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German Pages 328 [356] Year 1921
Vn Meg ium
Es „ist die stille fruchtbarkeit solcher Eindrülke" „gani unschätzbar, die man genietzend, ohne rersplit-" „terndes Urteil, in sich aufnimmt. Vie JugtnÖ ist" „dieses höchsten Slülkes fähig, wenn sie nicht kritisch" „sein will, sondern das vorteilhafte und 6ute ohne" „Untersuchung und Sonderung auf sich wirken tätzt." öoethe. Äus meinem Leben. III. Gil. Schluß des elften vuches, nach befichtigung der Mannheimer Rntihnfammlung.
Her Meg )um AunflverWdnis fine Schönheitslehre nach der Anschauung des Künstlers
Von
Otto stiebt Professor an der technischen Hochschule z Dr. ing. ehr. sslagistratsbaurat
Illit 353 Abbildungen im Ort
Berlin und Leipzig J92) Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Vrupter & so. norm. 6. Z. ööschen'sche verlagshanblung - Z.öuttenlag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer Karl 3- trübner • Veit ä (omp.
Copyright 1921 by Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. in Berlin und Leipzig.
Druck -er Deretnl-un- wissenschaftlicher Verleger, Walter de Gruyter & Co., Berlin W. 10.
Vorwort Anstoß zur Niederschrift der nachstehenden Erörterungen ist mir von den Der2V hältnissen der Kunsterziehung her gekommen. Diese seinerzeit mit großer Leb
haftigkeit und mit weitgehenden Hoffnungen einsetzende Bewegung hat nicht den dringend erwünschten Fortgang genommen, ste ist vielmehr einer unleugbaren Versandung ver fallen. Der Grund dafür liegt offensichtlich darin, daß die große Mehrzahl der für Kunst erziehung Eintretende» zwar mit kunstwissenschaftlichen Gedankengängen wohl vertraut ist, aber dem, was Wölfflm die „eigentlich künstlerischen" Gesichtspunkte nennt, das ist den Anschauungen künstlerischer Kreise fremd, als wie einer unbekannten Welt gegen übersteht, zum mindesten aus ihnen nur hier und da zusammenhanglose Bruchstücke kennengelernt hat. Andererseits fehlt auf seilen der Künstlerschaft, die mit kunst wissenschaftlichen Gedanken für ihre ganz andere Auffassungsart nichts anfangen kann, die Geschlossenheit der Anschauung, die erforderlich wäre, um ihre Stellungnahme dem verbündeten Lager verständlich zu machen, ihnen den Anschein willkürlicher Zusammen hangslosigkeit zu nehmen, der chrer Verwendung als Unterlage eines erzieherischen Vorgehens entgegensiand.
Dieser Mangel einer gemeinsamen Grundlage geht so weit,
daß der unbefangene Beobachter den Eindruck eines gegenseitigen vollständigen Miß-
verstehens, eines aneinander Vorbeiredens haben muß. So ist man dazu gekommen, auch in der Praxis der Schule Kunsterziehung treiben zu wollen ohne kunsigebildete Lehrer, nach kunstwissenschaftlichen Leitlinien (vergl. meine Besprechung des Heftchens „Karl Reichhold, Architektur und Kunsterziehung", Leipzig und Berlin 1912, in der Deutschen Literatur-Zeitung 1916. S. 387). Es ist klar, daß damit ebensowenig ein großer und zur Nachfolge reizender Erfolg erzielt werden konnte,
wie ein solcher den bisherigen gleichartigen Bestrebungen in öffentlichen Votträgen usw. beschieden gewesen ist, die wohl die Lust zur Kunst verbreitet, an Verständnis für sie aber
nicht entfernt etwas erreicht haben, was mit dem gewaltigen Aufwand von Mitteln im Verhältnis stünde. Die Gründe dafür sind eigentlich nicht schwer zu erkennen. Fehlt doch ganz offenbar
wissenschaft die
allen diesen
Bestrebungen
volkstümlicher
Kunst
Grundlage eines i volkstümlichen Kunstverständnisses.
Wenn man über etwas wissenschaftlich fruchtbar nachdenken soll, so muß man dies Etwas
doch vorher kennen. Mir scheint, daß man diese Selbstverständlichkeit übersieht, wenn man dem unkünsilerisch erzogenen Laien sofort und ohne künstlerische Vorschulung Ge-ankengänge der Kunstwissenschaft vorführt.
Besserung ist dringend vonnöten; sie
Vorwort.
VI
kau» nur geschaffen werden, wenn man der Kunst zuerst nicht von dem abgeleiteten Gebiet
-er Kunstwissenschaft her beizukommen versucht, sondern sich auf ihren ureigensten Grund und Boden stellt und hier von den allgemein verständlichen Tatsachen der Wahr nehmung ausgehend die Blicke schärst für das, was ihre Wirkung ausmacht, was aber aus Mangel an geeigneter Unterweisung dem heutigen Gebildeten bisher ein unbe kanntes Gebiet geblieben ist.
Diesem Zwecke sind die nachfolgenden Ausführungen ge
widmet. Sie möchten die Ratlosigkeit beheben helfen, mit denen der kunstwillige Laie heute fast durchgängig dem Kunstwerk gegenübertritt, unsicher und ohne zu wissen, worauf er überhaupt sein Augenmerk richten soll, sie möchten dazu anleiten, in dem Buch mit sieben Siegeln, als das sich die Kunst den meisten darstellt, nicht nur zu buchstabieren, sondem mit Freude zu lesen.
Sie wollen nicht neue Theorien aufstellen, sondern schlicht
und einfach die Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen lenken, auf denen künstlerische Wirkungen beruhen. Wie wenig diese bisher bekannt sind, dürfte klar werden, wenn wir
z. B. die Frage stellen: „Wieviel Gebildete sind imstande, an einem Bauwerk die Schön heit eines reich geformten Gesimses zu genießen?" Wie vielen geht überhaupt ein Werk der bildenden Künste so selbstverständlich ein, wie etwa ein Gedicht oder eine Melodie? — Die Grundanschauungen, die nachstehend vorgeführt werden, können als Wieder gabe der in ernsten Künstlerkreisen verbreiteten Auffassungen bezeichnet werden, wurden nur hier wohl zum ersten Male gesichtet und unter einheitlichen Gesichtspunkten ge ordnet, in so manchen Beziehungen auch selbständig weiter entwickelt. Als solche Zu sammenfassung dessen, was Künstler über Kunst denken, wie sich ihnen das Verhältnis
zwischen Mittel und Wirkung aufbaut, dürsten unsere Darlegungen auch denen nicht unwillkommen sein, die es vorziehen, sich von anderem Standpunkt, dem wissenschaftlichverstandesmäßigen aus mit Kunst zu beschäftigen; ich möchte glauben, daß sie in ihr so manche nicht wertlose Unterlage swden werden, die ihren eigenen Bestrebungen den
erwünschten festeren Boden in weiteren Kreisen zu schaffen geeignet ist. Mehr als ihnen aber möchte ich das Werk allen den unendlich Vielen widmen, die ein innerlicher Zug zur Kunst und ihrem Genusse hinzieht, daneben auch so manchem jungen Künstler, der im Wirrwarr -er Tagesmeinungen Klärung über die Grundlagen seiner Kunst sucht, vor allem aber denen, die als Lehrer der Jugend berufen und imstande sind, ihren
Schülern die Grundlage» zu überliefern, auf denen sich ein edler Kunstgenuß als Be reicherung des Innenlebens aufbauen kann. In der Erfüllung dieses Zweckes sehe ich ein hohes und großer Anstrengungen würdiges Ziel. Die Rücksicht auf die Anteil nahme möglichst weiter, der Kunst bisher ferner stehen-er Kreise mag auch als Begrün dung dafür gelten, daß gelegentlich die Erörterungen von den einfachsten, so manchem Eivgeweihtere« vielleicht selbstverständlich dünkenden Grundlagen ausgehen und daß auf Borurtelle und Irrtümer eingegangen wurde, die vorgeschritteneren Kunstfreunden
schon längst als abgetan geüen können. Das erschien notwendig gegenüber der außerordemlichen Zähigkeit, mit. der solche veralteten Anschauungen vielerorts noch hasten. Mt diesem Ziel hängt die Auswahl und auch die Anordnung der Abbildungen
zusammen. Wer gedankliche Grundsätze zur Erklärung des Kunstempfindens formen oder die geschichtlichen Zusammenhänge feststellen will, der muß sich vor allem mit den her vorragendsten Meisterwerke», mit der „Kunst des Genies" beschäftigen. Dem Kunst genießer aber liegt es fern, sich auf sie zu beschränken; er findet seine Freude täglich und
stündlich an den bescheideneren Anregungen seiner Umgebung. Für diese das Auge zu schulen, ist für die Kunsterziehung das Nötigste. So ist besonderer Wert darauf gelegt, durch die Abbildungen, ohne die hohe Kunst der Meisterwerke zu vernachlässigen, gerade auch Reize schlichter, anspruchsloser Art dem Verständnis und der Anteilnahme des Lesers näher zu bringen. — Jedem Bilde wurde dann eine kurze Erläuterung beigefügt, einer seits um den fortlaufenden Text von so mancher Einzelheit zu entlasten, andererseits um auch dem, der nur in dem Buche blättert, lebhaftere Anregung zu geben, als sie das bloße Bild für den Unkundigen bieten kann. Zum Schluß noch eine kurze Bemerkung in bezug auf den Titel des Buches. Ich bin mir bewußt, daß ich es vielleicht zutreffender als den „Weg zum Kunstempfinden" bezeichnen würde, da ich immer wieder in ihm das Empfinden als das Wesentliche gegenüber der verstandesmäßigen Beurteilung zu betonen habe. Aber einerseits schien es geboten, bei einem an einen weiteren Kreis gerichteten Werke sich dem Sprachgebrauch dieses Kreises anzuschließen, und diesem ist nun einmal nur das Kunstverständnis der geläufige Begriff, andererseits aber schließt ein Verständnis der Empfindungswelt unweigerlich das Mitempfinden in sich, und so scheint mir der Titel auch in der ge wählten Form die Absicht decken zu können. Der Herausgabe des Werkes standen unter heutigen Zeitverhältnissen große Schwierigkeiten entgegen. Dem preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, dem preußischen Finanzministerium und der Akademie des Bauwesens zu Berlin, dem hessischen Landesamt für Bildungswesen in Darmstadt sowie der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft darf hier der Dank dafür ausgesprochen werden, daß durch ihre ausgiebige Unterstützung die Drucklegung ermöglicht wurde. Die Niederschrift wurde begonnen zu Ende des Jahres 1916; aber auch unter den inzwischen veränderten Verhältnissen bleiben die einleitenden Worte gültig. Sie sind es vielleicht sogar in erhöhtem Grade. Denn der furchtbare Zusammenbruch, den wir erleben mußten, hat die Veräußerlichung unseres Geistes und ihre Gefahren grell be leuchtet. Die Förderung alles dessen, was das Innenleben stärken, das Gemüt erwärmen, den Blick über das Nächstliegende und Nützliche hinaus auf Höheres lenken kann, ist mehr als je das Gebot der Stunde. Möchten die nachfolgenden Darlegungen in diesem Sinne als ein Beitrag zum Wiederaufbau, zur Bereicherung des deutschen Lebens wirken.
O. Griehl.
Inhaltsübersicht. L Einleitung.................................................................................................................................................. i II. Was ist Kunst? .............................................................................................................. -.................. i2 III. Verstandesmäßiges Sehen und künstlerisches Sehen................................................................... 23 IV. Der Vorgang beim künstlerischen Sehen........................................ 31 V. Die Linie als Ausdrucksmittel .................................... ,................................................................. 44 VI. Von der Abstimmung der Linien........................................................................................ 54 VII. Reihung und Rhythmus.......................................................................................................... 63 VIII. Symmetrie und Gleichgewicht......................................... 67 IX. Die Gesimse ........................................................................................................................................ 73 X. Die Stützen ......................................................................................................................................... 82 XI. Die Linien als Rahmen..................................................................... 95 XII. Die Flächen ........................................................................................................................................ 101 XIII. Die Gliederung derFlächen............................................................................................................ 110 XIV. Von den Verhältnissen ............................................................................................................... 116 xv. Masse und Raum ......................................... 126 XVI. Einfache Massen........................................................................................................................ 135 XVII. Belebung einfacher Massen.......................................................................................................... 139 XVIII. Von Grund auf gegliederte Massen........................................................................................ 144 XIX. Räume einfacher Form ................................................................................................................. 149 XX. Belebung von Räumen einfacher Form .................................................................................... 159 xxi. Zusammengesetzte Räume ............................................................................................................... 172 XXII. Vom Licht........................................................................................................................................ 186 xxiil. Von der Farbe ....................................................................................................................... 194 XXIV. Vom Maßstab................................. 204 XXV. Der Einfluß der Umgebung ...................................................................................................... 211 xxvi. Von den Werkstoffen ...................................................................................................................... 221 xxvil. Der Zweck......................................................................................................................................... 244 XXVIII. Bedeutung und Sinn der Formen......................................................................................... 252 XXIX. Einklang und Stil........................................................................................................................ 262 XXX. Das Zusammenstimmen ............................................................................................................... 277 xxxi. Schlußfolgerungen........ .................................................................................................................... 304
Bei den Abbildungen weisen die der Unterschrift angehängten kleinen Kennziffern auf die entsprechenden Num mern im Verzeichnis der Quellen hin. E. H. bedeutet: eigene Aufnahme des Verfassers.
i. Stadtmauer ju Schwäbisch-Hatt.
E. A.
Kraftvolle Wirkung der Massen in starkem Vor- und Rücksprung. Verschiedene Form der Turmbächer, wagerecht abschließend und steil aufstetgend. Größeneindruck gesteigert durch die Kleinheit der Öffnungen und den Gegensatz der angelehnten Häus chen. Bereichernde und vermittelnde Wirkung des Pflanzenwuchses.
I. Einleitung. Der hauptunterfchieü zwischen Mensch
und Mensch ist
ein Unterschied
in -er
Empfänglichkeit für Eindrücke.
Emerson.
Ein Weg jvm Verständnis bildender Kunst? Ist es denn nötig, sich damit zv beschäftige«? Haben wir nicht von Kunstbetrachtungen, Kritik und Kunjüheorie ein reichlich Maß genossen? Und nun gar in diesen Zeitläuften, wo es heißt in zäher Arbeit durch Sparsamkeit und Vermeidung von künstlerischem Luxus die Schäden und Ver luste des langen Krieges auszugleichen. Was sollen uns da Betrachtungen über das
Verständnis der Kunst? Solchen Einwänden zu begegnen müssen wir gefaßt sein, und sie seien sofort in
kurzen Worten beantwortet auf die Gefahr hin, Dinge zu wiederholen, die schon ost gesagt worden sind. Der Gedanke, als ob die schwere Zeit, in der wir leben, für Pflege künstlerischer Dinge keinen Raum biete, geht aus von rein praktischen Erwägun gen; wir wollen ihn daher nicht bekämpfen mit den idealen Gründen, die sich reichlich
darbieten in der Betonung der unersetzlichen Wirkung, die die Kunst zur Auftichtung Stiehl,. Der Weg zum Kunstverständnis.
I
i. Stadtmauer ju Schwäbisch-Hatt.
E. A.
Kraftvolle Wirkung der Massen in starkem Vor- und Rücksprung. Verschiedene Form der Turmbächer, wagerecht abschließend und steil aufstetgend. Größeneindruck gesteigert durch die Kleinheit der Öffnungen und den Gegensatz der angelehnten Häus chen. Bereichernde und vermittelnde Wirkung des Pflanzenwuchses.
I. Einleitung. Der hauptunterfchieü zwischen Mensch
und Mensch ist
ein Unterschied
in -er
Empfänglichkeit für Eindrücke.
Emerson.
Ein Weg jvm Verständnis bildender Kunst? Ist es denn nötig, sich damit zv beschäftige«? Haben wir nicht von Kunstbetrachtungen, Kritik und Kunjüheorie ein reichlich Maß genossen? Und nun gar in diesen Zeitläuften, wo es heißt in zäher Arbeit durch Sparsamkeit und Vermeidung von künstlerischem Luxus die Schäden und Ver luste des langen Krieges auszugleichen. Was sollen uns da Betrachtungen über das
Verständnis der Kunst? Solchen Einwänden zu begegnen müssen wir gefaßt sein, und sie seien sofort in
kurzen Worten beantwortet auf die Gefahr hin, Dinge zu wiederholen, die schon ost gesagt worden sind. Der Gedanke, als ob die schwere Zeit, in der wir leben, für Pflege künstlerischer Dinge keinen Raum biete, geht aus von rein praktischen Erwägun gen; wir wollen ihn daher nicht bekämpfen mit den idealen Gründen, die sich reichlich
darbieten in der Betonung der unersetzlichen Wirkung, die die Kunst zur Auftichtung Stiehl,. Der Weg zum Kunstverständnis.
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I. Einleitung.
des menschlichen Gemütes, zur Beseelung und Bereicherung des täglichen Lebens, zur Stärkung der geistigen und sittlichen Kräfte zu leisten imstande ist. Wir wollen ihm entgegentreten auf seinem eigenen, rein praktischen Untergründe. Wohl müssen wir damit rechnen, daß zur Wiederherstellung unseres Wohlstandes und unserer Handelsmacht außerordentliche Anstrengungen von uns gefordert werden. Zahllose, mit unendlicher Mühe geknüpfte Verbindungen sind gewaltsam zerrissen. Neue Wettbewerber sind in die bisher von deutscher Betriebsamkeit beherrschten Stel lungen eingerückt. Lügnerische Entstellung und Verhetzung sind am Werke gewesen, allenthalben Haß und Abneigung gegen deutsches Wesen zu erregen und so die Wieder-anknüpfung der alten Beziehungen zu erschweren. Aber gerade darum ist es notwendig, alle geistigen Mittel zur Wiedereroberung des zeitweilig Verlorenen aufzurufen, und daß unter den geistigen Kräften auch der Kunst ihre Rolle, und zwar keine geringe Rolle, gebührt, das kann nicht zweifelhaft sein. Zunächst ist es ein Grundirrtum, an zunehmen, daß künstlerische Durchbildung reichere Mittel erfordert. Dieser Irrtum wird durch die Art unserer Darlegungen an sich bekämpft werden. Kunst ist vielmehr die vorteilhafteste Verwendung der jeweils verfügbaren Mittel, also das Gegenteil von Verschwendung. Aber noch mehr! Daß eine Beschäftigung mit künstlerischen Dingen, in der Art, wie wir sie in diesen Blättern fördern wollen, geeignet ist, die Gabe scharfer Beobachtung zu entwickeln, kann als ein Nebenvorteil gebucht werden, der nicht zu verachten ist. Denn auf klarer Beobachtung der Wirklichkeit beruht vor »llem die Tüch tigkeit und der Fortschritt in technischen Dingen. Sie zu stärken, muß'Uns aus reinem Nützlichkeitssinn heraus jedes Mittel willkommen sein. Aber der Wert künstlerischer Schulung geht unendlich viel weiter.-Im'verschärftsmWettbewerb der Völker werden beim Kampf um die Handelsgebiste gewerbliche und kaufmännische Tüchtigkeit allein vielfach nicht ausreichen zum Erfolge. Sie müssen gestützt werden durch den Sinn für angemessene und schöne Form. Schöne Form der Waren, schöne Form der Aufmachung, schöne Form der Ankündigung, schöne Form der Darbietung müssen als Bundes genossen der inneren Tüchtigkeit hinzukommen. Ihnen fällt die wichtigste Rolle zu, um besonders das hetzerische Märchen von dem Barbarentum des deutschen Volkes zu entkräften. Von jeher hat künstlerische Bildung den Maßstab für die Höhe mensch licher Kultur dargestellt. Man denke daran, in wie hohem Maße die Wertung des fran zösischen Volkes auf der künstlerischen Höhe beruht, die es einstmals in seiner Glanzzeit des achtzehnten Jahrhunderts erreicht hatte. Wie es von dem Erbteil einer solchen künstlerischen Glanzzeit gezehrt hat, welche Stütze seine Gewerbtätigkeit, seine Aus fuhr an diesem alten Ruhme und seiner fleißigen Bewertung gehabt hat, bis auf un sere Tage. Vergessen wir nicht, wie außerordentlich die künstlerische Reformbewegung, die zu Ende des vorigen Jahrhunderts in England aufkam, der Wertschätzung engli schen Wesens den Weg gebahnt, englischen Waren Eingang verschafft hat. So wird man auch vom rein praktischen Standpunkte aus künstlerischer Betätigung nicht mehr die Stellung eines unnötigen Luxus, eines Vergnügens für wenige im Leben günstig Ge stellte ansehen wollen. Ganz abgesehen davon, daß die Kunst eine der stärksten Mächte innerer geistiger und sittlicher Erhebung darsiellt — wovon wir hier nicht zu reden haben —, müssen wir in ihr einen mächtigen Hebel sehen, um deutsches Wesen nach außen hin darzusiellen, es mit allen seinen Vorzügen zur Geltung zu bringen. Sich
dieses Hebels künstlerischer Bildung zu bedienen, dazu ist gerade jetzt, gerade in dem zu erwartenden scharfen ftiedlichen Kampf um unsere Geltung in der Welt die größte dringendste Notwendigkeit gegeben.
Das Volk wird auf die Dauer Sieger bleiben,
das mit der Tüchtigkeit der Leistungen die höchste künstlerische Kultur zu verbinden ver mag. Athen und Florenz erlangten unsterblichen Ruhm durch ihre Pflege der Kunst, nicht durch die staatliche oder geldliche Macht, die sie zu ihrer Zeit besessen haben. Das kann aber nur dann mit tiefem dauernden Erfolg geschehen, wenn möglichst weite Kreise künstlerischer Auffassung gewonnen und mit künstlerischem Empfinden vertraut gemacht werden. Hier fehlt noch vieles. Wohl hat deutsche Baukunst schon vor dem großen Kriege mächtige Fortschritte gemacht, Baukunst im weitesten Sinne genommen, einschließlich aller Ausstattungsgewerbe, künstlerischer Durchbildung der Rohstoffe, des weiten Gebiets der Dekoration und des Kunstgewerbes überhaupt. In allen diesen Zweigen hatte sie die Führung bei der Ausgestaltung neuzeitlicher Bedürf nisse übernommen und drohte mit neuen Gedanken arbeitend mächtig die altüberkom
mene Stellung besonders Frankreichs zu überflügeln. Aber es ging damit in Deutsch land nicht anders wie in anderen Ländern auch; die in vielen Einzelheiten glänzende Entwicklung beruhte auf schmaler Grundlage. Tüchtige Künstler, eine gewisse Anzahl feiner und opferfteudiger Kenner trugen und stützten sie, die breiteren Mengen auch der Gebildeten standen «nd stehen ihr kühl und innerlich fremd gegenüber. So manche Schwächen der neuen Kunstrichtung, ihre überstürzte Entwicklung, die so oft in Haltlosigkeit ausartete- die Neigung zur Betonung von Äußerlichkeiten «nd Schlagworten, bestimmt, auf den-Wchtkenner Eindruck zu machen, die Neigung zu Über
treibungen und geschmacklosen Einseitigkeiten «. a. m. muß darauf zurückgeführt wer den, daß der Bewegung das Schwergewicht der Beständigkeit fehlte, wie es nur durch die innere Anteilnahme weiter Kreise, durch das Verständnis und die innerlich gefühlte Mitarbeit des ganzen Volkes erreicht werden kann. Hier mag wieder so mancher erstaunt aufhorchen. Was? Überall und allenthalben las man und liest man noch von künstlerischen Dingen.
Mit Berichten über Ausstel
lungen, mit grundsätzlichen Erörterungen über Kunstfragen sind unsere Zeitungen fleißig an der Arbeit, uns in die Geheimnisse der Kunst einzuführen, zahlreiche Vorträge aller Art, vom schwersten wissenschaftlichen Schlage bis zum Standpunkt volkstüMch
leichter Anregung, bemühen sich, jeder Auffassungsgabe angepaßt, Klarheit über Einzel punkte der Kunst und Kunstgeschichte zu behandeln oder Übersichten über größere Ge biete zu geben.
Niemals bisher sind so umfangreiche Mittel aufgewendet worden, um
durch Sammlungen, Museen, Erhaltung und Wiederherstellung alter Kunstwerke den Sinn für Kunst und ihre Kenntnis zu pflegen. Freilich, wenn wir nach dem Maße, in dem über Kunst geschrieben und gesprochen wird, die Zeit beurteilen müßten, so könnte uns durch solche Tatsachen sozusagen ziffern mäßig der Nachweis geführt werden, daß wir in einer Zeit leben, deren Wesen von künstlerischen Gesichtspunkten durchdrungen ist wie kaum jemals vorher. Das wird nun im Ernst wohl kein Kenner der Verhältnisse behaupten wollen, und es gibt auch andere Maßstäbe, die zu anderer Einschätzung der Lage führen. Den, der sich mit Kunst zu beschäftigen liebt, ohne von außen dazu eines Antriebes zu bedürfen, wird vielleicht
schon grundsätzlich der Umstand stutzig machen, daß so viele Stücke dieses schriftstellert-
sche« Kunstbetriebes schwer in Einklang jn bringen sind mit dem tiefen Worte, daß man von Kunst nicht sprechen sollte als in ihrer Gegenwart. Prüft man gar den Inhalt der grundsätzlichen Erörterungen, so stößt man bei den meisten auf nichts weniger als auf eine ruhig weiterbauende Entwicklung von gesund wachsender Erkenntnis, sondern
Streben nach Geltendmachen neuer oder allerneuester Gedankengänge, Kampf gegen bestehende Anschauungen geben den Eindruck von nichts weniger als befriedigenden Zuständen auf dem Gebiete des heutigen Kunstbetriebes. Die schwerste Gegenwirkung aber erfährt ein hoffnungsfreudiger Optimismus, wenn wir die angeführten Betäti
gungen heutiger Beschäftigung mit blldender Kunst auf ihren Erfolg prüfen nach dem Wott: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Als ein sicheres Maß für das Verständnis irgendeiner Sache können wir das Vor handensein eines eigenen Urteils ansehen. Wer irgendeine Leistung innerlich aufzunehmen und grundsätzlich zu verstehen vermag, muß ihre Äußerungen in allen ihren
Verzweigungen auf Güte oder Werüosigkeit beurteilen können. Der Landwirt und der Getreidehändler schätzt mit Sicherheit die ihm vorgelegten Getreideproben auf ihren Wert ein, der Schmied das ihm zur Verarbeitung übergebene Eisen, der Weinkenner läßt sich nicht täuschen durch bunten Aufklebezettel mit volltönendem Namen und be rühmtem Jahrgang, er urteüt nach der geübte« Zunge, keinem verständnisvollen Mu siker wird man leichte Augenblicksware für gedankenschwere Musik von tiefem Gefühls gehalt aufteden können. Wie steht es mit der Fähigkeit, künstlerische und kunstgewerbliche Arbeite» selb
ständig einschätzen zu können, bei den gebildeten Kreisen der Neuzeit? Die Antwort darauf kann nur lauten: abgesehen von den recht engen Kreisen, die sich um berufs mäßig künstlerisch Arbeitende sammeln, herrscht eine verblüffende Unsicherheit und Hilflosigkeit des Urteils. Auf der einen Seite die reine, anscheinend unsterbliche Freude an der Fortsetzung alter kunstftemder Gewohnheiten, die schon Zuftiedenheit empfindet, wenn ein kostbarer Gegenstand mit reizloser Darstellung von Hufeisen, Jagdabzeichen oder ähMch „sinnvollem" Schmuck versehen ist, auf der anderen die unbedingte Ge folgschaft hinter der äußersten Neuheit der Modesirömungen, die mit ihrem Hinundher von auffallenden Übertreibungen zum unerquicklichsten Durcheinander der Ein
drücke führen, das sind die äußersten Pole der Erscheinungen.
Zwischen ihnen liegt all
die tausendfältige Verlegenheit, die sich bald an das DorbUd dessen klammert, was gute Freunde in ähMcher Art haben, oder wehrlos sich den Empfehlungen des „nicht immer" kunstverständigen Verkäufers anvertraut. Welch geistige Armut und Unselb
ständigkeit beim Käufer setzt nicht die beliebte Empfehlung geschmackloser Verkäufer voraus, die da lautet: „Wir verkaufen sehr viel von dieser Art." Aber wieviele Gebildete empfinden überhaupt die Beleidigung, die in solcher Anpreisung liegt? Dafür kann doch nur der Grund sein, daß sie noch Dankbarkeit empfinden für die klägliche Stütze, die ihrem schwankenden Urteil durch solchen Anruf ihres Herdentriebes geliehen wird. Solche Erscheinungen darf man nicht etwa als Kleinigkeiten bedeutungsloser Art
einschätzen. Schwankend und haltlos bleibt eine Kunst, die nicht auf dem Urteü, auf dem geistigen Miterleben des Volkes sich aufbaut. Keine noch so begabte, kenntnis reiche und Willensstärke Künstlerschast kann eine lebendige Kunst weiterschaffen und zur weltgeschichtlichen Höhe führen ohne Widerhall und Stärkung ihres Strebens in hun-
derttausend Seelen Gleichempfindender zu genieße».
Zu vollem Recht besteht daher
auch für die nützlichste Weltanschauung der Ausspruch Lichtwarks: Kein Volk erhält auf die Dauer von seinen Architekten und Handwerkern mehr, als es zu begreifen und zu verlangen imstande ist.
Und das ist bei uns, aber auch
bei allen andern Völkern der Neuzeit, herzlich wenig. Von selbst drängt sich die Frage auf, woran liegt es, daß der umfangreiche Be trieb der Kunstbesprechung und Kunstbelehrung so geringen tatsächlichen Erfolg zeitigt? Die Antwort ist nicht allzu schwer zu geben. Keine geistige Bewegung kann anders richtig erfaßt werden, als von dem Standpunkt aus, von dem sie selbst ausgeht. Gegen diesen einfachsten Grundsatz hat man bei dem Einsetzen der ganzen neueren Kunstbewegung gründlich verstoßen und damit einen ungesunden Zug in alles Kunsttreiben der Neuzeit hineingebracht. Überschauen wir kurz den verhängnisvollen Vorgang. Noch bis zur großen Umwälzung der Revolutionszeit erfreute sich das Kunsileben
Westeuropas gesunder Verhältnisse.
Seine Grundlage verdankte es dem Mittelalter,
in dem sich aus schlichtesten Verhältnissen heraus die Kunst in engster Gemeinschaft mit dem ganzen geistigen Leben entwickelte, unlöslich verbunden mit volkstümlicher Ge werbstüchtigkeit, mit deren Wandlungen ruhig und ohne Überschwänglichkeiten schritt weise vorwärts schreitend. So gedieh eine kerngesunde, durch keine vorgefaßten Mei nungen oder wesensfremde Theorien beschwerte Entwicklung, die man wohl mit der
gesunden zielklaren Entwicklung der heutigen Technik vergleichen kann. In ihrer steti gen Verflechtung mit den sinnfälligen Bedingungen des Einzelfalles wahrte sie sich die allgemeine Verständlichkeit, und in dem engen schöpferischen Zusammenhang mit den Werkstätten der Handwerker schuf sie sich den breiten, dauernd tragfähigen Untergrund volkstümlicher Mitarbeiterschaft. Eine schwere Erschütterung ergab sich zwar für sie daraus, daß mit dem Auftreten der Renaissancebewegung eine grundsätzlich fremde Formauffassung auf den alten handwerklich geschulten Stamm aufgepfropft wurde.
Damit wurde ja an Stelle einer aus der Sache und aus gesunder Technik heraus nach wesentlich künstlerischen Gesichtspunkten geführten Formbehandlung eine gegen die alte gesunde Auffassung innerlich sinnlose, rein äußerlich aufgeheftete Zierwelt gesetzt. Aber die Festigkeit des breiten handwerklichen Untergrundes und das altgeschulte Kunst gefühl für die grundlegenden Wirkungen der Massen und des Raumes ließen diesen
schweren Stoß überwinden.
Auch als im weiteren Verlauf Theoretiker sich daran
machten, für das freie Spiel der Phantasie Gesetze und Regeln aufzusiellen, ließ sich die freie Schöpferkraft volkstümlicher Kunst nicht wesentlich dadurch beirren. Wobei freilich
als günstiger Umstand mitwirkte, daß diejenigen, die damals als „Theoretiker" auftraten,
in Wirklichkeit nicht etwa Ergebnisse reiner Gedankenarbeit darboten, sondern in ihren Anweisungen den Niederschlag eigener ausgedehnter künstlerischer Facharbeit gaben.
Einen jähen Abschluß fand dieser immer noch von künstlerischer Kraft erfüllte Zu stand bekanntlich in den kriegerischen Wirrnissen und gesellschaftlichen Umwälzungen zu Ende des achtzehnten und im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Naturgemäß
mußte schon die Verminderung des Wohlstandes, die sich aus den schweren Lasten langer Kriegsjahre ergab, einen ungünstigen Einfluß ausüben. Aber solche Rückschläge hatte es auch schon früher gegeben, sie wären bei sonst unveränderten Verhältnissen über-
wunden worden. Es ist nicht so sehr diese Verminderung des Wohlstandes, die der Kunst
pflege die gesunden Wurjeln beschnitt, als die Auflösung der breiten volkstümlichen Grundlage, die bis dahin gegeben war. Die Kreise der Handwerker, in Innungen streng zusammengefaßt, hatten Überlieferung und Schulung alter Zeiten auf
rechterhalten. Die Innungen verschwanden. Die Unterweisung des jungen Nach wuchses in den Grundwahrheiten künstlerischer Anschauung hörte auf. Damit brach die Stetigkeit der Überlieferung zusammen, die bisher das Rückgrat der künstlerischen
Betätigung geblldet hatte. Die Kunstübung verlor ihren festen, sicheren Halt. Aber das Kunstbedürfnis der gebildeten Menschheit verlangt sein Recht auch unter den ungünstigsten Umständen. Ebenso wie es der heutigen Menschheit notwendig ist, zur See zu fahren, ebenso unentbehrlich ist ihr die Betätigung ihrer Gefühlswelt in der Kunst. Es galt, für diesen naturgemäßen Bildungsdrang neue Grundlagen an Stelle der versunkenen zu schaffen. Von unten herauf konnten sie nicht kommen, dazu war immerhin in der Verarmung der Völker der Umfang des Kunstbetriebes zu sehr ein geschränkt, seine innere Triebkraft zu sehr geschwächt. Vor allem aber konnte es sich nach der ganzen Zeitlage gar nicht darum handeln, wieder von den Uranfängen der Kunst her neue Bildungen aus schlichten Anfängen in natürlichem Wachstum sich ent wickeln zu lassen, sondern eine geistig verwöhnte, zur Selbstbeschränkung keineswegs geneigte Minderheit forderte eine sofort fertige, allen vielverzweigten Ansprüchen des Tages gerecht werdende Kunst. Das Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, fand man in dem Anschluß an die griechische Kunst, die durch gelehrte Bemühungen gerade wieder ans Licht gezogen, auf die im Taumel der bewegten Barock- und Rokokogestaltungen überreizten Gemüter als eine Offenbarung von keuscher Ruhe und stiller Größe wirkte. Es ist rührend »achzulesen, wie dieser Anschluß an griechische Kunst als Heilmittel für die Verderbtheit der vergangenen Zeit, als Ausdruck für die „streng neuzeitlichen" Be strebungen, neuen Baugedanken und neuen Gesinnungen damals mit genau den Worten und Gedankenverbindungen gepriesen wurde, mit denen man vor wenigen Jahren noch den Sturm gegen jede Art der Überlieferung von feiten der „Übermodernen" be trieb. Diese Schwenkung, künstlerisch nach dem Gesetz des Gegensatzes wohl verständ lich, führte nun das Verhängnis mit sich, daß als Ausgangspunkt der neu anhebenden Kunstübung nicht die sinnfällig vor aller Augen stehenden Vorbilder dienten, sondern daß eine in Büchern niedergelegte Gelehrsamkeit den Einfluß dieser fernen, nur sehr
Es erfolgte damit ein umfang reicher Einbruch wissenschaftlich-verstandesmäßigen Wesens in die Betrachtung der aus künstlerischem Empfinden entspringenden Kunst, also in ein Gebiet, das seiner Natur nach im wesentlichen Sache des Gemüts ist. Man vergaß ganz, daß die Wirkung der Kunst nicht auf Tatsachen beruht, die man verstandesmäßig feststellt, sondern auf Stim mungen des Gemüts, die geschaffen werden müssen. Es ist auf den ersten Blick für uns eigentlich überraschend, daß man die offenbare Gegensätzlichkeit beider Gebiete damals bruchstückweise bekannten Griechenkunst vermittelte.
so wenig bemerkte.
Zwar dem künstlerischen Geiste Schillers waren die Nachteile solcher
Betrachtungsweise nicht unbekannt; er erkannte klar, daß sie „den Gegenstand, indem sie ihn dem Verstände zu nähern sucht, den Sinnen entrücken"^) würde. *) Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen.
1795.
Erster Brief.
Den meisten
aber blieb dies verborgen, und das ist erklärlich dadurch, daß man in geistiger Hinsicht damals einen Aufschwung der Verstandestätigkeit, des logischen Denkens erlebte, der
der ganzen Zeit seinen Stempel aufprägte. Im Rausch dieser zweifellosen Erfolge, die das philosophische Denken von Kant über Fichte, Schelling, Hegel errang, wurde der Verstand zur alleinherrschenden Geistestätigkeit erhoben, mit ihm glaubte man alles und jedes messen zu können. An, Stelle des Kunsterlebens trat die Kritik, die Urtellsbildung. Das Formen von Begriffen und Gesetzen war die Grundlage des geistigen Fortschreitens gewesen. Einseitig auf dieser Bahn verfolgte man auch die künstlerischen Bestrebungen und suchte die Merkmale des Schönen begrifflich und beweisbar fesizulegen. Dabei verlor man gänzlich den Zusammenhang mit der sinnlich wahrnehmbaren Schönheit, mit Empfin
stehenden offen erklär ten: Kunstwerke nur
dung, Geschmack und Gefühl, die sich nun
würdigen zu können, wenn sie sich vorher verstandesmäßig klar darüber geworden seien. Ja, noch viel mehr! Man vermaß sich, aus feststehenden allge
einmal als dem Ver
stand wesensfremde Seiten des menschlichen Geistes nicht nach ver standesmäßigen Regeln begreifen lassen. Eine
Fülle von umschrei benden Worten sollte die Anschauung der blldreichen Wirklichkeit ersetzen. Die Wahrheit „Name ist Schall und
Rauch, Gefühl ist alles" war gründlich ver gessen. Und man hatte es tassächlich bald so weit gebracht, daß ge
2. Sonneatempel im Schloßgarten j« Eutins In Unterbau, Säulen, Gebälk und Kuppel herrschen dte Rundformen vor. Der Schwung ihrer Linien unterstützt den Eindruck leichter Anmut, der in der Maffenverteilung begründet ist.
meinen Grundsätzen heraus im Einzelfalle bestimmen zu wollen, ob eine Erscheinung schön oder unschön sei. Ein klassisches Beispiel dafür bildet eine Ver handlung, die der Ber liner Architektenverein vor lange», langen Jahren einmal geführt hat.
In ihm gab es
rade die geistig Hochjederzeit Mitglieder, deren künstlerische Empfindung sich von der Übermacht der um sie sich breit machenden Verstandesherrschaft nicht unterjochen ließ, deren Auge von der harten Linienführung eiserner Brücken, der sogenannten „Schwedlerträger" beleidigt wurde. Als sie den Ver ein um Schutz der schönen Potsdamer Landschaft gegen solche Entstellung anriefen,
wurde ihnen von den Wortführern der herrschenden Richtung entgegengehalten: „Die Schwedlerträger stellen rechnerisch nachweisbar die beste und vortellhafteste Bauweise
dar.
Sie erfüllen also den Zweck auf die beste Art. Da Schönheit in der Erfüllung
des Zweckes beruht, sind sie auch schön!!" Auf den schweren Trugschluß, der der Be griffsbestimmung in diesem Falle zugrunde liegt, werden wir weiterhin noch zurückzukommen haben. Aber daß durch solche Begriffsspielerei und Beschlußfassung eine häßliche Form nicht schöner wird, dafür braucht man zu dem, der mit offenen Augen ohne verstandesmäßige Scheuklappen sieht, heute wohl kaum noch ein Wort zu verlieren.
8
I. Einleitung.
Die Zeit dieser auf rein gedanlliche Tätigkeit gegründeten Ästhetik ist schließlich dahin
gegangen, sie wurde schrittweise von einer anderen abgelöst. Gegen solche begriffliche Ausdörrung des lebendigen Anschauungsvermögens konnte nur die Beschäftigung mit Kunstwerken selbst ei« Gegenmittel bieten, und hohe Achtung müssen wir denen zollen, die aus dieser Erkenntnis heraus es unter»ahmen, ein frischeres Leben in die Beschäftigung mit künstlerischen Dingen hineivzutragen. Schade nur, daß auch sie wieder ganz im Sinne der Zeit glaubten, nur auf dem Wege verstandesmäßigen, in diesem Falle geschichtlichen Studiums weitere Kreise zur Kunst heranführen zu können. So kamen ste dazu, kunstgeschichtliche Kenntnisse in volkstüm licher Fassung in weiteren Kreisen zu verbreiten, anstatt den Weg zum Genuß, zum inneren Erleben der Kunst zu wählen, den einzigen, der die künstlerischen Werte wirklich zur Geltung bringt in ihrer Kraft, den Menschen zu erheben über die Alltäg
lichkeit des Daseins, ihm neue hohe Kräfte und Antriebe in die Seele zu pflanzen. — Seit etwa fünfzig Jahren beherrscht die kunstgeschichtliche Betrachtungsweise das Kunst leben unserer Tage, und es düntt bei weitem den meisten als selbstverständlich, daß dem so ist. Ja, ein anderer Weg zur Kunst als der durch die Kunstgeschichte erscheint den meisten nach der üblichen Denkweise gar nicht vorstellbar. Muß das so sein? Nichts kann uns ferner liegen, als den hohen Wert kunstgeschichtlicher Arbeit in Frage zu stellen. Wenn sich seit geraumer Zeit ein starker Widerspruch gegen die starke Betonung geschichtlicher Gesichtspunfte in der heutigen Kunsterziehung gerade in künst lerisch angeregten Kreisen geltend gemacht hat, so liegt das nicht etwa an einer Gering schätzung der Kunstgeschichte an sich. Es hat andere Gründe. Zunächst die Einsicht, daß die Geschichte einer geistigen Bewegung in der Beschäftigung mit deren äußerem Ver lauf sich sehr wohl wissenschaftlich bearbeiten läßt, ohne an ihrem inneren Gehalt großen Anteil zu nehmen. Es wird beispielsweise niemand auf den Gedanken kommen, daß ein hervorragender Kenner der Rechtsgeschichte nun gerade ein besonderes entwickeltes Gefühl für femsie Unterscheidung von Recht und Unrecht habe« müsse. Ebenso gibt es treffliche Kunstgeschichtler genug, denen das innere Mitempfinden künstlerischer Werte versagt ist. Es kann sich wohl künstlerisches Gefühl mit kunstgeschichtlicher Kenntnis verbinden, und gewiß können wir annehmen, daß dies bei den meisten Fachgelehrten der Fall sein wird, sonst hätten sie sich nicht zu diesem Studium hingezogen gefühlt, not wendig ist das aber keineswegs. Hätte man dies berücksichtigt, so hätte man nicht in Kunstdingen ohne weiteres geschichtliche Kenntnisse als gleichbedeutend mit dem Ge fühl für künstlerische Werte annehmen und für die Entwicklung dieses Gefühls gerade die geschichtliche Darstellung der Kunst als Grundlage wählen können. Auf dem Ge biete derjenigen Kunst, die heutigen Tages als die verhältnismäßig volkstümlichste gelte» kann, deren Wesen in weiteren Kreisen als andere Künste Verständnis genießt, der Musik, ist es wohl auch noch keinem beigefallen, den Schüler auf den Weg
zum Verständnis durch Darlegung gerade der Musikgeschichte zu bringen, ehe er in musikalischen Grundlagen geschult ist, ehe er die einfachste» Tatsache» der
Tonleitern, Akkorde und Begleitfiguren sich innerlich zu eigen gemacht hat. Der Geschichte der blldenden Kunst aber schrieb man.sonderbarerweise die Zauber kraft zu, ohne de» Unterbau solcher einfachsten Grundlagen des Verständnisses in die Kunst einzuMren. Verkannt soll dabei nicht werden, daß eine wirttich gründliche Be-
3. Kloster Arnstein a. d. Lahn.
E. A.
Steigerung des BergumrisseS durch den aufstrebenden Bau. Führung des Auges von den Strebepfeilern des Chores über das Chorüach zu den steilen Turmhelmen. Gegensatz durch die ruhige Linie des Dachfirstes. Allmählich sich steigernde Wiederkehr der gleichen Ltnienrtchtung in der Grenze der unteren Wiese, dem anschließenden Gebüsch und der rechten Kante des Berges.
schästigung mit kunstgeschichtlichen Fragen vielleicht imstande ist, ein vorhandenes Kunstempfinden durch die dauernde Berührung mit vielen Kunstwerken, ihre Verglei chung und Zergliederung sehr wohl auszubilden und zu voller Höhe zu entwickeln. Es «erden dann eben allmählich im vergleichenden Schauen und Nachempfinden unbe wußt die fehlenden Grundlagen gelegt. Es könne« dabei aus den geschllderten geschicht lichen Veränderungen Gesichtspunkte allgemeiner Art gewonnen werden über die Unter schiede künstlerischer Wirkung und dadurch kann, wenn auch auf gewaltigem Umwege, ein Eingehen auf die Grundlage der künstlerischen Wirkung sich ergeben. Aber solche Gründlichkeit ist unerreichbar für den Unterricht weiter Kreise. Diesen konnte und kann kaum etwas mehr überliefert werden als einige zumeist schiefe Gemeinplätze über den allgemeinen Charakter verschiedener Kunstzeiten, die in ihrem einseitigen Schematismus vor dem vielseitigen Einzelleben der Formen versagen müssen, und vor allem das trockene Gerüst von äußerlichen Veränderungen, zeitlicher Herrschaft einzelner Stilarten, ein zelner Schulen und hervorragender Meister, dazu eine Anzahl von Merkmalen, nach denen man die Zugehörigkeit des Einzelkunstwerks zu solchem Stil, solcher Schule usw. vielleicht feststellen kann. Mit dem Empfinden des Kunstgehaltes haben solche geschicht lich berechtigten Unterscheidungen natürlich nicht das geringste zu tun. Aber die obersiächlich kunstgeschichüiche Unterweisung geht nicht nur an dem erstrebte« Ziele wirkungs los vorbei, sie erschwert sogar seine Erreichung. Sie stellt die äußeren Veränderungen im Kunstleben dar, zumeist ohne den künstlerisch-sachlichen Inhalt zu betonen. Von diesem, der nur im Einzel werk persönlich zu erfassen ist, lenkt sie geradezu ab, indem sie die Beziehungen zu unpersönliche» Eigentümlichkeiten ganzer Völker und Zeiten,
also abstratte, nicht künstlerische Zusammenfassungen an die erste Stelle rückt.
Anstatt
Freude an der Form, Hingabe an die Stimmung, lehrt sie Unterscheidung von StUverschiedenheiten. Das Wort von der „Verblldung" heutiger Zeit ist der Ausdruck der bitteren Wahrheit, daß der in der angeführten Weise Unterrichtete der Kunst zu meist fremder, weniger eindrucks- und genußfähig gegenübersteht als der „ungebildete", naive Mensch. Und das ist gar nicht so verwunderlich. Denn über die Beschäftigung mit Stilschachtelungen und Jahreszahlen verschwindet auch dem zum Erfassen künst
lerischer Werte Begabten der wirkliche Kern künstlerischen Erlebens. Er glaubt alles getan zu haben, um diesem näherzukommen, hat aber in Wirttichkeit nicht seine Emp fänglichkeit dem Kunstwerk gegenüber, seine Anschauungskraft für das sinnlich Wahr nehmbare geübt und bereichert, sondern nur einige Handhaben zu verstandesmäßiger Kritik gewonnen. Das schafft auf die Dauer keine Befriedigung, und so ist in gebildeten Kreisen nicht nur das Verständnis, sondern auch die innere selbständige Anteilnahme an der Kunst trotz aller Bemühungen, sie von außen her anzufachen, äußerst gering. Aber man sieht auf den gewohnten Wegen keine Abhilfe und zieht sich am liebsten be quem auf den lässigen Grundsatz zurück: „Über Geschmack kann man nicht streiten!"
Für Häßlichkeit und Schönheit gibt es danach kein Unterscheidungsmittel ? Der Geschmack
des Dienstboten vom Lande, der sich an sentimentalem Leierkastengedudel erfreut, ist ebenso wertvoll wie der des Kenners, der mit Verständnis vollendete Kammer musik in ihren Feinheiten genießt? Offenbare Gedankenanarchie als Folge innerer Verzweiflung, Unklarheit und Ratlosigkeit! Das ist das Ergebnis des herrschenden kunstgeschichtlichen Betriebes für den Durchschnittsgeblldeten. Das sind nicht etwa neue Klagen. Auf Kongressen, Kunsterziehungstagen wie in der Presse sind sie des langen und breiten schon erörtert worden, dahin, daß wir durch das Studium der Kunstgeschichte zwar an Übersicht gewonnen, an Sicherheit des Ur teils und Empfänglichkeit für das Schöne aber eingebüßt haben. Von den verschieden sten Seiten ist darauf hingewiesen worden, zu welchem kulturellen Tiefstand die herr schende Verwahrlosung der Anschauungskraft auf prattischen Gebieten führt. Die tief
greifenden Wirkungen, die aus dem Mangel an selbständigem Geschmack sich für unser Wohnwesen, vor allem unsere Mietskasernen ergeben, die völlige Verwahrlosung des Städtebaues und die Schwierigkeit, den Ansätzen zur Besserung auf diesen Gebieten allgemeine Geltung zu verschaffen, sind oft genug beklagt worden. Auf Seite der Kunstgelehrsamkeit verschließen sich die führenden Geister nicht der Erkenntnis, daß die bis
herigen Wege zur Kunst nicht die vorteilhaftesten oder gar die einzig möglichen sind. „Das Interesse des Publikums, soweit es überhaupt mit bildender Kunst Fühlung nimmt, scheint sich heutzutage wieder mehr den eigentlich künstlerischen Fragen zuwenden zu wollen." „Man möchte erfahren etwas von dem, was den Wert und das Wesen des Kunstwerks ausmacht." „Man greift begierig nach neuen Begriffen (so! wo es sich doch um neue Anschauungen handeln sollte), denn die alten Werte wollen den Dienst nicht mehr tun *)," und von anderer Seite, aus der berufsmäßigen Tages kritik, klingt es über die Heutigen: „Weil sie sich (d. h. in künstlerischen Dingen) un sicher fühlen, brauchen sie Begriffskrücken2)." Und dem Verlangen, für das wir hier
x) Wölfflin, Die klassische Kunst. München 1904. £) Karl Scheffler in der Vosflschen Zeitung, 1917.
Vorwort.
aus zahllosen Belegen nur ein paar herausgegriffen haben, hat es nicht an Entgegen kommen gefehlt von feiten derer, die als bildende Künstler nicht nur aus dem Vollen ihres Gemütes heraus zu schaffen, sondern auch die Grundlagen ihres Schaffens stch gedanklich klarzulegen bemühen. Es darf nicht verkannt werden, wieviel Bedeutung unter den Schriften dieser Kreise einzelne, vor allem Hildebrandts „Problem der Form", daneben Cornelius „Elementargesetze der bildenden Kunst" gewonnen haben. Aber die Erfahrung lehrt, daß auch sie ihre Wirkung nur auf verhältnismäßig enge Kreise haben üben können, und das erklärt sich leicht daraus, daß sie, aus künstlerischem Geist heraus geschrieben, sehr viel im Leser als selbstverständlich voraussetzen, was nach dem oben geschilderten Zustand weitaus den meisten doch nichts weniger als klar ist. Denn diese Meisten wollen ja erst zu den Quellen künstlerischer Wirkung geführt werden, müssen daher erst mit den einfachsten Grundlagen künstlerischen Empfindens vertraut gemacht werden. Gerade ein solches Anknüpfen an die einfachsten Keimzellen der Kunstempfindung erscheint uns dringend nötig, um zu einer anschaulichen Darlegung der Kunsiwirkung ;u gelangen. Nicht zum wenigsten wird auch gerade das kunsigeschichtliche Interesse eine innere Belebung erfahren, wenn erst in weiteren Kreisen durch die Schulung künstlerischer Anschauungen ein tragfähiger Unterbau für seinen Betrieb geschaffen ist. Es darf auch angenommen werden, daß der zu wählende Weg zu den fehlenden Anschauungen weder allzu lang noch beschwerlich sein wird, wenn wir uns zunächst eine gewisse Beschränkung auferlegen, indem wir nicht sofort das ganze Gebiet der bildenden Kunst in unseren Gesichtskreis einzufangen ver suchen. Vielseitig wie das Leben selbst würde die verwirrende Fülle der Bedingungen, denen sie Raum gewährt, das Bild gar zu sehr verwickeln und unübersichtlich machen. In der Baukunst finden wir klarer als in den andern Künsten die Grundlagen künstle rischen Wirkens ausgesprochen. Nicht umsonst nennt man sie seit alters die „Mutter der Künste". Die Bedingungen, unter denen sie auf den Betrachter wirkt, sind an sich durch aus nicht einfach, wie wir weiter sehen werden, sondern vielfach miteinander gekreuzt und durchflochten. Aber sie sind aufgebaut auf Grundlagen fest begrenzter Formen, aus denen sie sich klar und überall deutlich entwickeln, sich auch in den zusammengesetzte sten Wirkungen noch leicht herausschälen lassen. Dieselben Bedingungen beherrschen zwar auch das Gebiet der Schwesterkünste, wir können sie deshalb, wenn wir sie einmal klar erfaßt haben, später auch zu deren Verständnis 'verwerten. Aber sie werden dort zumeist weniger scharf kenntlich. Das liegt zum Teil daran, daß Bildnerei wie Malerei sich vor allem der Darstellung freier Naturschöpfungen, der Pflanzenwelt, der Gestalten von Mensch und Tier bedienen, die in ihrer weicheren Formenwelt die strenge Gesetz mäßigkeit der Beziehungen weniger hervortreten lassen. Noch mehr aber ist es darin begründet, daß die Einschätzung der rein künstlerischen Werte bei ihnen stark durch den Wettbewerb anderer Reize beeinflußt, oft sogar zurückgedrängt wird. Die Antellnahme am Gegenstand der Darstellung, geschichtliche Bildung und moralische Gesin nung, die Gefühle des Mitleids, des Abscheus, der persönlichen Bewunderung, der religiösen Weihe, der vaterländischen Begeisterung, nicht zum wenigsten auch sinnliche Leidenschaft, also Gesichtspunkte, die ebensowohl unkünstlerisch wie künstlerisch aus gedrückt werden können, die demnach an sich keinen künstlerischen Wert besitzen, ver-
mögen sehr wohl die Aufmerksamkeit von künstlerischen Grundsätzen abzvziehen, ja fle können sogar ost über künstlerische Schwächen hinwegtäuschen. Demgegenüber beruht die Baukunst auf der Verarbeitung der unorganischen, kristallinischen, leichter übersichtlichen Formenwelt. Sie kann fesselnde Meisterwerke bllden ohne die geringste Anleihe bei den Formen der belebten Natur. In ihr herrscht der reine Sinn für schöne Form, für anmutige Begrenzung, unbestechlich durch Liebe, Haß und Leidenschaft, sie ist die „voraussetzungslose" Kunst an sich. Sie steht auf dem Boden des Naturgefühls durch die Empfindung für die Lagerung der Massen, die Gegen wirkung von Stütze und Last. Aber indem sie ihre Gebllde ohne unmittelbare Nach ahmung der Natur rein aus den Grundtatsachen des künstlerischen Empfindens heraus formt, durch immer neuen Zusammenklang aller ihrer Formen ständig neue Einheiten hervorbringt, ist sie vor allem die eigentlich schöpferische Kunst und dadurch auch die Mutter der anderen Künste. Sie ist auf der gesunden Unterlage der Gebrauchsmöglichkeit und der Dauerhaftigkeit davor geschützt, dem äußerlichen Schein in so hohem Grade zu verfallen wie Bildnerei und Malerei. So gibt sie nicht nur äußer lich praktisch den tragfähigen Hintergrund ab für Bildnerei und Malerei, sondern in ihrer stetigen Fortentwicklung soll sie naturgemäß auch Art und gesunde Weiterblldung der Schwesterkünste bestimmen. Nur zu eigenem Schaden haben sich diese zeitweise von ihrem Einfluß losgemacht. Sie ist in hohem Grade frei von der Rücksichtnahme auf Einflüsse der Blldung und der Gesinnung, wendet sich vielmehr am unmittelbarsten an die schlichte unbewußte Empfindung. Dadurch ist das Verständnis der Baukunst vor allem geeignet, in die Grundlagen des Kunstverständnisses hiveivzvführen. Er kenntnis der Gesetze baulicher Wirkungen bietet uns den besten Zugang zum Verständ nis künstlerischer Wirkungen überhaupt.
II. was ist Kunst? Es liegt nicht an uns, es liegt an der weitverbreiteten heutigen Verwirrung der Begriffe, daß wir zunächst einmal ein paar allgemeine Fragen klären müssen. Was verstehen wir denn eigentlich unter Kunst? Oer Sprachgebrauch bezeichnet vielerlei als Kunst. Bezeichnend ist das Geschichtchev von einem Häftling, der bei seiner Einlieferung nach seinem Gewerbe gefragt, stolz er klärte: „Ich bin Künstler!" — „Welche Kunst betreiben Sie denn?" — „Ich mache Parapluis." — „Das ist doch aber keine Kunst!" — „Nu, dann versuchen Sie es nur einmal!" Hier ist die Kunst noch im uranfänglichen Sinne, im wortmäßigen Zusammenhang, gedacht als Inbegriff eines gesteigerten Könnens, einer Geschicklichkeit. Im gleichen Sinne sagt ein Scherzwort: „Kunst ist, was man nicht kann; denn wenn man es kann, ist es keine Kunst mehr!" So sprechen wir allgemein von Uhrmacherkunst, ärztlicher Kunst, Korbfiechterkunst usw. Wir müssen also unsere Begriffe der Kunst enger fassen. Eine gewisse Begrenzung finden wir schon, wenn wir die handwerüiche Kunst als solche
mögen sehr wohl die Aufmerksamkeit von künstlerischen Grundsätzen abzvziehen, ja fle können sogar ost über künstlerische Schwächen hinwegtäuschen. Demgegenüber beruht die Baukunst auf der Verarbeitung der unorganischen, kristallinischen, leichter übersichtlichen Formenwelt. Sie kann fesselnde Meisterwerke bllden ohne die geringste Anleihe bei den Formen der belebten Natur. In ihr herrscht der reine Sinn für schöne Form, für anmutige Begrenzung, unbestechlich durch Liebe, Haß und Leidenschaft, sie ist die „voraussetzungslose" Kunst an sich. Sie steht auf dem Boden des Naturgefühls durch die Empfindung für die Lagerung der Massen, die Gegen wirkung von Stütze und Last. Aber indem sie ihre Gebllde ohne unmittelbare Nach ahmung der Natur rein aus den Grundtatsachen des künstlerischen Empfindens heraus formt, durch immer neuen Zusammenklang aller ihrer Formen ständig neue Einheiten hervorbringt, ist sie vor allem die eigentlich schöpferische Kunst und dadurch auch die Mutter der anderen Künste. Sie ist auf der gesunden Unterlage der Gebrauchsmöglichkeit und der Dauerhaftigkeit davor geschützt, dem äußerlichen Schein in so hohem Grade zu verfallen wie Bildnerei und Malerei. So gibt sie nicht nur äußer lich praktisch den tragfähigen Hintergrund ab für Bildnerei und Malerei, sondern in ihrer stetigen Fortentwicklung soll sie naturgemäß auch Art und gesunde Weiterblldung der Schwesterkünste bestimmen. Nur zu eigenem Schaden haben sich diese zeitweise von ihrem Einfluß losgemacht. Sie ist in hohem Grade frei von der Rücksichtnahme auf Einflüsse der Blldung und der Gesinnung, wendet sich vielmehr am unmittelbarsten an die schlichte unbewußte Empfindung. Dadurch ist das Verständnis der Baukunst vor allem geeignet, in die Grundlagen des Kunstverständnisses hiveivzvführen. Er kenntnis der Gesetze baulicher Wirkungen bietet uns den besten Zugang zum Verständ nis künstlerischer Wirkungen überhaupt.
II. was ist Kunst? Es liegt nicht an uns, es liegt an der weitverbreiteten heutigen Verwirrung der Begriffe, daß wir zunächst einmal ein paar allgemeine Fragen klären müssen. Was verstehen wir denn eigentlich unter Kunst? Oer Sprachgebrauch bezeichnet vielerlei als Kunst. Bezeichnend ist das Geschichtchev von einem Häftling, der bei seiner Einlieferung nach seinem Gewerbe gefragt, stolz er klärte: „Ich bin Künstler!" — „Welche Kunst betreiben Sie denn?" — „Ich mache Parapluis." — „Das ist doch aber keine Kunst!" — „Nu, dann versuchen Sie es nur einmal!" Hier ist die Kunst noch im uranfänglichen Sinne, im wortmäßigen Zusammenhang, gedacht als Inbegriff eines gesteigerten Könnens, einer Geschicklichkeit. Im gleichen Sinne sagt ein Scherzwort: „Kunst ist, was man nicht kann; denn wenn man es kann, ist es keine Kunst mehr!" So sprechen wir allgemein von Uhrmacherkunst, ärztlicher Kunst, Korbfiechterkunst usw. Wir müssen also unsere Begriffe der Kunst enger fassen. Eine gewisse Begrenzung finden wir schon, wenn wir die handwerüiche Kunst als solche
bezeichnen, die wohl Kunststücke, aber nicht Kunstwerke im höhren Sinne hervor bringen kann. Aber damit haben wir jur Klarheit über eben die Kunstwerke noch nichts
Greifbares gewonnen.
Etwas näher kommen wir schon unserem Gegenstand mit der
häufig angeführten Erklärung: Die Kunst ist die Welt des SchSnen. Das klingt recht gut und einfach, aber eine befriedigende Lösung gibt es nicht, denn es jieht immer «och den Kreis ju weit. Zunächst und ohne weiteres gibt es unendliche Schönheitswelten,
die wir als Schönheiten der Natur geradezu zur Kunst in Gegensatz stellen. Die viel gebrauchte Bezeichnung „Kunstformen der Natur" ist nur in diesem Sinne zu verstehen, als „für Kunstzwecke geeignete" Formen in der Natur. Aber niemand wird diese Schön heiten an fich als Kunst bezeichnen. Es gllt für das Verhältnis von Kunst und Natur schönheit vielmehr das alte Wort Dürers, daß die Kunst in der Natur enthalten ist,
„wer ste heraus kann reißen, der hat sie". Haben wir damit die Bedingung menschlicher
Mitarbeit gewonnen, so wird diese noch etwas näher umschrieben durch eine neuere Begriffsbestimmung: „Kunst ist ein Stück Leben, gesehen durch ein Temperament." Also nicht verstandesmäßige Überlegung, sondern gesteigerte Gefühlstätigkeit ist die Grundlage für das Kunstschaffen. Das führt uns schon wieder ein Stück weiter. Ähn liches ergibt sich, wenn Ruskin den Begriff Kunst bestimmt als entstanden durch gleich zeitiges Wirken von Menschenhand, Menschengeist und Menschenherz. So richtig diese Umschreibungen wohl sind, so sind sie einerseits doch weder genügend scharf noch an
schaulich und andererseits aber auch wieder zu eng, dmn sie paffen genau zumeist nur auf die schaffenden Künste der Malerei und Blldnerei, lassen sich aber gerade auf das von uns zunächst zu behandelnde Gebiet der frei schaffenden Architektur nicht anwenden. Versuchen wir also einmal einen neuen Weg und fragen nach dem Grunde oder der Absicht, die bewußt oder unbewußt zur Kunstübung führen. Wie ist denn wohl der Mensch zur Kunsiübung gekommen? Unbewußt arbeitete der natürliche Kunsttrieb des Naturmenschen. Die Zeichnungen, die der Höhlenmensch in Knochen und auf Stein platten eingrub, die Verzierungen, mit denen unsere Urväter Trinkgefäß und Hausgeschirr versahen, wie der ftische kunstgerechte Jodler des Älplers, die besondere Leistung eines phantasievollen Vortänzers und der viele sinnige Schmuck, mit dem die volks tümliche Kunst bis auf unsere Tage ihre handwerklichen Arbeiten bereicherte, sie sind Entladungen einer gesteigerten Gemütsbewegung, die nach ungewöhnlichem Ausdruck verlangt. Zunächst diente solche Äußerung nur zur eigenen Beftiedigung im Ausdruck einer augenblicklichen Gefühlswallung, eine Äußerung des Spieltriebes (Schiller).
Indem die Umgebung des unbewußt sich avssprechenden Künstlers, von dessen gehobe ner Stimmung mitgeriffen, seine Erhebung teilt und so selbst zum gesteigerten Emp
finden des eigenen Lebens erhoben wird, ergibt sich eine Wertschätzung solcher künstleri scher Gefühlsäußerungen, die für ihren Urheber wohltuend und schmeichelhaft, ihm auch Vorteil versprechen mußte. So schiebt sich in seine Seele neben den ursprünglich ab sichtslosen Trieb der Selbstdarsiellvng der Wunsch ein, mit seinen künstlerischen Her vorbringungen wiederholt zu den ihm schmeichelhaften vorteilhaften Wirkungen auf seine Genossen zu gelangen. Der Begriff des „Publikums", der Kunstgemeinde ist ge boren und mit ihm die Absicht, sie im Sinne bestimmter Gemütserregung zu be einflussen. So kommt der Künstler dazu, seine Darbietungen nicht mehr im vollen Sinne unbewußt, ziellos zu leisten, sondern sie dem Streben nach einem mehr odee
i4
II. Was ist Kunst?
«eniger bewußten Ziele einzuordnen.
Dies Ziel besteht darin, die Stimmung der Zu
schauer oder Zuhörer nach einer gewollten oder wenigstens gefühlten Richtung hin zu beeinflussen, sie an der vom Künstler dargestellten Stimmung teilnehmen ju lassen. Dabei ändert sich an der im einjelnen unbewußten Art der künstlerischen Hervor bringung innerlich nichts, es mischt sich nur Bewußtes und Unbewußtes in wechselnder Art, um so mehr als auch das, was wir als Ziel der Darbietung bezeichnen, ost nicht klar erkannt, sondern nur im Unterbewußtsein verborgen sein wird. Die Wirkung aber stellt sich bald ein. Die gesteigerte Fähigkeit des künstlerischen Geistes, Stimmungen, z. B. die des Stolzes, des Schreckens, der Freude usw. selbst zu empfinden, befähigt
nun den Künstler, sie an Waffen und Kriegsgerät wie am Hausrat und Gewand durch bestimmte und gewollte Steigerung der Forme» zum Ausdruck zu bringen und andere» dadurch einzuflöße». „Der gesetzlose Sprung der Freude wird zum Tanz, die ungestalte Deste zu einer anmutigen, harmonischen Gebärdensprache, die verworrenen Laute der
Empfindung entfalten sich, fangen an, dem Tast zu gehorchen und sich zum Gesänge zu biegen." (Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung XXVI.) Und die zuerst gelelegentlich und zusammenhanglos geformten blldlichen Darstellungen und Zierate vereinigen sich nach klaren Gesetzen zum Kunstwerk. Die unendliche Bereicherung, die die Attsdrucksfähigkeit im Laufe der Kunstentwicklung erfahren hat, wird uns weiter hin noch beschäftigen, hier begnügen wir uns mit der Anführung der einfachsten Grund lagen. — In dieser Mitteilung der eigenen Stimmung liegt der Kern punkt künstlerischer Tätigkeit. Für die bildende Kunst ergibt sich daraus leicht der Unterschied künsllerischer Schönheit von anderen an sich schönen Dingen durch den für ein Kunstwerk bezeichnenden Stimmungsgehalt von selbst. Aber wir würden das Gebiet der Kunst zu eng fassen, wenn wir es nur auf die Welt des Schönen beschränken wollten. Zur Beeinflussung der Stimmung sind nicht nur schöne, sondern auch häßliche Dinge geeignet. Es sei an die starke Wirkung gelegentlicher Mißklänge (Dissonanzen) in der Musik und an die vielfache Verwendung entsprechender Kunstmittel in der dichttrischen Darstellung erinnert, für die wir in der bildenden Kunst weiterhin Gegenstücke Nachweisen werden. So können wir jetzt die bildende Kunst umschreiben als die Tätig keit, durch die der Künstler den Dingen eine solche Form gibt, daß sie im Beschauer die vom Künstler gewollte Stimmung erwecken oder be stärken.. Ein Gegenstand wird dadurch zum Kunstwerk, daß er von seinem Schöpfer einen Stimmungsgehalt empfängt, stark genug, um im Be schauer gleiche Stimmung auszulösen. Unsere Aufgabe, wenn wir uns dem Ver ständnis der Kunst nähern wollen, besieht darin, uns klar zu werden darüber, wie solche Übertragung der künstlerischen Stimmung zustande kommt, die Mittel anschaulich zu
erkennen, die dem Künstler für seine Wirkungen zur Verfügung stehen. Die Frucht barkeit der soeben gegebenen Umgrenzung des Kunstgebiets wird sich dabei zu ergeben haben. Aber ehe wir uns dieser lockenden Aufgabe hingeben, müssen wir die soeben ge
wonnene Anschauung erst noch sichern gegen den Angriff emer älteren Auffassung vom Wesen der Kunst, die i» künstlerischen Kreisen zwar seit lange zurückgedrängt, doch in dem geistig bedeutenden Kreise der technisch Geblldeten noch zäh festgehalten wird und
bei dem Umfang, den das Gebiet der Technik heutzutage beansprucht, noch in weitem Umfang Anerkennung genießt. Es ist die schon oben erwähnte
Lehre, daß Kunst, oder was man ohne weiteres mit Kunst gleichsetzt, Schön heit,
der
Ausdruck eines
erfüllten
Zweckes sei, in der Baukunst besonders nuch der Ausdruck richtig erfüllter Konstruktionsbedingungen. Diese
Auffassung empfiehlt sich wegen der 4. Offizierskoffer. E. A. gewohnt-logischen Bequemlichkeit ihres Vortreffliche Erfüllung des Zwecks, harte Nüchternheit des Aussehens. Gedankenganges allen denen, für die durch die einseitig verstandesmäßige Richtung unserer heutigen Erziehung die Quellen der Kunstanschauung und die Wertung des Gemütslebens gleichermaßen verschüttet sind. Aber für jeden, dem Kunstschönheit und ihr Genuß nicht nur ein lebloser lo gischer Begriff ist, sondern die beseeligende Erhebung des Gemütes über die gemeine Alltäglichkeit, eine der höchsten geistigen Freuden, muß diese Erklärung aus alltäg licher Nützlichkeit schon grundsätzlich unannehmbar sein und als schlechter Ersatz für wirMches Empfinden von Kunstwerten geradezu verflachend und kunstfeindlich erscheinen. Dabei sind gerade auch für den verstandesmäßig Prüfenden die Gründe, die gegen sie sprechen, so zahlreich und zwingend, daß man es wohl nur aus der Abneigung, sich auf den bisherigen Wegen mit diesen Dingen zu beschäftigen oder aus unbewußtem inneren Widerwillen gegen künstlerische Empfindungsweise erklären kann, daß sich diese Anschauung noch überhaupt hat halten können. Zunächst ist es selbstverständlich, daß diese geforderte Zweckerfüllung nur für die Baukunst gelten könnte, denn für Malerei und Bildnerei kann sie nicht in Betracht kommen. Wir müßten also, um sie als Grund lage der Schönheit anzuerkennen, annehmen, daß bauliche Schönheit und Schönheit in ander« blldenden Künsten ihrer ganzen Grundlage nach verschieden seien. Das ist unmöglich. Das Ge fühl der Schönheit wird in allen Künsten in gleicher Weise empfunden, es ist einheitlich und nicht wechselbar. Sodann lehrt «ns tausendfach die tägliche Erfahrung — insbesondere die Bestrebungen des Heimatschutzes
haben die Augen dafür geschärft —, daß aus der Erfüllung, des Zweckes an sich die abscheulichsten Dinge her
vorgehen. Häßliche Fabrikgebäude, plumpe Speicher, langweilige Ka näle,
öde
Straßen
und
Fabrik
dörfer und ähnliche Verschandelungen
5. Gotische Truhe im Kunstgewerbemuseum zu Berlin. E. A. Die rohe Kastenform veredelt durch reichen Essenbeschlag mit aus gesprochen gleichmäßiger Richtung der Linien, belebt durch die stark vortretenden Nagelköpfe von verschiedener Größe.
IL Was ist Kunst?
i6
6. Tragaltar aus Paderborn2, Die Kastenform durch Sockel und Deckgesims abgeschlossen, mit Kupferblech beschlagen, reich gravtert.
unserer Umwelt sind solche Erzeugnisse einer nur auf Erfüllung des Zweckes gehenden Geisiesrichtung. Dazu bringt sie nüchtern häßliches Gerät aller Art her vor, aber beileibe kein Kunstwerk. Das kommt immer erst zustande, wenn sich künst lerisches Formgefühl der rohen Zweckform annimmt, um ihr veredelnd den Ausdruck der Gediegenheit, Schlankheit, Beständigkeit usw. zu verleihen. — Ganz verfehlt ist es nun gar, ein Bauwerk nach seiner Zweckmäßigkeit auf seinen Kunstwert beurteilen zu wollen. Ein Rathaus zum Beispiel kann als Ausdruck des Bürgersiolzes, der gediege nen Tüchtigkeit und des gegründeten Reichtums eine hervorragende künstlerische Lei stung, ein Ruhm und ein Schmuck der Stadt sein, zweifellos ein bewundernswertes
Kunstwerk, auch wenn seine Grundrißeinteilung den Zwecken des Dienstes nicht ent
spricht, es vielleicht viele dunkle Räume im Innern aufweisi und dergleichen. Und wenn es bei seiner Entstehung allen Zwecken trefflich entsprach, den später veränderten Ver hältnissen aber immer weniger, sollen wir etwa deshalb annehmen, daß sein Wert als Kunstwerk dadurch dauernd sinkt? füllung
des
So läßt uns die Erklärung der Kunst aus der Er
doch
Zweckes
herrliche
Kunst
erzielt
haben.
werke
kläglich im Stich. Und ebenso trüge
Die neueren Bauweisen aus Stein-Eisen geben
risch ist das Kennzeichen der erfüllten Konstruk
dem
Auge überhaupt
tion, des Gefüges. Wie oft ist es ganz verhüllt
keinen Anhalt über die
und für den Eindruck eines wirklichen Kunst
Konstruktion, und doch sind wir stolz auf die
Stärke und Art ihrer
unkennt
mit ihnen zu erzielen
lich, kann also unmög lich einen bestimmenden Wesenszug ausmachen.
den Schönheiten. Prüfen wir doch
werkes ganz
einmal, wie diese dem kühlen Verstände so be queme Auffassung sich
Es gibt Kunstzeiten, wie die Zeit des Empire und
Biedermeier,
die das
Gefüge wenig zur Gel
tung gebracht, es oft absichtlich versteckt und
7. Japanisches Schränkchen. E. A. Anmutige Wirkung durch den Gegensatz der schlicht aber fein geformten Beschläge gegen das zart ge maserte Holz und durch die frei wechselnde Einteilung^ j
der Fächer.
an Beispielen aus dem Leben bewährt. Neh
men wir einen der ein fachsten
Gegenstände,
II. Was ist Kunst?
8. Italienische Truhe im Kunstgewerbemuseum zu Berlin.
17
E. A.
Abschluß und Gliederung durch Gestmsbildungen reichster Art. Eckverstärkung durch lebhaftes Schnttzwerk. Die MttLelfläche, früher vielleicht bemalt, jetzt ganz schlicht in wirksamem Gegensatz gegen den Reichtum der Gliederungen.
9. WasserLurm und Kirche zu Ohlau. Der zuerst ruhig und wuchtig erscheinende Turm entpuppt stch als nüchterner Wasserturm von häßlich unruhigem Umriß, Übel abstechend von den schlichten Linien der Umgebung.
den Kasten, der als Truhe, Koffer aus den ältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag eine Rolle unter dem Hausrat des täglichen Lebens gespielt und dem Wechsel der Zeiten entsprechend wechselnde Formbildung erfahren hat. Allen Anforderungen seines
Zweckes entspricht in ausgezeichneter Weise der in Abb. 4 wiedergegebene Offizierkoffer. Er steht sichtlich weit über dem Standpunkt der üblichen Durchschnittsware: Überzug mit wasserdichter, sauber lackierter Leinewand, glatte Ober- und Unterfläche, damit er mit mehreren seinesgleichen zusammen aufgeschichtet werden kann, Sicherung der Kanten mit Eisenblech, starke Schnallen und Handgriffe von Leder, ein Sicherheitsschloß mit schwerem Messingbeschlag: alles ist gut, zweckmäßig und dauerhaft. Menschen von
bescheidenen Ansprüchen werden solchen Koffer vielleicht auch „schön" nennen, für ein
Kunstwerk wird ihn wohl niemand erklären, obwohl Zweck und Form an ihm glänzend übereinstimmen. Gehen wir einen Schritt weiter. Die mittelalterliche Truhe, mit starkem Eisenbeschlag gesichert, Abb. 5, kann schon eher als Kunstwerk angesproche» werden, wenn auch als solches einfachster Art. Gerade wenn wir diese Truhe mit un serem Offizierkoffer vergleichen, sehen wir, daß der Eindruck von bescheidener aber siche rer und kraftvoller Schönheit, den sie hervorruft, nicht schon aus der Tatsache an sich Stiehl, Der Weg zum Kunstverständnis.
2
i8
IL Was ist Kunst?
io. Brücke über den Neckar. Die geschwungene Linienführung nimmt dem Bau ein gutes Teil der naturwidrigen Starrheit.
ii. Bankwange des 13. Jahrhunderts aus St. Nikolaus zu Garde legen. E. A. Stolzer Linienzug im ganzen, dazu die zierliche Zusammenziehung der Linien in der großen Palmette geben dem mit bescheidensten Mitteln ausqeführten Stuck den Eindruck hoher Vornehmheit und Feinheit.
hervorgeht, daß sie ais festes, schwer aufzubrechendes Behältnis erscheint, sondern aus der Art, wie die Beschläge bemessen und geformt und wie sie auf der Fläche angeordnet,
mit kräftigen Nägeln und Krammen befestigt sind. Wir bemerken dazu, daß der Fort fall einer praktischen Anforderung, nämlich derjenigen der glatten Oberfläche, der Er scheinung zugute kommt und haben darin den klaren Beweis, daß die Erfüllung dieser Zweckmäßigkeitsforderung dem ersten Beispiel geradezu zum Schaden an Ansehen ge reichte, nicht zur künstlerischen Förderung. Und wieder ein Schritt weiter: das japani sche Kasienschränkchen, Abb. 7, könnte nach üblicher Art der Kunsibetrachtung auch leicht als Beispiel angeführt werden dafür, daß aus der Befriedigung der Notwendig
keit ein Kunstwerk entsteht. Wird doch seine zweifellos feine Wirkung nur erzielt durch Formen, die aus der Bearbeitung und Zusammenfügung der Teile abgeleitet sind. Aber wer in diesem Ausgangspunkt der Formgebung den Grund der Wirkung zu finden glaubt, übersieht ganz, daß für sie vielmehr eine Anzahl anderer reizvoller Züge in Be tracht kommt: die eigenartige, schlichte, aber an verschiedenen Stellen wechselnde Form der Beschläge, die sorgsame Verwendung des feingemaserten Holzes, dessen Fasern bald wagerecht, bald senkrecht gestellt sind, vor allem der gewollt regellose und unsym metrische Wechsel in der Größe und der Form der einzelnen Fächer. Wieder ganz anders faßt der deutsche Meister des dreizehnten Jahrhunderts die Aufgabe an, dem wir den
Reliquienkasien, Abb. 6, verdanken.
Um den kostbaren Inhalt zu schützen, beschlägt
er sämtliche Flächen rundum mit Kupferblech, um die Würde des Inhalts zum Aus
druck zu bringen, fügt er kraftvolle Ausladung von Fuß und oberem Abschluß hinzu.
zeichnet diese beiden Gesimse und die Ecken des Kastens mit runden Nägeln und Perlstaben aus. Schließlich schmückt er die Flächen, die sich ihm bieten, mit Gravierungen, den Gestalten der Helligen, eingerahmt in feierlich-reiche Rundbogenarchitekturen, und fügt endlich noch schön gezeichnete Inschriften auf den Gesimsplatten hinzu. So hat er ein vollsaftiges Kunstwerk geschaffen, das eindringlich zu Auge und Gemüt des Be schauenden spricht, ihn mit einer Fülle von Einzelheiten fesselt und zur näheren Be trachtung reizt. überspringen wir nun die Kulturfortschritte einiger Jahrhunderte und betrachten die in Florenz im Jahre 1512 gefertigte Hochzeitstruhe der vornehmen Familie Strozzi, Abb. 8. Auch ihr liegt im Gegensatz zu manchen gleichzeitigen Erzeugnissen von ge schwungener Form der Wände die Form einer geradlinigen Kiste zugrunde mit Sockel und oberem Abschluß. Aber wie sind diese ,chon beim vorigen Beispiel vorhandenen Gesimse im einzelnen durchgebildet! Wohlabgewogene Gliederungen wechseln mit Licht und Schatten, und auf ihnen entfaltet sich ein Formenspiel fesselndster Art durch bald breiteres, bald äußerst zierliches Schnitzwerk, dessen Wirkung noch durch teilweise Vergoldung erhöht wird. Auch hier sind die Ecken verstärkt, aber nicht durch harte Me tallbeschläge, sondern durch Holzauflagen, aus denen in meisterhafter Schnitzerei üppige, Wappen haltende Engelchen herausgearbeitet sind. In wohlabgewogenem Gegensatz zu diesem Reichtum der Einzelformen bleibt die Hauptfläche der Wand glatt und zeigt die Feinheit des edlen Nußbaumholzes, aus dem das vollendet schöne Werk herge stellt ist. Auch diese Truhe dient in einwandfreier Weise ihrem Zwecke, aber über ihn hinaus ist sie gesteigert zu einer Vornehmheit der Erscheinung, die ihren Zweck nahezu ver gessen läßt, ihr jedenfalls einen überlegenen Kunstwert verleiht, der mit dem Zwecke gar nichts mehr zu tun hat. So können wir an diesem einfachsten Gerät, der viereckigen Truhe, festsiellen, zu nächst daß aus der einfachen Anpassung der Form an das Bedürfnis überhaupt nichts hervorgeht, was auf den Rang eines Kunstwerkes Anspruch erheben kann, ferner daß, wenn die künstlerisch gefühlte Mitarbeit zur Bedürfnisform hinzutritt, der Reichtum -er Stimmungswerte um so mehr zunimmt, je mehr sich die Durcharbeitung der Form von dem Standpunkt der Zweckmäßigkeit zu höheren, freieren Anordnungen erhebt. Als weiteres Beispiel sei die aus rein rechnerisch-ersparnismäßigen Gesichtspunkten entstandene Form des „pokalartigen" Wasserturms angeführt, in der so mancher, der für eine Befruchtung der heutigen Kunst durch die verstandesmäßigen Gedankengänge des Ingenieurs schwärmte, einen Beweis seiner Anschauungen zu sehen glaubte. Wie unglücklich diese Form in Wahrheit ist, wenn sie mit einem gesunden, auf kräftigem Unterbau stehenden Turm in Vergleich kommt, dafür zeugt folgende kleine Erfahrung: Mit der Eisenbahn mich der Stadt Ohlau nähernd, Abb. 9, sehe ich aus dem Mor gennebel den Umriß eines hohen Kirchendaches auftauchen, überragt von dem gedrunge nen achteckigen Oberteil eines anscheinend dazugehörigen Turmes. Das Ganze bildet eine ruhige, schöne Gruppe von gutem Umriß, und gespannt schaue ich hin, wie wohl beim Näherkommen sich die Vermittlung der oberen Achteckform mit der rechteckigen Form des Kirchenschiffes darstellen würde. Aber beim weiteren Vorschreiten folgte darauf die große Enttäuschung: statt eines wohlabgewogenen Unterbaues trat hinter
i2. Gewölbe -er Achmedmoschee in ßonftantmopel10. Das Wogen und Gleiten der in vielfachen Größen abgestuften Bogenlinien erzeugt das Gefühl mühelos leichten Schwebens^ unterstützt durch die in bogenförmigen Kreisen geordnete Verteilung der Fenster und den kleinen Maßstab der Schmuckformen, die mit Reihungen verschiedenster Art unter wechselnder Füllung und Gliederung der Flächen glänzend entwickelt sind.
iZ. Gartenmauer in Shrewsbury. Weiche Formgebung.
E. A.
Alle Kanten sind verkündet, die verschiedenen Höhen in Bogenform vermittelt.
der Masse der Kirche die taubenschlagartige, nüchtern häßliche Form eines solchen Wasser armes heraus, Abb. 9, zweckmäßig, billig, gewaltsam, unvermittelt roh im Umriß
und siimmungslos. Nichts weniger als schön! Mit vorstehendem wollen wir nicht etwa die Wichtigkeit praktischer Gesichtspunkte herabsetzen, solche Weltftemdheit liegt uns fern. Wir wollen nur unterscheiden zwischen den verschiedenen Bestandteilen, aus denen sich der Wert eines Bauwerkes zu sammensetzt, nnd müssen streng trennen zwischen seinem Kunsiwert und seinem Nutzungs wert. Ersterer wirkt auf den Beschauer und ist vielleicht so manchem der Benutzer un verständlich und gleichgültig. Letzterer wird in den seltensten Fällen von dem Beschauer beurteilt werden können, ist aber für den, der das Gebäude benutzen soll, von höchster Wichtigkeit. Dem Baukünstler liegt es ob, beide Seiten des Stoffes zu berücksichtigen und dazu noch als dritte die geldlichen Verhältnisse des Baues wohl zu ordnen, wenn er nicht bald das Vertrauen der Auftraggeber verlieren und dadurch von der wirllichen Ausübung seiner Kunst abgeschnitten werden will. Aber so wenig man im Ernst als Wertmesser einer Kunsileistung die mehr oder weniger vorteilhafte Verwendung der
verfügbaren Geldmittel hinstellen wird, so wenig sollte man für sie als Maß die Erfüllung des Zweckes annehmen. Es gilt hier den Unterschied zu machen, daß ein erfolgreicher
Baumeister noch lange kein Künstler und ein zweckmäßiges Bauwerk noch lange kein Kunstwerk zu sein braucht. Der Gedanke, daß Kunst in der Erfüllung des Zweckes begründet sei, hat, miß verständlich gestützt auf das maßgebende Ansehen Kantischer Philosophie, lange die Gel
tung eines unverbrüchlichen Glaubenssatzes genossen. Aber künstlerisch Empfindende haben bald versucht, ihn von dem glatten Nutzzweck loszulösen durch die Auslegung,
daß es sich bei der engen Verbindung von Zweckerfüllung und Kunstwert um die Er-
22
II. Was ist Kunst?
14. Stadtmauer von Wisby. Harte Formgebung. Starre ^Linien, ^gerade Flächen, derbe Vorsprünge stoßen in scharfen Winkeln unvermittelt aufeinander.
15.
Spiegel der Biedermeierzeit
Fast alle Linien sind gerade und stoßen zumeist rechtwinklig aufeinander. Härte des Eindrucks ist vermieden durch die Zartheit der Aus ladungen und den Reiz des feinen Mahagoni holzes.
16. Marienkirche zu Stargard in Pommern.
E. A.
Starkes Überwiegen der senkrechten Linien, schlanke Verhältnisse und riesenhafte Aus, Messungen des Raumes zwingen Blick und Stimmung zu feierlicher Erhebung aufwärts. Die Bogen des Chorumganges stark „gestelzt".
in. Verstandesmäßiges Sehen und künstlerisches Sehen.
2Z
17. Italienische Rahmen des 16. Jahrh, im Kunstgewerbemuseum zu Berlin. C.A. Die im ersten Beispiel leise einsetzende Belebung der Umrißlinie wird im zweiten, späteren Beispiel durch Häufung und derbere HerauSarbeitung der Einzelzüge dem Auge eindringlicher vorgeführt.
füllung vo« künstlerischen Zwecken handele. Neben der Zweckmäßigkeit der Raum-r vertellung und der Konstruktion fordert man „Zweckmäßigkeit des Schmuckes", d. h. beste Wahl seiner Formen, seines Ortes und seiner Ausführung. Damit ist man, trotz Beibehaltung des gleichen Wortes, dann von dem, was man gemeinhin Zweck nennt, weit entfernt und stimmt ungefähr mit dem hier eingenommenen Standpunkt über ein, da ja die weitere Verfolgung dieses Gedankens zu der Frage führen muß: Wie erfüllt der Schmuck oder im weiteren Sinne jede Form ihre« Zweck? Wodurch wirkt sie auf unser Empfinden?
III. Verstandesmäßiges Gehen und künstlerisches Gehen. Wenden wir «ns diesen Grundlagen des Kunstempfindens zu, so ist die erste Frage, wie können wir sie überhaupt in uns aufnehmen? Denn davon wird naturgemäß ihre Art beeinflußt und werden die Anforderungen bestimmt, die wir an sie stellen können. Für die Beantwortung dieser Fragen kann es uns wenig nützen, wenn «ns im Sinne nenerer Ästhetik erüärt wird, das ästhetische Erlebnis bestehe darin, daß in einen Gegen stand seelisches Lebe» vom Betrachter aus eingefühlt oder mit ihm allerlei Nebevgegedanke» verknüpft würden, wie die Bequemlichkeit des Wohnens, der Lärm des Bahn
hofs «sw. Letztere Auslegung lenkt geradezu von der Hauptsache, dem Nachempfinden des künstlerischen Gehaltes, ab, erstere vernachlässigt den Umstand, daß im Kunstwerk selbst die Grundlage des Gefühls liegt, und gibt keine Antwort auf die Frage, wie dies
Gefühl denn eigentlich entsteht.
Wir müssen auf den Vorgang des Kunstgenusses et-
in. Verstandesmäßiges Sehen und künstlerisches Sehen.
2Z
17. Italienische Rahmen des 16. Jahrh, im Kunstgewerbemuseum zu Berlin. C.A. Die im ersten Beispiel leise einsetzende Belebung der Umrißlinie wird im zweiten, späteren Beispiel durch Häufung und derbere HerauSarbeitung der Einzelzüge dem Auge eindringlicher vorgeführt.
füllung vo« künstlerischen Zwecken handele. Neben der Zweckmäßigkeit der Raum-r vertellung und der Konstruktion fordert man „Zweckmäßigkeit des Schmuckes", d. h. beste Wahl seiner Formen, seines Ortes und seiner Ausführung. Damit ist man, trotz Beibehaltung des gleichen Wortes, dann von dem, was man gemeinhin Zweck nennt, weit entfernt und stimmt ungefähr mit dem hier eingenommenen Standpunkt über ein, da ja die weitere Verfolgung dieses Gedankens zu der Frage führen muß: Wie erfüllt der Schmuck oder im weiteren Sinne jede Form ihre« Zweck? Wodurch wirkt sie auf unser Empfinden?
III. Verstandesmäßiges Gehen und künstlerisches Gehen. Wenden wir «ns diesen Grundlagen des Kunstempfindens zu, so ist die erste Frage, wie können wir sie überhaupt in uns aufnehmen? Denn davon wird naturgemäß ihre Art beeinflußt und werden die Anforderungen bestimmt, die wir an sie stellen können. Für die Beantwortung dieser Fragen kann es uns wenig nützen, wenn «ns im Sinne nenerer Ästhetik erüärt wird, das ästhetische Erlebnis bestehe darin, daß in einen Gegen stand seelisches Lebe» vom Betrachter aus eingefühlt oder mit ihm allerlei Nebevgegedanke» verknüpft würden, wie die Bequemlichkeit des Wohnens, der Lärm des Bahn
hofs «sw. Letztere Auslegung lenkt geradezu von der Hauptsache, dem Nachempfinden des künstlerischen Gehaltes, ab, erstere vernachlässigt den Umstand, daß im Kunstwerk selbst die Grundlage des Gefühls liegt, und gibt keine Antwort auf die Frage, wie dies
Gefühl denn eigentlich entsteht.
Wir müssen auf den Vorgang des Kunstgenusses et-
24
III. Verstandesmäßiges Sehen und künstlerisches Sehen.
was näher eingehen und fragen uns: Welche Werkzeuge haben wir, um Eindrücke der bildenden Kunst auf uns wirken zu lassen? Hier scheint die Antwort so leicht: Überall in der bildenden Kunst muß der Geist durch das Auge wirken; Kunstwerke werden
mit dem Auge für das Auge geschaffen. Aber sie löst sofort die weitere Frage aus: Wo her kommt es denn, daß das Kunstwerk auf verschiedene Augen so verschieden wirkt, dem einen nichts sagt, den andern bis auf den Grund der Seele erfreut und erschüttert? Der Ursprung dieser Verschiedenheit liegt ganz allgemein gesagt in der Art, in der uns
unser Auge die Eindrücke der Außenwelt übermittelt. Wir stehen ihnen nicht wie eine leblose, unparteiisch aufzeichnende Maschine gegenüber. Viel verwickelter sind die Zu
sammenhänge zwischen den Eindrücken, die die Linse unseres Auges auf unsere Netz haut hervorruft, und den Anschauungen, die unser Geist sich nach ihnen formt. Wir sehen ja gar nicht die Dinge so wie sie sind, sondern von unserem Auge erhalten wir nichts als Nachrichten über eine Menge von Abstufungen des Lichtes und der Farbe geliefert. Sache der Erfahrung und der Übung ist es, daraus die Anschauungen der Länge, Breite, Tiefe, der Entfernung und ihres Wechsels, der Bewegung, der Ruhe, der Masse, der Festigkeit, der Nachgiebigkeit uff. abzuleiten. Im frühesten Kindesalter beginnt der Mensch den Zusammenhang der Gesichtserscheinungen mit dem körper lichen Wesen der Dinge dadurch festzustellen, daß er diese betastet und zu „begreifen" versucht.
Erst durch Vermittelung des Tastsinnes findet er sich soweit in der Welt zu
recht, daß er weiterhin auf Grund der gewonnenen Erfahrungen die Wahrnehmungen
des Auges körperlich deuten kann. So stellen von Anfang an alle durch das Auge über mittelten Eindrücke nicht etwa unbedingte Wahrheiten dar, sondern sind erfahrungs gemäße Verbindungen von früher gewonnenen Anschauungen mit den Gesichtsein drücken, d. h. Ableitungen aus Anzeichen, die häufig eine verschiedene Deutung zu lassen. Darauf neben Unvollkommenheiten unseres Sehwerkzeuges beruht das weite
Gebiet der „optischen Täuschungen". Von ihnen sei hier die leicht festzusiellende Erschei
nungangeführt, daß ein schnell strömendes, Wellen schlagendes Wasser, wenn es aus einiger Höhe nach der Richtung seines Abfließens beobachtet wird, dem Auge gegen seine durch die Erfahrung fesigesiellte Natur aufwärts zu fließen scheint, bis der Verstand den Wi derspruch dadurch aufklärt, daß nur die Höherlegung des Gesichtskreises diesen Anschein hervorruft, während das Wasser in Wahrheit abwärts fließt. Wie unzuverlässig unter
richtet uns ferner das Auge über die wirkliche Gestalt runder Körper. Ihr Aussehen wird, wie an jedem Wagenrad leicht festzustellen, selbst bei einfacher Kreisform, in ver schiedenen Verkürzungen sich stark verändern, bei reicheren Flächenbewegungen je nach
der Beleuchtung ganz verschieden aufgefaßt, ja ganz unkenntlich werden können.
Wie
oft täuschen wir uns über die wirklichen Maßverhältnisse verkürzt gesehener Rechtecke, rechteckiger oder gar schiefwinkliger Körper. Ähnliche Täuschungen erzeugen ungewohnte
Lichtwerte. Sehen wir durch einen nicht zu langen Tunnel, etwa am Schloßberg bei Ofen-Pesth oder von Salzburg, so daß die Sonne für uns durch den Berg verdeckt ist, so wird dem Auge die hinter dem Tunnelausgange sichtbare, hell beleuchtete Landschaft auf den ersten Blick näher erscheinen als die neben dem Tunnel aufsieigende beschattete
Bergwand am diesseitigen Tunnelende. In allen diesen Fällen sind für unsere Anschauung der Dinge nicht die Eindrücke des Auges an sich maßgebend, sondern die Deutung, die unser Geist ihnen gibt. Diese
Deutung beruht nun erleichtert. Der Wert der Überlieferung auf der gedanklichen Verbindung des und der allmäh neuen Eindrucks mit lichen, nicht sprung früheren Erfahrun haften Weiterbil gen des Beobach dung der Kunst ters. Von den Er formen ist dadurch innerungen, die aus ebenso begründet früheren Beobach wie die Möglichkeit tungen im Kopfe und Notwendigkeit, des Beschauers haf die natürliche An ten geblieben sind, lage zur Kunstauf fassung durch Übung hängt der neue Ein druck wesentlich ab. zu steigern. Aus dieser Abhängigkeit Daher kommt es, des Eindruckes von daß ein Anknüpfen an bereits Bekann dem Gedächtnis tes die verständnis inhalt des Beschau 18. Spiegel der Barockzeit aus Oberitalien. E. A. ers erklärt sich weiter, volle Aufnahme Der Umriß außerordentlich bewegt, einzelne Zierteile greifen frei auf die Spiegelfläche über. daß der gleiche Ge eines neuen Ein genstand nicht auf druckes wesentlich jeden in gleicher Weise wirkt, daß dem einen ein Gesichtspunkt an ihm auffällt, ihn fesselt, den der andere gar nicht bemerkt, kurz, daß wir an jedem Ding das sehen, was wir an ihm suchen. An einer im Schmuck der Waffen vorüber ziehenden Truppe junger frischer Soldaten wird der Offizier ganz andere Eindrücke erhalten als das junge Mädchen, der Schneider andere als der Waffenfabrikant, der Bildhauer andere als der Maler uff. Und wie wir auf geistigem Gebiete verstandes mäßig Gedachtes und künstlerisch Gefühltes als die großen Gegensätze unseres Geistes lebens trennen, so können und müssen wir auf dem Gebiete der Erscheinungen das künstlerische nachschaffende Sehen unterscheiden von dem verstandesmäßigen rein feststellenden Sehen. Wie jede Art des Sehens erfordert auch das künstlerische Sehen eine Vorbereitung, eine Schulung, die zur Ansammlung der nötigen Erinne rungstatsachen dient. Denn je mehr solcher Anknüpfungspunkte in unserm Gedächtnis aufgespeichert find, um so vielseitiger ist natürlich unsere Fähigkeit zur Freude an neuen Eindrücken. Sie ergibt sich bei allen dazu befähigten Menschen — und dazu gehören wohl die meisten, sonst gäbe es keine Volkskunst — schon im Kindesalter aus dem inne ren Triebe zur künstlerischen Anschauung von selbst, aber es ist das eigentümliche Ver hängnis der neueren Zeit gewesen, daß sie die Pflege dieses künstlerischen Sehens durch die einseitige Bevorzugung verstandesmäßiger Schulung gelähmt hat. Von seinem Eintritt in die Schule an wird das Kind dauernd mit einer Fülle von Worten über schüttet, hinter denen es keine Erscheinungen sieht, mit denen es keine Anschauung ver binden kann. So entwöhnt es sich überhaupt, die Dinge anschaulich klar zu sehen, und verliert ganz den Zusammenhang mit der sinnlichen Welt der Vorstellungen. Damit wird die Grundlage des Schönheitssinnes erstickt. Der Drang zum hastigen Erwerb
in. Verstandesmäßiges Sehen und künstlerisches Sehen.
26
tut dann später das übrige, um die letzten
Erinnerungen an die schöne kindliche Zeit
lebendiger Sinnesanschauung zu ertöten. In früheren Zeiten konnte sich die An
schauungskraft ohne Störung weit
solche
höher und allgemeiner entwickeln, darauf be
ruhte
die
ungestörte,
stetig weiterschreitende Entwicklung der ältererr
Kunst. Die ungeheure Rückständigkeit künst lerischen Vermögens, das sprunghafte, halt lose Hin- und Her schwanken der künstle rischen Grundsätze, die unsere Zeit von älteren Zeiten so sehr zu ihrem Nachteil unterscheiden,
sie erklären sich dagegen leicht daraus, daß die Fähigkeit des künstle 19. Torbau des Zwingers zu Dresdens Stürmisches Leben im reichen Umriß, der lebhaften Flächengliederung, der Fülle neu artig unruhiger Einzelformen. Vornehmheit und Ruhe gibt dem Ganzen das Festhalten an der strengen Ordnung der Stützen und Gebälke sowie der im ruhigen Halbkreis ge schlossenen Öffnungen.
rischen Sehens zum Verdorren gebracht
wird, am gründlichsten gerade bei den geistig
führenden gebildeten Volkskreisen. Dies künstlerische Sehen ist wieder zu erwecken. es ist wie andere geistige Fähigkeiten zu üben und weiterzuentwickeln, so daß auch
heute wieder sich die Fähigkeit verbreitet, ein Kunstwerk zu lesen, wie man ein Gedicht liest.
Das ist die dringendste Aufgabe, wenn wir uns wieder zur Kunst zurückfinderr
wollen. Bei verstandesmäßigem, heutzutage dem gewöhnlichen Sehen wird das Auge allein geleitet von dem Streben, den vorhandenen Tatbestand festzusiellen. Es ist grund sätzlich eine einfach aufzeichnende Tätigkeit, wobei aus der Beobachtung alles das aus geschaltet wird, was zur Feststellung des Tatbestandes nicht erforderlich ist. Je nach dem Grade der Übung, d. h. der im Gedächtnis vorhandenen älteren Beobachtungs ergebnisse, genügt sehr häufig ein schneller Blick, um die Frage nach dem „Was?" mit Sicherheit zu beantworten. Gelingt das nicht, so wird das Auge, die bekannten Merk-
male schnell übersprin gend, sich einjelnen Puntten zuwenden, die weitere Aufklärnng versprechen. Das verstandes mäßige Sehen geht vom Einzel nen anfs Ganze, indem es sich den Be griff aus der Zusam mensetzung einzelner Merkmale bildet. Da es auf Feststellung der Wirklichkeit aus geht, kann dieser Be griff, wenn er richtig sein soll, nur ein ein 20. Gutshaus zu Plau in Mecklenburg. E.A. ziger, eindeutiger, un Die ausgesprochen wagerechte Lagerung wird betont durch den breiten Fries und die Flachheit des Giebelaufsatzes. Nur leicht belebt durch das Gegenspiel der senkrechten Linien. wandelbar bestimm ter sein. Anders das künstlerische Sehen. Sein Ziel ist, aus der Anschauung eine llare Empfindung der Form zu gewinnen, die Betrachtung der Form als ein Erlebnis des Auges auf den Geist wirken zu lassen. Also nicht so sehr auf Erkenntnis wie auf Wir kung geht es aus. Diese Wirkung aber ist nicht von der tatsächlich vorhandenen Form allein abhängig, es kommt für sie nicht so sehr darauf an, ob ein Gegenstand irgend wie eine Eigenschaft hat, sondern nur darauf, ob sie sichtbar wird. So wird sie schon durch äußere Umstände verändert, durch wechselnde Beleuchtung, Färbung, durch den Einfluß der Umgebung, des verschieden zu wählenden Standpunktes und noch vieles andere. Dazu ergänzt sich das geübte Auge des Einen wichtige Züge aus Andeutungen, über die der Andere vielleicht achtlos hinwegsieht. Daraus folgt, daß der künstlerische Eindruck nicht wie der verstandesmäßige Begriff eindeutig ist, sondern sich bei verschiede nen Betrachtern auch unter gleichen Umständen sehr verschieden gestalten kann. Aber selbst die Art der Augenarbeit unterscheidet sich von der des verstandesmäßigen Sehens. Indem das Auge die Form des Gegenstandes zu erfassen strebt, muß es zunächst seine Grundform in ihren Hauptzügen in sich aufnehmen. Es erfaßt zuerst die Umrißform, den Grad der Helligkeit, die Hauptfarbe usw. Von diesen wird die Art des Eindrucks wesentlich bestimmt, sie kann durch Eingehen auf Einzelheiten nur noch weiter aus gearbeitet, nicht mehr ganz verändert werden. Das künstlerische Sehen geht vom Ganzen auf das Einzelne. Und auch im einzelnen wird das künstlerische Auge angelockt zuerst von den großen Hauptzügen der Form, denen es die kleineren Eigen tümlichkeiten unterordnet. Das führt das künstlerische Auge dazu, die bedeutsamsten Züge aus dem vorhandenen Bilde herauszuschälen, aus ihnen vor allem die Wirkung zu erfahren. So entsteht zwischen wirklicher Erscheinung und künstlerischer Anschauung
28
III. Verstandesmäßiges Sehen und künstlerisches Sehen.
2i. Linienvermittlung durch Schrägen im Zimmerwerk. Kopfbänder, i. 2. 3. 5. 6, und Sattelhölzer, 4« 7, erzeugen durch verschiedene Neigungelinien wechselnden Ausdruck des Aufsteigens oder Lagerns. Am ausdruckslosesten ist die zweckltch verbreiteste Form 3 mit Neigung nach dem halben rechten Winkel.
22. Stadtmauer zu Tangermünde.
E. A.
Verschiedene Wirkung bei senkrechter Gliederung mit Steildach und bei Bevorzugung wagerechter Linien und flacheren Daches.
24. Hermenstütze mit Gehängen. Der Senkrechten kann ebensowohl eine abwärts führende wie eine aufstrebende Richtung gegeben werden.
23. Zwei Giebel gleichen Umrisses. Durch bestimmte Art der Verwendung wird auch die Wagerechte eine Ursache unruhiger Wirkung.
schon ein gewisser Unterschied, den wir nach Hildebrandts Vorgang als den Unterschied des Daseinsbildes und des Wirkungsbildes bezeichnen können. Da sonach das künstlerische Sehen nur mit der Erscheinung der Dinge zu tun hat, so fallen für seine Erörterung alle Erwägungen als bedeutungslos aus, die sich mit der Frage beschäfti gen, inwieweit sich die Erscheinung mit dem Wesen der Dinge deckt oder nicht deckt. Die Dinge sind für das künstlerische Gefühl so, wie sie sich dem Auge darstellen. Alle Gedankengänge erkenntnistheoretischer Art haben für die Grundlagen der Kunstbetrachtung keine Geltung; sie können nur zu Mißverständnissen über das Wesen künstlerischen Empfindens führen. Das künstlerische Auge schaltet aus dem Daseinsbilde diejenigen Einzelheiten aus, die für die angeschlagene Wirkung gleichgültig sind oder ihr vielleicht sogar entgegen arbeiten. Es ist ein altbewährtes, nur zum Teil scherzhaftes Wort, daß gutes Zeich nen nach der Natur darin besteht, „das Richtige — fortzulassen". In diesem Sinne ist auch der Ausspruch Michelangelos aufzufassen: Schönheit ist die Ausscheidung alles Überflüssigen. Das Auge vereinfacht und stilisiert, d. h. es bevorzugt die ihm für die Wirkung brauchbar erscheinenden, das sind die wesentlichen, nach klaren Gesetzen sich immer wieder findenden Züge der Erscheinung, es setzt den Einzelfall in gemeingültige Form um, und in der so verstandenen Stilisierung der Dinge erreicht es eine einheit liche, verstärkte Wirkung und damit den Zugang zu einer geistigen Erhebung, die in der reinen, vom Menschengeist nicht verarbeiteten Natur nicht in diesem Maße gegeben ist. Diese Auffassung der Formen sieht daher schöpferisch hoch über der einfachen Wieder gabe der Natur, wie sie etwa das Lichtbild liefert, immer leidend unter dem Zuviel bedeutungsloser Einzelzüge und zumeist behaftet mit Betonungen von unwesentlichen, Mangel von Betonung an wesentlichen Punkten. Der Unterschied zwischen Daseinsbild und Wirkungsbild wird noch verschärft durch die Rolle, die nach dem oben Gesagten die unsern Sehwerkzeugen anhaftenden Un vollkommenheiten zur Übermittlung der wirklichen Formverhältnisse spielen. Das Auge
vermag so manche Form, wie wir oben gesehen haben, gar nicht eindeutig von der Natur abzulesen. Eindeutigkeit der Form ist aber, wenn die Form in irgendeiner Richtung wirken soll, die erste Bedingung, und im Streben, sie zu erzielen, macht das künstlerische Auge wieder reichen Gebrauch von der Erfahrung aus früheren Beobachtungen. Es legt sich aus der unübersehbaren Fülle z. B. der Stellungen, die die Gliedmaßen von Mensch und Tier einnehmen können, diejenigen zurecht, die als Ausdruck bestimmter Bewegungen am bezeichnendsten sind. Es sind das diejenigen, in denen die veränder lichen Gleichgewichtsverhältnisse des bewegten Körpers am klarsten zum Ausdruck kom men, aus denen deshalb die Art der Bewegung am eindeutigsten erkennbar ist. In diesem Sinne ist es für die Kunst kein Fortschritt gewesen, daß man versucht hat, die genaueren Kenntnisse, die uns die Entwicklung der Lichtbildkunsi über die Bewegungs vorgänge verschafft hat, in der darstellenden Kunst zu verwerten. Der Eindruck der Steifigkeit und Unnatur haftet diesen, dem Auge nicht unmittelbar wahrnehmbaren Stellungen untilgbar an, die reine Abschrift der Natur, der man sich so zu bedienen, suchte, erwies sich als durchaus ungeeignet zur Erreichung künstlerischer Ziele. Bei dieser Formenauslese trifft nun die künstlerische Auffassung zusammen mit den Bedingungen, die aus der Ansammlung von älteren Beobachtungsergebniffen im
30
II l. Verstandesmäßiges Sehen und künstlerisches Sehen.
menschlichen Gedächtnis gegeben stnd,
denn auch dieses wird vor
allem
zur Einprägung der wesentlichen, in vielen Einzelfällen sich gesetz
mäßig wiederholenden Eigenschaften der Dinge geneigt sein. Durch diese Übereinstimmung des künstlerischen Sehens mit den Erinnerungsbildern,
die dem Geiste ju seiner Ausdeutung dienen, wird die Aufnahme des
künstlerischen Eindrucks und seine Wirkung auf das Gemüt in hohem Maße erleichtert und verstärkt. So vereinigt sich das Ergebnis des künst lerischen Sehens mit dem Gedächt nisinhalt der wesentlichen und be zeichnenden Züge zu einem geistig
belebten Bilde, das als eine innere
Bereicherung empfunden wird. Die
Sammlung solcher geistigen Reich tümer durch immer neue, wechselnde 25. Junkergasse zu Bern^. Ausdruck starker Kraft im Gegenstemmen der schräg ansteigenden Laubenpfeiler. Die oberen Flächen streng zusammengehalten dadurch, daß die Fenster in die äußere Flucht gesetzt stnd. Diesem starken Gegen satz gegen die Öffnung der Lauben entspricht der bestimmte obere Ab schluß durch weit vortretende Holzgestmse.
Eindrücke macht den größten Reiz des künstlerischen Genusses aus. Es geht aus alledem ohne weiteres hervor, daß die reine Ab schrift der Natur, die genaue „richtige", „ähnliche" Wiedergabe der tatsäch
lich vorhandenen Form an sich mit künstlerischer Auffassung und künstlerischen Zielen
wenig zu tun hat. „Der Spiegel hat keine Absicht" (Ruskin). Ein Bildnis kann sehr ähnlich und künstlerisch gleichgültig sein, es kann sehr unähnlich und doch ein Kunstwerk hohen Ranges sein, in dessen seelische Tiefen viele Menschengeschlechter und Jahr hunderte sich mit ehrfurchtsvollem Schauern versenken.
Künstlerisches Schaffen be
ginnt erst da, wo die reine Wahrnehmung des Natureindrucks durch Auslese der wesent lichen und für den künstlerischen Zweck brauchbaren Züge zu einheitlicher Wirkung
verstärkt und gehoben wird. Dieses Gesetz, das wir aus der künstlerischen Art des Sehens an Beispielen der
darstellenden Künste abgeleitet haben, gilt nun in gleicher Weise auch für die Baukunst, wenn wir statt des rohen, unverarbeiteten Natureindrucks die rohe, künstlerisch nicht veredelte Zweckerfüllung und Konstruktion setzen. Auch in der Baukunst beginnt die künstlerische Arbeit erst mit der Auslese und Ausnutzung der für die jeweiligen künst lerischen Wirkungen geeigneten Konstruktion und Technik, welche von der rein verstandes
mäßig vorteilhaftesten Konstruktion und Technik sehr wohl verschieden sein kann.
26. Schloßhof zu Füssen.
E. A.
DaS Schrägdach des Treppenaufganges führt daS Auge aufwärts zu Lem reichen Umriß des Giebels. Der EinLruS ruhiger Flächen wird befördert durch die Pfosten, tetlungen der Fenster, diese zugleich bestimmend für den behaglichen Maßstab deS Ganzen.
27. Hängelampe modernen Stils. Den vielfach wiederholten geraden Linien fehlen mil dernde Übergänge; dadurch wirken fle unerfreulich.
IV. Der Vorgang beim künstlerischen Gehen. Also üben und schulen wollen wir die uns von Natur verliehene Gabe der sinn lichen Anschauung, des künstlerischen Sehens. Dazu müssen wir zuerst darüber klar sein, wie diese Gabe ausgeübt wird. Beim künstlerischen Sehen erfaßt das Auge zuerst mit einem Blick, den man als
den ruhende» Blick bezeichnen kann, den Gesamteindruck des Gegenstandes oder des Telles von ihm, den es auf einmal übersehen kann. Dann aber beginnt es sich zu be wegen, an den Linien entlang zu gleiten, die der Gegenstand bietet, zuerst wohl an denen, die seinen Umriß bilden, dann aber auch an denen, die sein Bild im einzelnen gliedern. Das Auge tastet diese Linienzüge ab, ganz wie die Hand des kleinen Kindes den unbekannten Gegenstand abtastet. Die Eindrücke, die das Auge dabei der Empsindung übermittelt, sind wesentlich bedingt durch die Erinnerungsbilder eigener körper
licher Zustände der Bewegung, der Drhe, des Gleichgewichtes usw., und zwar wird das Verfolgen der Linien an erster Stelle Bewegungsempfindungen, des seitlichen Fort gleitens, des Aufsteigens oder Niedersinkens auslösen. Diese sollen sich dann zum Eindruck des ruhige« Ausgleiches vereinigen und können nach solcher Vereinigung wieder im „ruhenden" Blick rein genossen werden. So können diese Eindrücke als Grundlage des geistigen Genusses ein Gefühl auch körperlichen Behagens schaffen. Man hat daher
26. Schloßhof zu Füssen.
E. A.
DaS Schrägdach des Treppenaufganges führt daS Auge aufwärts zu Lem reichen Umriß des Giebels. Der EinLruS ruhiger Flächen wird befördert durch die Pfosten, tetlungen der Fenster, diese zugleich bestimmend für den behaglichen Maßstab deS Ganzen.
27. Hängelampe modernen Stils. Den vielfach wiederholten geraden Linien fehlen mil dernde Übergänge; dadurch wirken fle unerfreulich.
IV. Der Vorgang beim künstlerischen Gehen. Also üben und schulen wollen wir die uns von Natur verliehene Gabe der sinn lichen Anschauung, des künstlerischen Sehens. Dazu müssen wir zuerst darüber klar sein, wie diese Gabe ausgeübt wird. Beim künstlerischen Sehen erfaßt das Auge zuerst mit einem Blick, den man als
den ruhende» Blick bezeichnen kann, den Gesamteindruck des Gegenstandes oder des Telles von ihm, den es auf einmal übersehen kann. Dann aber beginnt es sich zu be wegen, an den Linien entlang zu gleiten, die der Gegenstand bietet, zuerst wohl an denen, die seinen Umriß bilden, dann aber auch an denen, die sein Bild im einzelnen gliedern. Das Auge tastet diese Linienzüge ab, ganz wie die Hand des kleinen Kindes den unbekannten Gegenstand abtastet. Die Eindrücke, die das Auge dabei der Empsindung übermittelt, sind wesentlich bedingt durch die Erinnerungsbilder eigener körper
licher Zustände der Bewegung, der Drhe, des Gleichgewichtes usw., und zwar wird das Verfolgen der Linien an erster Stelle Bewegungsempfindungen, des seitlichen Fort gleitens, des Aufsteigens oder Niedersinkens auslösen. Diese sollen sich dann zum Eindruck des ruhige« Ausgleiches vereinigen und können nach solcher Vereinigung wieder im „ruhenden" Blick rein genossen werden. So können diese Eindrücke als Grundlage des geistigen Genusses ein Gefühl auch körperlichen Behagens schaffen. Man hat daher
Z2
mit Recht gesagt, daß
IV. Der Vorgang beim künstlerischen Sehen.
ein Kunstwerk „mit dem
freiheit, Abb. 10—12, er fühlt die größere oder
Leibe" nachgefühlt wird. Die Ergebnisse der neue ren physiologisch-natur
geringere Sicherheit und Schwere, mit der der Gegenstand im Gleich
wissenschaftlichen For schung stehen mit diesen Tatsachen des Kunst erlebens im besten Ein klang und legen auf die
Bewegungsempfinduttgen, die durch die Sinnes
eindrücke erzeugt werden, auch von ihrem Stand punkte aus großen Wert. Der Beschauer erlebt so mit dem Schwung großer
gewicht ruht, Abb. 1,13, 20, er empfindet die ftische Tatkraft lebhaften Jndiehöheschnellens, seine Glieder straffen sich unwillkürlich beim Anschauen starken Tragens oder Gegenstemmens,
Abb. z, 16,25. Er wird angenehm berührt durch weiches Jneinanderflie28. Bischofsstuhl ju Canterbury. ßen der Linien, Abb. 13, DaS würdig-streng in geraden Linien sich aufbauende überraschend fein bereichert durch die runder Linien die hem Werk wird oder auch aufgestachelt, Kreisbögen des oberen Abschlusses. mungslose Bewegungsvielleicht sogar abgestoßen durch ihr härteres Aufeinanderprallen. Abb. 14, 15, 27. Wenn das Auge so den Lauf der Linien aufmerksam verfolgt, wiegt sich das Gefühl auf deren treibendem und schwellendem Leben, wie es sich beim Genusse der Musik tragen läßt von dem Perlen und Wogen der Töne. Wie diese Eindrücke dann noch durch die Kräfte des Lichtes und der Farbe beeinflußt werden, davon später. Die Vermittlung durch den
körperlichen Eindruck ist dabei so stark, daß nicht nur begabte Kinder, sondern auch leb haft empfindende Kenner häufig in der Körperhaltung, in Bewegungen der Hand und des Kopfes den Linienbewegungen zu folgen pflegen, ja daß es geradezu unmöglich ist, den Reiz weicher Linien, etwa an einer lässig gelagerten Gestalt, in straffer Haltung des eigenen Körpers, oder straffe Linien, etwa an der Gestalt eines angespannt Kämp fenden, im behaglichen Ruhen voll auszukosten. Daneben her wird aus der Art der zu verfolgenden Linienzüge das Gefühl der Größe oder der engen Begrenztheit, der Zwang der Ruhe, der Einheitlichkeit, Abb. 20, oder der Reiz des Wechsels, Abb. 19, 75, zur Wahrnehmung kommen und vieles andere mehr, wovon weiterhin zu reden sein wird. Diese körperlichen Empfindungen haben zur Aufstellung der sogenannten „Einfühlungstheorie" geführt, derzufolge das künstlerische Fühlen aus der Seele stammend, dem Gegenstand nur sozusagen untergeschoben wird.
Man übersah dabei, daß diese Empfindungen erst durch die Eigenschaften des Gegenstandes hervor gerufen werden. Der Vorgang kann nach den Ergebnissen heutiger physiologischer Forschung so umschrieben werden, daß die Erregung derjenigen Gehirnzellen, welche,
durch den Reiz der Linienbeobachtung veranlaßt, die Bewegungen des Auges Hervorrufen, auf diejenigen Zellen überstrahlt, in denen die Erinneruvgsbüder der entsprechenden Körperbewegungen niedergelegt sind. Durch deren Miterregung ent stehen die für das Kunstempfinden wichtigen Bewegungsgefühle, deren Urgrund dem nach im Linienspiel des Gegenstandes, nicht im menschlichen Gemüt liegt. Diese Augen-
IV. Der Vorgang beim künstlerischen Sehen.
29. Überleitungsformen und Dermittlungslinien im Pflanjenreich. Nirgends stoßen die Linien hart aufeinander. Kleine Anschwellungen und dergl. be reiten den Schwung der Linien vor, zarte Spitzen lassen ihn auskltngen.
Zi. Überstcht der wichtigsten Bogenformen. Stiehl, Der Weg zum Kunstverständnis.
33
ZO. Streb-epfeilerkrörrung vom Münster zu Freiburg. Der aufstrebende Schaft geht w«ich aus der GtebelschrLge hervor. Die Linien der krdnen, den Tterfigur fließen einheit lich mit denen ihres Unter baues zusammen.
i. Halbkreis. 2. «Gestelzter Halbkreis. 3. Hufetsenbogen. 4. Bretter Spitzbogen. 5. Steiler Spitzbogen. 6. Hoher Korbbogen. 7. Flacher Korbbogen. 8. Tudorbogen. 9. Spitzer Stichbogen. 10. Hoher Stichbogen. 11. Flacher Stichbogen. 12. Kleeblattbogen. 13. Desgl. spitz. 14. Desgl. flach. 15. Ktelbogen breit. 16. Ktelbogen steil. 17. Dorhangsbogen. Dte schraffierten Telle veranschaulltchen daS für Kraft des EtnüruckS wichtige Derhäknts zwischen der FlSchengröße des Bogens und des tragenden Rechtecks.
3
34
iv- Der Vorgang beim künstlerischen Sehe».
bewegungen stellen eine gewisse Arbeit des Auges dar, die für gewöhnlich unbewußt geleistet wird, die aber ebensowohl bewußt geübt und dadurch leicht geschult und ver--
feinert werden kann. Durch solche Bewegungsarbeit des Auges gelangt der Beschauer
zur bewußten Vorstellung der Form junächst so, wie sie sich als Flächenbild darstellt, wie es uns die Malerei und die graphische» Künste festlegen. Wohl die meisten der heutigen Gebildeten kommen über die Aufnahme solcher Flächenbilder nicht hinaus. Sie brauchen zu ihrer räuEchen Erfassung das mechanische Hllfsmittel des Stereo
skops, das mit seiner übertriebenen Plastik, in der die Gegenstände wie aus Pappe ge schnitten voreinander stehen, dem künstlerisch Schauenden ein Greuel ist. Denn das künstlerische Sehen findet sein Ziel erst, indem es selbst aus eigener Kraft solche Flächenbllder in ihrer räumlichen Tiefenabstufung weiter ausdeutet. Erst wenn dies geschehe» ist, stimmt die gewonnene Anschauung zu der aus früheren Beobachtungen gewonnenen Erfahrung, daß die Dinge im Raume verschiedene Tiefenausdehnung besitzen. Erst damit kommt die künstlerische Anschaung zu voller Befriedigung und zum still freudige» Eindruck, sich den Gegenstand innerlich zu eigen gemacht, ihn in sich restlos ausgenommen zu haben. Dadurch ist das räuMche Sehen die höhere Stufe des künstlerischen Se hens, alle höheren künstlerischen Werte sind Raumwerte. Auch diese Raumwerte tastet das Auge ab, indem es die Brennweite seiner Linse auf die wechselnde Entfernung wechselnd einstellt und gleichzeitig die Mittellinien beider Augen auf den zu betrachtenden Punkt hin richtet, d. h. die in verschiedener Tiefe be findlichen Bildteile Nacheinander scharf ins Auge faßt. Denn gleichzeitig kann es, wie jeder Versuch lehrt, nur die in einer begrenzten Tiefenschicht stehenden Gegenstände scharf sehen. Diese Einstellung des Auges auf verschiedene Tiefe erfordert wieder wie das Verfolgen der Linienzüge eine gewisse Muskelarbeit; der Satz, daß Kunstwerke mit dem Leibe nachgefühlt werden, gilt auch für die räuMche Anschauung. Aber in viel höherem Grade noch als bei der Aufnahme der Linienzüge beruht die Deutung des Raumeindrucks auf der Erfahrung, auf den früher gesammelten Gedächtnisblldern. Die in der Entfernung verminderte Größe, die Kenntnis der Linienverschiebungen, die sich aus wechselnder Entfernung ergeben, die Verschleierung der Farben auf größere Entfernungen sind solche Hilfsmittel der Erfahrung. Aber trotz ihrer NachhUfe bleibt das Ergebnis der reinen Augenarbeit räumlich vielfach unüar und mehrdeutig. So ist das richtige Einschätzen von Entfernungen in der freie» Natur ohne besondere Übung
vielerlei Täuschungen unterworfen, so kann das Auge an einem verWrzt gesehene» rechteckige» Körper oder Raum das Verhältnis der Seitenlängen zueinander ohne be sondere Anhaltspunkte nicht leicht erkennen, so wird es besonders gerundete» Foruren,
etwa Kuppeln von anderem als kreisförmigem Grundriß, eiförmigen Jvnenräuuwn, vielen Gewölbeformen gegenüber sich durchaus unsicher finden. Ohne Sicherheit der Anschauung kann aber die innere Befriedigung nicht zustande kommen, die wir soeben als das Ergebnis künstlerischer Formaufnahme bezeichnet haben. Darum ist die Klärung des Raumeindrucks eine der ersten und wichtigsten Aufgaben
der Kunst. Die vielseitige» Mittel, die ihr dazu zur Verfügung stehen, werden wir im
einzelne« weiterhin kennenlernen. Im allgemeinen dient wieder die Beobachtung der fich verkürzenden, sich schneidenden, anschwellenden und abklingenden Linien als Hllfs
mittel, um dem Auge Klarheit über die räuMchen Verhältnisse zu schaffen.
So ver-
-ittdet sich beim künst
lerischen Sehen das Abtasten der Tiefen werte mit dem Ver folge» der Linienzüge zu einem unlöslich-
emheitlichm gang. An
Vor diesem
nimmt der ganze Kör per wieder teil, indem
er dem Vor- und Rück springen des Raumes gemäß in deutlich fühlbare Schwingun
32. S. Foska auf Torceüo.
E. A.
Eindruck der hochgestelzten Rundbögen am Säulenumgang. Sehr lebendige gen gerät. Er ver Stolz-Hetterer Massengltederung des oberen Aufbaues mit Übergang vom unteren Viereck zum Rund der spürt die Anjiehungs- Kuppelwandung, avgelehM an die vier wett vorspringenden Kreuzarme. Wirkungsvoll die Verdoppelung der Rundltnten an der Trommel der Kuppel. kcaft tiefer Raum teile und fährt zurück vor plötzlichem Vorstoß der Massen. Die räuMche Wirkung ist die Grundlage, auf der sich gesunderweise alle anderen künstlerischen Wirkungen aufbauen müssen. In der Baukunst aber wird der Raum
durch feste Massen ausgefüllt oder umgrenzt und so gllt für die Baukunst der Satz: Im Anfang ist die Masse. Sie blldet-chen Rohstoff, aus dem der Künstler sein Werk formt. Sie räumlich mit unserer Anschauung zu erfassen, darin gipfelt die Ausbildung, die Kultur unseres künstlerischen Sehens. Die Fähigkeit zu solcher plastisch räuMchen Erfassung der Außenwelt läßt sich durch Übung erwerben und außer
ordentlich steigern. Wer sie besitzt, dessen Auge ist nicht nur zum vollen Genusse von Kunstwerke» befähigt, sein Auge wird beseligt die schwellende» Forme» belebter Körper seinem Gefühl vermitteln, es wird sich an den vor- und zurückgehenden Flächen eines schön gegliederten Berghanges wiegen lassen, es wird in die Tiefen einer reich belaubten Baumkrone odereines ernsten Laubenganges, Abb.25, schauend hineintauchen. Er fühlt in der fteien Landschaft das atmende Leben der auf- und abwogenden Bodengestaltung, er empfindet mit Überraschung im sich öffnenden Durchblick die weite Ferne als Offen
barung des unendlichen Raumes neben behaglicher Begrenzung.
Auf Schritt und
Tritt erfaßt er als fteier Genießer die räumlichen Wunder der umgebenden Welt. Er erfährt so eine in dieser Eigenart unvergleichliche und durch nichts anderes erreichbare beglückende Erhöhung seines Lebensinhaltes. In dieser schöpferischen Arbeit des Auges und des die Erscheinung ausdeutenden Diese
Geistes liegt der größte Tell des sinnlichen Reizes, den das Kunstwerk ausübt.
Arbeit bedeutet tiefinnerliche Freude. Indem Auge und Geist in engem Bunde den Jusamurenklang der Massen und Linien mitschwingend nachempfinden dadurch, daß sie die bedeutungslose Erscheinungsform zur räumlichen Wirkungsform nachfühlend umschaffen, durch Arbeit also, entsteht das gehobene Gefühl gesteigerter innerer Empfin
dung, seelischer Bereicherung, des lebendigen Glückes. Auch hier bewahrheitet fich der Satz, daß es ohne Arbeit keinen Genuß gibt, ohne Fleiß keinen Preis. Denn wird dem
IV. Der Vorgang beim künstlerische» Sehen.
36
Auge die Arbeit zu leicht ge
macht, so fällt der Reiz der schöpferischen Mitarbeit fort, und die Folge ist, daß die innere
Erhebung ausbleibt, dafür der Eindruck der Langewelle oder sogar des Mißvergnügens sich
einsiellt.
Das kann aus ver
schiedenen Gründe» eintreten^ Zunächst dadurch, daß dem Anspruch des Auges an eine an
regende Beschäftigung nicht ge nügt wird. So werden unter dem Anspruch, als Kunsterzeug zz. Saal im Altenheim yt Tenever.
Arch. Heyberger'.
Tuborbögen alö Gliederung der Raumtiefe, unterstützt durch die regelmäßige Stellung der Beleuchtungskörper und Möbel. Gleichmäßige Helligkeit macht den Raum nüchtern.
nis zu gelten, massenhaft dem heutigen Auge Dinge dargeboten,
die ihre» Halt »ur in dem oben gekennzeichneten allgemeinen Mangel an künstlerischer Urteilskraft finden, Dinge, die weder aus tieferer künst lerischer Empfindung entsprungen, noch ans sie berechnet sind, sondern ihre Anregung bestenfalls aus irgendeinem zeitweise gerade herrschenden kunstpolitischen Schlagwort ziehen, meistens aber auf die Bequemlichkeit sich gründen, mit „dem flitterhasten Gewände, welches kleine Seelen wenig Mühe kostet^"), zu prunken und wenn möglich grob sinnliche Anreize zur Auspeitschung der Aufmerksamkeit zu benutzen. Man bezeichnet solche Dinge mit entschiedener Mißachtung in künstlerischen Kreisen als „Kitsch", d. h. als Dinge, die etwa auf dem Bildungsstandpuntt sentimentale» Leierkastengedudels stehen. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß innerhalb seiner Begrenzungen gewisse Formschönheiten entwickelt werden, aber es fehlt die Steigerung des Eindruckes zu innerer Kräftigung und dauernder Bereicherung, die wirüiche, Kare Kunst verleiht. Aus dem allgemeinen Bereich der Künste kann als handgreifliches Bei spiel an die zeitwellige Herrschaft leicht faßlicher Operettenschlager und Gassenhauer erinnert werden, an die verführerischen Büder süßlich schmelzender Odalisken und ähn liches, um die Art dieser oberflächlichen Afterkunst zu kennzeichnen. In der Baukunst
ist die sinnlose Häufung schlecht durchgebildeten und abgedroschenen Zierats sowie die schulmäßige Nachahmung von unverstandenen Formen irgendwelcher „Stllarten" die verbreitetste Art, mit der ungeschulte Betrachter eingefangen werden. Das eigent liche Kennzeichen für architektonischen Kitsch ist indessen die gleichgültige Außerachtlassung aller der geistigen Tätigkeit, die auf planmäßige Abstufung der Wirkungen, auf ihre einheitliche Zusammenfassung ausgeht. „Unwissenheit, die mißvergnügt ist, aber ge
wandt, die lernt, was sie nicht begreifen kann, erzeugt die widerwärtigsten Machwerke" (Ruskin, Eagles Nest VI.). Aber auch ernst zu nehmende Kunst ist dem Schicksal unterworfen, Überdruß und
Langewelle zu errege».
Der Sinnenwelt gehört die Kunst an, mit den Sinneswerk-
9 Briefe des Herzogs Ludwig Eugen von Württemberg an Moses Mendelssohn.
IV. Der Vorgang beim künstlerischen Sehe».
37
34. Beispiele vorschreitender Linien ohne und mit bestimmter einseitiger Richtung.
zeugen wird sie ausgenommen, und das Schicksal der Sinneswerkzeuge ist, daß sie der Wiederholung des gleichen Reizes gegenüber an Empfänglichkeit verlieren, daß sie er
müden.
Das gleiche Schicksal trifft den die Erscheinung ausdeutenden Geist.
zwar aus von dem An schluß an ältere Ein
Er ging
kann zwar ein Kunst werk, das man einmal erfaßt und liebgewo nnen
drücke, also vom Be
kannten, aber doch liegt
hat, mit Freuden Wie
für ihn der Reiz, wie oben gezeigt wurde, in
dersehen. Wenn es wirk lich ein tiefes, gehalt
der schöpferischen Tätig-
volles Werk ist,
wird
feit, sich neue Eindrücke
man dann nicht früher erfahrene
nur Er
einzugliedern,
„ neue
Gedächtnisbilder zu er werben" (Göller). Fällt dieser Reiz durch mehr fache Wiederholung der gleichen Anregung fort, so erschlafft auch die Freude an der Erschei
nung, das Gefühl der
regungen
wiederemp
finden, sondern es wer den sich dem wieder
holten
35. Altchristliche Brüstungsplatte. Verwendung vorwärtsschreitender Linien zu guter Flächenteilung. Daneben Palmetten und rich tungslose Rundformen. Große Unruhe int Gan zen durch das Fehlen von überwiegenden Teilen und klaren Gegensätzen.
Schauen
auch
immer neue Anregun gen erschließen. In
sofern ist solches wieder holte Genießen eine
scharfe Probe auf den Erhebung geistigen Gehalt eines wird abgestumpft. Man Werkes. Je mehr Gefühl in ein Werk hineingelegt ist, um so weniger wird sein Ein
innerlichen
druck durch Ermüdung geschädigt werden. Andererseits ist es aber auch eine Probe auf die Genußfähigkeit des Beschauers. Je mehr er auf die künstlerische Ausdeutung
der Erscheinungsform geschult ist, um so länger wird er immer neue, feine Anregungen aus einem Werk schöpfen können, über das der ungeschulte Laie nach einigen grund legenden Erschütterungen bald mit kühler Achtung abgestumpft hinwegsteht. Diese
Empfänglichkeit, die gleiche Empfindung wiederholt zu genieße», überträgt sich aber
38
IV. Der Vorgang beim künstlerischen Sehen.
36. Spätgriechische Rankenfriese. Der obere streng gemessen fortschreitend, die Nebenbestandteile gegenüber der Hauptlinte unbedeutend. Der untere stürmt in flachen Bogenlinien hastig vorwärts, überwuchert von Nebenlinien, die stch gegenseitig überholen, überschneiden, nach verschiedensten Richtungen htnstreben, auch mit richtungslosen Gebilden stch vermischen.
nicht auf das Beschauen eines anderen Gegenstandes. Ein anderes, neues Werk muß von vornherein auch neue Saiten im Gemüt erklingen lasten, wenn es sich Beachtung
erringen soll. Das ist der Grund, weshalb die Kunstentwicklung niemals jum Stillstand komme» kann, vielmehr immer im lebendigen Flusse bleiben muß. Das Auge, dem die einfachen, bekannten Formverbindungen ;u durchsichtig geworden sind, empfindet die Lösung neuer verwickelterer Aufgaben als angenehmen Reiz. Die Notwendigkeit, das Auge immer wieder neu ju beschäftigen, hat in jedem Stile dazu geführt, die Massenbehand lung der Bauten wie auch ihre Eintelformen dauernd weiterzuentwickeln, Abb. 17, 350, die dem Auge gestellten Aufgaben immer schwieriger zu gestalten, die zunächst einfachen Linienführungen reicher und immer verwickelter zu formen, die Gegensätze zu verschärfen. Nur so ist innerhalb einer einmal angeschlagenen Formenauffassung die Forderung nach immer neuen Reizen zu erfüllen, Abb. 60, 66. Je lebhafter und reger der Kunst betrieb einer Zeit ist, um so schneller werden natürlich die Wirkungsmittel abgenutzt, um so stärker ist der Drang nach Neuheit und um so stürmischer die Fortentwicklung des Stils. Und wenn die schöpferische Vorstellungskraft bis zum größten Reichtum vorgedrungen, die gegebene Formwelt bis zu ihren äußersten Folgerungen getrieben hat, so geht ein „Stll" zu Ende, seine Kunsimittel sind verbraucht. Eine neue Grundauffassung wird ergriffen. Auf das Streben nach Ruhe folgt die Freude an der Be wegtheit oder umgekehrt, auf die üppige Häufung reicher Kunstmittel die Vorliebe für kusche Schlichtheit: ein neuer Stll beginnt zu herrschen. So ist ein gesundes Kunstschaffen und ein gesunder Kunstgenuß aus dem Wesen
der Sache heraus an ein Fortschreiten, an die Beimischung neuer Reize, eines gewissen
„Neuigkeitswertes" zur älteren Erscheinung gebunden. Dabei ist aber zu bemerken, daß solche Neuigkeit keineswegs so dick aufgetragen zu sein braucht, daß sie dem Be schauer gleich als solche bemerkbar wird. Wenn nur der gewünschte Stimmungsgehalt
erreicht wird, ist der Vorwurf, das Kunstwerk bringe nicht viel Neues, durchaus un gerechtfertigt und mehr ein Zeichen für die Verbildung, den falschen Standpunkt des Kritikers, als für einen Mangel auf feiten des Künstlers. Überhaupt ist der Wert sol cher Neuigkeiten nicht unbedingt gegeben und nicht feststehend. Es ist sehr möglich, daß eine Formgebung, die für eine gewisse Zeit aus Überdruß reizlos erschien und deshalb
durch andere ersetzt wurde, für eine spätere Zeit wieder ftischen Reiz besitzt und daß diese spätere Zeit wenig angenehm berührt wird von den Neuerungen, die den Ausdruck dieser Formen veränderten. So stand das neunzehnte Jahrhundert bis kurz vor seinem Schluß den starken Reizen der Barockkunst ablehnend gegenüber, well es an der stilleren Haltung der Renaissance, die durch jene abgelöst worden war, noch volles Genüge fand.
— Ebenso kann auch derjenige, der die volle Empfänglichkeit für Kunsteindrücke be sitzt, sich noch an Formauffassungen erfteuen, die anderen schon abgenutzt und reizlos erscheinen: wenn er sich nämlich abseits der Brennpunkte künstlerischer Entwicklung befindet, dadurch also erst mehr allmählich mit den neueren Fortschritten bekannt und nicht so leicht von ihnen übersättigt wird.
Andererseits haben wir oben schon bemerkt, daß gerade laienhafte Unbildung sehr schnell auch dem gehaltvollen Kunstwerk gegenüber gleichgültig wird, well ihr der Schlüssel zu seinen Schönheiten und die Fähigkeit des Gemeßens fehlt. Um das zu
verstehen, greifen wir zurück auf den Unterschied des verstandesmäßigen und des künst lerische» Sehens. Wie wird sich dieser vor dem Kunstwerk äußern?
Während der künstlerisch Schauende die Eigenart der Einzelformen, ihre räumliche Wirkung als Verschiedenheiten der Empfindung in sich aufnimmt, die wechselnden Ver hältnisse nachfühlt, in der sie die gegebenen Flächen teilen, sich an der Art erfreut, in der sie mit ihrer Umgebung abgestimmt sind usw., und darin reiche Anregung findet, wird der verstandesmäßig Sehende nur feststellen, daß er z. B. dorische Säulen vor sich hat. Deren Begriff ist ihm bekannt, er ist für ihn eindeutig, also verlangt er nach etwas ande rem, unbedingt Neuem. Der besonders große Wert, der heutigen Tages dem Gefichts-
punkt der Neuheit in der Kunstauffassung beigelegt wird, beruht eben zum guten Tell darauf, daß sie sich mit ihrem Reiz mehr an den Verstand als an das Gemüt wendet
und deshalb in unserer einseitig verstandesmäßig auf Bereicherung des Wissens ge richteten Zeit leichter aufgefaßt wird, als die Werte künstlerischer Stimmung.
Unkünstlerisch gerichtete Kreise, die sich in das Gute nicht zu vertiefen wissen, verlangen also am schnellsten nach Abwechselung, nach Neuerungen. „Daher sehen wir den rohen Geschmack das Neue und überraschende, das Bunte, Abenteuerliche und Bi zarre, das Heftige und Wilde zuerst ergreifen und vor nichts so sehr als vor der Ein falt und Ruhe fliehen. Er blldet groteske Gestalten, liebt rasche Übergänge, üppige
Formen, grelle Kontraste, schreiende Lichter, einen pathetischen Gesang" (Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts XXVI). Und hier wird die Grenze der inneren Berechtigung für solche Neuerungen leicht überschritten. In der Kunst wie in jeder geistigen Tätigkeit ist als Vorbedingung emes gesunden Fortschreitens ein Ausreifen der Gedanken erforderlich. Nur indem immer wieder die Griechen in gleichem Sinne ihre Säulenordnungen durchar'beitete», fanden sie so bewunderns
werte, in ihrer Art unübertreffliche Lösungen. Nur indem die mittelalterliche» Bau schulen, jede in ihrem Bezirk, treu an ihrer eigenartigen Grundauffassung festhielten,
4o
IV. Der Vorgang beim künstlerische« Sehen.
fie nur im einjelaen allmählich abwandelad und fortentwickelad, käme« sie j« -er cha raktervoll geschloffenen, mit eigenartiger Stim mung gesättigten Kraft ihrer großen Schöpfun gen. Nur gering war an jedem Einjelwerk das Maß des Fort schreitens, dafür be wahrte es den Anschluß an AllgemeingAtiges, Mjx (g imr durch die
37« Römischer Rankenfries. Die Hauptttnte beschwert mit Akanthuslaub, dessen Blätter den Rankenzug mit vielfach aneinander ankltngenden Nebenlinien begleiten. Der Grund stark gefüllt.
.
7
Arbett von vielen Ge schlechtern aus dem vergänglich Persönlichen herausgehoben werden kann, und deshalb unvergängliche Schönheit wirkt. Das lehrt uns den Wert der Neuheit geringer emschätzen, als es vielfach in den letzten Jahrzehnte» geschehen ist, wo man in ihr den Hauptwerl „moderner" Kunst zu sehen geneigt war. Nicht in dem Maß der in jedem Werke enthaltenen, sofort auffallenden Neuheit äußert sich die große Persönlichkeit, sondern in der Tiefe der Empfindung, die sie durch Verbindung von Altbewährtem und neu Gefühltem zu erwecken vermag. Nicht das Geschrei nach billigen Erfolgen, um den Nettigkeitskitzel der Unkünstlerischen zu beftiedigen, nicht die Jagd nach neuen Schlagworten und grundstürzenden Theorien darf die Triebfeder zu Änderungen der Kunstsprache sein, sondern für sie liegt der berechtigte Antrieb nur in der besonnene» Schöpferkraft, die «»ter Berücksichtigung künstlerischer grundlegender Gesetze mit jeder Form eine Absicht auf bestimmte, und zwar auf eine edle, nicht oberflächliche Erregung verbindet. Hält man sich nicht an diese, zunächst vielleicht streng erscheinende Forde rung, so verliert die Kunst den Halt des wuchtig Allgemeingültigen, dauernd Wirkungsvollen und gerät in eine überstürzte, sich grundsatzlos überkugelnde Selbstherrlichkeit hinein, deren Erzeugnisse keinen Dauerwert besitzen, sondern nach we nigen Jahren scheuen Blicks auch von ihren zeitweiligen Bewunderern gemieden werden. — Vergängliche Aussiellungskunst! Wer will heute noch etwas von dem so freudig be grüßten Jugendsill und seinen Folgeerscheinungen wissen, und welcher Kundige bedauert jetzt nicht tief die Vergeudung von Talenten und die Verwüstung älterer baulicher Schön heiten, die aus der halllosen Verfolgung von Neuheitswerten in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Also, seien wir vorsichtig in der Einschätzung des vergänglichen Neu heitswertes! Er bemäntelt oft nur den Mangel ernsten Gestaltungsvermögens oder tieferen künstlerischen Wollens und führt dazu, daß, statt aus der Eigenart einer be stimmten Formenwelt immer tiefere Wirkungen zu ziehen, stets neue Gebiete mit ober flächlichem vergänglichen Erfolge beackert werden. schlimmster Art.
Das ist künstlerischer Raubba«
IV. Der Vorgang beim künstlerischen Sehen.
39. Beispiele von Linien, die das Fortschreiten des Blickes hemmen.
Ma» hat oft die Formen der Kunst mit denen der Sprache verglichen.
Das mag
in
voller Ausdehnung zu manchen Schiefheiten führen. Aber sehr wohl kann man sie ver gleichen mit der gehobenen Sprache feierlicher Anreden, Trinksprüche und Denkmalsinschriften. Nun, auch bei diesen wird ein geistvoller Mann sich den Grundlinien des Üblichen anschließen und sie nur mit seinen besondere» Gedanke» im einzelnen schmücken und fesselnd gestalten.
Eine Ansprache oder eine Inschrift, die nur aus geistreichen Überraschungen, prickelnden Wort 38. Rankenfries aus S. Trinita in Florenz. Höchster Schwung der vielfach aufgerollten zarten Schneckenltnten, sehr reiche Belebung durch kleinere, -um Teil überschneidende Nebenlinien. An sich unregelmäßige Bestandteile, wie die rein natürlich gebildeten Vögel, sind regelmäßig verteilt und legen mit den großen Mtttelblumen zusammen eine die Hauptlinie überschneidende große Nebenlinie fest.
spielen und unerhörten Wendungen sich zusammensetzt, wird nirgends unter reifen Menschen als geschmackvoll empfunden werden. Das wird auch einen Anhalt geben dafür, wie weit das Streben nach Neuheit in der Kunst berechtigt ist und wo es seine Grenze findet. Sie wird im
allgemeinen da liegen, wo das, was der Künstler ausdrücken will, für den künstlerisch Empfinden den noch anziehend wirkt; im einzelnen läßt sie natürlich je nach BUdung und Gewohn heit «eiten Spielraum. Wer seine Speisen mit Essig, Pfeffer und Knoblauch stark zu
würzen gewohnt ist, wird an den feineren Gerichten der hervorragendsten Köche wenig Reize finden, ist dadurch aber nicht maßgebend für die Höhe des Geschmacks. Und was im tobenden Treiben der Weltstadt die Augen auf sich ziehen will, wird andere Mittel
42
.IV. Ler Vorgang Leim künstlerischen Sehen.
brauchen als das, was io be haglich-ruhiger Umgebung wir
ken soll, Abb. 166,170. Schlim mes kommt zustande, wen« ein falscher Ehrgeiz, der sich auf Überschätzung des Neuigkeits wertes gründet, die Ausdrucks weise der überreizten Großstadt in die behagliche Stille kleinerer
Verhältnisse überträgt. Wer in äußerlicher Nachahmungssücht Neuigkeiten, die er nicht selbst als künstlerisch notwendig emp
funden, sondern nur aus be drucktem Papier seelenlos ent
nommen hat, in so unkünst lerischer Weise verwendet, handelt ebenso wie derjenige, der in guter behaglicher Gesellschaft mit der lauten Ausdrucksweise des Iahrmarktsausrufers eigens aus wendig gelernte, in die Unter haltung nicht paffende Anek doten austischen wollte. Das Streben nach Neuheit stellt also eine für die gesunde Kunstentwicklung und Kunstempfindung notwendige Würze dar, ist aber wie jede Würze mit Vorsicht zu ge brauchen. Es kann keinen unbedingten Wert beanspruchen und darf keinesfalls aus 40. Altchristliche Brüstungsplatte.
Verbindungen von mittig gerichteten Formen ruhmder und kreisender Art und palmettenarttgen Blattbtldungen. Einfache Vermehrung der Rahmenltnien. Starker Gegensatz in den Maßstäben und dem Grade der FlLchenfüllung.
seiner Nebenrolle zur Hauptrolle erhoben werden. In gesunden Kunstzeiten wirkt dem Streben nach Neuheit als kräftige Bremse die Freude entgegen, die gerade das Wieder erkennen gewohnter Formverbindungen bereitet. Damit ist nicht etwa die geistige Trägheit gemeint, die im engen gewohnten Kreise sich drehend jeder Neuerung miß trauisch und ablehnend gegevübersteht. Sie, die nur „ausgeschliffene Gehirnbahnen" kennt, ist wie auf allen geistigen Gebieten auch in der Kunst das Hindernis jedes sich
höher entwickelnden Fortschritts, der Urgrund traurigen Philistertums. Aber im Wesen der Kunstempfindung tief verankert und voll berechtigt ist die Genugtuung, die das Auge empfindet, wenn es an gewohnten Zügen die Anhaltspunkte gewinnt, um sich in den mannigfaltigen Eindrücken eines zusammengesetzten Kunstwerks zurechtzufinden. Dem liegt zunächst et» Gefühl der tiefinnerlichen Zuftiedenheit und Liebe zugrunde, das den
Kuustempfindenden mit dem aus früheren Eindrücken stammenden Gedächtnisinhalt verknüpft, dann auch das Gefühl der Sicherheit, mit der sich der empfangende Geist auf anregendem Gebiete bewegt, also ein gewisser fteudiger Stolz auf den eigenen geisti gen Besitz, dazu die tiefe Empfindung für die hoch über die zufällige Alltäglichkeit hinausragende Gesetzlichkeit, die in den überkommenen Grundzügen der Kunst
wirkung durch die Arbeit ungezählter Menschenalter als Denkmal menschlicher Geistig-
teil sich niedergeschla
„neuen Stlls" nachjujagen, sondern man
gen hat. Jede ältere Kunsts zeit hat für diesen Wert der Überliefe
bildete Schritt für Schritt die gewohnten
Formen um. Und in der freiesten Ent wicklung der bewußt nach Neuem streben
rung volles Verständ nis gehabt und die
überkommenen Grundformen in Eh
den Barock- und Ro kokomeister blieb die Strenge der Säulen,
ren gehalten, sie min destens wie den Bal last benutzt, der das Schiff auf bewegtem Meere vor dem Ken
Pilaster und Gesims
bildungen
tern bewahrt. In den stürmischen Zei ten mittelalterlicher Weiterentwickelung sagte man sich keines
wegs von der gewohntenFormgebung los, um etwa dem
stets
in
hohen Ehren bestehen, Abb. 19, sie bildete das feste Gerüst, in
41. Krönung eines Grabsteins auf der Insel Samos5.
das die Bernini, Bor romini, Dientzenhofer, Pöppelmann, Fischer usw. ihre
Die nach dem Fußpuntt zusammenlaufende Linienführung wird durch abwechselnd hohle und erhabene Behandlung der einzelnen Blätter fein hervorgehoben und am Fußpunkt in verkleinertem Maßstab wiederholt.
überraschenden neuen Gedanken bereichernd Trugbild eines hineinarbeiteten. Es war der Grundfehler in dem wilden Treiben der kur; verfloffenen „übermoderne", daß man dieser Notwendigkeit einer festen Grundlage nicht zu bedürfen glaubte. Die Folge davon ist, daß nicht die stürmischen Neuerer, sondern nur diejenige» ernsteren Künstler dauernd Werte aus dem Wirrwarr zogen, die wenigstens die Grundgesetze der strengen Linien-, Flächen- und Maffenwirkungen in unbewußt starkem Gefühl in ihren Werken betätigten. Nachdem wir so über die Art, in der wir künstlerische Wirkungen in uns aufnehmen könne«, uns klar geworden und auch schon daraus zu einigen Folgerungen allgemeiner Art vorgedrungen sind, stehen wir nun vor der Hauptfrage: Welche Mittel hat der Künst ler, um unter Benutzung der geschilderten Wahrnehmungsvorgänge auf die Stim mung des Beschauers einzuwirken. Wir haben gesehen, daß die Klarheit und Eindeutig keit der Erscheinung unerläßlich ist, um eine einheitliche Wirkung zu erzielen und daß
dazu vor allem über die Wahrnehmung der Linien hinaus eine Klärung des Flächen eindrucks und für Werke höheren Ranges des Raumeindrucks nötig ist, für dessen ein
deutige Erfassung unsere Sehwerkzeuge allein, ohne Nachhilfe, vielfach nicht ausreichen. Die Behandlung der Linien und der Flächen, des Raumes und der Masse ist die Grundlage künstlerischer Wirkung. Wir werden sehen, wie Raum und Masse schon in den einfachsten Fällen vom Künstler seinen Zwecken entsprechend
als Stimmungswert wechselnder Art genutzt werden können. Sie können auch — und das ist unter den Ansprüchen der rauhen Wirttichkeit oft die Hauptaufgabe der künstle
rischen Tätigkeit — auf verschiedenen Wegen, ohne in ihrer wesentlichen Daseinsform
44
V. Die Linie als Ausdrucksmittel.
sich zu ändern, zu ganz anderer Wirkungsform ausgebildet werden, die der beabsichtig ten Stimmung dient, sie steigert und störende Nebeneinflüsse überwindet. Als Mittel zur Erreichung dieser Ziele dient dem Künstler die Beherrschung der Linien und der Flächen, unterstützt durch das Licht und die Farbe. Dazn werden wir auch eine Anzahl von wichtigen, die Stimmung fördernden Nebeneinflüssen kennenlernen, die uns vor dem neuerdings mehrfach verfochtenen einseitigen Standpunkt bewahren werden, als ob in der Behandlung des Raumes allein der ganze Inhalt der Kunsttätigkeit einbe griffen sei.
V. Die Eime als Ausdrucksmittel. Die Formen der uns umgebenden Welt wirken auf uns und unsere Stimmung unmittelbar, indem unser Auge unwillkürlich ihre Linien verfolgt. Dabei wird der Geist in Erinnerung an körperliche Zustände durch bestimmte Linienführungen zu bestimmten Vorstellungen angeregt. Die Formen können diese Wirkung um so sicherer und stärker ausüben, je reiner die Linien auf einen bestimmten Eindruck hin abgestimmt sind. So ist auch für die künstlerische Linienführung die Einheitlichkeit des Ausdrucks als Folge der einheitlich aus der Seele quellenden Empfindung die einzige Gewähr eines sicheren Erfolges. Ein Vermischen mit gleichgültigen oder gar störenden Bestandteilen, wie es sich bei unklarem Wollen oder auch als Folge unverstandener Nachahmung einfindet, reißt die Seele aus der eingeschlagenen Stimmung heraus und verhindert sie, sich ihr ganz hinzugeben. Solche Einheitlichkeit aber bedeutet nicht etwa einseitige Beschränkung auf gewisse Linienführungen, wie sie durch neuere Schlagworte gelegentlich gefordert werden. Sie besteht nicht in unbedingtem „Vertikalismus", „Horizontalismus" oder ähnlichen Ismen. Kunst wendet sich jederzeit an den ganzen Reichtum der Menschenseele, daher rächt sich in ihr jede Einseitigkeit verstandesmäßiger Logik unweigerlich durch Trocken heit und Unliebenswürdigkeit des Eindrucks. Fabrikschornsteine wirken häßlich und störend zum guten Teil wegen der einseitigen schneidenden Kälte ihrer starren Linie. Deshalb mischen sich in der belebten künstlerischen Linienführung Bestandteile verschiedener Art miteinander, sogar scharfe Gegensätze, Schroffheiten können gegeneinander ausge spielt werden, um sich im Kampfe erst recht gegenseitig zum klaren Ausdruck zu bringen oder um die Aufmerksamkeit lebhaft zu reizen. Es ist auch nicht nötig, die Linien in dem Sinne einheitlich zu formen, daß sie alle mit einem Blicke leicht erfaßt werden können. Im Gegenteil, gerade die fortgeschrittene Kunst liebt es, dem Auge gewiffe Schwierigkeiten in der Erfassung der Linienverhältnisse als besonderen Reiz zu schaffen. Das zu erstrebende Ziel ist nicht die Einförmigkeit, sondern Einklang, Übereinstimmung, Zusammensiimmung
(Harmonie). Die Grundlage für diese Mischung verschiedener Linienführungen bildet der Gegen satz der Wagerechten und Senkrechten. Erstere ist die Verkörperung des Bodens, auf dem
44
V. Die Linie als Ausdrucksmittel.
sich zu ändern, zu ganz anderer Wirkungsform ausgebildet werden, die der beabsichtig ten Stimmung dient, sie steigert und störende Nebeneinflüsse überwindet. Als Mittel zur Erreichung dieser Ziele dient dem Künstler die Beherrschung der Linien und der Flächen, unterstützt durch das Licht und die Farbe. Dazn werden wir auch eine Anzahl von wichtigen, die Stimmung fördernden Nebeneinflüssen kennenlernen, die uns vor dem neuerdings mehrfach verfochtenen einseitigen Standpunkt bewahren werden, als ob in der Behandlung des Raumes allein der ganze Inhalt der Kunsttätigkeit einbe griffen sei.
V. Die Eime als Ausdrucksmittel. Die Formen der uns umgebenden Welt wirken auf uns und unsere Stimmung unmittelbar, indem unser Auge unwillkürlich ihre Linien verfolgt. Dabei wird der Geist in Erinnerung an körperliche Zustände durch bestimmte Linienführungen zu bestimmten Vorstellungen angeregt. Die Formen können diese Wirkung um so sicherer und stärker ausüben, je reiner die Linien auf einen bestimmten Eindruck hin abgestimmt sind. So ist auch für die künstlerische Linienführung die Einheitlichkeit des Ausdrucks als Folge der einheitlich aus der Seele quellenden Empfindung die einzige Gewähr eines sicheren Erfolges. Ein Vermischen mit gleichgültigen oder gar störenden Bestandteilen, wie es sich bei unklarem Wollen oder auch als Folge unverstandener Nachahmung einfindet, reißt die Seele aus der eingeschlagenen Stimmung heraus und verhindert sie, sich ihr ganz hinzugeben. Solche Einheitlichkeit aber bedeutet nicht etwa einseitige Beschränkung auf gewisse Linienführungen, wie sie durch neuere Schlagworte gelegentlich gefordert werden. Sie besteht nicht in unbedingtem „Vertikalismus", „Horizontalismus" oder ähnlichen Ismen. Kunst wendet sich jederzeit an den ganzen Reichtum der Menschenseele, daher rächt sich in ihr jede Einseitigkeit verstandesmäßiger Logik unweigerlich durch Trocken heit und Unliebenswürdigkeit des Eindrucks. Fabrikschornsteine wirken häßlich und störend zum guten Teil wegen der einseitigen schneidenden Kälte ihrer starren Linie. Deshalb mischen sich in der belebten künstlerischen Linienführung Bestandteile verschiedener Art miteinander, sogar scharfe Gegensätze, Schroffheiten können gegeneinander ausge spielt werden, um sich im Kampfe erst recht gegenseitig zum klaren Ausdruck zu bringen oder um die Aufmerksamkeit lebhaft zu reizen. Es ist auch nicht nötig, die Linien in dem Sinne einheitlich zu formen, daß sie alle mit einem Blicke leicht erfaßt werden können. Im Gegenteil, gerade die fortgeschrittene Kunst liebt es, dem Auge gewiffe Schwierigkeiten in der Erfassung der Linienverhältnisse als besonderen Reiz zu schaffen. Das zu erstrebende Ziel ist nicht die Einförmigkeit, sondern Einklang, Übereinstimmung, Zusammensiimmung
(Harmonie). Die Grundlage für diese Mischung verschiedener Linienführungen bildet der Gegen satz der Wagerechten und Senkrechten. Erstere ist die Verkörperung des Bodens, auf dem
42. Brücke im Schloßpark zu Ludwigslust.
E. A.
Die überwiegend geradlinige Formgebung wird durch den Korbbogen der Brückenöffnung, die geschwungenen Endigungen der Brüstung und die zierlichen Linien der krönenden Vase anmutig belebt.
wir stehen, Abb. 20. Letztere gibt die Richtung, in der die Schwerkraft auf uns und alle Gegenstände einwirtt. Gesetzt, die Schwerkraft würde etwa nicht im rechten Winkel jur
Erdoberfläche wirken, sondern einseitig schräg, so würden wir selbst und aus praktischen Gründen alle unsere Gebäude schräg stehen müssen. Wie die Dinge aber sich wirMch ver halten, so ist die Abweichung von der Senkrechten dem Auge als Störung des Gleichge wichtes unangenehm, wenn sie nicht durch ein Gegengewicht avsgeglichen wird. Diesen Hauptrichtungen gegenüber spielen alle anderen Linien nur eine mehr untergeordnete
Rolle; auch in rein figürlichen Darstellungen der Malerei und Bildnerei sehen wir diese beiden Hauptrichtungen in der Haltung der Körper zum Ausdruck gebracht. Den künst lerische« Inhalt aller Liaienbewegung bildet in diesem Kampf der Wagerechten und Senk rechten ihre Ausgleichung, Vermittlung und Auflösung. Man pflegt dabei die Wage rechte als Sinnblld der Ruhe, die Senkrechte als den Ausdruck der Bewegung anzusprechen. Als Grund für diese Auffassung dürfen wir wieder menschlich-körper liche Gefühle ansehen, indem aus der Eigenart des baulichen Gefüges heraus das wage recht Liegende als ruhende Last, das Senkrechte als tragende tätige Stütze empfunden wird. Sicherlich liegt in dieser Anschauung in Fällen einfacher Art ein berechtigter Kern, aber
man sollte deshalb nicht den ganzen Sinn der Baukunst in dem Ausdruck solcher gegen einander wirkenden Kräfte sehen und derartige Gedankenfolgen für die verwickelste» FAle, etwa mittelalterlicher Gewölbebauten und neuzeiüicher Leistungen ausführlich ausbauen. Darüber wird in dem Mschnitt über Sinn und Bedeutung der Formen einiges zu sagen sein. Wir könne» in dem Begriff von Gegenwirkung der Last und
der Stützen nur eine» der vielfältigen Nebeneinflüffe sehen, von denen wir am Schluffe
des vierten Abschnittes gesprochen haben, in gewissem Sinne eine verstandesmäßige Auslegung des durch den einfache» Livieneindruck i» uns erregten Gefühls. Berechtigt bleibt aber in der Empfindung, mit der wir die Linien aufnehmen, der Eindruck der Ruhe für die Wagerechte insofern, als mit ihr die Vorstellung breit hinge lagerter Masse» sich verbindet, die das Gefühl der Unbeweglichkeit, der Sicherheit im
46
V. Die Linie als AusderrckÄttiLLel. Gleichgewicht hervormftu. Aber wir werden weiterhin sehen, daß die Emp findung der Ruhe und Sicherheit auch auf anderem Wege erzielt werden kann. Andererseits dürfe» wir nicht etwa in der Anwendung von Wagerechten ein unfehlbares Mittel zur Erzielung von Ruhe erblicken. Nebenstehende Beifhiele, Abb. 23 zeigen, wie sie gelegmtlich auch
Unruhe auf sonst ruhigen Flächen er
zielen kann. Stoßen nun gar im Vorund Rücksprung der Massen die wage rechten Linien in verschiedenen Rich tungen aufeinander, so kann auch mit ihnen der Ausdruck lebhaftester Bewe gung erreicht werden. Abb. 296. Ebenso wenig ist die Senkrechte
unbedingt als Ursache künstlerischer Bewegung wirksam. Wohl wird sie vom ruhenden Auge nur auf geringere Länge beherrscht als die Wagerechte, 4z. Westseite der Klosterkirche zu Offeg. E. A. veranlaßt es also leichter zu Bewegun Die ganze Front tst in Bewegung geraten und enthält außer den gen, die dann, da sie meist nach oben Senkrechten kaum eine gerade Linie, auch die Flächen biegen sich einwärts und auswärts. — Klarhetr wirb aufrecht erhalten durch gerichtet sind, den Anklang an den sehn strenge Symmetrie und großzügige Abstufung der Hauptmassen. suchtsvollen Aufblick nach oben im Geiste auslösen, dazu den Vergleich mit dem frischen Aufsprießen der Pflanzenwelt, mit den straff gereihten Stämmen der Waldesbäume, dem Emporsteigen der Vögel. Unter ihrem Einfluß strafft sich der Körper und reckt sich zur Höhe. So wird die Senkrechte, Abb. 16, leicht der Anlaß stärkerer innererErregung, der Ausdruck bewegten Innenlebens, überschießender Kraft. Solche Rolle fällt ihr vor allem dann zu, wenn sie unausgeglichen, d. h. ohne ausreichende Gegenwirkung der Wagerechten auftritt. Hochstrebende Turmspitzen, Abb. 228, frei auf schießende Krönungen oder das Überwiegen vielfach gehäufter Senkrechten gegenüber schwacher Mitwirkung anderer Linien sind solche Fälle. Sie kann dann wohl ihren Ein druck bis zum Aufheben des Gefühls der Schwere, bis zur hemmungslosen Empfindung der Gewichtslosigkeit steigern. Andererseits ist die Senkrechte als Sinnbild der Schwer kraft sehr wohl ein Mittel, um zum Ausdruck der Wucht, des ruhig lastenden und des
mehr oder weniger schwer tragenden zu dienen. Abb. 101, 225. Sie kann sogar in der Form von herunterhängenden Zweigen, Gewinden oder nach unten sich verjüngenden Stützen Blick und Stimmung abwärts ziehen. Abb. 24. — Es gibt im Gebiet des Kunst
genusses eben keine unbedingt gültigen Regeln. Der Reiz der Kunst wird wesentlich verstärtt dadurch, daß sie den Geist vor ständig neue Standpuntte, neue Aufgaben-Erfassung
stellt. Welche dieser beiden Rollen der Senkrechten im einzelnen Falle zukommt, wird neben der Richtung ob aufwärts oder abwärts wesenüich davon abhängev, in welchen Abständen
v Die Linie als Ausdrücksmittel.
47
44« Die Wiederholung der Linien als Verstärkung.
45. Straße zu Bolkenhain in Schlesien. Die gleichmäßige Wiederholung der schlichten Giebel steigert deren Wirkung zu monumentalem Eindruck der Wucht.
die einzelnen Linien von einander stehen, oder mit anderen Worten, von dem schlanken oder breiten Höhenverhältnis der Flächen, die sie zwischen sich einschließen. Wie im Leben allenthalben wird auch in der Kunst eine schöne Ruhe der Befriedigung
Solch Ausgleich der Gegensätze zum wohltuenden Einklang ist das Ziel aller hohen, nach Ver vollkommnung des Gefühls strebenden Kunst und ist eine der Quellen hoher Freude, die sie gewährt. Der Gegensatz der beiden Hauptrichtungen allein gibt aber der Kunst für die Durchführung solchen Ausgleichs zu wenig Spielraum. Sie bedarf größerer Mannig faltigkeit für ihre Zwecke und findet sie zunächst in der Einschaltung von Vermitllungsformen zwischen beiden Richtungen. An erster Stelle steht hier die Schräglinie. Sie dient vielfach nur beim Zusammentreffen rechtwinüig sich kreuzender Geraden dem Auge einen weniger schroffen Übergang zu schaffe», Abb. 21, wobei sich selbst in den emfachsten nur durch den inneren Ausgleich von widerstreitenden Richtungen gewonnen.
Verhältnissen eine große Mannigfaltigkeit der Linienführung ergibt, indem bald das straffere Aufsteigen, bald mehr das lagernd Lastende betont wird. Ganz eigenartige Wirkung kommt dabei der Schräge zu, wenn sie sehr steil gerichtet sich zwischen die Senk rechte und die Wagerechte des Erdbodens einschaltet. Der Ausdruck des Tragenden, den
48
V. Die Lime als Ausdrucksmittel.
sie in Fig. 21 schon zeigt, stei gert sich in der Form vow manchen Strebepfellern und in den Strebebögen gotischer Dome zum Bilde des derben
kraftvollen Gegenstemmens^ In ähnlicher Art empfindet
das Auge die Schräge in dem Umriß des nach unten hm
versiärtten„geböschten" Mauer werks als den Ausdruck wuch tiger Kraft, voller Stand festigkeit. Abb. 25. Des Fer neren ist die Schräge geeignet^ mehrere Teile von verschiede 46. Kreujgang am Dom zu Trier.
E. A.
Die Raumwirkung zwingend bedingt durch die vielfache Wiederholung aller Linien, die zahlreiche Tiefenschichten festlegen. Die links stehenden großen Heiligenbilder wertvoll zur Verhütung übergroßer Einförmigkeit.
ner Höhe zu einer Einheit zu sammen zu schließen, wie sie als
Treppevwange und Brüstung die Bewegung aufsteigender Stufen für das Auge vereinigt. Auch in dieser Anwendung
kann sie sowohl Ruhe wie Unruhe in die Wirkung hineintragen. Unruhig wirkt sie z. B., wenn sie in einseitiger Richtung sich in sonst gleichmäßige Linien hineindrängt wie in
dem Treppenlauf eines Säulenhofes, Abb. 188, oder in die schräg gerichteten Füllungen einer Reihe von rechteckigen Rahmwerken. In solcher Verwendung kann sie etwas geradezu Quälendes durch ihren Widerspruch zu den angeschlagenen Hauptrichtungen haben. Das kann gelegentlich vom Meister des Faches benutzt werden, um die Wirkung wie mit scharfem Pfeffer zu würzen oder dem Auge einen starken Hinweis zu gebem Abb. 188,26. Der Mißbrauch solcher derben Zutat, wie ihn die nach Neuigkeit lüsterne Zeit der letztvergangenen Jahrzehnte liebte, wird aber bald abstoßend wirken. Die Abhilfe gegen diese „Sprengwirkung" der Schräge iff sehr leicht und wird ungemein oft benutzt. Wenn sie durch eine ent gegengesetzt gerichtete gleichwertige Schräge aufgewogen wird, gleichen sich beide Gegenrichtungen zur ru hige» Gesamtwirkung aus. Abb. 21, 62 usw. So ist die Schräge dann eine der Hauptformen für den ruhigen oberen Abschluß, die Auf
47. Leistendecke im Waghaus zu Regensburg. E. A. Ruhtg klarer Eindmcf durch vielfache Wiederholung der schrägen, an sich unruhigen Linien. Am Unterzugbalken Verbindung größerer Quer teilungen mit zierlicher Belebung des oberen Abschlußgesimses.
lösung der gegeneinander streiten den Richtungen im Giebel, Dach und Turmhelm. Auch hier wechselt
sie ihren Ausdruck von dem flachen
Giebel des griechischen Tempels, dem Bilde befriedigter Ruhe bis zu dem stürmisch aufschießenden Wimperg gotischer Prägung und dem nadelspitz aufragenden Turm helm von Tiroler Kirchen oder kecken Dachreitern. Es ist bezeichnend für das wech selnde Anschlußvermögen der Schräge, daß der flache Giebel als oberen Abschluß sehr wohl eine wagerechte Stufe erhalten kann, der steile Turmhelm zumeist in senkrechter, mit Knopf, Kreuz oder dergl. abgeschlossener Spitze endigt.
Aus solcher Verbindung von verschieden gerichteten Graden können schon sehr reiz volle Eindrücke gewonnen werden, von schlichtester Reihung einfacher Bestandteile, Abb. 45, bis zu den reichsten Verschlingungen maurischer Linienspiele. Aber trotz alle dem bleibt bei der Anwendung reiner Graden in der Erscheinung immer ein Zug von Starrheit und Befangenheit, der sich bei nicht sehr gewandter Behandlung leicht bis zum unangenehmen Eindruck der Härte und Eckigkeit steigern kann. Abb. 27. Die un angenehme Wirkung, die rein verstandesmäßig angeordnete Jngenieurwerke, geradlinige Kunststraßen, Eisenbahnen, Ufermauern und dergleichen in einer fein belebten Landschaft machen, beruht hierauf. In dieser Ausartung kann die Grade geradezu zum Ausdruck der Taktlosigkeit und Gefühlslosigkeit werden. Um das zu vermeiden, brauchen wir andere Übergänge.
Größere Weichheit empfindet das Auge und zugleich größeren Reichtum des Linienfluffes, wenn neben die reinen Graden gerundete, gekrümmte Linien treten. Bei großem Maßstabe geben sie im Zusammenwirken mit Graden der Augenbewegung einen leb hafteren Schwung, Abb. 10, 279, lassen sie hemmungslos durch die Räume gleiten und erzeugen so das Gefühl eines freien wohligen Schwebens, das besonders in den Linien der Gewölbe und den Umrissen der Kuppelbauten zu den größten Erhebungen des bau lichen Gefühls emporführt. In kleineren Abmessungen dienen sie vor allem der Milderung der Gegensätze, der Vermittlung zwischen den sich mannigfach treffenden und kreuzenden Graden, der Überleitung zu Abzweigungen oder sich loslösenden freien Endigungen. Abb. 28, 30. Unübertreffliche Anregungen für solche Verfeinerung der Linienübergänge finden sich in der pflanzlichen Natur. Abb. 29. Kein Ast am Baum, der nicht durch be sonderen Übergang mit dem Stamm vermittelt wird, kein Blatt, das mit starren Linien sich von dem Aste löste. Ein hoher Reichtum solchen Linienlebens erschließt sich dem, der sich auf frischer Wiese niederläßt und an den kleinsten Kräutern das Auge in die Feinheit vertieft, mit der die Ansätze der Blätter, das Aufsprießen aus der Wurzel, die Verästelung der Triebe, die Entwicklung der Fruchtrispen ineinander übergehen. Andererseits werden Verbindungen von eckig aufeinander treffenden Linien durch gekrümmte Linien wesentlich gemildert, wofür die Abrundung von Ecken an Umrahmungslinien, die ein wärts geschwungenen Linien gotischer Kopfbänder, einfache gute Beispiele liefern. Die stimmungbildende Kraft der gekrümmten Linien kann sich nun nach zwei verschiedenen Richtungen äußern. Sie erzeugt das Gefühl wohliger Ruhe bis zum sanften Schweben über Raum und Zeit Abb. 12. Andererseits kann sie in der Wiederholung und Ver flechtung reicher Linienverbindungen den Eindruck wirbelnder Unruhe, lebhaftester Bewegung erregen. Abb. 78. Sie erzeugt den Eindruck federnd gespannter Kraft, wenn die Linie in der Bewegungsrichtung von leichter Schwingung zu schärferer Krümmung übergeht, wie etwa in der Schneckenlinie des jonischen und an dem BlattStiehl, Der Weg zum Kunstverständnis.
4
50
V. Die Linie als Ausdrucksmittel.
48.
Klosterkirche zu Diesdorf.
E. A.
Der gleiche Halbkreisbogen herrscht an Arkaden, Gurtbogen, Fenstern. Schwere Feierlichkeit, verstärkt durch die Wechselreihung schwächerer, nur die Oberwand tragender Zwischenpfeiler und starker, mit Gewölbediensten versehener Hauptpfeiler.
49. Obere Rathausdiele zu Rothenburg 0. T.
E. A.
Ausdruck ruhiger Kraft in der starken Gliederung der Decke mit quergerichteten Balken und den fein kanelltetten Säulen. Der Raumeindruck belebt durch das Eingreifen des Trevventurmes rechts und die Ttefenerweiterung links. Schwere rythmische Teilung im Gewände der linksgelegenen Bogentür.
50. Brunnen auf einem Friedhof zu Regensburg. Bestelmeyer6.
Arch.
Der Schwung der hemmungslos geführten Kreislinie wird durch die Wiederholung an Wasserbecken, Drunnenfchale und Unterbau außer, ordentlich gesteigert, ihre Größe durch den Gegensatz der krönenden Kugel und ihres mehrfach unterbrochenen Ringes betont.
51. Reiche Wirkung aneinander anklingender Linien, j. T. in symmetrischer Wiederholung, z. T. auch durch quer gerichtete Züge gegensätzlich gekreuzt.
werk gothischer Kapitelle, Wb. 119, sie führt zu dem entgegengesetzten Gefühl milder Entspannung bei umgekehrtem Abschwellen der Bewegung. Die geschwungenen Linien besitzen ferner die gute Ggenschast, daß sie nicht nur dem Auge den Gegensatz von sich schneidenden Linien vermitteln können, wie die Schrägllnien, sondern in einem geschloffenen Zuge auch gleichlaufende Linien verbinden lassen. Ihre häufigste und wichtigste Verwendung in diesem Sinne besteht in der Blldung von Bogenstellungen über senkrecht aufsteigenden Stützen, wobei sie in mannigfach wechseln den Formen dem Auge recht verschiedene Anregungen übermitteln können. Abb. 31. Als in manchem Sinne einfachste und natürlichste Form erscheint zunächst der reine Halbkreis, der sich ruhig von einem zum andern Auflager hinüber und herüber schwingt.
Er ist bei gegebener Spannweite nur in einer einzigen Art möglich und hat gerade dadurch eine unpersönliche Ruhe und Natürlichkeit. Abb. 19,48. In jede andere Bogenform tritt ein beliebig wechselnder Bestandteil ein, der eine freiere Abwechslung des Ausdrucks ermöglicht. Lebhafter emporgereckt bildet der gestelzte Halbkreis die Form eines gewissen unruhigen, angestrengten Stolzes, aber auch an ihm gleitet das Auge hemmungs los hinauf und hinunter. Abb. 32. Ganz anders zwingt der Spitzbogen den Blick hinauf, ihn an seinem oberen Schlußpunkt festhaltend oder zum weiteren Aufsteige» veranlassend. Abb. 60. Dazu gewährt er große Freiheit in der Lage der beiden Mttelpunkte, aus denen seine Schenkel beschrieben sind, und gestattet dadurch einen starke» Wechsel sowohl in bezug auf breite oder spitz aufsteigende Form wie auch zwischen be häbigem Schwung stark gebauchter oder der starreren Straffheit schlanker Linien. — Im Gegensatz zu ihm betont der Hufeisenbogen, geradezu den unteren Abschluß
der Bogenlinie und legt damit einen gewissen Nachdruck auf die wagerechte Linie der 4*
52
V. Die Linie als Ausdrucksmittel.
Stützpunkte. Noch mehr üben diese Wir^ kung die niedrigeren Bogenformen aus: der weich und biegsam sich allen Verhält nissen anschmiegende Korbbogen, Abb.59,. 132, der zwischen Schräge und Bogenform unentschieden in der Mitte stehende Tudor bogen, Abb. 33, der flache Spitzbogen, welch letztere beide sich mit ausgeprägter lebhafter Kraftanstrengung zwischen die Stützpunkte und die Last zu stemmen scheinen, und endlich der reine Flachbogen^ der in seinen höher gewölbten Formen an Schwung und Ruhe der Erscheinung dem Halbkreisbogen nahesteht, Abb. 171, in seinen flachen Formen dagegen eine der nüchternsten, härtesten Linienführungen dar stellt: den nackten Ausdruck der rein nütz lichen Konstruktion und deshalb künstlerisch zumeist siimmungslos und unerfreulich. Zn diesen baulichen Hauptformen treten dann noch weitere Zierformen, vor allem die 52. Ostgiebel der Kirche zu Mestlin. E. A. Brechung der Bogenlinien im sogenannten Die Überhöhung des mittleren Fensters bereitet das Auge im Äußeren auf die Giebelltnie, im Inneren auf^die an Kleeblattbogen, Abb. 177, und im Vor steigenden Gewölblinien vor. hangsbogen und die Zuspitzung des Scheitels im Kielbogen, Abwandlungen, die sich auf jede der oben aufgezähltew Grundformen der Bogen übertragen lassen. — So eröffnet sich allein in den Bogen formen eine unermeßliche Fülle von Möglichkeiten, um das Auge zu beschäftigen, es bald mehr, bald weniger lebhaft zu reizen, es in bestimmter Richtung zu führen und^ an bestimmten Punkten festzuhalten. Neben diesen großen Zügen verfügt die Kunst über eine ganze Anzahl von kleineren Linienführungen, denen bei etwas zusammengesetzterer Form ein ganz bestimmter Aus druck zukommt. Grundsätzlich kann man wohl sagen, daß sie um so härter und unruhiger wirken, je unvermittelter und häufiger sie den Blick aus einer Richtung in die andere ab lenken. Im einzelnen kann man noch verschiedene Gruppen in ihnen abscheiden. Teils führen sie das Auge im einzelnen auf und ab, aber im ganzen doch nach bestimmter Richtung hin. Abb. 34,35. Damit geben sie von selbst den Eindruck der Bewegung, wie ihn in lebhaftester schroffster Weise das nervöse Hin und Her des scharfen Zickzacks ausprägt, mllder die flache Wellenlinie, die als eine der urtümlichsten Zierformen sich schon auf den ältesten vorgeschichtlichen Töpferarbeiten und der Wandbemalung sieinzeitlicher Hütten zeigt. Sie steigert sich dann in griechischer Zeit zur Form der Überschlagenden Welle, des sogenannten „laufenden Hundes" und erfährt weitere zierliche Ausbildung zur Reihung von Spiralen, die sich dem fortlaufenden Wellenzug eingliedern. Wie große Abstufungen im Grade der Bewegung sich dabei ergeben können, dafür mögen zwei Beispiele aus gleicher Zeit und gleicher Gegend eine Andeutung geben. Abb. 36. Zu dem
V. Die Linie als Ausdrucksmittel.
53
reichsten Lösungen sind solche Linienzüge dann in den wundervollen Rankenfriesen der römi schen und Renaiffancekunst ausgebildet, wo sie sich zu wiederkehrenden Spiralen aufrollen und mit einer großen Menge anderer Bestand teile, pflanzlichem und tierischem Zierwerk durch flochten, mit Nebenlinien der wechselndsten Art verbunden, zu der glänzendsten Augenweide verfeinert haben, Abb. 37, 38, die überhaupt auf dem Gebiete der Zierkunst geleistet worden ist. Weitere, Bewegung und Unruhe erregende Formen sind der Bogenfries und viele andere, Abb. 53,73. Solchen Formen der Bewegung und Unruhe stehen andere gegenüber, bei denen die Linienzüge in breiter Hin- und Herbewe gung oder sogar in teilweise rückwärts, ge richtetem Zuge das Auge im Fortschreiten hemmen, es festhalten und dadurch den Ein druck der Ruhe stärker betonen Abb. 39. Hierher gehört das steile Wellenband, das oft übergeht in die Reihung langer, schmaler „Pfeifen", dann das weite Gebiet der Mäander und der Flechtbänder u. a. m. Lassen solche 53. Türme der Pfarrkirche zu Koblenz. E. A. friesartige Gebilde bei einfacherer Fassung Oie oberen Stockwerke der Turmhelme wiederholen in verschiedenem Maßstabe die gleiche Form an die auch das das Auge immer noch in bestimmter Rich untere Stockwerk stark ankltngt. Die aufsteigenden Senkrechten durch Überschneidung mit Wagerechten tung an ihnen weitergleiten, so beschäftigen gedämpft. sie es bei verwickelterer Linienführung so lebhast, daß sie es geradezu an sich fesseln, zum Ausruhen auf ihnen veranlassen, indem sie ihm im Verfolgen ihrer reichen Züge einen in sich selbständigen Genuß verschaffen. In anderer Weise wird ein solches Festhalten des Auges dadurch bewirft, daß sich Liniengruppen strahlenförmig von einem Punkt aus oder nach einem Punkt hin ent wickeln. Abb. 35, 40, 41. Solche Linieuführungen sehen wir an der Muschel und an der Palmette aus Naturformen entwickelt. Sie finden die reichste und wechselnste Ausbildung in den vielfachen Formen der Sterne, der Rosetten und in den Vielpaß formen des gotischen Maßwerkes. Sie klingen ferner an in den starken Rippenlinien des ausgebildeten Akanthusblattes und vor allem im Fugenschnitt der gewölbten steinemen Bogenformen. Alle diese Bildungen geben Ruhepunkte in dem bewegten Flusse der großen Grundlinien ab. Diese das Auge festhaltende Wirkung eignet dann in be sonders starkem Maße auch der Schneckenlinie, indem sich in ihr ein einseitig ver laufender Zug fängt und auftollt. Abb 41,116. Aus der Mischung gerader und gerundeter, harter und weicher, bewegter und ruhi ger Bestandteile schafft der Künstler sich das Mittel, den im Einzelfall gewollten Ein druck zu erreiche». Abb. 42,52,61. Dabei kann man leicht feststellen, daß ein Überwiegen der geraden Linien oder einfachen Bogenlinien und der Karen Gegensätze von Senk-
recht und Wagerecht den Zeiten strenger, sogenannter klassischer Kunst eignet, daß tw
gegen die mehr „malerisch" gerichteten Zeiten das Auge mit lebhafterem Linienwechsel anjureizen, Abb. 43, dazu die großen Gegensätze durch stärkere Ausbildung von weichen Bermittlungsliniea zu verhüllen und zu einheitlichem, ungehemmtem Linienfluß zusammenzustimmen bemüht sind. Es kann dann leicht im Strebe» nach immer weiterer Be reicherung, immer freierer Bewegung, die Grundlage großer Züge von den Einzel heiten überwuchert werden. Abb. 78,79. Unklarheit und eine Einbuße an schlagkräftiger, fesselnder Wirkung stellen sich leicht ei», wenn dem Auge nicht durch das besonnene Ab wägen von Haupt- und Mbenlinien eine Gliederung des Eindruckes geboten wird. Reichtum allein macht auch im Gebiete der Kunst nicht glücklich.
VI. Von der Abstimmung der Linien. Wir haben im vorstehenden die Eindrücke verfolgt, die durch Form und Richtung der Linien erzeugt werden. Aber diese besiimuren nicht allein die Wirkung auf das Auge. Neben ihnen kommt zunächst wesentlich zur Geltung, ob die Linienzüge stärker oder schwächer zum Ausdruck gelangen. Abb. 97. Sie können z. B. in der Zeichnung dick oder zart, im Farbenton derb oder leicht sein, in Gesimsbildungen kräftig und starken Schattenschlag erzeugend oder leicht und nur flach vortretend. Durch solche Verschtedenhett schon können beliebig einzelne der gegebenen Linien hervorgehoben, andere in den Hinter
grund gedrückt, und es kann so die Freiheit der künstlerischen Stimmung auch unter fest gegebene« Verhältnisse» gewahrt werde». Ein weiteres Mittel, die Kraft der Linien »ach Bedarf zu verstärke«, besteht dari«, sie gleichlaufend mehrfach zu wiederholen. Es ist das eins der ursprünglichsten und eins der verbreitetsten Kunstmittel, dessen tief
greifende Wirkung «ach neueren physiologischen Anschauungen darin begründtt sein soll, daß gleichgerichtete Linien gleiche chemische Umsetzungen in der Netzhaut des AugeS hervorrufen. Abb. 44. Schon die einfachste Linienverzierung gewinnt durch Verdoppe lung oder wettere Vervtehruvg ihrer Linien wesentlich an Bedeutung. Der Eindruck eines guten Schriftsatzes ist durch den strengen Einklang der gleich hohen Zeile« vor allem bedingt, ebenso die schöne Ruhe eines alten Städtebildes ganz wesent lich durch die gleichmäßige Richtung der Hauptlivien, besonders der Dachfirste. Die
Schichtung der Quadern, Abb. 187, oder Ziegelsteine verstärtt durch ihr gleichlaufendes Fugennetz wesentlich den Eindruck wagerecht gelagerter Massen. In der Riefelung der Säulevschäste und dem Dreischlitz der Triglyphen bildet solche Wiederholung gleich
laufender Linien ein Kunstmtttel von zwingender Wirkung, ebensowohl eine Verfeine rung wie eine Steigerung des Ausdrucks gegenüber dem glatten Säulenschaft und dem ungegliederten Fries. So wird in allen reicheren Gesimsbildungen das Auge durch die mehrfache Zusamrnenstellung gleichlaufender Glieder lebhaft in die gewollte Richtung gezwungen. Die Gewölbe der Gotik verdanken im Gegensatz zu den rippen-
recht und Wagerecht den Zeiten strenger, sogenannter klassischer Kunst eignet, daß tw
gegen die mehr „malerisch" gerichteten Zeiten das Auge mit lebhafterem Linienwechsel anjureizen, Abb. 43, dazu die großen Gegensätze durch stärkere Ausbildung von weichen Bermittlungsliniea zu verhüllen und zu einheitlichem, ungehemmtem Linienfluß zusammenzustimmen bemüht sind. Es kann dann leicht im Strebe» nach immer weiterer Be reicherung, immer freierer Bewegung, die Grundlage großer Züge von den Einzel heiten überwuchert werden. Abb. 78,79. Unklarheit und eine Einbuße an schlagkräftiger, fesselnder Wirkung stellen sich leicht ei», wenn dem Auge nicht durch das besonnene Ab wägen von Haupt- und Mbenlinien eine Gliederung des Eindruckes geboten wird. Reichtum allein macht auch im Gebiete der Kunst nicht glücklich.
VI. Von der Abstimmung der Linien. Wir haben im vorstehenden die Eindrücke verfolgt, die durch Form und Richtung der Linien erzeugt werden. Aber diese besiimuren nicht allein die Wirkung auf das Auge. Neben ihnen kommt zunächst wesentlich zur Geltung, ob die Linienzüge stärker oder schwächer zum Ausdruck gelangen. Abb. 97. Sie können z. B. in der Zeichnung dick oder zart, im Farbenton derb oder leicht sein, in Gesimsbildungen kräftig und starken Schattenschlag erzeugend oder leicht und nur flach vortretend. Durch solche Verschtedenhett schon können beliebig einzelne der gegebenen Linien hervorgehoben, andere in den Hinter
grund gedrückt, und es kann so die Freiheit der künstlerischen Stimmung auch unter fest gegebene« Verhältnisse» gewahrt werde». Ein weiteres Mittel, die Kraft der Linien »ach Bedarf zu verstärke«, besteht dari«, sie gleichlaufend mehrfach zu wiederholen. Es ist das eins der ursprünglichsten und eins der verbreitetsten Kunstmittel, dessen tief
greifende Wirkung «ach neueren physiologischen Anschauungen darin begründtt sein soll, daß gleichgerichtete Linien gleiche chemische Umsetzungen in der Netzhaut des AugeS hervorrufen. Abb. 44. Schon die einfachste Linienverzierung gewinnt durch Verdoppe lung oder wettere Vervtehruvg ihrer Linien wesentlich an Bedeutung. Der Eindruck eines guten Schriftsatzes ist durch den strengen Einklang der gleich hohen Zeile« vor allem bedingt, ebenso die schöne Ruhe eines alten Städtebildes ganz wesent lich durch die gleichmäßige Richtung der Hauptlivien, besonders der Dachfirste. Die
Schichtung der Quadern, Abb. 187, oder Ziegelsteine verstärtt durch ihr gleichlaufendes Fugennetz wesentlich den Eindruck wagerecht gelagerter Massen. In der Riefelung der Säulevschäste und dem Dreischlitz der Triglyphen bildet solche Wiederholung gleich
laufender Linien ein Kunstmtttel von zwingender Wirkung, ebensowohl eine Verfeine rung wie eine Steigerung des Ausdrucks gegenüber dem glatten Säulenschaft und dem ungegliederten Fries. So wird in allen reicheren Gesimsbildungen das Auge durch die mehrfache Zusamrnenstellung gleichlaufender Glieder lebhaft in die gewollte Richtung gezwungen. Die Gewölbe der Gotik verdanken im Gegensatz zu den rippen-
VI. Bon der Abstimmung der Linie».
54. Uhrgehäuse des Rokoko. Der kreisfürmtge Umriß Ntngt mehrfach im gterwerk der Schm-l-maleret wieder an in Schwung und Rückschwung. Auch die mensch lichen Figürchen ordnen sich dieser Lintenbewegung ein.
55.
Ostseite des Domes zu Prag.
Die Steilheit der aufwärtödrSngenden Schräg linie steigert sich nach dem ersten Anlauf der Lhorkapellenbächer von den Strebebögen über Las ragende tzauptdach -u den schlanken Spitzen Ler Westtürme, begleitet überall von den Spitz helmen der Fialen.
losen Gratgewölben anderer Zeiten ihre starke Wirkung schon im einjelnen wesentlich den Gliederungen der Rippen, Abb. 64, die mit ihren gleichlaufenden feinen Lichtern «nd Schatten den Blick anziehen und sicher hinaufgeleiten in die Höhe, wo die Rosetten form des Schlußsteins dem Auge ein Halt gebietet. Die Wirkung der mittelalterlichen Prachttüren Abb. 135, wird wesentlich bedingt durch die reiche Folge gleichgerichteter Gliederungen, die die tiefen Laibungen mit Licht- und Schattenspiel reich beleben. Das
Gebiet der Umrahmungen ist voll von Anwendungen dieses Grundmittels und es wird sich auf ihnen kaum eine Kunstleistung finden, in der man seine Wirkung nicht bemerkt. Aber diese geht weiter über das Gebiet von Emzelbildungen hinaus. Unter einfachsten Verhältnissen kann die Straße der Kleinstadt, Abb. 45, durch die Wieder
kehr der gleichen stolz bescheidenen Giebelform den fesselnden Eindruck bodenständig festgegründeter Eigenart erhalten. Jede Säulenhalle zeigt die verstärkende Kraft, mit der die Wiederholung den Sinn der Linie dem Auge klar macht. Abb. 71. Schlichtere Decken mit ihren gleichlaufenden Balkenreihen, Abb. 49, verdanken dieser Wieder holung ihre Klarheit, reichere Leistentellungen mit zusammengesetzten Holztäfelungen gewinnen in der Wiederkehr einzelner Hauptlinien Einheit und Halt für das lebhaftere Spiel ihres Zierwerks. Abb. 47. Jede fortlaufende Gewölbereihe erhält den Schwung ihrer Wirkung aus der Wiederkehr der gleichen gekrümmten Linien. Abb. 46. Wenn sich die Wölbekunst in den Stern- und Netzgewölben des Mittelalters zur höchsten Pracht entfaltung steigert, Abb. 275, so wahrt sie in dem sonst verwirrenden Reichtum ihrer
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VI. Von der Abstimmung der Linien.
57. Portal eines Hauses in Potsdam. E. A. Stärkste Unterbrechung der aufst.igenden Säulenltnie durch eingeschaltete rechteckige Quadern.
56. Engelfigur aus der Werkstatt Riemen schneiders. Die senkrechte Hauptlinte des Kerzenhalters klingt an in der Richtung der Flügelfedern und der vordersten Ge wandfalten. Ihr schließen sich untereinander ähnlich die Linien der beiden Arme an. Diese werden wieder aus genommen von der großen Falte am rechten Oberschenkel, vom Profil des Gesichts und der Haarbegrenzung.
Linienführung Übersicht und Ruhe nur dadurch, daß sich in dem Rippenwerk wenige Hauptrichtungen immer erneut wiederholen, dem Auge ein Mittel geben, sich in dem Reichtum zurechtjufinden. Wie stark durch die Häufung wagerechter Gesimse oder senk rechter Gliederungen der Eindruck der Flächen und Massen beeinflußt wird, werde»
wir immer wieder beobachten können. Die großartigste Anwendung findet diese Wieder holung der Linien schließlich in den doppeltürmigen Kirchenfronten, die den höchsten Triumph mittelalterlicher Baukunst darstellen. Welch wichtige Rolle die Wiederholung gleichgerichteter Linien für den Einllang der Maßverhältnisse spielt, werden wir später
sehen. Verschieden von dieser Wiederholung derselben Linien am selben Baugliede aber
ihr nahe verwandt ist das Anklingen der gleichen oder auch nur ähnlicher Linie» an ver schiedenen Teilen des Kunstwerkes. Abb, 50. Es ist eins der wertvollsten Mittel um die Einheit eines zusammengesetzten Ganzen, den Zusammenklang der einzelnen Telle zu empfinden. Dazu können vielfach Wiederholungen der gleichen Form zu verschiede nen Zwecken dienen. So Mngt die Form des den Mittelbau krönenden Hauptgiebels
in den Bekrönungen bet Fenster wieder, die Riefelung der dorischen Säule in bett senkrechten Linien -er Triglyphen. So wiederholt
sich im gewölbten mehrschiffigen Raume die Form des Arkaden bogens im Quergurt und im Wand
bogen des Gewölbes, weiterhin vielleicht in der Unterstützung ein gebauter Emporen und in dem Umriß der Fenster. Abb. 48,199. So erneuert das Triforium der
gotischen Dome die Linienführun gen des Fenstermaßwerks und die Ziertelle von Kanzel, Lettner und Tabernakel nehmen die gleichen
Linien in vielfachem Reichtum wieder auf. Aber es brauchen gar nicht die gleichen Linien zu sein. Das Auge ergreift willig den An halt von ungefähr verwandten Richtungen, es ergänzt zusammen-
faffend Linien, für deren Vor handensein nur Anhaltspunkte gegeben sind. So erfaßt es die Neigung eines Stufenunterbaues
58. Kirche des Klosters Ettal. Starke Schwingung der Front im Anklang an die Rundung des Kuppel, raumes. Klärung der Kuppelform durch aufgelegte Rippen und Dach, gaubenrethung.
oder einer Freitreppe, Abb. 235, als Anklang an die Schräge der Giebel oder die Dachlinie, es vereinigt die oberen Endungen von Pfellern oder Fi
guren, die irgendeinem Bauabschluß aufgesetzt sind, zu einer gleichlaufenden Linie, es empfindet gern die aufsteigende Kraft des Spitzbogens von neuem in dem stelle» Auf steigen des aufgesetzten Wimperges und wird angenehm berührt, wenn sich in den Linien einer Zierfüllung die Umrißform des zugehörigen Rahmens wieder abspiegelt. Mb. 54. Besonders stark kann die Wirkung solcher freien Wiederholung sein, wenn sie mit einer Steigerung der Linie verbunden ist, Abb. 3, 50, 53, wie bei der häufigen Vor
bereitung einer Giebellinie durch eine Gruppe von Fenstern, Abb. 52, deren mittleres die seitlichen an Höhe übertrifft oder bei dem Avfwärtsstürmen der Linien an gotische» Dome» vo» de» einleitenden flachere» Abdeckungen der Strebebogen zu den steileren
Dachlinien und endlich zu der himmelanstrebenden Turmspitze.
Abb. 55.
Es eröffnet sich i» diesem Anüingen verwandter Linienführungen, dem Hm- und Herwebe« und Jveinanderflechten zusammengesetzter Züge ein überaus reiches Ge
biet für den innerlich nachschaffenden Genuß von Kunstwerken, ein Gebiet des Fühlens, das in der Freiheit der Gegenwirkungen, Ergänzungen und Übereinstimmungen auch auf die Schöpfungen der darstellenden Künste und ebenso auf die Schönheiten der Na-
58
VI. Von der Abstimmung der Linien.
59. Vorhalle der Statthalterei in Steyr. E. A.
60. Nordtür der Wallfahrtskirche zu Wilsnack. E. A.
Starke Anziehungskraft der lebhaft ge knickten Gtebelltnten. Große Leichtigkeit der Korbbogen über hohen Pfeilern.
Durch in der Wandfläche liegende Verkröpfung von Ge sims und Putzfries ist die Wagerechte sehr stark unter brochen, zugleich eine obere Krönung der Tür angedeutet.
61. Haustür aus Danzig. E. A.
62. Verkröpfungen an einem Schrank des 17. Jahrh. E. A.
Vielfache Brechung der Linie in Sturz und Oberlicht und im Umriß der Türfüllungen zieht das Auge an. Wichtig der Gegensatz des Oberlichts gegen die Tür im Maßstab der Teilungen und in der Farbe.
Bereicherung durch zahlreiche Wiederholungen. Scharfer Gegensatz breiter und ganz schmaler Glie derungen.
tur unmittelbare Anwendung findet. Auch in den Werken der bildenden Kunst besteht ein wesentliches Mittel des Reizes darin, bestimmte, aneinander anklingende, sich gegen
seitig unterstützende Linienführungen so anzuordnen, daß sie das Auge auf die Haupt punkte der Darstellung hinlenken und diese dadurch besonders hervorheben.
Abb. 56. Ebenso ist das Vorhandensein solcher dem Auge als Anhalt zum Auffaffen der Gliede
rung dienender Linien geeignet, die Schönheit der Natur wesentlich zu steigern. Es wäre aber falsch, wollten wir die Wiederholung gleicher Linien nun unbedingt als ein Mittel zur Erzielung einer guten Wirkung ansehen. Vor allem darf die Verstärkung, die eine bestimmte Richtung durch vielfache Wiederholung erfährt, nicht so weit gehen, daß alle anderen Linien dadurch zurückgedrängt und unterdrückt werden (Abb. 27). Lange weile und Härte des Eindrucks sind sonst die Folge. Wir dürfen eben im Gebiete der Kunst niemals mit festen und untrüglichen Regeln rechnen. Diese bedingen vielmehr, im Gegensatz zur verstandesmäßigen Logik, immer eine Handhabung mit Takt und Gefühl, und sie werden „unrichtig", sobald diese Bedingung nicht erfüllt wird. Auf die Frage: „Wie baue ich schön?" gibt es ebenso wenig eine eindeutige Antwort wie auf die Frage: „Wie werde ich geistreich?"
Ein weiteres Mittel, die Linienbewegung abzustimmen, nach Bedarf zu stärken oder zu hemmen, besteht darin, Unterbrechungen in sie einzuschalten. Das kann ge schehen durch Einschiebung einzelner Punkte oder durch gleichmäßige Verteilung von
In beiden Fällen wird die Wirkung ganz ver schieden sein. Wird nur hier und da eine Unterbrechung eingeschaltet, Abb. 53, so wird solche» auf die ganze Länge der Linie.
das Auge genötigt, an diesen Punkten einen Halt zu machen, um vor dem Weiter gleiten die Art der Unterbrechung in sich aufzunehmen. Der Schwung der Linie wird gebrochen, die Lebhaftigkeit des Aufsteigens gedämpft. Selbstverständlich tritt diese
Wirkung um so stärker auf, je umfangreicher und in sich reizvoller diese Unterbrechung ausgeblldet ist.
Ein schlichter Ring um den Säulenschaft wird dessen Drang nach oben
nur wenig hemmen, seine starke Ausblldung zum Zierbande schon erheblich mehr und
ebenso seine vielfache Wiederholung, die sich schließlich steigern kann bis zur Zerlegung des Schaftes in einzelne Quadertrommeln bei der sogenannten Rustikabauweise. Abb. 57. Wenn in Barockkirchen die Reihen der aufsteigenden Pilaster in etwa halber Höhe
durch lebhaft geformte Zierschilder geschmückt sind, so kann die durch die fortlaufende Reihe dieser Schilder geblldete Wagerechte sehr wohl den Sieg über die schwach betonten
Senkrechten der Pilasterreihe davontragen. Die unregelmäßigere Anbringung von Totenschildern, Heiligenbildern u. dgl. in mittelalterlichen Kirchen, Abb. 64, wird so starke Bedeutung nicht gewinnen, sondern sich darauf beschränken, die einseitige Nüch ternheit rein senkrechter Linien anregend zu mildern. Als ein Sonderfall dieser Art ist die Unterbrechung der Bogenlinien durch den Schlußstein anzusehen. Indem sie den Blick auf den Scheitelpunkt des Bogens festbannt, tut sie für die Halbkreis-, Korb-
«nd Flachbögen denselben Dienst, den die Betonung des oberen Schluffes im Spitz bogen leistet. Höchst wichtig ist ferner die Rolle, welche die Betonung des Kämpferpnnktes bei Bogenstellungen spielt. Zunächst unterbricht sie den einheitlichen Zug des aus Gewände und Bogen zusammengesetzten Qffnungsumriffes. Dazu aber kommt noch weiteres: einerseits wird die Bogenlinie durch die Kennzeichnung des Herans wachsens aus der Senkrechten in ihrem Schwünge verstärkt, sie schnellt sich von dem
6o
VI. Von der Abstimmung der Linien.
6z. Orangerie im Schloßgarten zu Weikersheim. Die Verkröpfungen des Hauptgesimses brechen dessen geschwungene Linie sehr stark im Gegensatz zu der glatt durchlaufenden Wandfläche und oberen Brüstung, die von den frei vortretenden Säulen und den figürlichen Aussätzen lebhaft überschnitten werden.
so gewonnenen Ruhe- und Stützpunkt mit verdoppelter Kraft aufwärts. Andererseits wird durch die verschiedene Höhenlage solcher Kämpferandeutung der Eindruck der Bo genlinie selbst stark beeinflußt. Abb. 32. Denn diese scheint sozusagen einen Anlauf zum Sprunge zu nehmen, wenn die Kämpferlinie unter den Punkt verlegt wird, an dem sich Bogenlinie und Senkrechte vereinen. Man nennt solche Überhöhung des Bogens durch ein Stück ihm zuzuzählender Senkrechter die „Stelzung" und macht von ihr häufig Gebrauch, um den Eindruck der Bogen zu steigern und um den Scheitel kleinerer und größerer Bogen auf gleiche Höhe zu bringen. Abb. 16. Auch die Art, in der die Be tonung des Kämpfers im einzelnen durchgeführt wird, ist naturgemäß von wesenüichem Einfluß auf die Linienführung. Es führt die Verfolgung der vielfachen, hier gegebenen
Möglichkeiten aber auf ein anderes Gebiet hinüber und wird uns bei der Besprechung der Stützenblldungen weiter beschäftigen. — Eine der wirkungsvollsten Unterbrechungen, die in die LivienDhrung hineingebracht werden können, ist ferner die Knickung oder Verkröpfung. Sie kann zunächst in der Einschaltung von meist geschwungenen Stücken in den geraden Linienfluß sich äußern und gibt so bei kleinem Maßstabe eine sehr feine Belebung von prickelndem Reiz. Abb. 61, 62. In größere» Verhältnissen, etwa in den starken Brechungen der Barockgiebel, wirkt sie als starke Reizung und verstärkt wesent lich die Kraft und Lebhaftigkeit der Linie. Abb. 59. Am schroffsten wirkt natürlich eine Kröpfung im vollen rechten Winkel, sie gibt dem Auge einen förmlichen Ruck und hält es dadurch in seiner Bewegung auf. Die „Ohren" an den oberen Enden griechi schen Türgewände dienen dadurch der Hervorhebung der Stelle, an der der Türstürz aufliegt. Sie verlegen durch ihre Wirkung den Schwerpunkt des Türumriffes nach oben, machen letzteren damit stolzer und ansehnlicher. Auch wagerechte Gesimse sind in mittel
alterlicher Zeit sehr häufig um Fenster- und Türstürze herumgekröpst, teils um in der Höhenlage der Gesimse größere Freiheit zu gewinnen, teils um dem Auge an den Unter brechungen der Richtung nuerwartete Anregung und Beschäftigung zu geben. Abb. 60.
VI. Von der Abstimmung der Linien.
61
64. Inneres der Sebalduskirche zu Nürnberg. Dle aufsteigenden Linien -er Gewülbträger sind vielfach unterbrochen durch ausgekragte Statuen mit Baldachinen, GesimsVerkröpfungen und aufgehängte Totenschtlder, doch überwiegen die großen Züge. Kräftige Bildung der Kapitelle, reich ver ziertes Gesims über dem Querbogen, der den Raum überraschend und reizvoll gliedert. Lebhaftes Aufleuchten der Fensier aus dem Halbdunkel des Chores.
62
VI. Von der Abstimmung der Linien.
Es ist solche starke Unterbrechung des Linienflusses aber jederjeit als ein scharfes Gewürj zu werten,
das mit Vorsicht «»gewendet wer den muß und des Gegengewichtes durch ruhige Telle bedarf, um nicht unvornehm zu werden. Wächst da gegen die Verkröpfung senkrecht aus der Grundebene heraus, Abb. 63,65, so wirkt sie mehr durch ihren Schattenschlag und weniger ge waltsam. Als Gesimsverkröpfung über Stützen oder anderen Flächen gliedern läßt sie die senkrechte Linie dieser Gliederungen obsiegen über die wagerechte Führung der Gesimse und bedeutet so für letztere geradezu eine Abschwächung. Anders ist das Ergebnis, wenn die Unterbrechungen des Linienfluffes sich mehr oder weniger 65. Vorhalle des Rathauses r« Köln. Die ^vielfachen Verkröpfungen der Gesimse verstärken die Wirkung der eng gereiht, in größererAnjahl gleich senkrechten Gliederungen an der sonst bretrgelagerten Baumasse. mäßig über die ganze Ausdehnung der Linien verteüen. Daraus ergibt sich regelmäßig eine Belebung, die das Auge stark «»zieht und meistens das Gewicht der Linienführung verstärkt. In welcher Weise, das hängt durchaus von der Art der als Unterbrechung eingeschalteten Formen ab. Sind die Formen kräftig und lassen sie einen größeren Abstand zwischen sich, wie etwa die Konsolen eines größeren Gesimses oder die vereinzelt in einen gegliederten Bogen ein gelassenen Quadern, Abb. 75,76, so wird die Linienbewegung zugleich betont und stark verlangsamt. Sie nimmt eine Art von gravitätisch-würdigem Schritt an. Sind die Unterbrechungen lebhaft und zahlreich, wie die Blattknöpfchen in den Hohlkehlen mittel
alterlicher Gliederungen, Abb. 134, oder die rechteckigen Zähne des antiken Zahnschnittgestmses, Abb. 90, die Perlchen der Perlsiäbe, Abb. 6, usw., so erhält sich der Ein druck einer trippelnden Bewegung, prickelnden Unruhe, einer scharfen Würze im Zusammenklaag der Formen. Es kann dabei vorkommen, daß die Unterbrechungen schließ
lich die ursprüngliche Linie an Bedeutung überwuchern und als Hauptsache erscheinen. Das ist der Fall z. B. bei den reichen Besäumungen von Bogen oder Gestmskanten mit zierlichem Zackenwerk, Abb. 66, wie sie die mittelalterliche Kunst liebt. Und sind die unterbrechenden Formen häufig, aber zart im Ausdruck, wie etwa die Schuppenverzierung auf dem Sockel der Strozzi-Truhe, Abb. 8, oder die leichte Andeutung band artiger Drehung auf Holzgliederungen des Fachwerkbaues, so ergeben sie eine leicht flimmernde Wirkung, die das Auge angenehm beschäftigt, Abb. 131, die Gesamtform
mlldert und in chrer Bedeutung eher zurückdrängt.
In allen diesen Fällen bleibt die
-Einheitlichkeit der
Gesamtform im Gegensatz zur rhythmischen Teilung der obenbe
merkten Art bestehen.
oder
Besonders starke Anziehungspunkte für den Blick entstehen endlich durch Kreuzung Überschneidung von mehrfach wiederholten Linienzügen. Die spätgotische
Kunst hat von diesem Mittel Abb. 68,
lebhaftesten Linienspiels
reichen Gebrauch gemacht,
um die Knotenpunkte ihrer Entwürfe zu betonen mit der ganzen Klar
heit und zierlichen Schärfe, die diese Zeit geistiger Umwälzungen liebte. Abb. 123. In weicherer Auffassung finden wir die Linienüberschneidung als Mittel, um die Wir
kung phantastisch zu bereichern, in vielerlei Zierwerk bewegter Kunsizeiten, Abb. 258, so in den Grotesken des sechzehnten Jahrhunderts und auch neuerdings wieder ver wendet. Abb. 127. In anderer Weise taucht sie auf in den sich durcheinander flechtenden Windungen des barocken Rollwerks, Abb. 69, wie auch in den reich verschlungenen Windungen der Helmdecken an Wappendarstellungen, wo sie sich mit den Unterbrechun gen der Linie durch Umkippung einzelner Teile und durch lebhaften Farbenwechsel
zu außerordentlich fesselndem Eindruck verbindet.
Abb. 67.
So bieten sich neben der
Mischung und Vermittlung verschiedener Linien und Richtungen weitere Möglich keiten, die Wirkung im einzelnen zu verstärken, zu schwächen, die eine Richtung hervor-
zuheben, die andere weniger zu betonen.
Es wird schon in der verhältnismäßig ein
fachen Welt der Linie jede Einförmigkeit durch den Wechsel in der Anwendung dieser Kunstmittel leicht vermieden.
VII. Reihung und Rhythmus. Mit der Anführung der regelmäßig wiederkehrenden Linienunterbrechungen haben
wir Beziehungen allgemeiner Art berührt, die vorteilhaft gleich hier grundsätzlich zu behandeln sind, wenngleich sie ihre Wirkungen ebensowohl auch auf dem Gebiete der
Flächen- und Maffengliederung ausüben.
Die Wiederholung von gleichen Formen
in gleichen Abständen, Abb. 70, wie sie in solchen Linienunterbrechungen auftritt bezeichnen wir als Reihung. Sie hat ihren bedeutsamen Eindruckswert in sich, in dem sie dem tief in der menschlichen Seele verankerten Zuge zur Ordnung, zur Gesetz
mäßigkeit entspricht.
Sie übermittelt uns durch die regelmäßig verteilten Haltepunkte,
die sie dem Auge bietet, die Bewegungsgefühle des gleichmäßigen Fortschreitens in allen Stufen vom weiten Sprung über den ruhigen Schritt bis zum leichten Hüpfen.
Sie verstärkt zudem ebenso wie die Wiederholung der Linien die Kraft der Einzelformen und bildet außerdem aus ihrer Zusammenfassung neue Richtungslinien. So vereinigt sie beispielsweise die an sich senkrecht gerichteten Einzelsiützen einer Säulenhalle oder die Fenster einer langen Gebäudefront zu neuen starken Wagerechten. Abb. 72, 238. Bei der Bildung verzierter Gliederungen und fortlaufender Friese ist sie die Grund lage der Wirkung. Abb. 66,97,159. In der Regel ist bei der Reihung die Gleichheit der
-Einheitlichkeit der
Gesamtform im Gegensatz zur rhythmischen Teilung der obenbe
merkten Art bestehen.
oder
Besonders starke Anziehungspunkte für den Blick entstehen endlich durch Kreuzung Überschneidung von mehrfach wiederholten Linienzügen. Die spätgotische
Kunst hat von diesem Mittel Abb. 68,
lebhaftesten Linienspiels
reichen Gebrauch gemacht,
um die Knotenpunkte ihrer Entwürfe zu betonen mit der ganzen Klar
heit und zierlichen Schärfe, die diese Zeit geistiger Umwälzungen liebte. Abb. 123. In weicherer Auffassung finden wir die Linienüberschneidung als Mittel, um die Wir
kung phantastisch zu bereichern, in vielerlei Zierwerk bewegter Kunsizeiten, Abb. 258, so in den Grotesken des sechzehnten Jahrhunderts und auch neuerdings wieder ver wendet. Abb. 127. In anderer Weise taucht sie auf in den sich durcheinander flechtenden Windungen des barocken Rollwerks, Abb. 69, wie auch in den reich verschlungenen Windungen der Helmdecken an Wappendarstellungen, wo sie sich mit den Unterbrechun gen der Linie durch Umkippung einzelner Teile und durch lebhaften Farbenwechsel
zu außerordentlich fesselndem Eindruck verbindet.
Abb. 67.
So bieten sich neben der
Mischung und Vermittlung verschiedener Linien und Richtungen weitere Möglich keiten, die Wirkung im einzelnen zu verstärken, zu schwächen, die eine Richtung hervor-
zuheben, die andere weniger zu betonen.
Es wird schon in der verhältnismäßig ein
fachen Welt der Linie jede Einförmigkeit durch den Wechsel in der Anwendung dieser Kunstmittel leicht vermieden.
VII. Reihung und Rhythmus. Mit der Anführung der regelmäßig wiederkehrenden Linienunterbrechungen haben
wir Beziehungen allgemeiner Art berührt, die vorteilhaft gleich hier grundsätzlich zu behandeln sind, wenngleich sie ihre Wirkungen ebensowohl auch auf dem Gebiete der
Flächen- und Maffengliederung ausüben.
Die Wiederholung von gleichen Formen
in gleichen Abständen, Abb. 70, wie sie in solchen Linienunterbrechungen auftritt bezeichnen wir als Reihung. Sie hat ihren bedeutsamen Eindruckswert in sich, in dem sie dem tief in der menschlichen Seele verankerten Zuge zur Ordnung, zur Gesetz
mäßigkeit entspricht.
Sie übermittelt uns durch die regelmäßig verteilten Haltepunkte,
die sie dem Auge bietet, die Bewegungsgefühle des gleichmäßigen Fortschreitens in allen Stufen vom weiten Sprung über den ruhigen Schritt bis zum leichten Hüpfen.
Sie verstärkt zudem ebenso wie die Wiederholung der Linien die Kraft der Einzelformen und bildet außerdem aus ihrer Zusammenfassung neue Richtungslinien. So vereinigt sie beispielsweise die an sich senkrecht gerichteten Einzelsiützen einer Säulenhalle oder die Fenster einer langen Gebäudefront zu neuen starken Wagerechten. Abb. 72, 238. Bei der Bildung verzierter Gliederungen und fortlaufender Friese ist sie die Grund lage der Wirkung. Abb. 66,97,159. In der Regel ist bei der Reihung die Gleichheit der
64
VII. Reihung und Rhythmus. 66. Tür der Kirche zu Neumarkt (Oberpfalj). E. A. Die äußere Bogenumrahmung durch Zackenfrtes und Kantens blumen stark betont. Die Breitenrtchtung der zwettetttgen Tür durch diese Bogenkrönung und die seitlichen Fialen stark ins Aufstrebende umgedeutet.
67. Wappen der Grafen von Nassau nach Hupp. Vielfache Überschneidungen von Linien, die in sich reich bewegt sind.
Form und des Abstandes unbedingt inne-^
gehalten. Doch verliert die Anordnung «och nicht an Gesetzmäßigkeit, wenn diese Gleich
heit nur verhältnismäßig verstanden wirtv wenn sich also Form und Abstand in gleichem
Verhältnis vergrößern oder verkleinern. ES führt das zu zunehmender oder abnehmender
Reihung. Von diesen ist die letztere in der perspektivischen Verkürzung aller Gegenstände dem Auge eine durchaus geläufige Erschei nung, sie zeigt sich aber auch selbständig t« der Abnahme der Einzelformen innerhalb einer verzierten Spirale oder im Kleinerwerden der Blätter und Blüten gegen das Ende der Zweige hin. Von dieser Anregung durch das Naturstudium aus ist sie in die Zierkunst stark eingedrungen; in der monumentalen Baukunst findet sie sich dagegen seltener verwendet. Ein hervorragendes Beispiel ist ihre Anwendung auf die absatzweise Verjüngung geschweifter Turm helme, Abb. 53, in der sich die Eigenschaft der Reihung, die Formen zu einheitlicher großer Wirkung zusammenzufaffen, in besonderer Art deutlich bewährt. Im Gegensatz zu dieser einfachen Reihung steht eine Formverbindung, in der die Abstände der Formen und vielleicht auch diese selbst nach bestimmter Folge, einem Rhythmus, abwech seln, die Wechselreihe oder rhythmische Reihe. Sie entspricht in der blldenden Kunst dem Reim
oder der Alliteration der Dichtkunst sowie den Rhythmen der Musik und der Tanzkunst und dient wie diese dazu, reichere Formverbinduvgen zu teilen und dadurch ihre klare Erfassung zu erleichtern. In gewissem Sinne entsteht solch
ein Rhythmus schon bei der einfachen Reihung,
wenn der Abstand der Einzelformen so stark
wird, daß er als selbständiger Bestandteil zu wirken be ginnt, vielleicht sogar selbständige Formausbildung erhält. Abb. 73. Die Metopenfelder zwischen den Triglyphen-
blocken des dorischen Gebälks oder die Wandfelder in einer Fensterreihe können so angesehen werden. In der Regel aber werden sich Glieder gleicher Wesensart, nur verschie dener Formgebung zu solcher rhythmischen Reihe vereinigen. Abb. 77, 74. So gewinnt die Stützenstellung romanischer
Kirchen oder Kreuzgänge lebhaftere Bewegung, indem sich
in ihr starke Pfeiler und leichtere Stützen ablösen, Abb. 75, eine Reihe von Fenstern, indem sie wechselweise mit Säulen umrahmung und Giebelverdachung oder auch nur abwech selnd mit Verdachungen verschiedener Form, etwa runden
und dreieckigen Giebeln versehen sind, ein Fries, in dessen Linienführung ab und zu Ruhepunkte, Rosetten, Bildnisköpfe «. dgl. oder auch nur Farbengegensätze eingeschaltet sind. Die Zahl der zwischen die Betonungen eingesetzten Nebenformen
kann naturgemäß wechseln nach der für Versfüße üblichen Darstellung der kurzen und langen Silben in folgender Art: »der- — - — usw. Doch wird man, um die Übersichtlichkeit der Form nicht zu gefährden, langatmige Rhythmen vermeiden und selten über die Einschaltung von
drei Kürzen, - — - — - hinausgehen.
Abb. 164.
Eine noch packendere Wirkung wird durch reichere Abwechselung im Rhythmus erzielt. Die Dichtkunst bietet dafür belehrende Beispiele. Wie wiegt und schaukelt sich der
68. Tabernakel im Dom zu Fürstenwalde. E. A.
Geist auf den wechselnden Hebungen und Senkungen eines Liedes von Matthison:
Bereicherung der Linien und Beto nung einzelner Punkte durch lebhafte Überschneidung der Gliederungen.
Auf der Flut Stirbt die Glut; Schon erblaßt der Abendschimmer Auf der hohen Waldburg Trümmer.
Vollmondschein Deckt den Hain. Geisterlispel wehn im Tale Um versunk'ne Heldenmale.
In der Baukunst kann man dem Bedürfnis nach Bildung größerer Gruppen am leichtesten dadurch genügen, daß man mehrere Rhythmen miteinander vereinigt. Das
geschieht einerseits in einer Reihung, so daß der Rhythmus innerhalb der Reihe wech selt. So können z. B. die Fensterverdachungen als Betonungen einer Langfront etwa
nach folgender Art angesetzt werden:
Andererseits kann solche größere Teilung in noch entwickelterer Form durch Verbindung mehrerer Reihen erzielt werden, in der Art, daß einzelne betonte Punkte der einen Reihe durch Zusammentreffen mit denen der andern nebenherlaufenden Reihe verstärkt werden. So kann in die Reihung abwechselnder Fensteranordnuvg ein übergeordneter Rhyth
mus dadurch eingeführt werden, daß Dachaufbauten, Giebel oder dergleichen nur in Stiehl, Der Weg zum Kunstverständnis.
5
VII. Reihung und Rhythmus.
66
größere» Abständen nnd vielleicht in wechselnder Größe sich über solcher Fensterreihung
erheben.
Etwa so:
Endlich kann das gleiche Ziel erreicht werden, indem mehrere Reihungen ineinander geschoben werden, so daß also an Stelle der jwischengeschobenen „Kürze" eine Reihung
zweiten Grades tritt, was sich etwa so darstellen ließe (Abb. 279): i
11
i
ii
Hierher würde die Unterbrechung län
es sei aber gleich hinzugefügt, daß
rhythmisch
damit nicht etwa ein Urteil über ihren künstlerischen
gerer
geordneter Flä chen, durch Vor sprünge mit selb ständiger Gliede rung, Türme und Vorlagen, zu rech nen sein, auch der Wechsel breiterer und schmalerer, verschieden behan delter Joche in reich gegliederten Jnnenräumen. Abb. 77. 293. Alle diese
Wert ausgedrückt werden soll. Auch in der Kunst ver hält es sich so, daß jeder Vorzug nach einer Richtung mit einer Einbuße nach der andern ver bunden ist. Was die rhythmische Reihung an Reich tum der Gliede rung gewinnt, das geht andererseits an einheitlicher Wucht der Er scheinung verlo
rhythmischen Glie derungen stehen der einfachen Rei 69. Rahmen von Vredemann de Dries. hung als entwickel Die Rahmenltnien, teilweis als freie Endigungen au-gebildet, krüm men sich, rollen sich auf und überschneiden sich in reichster Weise, be tere, reichere For ren. Nur die Er lebt durch freiere Unterformen. men gegenüber; fordernisse des ein zelnen Falles sind maßgebend dafür, welche Form jedesmal stimmungsgemäßer und wertvoller ist.
Das Gebiet, in dem die Wirkung der Linie vor allem vorherrscht, ist die Welt des Zierrates, des feMch stimmende» Schmuckes. In ihr ermöglicht die anregende Kraft der Linienführung jede Abtönung von der bescheidenen Belebung, die der durch das Bedürfnis gegebenen Linie eine» leichte» Reiz verleiht, bis zum Ausdruck höchster Pracht und sinnverwirrende» Reichtnurs. Wie sich i» solchen reiche» Linienspiele» die hier be
handelte» Grundlagen der Wirkung miteinander vereinigen, wie die Verstärkung der Züge durch Wiederholung und Anklang, wie ihre Brechung durch Tellungen, durch
Verflechtung und Kreuzung verwertet wird, wie einfache Limenverbindungen in der Zusammenstellung zu Reihungen und symmetrischen Gebilden an Gewicht gewinnen,
wie einzelne Hauptzüge von Nebenformen
umspielt
und
dadurch zugleich verstärkt und bereichert werden, wie nicht
nur in den rhythmischen oder Wechselreihungen, sondern auch
in größeren Gesamtwirkungen einzelne Teile hervorgehoben, andere ihnen untergeordnet werden, das bildet den künst
lerischen Gehalt und Reiz allen Zierwerks. Es im einzelnen
Hier ausführen zu wollen, würde uns zu weit führen;
70. Stadtmauer zu Weißenburg am Sand.
E. A.
Eindrucksvolle Reihung gleicher Manertürme. Srarrhett des Eindrucks vermie den durch Unregelmäßigkeiten im Dach des verbindenden Wehrgangs und Htn-^ zufügung verschieden geformter Strebevfeiler.
»ach den gegebenen Grund lagen wird es dem Beschauer nicht schwerfallen, in die hierneben gegebenen Beispiele und weiterhin in dieses Gebiet der Kunst sich genießend einzuleben.
Das Gebiet der Linien und die von ihm abhängige Welt des Zierwerkes führen nicht gerade zu den höchsten Erhebungen des Gefühls. Sie spielen mehr eine vermittelnde und begleitende Rolle als Vorbereitung der tiefer zupackenden Flächen- und Massenwir kungen. Aber man soll ihre Rolle auch nicht zu gering einschätzen. Ist doch jeder, auch der ge ringste Gegenstand, Träger bestimmter Linienzüge. Ohne eine klare, gute Linienführung ist keine höhere, feierliche Kunst denkbar; aber auch im bescheideneren Kreis des täg lichen Lebens ist es für die Stimmung wahrlich nicht gleichgültig, ob wir uns an edlen, wohlabgewogenen und anmutig klaren Linien in unserer Umgebung erfteuen können, oder ob wir durch ziellos unruhige, in sich widerspruchsvolle oder überladene, unklare
Linienfolgen verwirrt und in unserer Empfänglichkeit für das Schöne abgestumpft werden.
Zur Schulung des Auges aber ist der Einfachheit der Wirkungen wegen die
Beschäftigung mit dem Eindruck der Linienführungen vor allem geeignet und un erläßlich.
VIII. Symmetrie und Gleichgewicht.' Nahe verwandt mit der Wechselreihung und oft mit ihr verbunden ist die Reihung um eine Mittellinie (Mittelachse), die Symmetrie. In der Natur unseres Auges ist die Symmetrie begründet einerseits durch ihre Übereinstimmung mit dessen symmetrisch
gebauter Bewegungsvorrichtung, andererseits insofern, als das Auge den mittleren Teil des Gesichtsfeldes am klarsten erkennt, während die seitlichen Teile immer weitergehend undeutlicher werden. Diese überwiegende Deutlichkeit zieht das Auge besonders an und das legt dem Künstler den Gedanken nahe, diesen Mittelteü besonders reich auszu bilden und zum Kernpuntt seiner Schöpfung zu machen. Ebenfalls zugunsten sym-
wie einzelne Hauptzüge von Nebenformen
umspielt
und
dadurch zugleich verstärkt und bereichert werden, wie nicht
nur in den rhythmischen oder Wechselreihungen, sondern auch
in größeren Gesamtwirkungen einzelne Teile hervorgehoben, andere ihnen untergeordnet werden, das bildet den künst
lerischen Gehalt und Reiz allen Zierwerks. Es im einzelnen
Hier ausführen zu wollen, würde uns zu weit führen;
70. Stadtmauer zu Weißenburg am Sand.
E. A.
Eindrucksvolle Reihung gleicher Manertürme. Srarrhett des Eindrucks vermie den durch Unregelmäßigkeiten im Dach des verbindenden Wehrgangs und Htn-^ zufügung verschieden geformter Strebevfeiler.
»ach den gegebenen Grund lagen wird es dem Beschauer nicht schwerfallen, in die hierneben gegebenen Beispiele und weiterhin in dieses Gebiet der Kunst sich genießend einzuleben.
Das Gebiet der Linien und die von ihm abhängige Welt des Zierwerkes führen nicht gerade zu den höchsten Erhebungen des Gefühls. Sie spielen mehr eine vermittelnde und begleitende Rolle als Vorbereitung der tiefer zupackenden Flächen- und Massenwir kungen. Aber man soll ihre Rolle auch nicht zu gering einschätzen. Ist doch jeder, auch der ge ringste Gegenstand, Träger bestimmter Linienzüge. Ohne eine klare, gute Linienführung ist keine höhere, feierliche Kunst denkbar; aber auch im bescheideneren Kreis des täg lichen Lebens ist es für die Stimmung wahrlich nicht gleichgültig, ob wir uns an edlen, wohlabgewogenen und anmutig klaren Linien in unserer Umgebung erfteuen können, oder ob wir durch ziellos unruhige, in sich widerspruchsvolle oder überladene, unklare
Linienfolgen verwirrt und in unserer Empfänglichkeit für das Schöne abgestumpft werden.
Zur Schulung des Auges aber ist der Einfachheit der Wirkungen wegen die
Beschäftigung mit dem Eindruck der Linienführungen vor allem geeignet und un erläßlich.
VIII. Symmetrie und Gleichgewicht.' Nahe verwandt mit der Wechselreihung und oft mit ihr verbunden ist die Reihung um eine Mittellinie (Mittelachse), die Symmetrie. In der Natur unseres Auges ist die Symmetrie begründet einerseits durch ihre Übereinstimmung mit dessen symmetrisch
gebauter Bewegungsvorrichtung, andererseits insofern, als das Auge den mittleren Teil des Gesichtsfeldes am klarsten erkennt, während die seitlichen Teile immer weitergehend undeutlicher werden. Diese überwiegende Deutlichkeit zieht das Auge besonders an und das legt dem Künstler den Gedanken nahe, diesen Mittelteü besonders reich auszu bilden und zum Kernpuntt seiner Schöpfung zu machen. Ebenfalls zugunsten sym-
metrischer Anordnungen wirken Gründe der Linienführung, so die Rücksicht auf dasGleichgewicht der in der Mitte sich zusammenschließenden Hälften von Giebeln und Bögen. Auch praktische Rücksichten auf die Herstellung kommen dafür in Betracht,, so in der Webekunst, bei allem Rahmenwerk, sowie beim Dachgerüst, Abb. So. Es liegt hier ein Fall vor, in dem die Wichtigkeit solcher rein praktischen Einflüsse nicht unter schätzt werden darf. Sie werden nicht nur in der Frühzeit, sondern gelegentlich auch »och bei vorgeschrittener Kunsientwicklung bedeutsam. Endlich spricht auch der natür liche Sinn für Ordnung sein gewichtiges Wort. Er macht allein schon nach dem Vorbild der symmetrischen menschlichen Gestalt das Auge für Auffassung symmetrischer Formen so geneigt, daß es bedeutungslose Schnörkel in symmetrischer Anordnung bereits als Zierrat empfindet, sich an der zeitweise beliebten symmetrischen Verdoppelung von Na menszügen und an der symmetrischen Zusammenstellung formloser Glasstückchen und Steinchen im Kaleidoskop erfreut. Abb. 51. Kraft dieser natürlichen Verhältnisse ist die symmetrische Gliederung der Linien, Flächen und Massen, also die rhythmische Reihung der Formen um eine Mittellinie, oder bei sternförmigen Bildungen um einen Mittelpunkt, zu allen Zeiten und in allen Ländern eine wesentliche Grundlage der Kunstübung gewesen. Es ist durchaus irrig, sie als Besonderheit des Südens und etwa als „unnordisch" zu bezeichnen, wie das gelegentlich geschehen ist. Sie beherrscht, von selte nen Ausnahmen abgesehen, vollständig das Gebiet der Einzelbildungen, als da sind: Fenster, Türen, Turmlösungen, Stützen, Möbel usw. Hier wirkt sie als das einfach Natür liche und Selbstverständliche. Auch im eigentlichen Bauwesen kunstloser wie kunstvoller Art haben Gründe der bequemen Bauausführung und der Benutzung bewirkt, daß allent halben und zu allen Zeiten im Norden wie im Süden, in Europa wie in andern Erd teilen die ältesten und urtümlichsten Bauten in symmetrischer Gestaltung errichtet, wurden. Das gilt für die indogermanischen Hütten Nordeuropas mit ihrer offenen Vorhalle und für die Königshallen und ersten Rathäuser des mittelalterlichen Deutsch lands wie für das ägyptische Wohnhaus, für die Stammeshäuser der australischen Inselwelt und die Baukunst der alten Azteken und Peruaner. Wir können in allen ut# tümlichen Verhältnissen, für deren einfache praktische Bedürfnisse jeder Bau nur einen Raum zu enthalten brauchte, die Symmetrie als die selbstverständliche, natürliche Art auch der baulichen Anlagen ansehen. Ging man dann zu mehrräumigen Anlagen über,, so blieb sie zunächst teils aus allgemeinem Beharrungsvermögen in Übung, tells wegen
der Befriedigung, die sie dem natürlichen Sinn für Ordnung und Gleichgewicht ge währte, eine Befriedigung, die man auf andere Weise damals noch nicht zu erreichen wußte. Es ist keine Frage, daß die symmetrische Anlage durch die strenge Gemessenheit der Massenvertellung, die ihr eignet, außer dem Vorzug der augenfälligen Klarheit auch den Eindruck einer vornehm-feierlichen Würde sehr wirksam fördert und daß man sie deshalb besonders für Bauten hohen monumentalen Ranges auch unter Opfern aufrechtzuerhalten sucht. Solche Opfer ergaben sich bald, je mehr die Erfordernisse des Gebrauches dazu führten, vielerlei Räume von verschiedenen Abmessungen, aber in. vorgeschriebener Folge in einem Bau zu vereinen. Dabei kann zunächst die Massen verteilung des Baues noch streng symmetrisch bleiben, aber es liegt doch praktisch nahe„ die Fenster der Räume so anzulegen, daß sie der Größe und dem Gebrauchszweck der Räume entsprechend sich unregelmäßig auf die Flächen verteilen. Für Bauten bescheidener
Art kann solch ungezwungene Anordnung sehr sachlich und anmutig aussehen. Abb. 82. Selbst unter solchen erschweren den Verhältnissen sucht oft noch die Kunst des Meisters eine symmetrische Ordnung durch geschickte Verbindungen und durch Freiheiten in der Größen bemessung einzelner Räume oder durch HUfsmittel der äußeren Behandlung zu erzwingen. Und kann man das nicht ganz er reichen, so sucht man vielfach das Auge über die Ungleich heiten hinwegzutäuschen, wofür wir Mittel und Beispiele bald kennenlernen werden. Aber die 71. Klosterkirche;u Paulinzelle. E. A. Schwierigkeiten werden um so Feierlicher Eindruck der großzügig einfachen Reihung schlichter Säulen mit bedeutender, sie wachsen bis zur kraftvollen Würfelkapttellen. Packender Gegensatz der schlanken Säulen Last der vierkantig aufgelagerten Bogen und der Unüberwindlichkeit, je mehr die schafte gegen die schweregeschlossenen Oberwand. Größenunterschiede der unterzubringenden Räume zunehmen und je weniger Spielraum in den bereitstehenden Geldmitteln dem Künstler gegeben ist. Treten dazu Beschränkungen durch die Lage auf steil abfallender Berghöhe oder engem Jnselgrunde oder ähnliches, so wird oftmals die Innehaltung der symmetrischen Anordnung auch für die Maffenverteilung un möglich gemacht, wofür die Burg- und Schloßbauten aller Zeiten und Völker reich liche Beispiele bieten. Auch die Erweiterung bestehender Bauten ergibt oft die Nötigung, eine vorhandene Symmetrie aufzugeben, wie das überaus häufig bei den Rathäusern der mittelalterlichen deutschen Städte der Fall gewesen ist. Zu solchen praktischen Gründen, die zum Aufgeben der Symmetrie veranlassen, kommen noch rein künstlerische Erwägungen. Die Symmetrie verliert in den verwickelteren Verhältnissen, von denen wir sprachen, sehr oft den Zug der einfachen Natürlichkeit, und verfällt leicht in eine etwas leblose Starrheit, die durchaus nicht im Sinne jeder auszudrückenden Stimmung liegt, die vielmehr oft wie ein schweres Blei gewicht den Aufschwung der Empfindungen niederdrückt. Nicht in alle Lagen mensch lichen Lebens paßt der Ausdruck vornehmer Gemessenheit, an ihrer Stelle ist eine freiere Ungezwungenheit oft durchaus angebracht. Und noch ein anderes. Welchen Sinn hat es, eine symmetrische Wirkung zu erstreben bei langen Gebäuden, die in enger Straße oder engem Tale niemals in der Querrichtung übersehen werden können? Ist in solchem Bau eine Ecke etwa von einem freien Platz aus leicht zu überschauen oder fällt sie nur dem, der sich dem Bau von der Seite her naht, besonders in die Augen, so hat sie für seine Erscheinung größere Bedeutung als die Mitte, auf der sich eine Symmetrie auf bauen lassen könnte. Die Anziehungskraft solcher bevorzugt sichtbaren Stelle ist so groß.
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VIII. Symmetrie und Gleichgewicht.
72. Hof des großen Krankenhauses in Mailand. Grundsatz einfacher Reihung dnrchgeführt in allen Teilen des Bauwerks; untere Säulen und Bügen, Kreisfelder mit Heiligen^ bildern zwischen ihnen und Friesteilungen über ihnen. Dann weiter in den Säulen und Fenstern des oberen Stockwerks und den Konsolen des Hauptgestmses. In mehrfacher Wiederholung faßt das Auge die gleichmäßig gerichteten Punkte zu neuen Wagerechten zusammen.
daß man ost auch an durchaus übersichtlichen Bauten, die nach zwei Seiten hin freistehen, solche unsymmetrischen Zutaten angebracht hat, um sie besonders lebhaft und fesselnd auszubilden. Abb. 84. Außer solchen äußeren Umständen des Zweckes und der Lage können auch rein künstlerische Absichten zum Aufgeben der Symmetrie veranlassen. Auch die bildende Kunst hat ja die Symmetrie des menschlichen Körpers nur in ihren unbeholfeneren
Anfängen zum strengen Ausdruck gebracht, sie dann aber durch freiere Bewegung der Linien, zum mindesten durch den Unterschied zwischen Standbein und Spielbein ge mildert. Dem Bedürfnis des Auges nach freierer Bewegung der Linien und Massen hat man daher in der Baukunst gedient, indem man von der rein symmetrischen An ordnung zu belebteren Lösungen fortgeschritten ist. Das kann in den einfachsten Fälle« sich darin äußern, daß einem an sich streng symmetrischen Werk kleine Zutaten unsym metrisch hinzugefügt werden, Abb. 8i, eine Abweichung im Zierat, ein Austritt, eine Vorhalle, ein Türmchen ein Erker usw. Es sind durch solche Abweichungen von der symmetrischen Regel, die das Auge lebhaft anregen, Wirkungen von ungezwun gener Feinheit bis zu derber Behaglichkeit vielfach erzielt, oft ist auch nur die Auf heiterung der etwas langweiligen Würde erstrebt worden.
In anderen Fällen geht man weiter und verzichtet gänzlich darauf, eine symmetri sche Anlage durchzuführen, man ersetzt sie durch mehr oder weniger freie Gruppenblldung. Auch hierbei kann die Aufgabe der Kunst, eine Klarheit und Eindringlichkeit des Eindruckes zu erzielen, sehr wohl erfüllt und sogar in besonders anregender Weise er füllt werden. Das Mittel dazu bietet sich dadurch, daß das Gleichgewicht verschiedener
Seile an Stelle der Gleichheit von symmetrisch angeordneten Teilen tritt. Es ist das eine freiere, der strengen Symmetrie gegenüber dnrchans nicht geringwertige Behandlnngsweise, die auch im Süden, z. B. an den fein sinnigen florentinischen Villen des fünfzehnten Jahrhunderts, nicht selten ist, Abb. 83, von der allerdings die nordischen Meister der germanischen Völker am häufigsten Gebrauch ge macht und in der sie eine erstaunliche Sicherheit und einen bewunderns werten Reichtum der Erfindung be tätigt haben. Sie gestattet die größte Freiheit der inneren Raumverteilung, indem sie deren Bindung an die symmetrische Übereinstimmung der Massen und Linien aufhebt und es ermöglicht, einer Gruppe kleinerer Ksstiungen ein Gegengewicht etwa in
7Z. Gebälk von einem Hause in Celle7* Durch daS Zusammenwirken der Balkenküpfe mit der sie verbindenden Gliederung der Schwelle entsteht eine lebhafte Wechselreihung.
einem Portalbau oder in einem Erker zu geben, Abb. 84, einem Vorbau einen Giebel als gleichwertigen Teil gegenüberzustelle«, einem geschlossenen Anbau eine mit Hallen überdeckte Freitreppe usw. Es ergibt sich so ein bewegter Reichtum der Linien und Massen, den man in dem Zusammenwirken von gleichwertigen betonten mit unbe tonten Teilen auch als einen Rhythmus bezeichnen kann. Abb. 244. Naturgemäß liegt in dieser „malerischen" Freiheit die Gefahr der haltlosen Verwilderung beschlossen. Mr haben sie in den Mißverständnissen des verflossene» Jahrhunderts reichlich erfahren, als man in dem Irrglauben an die „Kunst als Erfüllung des Zweckes" meinte, irgend eine beliebige, sich aus dem Zweck ergebende Raumverbindung nach außen sichtbar auf bauen zu müssen. Dabei ging denn oft der Zusammenschluß der Massen ebenso in die Brüche, wie jede Symmetrie und jede Rücksicht auf den einheitlichen Zusammenklang der Linien. Demgegenüber zeigen uns die Beispiele aus guten Kunstzeiten, wie man auch bei voller Wahrung der Freiheit eine ruhige Geschlossenheit der Massen auftecht-
erhalte» und die ungleichartigen Teile durch große herrschende Linien zu einer höheren Einheit verknüpfen kann. Abb. 82. Selbst bei unregelmäßiger Verteilung der Moüve ist in guten Bauten Ruhe und Zusammenhang gewahrt worden, bald durch eine stark rhythmische senkrechte Teilung, bald durch eine mächtige, den ganzen Bau einheit lich beherrschende Dachfläche, bald dadurch, daß eine große regelmäßige Form, etwa eine gleichmäßige Reihung von Dachaufbauten oder Fenstern den beruhigenden Ab schluß gab. Abb. 174. Einmal im Besitz solcher Mittel zur fteien Abwägung der Linien und Massen, konnte man dann auch Aufgaben zu klarer Lösung bringen, bei denen jede Symmetrie von vornherein ausgeschlossen war. Abb. 254. Vergessen wir nicht, daß Üt Symmetrie
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VIII. Symmetrie und Gleichgewicht.
zwar in der Eigenschaft unseres Auges, die Mitte des Bildes am klarsten zu erfassen, begründet ist, daß aber diese Mitte des Bildes mit der Mitte des betrachteten Gegen standes gar nicht jvsammenzutreffen braucht. So kann sehr wohl durch künstlerische Betonung einjelner seitlich gelegener Teile der Blick von der Mitte des Kunstwerks ab gezogen werden. Es kann nach dem eben dargelegten Gesetz des Gleichgewichtes ein kleinerer Teil so kraftvoll oder lebhaft ausgebildet werden, Abb. 253, daß er einem bedeutend größeren Teil die Wage hält, es können auch mehrere solche Brennpunkte künstlerischer Anziehungskraft unregelmäßig über den Baukörper verteilt, untereinander und mit ihren Zwischenräumen wohl abgewogen sein, wodurch dann ein überaus reiches Leben von Linien und Massen zu einer höheren Einheit zusammengezogen wird. Schließ lich kann die Hauptbetonung sogar an das eine Ende der Linienführung gelegt werden, ohne daß die ruhige, befriedigende Klarheit der Lösung litte. Abb. 86. Dafür sind die Seitenansichten vieler Kirchen allbekannte Beispiele. Sei es, daß sie nur eine Turm anlage an der Eingangsseite besitzen, sei es, daß dieser ein Querschiff mit oder ohne Turm begleitung als Nebenform gegenübergestellt ist, Abb. 250—252, jederzeit steigert sich Be wegung und Größe der Linienführung nach einer Seite hin so, daß das Auge an dieser den beherrschenden Schwerpunkt des Ganzen klar erfaßt und dadurch dem Geist das Gefühl ruhiger, in sich abgeschlossener Ordnung übermittelt. In kleineren Verhältnissen dagegen sind es insbesondere die Verteidigungstürme alter Städte und Schlösser, die solche einseitige Richtung häufig mit Glück durchgeführt haben. Köstliche Meisterwerke für solche Freiheit wohlabgewogener unsymmetrischer Züge bieten ferner die Straßen und Märkte alter deutscher Städte in reicher Zahl. Sie ver leihen ihnen vor allem den Ausdruck behaglicher Herzlichkeit, die sich nicht in den Zwang einförmig strenger Regeln einfangen läßt, vielmehr das Bedürfnis hat, sich in über strömendem Reichtum warmen Gefühls voll persönlicher Eigenart herzerquickend auszusprechen. Gegenüber dem sicheren Anhalt der schulmäßigen Regel, den die Benutzung sym metrischer Lösung gewährt, kommt in solcher, aus den Bedingungen des Einzelfalles sich entwickelnden Abwägung der Linien und der Baumassen das Gefühl freien schöpferi schen Geistes in höherem Maße zur Betätigung. Ohne den hohen Wert, den die Sym metrie als leichtest verständlicher und großzügiger Ausdruck von Würde und Gesetz lichkeit besitzt, schmälern zu wollen, werden wir doch auch die freie Verfügung über die Kunstmittel, die wir soeben behandelt haben, als eine überaus fruchtbare Weiterent wicklung und als wesentliche Bereicherung des künstlerischen Vermögens hochschätzen. Sie ermöglicht besonders für umfangreichere, vielfach gegliederte Anlagen ein stärkeres Eingehen auf die praktischen Bedingungen des Einzelfalles. Sie erlaubt insbesondere ost eine weit bessere Anpassung an eine bestehende Umgebung, ein Städtebild oder eine eigenartige Landschaft und insofern die Erzielung eines vollendeteren Gesamtkunst werks, in dem die verschiedenen Teile zu einheitlicher Wirkung zusammengehen. Wenn ein symmetrisch entworfenes Kunstwerk, das in allen Linienbeziehungen auf sich selbst zurückgeht, sich zu behaupten hat wesentlich gegen seine Umgebung, so gibt die freie Abwägung der Teile in erhöhtem Maße die Möglichkeit, das Kunstwerk gemeinsam m i t seiner Umgebung wirken zu lassen. — Weil sie sich nicht so leicht unter sofort überfichüiche Begriffserklärungen bringen läßt, wird sie von einer schulmäßig-regelrichtig
IX. Die Gesimse. in
Schubfächer
73
ordnenden
Kunstauffassung gern als un tergeordnetere Form gegenüber
der Symmetrie aufgefaßt, ost sogar in völliger Verkennung der Tatsachen als die Form, die an den Künstler geringere geistige Anforderungen stellt als die schulmäßig symmetrische Lösung. Aber dies geschieht
ohne Grund.
Natürlich kann
auch sie zum Mißbrauch führen,
worauf wir oben schon hin gewiesen haben. Wie der sym metrischen Lösung die Aus
74. Krcuzgang ju Rommersdorf.
E. A.
Reiche Wechselreihung der Stützen nach dem Rhythmus abcba.
artung zur Langenweile und Reizlosigkeit naheliegt, so kann auch die freie Massenabwägung sich verstricken in Kleinlichkeit und wirkungslose Unruhe. Hält sie sich von diesen Klippen fern, so stellt sie nicht etwa eine geringwertigere Kunstform dar als die Symmetrie, sondern tritt ihr gleichwertig zur Seite. Indem sie auf die Stütze der Vorstellungskraft verzichtet, die in der symmetrischen Anordnung dargeboten wird, erfordert sie eine freiere, viel seitigere Empfindung für alle mitwirkenden künstlerischen Gesichtspunkte, man kann wohl sagen, ein größeres Maß von innerer geistiger Freiheit. Insofern ist es wohl er klärlich, daß den germanischen Völkern in besonderem Grade die meisterhafte Beherr schung dieses Kunstmittels eignet, weil bei ihnen ganz im allgemeinen das tiefe Gefühl für das Wesen wirklicher, innerer Freiheit überwiegt gegenüber dem roma nischen Kulturkreise, in dem man sich mit der in bestimmten Regeln festgelegten Form gewisser Freiheiten zu begnügen pflegt und sich gelegentlich selbst hartem Despotismus beugt, wenn nur diese Formen gewahrt werden.
IX. Die Gesimse. Wenn wir bisher mit Linien und ihren Eigenschaften uns beschäftigt haben, so
waren darunter nur zum Teil Linien im mathematischen Sinne, d. h. solche ohne Fläche und Körper zu verstehen, wie sie sich durch den Zusammenschnitt zweier Flächen bilden. Zum anderen Teil haben wir bei allen Flächenteilungen unter Linien Gliederungen begriffen, die zum mindesten eine gewisse Breite besitzen, vom schwächeren oder stärkeren Erich bis zum breiten Friese, oft auch neben der Breite einen Vorsprung, eine Aus ladung, also körperliche, räumliche Ausdehnung. Solche ausladenden Gliederungen,
IX. Die Gesimse. in
Schubfächer
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ordnenden
Kunstauffassung gern als un tergeordnetere Form gegenüber
der Symmetrie aufgefaßt, ost sogar in völliger Verkennung der Tatsachen als die Form, die an den Künstler geringere geistige Anforderungen stellt als die schulmäßig symmetrische Lösung. Aber dies geschieht
ohne Grund.
Natürlich kann
auch sie zum Mißbrauch führen,
worauf wir oben schon hin gewiesen haben. Wie der sym metrischen Lösung die Aus
74. Krcuzgang ju Rommersdorf.
E. A.
Reiche Wechselreihung der Stützen nach dem Rhythmus abcba.
artung zur Langenweile und Reizlosigkeit naheliegt, so kann auch die freie Massenabwägung sich verstricken in Kleinlichkeit und wirkungslose Unruhe. Hält sie sich von diesen Klippen fern, so stellt sie nicht etwa eine geringwertigere Kunstform dar als die Symmetrie, sondern tritt ihr gleichwertig zur Seite. Indem sie auf die Stütze der Vorstellungskraft verzichtet, die in der symmetrischen Anordnung dargeboten wird, erfordert sie eine freiere, viel seitigere Empfindung für alle mitwirkenden künstlerischen Gesichtspunkte, man kann wohl sagen, ein größeres Maß von innerer geistiger Freiheit. Insofern ist es wohl er klärlich, daß den germanischen Völkern in besonderem Grade die meisterhafte Beherr schung dieses Kunstmittels eignet, weil bei ihnen ganz im allgemeinen das tiefe Gefühl für das Wesen wirklicher, innerer Freiheit überwiegt gegenüber dem roma nischen Kulturkreise, in dem man sich mit der in bestimmten Regeln festgelegten Form gewisser Freiheiten zu begnügen pflegt und sich gelegentlich selbst hartem Despotismus beugt, wenn nur diese Formen gewahrt werden.
IX. Die Gesimse. Wenn wir bisher mit Linien und ihren Eigenschaften uns beschäftigt haben, so
waren darunter nur zum Teil Linien im mathematischen Sinne, d. h. solche ohne Fläche und Körper zu verstehen, wie sie sich durch den Zusammenschnitt zweier Flächen bilden. Zum anderen Teil haben wir bei allen Flächenteilungen unter Linien Gliederungen begriffen, die zum mindesten eine gewisse Breite besitzen, vom schwächeren oder stärkeren Erich bis zum breiten Friese, oft auch neben der Breite einen Vorsprung, eine Aus ladung, also körperliche, räumliche Ausdehnung. Solche ausladenden Gliederungen,
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IX. Die Gesimse.
75. S. Ambrogio zu Mailand. Wechselreihung der Pfeiler und Bogenspannungen. Feierliche Wirkung der brettgespannten Gewölbe, die über schwach aus ladenden Knaufbtldungen aus den senkrechten Stützenlinten herauswachsen. Verbindung der unteren Zwtschenpfetler mit der Bogenbewegung deS oberen Geschosses durch ein feines Säulchen. Steigerung des Retzes durch den nicht ganz regelmäßigen Wechsel von Haustein und Backstein. Schöne Beleuchtung wesentlich durch die im Rüclen des Beschauers befindlichen hohen Fenster der Westwand, in den Seitenschiffen zauberhaft verdämmernd. Bereicherung der Raumr und Lichtwirkung durch Einschaltung des Kuppelraums vor der Apsis.
wenn sie in wagerechter oder schräger Richtung verlaufen oder wenn sir sich bogenförmig schwingen, fassen wir unter dem Namen der Gesimse zusammen. Die Grundform der Gesimse ist die schlichte kantige Platte, die sich vor die senkrechte Wandfläche vorstreckt. Ihr Zweck war zunächst, an der Dachtraufe das herabrinnende
Regenwasser von der Wand wegzuleiten; zur Kunstform wurde sie erst, als man ihre Schattenwirkung zum harmonischen Abschluß der Flächen absiimmte, und sie wurde vielseitiger, als man sie dann mit dem Aufkommen mehrgeschossiger Gebäude nicht
nur als oberen Abschluß, sondern auch als Gliederung der Fläche benutzte. Die Form der einfachen Platte hat sich über die Anfangszeiten der Kunst hinaus in nicht ganz seltenem Gebrauch gehalten, bald als weit vortretendes hölzernes Dachgesims, bald
IX. Die Gesimse.
76. Hauptgeflms vom Pal. Marino in Mailand. Eisfache Reihungen im Zahnschnttt und den verzietten Gliedern, Wechselrethung,tn den Palmetten des Frieses, bereichert durch Einschaltung der Doppelkonsolen und Hermen. Besondere Betonung der Ecke durch Häufung dieser Stützen.
77. S. Giusiina zu Padua.
E. A.
Im hinteren Raumtetl Wechselrethung von Kupveln mit -wischengeschalteten Tonnengewölben. Im vorderen Teil Gegensatz der Kuppeln zu den quergerichteten Tonnen der Seitenschiffe. In den rechts sichtbar werdenden Seitenkapellen verdoppelt sich die Raumteilung. Die Pfeiler gliedern sich wie der ganze Raum nach klaren Ttefenschtchten.
als Gurtung, wobei die Ausladung dann auf das geringste Maß vornehmer Zurück haltung einschrumpfen kann. Abb. 87. I» den meisten Fällen aber führen die Forde rungen des künstlerischen Sehens dazu, die Form weiterjvbllden, zu verfeinern und daneben zn steigern. Dabei hat man zwei verschiedene Wege verfolgt, die sich innerlich trennen »ach der Bedeutung, die den Gefimsgliederungen in der Gesamtwirkung zu geteilt wird. In allen Kuvstweisen, die auf die Wirkung der Umrißlinien, die Betonung
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ix. Die Gesimse.
Ler Massenwirkttng und Massenbelebung sich aufbauen, kann die Stärke der Gesimse gering gehalten werden, sie muß es sogar, um den Liniensiuß des Umrisses und den leichten Übergang des Auges von einem Massenteil zum andern nicht zu beeinträchtigen. Zu diesen Kunstweisen gehört in unseren Landen die gesamte mittelalterliche Kunst, ferner die orientalische, besonders ihre monumentalsten Zweige, die byzantinische und die türkische Baukunst. In ihnen bleibt zumeist der Umfang der Gesimse auf das Maß einer schwachen Quaderschicht beschränkt, nur die rohe Form des Rechteckvorsprunges wird gemildert. Man bricht sie zunächst an ihrem unteren Rande durch Abschrägung, Verrundung oder Auskehlung, Abb. 87, geht dann mit fortschreitender Bereicherung zu Verbindungen von Rundstäben und Kehlen über, die durch schmale gerade Leisten getrennt werden und darauf berechnet sind, dem Auge durch die Abwechselung von mehr oder weniger kräftigem Schlagschatten mit Hellen Lichtern und weich abgetönten Eigenschatten reizvolle Beschäftigung zu geben, zugleich den Zug des Gesimses durch mehr oder weniger starke Ausladung und durch die Wiederholung der gleichgerichteten Linien nach Bedarf zu verstärken. Die größte Verstärkung solcher Gestmsbildung besieht dann darin, daß die wie vorstehend behandelte Schicht auf Kragsteinen vor die Wand-siäche vorgesetzt wird, wobei wieder in der Ausbildung der Kragsteine besondere An ziehungspunkte für das Auge sich bieten können. In all diesen Formen trennt sich das Gesims durch den rechteckigen Vorsprung feiner Oberkante noch recht kräftig von der Wand ab. Als die gotische Zeit zu stärkerer Auflösung der Wandflächen durch senkrechte Gliederungen, wie auch zu lebhafterer Zer legung der Massen durch Strebepfeiler vorschritt, mußte die Gefahr übermäßiger Zer rissenheit durch zu starke Teilungen dem künstlerischen Gefühl drohe». Daher drängte man die Bedeutung der Gestmsgliederungen weiter zurück bis zur Form zarter, feiner Linienandeutungen. Man schrägte zu dem Behufe auch die Oberkante der Gesimsschicht »b, so daß sie für das Auge weich aus der Wand hervorgeht und beschränkte die untere Gliederung auf eine Hohlkehle, der sich höchstens unbedeutende Rundstäbe noch einfügen. Abb. 87. So entsteht die Form des sogenannten „Wasserschlages", die man, wie ihr Name andeutet, einseitig aus einem praktischen Zweck hat erklären wollen. In Wirk lichkeit ist dieser praktische Zweck bei den meisten Gesimsen recht unwichtig, im Innern der Gebäude überhaupt nicht vorhanden, hätte auch in anderer Form erfüllt werden können, so daß wir die allgemeine Anwendung dieser zu bezeichnender Magerkeit ent wickelten Form viel mehr aus den geschilderten künstlerischen als aus praktischen Be weggründen erklären müssen. Dem gelegentlichen Bedürfnis nach größerem Reichtum Ler Formen kommt man dadurch entgegen, daß man in die Hohlkehlen allerlei Zier werk einlegt. Abb. 68. Will man, wie etwa am Hauptgesimse, der Linie etwas mehr Fülle geben, so fügt man lieber einen Fries hinzu, der ganz in der Fläche liegen oder auch mit Blattwerk etwas vorkragen kann, als daß man die Masse und die Aus ladung des Gesimses wesentlich bedeutender macht. Es tritt in dieser Auffassung Lie Plastik der Gesimse zurück gegenüber der Plastik der Massen. Am bezeichnendsten tritt das hervor an der eigenartigen Form des Hauptgesimses, wie sie im norddeutschen Backsteinbau gang und gäbe ist: einer breiten nur durch geringe Unterglieder vorgetra genen Platte. Sie führt in vollendeter, geradezu klassischer Weise den Blick von den großen Wandfiächen der Hallenkirchen zur Dachfläche über Abb. 88. Gerade durch ihre
IX. Die Gesimse.
78. Fensterfüllung zu Achmedabad. Äußerster Reichtum zierlich verschlungener freier Linien, geklärt durch Einfügen einiger leicht kenntlicher Hauptzüge.
weise Mäßigung unterstützen solche Gesimse vorzüglich die geschlossene Umrißwirkung,
der Bauten, lassen den Blick leicht über die Flächenteilungen wie über die Trennlinie von Wand und Dach hinweggleiten und lassen solchermaßen die zusammenfassend räum liche Anschauung der Bauten an erste Stelle treten vor die Wirkung der Einzelheiten.
So wahrt man in besonders hohem Grade die Beweglichkeit des Masseneivdrucks und bei Flächengliederungen, sowie im Kunstgewerbe die flächige Einheit der Gesamtwirkung.
Wer die wunderbare Raumwirkung der byzantinisch-türkischen Kuppelbauten an sich selbst erfahren hat, wird den Vorzug dieser bescheideneren Gliederungsart gegenüber der aufwändigen, die Raumform viel stärker zerteilenden Art der antikisierenden Gesimse
zu würdige» wissen. Ganz anders gestaltet sich die Ausbildung der Gesimse in der griechisch-römischen Kunst und ihren Ableitungen. Auch sie geht, wie gesagt, von der scharfkantigen Vor tragenden Platte aus, läßt aber deren Gegensatz gegen die senkrecht aufsteigende Wand
in voller Kraft bestehen. Als Hauptbestandteil des Gesimses erscheint die scharf vor-tretende „Hängeplatte". Die schroffe Härte solcher Formgebung wird nun auf verjchiedene Weise durch Hinzufügung und Einschiebung von Nebenformen gemildert, wobei das künstlerische Gefühl Gelegenheit zur Ausbildung vielfacher Feinheiten gewinnt. Sehr eigenartig geschieht dies im strengen dorischen Stil. Abb. 89, indem die im Triglyphenfties angesetzte Linienführung durch die Tropfenplatten an der Unterseite der Hävgeplatte fortgesetzt und so für das Auge eine Verbindung zwischen beiden Teilen durch
die übergreifenden Querlinien hergestellt wird. Einzelne kantige Leisten dienen dann noch der Vervielfachung der Linien und der Abstimmung des Maßstabes; erst in späteren Zeiten treten noch Hohlkehlen als Vermittlungsglieder und Wellenprofile als obere Endi-gung des Gesimses hinzu. Die Form des strengen dorischen Gesimses bietet nebenber
78
ix. Die Gesimse.
ein treffliches Beispiel jvm Einblick in die Umarbeitung zwecklich-kon-struktiver Unterlagen j« künstle rischer Wirkung.
Wir können mit
höchster Wahrscheinlichkeit anneh men, daß in den Triglyphe» die
Spur der Balkenköpfe ursprüng lichen Holjbaues, in der mit Tropfenplatten verzierten Hänge platte die Form der überstehenden „gestülpten" Bretterdecke uns er halten ist. Die Meister des alten Dorismus haben aus solcher be
deutungslosen Zweckform eine Kunstform erst gemacht, indem sie aus ihnen die oben gekennzeich neten zusammenwirkenden Linien züge herausgearbeitet haben. Stärkeren Einfluß auf die Gestmsbildungen späterer Zeiten, als diese Zusammenfassung durch Querlinien, hat die Einschiebung von längsgerichteten Dermittlungsforme» ausgeübt. Auch hier spielt im Anfang eine Anregung 79. Tür am Gymnasium zu Rothenburg o. T. Die Bewegtheit der Linie ist zum Teil so stark gesteigert. Laß die Klarheit aus dem Baugefüge hinein, indem deS Zusammenwirkens gestört wird. Bewegte und strenge Linien stehen die Aneinanderreihung schwacher unharchontsch nebeneinander. Deckenhölzer, dem Auge als Bre chung der unteren Häageplattenkante gezeigt wird. Im griechisch-jonischen StU wird diese Anregung streng stUisiert und zum scharfen Reizmittel des Zahnschnittes umgeformt, der als vermittelnde Rechteckstufe die starke Ausladung der Hängeplatte für das Auge mildert. Dazu treten dann die Formen der Hohlkehlen, Karntese und Rundstäbe, um weicheren Übergang zwischen diesen Rechtecksvorsprüngen zu vermitteln. Abb. 90. Dazu kommt ferner als Milderung und Auflösung ein krönendes Glied, das seine geschwungene Form der ursprünglich prattischen Bestimmung als Wasserrinne entlehnt. Alle diese Zusatzglieder können nun durch Blattwerk, Perlstäbe usw. verziert und dadurch zu den glatten Flächen der Hängeplatte und des Frieses in Gegensatz gestellt werden. So entwickelt sich eine vielseitige Kunst des „Profilierens" oder Gliederns, die unter dem Schlagschatten der großen Hävgeplatte durch ein reiches Leben von Eigenschatten und Reflexe», Linien einfacher und gegliederter Art, dem Auge reiche Beschäftigung gewährt. Um ihm ein gewisses Gegengewicht zu geben, wird dann auch der Tragebalken (Architrav) durch
leichte Vorsprünge in mehrere wagerechte Schichten abgetellt und so vom glatten Friese abgehoben. Dieser Reichtum sich übereinander und voreinander aufbauender Schich tungen wird durchgeblldet zur feinen Abstufung in der Größe der Einzelglieder, so daß
IX. Die Gesimse.
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So. Nordische Sennhütte». Streng symmetrische Anlage. Starker Ausdruck ge lagerter Ruhe durch die wagerechte Schichtung der Blockholzwände. Angenehme Unterbrechung der Gtebelltnte durch das Brett, das die Widerlagslatte deö Rauch abzuges festhält.
81. Zollhäuschen i» München. Arch. Grüsse!6. Das ganz symmetrisch aufgebaute Haus erhält durch den an die Ecke einseitig angefügten Erker einen feinen Retz.
von den herrschenden Hauptzügen bis zu de» kleinen nur begleitenden und mlldervden Nebenlinien alles sich zum wohlabgestimmten Ganzen fügt. Im Nachempfinde» dieser wohlgeordneten Maßverhältnisse hat der genießende Blick neben der Schönheit der Einzelformen und Linien seine besondere Freude, wenn er sich nur erst durch Erfahrung und
Vergleichung in die vielen Möglichkeiten dieser Formenwelt hineingefunde» hat. — Aber immer größer wird der Maßstab der Bauten, immer reicher die Durchbildung der Säulen, da muß auch das krönende Gesimse dem Auge stärkeren Reiz bieten. Wieder wird die Anregung dem konduktiven Gedanken vorkragender Balkenköpfe entlehnt, aber wieder wird er sofort umgearbeitet zu der Konsolreihe, die sich unter die freie Ausladung der
Hängeplatte legt, sie in stärkster Weise mit dem Hintergrund vermittelnd, oft so stark, daß die Vorderkante der Konsole die Vorderkante der Hängeplatte fast erreicht. Bezeich nend für das sofortige Verlassen des konstruttiven Gedankens ist dabei der Umstand, daß die Formengebung dieser Konsolen sie nicht als vortretende Teile eines sich in die Tiefe erstreckenden Körpers, sondern als für sich nach hinten selbständig abgeschlossene Eigen körper kennzeichnet. Darin sind diese Konsolen grundsätzlich verschieden von den später zu besprechenden Balkenköpfen und den Konsolen oder Kragsteinen der mittelalterlichen Kunst, welche stets in ihrer Formgebung als Teile eines in der Wand steckenden Quaders oder eines tief eingreifenden Balkens kenntlich sind. Die antiken Konsolen
werden, kaum
aus
konstruktiven Gedanken
entsprungen, sogleich
zur kovstruttiv
bedeutungslosen, dadurch vielseitig verwendbaren Form, zur architektonischen „Redens art" oder „Phrase". — Wie sich zu dieser weiteren Abstufung der Glieder nun ein immer größerer Reichtum des Schmuckes gesellte, bis sogar der wohltuende Gegensatz glatter und geschmüLer Telle verschwand, das möge unsere Abblldung zeigen. Abb. yi. In der geschllderten Entwicklung der Hauptgestmse sind die Einzelformen so weit ausgeblldet worden, daß sie auch für Gesimse kleinerer Art handlich wurden. Auch in diesen wird manchmal die Grundlage einer rechteckig vorttetenden Platte, wenn auch
mit geringerer Ausladung, festgehalten und nur durch ei» oder mehrere Unterglieder mit dem Wandgrunde vermittelt. Ost aber verschwindet in diesem Falle die Platte bis
auf eine schmale Leiste und das Gesims besteht nur aus einer Folge vortretender Glieder.
Spätere Zeiten konnten diesen Grundlagen kaum etwas hinzufügen und sie nur weiter ausbauen. Dabei wird die Neigung zur Vermittlung der Gegensätze der Linienführung so stark, daß man Konsolen häufig über ganze Folgen von Gliederungen, manchmal sogar über die Hauptform der Hängeplatte hinweggreifen läßt. Andererseits werden zur Bereicherung der Wirkung die Gegensätze der Wechselreihung in die Anordnung der Konsolgesimse eingeführt. Abb. 76. Oft dagegen werden die in den Pracht bauten der Cäsaren entwickelten Formen naturgemäß wieder vereinfacht. Es bleibt aber als Grundlage reichen Lebens stets in Wirkung der Gegensatz zwischen gerundeten und scharfkantigen, zwischen flachen und weit vortretenden Gliedern, zwischen schlank durchgeführten und durch Reihung von Schmuck oder sonstige Einschaltungen unter brochenen Linien. Abb. 92. Auf den Aufbau aller vorbesprochenen Gesimse hat der Stoff, aus dem sie hergestellt werden, nur geringen, sich im wesentlichen auf die Schärfe der Formgebung und Größe der Ausladung erstreckenden Einfluß. Ihn werden wir bei der Besprechung der Stoffwirkung in Betracht zu ziehen haben. Auch Gesimse von Holz können sehr wohl nach den beiden bisher besprochenen Grundsätzen behandelt und dabei gesund konstruiert werden. Daneben aber sind in diesem Baustoff einige Sonderformen ausgebildet worden, die wir hier kurz besprechen wolle». Als oberer Abschluß wird gelegentlich besonders in südlichen Ländern der Überstand der hölzernen Sparren künstlerisch durchgebildet. So dürftig er als magere Nutzform wirkt, in der er sich vielfach besonders bei dem üblen Pappdach neuerer Zeit findet, so kräftige Wirkung kann er durch seinen mächtigen Schatten schlag bei monumentaler Durchführung ausüben. Dazu gehört freilich, daß seine Sparren^ deren gleichlaufende Linien ihm den Eindruck bestimmen, wesentlich kräftiger gehalten werden, als es aus ihrem Nutzzweck nötig wäre, dazu gehört ferner, daß der Dachkante durch eine aufgelegte Rinne oder in anderer Form eine gewisse Masse gegeben wird, endlich trägt es zu einer befriedigenden Wirkung wesentlich bei, wenn der Übergang
von der senkrechten Wandfläche zu dem kühnen Vorsprung des Daches durch besondere Gesimsgliederungen vermittelt wird. Abb. 94. Einen andern Fall eindrucksvoller Gesimsbildung aus Holz bieten die Stockwerks teilungen der mittelalterlichen Fachwerksbauten, soweit sie mit einem Vorsprung des oberen Geschosses verbunden sind. Man hat auch diese Form der überstände als aus konstruktiven Gründen entstanden erklären wollen. Dann hätte man sie aber nicht mir: an den Straßenseiten, sondern auch nach dem Hofe hin angewendet, was so gut wie nie vorkommt. Sie verdanken ihre Entstehung viel wahrscheinlicher der Freude an der mit ihnen verbundenen Massenbelebung und sind solchem Antriebe des Schönheitsgefühls entsprechend, allerdings im engsten Anschluß an das handwerksmäßige Gefüge durch gebildet. Den harten Vorstoß der rechteckigen Masse bricht man dadurch, daß seine Linie durch die Köpfe der Balken konsolartig belebt und unterstützt wird. Abb. 95. Im Raum zwischen den Balken wird die senkrechte Wandfläche mit der wagerechten Unterseite des Vorsprunges oft durch schräg gestellte Bretter oder durch vortretend profilierte Hölzer vermittelt. Und ist die Ausladung so stark, daß dies allein noch nicht genügt, so über nehmen steil geneigte Kopfbänder die Aufgabe, das Auge von den senkrechten Flächen zu dem Vorderrande des Vorsprunges hinüberzuleiten. Abb. 73. In der strengen Form des Fachwerkbaues, wie er im Norden Deutschlands und Frankreichs sich ausgebildet
hat, wird die packende Wirkung dieser For men wesentlich dadurch erhöht, daß jedem Balkenkopf nach oben wie nach unten je ein senkrechter Wandstiel entspricht, so daß
das Auge mit größter Entschiedenheit an
dieser klaren Linienfolge festgehalten wird. Mehr hierauf als auf der verstandesmäßigen Überlegung, die der Eingeweihte über den konstruktiven Zusammenhang anstellen kann, beruht der allgemein überzeugende zwin gende Eindruck der klaren Selbstverständlich
keit, den sie erwecken. Solch ein Geschoßüberstand bildet eine der kraftvollsten For men der wagerechten Teilung und geht
einseitig oft bis zur starken Derbheit im
Ausdruck dieser Kraft. Es entspricht daher nur der Vielseitigkeit künstlerischer Auffas
sung, daß für die gleiche Aufgabe auch mil
dere Formen als Ausdruck weicherer Stim mung ausgebildet worden sind. Abb. 96. 338. Zu diesem Behufe verzichtet man im Westen und Süden Deutschlands darauf, die einzelnen vortretenden Balkenköpfe zu zeigen, füllt vielmehr den Zwischenraum zwischen ihnen aus und verkleidet sie vorne
82. Häuschen zu Ortenburg (Hessen).
E. A.
In den Wohngeschossen ganz freie Anordnung der Hssnungen, im Obergeschoß glücklich ausgeglichen durch die Berankung mit Weinlaub. Erft im Giebel tritt strenge Sym metrie ein und bindet das Ganze zusammen.
mit einer durch flache Kehlen und Rundstäbe reich gegliederten Bohle. Dabei bleibt also die rechteckige Grundform des Überstandes bestehen, wird höchstens bei sehr
großer Ausladung durch einzelne schräge Kopfbänder vermittelt. Aber es wird ihr durch
die zarten Gliederungen der Verkleidungsbohle in grundsätzlich sehr bemerkenswerter Weise die Derbheit zu Gunsten einer zierlichen Leichtigkeit genommen. Alle Gesimse, welcher Art sie auch sein mögen, wirken nun nicht nur mit ihrer Form schönheit als belebende Einzelbildung auf das Auge, sondern sie stehen in den engsten Beziehungen tells unter sich, teils zu den von ihnen gegliederten Flächen und Massen. Die Beziehungen unter sich regeln sich nach der Wichtigkeit, die der Künstler einzelnen beilegt, um bestimmte Stellen des Ganzen herauszuheben. Zumeist wird eines der Ge
simse, am häufigsten das oberste die andern an Bedeutung übertreffen, manchmal aber kann auch ein anderes als Hauptgesims erscheinen; in der Art, mit der die andern ihm gegenüber abgesiüft werden, sowohl an Höhe, wie an Ausladung, wie an Reichtum der Formen, können dem Auge große Feinheiten geboten werden. Abb. 97. — In der
Beziehung zu den Flächen und Massen des Kunstwerkes herrscht große Freiheit.
Das Auge kann die Gesamtwirkung der Gesimse im Verhältnis zur Ausdehnung der Flächen
als leicht oder als schwer empfinden und es kann ihm durch ihre Abstimmung von der selben Masse der Eindruck schwerer Düsterkeit und Härte ebensowohl, wie der behaglicher und mllder Leichtigkeit nebst dem aller Zwischenstufen verschafft werden. Stiehl, Der Weg zum Kunstverständnis.
6
X. Die Grützen. Dasselbe Bedürfnis, dem Auge gewisse Linien vorzugsweise anziehend zu machen, das für die Wagerechten und Schrägen zu den oben behandelten Gesimsblldungen geführt hat, besieht naturgemäß auch
für die Senkrechten. Die Ver hältnisse bei diesen bieten viel
seitigeren Stoff zur Betrach tung, weil sich die Betonung der senkrechten Linien zumeist entweder mit der Erfüllung der baulichen Aufgabe des Tragens verbindet und von ihr in ihrer Formgebung mit bestimmt wird, oder aber von der Vorstellung solcher Tätig
keit
beeinflußt, die
so
ent
standene Formgebung einfach übernimmt. Es sind die For men der Stützen, die vor allem zur Betonung senk
83. Villa Careggi bei Florenz
rechter Linien benützt werden. In ihrer Gestaltung vereinigt sich das Bewegvngsgefühl all gemeinen Hochstrebens mit
Ganz freier unsymmetrischer Aufbau. Starker Gegensatz der weltgeöffneten Halle zum geschloffenen Wohnflügel, zu dem der Turm das Gegengewicht bildet.
der körperlichen Empfindung des mehr oder weniger an gespannten Tragens, der entweder dumpfen oder fteudig-leichten Erfüllung einer über nommenen Pflicht. Haben wir hier also einen Fall, in dem der Zweck des baulichen Gliedes Einfluß auf dessen Gestaltung gewinnt, so dürfen wir doch nicht annehmen,
daß sich diese Gestaltung aus dem Zweck an sich ableitet. Das ist schon deshalb aus geschlossen, well der Zweck des Tragens in den allerverschiedensten Formen erfüllt wird, und well diese Fülle der Formen und Linienführungen gar nicht vom Zweck an sich, sonder« von dem Verlangen des Auges nach Reiz und Abwechslung bestimmt werden. Die schlichteste Fassung der Stütze zeigt sie als einen senkrecht stehende» Körper, der verschiedenen Querschnitt haben kann. Im Steinbau wird er zumeist rechteckig kantig geformt sein, im Holzbau liegt der Anschluß an den walzenförmigen runden Baumstamm
nahe. Auch die zwischen beiden liegende Form des Achteckpfellers ist in beiden Baustoffen häufig verwendet worden. Solch Pfeller wächst also einfach aus der Erde heraus und nimmt ohne besondere Förmlichkeit die zu tragende Last auf. Er bietet die Grundform
des Schaftes, der auch bei höher entwickelten Stützenblldungen den Haupttell des Ganzen ausmacht und dessen Verhältnisse wir zunächst zu betrachten haben. Sehen wir von allen Einzelformen ab, so bestimmt die Gesamtform des Schaftes — ob hoch, ob
niedrig, ob dick, ob schlank, — vor allem das Maß der Stärke, mit der die senkrechte Rich-
tung durch die Stütze betont wird. Hier sind die Grenzen außerordentlich weit gesteckt, von dem schweren Vier kant-- oder Rundpfeiler, in denen viel leicht die Breite gleich der Höhe ist, vom gedrungenen Ziersäulchen, das fast wie ein launiger Scherz anmutet, — Abb. 98 — bis zu den aus här testem Stein gearbeiteten Freistützen, wie sie die ohne Vorbilder frei schaf fende mittelalterliche Kunst gern zur Erzielung eines kecken, kühnen Ein drucks verwendet hat, — Abb. 99 — oder bis zu dem schlanken Wanddienst oder dem Fenstersäulchen des gotischen Stiles, bei dem die Höhe vielleicht das Hundertfache des Durchmessers oder noch mehr beträgt. Auch auf die antiken Säulenordnungen, die von 84. Rathaus zu Saalfeld. E. A. vielen als bestimmt gegeben angesehen Der in der Grundlage symmetrische Bau erhält in dem Eckerkec eine unsymmetrische Zutat, der auf der rechten Seite ein der Fläche werden, erstreckt sich diese Freiheit der vorgelegter Erker die Wage hält. Der durch die schrägen Treppen stärkeren oder geringeren Höhenbe hausfenster verstärkten Unruhe dieser Teile wirkt die schlichte Zu sammenfassung der großen Wandflächen und die streng symmetrische messung in sehr erheblichem Maße, Bildung der oberen Teile entgegen. wofür der Vergleich der verschiedenen alten Tempel selbst und sodann die Ableitungen von ihnen fesselnde Beispiele abgebev. — Abb. 185.186. — Es ist durchaus unberechtigt, die weitgehenden Abweichungen von den überlieferten Säulenverhältnissen, welche sich die nordische Kunst des sechzehnten Jahr hunderts gestattete, als Zeichen mangelnden Verständnisses oder niederer Kunstempfindung anzusehen. Sie bezeichnen im Gegenteil den Sieg der künstlerischen Schöpferkraft über die Schulgerechtigkeit der italienischen Baukunst, die für die dortigen Verhältnisse berechnet und berechtigt, bei einfacher Übertragung auf die ganz anderen Bedingungen nordischer Baukunst zu künstlerischem Widersinn geführt haben würde. In die Stimmung der auf deutschem Boden zu lösenden Bauaufgaben fügen sich die eigenartig behandelten Stützenbildungen nach Verhältnissen, Massen- und Raumwirkung mit vollendeter Selbstsicherheit glänzend ein und könnten an ihrer Stelle keineswegs durch streng „richtige" Nachbildungen irgend welcher fremder Muster ersetzt werden. So gebührt den Urhebern dieser stete« Umbildungen nicht Geringschätzung, sondern hohe Anerkennung für die Meisterschaft, mit der sie die überkommene Anregung selbständig in ihre Gefühlsweise ausgenommen und mit den künstlerischen Bedingungen ihres Aufgabenkreises verschmolzen haben. Eine Stütze oder eine Reihung von Stützen mag gestaltet sein, wie sie will, sie wird immer im Beschauer den Eindruck eines mehr oder weniger aufstrebenden Höhenverhältniffes auslösen. Doch hängt dieses Höhenverhältnis nicht allein von ihrer eigenen Form ab, sondern es wird wesentlich beeinflußt von der Weite der neben der Stütze ver6*
84
X. Die Stützen.
bleibenden Hffnung, von dem Zwischenraum oder Stützenabsiand. Beide Bestandteüe der Wirkung stehen in enger Wechselbeziehung zueinander, so daß z. B. einerseits eine derbe schwere Stützenstellung, eng aneivandergereiht sehr wohl einen starken Zug nach oben, eine Reihung von leichten schlanken Stützen dagegen, in weitem Abstand gestellt sehr wohl den Eindruck behaglicher Lagerung Hervorrufen kann. Andererseits wird der Nächeneindruck der Öffnung durch die leichtere oder schwerere Art der eingestellten Stütze stark beeinflußt, so daß z. B. die gleichen Flächenabmessungen der Einzeljoche in den ver schiedenen Stockwerken eines Säulenhofes wesentlich verschiedenen Ausdruck gewinne^ je nachdem sie durch leichtere oder schwerere Säulen gegliedert werden. — Abb. 100. — Die Stärke der Stützen wird in der Baukunst weniger, als man von vornherein anzunehmen geneigt ist, von dem Zweck des Tragens, also von der Größe der aufzunehmenden Last bedingt. Gar selten nur wird nämlich die Tragfähigkeit des Baustoffes, aus der sich ein Mindestmaß für den Querschnitt der Stütze ableiten läßt, auch nur an nähernd vollständig ausgenutzt; fast immer wird die Stütze aus Schönheitsrücksichten stärker gemacht, als sie zur Aufnahme der Last zu sein brauchte. Nicht der Zweck, sondern das Gefühl für Massenwirkung und Linienbetonung bestimmen sonach die Abmessungen des tragenden Schaftes und auch die Größe des freien Zwischenraumes zwischen den Schäften. Den Beweis dafür sehen wir an dem hochberühmten Tempel der Hera zu Olympia, dessen dorische Säulen schwer geformt und enge gestellt waren, obgleich das auf ihnen ruhende Gebälk aus Holz und Luftziegeln von einer leichten und weitgestellte» Stützenreihe hätte sehr wohl getragen werden können. So darf man denn nicht aus der übermäßigen Stärke mancher Stützenbildungen auf UnbehAflichkeit und Unkenntnis der Erbauer schließen wollen. Die Säulensäle ägyptischer Tempel beispielsweise gewinne» durch die Gedrungenheit und die enge Stellung ihrer Säulen den Ausdruck einer unerhörten und übermenschlichen Wucht, die den Besucher geradezu in die Knie zwingt, zur gläubigen Unterwerfung unter die geheimnisvoll drohende Macht der Gottheit. Abb ioi. Die Wirkung des Schaftes ist aber nicht nur durch seine Massenverhältnisse bedingt, sie wird mitbesiimmt zunächst durch die Grundform. Diese kann bei rechtwinklig kantigem Querschnitt im wagerechten Sinne richtungslos, also quadratisch sein oder mit wesentlich anderem Eindruck rechteckig, so daß das Aussehen sich von verschiedenen Richtungen her verschieden darstellt. Wenn solch ein Rechteckpfeller quer zur Linienführung der aufgelegten Last gestellt ist, ergibt sich der Eindruck großer Kraft und Widerstandsfähigkeit, well er ebenso wie tiefe Laibungen von Fenstern usw., Abb. 141, auf große Stärke der Mauer massen schließen läßt, während ein in die Längsrichtung gestellter Rechteckspfeller leichter und bei geringer Tiefenabmessung sogar schwächlich erscheinen wird. Die Rundform, fast nur in der richtungslosen Kreisform als Säule verwendet, hat naturgemäß einen weicheren Ausdruck. Im Steinbau stellt sie auch dem kantigen Pfeller gegenüber die weiter entwickelte und darum vornehmere Form dar, im Holzbau dagegen, der vom runden Baumstamm ausgeht, macht das Vierkant die reichere Wirkung. Für den Eindruck des Schaftes sind weiter sehr wichtig all die Mittel, die wir kennen gelernt haben als wertvoll zur Verstärkung und zur Belebung der Linien. Schon der Achteckschaft, hervorgegangen teils aus der Mllderung des quadratischen Pfeüers, indem dessen Ecken abgeschrägt werden, tells aus einer Verschärfung oder Verhärtung der Rund-
85. Museum zu Speier.
Arch. G. v. Seidl6.
Dem unregelmäßig schiefwinkligen Baukörper wird durch den kräftig entwickelten Eckbau ein fester Halt gegeben, dem sich das Übrige trotz großer Verschiedenheiten unterordnet.
fältle, bedeutet eine betontere Ausprägung der Senkrechten und eine« größeren Linien reichtum. Im weiteren Fortschreiten auf diesem Wege werden dem kantigen Pfeiler weitere Gliederungen vorgelegt von rechteckiger oder runder Gestalt, so daß zunächst ein kreuzförmiger Grundriß entsteht. — Abb. 102. — Zur weiteren Belebung des Ein drucks werden vielleicht Säulchen in die Winkel des Kreuzes eingelegt, die Vorlagen werden an den Kanten gebrochen und mit Gliederungen bereichert, bis schließlich die ganze Vorlage und mit ihr der ganze Pfeiler in eine reiche Abwechslung von Stäben, Kehlen, Plättchen aufgelöst ist, die mit zusammengefaßter Kraft der Linien das Auge beschäftigen und einheitlich aufwärts führen. Abb. 64. Im selben Sinne wird die schlichte, leicht etwas kahl wirkende Rundsäule aufgelöst, etwa in ein Bündel zierlicher Säulchen, wobei diese eng mit dem Kern verwachsen sein oder sich sogar frei von ihm loslösen können. Abb. 104. Oder man verfolgt den mit der Bildung der Achteckstütze betretenen Weg weiter, gelangt so schon an ägyptischen Felsengräbern zur sechzehnfachen Wiederholung der aufsteigenden Kanten. Je höher die Zahl der Seitenflächen, umso flacher wird der Winkel, unter dem sie zusammentreffen, umso schwächer zeichnet sich demgemäß die flächentrennende Kante ab. Das führt dazu, die Flächen zur schärferen Hervorhebung der Kanten auszuhöhlen, und so gelangt die Entwicklung zu der klassischen Form der mit 18 bis 24 Riefelungen in höchster Straffheit des Aufsteigens gegliederten antiken Säulenschäste, die mit der Feinheit der Licht- und Schattenlinien das Auge ebenso reizvoll fesseln, wie sie mit der Entschiedenheit ihrer Linienführung das Gefühl ruhig, aber unaufhaltsam aufwärts führen. Abb. 185. Diesen Verstärkungen der Höhenrichtung stehen nun ebenso reiche Möglichkeiten gegenüber, sie nach Bedarf zu mildern und zu brechen. Die naheliegendste und einfachste Art besteht darin, den senkrechten Schaft durch wagerechte Linien zu überkreuzen. In leichter Andeutung verbindet sich das schon früh mit der Riefelung, indem diese im unteren SäulenteU durch Einlegen von Rundstäben halb ausgefüllt und so ein Unter-
86
X. Die Stützen.
86. Lotsenhans jn Hamburg.
Arch. Schumacher °.
Der Turm erhebt sich als einseitige Betonung am Ende deS lang hingelagetten Baues, in seiner Größe gehoben durch die niedrige ihm vorgelagerte Säulenhalle. Gegensatz seiner unteren geschlossenen Flächen gegen ,t>te Durchbrechungen des oberen Geschosses, die durch das tzerab-tehen ihrer Blendenumrahmung in ihrer Bedeutung sehr gesteigert werden.
schied m der Erscheinung der Schaftoberfläche hergestellt wird. Oder es wird der untere Teü der Säule wohl ganz glatt gelassen, dazu etwa durch lebhafte Färbung vom Oberteü abgehoben, oder auch auf der «ngeriefelten Fläche mit lebhaftem Linienspiel verschieden artigen Zierwerks überjogen. Stärker kommt die Brechung der senkrechten Linie zum Ausdruck, wenn eine Wiederholung kräftiger Querlinien das Auge im Verfolgen der Schastlinie hemmt. Das führt besonders in der mittelalterlichen Baukunst ju der Anwendung von vielfach wiederholten Schaftringen, vgl. Abb. 104, in der antikisie renden Kunst ju der Zerlegung der ganzen Stütze in einzelne, für sich durch Vorund Rücksprung betonte Quaderungen. Dabei geht die schärfste Formausprägung soweit, die Quadern abwechselnd kreisrund und quadratisch zu formen, so daß die Einheit des Schaftes zu Gunsten scharfen Wechsels von Lichtern und Schatten in eine Reihung von Einzelgliedern aufgelöst wird. Abb. 57. Die bewegteste Form solcher wagerechte» Tellung entsteht aber erst, wenn der Schaft sich in eine Folge von freier gebildeten Einzelformen von geschwungenem Umriß wandelt. Das ist in einfacher Weise der Fall bei den kleinen Stützen, die als Baluster oder Docken, bald kreisrund, bald quadratisch im Grundriß, besonders als Möbelfüße und reihenweis geordnet als Gliederung von Brüstungen aufzutreten pflege». Abb. 142.307. — Eine größere Bedeutung als die immerhin untergeordneten Docken haben dann aber die reichste» Formen der Querteiluvg zu beanspruchen, die als Kandelaberstützen den Schaft aus einer Anzahl von Umdrehungskörpern, Vasen, Kugeln usw. zusammensetze« und ihn dazu mit Zierwerk aller Art, Blatt- und Rankevgebllden, Masken, Trophäe» und figürlichem Schmuck auf das üppigste ausstatten. Hier tritt die Empfindung der senk-
rechten Linie stark zurück hinter der heiteren Be
schäftigung des Auges mit gesondert zu genießenden anmutigen Einzelheiten.
Aber auch der un geteilte Schaft kann bei
entsprechender Behand lung das Auge in seiner Auftvärtsbewegung hem
men. Zunächst kann seine ganze Mche, mit reichem Zierrat überzogen, den Blick zur Würdigung die ser bald kräftigeren, bald
zarteren Einzelschönheiten einladen. Abb. 105. 123.
Ist er in längslaufende Wülste und Kehlen zier lich gegliedert, so können diesen Gliederungen be tonte Punkte, Knöpfchen, Rosetten usw., wie jeder anderen Gliederung ein 87. Entwicklung einfacher Gesimse aus der schlichten Platte durch gelegt werde«. Oder aber Brechung und Gliederung der Kante«. diese Gliederungen werden nicht senkrecht an ihm hochgeführt, sondern nach hemmenden Linienzügen, treppen förmig, im Zickzack oder schraubenförmig. Abb. 105. Und schließlich windet sich in Weiterführung des letztgenannte» Formgedankens der ganze Schaft in Schrauben linien langsam aufwärts, anstatt straff und stark sich der Last entgegenzurecken. Abb. 103. Das wird, verstandesmäßig genommen und am Zweck der Stütze gemessen, leicht als widersinnig angesehen, besonders wenn die Schraubentzänge weit ausholend sich stark von der senkrechten Richtung entfernen. Aber vom Standpuntt einer gesteigerten Linienbelebung und Massengliederung, als Ausdruck spielender Lebensfreude oder hoch
gesteigerter Leidenschaft kann auch diese Form, richtig angewendet, von hohem Wert sein. Mit den bisher behandelten Schastformen verbinden sich weitere Büdungen, die auf der zweckbedingten Eigenart der Stütze beruhen, daß sie durch feste Grenzen nach oben und unten zwischen Standfläche und Last abgeschlossen ist. Nur bei schlichten Pfeüer-
bauten großzügiger Art, bei denen der unmittelbare Übergang in den Bogen richtunggebend wirft, oder wenn die Ansprüche an künstlerische Einzelgestaltung ganz gering sind, wird diese Eigenart vernachlässigt; zur feineren Anreizung des Auges gehört, daß sie in irgend einer Weise berücksichtigt wird. Bei Bildung des Schaftes führt sie mit der Form der verjüngten Säule zu einer innerlich ganz neuen Empfindung der tragenden Tätigkeit. Der bei Besprechung der Schräglinie bereits erwähnte Ausdruck des Gegenstemmens
x. Die Stütze».
88
gegen die Last wird durch die Verjüngung dem Auge übermittelt, wozu diese zunächst in allen Stüarten sehr kräftig austritt, allmählich der Verfeinerung des Formgefühls folgend, auf geringere Maße abgedämpst wird. Gerade diese anfängliche Derbheit
der Verjüngung spricht dagegen, sie als Nachahmung der sich verjüngenden Baumstämme anzusehen, denn es werden fich nicht leicht Bäume finden, die so wie romanische oder altdorische Säulen auf verhältnismäßig kurze Strecken um ein Viertel ihres Durch
messers oder noch mehr abnehmen. Abb. 105. Wir werden als treibende Kraft der Ver jüngung auch hier das feine Gefühl für Linien ansehen, das die gleichmäßige Wieder holung der zahlreichen Senkrechten, ihren schroffen Gegensatz gegen die Wagerechte als
übertrieben und starr-leblos empfand und nach ihrer Belebung verlangte. In der Regel nimmt die Schaststärke von unten nach oben ab. Es kann aber auch das Umgekehrte der . Fall sein.
Die Vorstufe griechischer Kunst in der Zeit von Homers Helden zeigt
in den Palastbauten und Gräberanlagen der kretischen und mykenischen Herren geschlechter durchweg die Verwendung von Säulen, die sich nach unten hin verjüngen, und diese eigenartige Formgebung ist an den sogenannten Hermensäulen und den von ihnen abgeleiteten Formen, Abb. 24, bis auf unsere Tage in gelegentlichem Gebrauch geblieben.
Mit solcher Verjüngung des Schaftes ist unzweifelhaft eine Belebung der Form eingetreten, die unter gewissen Umständen ein verstärttes Gefühl des Tragens, des Wider standes gegen die Oberlast im Gemüt auslbst. Dem hochgesteigerten Liniengefühl der Griechen ist es vorbehalten gewesen, auf diesem Wege bis zur feinsten Beseelung der Stützenlinie vorzuschreiten, indem sie die Verjüngung ihrer Säulenschäfte nicht gerad linig, sondern in leichter, weicher Krümmung führten, so daß auf etwa ein Drittel der Höhe von unten her gemessen sich eine „Schwellung" bildete. Damit ist der letzte Rest von Starr heit aus der Formgebung geschwunden, die Stütze ist in allen ihre» Tellen nicht ver standesmäßig-mathematisch begrenzt, sondern ihre Linien sind von warmem Lebensgefühl durchdrungen, wohl zu vergleichen mit den schwellenden Umrissen der menschlichen Glied maßen. Erst durch diese künstlerische Durchgeistiguvg wird die Säule zur edelstenForm, zur stolzen Krone und feinsten Blüte der Baukunst. Abb. 109. Wir könne« uns nicht der Auffassung anschließe», als ob ia dieser zarten Schwellung ein Ausbau chen des Schaftes unter seiner Last dargestellt werden sollte; ein solches mehlsackattiges Verhalten scheint der stolzen Säule den» doch zu wenig angemessen; es anzunehmen wäre bei dem hatten Stein, aus dem die Säulen geforutt sind, wie auch bei Holzfäulen ge radezu widersinnig. Nicht um eine verstandesmäßig als möglich erllügelte und realistisch
dargestellte Quetschung des Säulenschastes handelt es sich, sondern um die Betätigung der feinsten Linienempfindung, durch welche die Säule als Trägerin der feierlich-festlichen Tempelhalle vor anderen Stützen ausgezeichnet wurde, die nicht verjüngt und nicht geschwellt wurden. Solche Belebung von Linien, die wir als schnurgerade zu sehen und uns vorzustellen gewöhnt sind, steht im Bereich griechischen Formgefühls nicht allein; sie tritt «ns auch zweifelsftei nachgewiesen in leise» Schwingungen der Gebälke und Hauptgesimse, de» sogenannte» Kurvaturea, entgegen.
Auch in der Tatsache, daß die
Säulen der griechischen Tempelhalle bei de» sorgsamst ausgeführte» Baute» nicht senk recht stehe», sondern leise nach innen geneigt sind, sich also schmiegsam dem Baukem, der Tempelzelle anzuschließen streben, können wir ein weiteres Zeugnis für dieses Fornren-
empfinden ansehen, das durch siete Äbung fast über unser Begreifen hinaus zu so bewundernswerter Feinheit entwickelt worden war. Gerade in der seelenvollen Fein heit der Form liegt nun aber der Grund, weshalb die Schwellung und auch die Verjüngung den Stützen einen Teil der lebhaften Hochstrebigkeit und Kraft nimmt. Teils geschieht dies zu Gunsten einer woh ligen, in sich abgeschlossenen Ruhe, 88. Hauptgesims der Klosterkirche zu Berlin 21. wie fie die fein geschwellte Säule Das reich bemalte Gesims besieht aus einer breiten, wenig ausladen den Platte. Es bietet dem Auge beim Übergang von der Mauerfläche der Empfindung absichtsvoll über zum Dach nur geringen Widerstand, hat aber Masse genug, sich gegen beide großen Flächen zu behaupten. mittelt, teils dadurch, daß der Aus druck des Lasttragens, des gegenstemmenden Arbeitens gegenüber der geradlinig unverjüngten Stütze verstärkt wird. Abb. 106. Jedenfalls schickt auch hier sich Eines nicht für Alle. Mit richtigem Gefühl verzichtet man bei Aufgaben, die eine lebhafte Aufwärtsbewegung fordern, auf Schwellung sowohl, wie auf Verjüngung der Stützen, so vor allem dort, wo die Stützenlinie in Bogen und Gewölbeformen ihre Fortsetzung finden soll. Wo man ausnahmsweise mittelalterliche Gewölbdienste in äußerlicher Nachahmung antiker Vorschriften verjüngt hat, wie z. B. im Chor der alten roma nischen Kirchen zu S. Gereon und S. Aposteln in Köln, da wird das Auge ziemlich peinlich von diesem inneren Widerspruch berührt. Noch eindringender als durch die Form der einseitig gerichteten Schäfte wird die Begrenzung der Stützen durch eine Betonung ihres Fußes und ihres Kopfendes bewirkt. Dem Auge wird dadurch an den Knotenpunkten der Linienbewegung ein Halt geboten, es wird sozusagen zur Aufmerksamkeit angereizt, die Übergänge der Stützenform aus ihrem tragenden Grunde heraus und in die getragene Last hinein, genauer auf sich wirken zu lassen. Beide Betonungen find nicht unerläßlich, auch nicht in der entwickeltsten Kunst. Pfeilerbauten großartigster Prägung, töte die altrömischen Brückenbauten und Wasser leitungen, manche Bauten des Mittelalters, Abb. 108, auch manche türkische Mo scheen von vorzüglicher Raumwirkung u. a. verzichten gänzlich auf solche Bereiche rung, wenigstens am Kopfende. Die strenge dorische Säulenhalle aber begnügt sich mit starkem oberen Abschluß und steigt ohne Betonung des einzelnen Säulenfußes aus ihrem Unterbau auf. Diese Betonung des unteren Endes, Säulen- bzw. Pfeilerfuß, Basts, Sockel genannt, wo sie eingeführt wird, erhält regelmäßig die Form einer Vermittlung zwischen Boden und Stütze, indem die senkrecht gerichtete, starre Masse der letzteren sich verbreitert und zumeist mit schrägen oder gerundeten Querschnittlinien das Auge von der Senkrechten zur Wagerechten überleitet. Rundstäbe und Kehlen schieben sich federkräftig zwischen die schroffen Gegensätze ein, lassen das Auge in mehr oder weniger leb haftem Schwünge an sich entlanggleiten. In den ältesten Säulenfüßen des ionischen Stiles beschräntt man sich zumeist darauf, solche Gliederungen in Kreisform aneinanderzureihen. Abb. no1. Später fügt man als unterste Schichtung eine quadratische Platte
90
x. Die Stützen.
89. Altdorisches Hauptgesims. Dte Unterstcht der Hängeplatte ist durch quergertchtete Platten mit Tropfen geglledert und dadurch mit den Linien deS TrtglyphenfrteseS und der Stützen in Verbindung gebracht. Kantige kleine Plättchen schieben stch -ur Mlldemng der Hauptformen dazwischen.
hinj«. Dadurch gewinnt der Säulenfuß einen lebhaften Gegensatz in stch und damit
ftischen neue» Reij. Infolgedessen ist diese Form zusammen mit der wohlüberlegten Abwechselung von zwei Rundstäben, die eine tiefe Hohlkehle zwischen stch schließen, alles klar getrennt durch zierlich-feine Plättchen, als „attische Basis" zu einer fast alleivherrschenden Stellung in der späteren Baukunst gekommen, Abb. 1102. Sie beherrscht auch das ganze Mittelalter, muß sich dabei frellich einige Wandlungen der feststehende« Grundform gefallen lassen. Sie nimmt zunächst in dieser Zeit teil an dem allgemeinen Zuge freiester Einzelbildung, indem ihre vermittelnde Linie je nach der Stimmung der Zeit wechselt von straffer Stellheit bis zu einer fast auseinanderfließenden Breite, also von der leichten Andeutung bis zur wichtig vorgetragenen Betonung ihrer Vermittler rolle. Sodann muß sie sich dem gesteigerten Bewegungsdrange der Kunst anschließen, der so starke Hemmungen des Blickes, wie den Übergang von der quadratische» Platte zur runden Gliederung nicht erträgt. Man verzichtet auf die quadratische Form zu Gunsten des Runds oder des Achtecks, oder häufiger: man legt auf die vorstehende Ecke wieder überleitende Formen, sogenannte Eckblätter von bald einfacher, bald reich verzierter Form,
oder man zieht die Quadratplatte so weit zurück, daß die unterste Ruvdstabgliederung bis fast an ihre Ecken Vortritt und über ihre Seiten hinauswächst. Dieser Überstand
wird dann durch kleine Kragsteinformen dem Auge wieder vermittelt, auch die vortretende Ecke vielleicht abgeschrägt, so daß der Blick ungehindert durch plötzliche starke Formände
rungen dem Linienfiuß folgen kann. Abb. 1104.5. Erst am Schluß der mittelalterliche» Entwicklung hat man einen grundsätzlich anderen, selbständigen Weg zur Überführung der Linien und Massen, sowie zur Fesselung des Auges au diesen bedeutsame» Puvtt
9O. Hauptgesi'ms vom Athenatempel zu Priene \
Die Ausladung der Hängeplatte ist durch das Zahnschnittgestms stark vermittelt. Glatte und verzierte, kantige und rundliche^ größere und kleinere Teile wechseln in reizvoller Weise mit einander.
emgeschlagen. Man erzeugt ein lebhaftes Spiel kleiner Lichter und Schatten, indem man dem Säulenfuß größere Abmessungen nach der Höhe gibt, ihn in seinem Quer schnitt nach verschiedenen Grundrissen, auch sternförmigen Figuren usw. wechseln läßt und an den Stellen des Wechsels kleine Vermittlungslinien mannigfaltiger Art ein schaltet. So entstehen Sockel-Bildungen von eigenartigem prickelndem Reiz, die die innere Spannung einer geistig unruhigen Zeit trefflich zum Ausdruck bringen. Abb.no'. Viel stärker noch als diese Vermittlung am unteren Stützenende zieht die Ausbildung des oberen, des Kapitells, Knaufes oder Kämpfers das Auge auf sich. Sie kann am kantigen oder runden Pfeiler die schlichte Form eines die Grundform des Pfeilers um ziehenden Gesimses annehmen, und diesen können sich friesartige Bereicherungen zugesellen, Abb. 102. m, wenn der Blick stärker gefesselt werden soll. Mannigfaltiger gestaltet sie sich bei der runden Säule. Bei dieser ist mit der Knaufbildung meistens auch ein Wechsel der Grundrißform, eine Überführung aus dem Rund in das Quadrat, Achteck usw. verbunden, wodurch die Aufnahme der Last vorbereitet und erleichtert wird. In diesem Wechsel wird die Wichtigkeit der Stelle, an der Last und Stütze zusammentreffen, schon durch die Vermehrung der Masse eindrucksvoll betont. Solche Massenverstärkung kann sehr bescheiden auftreten, sie kann sich ganz zurückhaltend, vielleicht mehr im Wechsel des Zierrats ausdrücken, besonders wenn das aufzunehmende Oberstück als Bogengliede rung wieder ähnlichen Querschnitt zeigt, wie die Stütze. Abb. 112.113. Ist sie stärker, so treten aber zu solchen Formen, die nur das Auge durch die harmlose Freude am Einzelnen
X. Die Stützen.
92
Leschästigen wollen, noch absichtsvolle starke Linienreije, die entweder den Gegensatz Leider Telle klar herausheben oder der Vermittlung der widerstrebenden Züge dienen. Eine schärfere Abtrennung wird schon erreicht, wenn den Kapitellen der zuletzt behandelten
Art wagerechte Deckgesimse aufgesetzt werden, die von bescheidener Leiste bis zu reich mit Zierrat geschmückte» Gliederungen sich auswachsen können. Abb. 114. Ein klarerer Gegensatz wird sodann erzielt, wenn man zwischen Säule und Last eine scharfkantig vor tretende quadratische Platte als Hauptgliederung einschiebt, wie das an manchen Werken ägyptischer Kunst geschieht. Abb. 117. So wird sowohl ein starker, geradezu barscher Abschluß des aufsteigenden Schaftes durch die Querlinie geschaffen, wie ein äußerst leb
hafter Schattenschlag erzielt, der von der vortretende» Ecke der Platte auf die kanellierte Säule fällt; beides scharfe Reize für das Auge. Die übergroße Härte dieses Gegensatzes zwischen runder Stütze und quadratischer Deckplatte mildert man bald durch Einschaltung
von reich geformten Zwischengliedern.
Diese sind zunächst in der kretischen Kunst von
schwerer, wulstiger Form; griechischer Formflnn verfeinert sie schnell, und es ist ebenso lehrreich wie genußvoll zu verfolgen, wie diese derbe, etwas rohe Gliederung sich umformt zu der sprungkrästig weich ausladenden Tragform der älteren dorischen Kunst, wie sie weitergeführt wird zu den straffer gespannten Stützflächen des Parthenon und der späteren Baute», .tote man gleichzeitig den unteren Abschluß dieser Hauptsorm zunächst mit tiefer Kehle gegen den Schaft abhob, bis man mit wesentlicher Zu sammenfassung des Eindrucks diesen Abschluß auf ein paar feine, dem Wulst aufgelegte
Ringe beschräntte und die wagerechte Linie dieser Gliederungen in Form ganz zarten Einschnittes noch einmal etwas unterhalb des Kapitells anklingen ließ. So hatte sich