Gesundheit. Auf den Z u s a m m e n h a n g zwischen W o h n u n g s n o t und Ges c h l e c h t s k r a n k h e i t e n haben B r e n t a n o und G r u b e r in München j ü n g s t nachdrücklich hingewiesen. Durch die U n t e r s u c h u n g e n der K r a n k e n k a s s e n ist klargelegt worden, in welch äußerst ungünstigen W o h n u n g s v e r h ä l t n i s s e n sich g e r a d e ihre kranken Mitglieder, zum T e i l wohl infolge ihres verminderten E i n k o m m e n s , befinden. In den großen V e r s a m m l u n g e n zur B e k ä m p f u n g der T u b e r k u l o s e sowohl, wie der G e s c h l e c h t s k r a n k h e i t e n , wird immer klar betont, daß d i e V e r b e s s e r u n g der W o h n u n g s v e r h ä l t n i s s e die erste Aufgabe mitbilden müsse. D e r U m f a n g , in dem sich die durch s c h l e c h t e W o h n u n g s v e r h ä l t n i s s e zu befürchtende g e s u n d h e i t l i c h e S c h ä d i g u n g d e r arbeitenden Klasse in einer häufigeren Erkrankung und früheren

XIII. Gemeinnützige W o h n u n g s f ü r s o r g e .

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Invalidität mit deren wirtschaftlichen Konsequenzen äußert, ist die tiefste Ursache, warum eine durchgreifende F ö r d e r u n g der g e m e i n n ü t z i g e n Bautätigkeit durch die großen Geldmittel der V e r s i c h e r u n g s a n s t a l t e n ebenso s e h r im Interesse der Versicherten wie d e r A n s t a l t e n selbst liegt. Nach diesen A u s f ü h r u n g e n darf wohl als unwiderleglich b e h a u p t e t werden, daß die V e r b e s s e r u n g der W o h n u n g s v e r n ä l t n i s s e d e r Minderbemittelten heute die wichtigste A u f g a b e der sozialen F ü r s o r g e ist, da sie erst die Grundlage bietet, auf der die a n d e r e n A r b e i t e n zu einer gedeihlichen Wirkung kommen k ö n n e n .

Wohnungsbedarf und Bauspekulation. Mangel an abgeschlossenen kleinen Wohnungen. A n d i e s e r Stelle k ö n n e n n u r die b e d e u t e n d s t e n M i ß s t ä n d e , wie sie da u n d d o r t v o r k o m m e n , e r ö r t e r t u n d die w i c h t i g s t e n M a ß n a h m e n , s o w e i t s o l c h e d e r W o h l f a h r t s p f l e g e im e n g e r e n Sinne einschlägig sind, kurz berührt werden. Aufgabe der öffentlichen K ö r p e r s c h a f t e n u n d der G e s e t z g e b u n g ist es, alle die G r u n d l a g e n z u s c h a f f e n , welche die V e r b e s s e r u n g zu e i n e r durchgreifenden machen. Bei d e m Ü b e r g a n g zu d e n k o n k r e t e n E i n z e l f r a g e n m u ß als e r s t e r H a u p t m i ß s t a n d h e r v o r g e h o b e n w e r d e n , d a ß die p r i v a t e B a u s p e k u l a t i o n in d e u t s c h e n G r o ß s t ä d t e n ü b e r h a u p t vielfach die B e d ü r f n i s s e d e s A r b e i t e r s zu wenig b e r ü c k s i c h t i g t . Wie s c h o n b e r ü h r t , wird d e r A r b e i t e r , s o l a n g e keine e r w a c h s e n e n K i n d e r m i t v e r d i e n e n , k a u m m e h r als M. 16 bis 20 monatlich f ü r die Miete a u s g e b e n k ö n n e n . Die W o h n u n g wird also in d e n m e i s t e n Fällen, w e n n d e r R a u m , wie z. B. in M ü n c h e n , auf M. 8 bis 10 m o n a t l i c h v e r a n s c h l a g t wird, nicht m e h r als zwei R ä u m e u m fassen können. A u s Z w e c k m ä ß i g k e i t s g r ü n d e n , d a die F r a u d o c h die Kinder b e a u f s i c h t i g e n m u ß u n d d e r A r b e i t e r w e g e n d e r Kosten d e s H e i z m a t e r i a l s nicht m e h r als einen R a u m h e i z e n will, fallen K ü c h e u n d W o h n z i m m e r in d e r F o r m d e s geräumigen Kochzimmers zusammen, während der zweite Raum als S c h l a f z i m m e r dient. E r w a c h s e n e Kinder, w e l c h e s e l b s t v e r d i e n e n , sind die V e r a n l a s s u n g u n d bieten die M ö g l i c h k e i t z u r M i e t u n g m e h r e r e r o d e r g r ö ß e r e r Räume. A u c h z a h l r e i c h e B e d i e n s t e t e im öffentlichen D i e n s t u n d viele P e n s i o n i s t e n s i n d auf solch kleine W o h n u n g e n a n g e w i e s e n . Der Befriedigung d i e s e s u m f a n g r e i c h e n B e d ü r f n i s s e s nach kleinen W o h n u n g e n steht leider e n t g e g e n , d a ß die B a u s p e k u l a t i o n leichter g r ö ß e r e

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X I I I . Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

W o h n u n g e n baut, da diese relativ weniger Aufwand für T r e p p e n , G ä n g e , A b o r t e und s o n s t i g e Installation erfordern und^deshalb im Verhältnis zum W o h n r a u m relativ billiger herzustellen sind. D a z u kommt, daß die B a u s p e k u l a t i o n die H ä u s e r j a nicht baut, um sie selbst zu vermieten, s o n d e r n um sie zu verkaufen, und d e s h a l b glaubt, j e n e g r ö ß e r e n W o h n u n g e n erstellen zu m ü s s e n , für welche sich vielleicht später in dieser G e g e n d L i e b h a b e r finden. A u c h s c h e u t sie sich d e s w e g e n , Häuser mit kleineren W o h n u n g e n zu erbauen, weil die Verwaltung der kleinen W o h nungen mehr V e r w a l t u n g s s p e s e n erfordert und unter Umständen auch s o n s t i g e S c h w i e r i g k e i t e n bietet, s o daß angeblich für ein Haus mit g r ö ß e r e n W o h n u n g e n leichter Käufer zu finden sind.

Wohnen in geteilten Wohnungen. Als eine F o l g e d i e s e r M o m e n t e werden durch die B a u spekulation meist zu wenig kleine W o h n u n g e n und zu viele g r o ß e W o h n u n g e n erstellt. D a nun a b e r der Käufer des H a u s e s häufig die Parteien, welche die g r o ß e n W o h n u n g e n mieten k ö n n e n , nicht findet, s o ist e r g e n ö t i g t , um die W o h n u n g e n nicht leer stehen zu lassen, dieselben an m e h r e r e Parteien n e b e n e i n a n d e r zu vermieten. D e r Umfang, in welchem s o l c h e Teilvermietung s e i t e n s d e r H a u s b e s i t z e r stattfindet, ist ein erstaunlich g r o ß e r . Eine W o h n u n g s e n q u e t e in A r b e i t e r q u a r t i e r e n in Müncheh hat im Frühj a h r 1903 in d i e s e r Hinsicht e r g e b e n , daß von total 4 4 2 4 b e s i c h tigten W o h n u n g e n 4 5 % nur Teile einer ursprünglich, d. i. nach dem B a u p l a n e , g r ö ß e r e n W o h n u n g waren, und d e m e n t s p r e c h e n d zwei bis drei Parteien auf einem G a n g e wohnten. D a ß für s o l c h e Verhältnisse der Begriff der W o h n u n g kaum mehr zutrifft, ist klar und e b e n s o , daß nach den mitgeteilten Zahlen diese T e i l b e w o h n u n g nicht nur als eine Einzel-, s o n d e r n als eine M a s s e n e r s c h e i n u n g zu betrachten ist und als ein u n u m s t ö ß l i c h e r B e w e i s , daß die private Bauspekulation allein nicht zu befriedigenden Verhältnissen führt.

Schlafgängerwesen. Dr. E. Cahn, Das Schlafstellenwesen in den deutschen Großstädten und seine Reform. Stuttgart 1898. — Verhandlungen der X I I I . Konferenz der Z.-St. f. A.-W.-E. 1904 über „Schlafstellenwesen und Ledigenheime" mit Vorbericht. — Zahlreiche Veröffentlichungen des Statistischen Amtes etc. Die a n d e r e F o l g e d e s ü b e r r e i c h e n B a u e s von g r o ß e n W o h n u n g e n ist, daß der Mieter, der eine kleine, ihm nach der Preis-

XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

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l ä g e p a s s e n d e W o h n u n g nicht findet und eine g r ö ß e r e W o h n u n g a u s der eigenen Einnahme nicht zahlen kann, a b e r sie zu mieten g e z w u n g e n ist, durch Aufnahme von Aftermietern, Z i m m e r h e r r e n , m ä n n l i c h e n und weiblichen Schlafgängern einen möglichst g r o ß e n Teil der Miete hereinzubringen sucht. D a ß durch das B e s t r e b e n , einen m ö g l i c h s t g r o ß e n Teil der Miete hereinz u b r i n g e n , die Gefahr einer Überfüllung der W o h n u n g e n , anders e i t s z a h l r e i c h e Mißstände in sittlicher B e z i e h u n g entstehen, ist n a h e l i e g e n d . Infolge des g r o ß e n A n g e b o t s an Schlafstellen sind d i e P r e i s e verhältnismäßig niedrig, und werden in M ü n c h e n z. B . w ö c h e n t l i c h zum Teil nur M. 1,50, meist M. 1,80 bis M. 2 für S c h l a f s t e l l e n bezahlt.

Beschaffung kleiner Wohnungen durch die gemeinnützige Bautätigkeit. Hier einzugreifen und W o h n u n g e n zu schaffen, die dem B e d ü r f n i s s e der Minderbemittelten wirklich e n t s p r e c h e n , ist Aufg a b e d e r gemeinnützigen Bautätigkeit, die, wenn sie auch nicht für alle Minderbemittelten W o h n u n g e n selbst zu bauen in der L a g e ist, d o c h durch die von ihr g e s c h a f f e n e K o n k u r r e n z ein Korrektiv der b e s t e h e n d e n fehlerhaften T e n d e n z e n der B a u spekulation und anderseits durch die von ihr erstellten Bauten ein M u s t e r für die Privatbautätigkeit ist. A u c h dort, wo die von der gemeinnützigen Bautätigkeit g e s c h a f f e n e n W o h n u n g e n w e g e n d e s höheren Aufwandes für gute A u s g e s t a l t u n g und h y g i e n i s c h e V o r z ü g e nicht billiger sind wie die W o h n u n g e n der privaten Bauspekulation, sind dieselben nach nun l a n g j ä h r i g e n Erfahrungen von den solidesten Kreisen der Minderbemittelten e b e n w e g e n ihrer Qualität außerordentlich g e s u c h t . In diesen B e s t r e b u n g e n der g e m e i n n ü t z i g e n Bautätigkeit, nach e i n g e h e n d e m Studium der einschlägigen F r a g e n und unter finanziellen Opfern nur das B e s t m ö g l i c h e zu leisten, liegt ein innerer G r u n d , den gemeinnützigen B a u v e r e i n e n die öffentliche Unterstützung in weitestem Maße i n s b e s o n d e r e durch b i l l i g e n K r e d i t z u k o m m e n zu lassen und ihre Tätigkeit s e i t e n s der privaten Wohltäter und M e n s c h e n f r e u n d e in j e d e r nur m ö g l i c h e n W e i s e , sei es nun durch die Zuwendung von S t i f t u n g e n , sei e s durch die A n l a g e v o n K a p i t a l i e n in den Anteilscheinen o d e r S c h u l d s c h e i n e n der Bauvereine, zu unterstützen.

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XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

Wachsende Zahl der Mietskasernen. Ein weiterer sozialer Mißstand der baulichen Entwicklung unserer Großstädte liegt darin, daß die kleinen Anwesen, in welchen früher die Arbeiterschaft gewohnt h a t , immer mehr verschwinden und an deren Stelle große Mietshäuser t r e t e n ; kurz ausgedrückt kann man diesen Mißstand als „Siegeszug der Mietskaserne" bezeichnen. Die steigenden Zahlen von Inwohnern, welche in den deutschen Großstädten durchschnittlich auf ein Anwesen treffen, veranschaulichen diese Entwicklung am deutlichsten. In dem Maße, in welchem die Behausungsziffer wächst, nimmt die Zahl der Besitzer relativ ab und die der Mieter zu. Diese Verschiebungen bedingen die schon erörterte erhöhte Unsicherheit des Mieters hinsichtlich seiner Wohnung,, die häufigen Umzüge g e g e n ü b e r der früheren Seßhaftigkeit d e s Arbeiters, damit aber auch erhebliche Kosten und, was noch schwerer wiegt, die Beeinträchtigung und den Verlust des Heimatgefühls bei der arbeitenden Bevölkerung und insbesondere bei der Jugend. Anderseits ist zu berücksichtigen, daß die Erbauung der kleinen Anwesen immer schwieriger wird, weil die Höhe der Grundstückskosten und der Aufwand für eine Reihe von hygienischen Einrichtungen — wie Wasserleitung, Schwemmkanalisation, Gasleitung, der Anteil an Straßenherstellungskosten — bei weiträumigem Bau und kleinen Gebäulichkeiten relativ höhere allgemeine B a u - , Instandhaltungs- und Verwaltungskosten bedingen.

Gemeinsamkeit des Besitzes und gemeinnützige Verwaltung der Bauvereine. Wenn so augenblicklich trotz aller gegenteiligen guten W ü n s c h e in unseren Großstädten kleine Anwesen für den A r beiter schwer erreichbar sind, so ist es wiederum die gemeinnützige Bautätigkeit, welche dafür sorgt, daß einerseits der Besitz insbesondere in den Baugenossenschaften auf die breitesten Schultern verteilt wird, so daß j e d e m Mieter die Möglichkeit g e g e b e n ist, zugleich Mitbesitzer der Vereinsanwesen zu werden,, und daß anderseits durch wichtige gemeinsame Einrichtungen, verbunden mit der Schaffung von Ordnungsausschüssen usf., die Inwohner zu einer Mitverwaltung der Häuser herangezogen werden.

XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

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D i e Erfahrung, und d i e s e ist wohl h i e r der b e s t e B e w e i s , .zeigt, daß die im B e s i t z v o n Bauvereinen befindlichen g r o ß e n M i e t h ä u s e r trotz der starken B e l e g u n g sich durch eine außero r d e n t l i c h e Sauberkeit, Nettigkeit und Freundlichkeit a u s z e i c h n e n . V o n s a c h v e r s t ä n d i g s t e r S e i t e ist dem V e r f a s s e r g e r a d e in d i e s e r Hinsicht das Erstaunen über die Wirkung d e s g e m e i n s a m e n B e s i t z e s a u s g e d r ü c k t worden. E s ist deshalb außerordentlich zu b e g r ü ß e n , daß die j ü n g s t e n J a h r z e h n t e in D e u t s c h l a n d , i n s b e s o n d e r e in den Rheinlanden, in einigen s ä c h s i s c h e n und süddeutschen S t ä d t e n eine s o erfreuliche Entwicklung der gemeinnützigen Bautätigkeit g e b r a c h t h a b e n . D a ß d o r t , wo dies nach Lage der örtlichen Verhältnisse m ö g l i c h ist, der B a u von kleinen Anwesen auch bei der g e m e i n nützigen Bautätigkeit beibehalten wird, ist an sich j a s e l b s t verständlich und liegen vorzügliche B e i s p i e l e i n s b e s o n d e r e aus d e r R h e i n p r o v i n z , W e s t f a l e n , dann in der K o l o n i e StuttgartO s t h e i m hierfür vor.

Ausschlufs der Steigerung des Mietzinses. In wirtschaftlicher B e z i e h u n g ist es klar, daß das Haus, s o bald es durch die Vermietung der zahlreichen W o h n u n g e n vielfach einen Lebensunterhalt d e s Besitzers o d e r eine wesentliche Beihilfe hierzu bildet, der Spekulation unterworfen i s t , und daß auch in den b e s t e h e n d e n älteren Häusern die Mietpreise j e nach d e r Konjunktur, j e nach A n g e b o t und Nachfrage g e r e g e l t und unter günstigen Umständen soweit möglich vom H a u s b e s i t z e r g e s t e i g e r t werden. G e r a d e bei den kleinen W o h n u n g e n ist a b e r , wie berührt und wie i n s b e s o n d e r e auch durch die städtischen W o h n u n g s ä m t e r , durch die Z ä h l u n g der leeren W o h n u n g e n usf. vielfach g e z e i g t , das A n g e b o t oft s e h r gering. Mit der Möglichkeit der S t e i g e r u n g vermindert sich a b e r e i n e r s e i t s die S i c h e r h e i t des Inwohners, und a n d e r s e i t s steigt, wenn d e r Arbeiter genötigt ist, einen höheren B e t r a g für seine Miete a u s z u g e b e n , für ihn die Schwierigkeit, sein B u d g e t zu bilanzieren, und die G e f a h r , daß eben der Minderbemittelte, um seinen Haushalt im übrigen nicht zu sehr e i n s c h r ä n k e n zu m ü s s e n , durch ü b e r m ä ß i g e A u s n u t z u n g der W o h n u n g an Miete spart. Alle d i e s e M o m e n t e s p r e c h e n wiederholt dafür, den B a u nicht nur unkündbarer, sondern auch unsteigerbarer W o h n u n g e n , den Singer,

Soziale Fürsorge.

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XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

Ersatz der alten kleinen Anwesen des Arbeiters durch moderne Bauten mit gemeinsamem Besitz, also die Tätigkeit der gemeinnützigen Bauvereine, die für ihre Mitglieder eine Steigerung des Mietzinses ausschließen, zu fördern und zu stärken.

Die Formen der gemeinnützigen Bautätigkeit. Die Form, in welcher die gemeinnützige Bautätigkeit zweckmäßig organisiert wird, wechselt sowohl nach den gesetzlichen Grundlagen des Landes, wie nach dem Ursprung der Mittel, welche für sie zur Verfügung gestellt werden. Zu unterscheiden sind insbesondere in Deutschland erstens die A k t i e n b a u g e s e l l s c h a f t e n , deren Kapital von einer verhältnismäßig geringen Zahl wohlhabender Personen aufgebracht ist, deren Verwaltung in sozialer Hinsicht, wie die Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M. zeigt, die Vorteile der Selbstverwaltung in weitem Maße gewähren kann. Zweitens sind zu nennen die g e m e i n n ü t z i g e n B a u v e r e i n e , welche, wie der Münchener Verein für Verbesserung der Wohnungsverhältnisse sowohl große wie kleine Kapitalien in sich vereinigen, die Rechte der großen Kapitalien durch einen entsprechenden Anteil an der Verwaltung und damit die wünschenswerte Stetigkeit der Verwaltung sichern, durch die prinzipielle Unkündbarkeit der Anteilscheine aber auch dem Gesamtverein die notwendige Stabilität garantieren. Drittens die B a u g e n o s s e n s c h a f t e n , vorzugsweise m i t b e s c h r ä n k t e r H a f t u n g , die auf Grund des Gesetzes von 1889 sich stark entwickelt haben und der Selbsthilfe des Arbeiters den weitesten Spielraum gewähren. Diese letzteren leiden jedoch etwas an der Schwierigkeit, daß zum Häuserbau große, dauernd anzulegende Kapitalien gehören, welche der Arbeiter allein nur schwer dauernd zur Verfügung stellen kann, so daß die Mitwirkung großer Geldgeber im finanziellen Interesse wie die Mitwirkung kaufmännisch und sonstig vorgebildeter Kreise zu einer gedeihlichen Lösung Bedingung ist. An vierter Stelle endlich stehen die g r o ß e n S t i f t u n g e n , so die Meyersche Stiftung in Leipzig, welche bei umfangreichen Mitteln große Komplexe billig zu erstellen in der Lage ist und deshalb infolge außerordentlich billiger Mieten ihren Inwohnern erhebliche Vorteile zuwenden kann, so daß die Wohnungen jederzeit stärkst gesucht sind.

XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

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Außerhalb dieses engeren Rahmens stehen die von Arbeitg e b e r n , vom Staat, von Städten und von Großindustriellen für ihre Arbeiter errichteten Wohnungen, deren Entwicklung von den örtlichen Verhältnissen in hohem Maße abhängig ist, ebenso wie die Preisfestsetzung von der geforderten, häufig sehr niedrigen Verzinsung. Die modernste Entwicklung geht dahin, daß von Seiten des Reichs wie sonstiger Arbeitgeber nicht direkt W o h n u n g e n für ihre Angestellten erbaut, sondern Bauvereine, welche sich aus den Angestellten bilden, und noch besser allg e m e i n e Bauvereine, bei welchen diese Angestellten einen erheblichen Prozentsatz ausmachen, durch Gewährung von Darlehen, insbesondere von Hypotheken an zweiter Stelle zu billigem Zinsfuß und bei hoher Beleihung unterstützt werden. Ohne ein g r ö ß e r e s Opfer und ohne größere Arbeit der staatlichen Organe können so alle Vorteile der gemeinnützigen Bautätigkeit in g r o ß e m Umfange erreicht werden. Abweichend von der geschilderten Richtung war die Entwicklung in England, wo einerseits die Stiftungen durch große, ihnen zur Verfügung gestellte Mittel hervortreten (PeabodyStiftung, Guiness-Stiftung in London) und wo anderseits schon früh zahlreiche Gesellschaften, und zwar die „ B u i l d i n g S o c i e t i e s " , die ihren Mitgliedern Vorschüsse zum Erwerb eines Hauses gewähren und die „ L a n d a n d B u i l d i n g S o c i e t i e s " , Baugenossenschaften, welche selbst bauen, entstanden sind. Berichte über die einzelnen größeren gemeinnützigen Bauunternehmungen enthalten u. a. die Zeitschrift für Wohnungswesen, Albrechts Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege und Stübben, Festschrift.

Geldbeschaffung. Tätigkeit der Versicherungsanstalten. Belgische Sparkasse. Baubanken. Zum Bauen gehört bekanntlich.Geld, Geld und noch einmal Geld, und so ist denn die Beschaffung umfangreicher und billiger Kapitalien die erste Voraussetzung einer umfassenden gemeinnützigen Bautätigkeit. In Deutschland haben die großen Kapitalien der Invalidenversicherungsanstalten auf Grund der im G e s e t z gegebenen besonderen Anregung den gemeinnützigen Wohnungsbau in großartigster Weise unterstützt, und sind bis Ende 1902 M. 103 4 4 8 0 0 0 als Darlehen von ihnen g e g e b e n 10*

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XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

worden. Durch Gewährung einer hohen Beleihungsgrenze konnten zahlreiche Vereine ohne Inanspruchnahme zweiter, verhältnismäßig teurer Hypotheken Umfassendes leisten. In der Erkenntnis, daß gerade in der Beschaffung zweiter Hypotheken, falls die erste auf etwa 50 bis 6 0 % des Wertes beschränkt, die größte Schwierigkeit liegt, hat das Reich die verfügbaren Mittel gerade auf zweite Hypotheken gegeben und so entschieden die größte Ausnutzung dieser Mittel ermöglicht. In Belgien hat die Staatssparkasse — Caisse Générale d'Epargne et de Retraite — dadurch, daß sie einen bestimmten, mit der Zeit erhöhten Prozentsatz ihrer Kapitalien prinzipiell dem Bau von kleinen Wohnungen zur Verfügung stellt, in der Verbesserung der Wohnungsverhältnisse der Minderbemittelten Großes geleistet. Sie hatte bis Ende 1902 an 153 Gesellschaften Darlehen im Gesamtbetrage von Frs. 51404000 gegeben. Weitaus die meisten dieser Gesellschaften sind übrigens nicht eigentliche Baugesellschaften, sondern Kreditgesellschaften, die ihren Mitgliedern Darlehen zum Bau von Eigenhäusern vermitteln. (Zeitschr. f. Wohnungswesen 1903, S. 143; Compte Rendu 1902.) Die deutschen Sparkassen sind zum Teil infolge ihrer örtlichen Organisationen in diesem Punkte weit zurückgeblieben. Die Schaffung von Volkshypothekenbanken oder Baubanken auf gemeinnütziger Grundlage ist eine der wichtigsten Aufgaben in Deutschland für die nächste Zukunft.

Wohnungsinspektion. Da, wie bereits berührt, das Verständnis für gute Wohnungen noch vielen Kreisen mangelt, bleiben ohne behördliche Kontrolle viele Mißstände fortbestehen. Ebenso wie die Kontrolle der Lebensmittel auf ihre Qualität, ist daher auch eine Aufsicht über die Wohnungen notwendig. Die Wohnungsinspektion hat denn auch, wenn auch noch vielfach bekämpft, große Fortschritte gemacht, und es ist besonders zu begrüßen, daß auch von privater Seite, von Ortskrankenkassen, den Organen der Armenpflege usf. durch Untersuchungen der Wohnungsverhältnisse spezieller Kreise deren Verbesserung angebahnt wird.

Erbbaurecht. Mit Rücksicht auf die günstige Vermietung ist es zweckmäßig, dort, wo die Arbeiterschaft nur ungern sich von den

XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

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b e r e i t s bebauten Quartieren entfernt, auch die V e r e i n s b a u t e n m ö g l i c h s t an die s c h o n vorhandene B e b a u u n g a n z u s c h l i e ß e n . In diesem Falle wird aber die Beschaffung des G r u n d e s und B o d e n s meist bereits einen g r o ß e n Teil der dem Verein zur V e r f ü g u n g stehenden G e l d e r in Anspruch n e h m e n . E s ist d e s h a l b von g r o ß e m Vorteil, wenn auf Grund der B e s t i m m u n g e n d e s B ü r g e r l i c h e n G e s e t z b u c h e s von seiten der G e m e i n d e n o d e r v o n Stiftungen, welche g r ö ß e r e , für bauliche Z w e c k e verwertb a r e G e l ä n d e besitzen, s o l c h e im E r b b a u r e c h t an B a u v e r e i n e auf bestimmte Z e i t , mindestens etwa 6 0 J a h r e , g e g e n einen m ä ß i g e n jährlichen P a c h t z i n s a b g e g e b e n werden. Innerhalb d i e s e s Z e i t r a u m s sind die V e r e i n e in der L a g e , die B a u k o s t e n d e r auf dem G r u n d s t ü c k zu errichtenden G e b ä u d e zu amortis i e r e n . Die eventuelle Wertsteigerung des G r u n d s t ü c k e s innerhalb d e s b e z e i c h n e t e n Zeitraums bleibt der Eigentümerin erhalten, die aber durch Gewährung des E r b b a u r e c h t e s W e s e n t l i c h e s zur F ö r d e r u n g der gemeinnützigen Bautätigkeit zu leisten in der L a g e ist. D a ß die bezüglich der B e s c h a f f u n g von H y p o theken b e s t e h e n d e n Schwierigkeiten mit dem E r b b a u r e c h t zu l ö s e n sind, haben v e r s c h i e d e n e Fälle j a bereits g e z e i g t , so insb e s o n d e r e in Frankfurt a. M. Die Nachteile die in England infolge der L e a s e aufgetreten sind, daß nämlich die G e b ä u d e g e g e n S c h l u ß der Pachtzeit s e h r herunterkommen, müssen natürlich vermieden werden.

Bodenreform. Damaschke, Die Bodenreform. (3) Berlin 1904. Die rapide Entwicklung der deutschen Städte in den drei J a h r z e h n t e n von 1870 bis 1900 hat in der P r e i s b e s t i m m u n g bei verhältnismäßig b e s c h r ä n k t e m A n g e b o t und starker N a c h f r a g e nach Bauland in den deutschen G r o ß s t ä d t e n selbst, wie in deren näherer U m g e b u n g außerordentliche W e r t s t e i g e rungen veranlaßt. Die hohen Preise, welche für Läden, insb e s o n d e r e in den G e s c h ä f t s l a g e n der G r o ß s t ä d t e , g e b o t e n werden, die starke Nachfrage nach W o h n u n g e n , die h o h e n Mietpreise, welche auch für kleine W o h n u n g e n zum Teil infolge ü b e r m ä ß i g e r B e n u t z u n g dieser W o h n u n g e n erzielt werden, v e r b u n d e n mit der Möglichkeit einer intensiveren baulichen Ausnutzung h a b e n , wie e b e n b e m e r k t , ein außerordentliches Steigen im Z e n t r u m , wie

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XIII. G e m e i n n ü t z i g e W o h n u n g s f ü r s o r g e .

in d e r U m g e b u n g d e r S t ä d t e b e w i r k t ; h i e r a u s ist n u n d a s V e r langen e n t s p r u n g e n , d a ß d u r c h eine R e i h e v o n M a ß n a h m e n , in e r s t e r Linie d u r c h d e n Ü b e r g a n g a u s g e d e h n t e n G r u n d b e s i t z e s in d a s E i g e n t u m d e r G e m e i n d e n , d a n n d u r c h a u s g i e b i g e B e s t e u e r u n g d e s p r i v a t e n , als B a u g e l ä n d e v e r w e r t b a r e n G r u n d besitzes Vorsorge gegen weitere Steigerung getroffen werden soll. E s sind h i e r a u s die eifrig v e r f o c h t e n e n B e s t r e b u n g e n d e r B o d e n r e f o r m e n t s t a n d e n . S o b e a c h t e n s w e r t diese B e s t r e b u n g e n prinzipiell sind, so u n t e r l i e g t d e r e n A u s f ü h r u n g d o c h z a h l r e i c h e n S c h w i e r i g k e i t e n , u n d sind die u r s p r ü n g l i c h e n F o r d e r u n g e n , d i e in E n g l a n d u n d A m e r i k a auf eine V e r s t a a t l i c h u n g o d e r Vers t a d t l i c h u n g d e s g e s a m t e n G r u n d u n d B o d e n s o d e r auf E r s e t z u n g aller a n d e r e n S t e u e r n d u r c h eine e i n z i g e S t e u e r auf G r u n d u n d B o d e n (Single Tax H e n r y G e o r g e s ) hinausliefen, in D e u t s c h l a n d v e r l a s s e n u n d auf eine e r h ö h t e N u t z b a r m a c h u n g d e r G r u n d r e n t e f ü r die A l l g e m e i n h e i t g e w a n d t w o r d e n .

Fürsorge für Ledige. Vorbericht der XIII. Konferenz der Z.-St. f. A.-W.-E. 1904. Eine d e r wichtigsten A u f g a b e n d e r W o h n u n g s r e f o r m b e s t e h t darin, f ü r die z a h l r e i c h e n l e d i g e n P e r s o n e n , w e l c h e die m o d e r n e i n d u s t r i e l l e , g e w e r b l i c h e u n d H a n d e l s e n t w i c k l u n g in u n s e r e n G r o ß s t ä d t e n a n h ä u f t , g e e i g n e t e U n t e r k u n f t zu s c h a f f e n . Die G e f a h r e n , die d e r e n U n t e r b r i n g u n g in d e n Familien s o w o h l f ü r die A f t e r m i e t e r als f ü r die Familien selbst in vielen Fällen bringt, sind bereits b e t o n t w o r d e n ; die Abhilfe ist in d e n d e u t s c h e n G r o ß s t ä d t e n d a d u r c h e r s c h w e r t , d a ß in E r m a n g e l u n g k l e i n e r W o h n u n g e n viele m i n d e r b e m i t t e l t e Familien g r ö ß e r e W o h n u n g e n zu mieten u n d in diese A f t e r m i e t e r a u f z u n e h m e n g e z w u n g e n s i n d .

Rowton-Häuser, London. Albergo popolare, Mailand. W a s z u n ä c h s t die F ü r s o r g e f ü r ledige m ä n n l i c h e Personen; anbetrifft, so hat L o r d R o w t o n d u r c h die v o n ihm g e g r ü n d e t e n , , nach ihm b e n a n n t e n R o w t o n - H ä u s e r in L o n d o n , w e l c h e f ü r je 800 bis 1000 P e r s o n e n U n t e r k u n f t bieten, ein a u s g e z e i c h n e t e s Muster g e g e b e n . In d e n R o w t o n - H ä u s e r n sind T a g e s a u f e n t h a l t s r ä u m e mit allen m o d e r n e n V e r b e s s e r u n g e n v o r g e s e h e n . Insb e s o n d e r e sind alle V o r k e h r u n g e n z u r V e r m e i d u n g v o n Infektion

XIII. Gemeinnützige Wohnungsfürsorge.

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getroffen. Die Schlafräume sind lauter Einzelabteile, welche in langen Korridoren aneinander gelegt sind, so daß jeder Abteil ein Fenster ins Freie besitzt. Angesichts des immerhin kostspieligen Baues erscheint aber Rente nur bei einem großen Maßstabe, bei mindestens 500 Betten, erzielbar. Die Schlafräume sind untertags nicht zugänglich. Der Preis für ein Bett beträgt 60 Pf. für die Nacht, M. 3,50 für die Woche. Nach dem Muster der Rowton-Häuser ist auch das Albergo popolare in Mailand mit großer Eleganz eingerichtet.

Sonstige Ledigenheime für Männer. Eine andere Gruppe von Einrichtungen weist Zimmer mit ein bis zwei Betten auf, welche den Inwohnern auch untertags zugänglich sind. Beispiele dieser Art sind das A r b e i t e r h e i m des Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen in S t u t t g a r t und das Logierhaus Concordia in Hamburg. Eine dritte Gruppe bietet neben Einzelzimmern auch Schlafräume für eine Mehrzahl von Personen bis zu 12; so die Herberge des Gewerkschaftshauses in Berlin. Der vierte Typus, wie das städtische Logierhaus zu Glasgow, bietet große, durch leichte Zwischenwände bis zu einer gewissen Höhe abgeteilte Schlafräume für bis zu 40 Personen. Hier Fürsorge auch in großem Umfange in deutschen Städten zu bieten, ist eine wichtige Aufgabe, deren Erfüllung eben nur durch die großen notwendigen Mittel und die Schwierigkeit, den örtlichen Bedürfnissen entsprechende Lösungen zu finden, verzögert worden ist. Die Einrichtungen für Durchreisende sind an anderer Stelle besprochen. Bereits etwas älteren Datums sind zum Teil die von Großunternehmungen für ihre Arbeiter errichteten Logierhäuser (Schlafhäuser, Menage), die allerdings meist nicht auf wirtschaftlicher Grundlage beruhen, sondern Zuschüsse der Fabriken voraussetzen. Die Mechanische Baumwollspinnerei in Augsburg z. B. hat ein großes gemeinsames Logierhaus bereits im Jahre 1853 erbaut. Durch seine große Ausdehnung ist das Wohn- und Kosthaus des Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation (etwa 1200 Betten) bekannt. Durch die Gewährung einer weitgehenden Selbstverwaltung sind die von Friedrich Krupp in Essen erbauten Logierhäuser ausgezeichnet.

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XIII. Gemeinnützige

Wohnungsfürsorge.

Heime für weibliche Personen. Harriet Fayes, Housing of Single Women, Municipal Affairs März 1899. — Vorbericht der XIII. Konferenz der Z.-St. f. A.-W.-E. 1904. Nicht minder wichtig als die F ü r s o r g e für die männlichen Ledigen ist die F ü r s o r g e für weibliche P e r s o n e n , die indessen, wie bereits berührt, in zwei spezielle Gruppen g e s o n d e r t ins A u g e zu fassen ist. Die eine G r u p p e ist die v o r ü b e r g e h e n d e F ü r s o r g e für Unterkunft für weibliche D i e n s t b o t e n , wie sie die an anderer Stelle berührten Marien- und Marthahäuser bieten, und die B e s c h a f f u n g von Unterkunft für die Arbeiterinnen von einzelnen G r o ß b e t r i e b e n . D e r s t e i g e n d e U m f a n g , in dem sich beruflich g e b i l d e t e Mädchen und F r a u e n durch Tätigkeit in kaufmännischen und g e w e r b l i c h e n B u r e a u s , als Verkäuferinnen in H a n d e l s b e t r i e b e n , in einer R e i h e von Stellen d e s S t a a t s d i e n s t e s wie als Lehrerinnen etc. s e l b s t ä n d i g e n E r w e r b schaffen und vielfach einzeln zu leben g e z w u n g e n sind, m a c h t in immer g r ö ß e r e m Maße auch die Errichtung von Heimen für weibliche Berufstätige zur Notwendigkeit, da e s g e r a d e für diese Gruppen s e h r s c h w e r fällt, s o n s t g e e i g n e t e Unterkunft zu finden. Auch bei g e m e i n n ü t z i g e m C h a r a k t e r d i e s e r H e i m e wird d o c h eine g e s c h ä f t l i c h e rentierliche F ü h r u n g zu erstreben sein. Harriet F a y e s warnt hiebei b e s o n d e r s , eine g r o ß e Zahl von H a u s r e g e l n aufzustellen, die s c h o n m a n c h e n Mißerfolg v e r u r s a c h t h a b e n . D i e g e b i l d e t e arbeitende Frau wird in ihrem e i g e n e n I n t e r e s s e von s e l b s t alles vermeiden, was dem allgemein g e b r ä u c h l i c h e n nicht entspricht. Ein Beispiel allerdings mit konfessioneller B e s c h r ä n k u n g , bietet das aus einem vormaligen Hotelbau entstandene Marienstift in M ü n c h e n . ( S i e h e auch unter F ü r s o r g e für weibliche Jugend.)

X I V . Beschaffung guter und billiger Nahrung.

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XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung. Konsumvereine, Genossenschaftswesen im allgemeinen. Einleitung. Volksküchen. Speisehallen. Berliner Volksküchenverein. Volkskaffeehallen. Volks-Kaffee- und Speisehallengesellschaft in Berlin. Kochkiste. Speisentransport.

Genossenschaftswesen. Workmens Cooperative Societies. Sociétés coopératives. Allgemeine Entwicklung. Entwicklung in Deutschland. Allgemeiner Verband deutscher Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. Konsumvereine. Großeinkaufsgenossenschaften.

Einleitung. D a s wichtigste Moment in der B e s c h a f f u n g g u t e r und billiger N a h r u n g ist zweifelsohne sowohl die Ausbildung der j u n g e n M ä d c h e n der gebildeten Kreise, wie auch i n s b e s o n d e r e die d e r A n g e h ö r i g e n der arbeitenden Klassen in der z w e c k m ä ß i g s t e n Auswahl und Zubereitung der S p e i s e n , wie sie unter hauswirts c h a f t l i c h e r Unterweisung der Mädchen dargelegt wurde. Es sind g r o ß e volkswirtschaftliche F r a g e n , welche einen möglichsten F o r t s c h r i t t in dieser Richtung erforderlich e r s c h e i n e n lassen. Hieran schließen sich dann j e n e B e s t r e b u n g e n , welche darauf a u s g e h e n , die Nahrungsmittel in besten Qualitäten und zu m ö g l i c h s t billigen Preisen zu erhalten, wie nachfolgend erörtert. E i n e außerordentlich wichtige E r g ä n z u n g der B e s t r e b u n g e n bildet ferner die P r ü f u n g der die fortgesetzt immer sorgfältiger sowohl von s t ä d t i s c h e r Seite, als von Privaten durchgeführt

Volksküchen.

hier g e b r a c h t e n Nahrungsmittel, staatlicher wie wird.

Speisehallen.

Lina Morgenstern, Hilfsbuch zur Errichtung und Leitung von Volksküchen. Berlin 1900. — Dr. med. J. Blum, Volks- und Krankenküchen. Schriften des D. V. f. A. u. W. 66. Heft. — Volksernährung, Schriften der Z.-St. f. A.-W.-E. Nr. 7. Berlin 1895. Volksküchen

sind

gemeinnützige

Anstalten,

welche

den

Minderbemittelten, die aus irgend einem G r u n d e e i n e s g e o r d n e t e n

154

XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung.

Haushalts e n t b e h r e n , gut z u b e r e i t e t e , möglichst billige Mahlzeiten verschaffen. Es sind d a r u n t e r nicht die lediglich auf dem Prinzip der Wohltätigkeit b e g r ü n d e t e n Suppenanstalten oder N o t s t a n d s k ü c h e n , also die eigentlichen A r m e n s p e i s u n g s anstalten zu v e r s t e h e n , s o n d e r n solche Einrichtungen, die g a n z oder zum g r ö ß t e n Teile ihre Betriebskosten aus eigenen Einnahmen decken. Die G r ü n d u n g der Volksküchen b e r u h t auf dem P r i n z i p , daß die Kosten der Errichtung aus freiwilligen Gaben (Vereinsmitgliederbeiträge) bestritten werden, die Küche sich dann aber selbst erhalten soll. Der Schein des A l m o s e n s muß von den Volksküchen s t r e n g ferngehalten w e r d e n , damit die B e n u t z u n g derselben nicht erniedrigend wirkt, u n d sie von allen j e n e n Elementen frequentiert werden, denen nur bescheidene Mittel zur V e r f ü g u n g stehen u n d denen sie eine wirtschaftliche Hilfe sein sollen. Durch Einkauf im g r o ß e n , rationelle Z u s a m m e n s t e l l u n g der Speisen, V e r w e n d u n g der Reste, zwar s a u b e r e , aber einfache A u s s t a t t u n g der Hallen, durch H e r a n z i e h u n g gebildeter Frauen als ehrenamtliche Helferinnen bei der S p e i s e n a b g a b e und s o n stige möglichste Sparsamkeit im Betrieb ist es g e l u n g e n , trotz der äußerst niedrigen Preise der einzelnen P o r t i o n e n in den meisten Fällen die Selbsterhaltung der Volksküchen durch die eigenen Einnahmen zu sichern. Die A b g a b e der Mahlzeiten an das Publikum erfolgt in den Volksküchen g e g e n Marken, die von den B e s u c h e r n am E i n g a n g der Küche gekauft oder von Wohltätern an Unbemittelte g e s c h e n k t werden. Die Preise für a u s r e i c h e n d e s Mittagessen sind durchschnittlich 25 Pf., f ü r A b e n d e s s e n 15 Pf. Die Volksküchen sind täglich nur einige S t u n d e n geöffnet. Die ersten Versuche, öffentliche N o t s t a n d s k ü c h e n von reinen Almoseninstituten auf die h ö h e r e soziale Stufe einer wirtschaftlichen Mithilfe für Minderbemittelte zu heben, w u r d e n in D e u t s c h land um das Jahr 1848 g e m a c h t , wo in Leipzig, Chemnitz u n d H a n n o v e r solche z u g u n s t e n der A r b e i t e r b e v ö l k e r u n g von Fabrikanten g e g r ü n d e t w u r d e n . Die erste, auf dem Prinzip der Selbsterhaltung durch den Konsum b r ü h e n d e wahre Volksküche Deutschlands w u r d e j e d o c h erst 1866 in Berlin g e g r ü n d e t (siehe unten). Dieselbe ist das Muster für viele gleiche Anstalten im In- und Ausland g e w e s e n .

XIV. Beschaffung g u t e r und billiger Nahrung.

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A u s einer in 258 d e u t s c h e n S t ä d t e n b e z ü g l i c h V o l k s k ü c h e n g e h a l t e n e n U m f r a g e e r g a b sich, d a ß in 81 S t ä d t e n V o l k s k ü c h e n im S i n n e einer s o z i a l e n E i n r i c h t u n g u n d wirtschaftlichen Mithilfe b e s t e h e n . D i e s e l b e n sind teils v o n d e n G e m e i n d e n s e l b s t e r r i c h t e t , teils v o n e i g e n e n V o l k s k ü c h e n v e r e i n e n (u. a. Berlin 1866, M a g d e b u r g , M ü n c h e n 1899, N e u b r a n d e n b u r g , N ü r n b e r g 1880, P o s e n 1891, S t u t t g a r t 1867) o d e r s o n s t i g e n g e m e i n n ü t z i g e n V e r e i n e n g e g r ü n d e t (Verein f ü r V o l k s w o h l in Köln, d e r s e l b e in Halle, G e s e l l s c h a f t f ü r W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n in F r a n k f u r t a. M., Bezirksverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch g e i s t i g e r G e t r ä n k e in K a s s e l , G e s e l l s c h a f t freiwilliger A r m e n f r e u n d e in Kiel u. a. m.). D e n g r ö ß t e n A u f s c h w u n g h a b e n die V o l k s k ü c h e n in Ö s t e r reich-Ungarn genommen. Der erste Wiener Volksküchenverein, g e g r ü n d e t 1872, hat n u n 12 S p e i s e a n s t a l t e n in Betrieb. D e r s e l b e ist auch a u ß e r h a l b W i e n s b e r e i t s w i e d e r h o l t d u r c h E i n r i c h t u n g e n v o n N o t s t a n d s k ü c h e n (z. B. bei d e m E r d b e b e n in Laibach 1895) h e l f e n d e i n g e t r e t e n . F e r n e r hat d e r Verein der Stadt g e g e n ü b e r sich verpflichtet, f ü r d e n Fall einer E p i d e m i e , einer Ü b e r s c h w e m m u n g o d e r eines Krieges eine m ö g l i c h s t billige u n d g u t e M a s s e n b e k ö s t i g u n g z u b e s c h a f f e n u n d ein A b k o m m e n mit d e m R o t e n K r e u z g e t r o f f e n , w o n a c h er im Kriegsfall eine K ü c h e e r richtet u n d g e s c h u l t e s P e r s o n a l f ü r die K ü c h e der R e s e r v e h o s p i t ä l e r d e s R o t e n K r e u z e s stellt. A u ß e r Wien b e s t e h e n in allen g r ö ß e r e n S t ä d t e n Ö s t e r r e i c h s V o l k s k ü c h e n mit g u t e m Erfolg. In F r a n k r e i c h b e s t e h e n in Paris u n d nach M u s t e r d e r s e l b e n in d e n P r o v i n z e n g u t o r g a n i s i e r t e V o l k s k ü c h e n ( M u s t e r a n s t a l t in G r e n o b l e ) . E n g l a n d besitzt n e b e n d e n z a h l r e i c h e n Coffee Public H o u s e s V o l k s s p e i s e h ä u s e r g r o ß e n S t i l s , um d e n A r b e i t e r n n a h r h a f t e u n d p r e i s w e r t e K o s t zu bieten ( L i p t o n - H o u s e in L o n d o n ) . Krank e n k ü c h e n sind g e s o n d e r t b e h a n d e l t . ( S i e h e A b s c h n i t t XVIII.)

Berliner Volksküchenverein. D e r Verein w u r d e 1866 v o n F r a u Lina M o r g e n s t e r n ins L e b e n g e r u f e n . Er b e z w e c k t e die E r r i c h t u n g v o n V o l k s k ü c h e n als wirtschaftliche W o h l f a h r t s e i n r i c h t u n g e n o h n e allen C h a r a k t e r d e s A l m o s e n g e b e n s , u m d e n B e d ü r f t i g e n g e s u n d e , kräftige Kost

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XIV. Beschaffung g u t e r und billiger N a h r u n g .

z u m S e l b s t k o s t e n p r e i s e zu b i e t e n . Die n u n b e s t e h e n d e n n e u n V o l k s k ü c h e n d e s V e r e i n s e r h a l t e n sich alle a u s d e m e i g e n e n B e t r i e b e o h n e j e d e b e h ö r d l i c h e U n t e r s t ü t z u n g . V o n d e n Mitg l i e d e r n d e s V e r e i n s wird kein J a h r e s b e i t r a g , s o n d e r n n u r p e r s ö n l i c h e , s e l b s t l o s e Mithilfe g e f o r d e r t . F r a u e n im E h r e n a m t e leiten als freiwillige V o r s t e h e r i n n e n u n d A u f s i c h t s d a m e n die K ü c h e n . E i n e U n t e r s t ü t z u n g s k a s s e z u r S p e i s u n g A r m e r in d e n V o l k s k ü c h e n ist mit d e m V e r e i n v e r b u n d e n .

Volkskaffeehallen. Albrecht, Soziale Wohlfahrtspflege. — Dr. Blum, Volks- u. Krankenküchen (siehe oben). — Geschäftsbericht der Volks- und Speisehallengesellschaft. Berlin 1895. Als b e s o n d e r s wertvoll hat sich die E r r i c h t u n g v o n V o l k s kaffeehallen e r w i e s e n , die d e n g a n z e n T a g g e ö f f n e t s i n d u n d Erholungs- und Erfrischungsräume für das minderbemittelte Volk d a r s t e l l e n . Sie v e r f o l g e n in d e r H a u p t s a c h e d a s Ziel, d u r c h L i e f e r u n g billiger u n d g e s u n d e r E r f r i s c h u n g e n d e m A l k o h o l i s m u s e n t g e g e n z u a r b e i t e n . D a die H a l l e n , wie b e r e i t s b e m e r k t , v o n f r ü h m o r g e n s bis a b e n d s g e ö f f n e t s i n d , k ö n n e n sie a u c h t a t s ä c h l i c h viel z u r E r r e i c h u n g d i e s e s Zieles b e i t r a g e n ; d e n n in d e n f r ü h e n M o r g e n s t u n d e n , in w e l c h e n sich ein g r o ß e r Teil d e s S t r a ß e n v e r k e h r s g e r a d e d e r A r b e i t e r b e v ö l k e r u n g a b s p i e l t , k a n n d u r c h die G e w ä h r u n g e i n e r p r e i s w e r t e n g e s u n d e n S t ä r k u n g viel g e n u t z t u n d d e m B e s u c h d e r S c h n a p s b u d e n u n d W i r t s h ä u s e r in w i r k s a m e r W e i s e g e s t e u e r t w e r d e n . Die E r r i c h t u n g d e r V o l k s k a f f e e h a l l e n e r f o l g t e , wie die d e r V o l k s k ü c h e n , g r ö ß t e n t e i l s d u r c h g e m e i n n ü t z i g e V e r e i n e , oft M ä ß i g k e i t s v e r e i n e , so z. B. die s i e b e n Volks-Kaffee- u n d S p e i s e hallen d e s B r e m e r M ä ß i g k e i t s v e r e i n s ; d e r D e u t s c h e Verein g e g e n M i ß b r a u c h g e i s t i g e r G e t r ä n k e hat sich die G r ü n d u n g s o l c h e r bes o n d e r s z u r A u f g a b e g e m a c h t . Auf d e r O r g a n i s a t i o n s f o r m der Aktiengesellschaft beruhen d e r V e r e i n f ü r V o l k s k a f f e e h a l l e n in H a m b u r g , d e r 15 Hallen im Betrieb hat, w e l c h e f ü r R e c h n u n g d e s H a m b u r g e r S t a a t e s e r b a u t sind u n d f ü r die v o m Verein Miete g e z a h l t wird, u n d die V o l k s - K a f f e e - u n d S p e i s e h a l l e n g e s e l l s c h a f t i n B e r l i n (Mitglieder m ü s s e n e i n e n o d e r m e h r e r e A n t e i l s c h e i n e in H ö h e v o n M. 1000 e r w e r b e n ; a u s d e m erzielten R e i n g e w i n n entfällt hierauf e i n e D i v i d e n d e von

XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung.

157

h ö c h s t e n s 4 0 /o, während der R e s t zur E r w e i t e r u n g des U n t e r n e h m e n s verwandt wird). In Frankfurt und G e e s t e m ü n d e b e t r e i b e n G e n o s s e n s c h a f t e n mit b e s c h r ä n k t e r Haftung die V o l k s K a f f e e - und Speisehallen.

Volks-Kaffee- und Speisehallengesellschaft in Berlin. Als B e i s p i e l e gut e i n g e r i c h t e t e r Volkskaffeehallen k ö n n e n die stark frequentierten drei Hallen der B e r l i n e r G e s e l l s c h a f t d i e n e n . D i e s e l b e n sind von m o r g e n s 6 Uhr bis a b e n d s 9 U h r geöffnet. Das hauptsächlich dort v e r a b r e i c h t e G e t r ä n k ist Kaffee, die T a s s e mit Milch und Z u c k e r für 5 Pf. Mit E r f o l g ist auch K a k a o als G e t r ä n k eingeführt. V o n S p i r i t u o s e n wird nur B i e r v e r a b r e i c h t . Mittags von l P / a bis 2 1 / « Uhr verabreicht der V e r e i n Mittagessen ( S u p p e , F l e i s c h und G e m ü s e ) , die g r o ß e P o r t i o n zu 3 0 Pf., die kleine zu 20 P f . ; a b e n d s gibt e s v e r s c h i e d e n e warme G e r i c h t e im Preise von 10 bis 25 Pf.

Die Kochkiste. Volkswohl Kochkiste.

4. Juni 1903. — Kochbüchlein für die Benutzung der Herausg. vom Bad. Frauenverein. Karlsruhe, Müller.

Die K o c h k i s t e ist eine von S c h w e d e n s t a m m e n d e Einricht u n g , die sich dort in A r b e i t e r k r e i s e n und anderen kleinen H a u s h a l t e n , wo die Frau sich nicht s t u n d e n l a n g der K ü c h e widmen kann, s c h o n g a n z e i n g e b ü r g e r t hat. A u c h in D e u t s c h land hat sie ihrer g r o ß e n p r a k t i s c h e n Vorteile w e g e n Aufs e h e n erregt und N a c h a h m u n g g e f u n d e n . Die K o c h k i s t e ist mit einer dicken S c h i c h t Heu, Holzwolle o d e r s o n s t i g e n s c h l e c h ten Wärmeleitern ausgefüllt, welche nur Platz für die hineinzustellenden Töpfe läßt. Die G e r i c h t e werden bei B e n u t z u n g der Kiste wie sonst auf dem H e r d e v o r g e k o c h t , dann j e d o c h in die Kiste g e s e t z t , wo sich o h n e alles Zutun innerhalb einiger Stunden das G a r k o c h e n vollzieht. Die K o c h k i s t e verdient immer m e h r E i n g a n g zu finden, denn n e b e n der E r s p a r n i s an Heizmaterial und Z e i t , da alle Nachfeuerung, wie alle Aufsicht überflüssig sind, kann sie auch viel zu einer b e s s e r e n E r n ä h r u n g der a r b e i t e n d e n B e v ö l k e r u n g beitragen, da sie gestattet, S p e i s e n zu wählen, die s o n s t in d e r k n a p p e n , den erwerbenden F r a u e n zur V e r f ü g u n g s t e h e n d e n Zeit nicht herzustellen möglich wären.

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X I V . B e s c h a f f u n g g u t e r und billiger N a h r u n g .

Speisentransport. Albrecht, H a n d b u c h der s o z i a l e n Wohlfahrtspflege. — Wohlfahrtsp f l e g e in den P r o v i n z e n Rheinland, W e s t f a l e n etc. — Dr. Blum, V o l k s - und K r a n k e n k ü c h e n (siehe oben). E i n e w e i t e r e E i n r i c h t u n g , eine h y g i e n i s c h e E r n ä h r u n g d e r arbeitenden K l a s s e zu sichern, bilden d i e , sich n e u e r d i n g s bes o n d e r s in d e n I n d u s t r i e s t ä d t e n d e r R h e i n p r o v i n z e i n f ü h r e n d e n S p e i s e t r a n s p o r t w a g e n . D i e s e l b e n s i n d mit H e i z v o r r i c h t u n g v e r s e h e n u n d d i e n e n z u r H e r b e i s c h a f f u n g d e s M i t t a g e s s e n s für d i e j e n i g e n A r b e i t e r , die in d e r M i t t a g s p a u s e nicht n a c h H a u s e gehen können. Die zu H a u s e zubereiteten Speisen werden von d e n T r a n s p o r t w a g e n in d e n e i n z e l n e n H a u s h a l t u n g e n a b g e h o l t u n d m ö g l i c h s t s c h n e l l an ihren B e s t i m m u n g s o r t g e b r a c h t . Um die zweckmäßige Konstruktion und Verbreitung dieser Wagen hat s i c h b e s o n d e r s die F i r m a B r ü c k m a n n & C o . in D ü s s e l d o r f v e r d i e n t g e m a c h t . D i e G r o ß i n d u s t r i e l l e n , die für ihre A r b e i t e r s o l c h e S p e i s e t r a n s p o r t w a g e n in G e b r a u c h h a b e n , stellen die Benutzung derselben entweder kostenfrei oder g e g e n Erhebung einer kleinen G e b ü h r z u r V e r f ü g u n g . Z u e r w ä h n e n ist hier a u c h d e r S p e i s e t r a n s p o r t d e r öffentlichen K r a n k e n k ü c h e in Berlin. D i e S p e i s e n w e r d e n v o n d e r s e l b e n mittels D r e i r a d w a g e n in T h e r m o p h o r g e f ä ß e n w a r m ins H a u s geliefert. A u c h die K o c h k i s t e , die, mit H a n d h a b e n v e r s e h e n , b e q u e m z u t r a g e n ist, ist für die Ü b e r b r i n g u n g d e r S p e i s e n in w a r m e m und frischem Zustande zur Arbeitsstelle von großer Bedeutung.

Genossenschaftswesen. Workmens Coopérative Societies. Sociétés coopératives. Allgemeine

Entwicklung.

P r o b s t , Die Grundlehren der d e u t s c h e n G e n o s s e n s c h a f t e n . 1883/84 G e n o s s e n s c h a f t s g e s e t z 1889. — Dr. Schott, im W ö r t e r b u c h der Volkswirtschaft. — H. C r ü g e r , E r w e r b s - und W i r t s c h a f t s g e n o s s e n schaften im H a n d w ö r t e r b u c h der S t a a t s w i s s e n s c h a f t e n mit weiteren u m f a s s e n d e n L i t e r a t u r a n g a b e n . (2) 3. B a n d . — Blätter für G e n o s s e n s c h a f t s w e s e n . Berlin, J. G u t t e n t a g . — A b s t r a c t of L a b o u r S t a t i s t i c s . 1901 bis 1902. L o n d o n 1903. D e r h e u t i g e S p r a c h g e b r a u c h in D e u t s c h l a n d v e r s t e h t unter G e n o s s e n s c h a f t e n s c h l e c h t h i n g e w ö h n l i c h die E r w e r b s - u n d

XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung.

159

Wirtschaftsgenossenschaften. Die E r w e r b s - und WirtschaftsG e n o s s e n s c h a f t e n zerfallen in Konsumvereine, R o h s t o f f g e n o s s e n schaften, Vorschußvereine, Bauvereine u n d in P r o d u k t i v g e n o s s e n schaften. Durch Vereinigung vieler kleiner Kräfte will die G e n o s s e n s c h a f t z u s t a n d e b r i n g e n , was der einzelne, b e s o n d e r s der wirtschaftlich S c h w ä c h e r e nicht zu erreichen in der Lage ist. Der U r s p r u n g der g e n o s s e n s c h a f t l i c h e n B e w e g u n g ist in England zu s u c h e n , wo schon im letzten Drittel des 18. Jahrh u n d e r t s Vereine z u m gemeinschaftlichen Betrieb von Kramläden g e g r ü n d e t wurden. Eine a n d e r e sozialistische Form k n ü p f t e an die B e s t r e b u n g e n O w e n s an. Der A u s g a n g s p u n k t für die N e u e r s t a r k u n g der G e n o s s e n s c h a f t e n u n d i n s b e s o n d e r e der Konsumvereine war Rochdale, wo ein Konsumverein armer Flanellweber, die „redlichen P i o n i e r e " , den Reingewinn nach einem neuen Prinzip, nämlich nach den E i n k ä u f e n , nicht nach den Geschäftsanteilen zu verteilen beschloß. Dieser Geschäftsg r u n d s a t z fesselt die Käufer an den Konsumverein und wird nun mit wenigen A u s n a h m e n befolgt. An die verteilende Tätigkeit schloß sich bald die produktive an. Ein scharfer G e g e n s a t z b e s t e h t hinsichtlich der Frage der Verteilung des Ü b e r s c h u s s e s der von den K o n s u m v e r e i n e n gebildeten P r o d u k t i v g e n o s s e n schaften. Einerseits verlangt man Gewinnbeteiligung der Arbeiter der l e t z t e r e n , anderseits reklamiert man den Gesamtgewinn für die K o n s u m e n t e n . Die h ö c h s t e Vollendung finden die Konsumvereine in den in E n g l a n d sehr entwickelten Großeinkaufsgenossenschaften. Im Jahre 1901 zählten die 1552 Konsumvereine einschließlich der drei Großeinkaufsg e n o s s e n s c h a f t e n 1,8 Millionen Mitglieder, M. 559 Millionen eingezahltes und geliehenes Kapital, M. 40 Millionen Reservefonds. Bei einer H ö h e der Verkäufe von M. 1528 Millionen b e t r u g der Nettogewinn M. 174 Millionen. Die P r o d u k t i v g e n o s s e n schaften hatten weitere M. 30 Millionen Kapital. Insgesamt waren 87 952 P e r s o n e n beschäftigt. Auf eine längere Periode sieht auch das französische Gen o s s e n s c h a f t s w e s e n z u r ü c k . Hauptsächlich h a b e n sich dort die P r o d u k t i v g e n o s s e n s c h a f t e n entwickelt, doch war deren Tätigkeit starken S c h w a n k u n g e n unterworfen.

160

XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung.

Entwicklung der Genossenschaften in Deutschland. Jahrbuch der Erwerbs- und W i r t s c h a f t s g e n o s s e n s c h a f t im Deutschen Reich für 1904. H e r a u s g e g e b e n von der preußischen Zentralg e n o s s e n s c h a f t s k a s s e . Berlin 1904. In D e u t s c h l a n d b r a c h t e n a c h u n b e d e u t e n d e n V o r g ä n g e r n H e r m a n n S c h u l z e a u s D e l i t z s c h Plan u n d Ziel in die G e n o s s e n schaftsbewegung. Er g r ü n d e t e im H e r b s t e 1849 in D e l i t z s c h d e n e r s t e n R o h s t o f f v e r e i n v o n T i s c h l e r n , gleich darauf einen s o l c h e n von S c h u h m a c h e r n . D a s g u t e G e d e i h e n b e i d e r v e r a n laßte eine Reihe ä h n l i c h e r G r ü n d u n g e n in b e n a c h b a r t e n S t ä d t e n , die wie die S c h u l z e s c h e n auf der u n b e s c h r ä n k t e n solidaren Haftbarkeit ihrer Mitglieder b a s i e r t e n . D a s g e n o s s e n s c h a f t l i c h e P r i n z i p w u r d e s o d a n n v o n Dr. B e r n h a r d i in E i l e n b u r g bei d e m d o r t i g e n K r e d i t v e r e i n mit g l ä n z e n d e m Resultat z u r A n w e n d u n g g e b r a c h t u n d die v o n S c h u l z e als Volksbanken bezeichneten Vorschuß- und Kreditvereine überflügelten in r a s c h e r E n t w i c k l u n g gar bald die R o h s t o f f v e r e i n e , mit w e l c h e n die G e n o s s e n s c h a f t s b e w e g u n g e i n g e s e t z t hatte. A u c h im H a n d w e r k h a b e n sich die P r o d u k t i v g e n o s s e n s c h a f t e n nicht r e c h t e i n l e b e n k ö n n e n , d a g e g e n hat sich ein a n d e r e r Z w e i g d e s G e n o s s e n s c h a f t s w e s e n s , d e r K o n s u m v e r e i n , u m so kräftiger entwickelt. Eine s e h r s t a r k e E n t w i c k l u n g hat d a s G e n o s s e n s c h a f t s w e s e n , i n s b e s o n d e r e die D a r l e h e n s k a s s e n v e r e i n e , in der L a n d w i r t s c h a f t g e n o m m e n . Die g e s e t z l i c h e R e g e l u n g d e s Gen o s s e n s c h a f t s w e s e n s erfolgte z u e r s t 1867 d u r c h d a s p r e u ß i s c h e G e n o s s e n s c h a f t s g e s e t z , d a s 1871 bis 1873 auf d a s g a n z e Reich a u s g e d e h n t w u r d e . D a s n e u e G e n o s s e n s c h a f t s g e s e t z v o n 1889 ließ eine w e s e n t l i c h e E r w e i t e r u n g der B e w e g u n g d u r c h die Erm ö g l i c h u n g der E i n f ü h r u n g der b e s c h r ä n k t e n Haftpflicht zu.

Allgemeiner Verband deutscher Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. Z u m A u s t a u s c h der in den G e n o s s e n s c h a f t e n g e m a c h t e n E r f a h r u n g e n fand 1859 in W e i m a r der e r s t e V e r e i n s t a g der d e u t s c h e n V o r s c h u ß v e r e i n e statt. D e r s e l b e b e s c h l o ß die S c h a f f u n g eines Z e n t r a l b u r e a u s f ü r die V o r s c h u ß v e r e i n e , d a s s e i n e Tätigkeit a b e r bald ü b e r die a n d e r e n G e n o s s e n s c h a f t e n e r s t r e c k t e u n d 1864 zu d e m A l l g e m e i n e n V e r b a n d d e u t s c h e r E r w e r b s u n d W i r t s c h a f t s g e n o s s e n s c h a f t e n ausgebaut wurde.

XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung.

161

D e r V e r b a n d veröffentlicht einen s e h r umfangreichen, statistisch vortrefflich

eingerichteten

Jahresbericht.

Ferner bestehen

noch

zahlreiche U n t e r v e r b ä n d e , die teils alle Örtlichen oder provinzialen G e n o s s e n s c h a f t e n z u s a m m e n s c h l i e ß e n , teils für gleichartige G e n o s s e n s c h a f t e n errichtet sind. Konsumvereinen

führte

D e r A u s s c h l u ß einer Anzahl von

1902 zur B i l d u n g

eines

eigenen

Ver-

b a n d e s für diese, des Z e n t r a l v e r b a n d e s d e u t s c h e r K o n s u m v e r e i n e .

Konsumvereine. Dr. R. Riehn, Das Konsumvereinswesen in Deutschland, seine volkswirtschaftliche und soziale Bedeutung. Stuttgart, Cotta. 1902. — H. Crüger, „Konsumvereine" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. (2) 5. Band. — Oppermann und Haintschke, Handbuch für Konsumvereine. (2) Berlin 1899. — Dr. Fr. Schneider, Taschenbuch für Konsumvereine. Leipzig 1883. — Jahrbuch des Zentralverbands deutscher Konsumvereine. Hamburg 1903. D e r K o n s u m v e r e i n macht dem einzelnen Mitglied die Vorteile des G r o ß b e z u g s durch den gemeinschaftlichen Einkauf von Lebensselben

und Wirtschaftsbedürfnissen im kleinen

zugänglich.

und

durch Verkauf

der-

Die Vorteile des g e m e i n s a m e n

B e t r i e b s k o m m e n den Mitgliedern

z u g u t e : entweder durch den

billigen Verkaufspreis

oder in D i v i d e n d e n ,

bei V e r k a u f s p r e i s e n , decken,

der W a r e n die

den Mitgliedern

U m s a t z bezahlt werden. vereine

bilden

sich

mit den

am S c h l ü s s e des J a h r e s j e nach dem E i n e b e s o n d e r e Gruppe der K o n s u m -

die B e a m t e n - K o n s u m v e r e i n e ,

die

sich

B e a m t e n s t a n d oder einzelne Kategorien d e s s e l b e n Bei

den

welche

s o n s t üblichen P r e i s e n

auf den

beschränken.

eigentlichen K o n s u m v e r e i n e n wird das Betriebskapital

aufgebracht

durch

Einzahlungen

auf den

Geschäftsanteil,

Zu-

weisungen aus den B e t r i e b s ü b e r s c h ü s s e n und nötigenfalls durch Aufnahme fremder Gelder.

Verkauft wird nur g e g e n bar.

Verteilung der U b e r s c h ü s s e erfolgt, wie bemerkt,

Die

in der R e g e l

nicht nach der Kapitalbeteiligung, sondern nach der W a r e n e n t nahme seitens der Mitglieder. Die e r z i e h e r i s c h e B e d e u t u n g der K o n s u m v e r e i n e ruht in der durch

das

wöhnung Bedeutung der

strikte neben

Beschaffung

und

Erfordernis

der B a r z a h l u n g

der Mitglieder zur S p a r s a m k e i t ,

Anfeindungen

der nur hat

S i n g e r . Soziale Fürsorge.

Verbilligung guter

ihre

den

Ge-

wirtschaftliche

des W a r e n b e z u g s

Warenqualitäten.

es i n d e s s e n

bedingten

An

auch

in

Vorwürfen

Konsumvereinen 11

nie

162

XIV. Beschaffung guter und billiger Nahrung.

gefehlt. I n s b e s o n d e r e ist ihnen in j ü n g s t e r Zeit auch vorgeworfen w o r d e n , daß sie heute lediglich eine Waffe in den Händen politischer Parteien bildeten. T a t s ä c h l i c h ist mit d e r w a c h s e n d e n A n t e i l n a h m e d e r a r b e i t e n d e n B e v ö l k e r u n g an den p r a k t i s c h e n Zielen der K o n s u m v e r e i n e und a n g e s i c h t s der industriellen Z u s a m m e n s e t z u n g der B e v ö l k e r u n g in einzelnen S t ä d t e n , v o r allem des K ö n i g r e i c h s S a c h s e n , e i n e R e i h e von K o n s u m vereinen in die Hände der S o z i a l d e m o k r a t e n ü b e r g e g a n g e n . B e i einer weitsichtigeren Auffassung kann a b e r diese Entwicklung, die Mitwirkung der S o z i a l d e m o k r a t i e bei einem, der wirtschaftlichen V e r b e s s e r u n g ihrer Mitglieder dienenden U n t e r n e h m e n nur willkommen sein, sofern auch auf die übrigen Mitglieder R ü c k s i c h t g e n o m m e n wird. E i n e n natürlichen G e g n e r h a b e n die K o n s u m v e r e i n e in den Z w i s c h e n h ä n d l e r n . Die M e n g e der kleinen G e s c h ä f t e , die in vielfach g a n z unwirtschaftlicher W e i s e g e g r ü n d e t werden, findet in den K o n s u m v e r e i n e n eine s c h a r f e K o n k u r r e n z . D u r c h die angeblich zum S c h u t z des Mittelstandes a u s g e h e n d e Agitation wurde 1896 die Novelle zum G e n o s s e n s c h a f t s g e s e t z v e r a n l a ß t , w e l c h e den Verkauf an Nichtmitglieder mit Strafe bedroht und n o c h einige g e g e n die K o n s u m v e r e i n e g e r i c h t e t e B e s t i m m u n g e n enthält. In der P r a x i s erzielten d i e s e B e s t i m m u n g e n freilich teilweise das G e g e n t e i l des b e a b s i c h t i g t e n E r f o l g e s ; sie h a b e n , wie s c h o n früher die L a s s a l l e s c h e G e g e n a g i t a t i o n , den K o n s u m v e r e i n e n nur e r h ö h t e Teilnahme z u g e w e n d e t . In D e u t s c h l a n d sind die K o n s u m v e r e i n e nun zum Teil dazu ü b e r g e g a n g e n , durch e i g e n e F a b r i k a t i o n , wie z. B . B ä c k e reien, ihren B e t r i e b zu erweitern. D i e z e h n größten d e u t s c h e n K o n s u m v e r e i n e zählten 1902 z u s a m m e n 2 3 0 0 0 0 Mitglieder. V o n d e n s e l b e n ist i n s b e s o n d e r e der B r e s l a u e r K o n s u m v e r e i n b e d e u t e n d , der allein 7 8 6 0 0 Mitg l i e d e r zählt und einen U m s a t z von M. 14 Millionen hatte.

Grofseinkaufsgenossenschaften. Soziale P r a x i s 1903. D i e G r o ß e i n k a u f s g e n o s s e n s c h a f t e n sind bereits bei der allg e m e i n e n B e s p r e c h u n g des G e n o s s e n s c h a f t s w e s e n s kurz berührt. F ü r D e u t s c h l a n d ist b e s o n d e r s die Großeinkaufsgesells c h a f t d e u t s c h e r K o n s u m v e r e i n e in H a m b u r g zu n e n n e n , die im J a h r e 1894 mit verhältnismäßig kleinen Anfängen g e -

X V . Förderung der geistigen und körperlichen Ausbildung etc.

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g r ü n d e t wurde und sich seitdem zu einer der bedeutendsten wirtschaftlichen Unternehmungen Deutschlands entwickelt hat. D a s Stammkapital betrug im Gründungsjahre M. 3 4 5 0 0 und der U m s a t z M. 5 4 0 0 0 0 . Im Jahre 1902 war der letztere auf M. 2 1 5 6 8 0 0 0 g e s t i e g e n , das eigene Betriebskapital betrug M. 3 0 0 0 0 0 , das g e liehene M. 2 9 7 0 0 0 , die Reserven M. 5 0 1 5 5 . Der Gesellschaft g e h ö r t e n 2 4 7 Vereine an, außerdem stand sie mit 8 3 0 Vereinen in Geschäftsverbindung, so daß die Geschäftstätigkeit 1077 d e u t s c h e Konsumvereine umfaßt. Im ersten Vierteljahr 1903 bezifferte sich der Umsatz auf M. 5 4 6 0 4 4 2 .

Anhang: Genossenschaftsstatistik. Am 1. Januar 1904 waren in Deutschland insgesamt 3 2 0 8 3 2 4 Genossenschafter in 2 2 1 3 1 Genossenschaften vereinigt. Davon treffen : auf Kreditgenossenschaften Mitglieder 1818624 „ Konsumvereine „ 818915 „ Landwirtsch. Produktivgenossensch. „ 208031 „ „ Rohstoffgenossensch. . „ 123809 „ Wohnungsgenossenschaften . . . „ 111652 Außerdem bestehen noch zahlreiche Zentralgenossenschaften, so 5 9 Zentralkreditgenossenschaften usf.

XV. Förderung der geistigen und körperlichen Ausbildung, edler Geselligkeit. Volksbildungsbestrebungen. Bildungsvereine. Ausschuß für Volksvorlesungen in Frankfurt a. M. Volksbibliotheken, Free libraries. Lesehallen. Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung. Veranstaltung von Vorträgen. Volkshochschulkurse. University Extension.

Volkskonzerte, Theateraufführungen. Museumsbesuche, Volksmuseen. Toynbee-Hall, Cambridge-House. Volksheime. Volks- und Jugendspiele. Schrebergärten, Arbeitergärten, Ligue française du Coin de Terre et du Foyer. Volksparks. Heidepark Dresden. Heidefahrten.

Volksbildungsbestrebungen.

Bildungsvereine.

Prof. Dr. Mannheimer (Frankfurt a. M.), Die Bildungsfrage als soziales Problem. Jena 1901. — Andrew Carnegie, Wealth and the 11»

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XV. Förderung der geistigen und körperlichen Ausbildung etc.

Best Fields of Philanthropy. — Die Erziehung des Volkes auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft. Verhandlungen der 9. Konferenz der Z.-St. f. A.-W.-E. 23. u. 24. April 1900. Schriften Nr. 18. (Siehe Lit. bei einzelnen Stichworten.) — Dr. N. Brückner, ö f f e n t liche und private Fürsorge. 2. Heft, S. 138 ff. — Die geistige Bildung des Arbeiterstandes. Soziale Tagesfragen 28. Heft. H e r a u s g e g e b e n v. Volksverein f. d. kath. Deutschland; enthält Literaturangaben S. 43 ff. — Biermer, „Volksbildunesvereine" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. (2) 7. Bd. Mit Literaturangaben. — J.Tews, Deutsche Volksbildungsvereine in Reins Enzyklopädischem Handbuch der Pädagogik. Langensalza 1899. Mit Literaturangaben. — Ed. Reyer, Handbuch des Volksbildungswesens. Stuttgart 1896. — Zentralblatt für Volksbildungswesen. Herausgegeben von Dr. Lampa. Leipzig. — Comeniusblätter. — Der Volkserzieher. Die in der Volksschule e r w o r b e n e n E l e m e n t a r k e n n t n i s s e , die o h n e W e i t e r ü b u n g o h n e d i e s in wenigen J a h r e n vielfach v e r g e s s e n sind, k ö n n e n nicht die Allgemeinbildung verleihen, welche ein auf der H ö h e der heutigen Kultur u n d Volkswirtschaft s t e h e n d e s Volk besitzen soll. H ö h e r e Bildung übt auf d e n Menschen v e r e d e l n d e n Einfluß aus, sie f ü h r t aber auch zu g r ö ß e r e r wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit im Konkurrenzkampf mit anderen Völkern und damit zu h ö h e r e m Volkswohlstand. So wies b e s o n d e r s H u m b o l d t in der Einleitung zum K o s m o s d e n Nutzen einer vertieften Bildung für die politische u n d die wirtschaftliche Machtstellung eijies Volkes mit unwiderleglichen Worten nach. (Vgl. M a n n h e i m e r a. a. 0 . S. 108.) Selbst die F o r t b i l d u n g s s c h u l e n v e r m ö g e n d e n breitesten Volksschichten die heute erforderliche Allgemeinbildung nicht zu vermitteln; d e n n sie erstrecken sich nur auf wenige J a h r e und können, selbst wenn sie, wie in einigen d e u t s c h e n Staaten, obligatorisch s i n d , nicht die g e s a m t e , zu einem g r o ß e n Teil später z u w a n d e r n d e A r b e i t e r b e v ö l k e r u n g u m f a s s e n . Von der Erkenntnis der Notwendigkeit einer h ö h e r e n Volksbildung als einer der wichtigsten sozialen A u f g a b e n durchd r u n g e n , h a b e n sich zahlreiche Vereinigungen gebildet, die durch Errichtung u n d U n t e r s t ü t z u n g von Volksbibliotheken und öffentlichen Lesehallen, durch Veranstaltung von V o r t r ä g e n u n d Volksu n t e r h a l t u n g s a b e n d e n , durch F ü h r u n g in Museen etc. d e n unteren Volksklassen Bildung in leicht faßlicher Weise vermitteln wollen. Von den vielen H u n d e r t e n in D e u t s c h l a n d b e s t e h e n d e n Vereinen, welche für derartige Z w e c k e wirken, w u r d e n einige h e u t e noch b l ü h e n d e H a n d w e r k e r - und A r b e i t e r b i l d u n g s v e r e i n e

X V . Förderung der geistigen und körperlichen Ausbildung etc.

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bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet (Berliner Handwerkerverein 1844, Hamburger Bildungsverein 1845). Als Zentralstelle für Volksbildungsbestrebungen zu betrachten ist die 3163 Körperschaften umfassende Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung mit dem Sitz in Berlin, welche nachfolgend gesondert erörtert ist. Von prinzipieller Bedeutung f ü r die Entwicklung der Bestrebungen ist der Ausschuß für Volksvorlesungen in Frankfurt a. M. (siehe unten). Als hervorragende Bildungsvereine sind ferner u. a. zu nennen der 1871 entstandene Münchener Volksbildungsverein, die 1874 entstand e n e n Düsseldorfer und Dresdener Volksbildungsvereine, die Humboldt-Akademie in Berlin (1878), die verschiedenen HumboldtVereine, von welchen der bedeutendste in Breslau ist, die GeheStiftung in Dresden, die Gesellschaft für ethische Kultur in Berlin, die Comenius-Stiftung mit dem Sitz in Berlin. Bei einer Reihe von Vereinen mit allgemeinen Zwecken, wie dem Verein Volkswohl in Dresden, nehmen die Bildungsbestrebungen einen bedeutenden Raum ein. Die staatlichen Einrichtungen, Museen, Theater usf. bemühen sich in wachsendem Maße, ihre sonst vielfach nur den wohlhabenderen oder über reichere Zeit verfügenden Klassen offenstehenden Darbietungen durch besondere Veranstaltungen speziell •den Arbeiterkreisen zugänglich zu machen. Auch die Lehrer an Hochschulen sind bestrebt, ihre Kräfte in Volkshochschulkursen der Bildung der weitesten Kreise zu widmen. Die Förderung der Selbstbildung durch Schaffung von Volksbibliotheken und Volkslesehallen wird in steigendem Maße durch Zuwendung größerer Geldmittel unterstützt, und hier sind es insbesondere große Stiftungen, die in segensreichster Weise wirken.

Ausschufs für Volksvorlesungen in Frankfurt a. M. Prof. Dr. Mannheimer, Die Bildungsfrage etc.

(Siehe oben.)

Der von Stadtrat Dr. Flesch und dem Chemiker S. Opificius gegründete Ausschuß nahm seinen Ausgangspunkt von den Einrichtungen des Freien Deutschen Hochstifts und des Frankfurter gewerblichen Schiedsgerichtes. Die Vertiefung des immer weitere Kreise umfassenden Bildungsbedürfnisses sollte in Zukunft durch äußere Verhältnisse keine Einschränkung mehr erleiden ; auf jede unmittelbar ethische und pädagogische Tendenz

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XV. Förderung der geistigen und körperlichen Ausbildung e t c .

sollte Verzicht geleistet werden. Ferner, und dies scheint das wichtigste, sollten nicht von oben herab für die Unbemittelten,, sondern in gemeinsamer Arbeit von Gelehrten mit den durch ihre politische oder sonstige Tätigkeit als Vertrauensmänner d e r Arbeiter anerkannten Männern, mit Mitgliedern des S c h i e d s gerichts, der Ortskrankenkasse, der gewerkschaftlichen Vereine ebenso wie mit Führern der Zünftler, mit Mitgliedern der verschiedensten politischen Parteien und mit Männern der verschiedenartigsten sozialen L e b e n s l a g e die Bestrebungen g e fördert werden. B e s o n d e r s hervorzuheben ist die Tatsache, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer aller Parteien, die in g e w e r b lichen Schiedsgerichten zu gemeinsamem Wirken vereint waren, durch Vermittlung des Vorsitzenden sich mit einer Anzahl G e lehrten in Verbindung setzten, um eine Organisation zu schaffen,, die Bildungszwecke verfolgte. Die Schwierigkeit lag nicht in der Auffindung geeigneter Gelehrten für die abzuhaltenden Vorträge, sondern in dem Versuch, alle Richtungen unseres öffentlichen L e b e n s zu gemeinsamer Arbeit in einer neuen O r ganisation zu vereinigen. In der Tat erhielt hier ein G r u n d gedanke echt sozialer Ethik seinen Ausdruck, der G e d a n k e einer gemeinschaftlichen Willensbetätigung. Die Plenarversammlung des „ A u s s c h u s s e s " besteht aus den Vertretern von O r g a nisationen und V e r e i n e n , Gelehrten und sonstigen Förderern der Volksbildung. Sie hält regelmäßig jeden Monat eine S i t z u n g ; die unmittelbare Leitung der Vereinsarbeiten obliegt einer K o m mission, die seit 1900 aus 15 Mitgliedern besteht, und zwar in der Weise, daß darin die Arbeiter um ein Mitglied stärker vertreten sind als die anderen Angehörigen der Plenarversammlung. In rascher Folge schritt der Ausschuß von der Abhaltung von Vorlesungen zu Bemühungen über, die sich als Erschließung des gesamten Kulturgebietes für die unbemittelten Volksschichten zusammenfassen lassen. Das Theater, die Museen, die bildenden Künste, die Musik in engste Berührung zu bringen, erfaßte er bald als seine Hauptaufgabe neben der Abhaltung von Einzelvorlesungen und den später errichteten Lehrgängen. S e h r bald schlössen sich dem A u s s c h u ß als Rhein-Mainischer Verband für Volksvorlesungen und verwandte Bestrebungen a n d e r e , teils schon von früher b e s t e h e n d e , teils von dem Frankfurter Ausschuß selbst oder nach seinem Vorbild begründete Organisationen an.

XV. F ö r d e r u n g der geistigen und körperlichen Ausbildung etc.

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D e r A u s s c h u ß e r s t r e b t also nicht u n m i t t e l b a r p ä d a g o g i s c h e Ziele, s o n d e r n s e t z t sich eine sozialpolitische A u f g a b e , die sich k u r z als A n t e i l n a h m e d e r u n b e m i t t e l t e n V o l k s k l a s s e n an a l l e n g e i s t i g e n K u l t u r g ü t e r n b e z e i c h n e n läßt. Die f ü r d e n A u s s c h u ß m a ß g e b e n d e n G e s i c h t s p u n k t e s i n d : 1. A u s d e h n u n g der Arbeit auf alle Bildungsgebiete (Wissenschaft, Kunst, Theater, Musik) und auf j e d e Art der wissenschaftlichen und künstlerischen B e t ä t i g u n g (Volksvorlesungen, Lehrkurse, Volksvorstellungen, F ü h r u n g e n durch M u s e e n , Volkskonzerte, Volkschöre). 2. H e r a n z i e h u n g der beteiligten Volksklassen, insoweit dieselben organisiert sind, zur Mitarbeit bei der Organisation und Beaufsichtigung der Veranstaltungen. 3. Alle Vorträge, die gehalten werden, müssen, ohne daß es auf den Beruf oder die politischen A n s c h a u u n g e n des Redners a n k o m m t , in der H a u p t s a c h e diejenigen Lehren der einzelnen Wissenschaften b e h a n d e l n , welche derzeit als gesichertes, dem Streit der Meinungen nicht mehr unterworfenes Gebiet gelten können, und durch Klarheit und Übersichtlichkeit dem Verständnis der Hörer a n g e p a ß t sein. 4. Die V o r t r a g e n d e n müssen es also vermeiden, auf die politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Ansichten der Hörer, welcher Partei dieselben auch angehören, einwirken zu wollen und völlige Neutralität g e g e n j e d e Richtung bewahren.

Volksbibliotheken.

Free Libraries.

Volksbibliotheken und Lesehallen, Bericht über das Ergebnis einer R u n d f r a g e bei vierzig deutschen Städten. (Statistisches Amt der Stadt D o r t m u n d . 1899.) — J. Tews, „Volksbibliotheken" in Reins Enzyklopädischem H a n d b u c h der P ä d a g o g i k . Langensalza 1899. D a s w i c h t i g s t e Mittel, die V o l k s b i l d u n g zu h e b e n , ist, d u r c h Bereithaltung guter, unentgeltlicher Lektüre den minderbemittelt e n Klassen die Möglichkeit z u r S e l b s t b i l d u n g an die H a n d zu g e b e n . Die m e i s t e n u n d r e i c h h a l t i g s t e n V o l k s b i b l i o t h e k e n , die fast s t e t s mit s c h ö n e n , b e q u e m e n L e s e r ä u m e n v e r b u n d e n sind, b e s i t z e n A m e r i k a u n d E n g l a n d . C a r n e g i e legt in s e i n e r kleinen Schrift „Wealth a n d t h e B e s t Fields of P h i l a n t h r o p y " seine A n sichten, d e n e n G l a d s t o n e n a c h d r ü c k l i c h z u s t i m m t , wie folgt d a r : An e r s t e r Stelle g r ü n d e o d e r e r r i c h t e eine Universität, u n d an z w e i t e r Stelle g r ü n d e f r e i e B i b l i o t h e k e n . Dieser Aufg a b e hat sich C a r n e g i e s e l b s t mit a u ß e r o r d e n t l i c h e r E n e r g i e hingegeben. E s wird mitgeteilt, d a ß er bis z u m J a h r e 1904 1000 B i b l i o t h e k e n g e g r ü n d e t u n d hiefür, wie f ü r s o n s t i g e h u m a n i täre Z w e c k e , 475 Millionen Mark a u f g e w e n d e t hat. In E n g l a n d hat d a s B i b l i o t h e k s g e s e t z von 1850, d a s d e n S t ä d t e n mit ü b e r

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XV. F ö r d e r u n g der geistigen und körperlichen A u s b i l d u n g etc

5000 E i n w o h n e r n g e s t a t t e t , eine B i b l i o t h e k s t e u e r zu e r h e b e n , d a s B i b l i o t h e k s w e s e n in ü b e r r a s c h e n d k u r z e r Zeit zu h o h e r Blüte g e b r a c h t . O b w o h l sich D e u t s c h l a n d mit d e n g r o ß a r t i g e n E i n r i c h t u n g e n d e r g e n a n n t e n S t a a t e n auf d i e s e m G e b i e t nicht m e s s e n k a n n , f i n d e n sich d o c h a u c h bei u n s die e r f r e u l i c h e n A n z e i c h e n einer l e b h a f t e n E n t w i c k l u n g d e s B i b l i o t h e k s w e s e n s . Die b e r e i t s b e s t e h e n d e n z a h l r e i c h e n öffentlichen V o l k s b i b l i o t h e k e n w e r d e n in einigen d e u t s c h e n B u n d e s s t a a t e n d u r c h Z u w e n d u n g e n der R e g i e r u n g e n unterstützt oder durch gemeindliche Beiträge subventioniert. N e u e r d i n g s hat m a n mit staatlicher U n t e r s t ü t z u n g a u c h K r e i s b i b l i o t h e k e n errichtet, die sich f ü r kleinere G e m e i n d e n s e h r b e w ä h r e n . D i e s e , in S c h r ä n k c h e n z u je 50 bis 100 B ü c h e r n u n t e r g e b r a c h t e n B i b l i o t h e k e n w e r d e n in d e n z u m Kreis g e h ö r i g e n D ö r f e r n a b w e c h s e l n d a u f g e s t e l l t ; die B ü c h e r w e r d e n u n e n t g e l t l i c h o d e r g e g e n eine kleine G e b ü h r f ü r B a n d u n d W o c h e a u s g e l i e h e n . F a s t alle in D e u t s c h l a n d b e s t e h e n d e n B i l d u n g s v e r e i n e b e teiligen sich teils d u r c h S c h a f f u n g n e u e r , teils d u r c h t a t k r ä f t i g e U n t e r s t ü t z u n g b e r e i t s b e s t e h e n d e r B i b l i o t h e k e n an d i e s e m Z w e i g der B i l d u n g s b e s t r e b u n g e n . Hier ist vor allem die G e s e l l s c h a f t f ü r V e r b r e i t u n g v o n V o l k s b i l d u n g zu n e n n e n , die H e r v o r r a g e n d e s auf d i e s e m G e b i e t e leistet. (Siehe g e s o n d e r t e B e s p r e c h u n g . ) A u c h die I n n e r e Mission u n d a n d e r e k o n f e s s i o n e l l e V e r b ä n d e gaben Anregung zur Errichtung mehrerer Volksbibliotheken. A u ß e r d e m v e r f ü g e n fast alle H a n d w e r k e r - u n d A r b e i t e r v e r e i n e s o w i e z a h l r e i c h e F a b r i k e n etc. ü b e r k l e i n e r e B i b l i o t h e k e n , u m ihren Mitgliedern u n d A n g e s t e l l t e n g u t e L e k t ü r e bieten zu k ö n n e n .

Lesehallen. U m die E i n r i c h t u n g v o n L e s e h a l l e n hat sich in D e u t s c h land b e s o n d e r s die D e u t s c h e G e s e l l s c h a f t f ü r e t h i s c h e Kultur in Berlin v e r d i e n t g e m a c h t , die s e l b s t eine Lesehalle in Berlin errichtete u n d a u c h A n r e g u n g z u r E r r i c h t u n g s o l c h e r in a n d e r e n Städten g a b . Die n u n in vielen d e u t s c h e n S t ä d t e n b e s t e h e n d e n Volkslesehallen, die meist öffentlichen B i b l i o t h e k e n a n g e g l i e d e r t sind, w e r d e n teils v o n S t a d t v e r w a l t u n g e n , teils v o n g e m e i n n ü t z i g e n V e r e i n e n u n t e r h a l t e n . A u c h einige h o c h h e r z i g e M ä n n e r e r m ö g l i c h t e n d u r c h g r o ß m ü t i g e S t i f t u n g e n die E r r i c h t u n g v o n L e s e h a l l e n , so u. a. K o m m e r z i e n r a t L i n g n e r , der in D r e s d e n

3CV. F ö r d e r u n g der geistigen und körperlichen Ausbildung etc.

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•eine g r o ß e öffentliche L e s e h a l l e b e g r ü n d e t e ; zu den M. 3 0 0 0 0 b e t r a g e n d e n K o s t e n s t e u e r t die S t a d t alljährlich M. 10000 bei. Die Lesehalle in J e n a ist in d e m v o n der Karl Z e i ß - S t i f t u n g e r b a u t e n V o l k s b i l d u n g s h a u s e u n t e r g e b r a c h t u n d wird v o n d e m L e s e h a l l e n v e r e i n in J e n a verwaltet. In d e n s e h r s c h ö n e n L e s e r ä u m e n liegen 115 Z e i t u n g e n u n d 416 Z e i t s c h r i f t e n a u f ; die Bibliothek umfaßt ca. 16 000 B ä n d e . T r o t z d e m man also B ü c h e r e i e n zu schaffen, r i c h t u n g e n n o c h lange