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German Pages 260 [261] Year 2020
Michael Fröhlich/Klaus Langebeck
Solidarität und Selbstbestimmung
Michael Fröhlich/Klaus Langebeck
Solidarität und Selbstbestimmung Warum unsere freiheitliche Moderne Tugenden benötigt
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Inhalt Inhalt................................................................................................................................. 5 Vorwort............................................................................................................................. 9 1 Einleitung – Die Fenster der Nonnen und Glücksschmiede................................ 19 2 Bescheidenheit und Wahrnehmung........................................................................ 48 3 Verbundenheit und Treue......................................................................................... 67 4 Takt und Kontextsensibilität .................................................................................... 90 5 Mehrperspektivität und Öffnung...........................................................................113 6 Vertrauen und Dankbarkeit....................................................................................133 7 Staunen und Achtung des Eigensinns ..................................................................152 8 Solidarität und Zugehörigkeit.................................................................................165 9 Freiheit und Würde..................................................................................................193 10 Missverständnisse der Freiheit als Selbstbestimmung......................................215 11 Zusammenfassung – Tugenden vor dem Horizont der Ungewissheit............232 Danksagung.................................................................................................................259 Autorenbiographien....................................................................................................259
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Stasia brach unter der Last ihrer Neutralität zusammen. Wie viel Mühe kostete es doch, der Welt fernzubleiben. Sie stand da, in einem abgenutzten Nachthemd, mit nackten Beinen, die in dreckigen Gummistiefeln steckten, und sah auf den Morgen, der über dem Land anbrach. Der Morgen war unendlich schön, schmerzhaft schön. Aber die Menschen, die sich hätten an dieser Schönheit berauschen können, waren verwundet, unfähig, sich mit diesem Anblick zu vereinen, dazu verdammt, für immer und ewig Beobachter zu bleiben. Die Neutralität war eine Illusion. Jetzt brach ein neuer Tag heran. Nino Haratischwili, Das achte Leben (für Brilka). Frankfurt/Main 2014, S. 749
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Vorwort Wie ein Brennglas legt die Coronakrise die Schatten- und die Lichtseiten unserer modernen Welt offen. Nationale Egoismen und die Anfälligkeit globalen Wirtschaftens treten hervor, alle Menschen können die gravierenden Unterschiede zwischen medizinischen Möglichkeiten in Industrie- und Entwicklungsländern sehen, und ebenso erleben wir vielleicht die erste Zeit, in der Gesellschaften die Möglichkeiten wahrnehmen, einander dauerhaft über Nationsgrenzen hinweg zu unterstützen. Solidarität ist das Wort der Stunde. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Coronakrise eine Zäsur darstellen wird. Weltweite Einschränkungen und Veränderungen sozialer Situationen hat es in diesem Ausmaß wahrscheinlich seit dem Ende des zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren nicht gegeben, und diese Belastungen könnten noch ein bis zwei Jahre andauern.1 Die Wurzeln der Krise liegen tiefer, und sie reichen weiter zurück. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir eine Krise der Demokratie und der Globalisierung, es gab Finanzkrisen, Flüchtlingskrisen, Bürgerkriege sowie zerfallende Staaten. Zahlreiche aktuelle Bücher sprechen davon, dass ein neues gesellschaftliches Paradigma notwendig oder bereits in ersten Umrissen erkennbar sei.2 Aus dieser Diagnose lässt sich allerdings keine Kritik an unseren offenen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen ableiten. Geschlossene Gesellschaften oder ehemalige Stammesgemeinschaften können weder die Probleme lösen, vor denen wir heute stehen, noch wollen sie es. Stattdessen haben Freiheit, Menschenrechte, effek-
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Vgl. Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung, 27. März 2020, S. 4. https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2020/ solidaritaet-und-verantwortung-in-der-corona-krise/, letzter Aufruf 30.05.2020. Vgl. Maja Göpel, Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin 2020. Sie versteht sich nicht als Klimaforscherin, sondern als Gesellschaftswissenschaftlerin, die die Systemfrage stellt und der es in vielen Aspekten um den Kern unserer Existenz geht. Wir greifen dieses Projekt auf und laden dazu ein, ein Denken über unser Verhältnis zur Welt erneut aufzugreifen. Vgl. Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Berlin 2019. Reckwitz sieht unsere westlichen Gesellschaften bereits kurz vor einem Paradigmenwechsel angekommen, der in einen „einbettenden Liberalismus“ münden könnte. 9
tives Wirtschaften und das Fehlen von Gewalt in vielen Ländern einen historisch beispiellosen Wohlstand und soziale Ressourcen hervorgebracht, die besser geeignet scheinen, eine solidarische Zukunft auf den Weg zu bringen. Es ist – im Vergleich mit einer Rückwärtswendung – vor allem eine Weiterentwicklung nötig. Die Ausbreitung von Corona kann Solidarität verstärken, aber auch das Bedürfnis nach Abgrenzung und nationalen Abschottungen hervorrufen. Corona könnte beispielsweise fremdenfeindlicher stimmen.3 Grob gesagt werden sowohl Gefühle hervorgerufen, die den Werten offener Gesellschaften entsprechen, Fürsorge, Fairness und Freiheit, als auch solche, die in geschlossenen Gesellschaften dominieren, nämlich Autorität, Loyalität und Reinheit.4 Wer hat nicht Mitgefühl mit Leidenden, und wer denkt im Supermarkt nicht, der andere, der ihm zu nahekommt, sei ‚unrein‘, denn er trage möglicherweise das Virus in sich? Der Fremde könnte Parasiten mitbringen, ruft uns unsere archaische Stammesstruktur ins Gedächtnis. Freie Gesellschaften, in denen Fürsorge und Reflexion dominieren, scheinen daher besser geeignet zu sein, eine solidarische Weltgesellschaft zu befördern, als geschlossene Gemeinschaften, in denen sowieso Reinheit, Autorität und Loyalität stärker hervorreten als Fairness, Freiheit und Fürsorge. Freie Gesellschaften zeigen uns jedoch ein schillerndes, ein janusköpfiges Gesicht. Kann Fürsorge hervortreten, so ebenso Egoismus, der aus der Trennung des Individuums von der Gemeinschaft erwächst. Die Kritik am entfesselten Finanzkapitalismus, der nur Egoismus hervorbringe, sollte uns dazu veranlassen, die Werte freier Gesellschaften zu verteidigen, in denen wir leben, ihr Potential für Mitgefühl und Solidarität herauszustellen und dabei die dunklen Seiten offenzulegen, die bisher in ihrem Schlepptau ihr Unwesen trieben. Es geht jedoch nicht nur um das Fehlen von Gemeinsinn. ‚Die‘ Moderne hat die Bedeutung eines Eigensinns des ‚Ganzen‘, beispielsweise der Natur, weitgehend aus dem Blick verloren. Die nach dem Mittelalter beginnende Selbstermächtigung des Menschen hat die Wahrnehmung der Wirklichkeit einseitig im Sinne von Autonomie und Machbarkeit verengt. Eine These lautet sogar, dass die Wurzeln der gegenwärtigen Krise sich im Eigensinn der Natur und den deutlich werdenden Kontrollverlusten menschlicher Zugriffe zeigten. Nun darf man sich nicht täu3
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Vgl. Philipp Hübl, Aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken. München 2019, S. 107. Vgl. ebd., S. 76ff., 325. 10
schen: Eigensinn ist – ebenso wie ein Virus – nicht einfach gut oder schlecht, sondern einfach ‚da‘, und es gilt, zu beachten, was vorhanden ist. Der Glaube an die unbegrenzte Gestaltbarkeit unserer Lebensformen wird in der Coronakrise untergraben; diese Leitidee der Moderne ist gescheitert. Die Krise demonstriert augenfällig Leistung und Grenzen unserer bisherigen Lebensweise. Der Mensch, der sein Leben und seine Umgebung nach seinem Maß gestalten will, ist Komplexität nicht gewachsen. Er versucht, die Welt im Griff zu haben. Sein Zugriff erweist sich jedoch als Würgegriff. Im Schwitzkasten des Menschen widersetzt sich der Eigensinn der Dinge, die ökologische Krise kann als Musterbeispiel gelten, aber ebenso die Instrumentalisierung in Produktionsprozessen. Die Dinge sollen sich fügen; alles, was es gibt, lässt sich als Variable in eine zu optimierende Matrix eintragen. Die Krisen zeigen, der bloß auf sich selbst und seinen Vorteil bedachte Mensch kann Komplexität und Unwägbarkeiten weder gut aushalten noch nachhaltig gestalten. Er ist dem Eigensinn der Dinge nicht gewachsen. Denn er stört ihn; er nimmt normalerweise nur wahr, was sich in seine Absichten fügt. Da er kein Verständnis für den Eigensinn der Dinge hat, kann er mit Komplexität nicht umgehen. Auf welchen Grundlagen könnte eine Weiterentwicklung gelingen? Auf bloß liberaler Denkungsart kaum, die nur allzu oft zu toleranter Gleichgültigkeit wird und die es vor Corona gegenüber Mitbürgern ebenfalls gab. Die gesellschaftlichen Gruppen, die sich in alltäglichen sozialen Berufen engagieren, Krankenschwestern, Ärzte, Pfleger, Kindergärtner oder Lehrer wurden in der Zeit der Kontaktbeschränkungen sichtbar, und jeder begriff, wie wichtig sie immer schon für die Gesellschaft waren. Ebenso stieg die Dankbarkeit gegenüber Kassierern und Lageristen, die dafür sorgen, dass wir einkaufen können. Vor Corona sind wir vielleicht achtlos an ihnen vorbeigegangen und kümmerten uns darum, Zeit und Geld zu sparen, wir waren auf unsere eigenen Ziele und Zeitersparnis gepolt. Dadurch haben wir strukturelle Ungleichheiten in Kauf genommen – mit jedem ‚Kauf ‘ haben wir sie weiter akzeptiert. Fachkräfte verdienen im Automobilsektor beinahe das Doppelte wie solche aus dem Gesundheitsbereich. Es gibt einen Zusammenhang zwischen gerechter Wirtschaftsordnung, struktureller staatlicher Solidarität und einem menschlichen Selbstverständnis, in dem sich Bürger als Teil einer Gesellschaft verstehen, in der solidarische zwischenmenschliche Verhältnisse als selbstverständlich gelten. Dieses Menschenbild ist zweifellos durch das Projekt der Aufklärung begünstigt worden, in dem Freiheit, 11
Menschenrechte und eine Moral entstand, die auf der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen beruhte. Ebenso hängen Egoismus und fehlende Solidarität mit dem modernen Selbstverständnis zusammen, das wir als Selbstbestimmung kennzeichnen. Wenn der einzelne nämlich unter eigensinnig gedeuteter Selbstbestimmung versteht, er allein sei aufgerufen, sein Leben und sich selbst nach seinen Maßstäben zu verwirklichen, dann ist in diesem Selbstbild kein Platz für Solidarität und für komplexe soziale oder ökologische Zusammenhänge. Denn der einzelne geht in seiner Lebensführung nicht von seiner Verbundenheit zu seinen Mitmenschen aus, sondern (be)gründet diese ausgehend von seinen eigenen Maßstäben und Vorstellungen. Wir benötigen jedoch mehr solidarische Gemeinschaften statt Einzelkämpfertum, individuell-strategischer Selbstverwirklichung und Machtambitionen. Die tieferen Wurzeln für fehlende Solidarität zwischen Menschen und Staaten und für fehlenden Respekt vor der Natur liegen in einem falsch verstandenen individualistischen Selbstverständnis, das Individualität als Selbsterschaffung missversteht. Mit diesen Wurzeln beschäftigen wir uns in diesem Buch. Selbstbestimmung und Solidarität entfalten sich in einem Spannungsfeld. Wird Selbstbestimmung als Entscheidungsmöglichkeit aus eigenen moralischen Gründen verstanden und werden andere Menschen bei diesen Gründen berücksichtigt, kann Selbstbestimmung auch Solidarität begründen. Man könnte daher denken, nur eine solche Selbstbestimmung, die als Willkür verstanden wird, stünde gegen Solidarität, als moralisch-freie Entscheidung aber begünstigte sie Fürsorge. Dennoch wird Solidarität auch bei diesem ethischen Konzept von Selbstbestimmung erschwert: Die Autonomie, von der man in diesem Konzept der Selbstbestimmung ausgeht, begünstigt nämlich die Annahme, der Mensch sei vollständig aus Gemeinschaften herausgelöst, man glaubt, von einem ‚view from nowhere‘ aus entscheiden zu können, und man beraubt sich der eingebetteten, verbundenen Handlungsgründe wie beispielsweise der Empathie. Außerdem legt das Konzept der Bestimmung eine Eigenmächtigkeit zugrunde: Maß bleibt der Mensch, der nach Eindeutigkeit strebt. Es lässt sich vermuten, dass moderne Gesellschaften zunächst das Prinzip der Selbstbestimmung in den Mittelpunkt rückten, weil sie sich damit von fremdbestimmten Zeiten abgrenzen wollten. Sie verkannten aber die Janusköpfigkeit des Eigensinns, denn sie ersetzten das (alte) Prinzip der Ermächtigung traditioneller Autoritäten durch das (moderne) Prinzip der Selbstermächtigung. Wer Fremdbestimmung durch Selbstbestimmung ersetzen will, möchte aus einer Abhängigkeit 12
herausgelangen, der Abhängigkeit von anderen und der Natur. Sie werden als Bedrohung angesehen. Allerdings übersieht er in dieser Ablösung die Konstante, die bleibt, wenn er Fremd- durch Selbstbestimmung ersetzt: Es wird bestimmt. Zentral bleibt ein unaufgeklärter Wille zur Macht: „Sei dein eigener Herr!“ Mit all den bekannten Folgen des Herrschaftswunsches des Menschen über die Gestaltung des Zusammenlebens, über die Natur und sich selbst. Das Verständnis von Herrschaft ist zu überarbeiten, das Menschen dazu verleitet hat, die Welt zu unterwerfen. Dem widerspricht nicht, dass sich westliche (und in der Folge fast alle) Gesellschaften in vielen Aspekten mit der Zeit unter dem Einfluss der Kodifizierung der Menschenrechte und der Betonung der Gleichheit veränderten. Fürsorge, Fairness und Freiheit traten im Gefühlshaushalt von Menschen stärker hervor – und Solidarität. Das könnte bedeuten, es ist jetzt an der Zeit, das Prinzip der Selbstbestimmung abzulösen und durch solidarische Freiheit zu erweitern. Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit scheinen das Gleiche zu bedeuten. Einerseits wird Freiheit für die Möglichkeit in Anspruch genommen, auf Grundlage von Erziehung, Gesprächen und Reflexion zu eigener Lebensgestaltung zu gelangen – im Zusammenspiel mit anderen. Andererseits birgt Selbstbestimmung die Gefahr, aufgrund nur der eigenen Maßstäbe zu leben, welt- und gemeinschaftsvergessen, wie eine Monade, vereinzelt und unter Verlust an Solidarität. Vor diesem Hintergrund betrachtet zeigt sich, dass Freiheit etwas anderes ist als Selbstbestimmung. Möglicherweise stecken in der Annahme, unsere moderne Welt baue auf dem Prinzip der Selbstbestimmung auf, noch zu sehr Werte, die auf Prinzipien kollektivistischer Gesellschaften zurückgehen, nämlich Autorität und Reinheit: „Du darfst tun, wozu du selbst dich (ohne Einmischung anderer) ermächtigst“. Damit wird der andere Wert der Aufklärung untergraben: Solidarität durch Annahme der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen und Achtung ihrer Würde. Eine gerechte Wirtschaftsordnung, die auf Solidarität aufbaut, drückt sich in strukturellen Maßnahmen aus. Diese setzen sich jedoch nur dann durch, wenn ihnen eine menschliche Disposition zugrunde liegt, in der sich Menschen anderen verbunden fühlen. Das bedeutet, das Gefühl zu haben, nicht allein auf diesem Planeten durchs Leben zu gehen. Die gegenwärtige Krise sollte, wie alle Umbruchssituationen, Anlass einer Selbstbefragung sein; zu klären sind die Voraussetzungen unseres Verständnisses von Freiheit. Das ist für unser heutiges Denken eine provozierende und schwer zu denkende Annahme, denn wir sind gewohnt, das Prin13
zip der Selbstbestimmung als die Grundlage von Freiheit und Menschenrechten anzusehen. Und wir sind gewohnt, dass derjenige, der unsere liberale Welt und ihr liebgewonnenes Prinzip der Selbstbestimmung kritisiert, zu einer geschlosseneren oder kollektivistischeren Gesellschaft zurückkehren möchte. Das Prinzip der Selbstbestimmung wollen wir in diesem Buch unter die Lupe nehmen, ohne in diesen Gegensatz zwischen Kollektivismus und Individualismus zu verfallen. Die in der Konzeptualisierung moderner Gesellschaften fehlende Lücke für Solidarität können wir historisch rekonstruieren. Warum ist es seit dem 19. Jahrhundert keiner Ethik mehr gelungen, die Lebensform westlicher Gesellschaften entscheidend zu prägen? Warum konnten sich der kategorische Imperativ Kants und der Konsequenzialismus im politisch-gesellschaftlichen Diskurs5, dagegen jedoch nicht so stark im handelnden Selbstverständnis von Menschen durchsetzen und keine neueren Ethiken entwickelt werden, die mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit auftreten? Wer so fragt, kann die Grundvoraussetzungen dieser Ethiken in den Blick nehmen, nämlich die aufklärerische Annahme einer Autonomie des Menschen. Diese Grundannahme sollte Moral und das Zusammenleben der Menschen rational und unter Berücksichtigung subjektiver Rechte gestalten (helfen). Der Mensch, der in seiner Autonomie als grundlegend für Erkenntnis, für die Erreichung von Glück und für die Gestaltung des politischen Lebens angesehen wurde, war gedacht als allgemeinmenschlich, ihm war die Idee der Humanität eingeschrieben. Die Humanität, die in der Zeit der Aufklärung in den Blick genommen wurde, ruhte darauf, dass der Mensch als Mensch Vernunft habe. Diese Idee des Menschen als animal rationale, als von Natur aus mit Vernunft ausgestattet, hat inzwischen ihre Begründungskraft eingebüßt; das Verständnis von Humanität ist neu zu bedenken. Denn mit der Entdeckung der kulturellen, sprachlichen und individuellen Relativität von Weltzugängen ist aus dem Menschlichen faktisch ein Selbstverständnis einzelner Menschen entstanden, die sich als Maß aller Dinge begreifen und die ihre Mitmenschen und ihre Umgebung instrumentell behandeln. Selbstbestimmte Menschen laufen Gefahr, ihre Identität zu konstruieren und sich dadurch von ihren Mitmenschen abzuschotten. Da die Epoche der Aufklärung zugleich mit Säkularisierung und Anlehnung an naturwissenschaftlichen Fortschritt verknüpft war, dominiert in ihr ein Rationalitätsverständnis, das Menschen von ihrer Umgebung isoliert, denn es zielt einseitig 5
Vgl. Deutscher Ethikrat, ebd., S. 3. 14
auf Bestimmtheit, aktiven Zugriff und Vergegenständlichung. Aus der Perspektive eines sich in dieser Weise distanzierenden Individuums kann keine Ethik mehr gewonnen werden, denn es trennt sich von seiner Umwelt und betrachtet sie als Gegenstand zu seiner Verfügung. Könnte hingegen eine Ethik aus der heute auch vielfach vertretenen Vorstellung gewonnen werden, dass der Mensch als sprachliches und soziales Wesen zur Welt kommt? Könnte sie als Erweiterung der Habermas’schen Diskursethik ausgehend von der Gemeinschaft begründet werden, in der Menschen in Gesprächen aktiv ihre Freiheit entfalten? Freiheit würde dabei als die Zulassung von Erweiterungen, als die Zulassung und Akzeptanz des Eigensinns verstanden. Eine heutige Ethik sollte sich als Wahrung und Würdigung des Eigensinns anderer und der Welt auszeichnen, in der wir leben. In dem vorliegenden Essay kritisieren wir dem Gesagten entsprechend einen vorherrschenden Aspekt heutigen westlichen Denkens, nämlich die Vorstellung, der Mensch solle primär nur selbstbestimmt leben und sein Leben aus seinen Maßstäben heraus gestalten. Wir kritisieren die Lebensform, wie sie vor Corona maßgeblich war. Wahrnehmungen der Fülle der Wirklichkeit, in der diese sich in ihrem Eigensinn, ihrer unbeherrschbaren Komplexität und ihrer Unbestimmtheit zeigt, werden in einer selbstbestimmten, zielorientiert-effizienten Lebensweise zurückgedrängt. Aus diesen Überlegungen leitet sich unsere zentrale These zum Selbstverständnis der modernen Welt ab. Eine so verstandene Moderne manövriert sich in eine Krise, die mit Schlagworten wie der ökologischen Krise, neuen Nationalismen, ungezügeltem Kapitalismus und Gier als eine Form der Weltvergessenheit beschrieben werden kann. Mit der Kritik eines selbstbestimmten Individualismus’ weisen wir eine Ethik und Lebensgestaltung zurück, die von festen Prinzipien ausgeht. Gleichzeitig wissen wir, zu einer kosmologischen Ethik können wir ebenfalls nicht zurückkehren, der gemäß Sollgeltungen aus der Verfasstheit der Wirklichkeit abgeleitet werden, seien diese christlich oder ontologisch-metaphysisch. Das Rad der Moderne lässt sich nicht zurückdrehen, und das ist auch nicht wünschenswert, denn die Idee der Freiheit und Stärkung der Rechte des individuellen Menschen, auf der sie ruht, ist gegenüber einer geschlossenen Gemeinschaft ein großer Fortschritt, der nicht rückgängig gemacht werden darf. Auf Basis dieser Errungenschaft kritisieren wir die falsche anthropologische Annahme, zur Rechtfertigung und Fundierung dieser freiheitlich zu schützenden Menschenrechte sei der Mensch als selbstbestimmt zu denken. 15
Wir setzen dieser Annahme ein anderes Verständnis des Menschen entgegen: Der Mensch ist ein unbestimmtes Wesen, das immer in Gemeinschaft und Verbundenheit – in aktiven Verhältnissen – mit anderen und anderem lebt. Wie sähe ein Leben von Menschen aus, in dem sie, statt selbstbestimmt durch das Leben zu schreiten, ihre Eingebundenheit und nicht gänzlich erkennbare Verwobenheit in die Wirklichkeit stärker wahrnähmen? Das hieße, sich selbst von den Verhältnissen her zu verstehen, in denen jeder faktisch immer schon lebt und geworden ist, wer er ist. Das und nur das könnte Solidarität auch mit Fremden stiften. Wie sähe, damit zusammenhängend, ein Leben aus, in dem Menschen sich vom unbestimmten Ganzen der Welt ansprechen lassen, ohne zu glauben, es intentional in den Blick nehmen zu können? Wer die Zukunft minutiös genau gestalten will, muss davon ausgehen, zu wissen, was geschieht. Unwägbares passt da nicht hinein, Komplexität wird ignoriert oder mechanistisch modelliert. Sich hingegen in einem Ganzen zu verstehen, bedeutet, Prinzipien für weniger wichtig zu nehmen, sondern auf eine sich verändern könnende Normalität im Lebenslauf zu vertrauen. In der Diskussion um heutige Krisen wird vielfach die Frage aufgeworfen, ob es eines Systemwechsels bedarf. Das ist wohl nicht der Fall. Denn das Potential freier Gesellschaften für Solidarität ist größer als das geschlossener Gesellschaften. Es bedarf allerdings der Selbstbesinnung darauf, dass wir längst mehr Komplexität und Solidarität ertragen und aufbringen als zu früheren Zeiten. Dass wir längst die Fähigkeit erworben haben, solidarisch zu sein. Dieses Selbstverständnis gilt es stärker offenzulegen, und auf dieser Grundlage gilt es, wirtschafts- und sozialpolitisch mutige Entscheidungen zu treffen. Auf der konzeptuellen Ebene gilt es, die moralischen Grundlagen freier Gesellschaften zu klären und sie von denjenigen Annahmen abzugrenzen, die die krisenhaften Symptome moderner Gesellschaften hervorgerufen haben. Ob es eines Systemwechsels bedarf, hängt auch davon ab, was man unter ‚System‘ versteht: In der Finanzkrise von 2008 schien der Bankensektor ‚systemrelevant‘ zu sein, das heißt, der Finanzstrom galt als die entscheidende Größe für das Funktionieren ‚des Systems‘. In der Coronakrise kommt diese Rolle der Systemrelevanz dem Gesundheitssektor zu. Pragmatisch kann bald wieder das Funktionieren der Wirtschaftsabläufe zur entscheidenden Variable in der Matrix des ‚Systems‘ werden (wobei es allerdings fatal wäre, Wirtschaftskraft gegen Gesundheit auszuspielen). Wir brauchen sicherlich keinen Systemwechsel in Bezug auf Marktwirtschaftlichkeit, Demokratie, Rechtsstaatlicheit, Geltung und Durchset16
zung von Menschenrechten, oder hinsichtlich von Gewaltenteilung und einem Sozialstaat. Aber vielleicht brauchen wir einen Wechsel hinsichtlich der Prioritäten dessen, was innerhalb des großen ‚Systems Bundesrepublik Deutschland‘ als prioritär und deshalb systemrelevant gilt; wir brauchen eine Verschiebung der Gewichtungen. Die Frage nach einem ‚Systemwechsel‘ zu stellen, könnte zu guter Letzt bedeuten, in einer gedanklichen Falle zu stecken, nämlich in der Vorstellung, die Gesellschaft solle wie in einem System funktionieren. Systeme haben jedoch immer einen geschlossenen Charakter, dem ein Einheitsdenken zugrunde liegt. Systeme sind zeitlich überschaubare Denk- und Handlungsmuster; das Unbestimmte – in unserem Fall Corona – lässt sie scheitern. Corona kann (ebenso wie die ökologische Krise) als eine Art Lackmustest und Indikator für unseren gesellschaftlichen Umgang mit Komplexität verstanden werden – und letztlich wird Komplexität vom Unbestimmten ‚bestimmt‘. Insofern sind wir in der Coronapandemie unfreiwillige Teilnehmer einer Versuchsanordnung, in der Systeme unserer Lebensform erprobt werden und Systemdenken generell auf dem Prüfstand steht. Es ist unsere Aufgabe zu prüfen, wie wir die Auswirkungen, also die Widerfahrnisse dieses Ereignisses auswerten. ‚Auswerten‘ bedeutet, sich der Kriterien oder Maßstäbe zu versichern, die für die Analyse und eine Neubewertung geboten und angemessen scheinen – sofern es solche gibt. Auch ‚Systemrelevanz‘ ist wohl nur ein zeitliches Phänomen. Insofern mit der Verbreitung von Corona – und der Aufmerksamkeit von Gesellschaften darauf – etwas Unbestimmtes in unser Systemdenken dringt, prägt Corona nicht nur alle Formen menschlichen Zusammenlebens, es zwingt vielmehr dazu, über sie nachzudenken. Das liegt daran, dass eine Nichtbefolgung Krankheit oder Tod zur Folge haben kann, und es liegt an der Unbestimmtheit. Das Virus hat keine Botschaft, es ist keine Strafe, es ist einfach ‚da‘. Und dennoch wird es mit Bedeutung versehen, es hat das Zeug, das Narrativ unserer Gesellschaften zu verändern, wie seinerzeit die Pest oder das Erdbeben von Lissabon. Das Narrativ unserer Zeit ist gewesen, dass Selbstbestimmung die Welt verbessert. Warum braucht es in einer globalen Krise Tugenden? Inwiefern spielen dabei Gemeinschaften, Nichtwissen und Komplexität eine Rolle? Wir gehen in diesem Essay der Annahme nach, ein sozial eingebettetes Selbstverständnis des Menschen führte zu Tugenden, das heißt, Dispositionen des Umgangs mit sich selbst und anderem, die ein gelingendes Leben mit sich und anderen ermöglichen können. Die17
se Tugenden ruhen auf der Errungenschaft der Moderne, den Menschen in seiner Freiheit zu schützen, und sie lassen sich als Bescheidenheit und Demut, Treue, Takt, Mehrperspektivität, Vertrauen, Staunen und Solidarität ausbuchstabieren. Der selbstbestimmte Mensch erlebt Komplexität und die Wahrnehmung des Eigensinns der Dinge in Krisen als Kontrollverlust. Ihm fehlt es an Demut und an Verbundenheit zu seiner Umgebung. Ihm fehlt es an Takt, Mehrperspektivität und Vertrauen. Eigensinn und Sinn für Komplexität wiederzugewinnen, wird gefördert, wenn der Mensch das Staunen über den Eigensinn der Wirklichkeit wiedererlernt. Ein solches Staunen bedeutet, der Umwelt in Zuwendung gegenüberzustehen. Eine solche Zuwendung ergibt eine freie Art der Verbundenheit. Nur so entsteht Solidarität und nur so kann Zugehörigkeit ausgebildet werden. Denn dann gibt es Gemeinschaft ohne Eingemeindung. Ein solches Verständnis von Gemeinschaften liegt seit längerem auf der Hand und kann Mut machen. Darin liegt eine Chance unserer Zeit, die sich durch stärkere Inklusion und solidarische Akzeptanz von Differenzen herausgebildet hat. Daher ist die heutige Krise eine Chance, den Freiheitsbegriff über Selbstbestimmung hinaus zu erweitern. Gemeinsinn, Komplexität und Eigensinn der Wirklichkeit – das hat der moderne, individualistisch-selbstbestimmte Mensch vergessen, der die Welt zielorientiert als Verfügungsmasse ansieht. Er kann es wiederentdecken. Aus diesem Vorsatz ergibt sich die Schreibart unseres Buches. Wer, wie wir, die Tragfähigkeit einheitsstiftender Prinzipien bezweifelt, muss versuchen, Verallgemeinerbares mit Alltagserfahrungen seiner potentiellen Leserinnen und Leser zu verbinden. Um unsere kritischen Anmerkungen zu kennzeichnenden Aspekten der Moderne nachvollziehbar zu machen und mögliche Neuorientierungen zu skizzieren, erden wir unsere Überlegungen durch praktisch-veranschaulichende Beispiele. Wir denken, jede Kritik am Narrativ der Selbstbestimmung muss selbst narrativ sein, damit der Weg von dieser Fehlvorstellung des Menschen hin zu einem Solidarität fördernden Selbstverständnis sichtbar und plausibel werden kann. Wir skizzieren Tugenden guten Zusammenlebens und gelingenden Lebens; dabei gilt es, die Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen, dass Idee und Anerkennung politischer Freiheit einer Quelle des Nichtwissens – mit Hannah Arendt der Gebürtlichkeit des Menschen – entspringen. Die nie endenden Versuche, diese Gebürtlichkeit zu verstehen und zu deuten, sollten ein Fragezeichen hinter alle Formen unbedingten Wissens setzen und zur Demut, zur Bescheidenheit im Umgang mit der Wahrnehmung des Eigensinns der Wirklichkeit aufrufen. 18
1 Einleitung – Die Fenster der Nonnen und Glücksschmiede Das Kloster Santa Teresa in Cochabamba, Bolivien, liegt im Zentrum der Stadt. Im historischen Teil des Gebäudes, in dem früher Nonnen lebten – die heutigen leben in einem Nebengebäude mit W-Lan und verlassen das Kloster zeitweilig –, liegt jetzt ein Museum, in dem Führungen angeboten werden. Alle Fenster, durch die früher die Nonnen blicken konnten, weisen auf den Innenhof, um den herum ein Kreuzgang geht und in dem sich eine Jesusstatue befindet. Ein einziges Fenster liegt zur Straße, es ist aus Alabaster. So kann das Licht der Stadt hineingelangen; niemand, der hier lebte, aber konnte hinausblicken. Auf dem Umschlag dieses Buchs ist das Alabasterfenster abgebildet. Wie wäre es, wir würden es uns heute als Metapher für unser Verhältnis zu unserer Umgebung wählen? Das Licht unserer Welt gelangte zu uns, aber unser besitzerheischender Zugang zu den Dingen um uns herum wäre verwehrt. Es ginge nicht darum, das Sehen abzuschaffen. Wohl aber können zwei Arten zu sehen unterschieden werden, einerseits: Was davon kann ich haben? Andererseits: Was wirkt auf mich und wessen werde ich angesichtig? Das Alabasterfenster schirmt den Blick ab, in dem Begegnungen mit der Welt im Sinn von Nutzen und Besitz zugerichtet werden; es soll den klösterlichen Menschen helfen, sich auf Wesentlicheres zu konzentrieren. Das mag als Weltlosigkeit erscheinen, wenn der Blick so sehr von der äußeren Sinnenwelt, von den ‚Gegenständen‘, abgeblendet wird. Damit aber kann der Zugang zur Welt in einem anderen, für die Moderne irritierenden Sinne allererst frei werden. Wer nämlich alles nur daraufhin beobachtet, wie es ihm zur Verfügung stehen kann, dem begegnet etwas nicht in seinem Eigensinn. So jemand hat, genauer genommen, keine eigenständige Welt um sich, er lebt nicht in einer Welt, sondern nur in ‚seiner‘ Welt; alles ist ihm Mittel gemäß seines Lebensplans. Das Alabasterfenster kann somit anders als gemäß zeitgenössischer Mutmaßung auch symbolisieren, wie moderne Zeitgenossen die Welt im Visier haben: Wer die Dinge um sich herum nur so sieht, wie sie ihm für seine Absichten erscheinen, der sieht sie 19
nicht wirklich, der ist von ihnen durch eine Zweckbrille getrennt, als wäre sie ein Alabasterfenster. Zunächst mag die Lebensform der Nonnen, die sich von der Welt abschirmen, auf uns Heutige anachronistisch wirken – die wir denken, wir sähen klar in die Wirklichkeit. Doch die Geschichte dieses Gebäudes könnte für unsere Gegenwart eine beispielhafte Konfrontation einer vergangenen Lebensform mit einer weithin akzeptierten Lebensform der Moderne vergegenwärtigen: fremdbestimmte Unterdrückung gegen ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Heutzutage mögen viele Menschen angesichts einer für sie abgeschlossenen oder für ‚überwunden‘ geglaubten Lebensform der Nonnen ausrufen: „Das ist finsteres Mittelalter; eine derartige Unterdrückung ruft nach dem Licht der Aufklärung, nach Freiheit und Emanzipation, nach der Durchsetzung universaler Rechte!“ Wer so ruft, stellt in Frage, ob die Nonnen ihre Lebensform frei gewählt haben oder überhaupt wählen konnten. Und er nimmt ein Verständnis der Moderne in Anspruch, das unzweifelhaft als Epoche der Entstehung der Rechte von Menschen, der Freiheit und des Wohlergehens vieler gelten kann. Im Kloster Santa Teresa nehmen die Nonnen drei Gelübde auf sich: Armut, Keuschheit (Enthaltsamkeit) und Schweigsamkeit. Nach moderner Ansicht erscheint das wie eine Dummheit, wie ein unkluger Verzicht, wo doch – naheliegend – Reichtum, Selbstverwirklichung und Erlebnissuche zu haben wären. Erfüllung werde nämlich anders gefunden, indem der Mensch auf die Welt zugeht, statt sie abzublenden. Könnte das Alabasterfenster uns etwas zu sagen haben, in einer Zeit, in der Gier und Egoismus an der Tagesordnung zu sein scheinen? Wenn Aktivität und Sich-ausdrücken zählen, begegnet es heute wie ein Wunder, dass jemand noch anderen zuhört? Könnte gar die Krise der westlichen Welt etwas damit zu tun haben, dass viele Menschen so geprägt sind, zu denken, alles sollte von ihnen her, aus dem einzelnen Menschen heraus begründet werden?6 Er gilt oftmals als das Maß der Moral, in Form seiner Selbstbestimmung und Autonomie, er verwirklicht sich und gestaltet sein Leben gemäß seiner Ansichten, er erkennt, wie etwas ist, gemäß
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Zu gegenwärtigen Problemlagen gesellschaftlicher, sozialer und politischer Art etwa: Jürgen Habermas in: Auch eine Geschichte der Philosophie. Frankfurt/Main 2019, Bd. 1, S. 121f., Bd. 2, S. 180, 801f. Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011), München 2015, S. 408–426, 458–462. 20
seiner Prinzipien und Methoden. Könnte Solipsismus somit weniger ein erkenntnistheoretisches Problem sein als vielmehr Ausdruck der Selbstbezogenheit des modernen Menschen, der nur sein eigenes Maß kennt? Ist Individualismus vielleicht weniger eine Chiffre für Freiheit als für Vereinzelung, Egozentrik und Weltverlust? Und ist Narzissmus, so beleuchtet, weniger ein psychisches Krankheitsbild, als dass er genau das individualistische Selbstverständnis ausdrückt, nach welchem es im Leben um einen selber ginge? Was dabei fehlt, sind die anderen, ist das Andere und das Verhältnis zu anderen.7 Ist womöglich gar die ökologische Krise die Ausgeburt einer umfassenden Weltlosigkeit des modernen selbstbestimmten Menschen? Wem alles nur ein Mittel für seine Zwecke ist, der hat einen Aspekt unserer modernen Welt verinnerlicht und spricht bei sich: „Nutze alles um dich herum zu deiner Selbstverwirklichung“, eine andere Aspektierung trägt er jedoch nicht aus. Pointiert gesagt, wird die hier berufene Moderne von zwei Säulen getragen, einerseits der Idee von Menschenrechten und andererseits der Idee der Selbstbestimmung. Die erste Säule wird gebildet mit einer politisch institutionalisierten Vorstellung, der zufolge alle Menschen gleich sind und andere nicht unterdrücken dürfen. Menschen dürfen ihre gesellschaftliche Verfasstheit in die eigenen Hände nehmen. Demokratie und politische Freiheit liegen im Kern dieser ersten Säule. Die zweite Säule wird getragen durch ein dieser ersten Säule scheinbar entsprechendes Menschenbild, dem zufolge jeder Mensch sein Leben aus sich heraus gestalten solle und könne. Würde jeder Mensch gemäß dieses Menschenbildes so verstanden, dass er im Zusammenwirken mit anderen und von ihnen angeregt ein freies Leben führte, so wäre die zweite Säule kongruent zur ersten. Doch anders wird das Menschenbild eines selbstbestimmten Wesens oft so angeeignet, dass der einzelne Mensch wie eine von der Gemeinschaft und Gesellschaft losgelöste Monade lebt und handelt. Ein so verstandenes autonomes Wesen – ein ‚Individuum‘ – ist auf sich selbst als Maßstab aller Dinge angewiesen, es löst sich aus seiner Umgebung heraus, es versteht – wenn es überhaupt sozial oder politisch denkt – die Idee der
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Das Selfie (das Foto, das man von sich selbst mittels einer Handyhalterung, eines ‚Selfie-Sticks‘ aufnimmt) drückt das recht gut aus – es ersetzt die Verhältnisse zu anderen durch das Bild, das man von sich aufgenommen haben möchte, und das man sich dann selbst ansehen oder in die Internetwelt ‚posten‘ kann. 21
Freiheit so, als ob sie einzig individueller willkürlicher Selbstbestimmung entspräche. Eine solche ‚Freiheit‘ aber kann, wie die ungarische Philosophin Ágnes Heller kurz vor ihrem Tod sagte, eine politische Berücksichtigung von Menschenrechten nicht fundieren.8 Diese auf Selbstbestimmung aufgebaute Säule der Moderne droht mit ihren Kräften die andere – die Wahrung und Achtung von Menschenrechten – zu untergraben und stürzen. Wer nur auf seinen eigenen Lebensplan schielt, wer nur sich selbst zu verwirklichen sucht, dem sind alle anderen letztlich gleichgültig. Der kann nicht mit anderen zusammen daran wirken, ein kooperatives Leben und politische Freiheit zu realisieren. Überdies kann er auch kein gelingendes (Zusammen) Leben mit anderen führen. So jemand unterhöhlt durch Verwirklichung von Selbstbestimmung sogar seine eigene Freiheit (denn er orientiert sich an einer fixen Idee seiner selbst). Kurz gesagt, die Idee der individuellen privaten Selbstbestimmung untergräbt die Idee politischer sowie auch individueller Freiheit. Wer die Idee einer freien Welt aufrechterhalten will, in der Menschen kooperieren, der sollte daher prüfen, mit welcher der beiden konkurrierenden Ideen er seinem Ziel näherkommt; einerseits der Idee individueller Selbstbestimmung im Sinne des Individualismus’ und damit im Sinne singulärer Machtausübung oder andererseits mit einem alternativen Konzept menschlichen Zusammenlebens und mit einem alternativen menschlichen Selbstverständnis, das Solidarität und Fürsorge begünstigt. Diese Aufgabe versuchen wir in diesem Buch aufzugreifen: exemplarisch, fragmentarisch und wohl wissend, dass wir sie nicht vollständig werden lösen können. Einen Ansatz aber zu einer alternativen Auffassung gelingenden menschlichen 8
Vgl. Ágnes Heller, Kein Weg führt nach Utopia, Rede der ungarischen Philosophin Ágnes Heller kurz vor ihrem Tod, aktualisiert: FAZ-Net 19.08.2019–14:00: „Die Moderne ist auf Freiheit aufgebaut, allerdings, ich wiederhole es: Die Freiheit ist ein Fundament, das nicht fundiert.“ Heller sieht die Moderne (mit Rousseau) auf der Idee der Freiheit aufgebaut – jeder Mensch ist frei geboren –, die jedoch ‚realisiert‘ werden müsse. Die Moderne ruhe auf drei Logiken. Erstens ruhe die Moderne auf der Logik der Verteilung und Verbreitung von Gütern, Menschen und Dienstleistungen am Markt, zweitens auf der konstanten Entwicklung von Wissenschaft und Technologie, und drittens der Möglichkeit, die politischen Regeln und Institutionen frei zu wählen – auf der politischen Idee der Freiheit. Diese dritte Logik sollte die ersten beiden kontrollieren. Eben dies stehe aber in Gefahr, wenn menschliche Freiheit nicht ‚realisiert‘ würde. 22
Lebens wollen wir in den Raum stellen. Wir greifen dabei auf das antike Verständnis menschlicher Tugenden zurück und stellen es auf die Probe, indem wir es auf menschliche Lebensverhältnisse unserer modernen Zeit anwenden.9 Ágnes Hellers Rede kann als Aufruf interpretiert werden. Wenn nämlich die Idee der Freiheit nicht geeignet ist, politische und soziale Verantwortung zu begründen: Was kann dann dasjenige sein, welches die Durchsetzung von Menschenrechten entstehen lassen kann? Könnte das von Heller gesuchte Fundierende in tugendhaften menschlichen Lebensverhältnissen zu suchen sein? Als These formuliert: Der politische Begriff der Freiheit und der Menschenrechte entspringt einer Tradition der Achtung anderer Menschen, die in jedem neuen menschlichen Leben aktualisiert, anerzogen und als Disposition eines Menschen aufgebaut werden kann. Er fußt aber argumentativ nicht auf einem individualistischen Menschenbild, das Selbstbestimmung in den Mittelpunkt rückt. Wir folgen in dieser Problemorientierung Böckenfördes viel berufenem Diktum: der freiheitlich-säkulare Staat ruhe auf Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Die Tragkräfte der säkularen, freiheitlichen Gesellschaft und des Staats sind fragil und
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Wir folgen hier Alasdair MacIntyre, dem zufolge nach der Phase der Aufklärung und ihres Scheiterns – in der mit Hilfe von Prinzipien Rechtfertigungsprojekte mit Allgemeingültigkeits- und Zeitlosigkeitsanspruch unternommen wurden –, aktuell eine im kulturellen Zynismus der Gegenwart kulminierende Phase stattfindet. In ihr hat sich die Einsicht in das Scheitern des universalistischen Projekts der Aufklärung durchgesetzt, instrumentelle Vernunft triumphiert und hinter der aufklärerischen Maske herrschen Beliebigkeit und Willkür. Vgl. Wolfgang Kersting, Alasdair Maclntyre. In: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis V. Wright. Stuttgart 2007, S. 413–417; vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend (After Virtue, 1981). Frankfurt/Main 1995. Vgl. auch Heiner Hastedts Auseinandersetzung mit dem Kommunitarismus, in der er die moderne Welt so rekonstruiert, dass ein normativer Individualismus auf einem deskriptiven Holismus aufbauen müsse. Heiner Hastedt, Der Wert des einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus. Frankfurt/Main 1998. Als weitere Stationen eines Prozesses der Selbstbesinnung der Moderne sei z. B. verwiesen auf Hannah Arendts ‚Banalität des Bösen‘ sowie auf Zygmunt Bauman (Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 2002). Letzterer sieht den Holocaust als Konsequenz der effizienzorientierten Moderne; er schreibt: „Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben.“ (S. 8) und später „es ist die westliche Zivilisation überhaupt, die uns seit dem Holocaust fremd geworden ist“. (S. 98, Hervorhebung im Original) 23
scheinen riskiert. Von dort aus fragen wir, wie an Konsolidierung der Voraussetzungen gedacht werden kann, aus denen beide leben.10 Könnte es jedoch sein, dass aus der Idee der Freiheit – nicht der der Selbstbestimmung – doch etwas entspringen kann? Es ist ein naheliegender Irrtum, als Fundierendes politischer Freiheit auf ein feststehendes Fundament zu setzen. Zusammenleben in der Festigkeit ‚guter‘ Traditionen und eine externe Instanz – Gott –, die einem scheinbar genau vorschreibt, was man tun soll, wären eine solche Basis, die man sich für eine ‚gute‘ oder ‚gerechte‘ Gesellschaft wünschen könnte. Ebenso verführerisch ist es, die Idee der Selbstbestimmung an diese Stelle zu setzen. Kein Fundament zu setzen, wäre das eine Alternative? Transzendental zu argumentieren, wie Habermas und Apel es versuchten: Man suche die Bedingungen der Möglichkeit einer herrschaftsfreien und rationalen Diskurskultur? Eine Soziologie aufzubauen, in der ein Menschenbild nahelegt, wie Menschen sich faktisch verhalten und wie sie zusammenleben, um daraus ein wünschenswertes Miteinander zu schlussfolgern? Auch der Ansatz, ‚bloß‘ die Idee der (willkürlichen) Freiheit stehenzulassen, als dasjenige, das gewissermaßen automatisch, wie in einem freien Markt, zu einem vernünftig oder wenigstens selbstregulierend funktionierenden Miteinander führt, ist trügerisch. Es ist ein Paradox, eine Aporie, die nach einer Änderung der Blickrichtung verlangt. Was kann das Fundierende, besser gesagt, die Quelle politischer Freiheit sein, wenn jedes (verführerische) feste Fundament, sei es Selbstbestimmung oder Anthropologie oder eine sozial-fixe Tradition, ausscheidet? In unserem letzten Buch Was auf uns zukommt sind wir von der Annahme ausgegangen, dass der Mensch, der vor Situationen steht oder sich in ihnen befindet, sich seines Nichtwissens innewird. Seine der Situation vorhergehenden Annahmen erweisen sich als nur bedingt tauglich, die Situation zu erfassen. Die
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„Der freiheitlich-säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde. Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt/ Main 1976, S. 60. Selbstdestruktive Tendenzen der freiheitlichen Moderne betreffen insbesondere auch zum Problem gewordene Verhältnisse gelingenden Lebens, Zusammenlebens und Lebens der Menschen in der Welt. Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Frankfurt/Main 2019, Bd. 1, S. 14. Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (1992). Frankfurt/Main 1996. 24
intellektuelle und emotionale Folge dieses Nichtwissens ist das Staunen über die Wirklichkeit. Und der Ernstnahme dieses Nichtwissens kann eine Beachtung der Wirklichkeit folgen, die ihn zu einem veränderten Handeln führt, das stärker vom Wissen um die Unbestimmtheit der Wirklichkeit geprägt ist. Das Handeln eines Menschen, der sein Nichtwissen ernstnimmt, ist tastender, weniger sicher, dafür taktvoller, anderes zulassender, in stärkerem Maße vernehmend, was auf ihn an Neuem und an Wahrnehmungen zukommt, und es ist von stärkerer Zuwendung zu anderen geleitet.11 Wer sich angesichts neuer Situationen seines Nichtwissens bewusst wird, kann komplexen Sachverhalten besser begegnen, er wird vorurteilsfreier und offener, er kann den Eigensinn der Dinge besser zulassen, und er kann vorurteilsfreier und neugierig-staunender erforschen, was vor ihm liegt. Er kann Anderes und andere Perspektiven gelassener betrachten. Solche Handlungen und solches Leben inmitten unserer Welt können wir in der Gestalt von Tugenden profilieren. Wir leben dann so, dass wir die Unbestimmtheit und unser Nichtwissen bezüglich unserer Welt und auch bezüglich von uns selbst anerkennen und ernstnehmen. Wir gestalten unser Leben dann in freien und unbestimmten Verhältnissen. Diese Gestaltungsarten aber lassen sich, gerade weil unbestimmt, profilieren. Sie bestehen beispielsweise in Takt, Bescheidenheit, Treue, Vertrauen und Staunen. So gesehen kann die Anerkennung dessen, dass es kein festes Fundament gibt, das politische Freiheit fundieren kann, dass aber die Anerkennung politischer Freiheit einer Quelle des Nichtwissens entspringt, zu inhaltlichen Ergebnissen führen, denen man Weisen guten Zusammenlebens und gelingenden Lebens entnehmen kann. Aus dem aporetischen Gedanken der fundierenden Freiheit, die nichts fundieren kann, können inhaltliche Schlussfolgerungen gezogen werden, und ebenso Schlussfolgerungen für die Art, sich dieser Tugenden zu vergewissern. Sie können nicht in einem System und als System dargestellt werden. Sie können nicht letztbegründet werden. Sie bilden weder ein Menschenbild noch einen Katalog an Handlungsanweisungen, an denen sich eine Gemeinschaft entlanghangeln könnte. Sie lassen sich auch nicht in einer Art fixem Konzept oder methodischem Algo-
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Vgl. Michael Fröhlich, Klaus Langebeck, Eberhard Ritz, Was auf uns zukommt. Tübingen 2020. 25
rithmus ableiten und darstellen. Da sie kein System bilden, macht es wenig Sinn, sie in Abgrenzung gegen alle wichtigen aktuellen Denksysteme auszubreiten. Die Tücke eines jeden Konzepts ist nämlich: Es läuft Gefahr, wiederum zu nur einer Struktur in einem Menschen zu werden. Dann liegt das Konzept im Kopf des Menschen, der sich selbstbestimmt an ihm orientieren kann. Stattdessen beabsichtigen wir, dass Leben sich – sozusagen zwischen Köpfen – im Gespräch mit anderen und wechselnden Konzepten abspielt und gestaltet. Ob die hier entfaltete Untersuchungsperspektive hilfreich ist, gelingende Lebensvollzüge von Menschen zu erhellen, kann nur ein Versuch sein, auf den man sich einlassen kann. Im Vollzug mag sich die orientierende Plausibilität des Ansatzes zeigen. Die Unbestimmtheit menschlicher Lebensverhältnisse ernstzunehmen, bedeutet, Situationen und Konstellationen menschlichen Lebens und Zusammenlebens zu wägen. Ausgehend von ihnen prüfen wir, was es für die Einstellung und das Handeln eines Menschen heißen kann, dass er die Unbestimmtheit menschlicher Lebensverhältnisse ernstnimmt und dass er ernstnimmt, was ihn umgibt und was er wahrnimmt. Tugendhafte Verhältnisse, so unsere Annahme, entspringen unbestimmter Freiheit, die sich mit Wolfram Hogrebe als sanfte Freiheit ansehen lässt.12 Sie besteht darin, Erweiterungen an sich und anderen zuzulassen. Sie besteht darin, andere in ihrem Eigensinn und ihrer Komplexität wahrzunehmen, zu akzeptieren und sich ihnen solidarisch zuzuwenden. Es ist verführerisch, auf eine prägnante, klar konturierte Freiheit zu setzen, die die Selbstbestimmung eines autonomen Individuums in den Mittelpunkt stellt. Es könnte aber plausibler und lebensfördernder sein, die Stelle leer zu lassen und zu fragen, wie Menschen leben und zusammenleben, wenn sie diese Stelle explizit leerlassen, das aber in ihrem Handeln und in ihren Einstellungen zur Geltung bringen. Das ist das, was wir in diesem Buch Tugend nennen wollen. Tugend ist dementsprechend nichts ‚Aristokratisches‘ und meint nicht, dass Menschen das ‚Beste‘ aus sich herausholen sollen. Vielmehr geht es darum, welche Art Zusammenleben und Leben von Menschen in unserer modernen Welt gut ist, die auf der Freiheit des einzelnen gegründet ist und die die Sicherheit von festen Traditionen verlassen hat. 12
Vgl. Wolfram Hogrebe, Der implizite Mensch. Berlin 2013, 45ff., 111ff. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. ed. Thomas Buchheim. Hamburg 1997, S. 47. 26
Wir wollen das Problem der Fundierung politischer Freiheit durch Willkürfreiheit an der Figur des ‚Glücksschmieds‘ verdeutlichen. Der sich selbst bestimmende und sein Leben optimierende Mensch, der in seiner Selbstverwirklichung zu sich spricht „Der Starke ist am mächtigsten allein“ – denn jeder schmiedet das Seine für sich –, steht für eine monologische Zentralperspektive des autonomen Subjekts; er versteht sich als sonnengleiches Zentralgestirn, in dessen Lichtstrahlen sich die Erkenntnisse seines Weltwissens zeigen müssen. Das Weltwissen des Glücksschmieds zentriert sich in der Leitvorstellung ‚Täter-sein-wollen‘ und der Frage, wie er wissens- und handlungsfähig wird. In diesem Welt- und Handlungsfenster reduziert sich ‚Welt‘ (weitgehend) auf gegenständliches Sein. In seinem Fensterrahmen vermag der Glücksschmied nur das zu erblicken, an dem er handelnd seine Fäden13 ziehen kann; Menschen und Dinge werden in dieser Perspektive auf ihren Objektcharakter reduziert. Der Schmied fixiert intentional und optimiert sich; er ist auf zu bearbeitende Objekte fixiert. Zu diesem Bild passt die Lebensformerwartung ‚Hammer oder Amboss sein‘; denn der Glücksschmied glaubt, über ein Wissen verfügen zu können, das es erlaubt, Dinge erfolgreich zu bearbeiten. Es wäre nicht ohne Reiz der Frage nachzugehen, ob ein – auch ihm selber verborgenes – Ziel oder Motiv des Glücksschmiedes Ordnung ist, eine von ihm selbst erschaffene Ordnung der Umgebung. Er hofft, die Welt in einem gestaltungsfähigen Griff zu haben, wenn er sie in einen ordnungsstiftenden Rahmen einspannen kann. Glücksschmiede können bei zweckrational gelingender Planung zu Sozialingenieuren werden. Es erscheint widersprüchlich, dass der Ordnung anstrebende Glücksschmied in einer Welt leben muss, die immer in Bewegung ist, mithin einer dauerhaften Ordnung widerstrebt. Die Welt der Glücksschmiede ist aber notwendig immer in Bewegung, denn indem der Glücksschmied handelt, ruft sein eigener Ordnungsversuch die Gegengewalt der Ordnungsversuche anderer
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817). Hamburg 1991, § 406, S. 333f.: „Dabei hat diese Welt, die außer ihm [dem Menschen] ist, ihre Fäden so in ihm, daß, was er für sich wirklich ist, aus denselben besteht; so daß er auch in sich so abstürbe, wie diese Äußerlichkeiten verschwinden, wenn er nicht ausdrücklicher in sich durch Religion, subjektive Vernunft und Charakter selbständig und davon unabhängig ist.“ Vgl. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009 S. 18f. – Hier ist mit dem Ziehen von Fäden allerdings eher gemeint, dass der Glücksschmied sein Leben ‚spinnt‘, d. h. er ist im Wortsinn ein ‚Spinner‘. 27
Glücksschmiede und der eigensinnigen Wirklichkeit auf, die ihm daher unaufhörlich widerstreiten. Der Glücksschmied ist der selbstbestimmte moderne Mensch. Wie wenig frei er heutzutage lebt, kann ein alltägliches Beispiel zeigen. A steht morgens voller Pläne auf, er hat sechs Meetings, diverse Telefontermine, und unzählige E-Mails warten; anschließend will er mit seiner Bank sprechen, einkaufen und zum Fitnessstudio gehen. Seit einigen Jahren hat er es sich zur Maxime gemacht, andere Menschen zu unterstützen. Also will er um kurz vor 19 Uhr wenigstens noch kurz mit der Flüchtlingsfamilie telefonieren, für die er eine Patenschaft übernommen hat, um sich nach ihr zu erkundigen; direkt danach wird sein Neffe zwecks Vorbereitung auf seine Abiturprüfung anrufen, er hat den Kategorischen Imperativ noch nicht ganz verstanden. Abends hat er geplant, Freunde zum Essen einzuladen. Da A’s Tag so voll ist, stören ihn alle Ablenkungen. Seine Nerven sind strapaziert, wenn das Telefon klingelt, wenn jemand in sein Büro kommt und wenn er auf dem Weg zum Supermarkt jemanden trifft. Schließlich trifft er zu Hause auf seinen Sohn, der ihm etwas zeigen möchte und der mit ihm spielen will. Nun ist seine Geduld vollends aufgebraucht, kurz vor dem Ziel wird ihm alles zu viel, und er schimpft mit seinem Kind. Weil er mit so vielen Absichten durch den Tag gegangen ist, besteht seine Gegenwart aus Hindernissen. Die Schlange im Supermarkt, der begriffsstutzige Geschäftspartner, das langsame Internet, die Sorgen und Ansprüche der Familie, der Sohn, der ihn vom Essenzubereiten abhält, die volle Spülmaschine, die schwer zu schälende Zwiebel, sie alle verhindern die Selbstbestimmung unseres Protagonisten. Fühlt sich A an diesem Tag frei? Nein. Alles was er tut, sich in den Kopf gesetzt hat und nun durchsetzen will, hat ihn in ein Zwangskorsett für diesen Tag geschnürt. Er hat sich vorgenommen, bald aufzusteigen, um seine Wohnung abzahlen und seinen Autokredit ablösen zu können. Also will er, auch das hat er in seiner Selbstbestimmung beschlossen, seine Chefin demnächst nach einer Gehaltserhöhung fragen. Dafür aber benötigt er eine optimale Bilanz seiner Projekte, er muss effizient gearbeitet haben. Also ist er gezwungen, noch mehr Telefonate zu führen und noch minutiöser durchdachte Projektskizzen vorzulegen. Er hat sich überlegt, mit seiner Bank zu sprechen, damit der Kredit auf günstigere Konditionen umgestellt wird, dann hat er hoffentlich einen größeren Freiraum für seine finanziellen Ausgaben. (In diesem Jahr hat er beschlossen, endlich einen teureren Urlaub zu buchen.) Die einzig 28
freie Zeit, in der andere ihm nicht zwischen die Erfüllung seiner Pläne funken, ist die, in der er auf sein Handy schauen kann. Jetzt ist er ungestört, und er darf seinem eigenen Rhythmus folgen. Zwar gibt es in den dortigen Chats auch soziale Verpflichtungen, aber dem realen sozialen Leben kann er kurzzeitig entfliehen. A fühlt, er lebt nur selbstbestimmt, wenn er ganz für sich allein ist. Was er nicht merkt: dass seine Selbstbestimmung selbst ihn in die Unfreiheit getrieben hat. Er ist unfrei, weil er selbstbestimmt lebt, und weil dieses Konzept ihn in Wahrheit zum fremdbestimmtesten Menschen aller Zeiten hat werden lassen. Er hat sich an die Selbstbestimmung versklavt. Die Tücke von A’s Lebensführung, das zeigt das Beispiel, entsteht nicht daraus, dass seine Freiheit an der Freiheit eines anderen ihre Grenzen findet. Sie liegt auch nicht darin, dass das dargestellte Verständnis von Selbstbestimmung nicht universalisierbar wäre. (Denn es ist längst Allgemeingut, so zu leben, und viele, werden sie befragt, wollen auch so leben.) Das Problem besteht vielmehr in der Kraft der Bestimmung, die den Menschen leitet. Mit welcher Bestimmtheit reitet A durch seinen Tag! Mit aller Macht versucht er, seine Ziele zu erreichen, und je mehr Macht er erhält, umso mehr Ziele wird er sich vorlegen. Es wird immer so weitergehen. Ein weiteres Beispiel der Verhinderung von Freiheit durch Bestimmtheit ist die zunehmende Digitalisierung von Verwaltungsabläufen, die teilweise bereits kafkaeske Züge trägt. Wer sich einmal in einem Onlineportal durchgeklickt hat oder mit einem unflexiblen Verwaltungsangestellten gesprochen hat, weiß, dass bisweilen selbst bei eindeutig berechtigten Ansprüchen mit Vernunft nicht zu rechnen ist. Oft ist es kaum möglich, überhaupt zu einem Mitarbeiter durchzudringen. Hat man ihn erreicht und wiederholt auf das Problem gestoßen, das nicht in die ihm zum Eintragen vorgegebenen Kästchen passt, sagt dieser schließlich, er gebe das dann mal in den Computer ein. Da bleibt oft nur der Weg zum Anwalt, um Absurditäten und Ungerechtigkeiten zu verdeutlichen. Das argumentative Wort bedeutet hier nichts, bevor man zur entscheidenden Stelle durchgedrungen ist. Und selbst dort herrscht bisweilen Ohnmacht. Warum ist das so? Es spart Zeit und Menschen, auf solche Art und Weise zu organisieren, der Preis ist allerdings die Ersetzung von Abwägung und Gespräch durch einen Algorithmus. Ein solcher übersetzt jede Realität und Gestaltung von Einzelfällen in Bestimmtheit. Denn er kann überhaupt nur dadurch in Gang gesetzt werden, dass das, was es gibt, eindeutig fixiert und modelliert wird. 29
Ein eindrucksvolles Sittengemälde mit Formen des Zusammenlebens, die dort entstehen, wo Menschen gemäß ihrer eigenen Maßstäbe planen und daher in Ohnmacht leben, zeichnet Juli Zeh in ihrem Roman Unterleuten.14 „Die jungen Leute von heute besaßen erstaunliche Talente. Zum Beispiel ungeheure Effizienz bei vollständiger Abwesenheit von Humor. Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen. Keine Fehler zu begehen und dadurch unangreifbar zu werden. Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Lauf des Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten. […] Auch das gehörte zu Pilz’ Strategie […], die Ablehnung bis zum kritischen Punkt zu steigern, dann die Wut verrauchen zu lassen und anschließend Argumente nachzulegen, die das ganze Projekt alternativlos erscheinen ließen. Auf diese Weise entstand der Eindruck, es handle sich um eine komplexe Materie mit einer gewissen Ausweglosigkeit. Das verwirrte die Leute. Pilz brauchte keine Zustimmung, er brauchte nur Resignation. […] „Im Rahmen der Regionalpläne“, sagte Pilz, „bleibt den Gemeinden, die ausgewiesenen Eignungsgebiete zu konkretisieren.“ Übersetzt bedeutete das: Bauen würde die Vento Direct auf jeden Fall. Die Frage war nur, wo. „Ein paar Worte zu den Abläufen. […] Sie alle sind befugt, an diesem Planungsverfahren mitzuwirken. Lassen Sie mich jetzt erklären, warum […] in Ihrem eigenen Interesse sind.“ „Der Grund für ihren verbohrten Ehrgeiz lag im Entsetzen über die Erkenntnis, dass die Welt einen Ort darstellte, an dem Dinge ohne Rücksicht auf den menschlichen Willen geschehen.“15
Zeh beschreibt, wie eine solche ‚selbst-bestimmte‘ Verfassung zwischenmenschliches Zusammenleben prägt:
14 15
Juli Zeh, Unterleuten. München 2016, S. 151ff., 161. Ebd., S. 301. 30
„In seiner langen Amtszeit […] hatte er gelernt, dass gelungene Kommunikation meist darin bestand, den Gesprächspartner reden zu lassen. Wichtig war, die Gedanken in der Zwischenzeit auf etwas Angenehmes zu richten, so dass am Ende des Gesprächs beide Seiten zufrieden auseinandergingen – der eine, weil er reden durfte, der andere, weil er nicht zuhören musste.“ „[…] beide waren zu viel für ihn. Sie ergaben eine ‚Situation‘, und Situationen hatte er immer schon gehasst. […] Was er nicht konnte, war, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren“ […] „Selbst wenn das Leben […] auf katastrophale Weise schiefging […], so besaßen Qual und Leiden doch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung. […] hatte schon als Kind verstanden, dass allein der Mensch in der Lage ist, Ordnung zu erzeugen, und dass Bedeutung nur innerhalb von Ordnungen entsteht.“ […] „Daran war nicht einmal […] Schuld, sondern die Tatsache, dass ihrer neuen Rolle schon wieder etwas Fadenscheiniges anhaftete. Was als nächstes kommen sollte, wusste [sie] nicht. Vielleicht könnte sie sich in […] verlieben und an dieser verborgenen Neigung auf identitätsstiftende Weise leiden.“ […] „Mehr als einmal hatte […] ihr vorgeworfen, sie knüpfe Liebe an die Bedingung reibungslosen Funktionierens. Wenn sich ein Mensch nicht in ihrem Sinne verhalte, sortiere sie ihn aus wie ein defektes Gerät. […] Es war […] so, dass es in ihrem Kopf einen Schalter gab, mit dem sich Menschen ausknipsen ließen, und dieser Schalter legte sich von alleine um, wenn ihr etwas nicht gefiel.“ […] „Wenn der Glaube an das Gute versagte, musste er durch den Glauben an das Eigene ersetzt werden. […] Er war jetzt […] ein Sisyphos, der verstanden hatte, dass die Lösung des Problems darin bestand, den Berg zu kaufen.“16
Inwiefern die Personen Selbstbestimmung zum Maßstab ihrer Lebensführung erheben, spiegelt sich in Juli Zehs Erzählperspektive: Die personale Erzählebene gibt sich stets als auktoriale, was mit einer gewissen poetischen Verarmung und Konvergenz der Metaphern zur jeweiligen Perspektive einhergeht. Den Personen begegnet immer nur, was sie schon kennen. Und jeder, der so denkt, das Seine zu wollen, handelt parallel als Opfer, fremdbestimmt von der Antizipation dessen, 16
Ebd., S. 317, 346, 356, 376, 587, 614f. 31
was die anderen wollen. Besonders eindringlich wird dies bei einer Protagonistin geschildert, die sich stets am (fiktiven) Buchautor Manfred Gorz und dessen Lebenserfolgsratschlägen orientiert. In den folgenden Kapiteln zeigen wir, wie der strukturellen Gewalt(un)ordnung des Glücksschmieds durch eine Neuinterpretation tugendgeleiteten Lebens entgegengearbeitet werden könnte. Der Glücksschmied geht von einem fundierenden Weltwissen aus. Anders Menschen, die sich in eigensinnige Zusammenhänge ihrer Welt eingebunden wissen. Die Lebensgestaltungen solcher Verhältnismenschen – das heißt Menschen, die eingebettet in eine solidarische Gemeinschaft sind – vollziehen sich in komplexen Umständen, und – das ist entscheidend – sie wissen um ihr immer unsicheres Weltwissen. Denn sie kennen den Eigensinn der Menschen und Dinge, und gleichzeitig wissen sie um die sich daraus ergebende nie zu verhindernde, teilweise bis zum Zerreißen gedehnte Überspanntheit und Unsicherheit aller Verhältnisfäden. Sie wissen um Komplexität. Daher wissen Verhältnismenschen, dass es Ordnung nie dauerhaft geben kann; Unbestimmtheit prägt jede Lebensform. Ganz anders beim Glücksschmied; für diesen sind der Eigensinn der Menschen und der Dinge geradezu eine Herausforderung, seinen Eigensinn gegen den der anderen durchzusetzen. Beide Lebensformen vollziehen sich im Undurchschauten der Welt; sie ziehen aber unterschiedliche Schlüsse daraus. Für den Glücksschmied ist das Undurchschaute die entscheidende Herausforderung, eine, besser: seine prekäre Ordnung zu errichten. Dabei unterscheidet er nicht zwischen dem Undurchschauten und dem Unbestimmten. Auch für den Verhältnismenschen gibt es Undurchschautes, auch er bemüht sich darum, es zu durchschauen, aber er weiß, dass ihm dies nie (ganz) gelingen wird, denn das Undurchschaute ist im Unbestimmten aufgehoben. Das Unbestimmte ist mehr als das Undurchschaute; womit der strukturelle Unterschied zwischen dem Glücksschmied und dem Verhältnismenschen benannt ist. Die Welt gleicht für den Verhältnismenschen mehr einem Geheimnis als einem lösbaren Rätsel,17 und das Verhältnis zur Welt kann nicht gegenständlich sein; das Unbestimmte ist ihm kein ‚Etwas‘.
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Noch extremer: Wolfram Hogrebe (Metaphysische Einflüsterungen. Frankfurt/Main 2017, S. 10f.) macht darauf aufmerksam, dass das Wort ‚Rätsel‘ in Immanuel Kants Buch ‚Kritik der reinen Vernunft‘, da er auf Bestimmtheit aus ist, nicht auftaucht. 32
Der Glücksschmied, der selbstbestimmt-moderne Mensch, setzt sich die Welt als Objekte und sich selbst als fundierende Instanz.18 Diese Selbstverständlichkeit moderner Weltauffassung hintergehen wir in diesem Buch. Die Subjekt-Objekt-Trennung ruht selbst auf einer menschlichen Erfahrung, in Verhältnissen eingebunden zu leben. Wolfram Hogrebe nennt das ‚das Szenische der menschlichen Existenz‘. In dieser gibt es einen Übergang und eine Verbindung zwischen Mensch und Welt. Analog zu Hogrebe denken wir, dass es eine der Subjekt-Objekt-Trennung vorgängige Verbindung zwischen Mensch und Welt gibt. Hogrebe betont darin dreierlei, eine Art Interaktion (die grob und grundsätzlich unserem Begriff der Verhältnisse entspricht), eine der Verbindung wesentliche Form und eine Wissensart, die bestimmterem Wissen vorausliegt. Diese Wissensart fundiert Interaktionen, und sie enthält Ahnungen, den Bezug zu Erfahrungen, Intuitionen und Traditionen. In dieser einer Subjekt-Objekt-Trennung vorausliegenden Verbindung von Mensch und Welt ruhen moralische zwischenmenschliche Qualitäten, die wir als Tugenden rekonstruieren und heben wollen. Diese Tugenden berücksichtigen, dass wir in einer Welt leben, die wir niemals vollständig kennen können, sie berücksichtigen die Unbestimmtheit menschlicher Lebenszusammenhänge. Ein szientistisches Selbstverständnis des Menschen hingegen – und ein solches pflegt der moderne Mensch, der selbstbestimmt sein Glück schmiedet – zerstört seine Ex- (und Im)pressivität, das heißt, es macht ihn blind für sein Verhältnis zur Welt, blind für Situationen und überhaupt: für anderes.19 Es macht ihn blind 18
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Immer dort, wo Menschen den Standpunkt einnehmen, das Glück zu kennen, gleich ob kollektivistisch oder individualistisch, war der Weg in den Terror geebnet Vgl. Wolfram Hogrebe, Szenische Metaphysik. Frankfurt/Main 2019, S. 80. Vgl. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 34. Für Hogrebe ist ‚Szene‘ der Begriff für ein unbestimmtes Verhältnis mit anderem, das jeder Subjekt-Objekt-Trennung grundlegend vorausliegt. ‚Szene‘ heißt, wir sind in einem Raum, in dem etwas aufgenommen und angenommen wird, in dem etwas geschaut, gehört usw. wird – verschränkt mit der Welt und dem, was (unbestimmt) ist und sich zeigt. (Vgl. Wolfram Hogrebe, Szenische Metaphysik. Frankfurt/Main 2019, S. 22ff.) Hier interagieren A und B und sie werden zu A und B. Das ist genau der Begriff der Verhältnisse, den wir zugrundelegen. Beide Begriffe haben den Vorteil, dass sie dem Ganzen das Primat gegenüber seinen Teilen einräumen: Erst ist das Verhältnis, dann der Pol, erst ist das Ganze einer Szene, dann die Mitspieler. Hogrebe scheint eine gemeinschaftliche Szene vorzuschweben, die Überlieferungen folgt (ebd., S. 129, 131). ‚Szene‘ scheint bei Hogrebe eher auf typische Situationen ausgerichtet zu sein als auf die je vor einem liegende. – Weil wir in den Grundannahmen u.E. 33
für den Eigensinn anderer und damit auch für Solidarität und Mitgefühl. Wenn wir daher hier eine Quelle für freiheitlich-gelingendes (Zusammen)leben suchen, dann können wir sie vielleicht in den unbestimmten Verbundenheiten zwischen Menschen, im Menschen, zwischen Mensch und Welt sowie des Menschen zum Ganzen der Wirklichkeit finden.20 Daraus kann Solidarität entspringen. Denn in solchen Verhältnissen kann der Eigensinn des Anderen des Menschen aufgefunden und vielleicht für menschliche Lebensgestaltungen wirksam werden. Eine solche Quelle aber stellt vor sachliche und methodische Herausforderungen, denn sie ist gerade nicht bestimmbar. Die Voraussetzungen, auf denen ein freiheitlich-säkularer Staat und eine Gesellschaft ruhen können und die sie selbst in ihrer Bestimmtheit nicht gewährleisten können, sind die unbestimmten, immer schon das Zusammenleben prägenden Verbundenheiten zwischen Menschen, und dasjenige, in dem Subjekt und Objekt liegen.21 Anders gesagt: Von unbestimmten
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gleichsinnig mit Hogrebe denken, haben wir uns entschieden, manche Querverweise zu Passagen von ihm und seine Verweise auf weitere Literatur in Fußnoten auszuweisen. Hogrebes Erkenntnisinteressen richten sich allerdings stärker auf erkenntnistheoretisch-ontologische Fragen, während wir aus vergleichbaren Grundannahmen auf ethische Aspekte blicken. Wir lassen bei dieser Begrifflichkeit betont offen, ob ‚die Welt im Ganzen‘ vom Innerweltlichen geschieden ist, etwa als ihr Prinzip, Einheit, Wesen oder ‚Sein‘, ob es als etwas Jenseitiges verstanden wird, als umfassende Totalität oder als Gefühl für den Hintergrund unserer nicht-vergegenständlichten Lebenswelt. Da ein Ganzes unbestimmt ist, lässt sich das nicht entscheiden. Entscheidend ist, dass ein Unbestimmtes als uns umhüllend erahnt wird, das nicht in einem gegenständlich zu Erfassenden aufgeht. Wenn sich Menschen auf diesen Umstand einstellen, werden sie sich dessen inne, in einem unbestimmten Ganzen zu leben, von dem her sie sich verstehen und ansprechen lassen. Dieses Sichansprechenlassen ist jedenfalls nicht als Sicherheit des Besitzes eines Weltbilds gedacht. Vgl. Wolfram Hogrebe, Szenische Metaphysik. Frankfurt/Main 2019, S. 14f. mit Bezug zuerst auf Hegel und dann auf Husserl: „Dennoch hat er das Verdienst, die Membrane zwischen Sein und Begriff eigens akzentuiert zu haben. Hier muß eine Analyse der szenischen Existenz des Menschen einsetzen und sie hat es, zumindest im Ansatz, mit Husserl auch getan. Schon in seinen Ideen nennt er unsere szenische Verfassung eine ‚natürliche‘, ja ‚personalistische Einstellung‘: ‚in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im Gruße die Hände reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind.‘ (Hegel, Logik II, op. cit., p. 25; Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch, ed. Marly Biemel, Husserliana Bd. IV, Haag 1952, p. 183.) Auf dieser szenischen Basis, die für uns unhinter34
Verhältnissen auszugehen, ist zwar ein ‚Denkansatz‘, den wir argumentativ verfolgen. Er besteht aber darin, nicht bei einem Prinzip oder Fundament ‚anzusetzen‘, sondern die paradoxe Ausgangssituation zu rekonstruieren, dass jeder Ansatz aus unbestimmten Verhältnissen entspringt, die zu betrachten und ernstzunehmen politische Freiheit und gelingendes Leben entspringen lassen kann. Kann man auf Füßen des Nichtwissens stehen?22 Nein, aber vielleicht kann man auf ihnen gehen oder tanzen und tugendhaft mit anderen umgehen, und zwar möglicherweise besser, als würde man stehen. Nämlich dann, wenn man im Verhältnis mit sich, anderen, der Welt und dem Ganzen des Nichtwissens eingedenk wird, in dem sich diese Verhältnisse abspielen. Wer diese vorgängigen Verhältnisfäden beachtet, dem wird sich ein Weg zeigen, Quellen für unsere moderne Welt zu beleuchten. Diese sind kein feststehendes Fundament, vielmehr erweisen wir in dieser Anerkennung von unbestimmter Komplexität und Verhältnismäßigkeit unserem Nichtwissen die Ehre. Wir geben dem Nichtwissen die Würde zurück, die es erhält, wenn Menschen ihr Leben bescheiden und gemeinsam inmitten einer Welt
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gehbar ist, ruht die Gemeinschaft aller Menschen auf, in Eintracht und Einmütigkeit, aber auch in Zwist und Zank, in Zuwendung und Aggression. Diese ambivalente Gemeinschaftlichkeit, Geschwistern und Freunden alltäglich wohlbekannt, geht jeder Gesellschaft, ihrem rechtlichen Reglement und ihren Abstimmungen vorher, nicht etwa ein stilisierter Krieg aller gegen alle. Auch alle Thematisierungen unserer Weltverhältnisse zehren von dieser Basis und können nur ‚durch Abstraktion oder vielmehr durch eine Art Selbstvergessenheit‘ (Edmund Husserl, Ideen II, op. cit., p. 182.) ins Klare gebracht werden, bezahlen ihre Vorteile an Klarheit aber mit dem Verlust phänomenaler Gehalte.“ Vgl. dazu Wolfgang Stegmüller: „Haben wir also (da es denn keine Fundamente gibt) alles auf Nichts gestellt? Die einzige Antwort: Wir haben überhaupt nicht auf etwas gestellt. Wir schweben.“ (Wolfgang Stegmüller, Metaphysik Skepsis Wissenschaft. Berlin/ Heidelberg/New York 1969, S. 456 (zitiert nach: Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 71) Vgl. Gottfried Benn: „Welches ist nun der Standpunkt des Ichs? Es hat keinen.“ Gottfried Benn, Roman des Phänotyps. Frankfurt/Main 1961, S. 41 (wiederum entdeckt in: Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 128) / Vgl. Novalis: Das Ich ist ihm zufolge frei, wenn es zwischen sich und der Welt „schwebt“. Dieses Schweben erst, so Novalis, ermögliche Subjekt und Objekt, und es selbst sei der Kern der Freiheit – und des Seins. Novalis, Schriften. Die Werke Friedrichs von Hardenberg. Hg. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. 3., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage. Zweiter Band. Das philosophische Werk I. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Darmstadt 1965, S. 266. 35
leben. Einer Welt, die diesen Namen verdient, ohne gemäß eigener Absichten zurechtgeschmiedet zu werden. Ein festes Fundament würde nicht leisten können, was von ihm erwartet wird, nämlich ein gutes Leben zwischen Menschen zu ermöglichen. Indem es Leben und Zusammenleben auf feste Füße stellen würde, könnten Eckpfeiler einzelner oder von Gruppen in es gegossen werden, d. h. als sich verhärtende Ansprüche wahrgenommen werden. Ein feststehendes Fundament stellt eine Lebensform von Gruppen oder einzelnen fest, die sich und ihre Identität in Abgrenzung von anderem als etwas von ihnen Getrenntes begreifen, es kann daher nur schwerlich Verbindungen ermöglichen. Und außerdem, wie sollte ein Boden – der als bestimmtes Wissen angesprochen werden könnte – gefunden werden, wenn die Grundlagen, die ein moderner Mensch anerkennen würde, auf Basis einer Ontologie gesucht würden, die sich vom Erdboden in einer (nicht bloß methodischen, sondern generalisierten) Spaltung von Subjekt und Objekt und Sein und Sollen abgekoppelt hat? Daher gilt es, zurück zu einem Verhältnis vor diesen Trennungen und hinein in das sie Ermöglichende zu gehen, auch wenn darauf kein letztbegründender Stand gewonnen werden kann – und gerade darum.23
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Bei der Frage nach einem Fundament oder einer Voraussetzung, einem Grund oder Prinzip könnte uns eine falsche Metapher im Weg liegen. Wir denken vielleicht zu sehr an gegossenes Beton oder eine Unterkellerung. Das Bild eines Fundaments lässt an einen Hausbau denken, die Rede von Fundamenten setzt eine Konstruktion in den Mittelpunkt: etwas wird gebaut und braucht eine unverrückbare Unterlage – genau so, wie Descartes es benutzte. Wir stecken noch in den Schuhen des Mentalismus. (Vgl. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641). Hamburg 1994, Erste Betrachtung.) Behausungen können aber auch auf Pfeilern ruhen (wie Stelzenhütten), auf Steinen (wie oftmals in Norwegen), sie können schwimmen (wie Bootshäuser) oder auf dem Boden ruhen und beweglich sein (wie Zelte oder Wohnmobile). Menschen leben ganz gut auf dem Erdboden. Oder sie könnten auch auf Schiffen leben; Schiffe ‚schweben‘ über Fundamenten von unergründlichen Tiefen. Absprachen über angebliche Fundamente gelten immer nur zeitlich eingeschränkt. Tugenden sind taktvoll ausgependelte Versuche, ein leidlich passables Zusammenleben möglichst vieler Menschen zu ermöglichen. Jede Metapher muss besonders dann hinken, wenn das, was fundiert, unbestimmt ist – ein Vergleich setzt etwas fest, das als Hintergrundbild dient. Wir untersuchen hier, welche Tugenden sich ergeben, wenn Menschen wissen, dass sie auf eine Weise in Verhältnissen leben, die ihrem Wissen entzogen ist. Damit denken wir eher in dem Bild einer Quelle, aus der etwas entspringt, als im Bild eines Fundaments. 36
Soll politische Freiheit auf etwas aufbauen, dann kann das nur ein Verständnis von Freiheit sein, das kein festes Menschenbild definiert, das aber auch nicht der Beliebigkeit zwischen Menschen die Tür öffnet. Das könnte der Begriff der ‚sanften‘ Freiheit leisten, insofern in ihm die Achtung zwischen Menschen eingeschrieben ist: Wer in ‚sanfter‘ Freiheit lebt, lässt andere Menschen zu, ohne sie in seine geistige Landkarte einzugemeinden. Mit diesem Verständnis von Freiheit schließen wir an ein Verständnis des Politischen – und daraus folgend der Freiheit – an, wie es bei Hannah Arendt gedacht wird. Indem wir das ‚Nichtwissen‘ des Menschen von sich selbst und anderen ernstnehmen, folgen wir Arendt, die das unbestimmte Wesen des Menschen in der ‚Gebürtlichkeit‘ seines Lebens sieht. Dieses Verständnis greift zurück auf den alten Ansatz, den Menschen als animal sociale zu verstehen. Das heißt, Menschen leben sprachvermittelt in Gemeinschaften, und das heißt auch, dass sie sich in Gesprächen in gemeinsamer Selbstbesinnung über ihr ‚Wesen‘ ‚vernünftig‘ verständigen müssen, denn dieses Wesen ist ihnen nicht ‚von Natur aus‘ aufgegeben. Arendt folgend können wir den Begriff des Politischen ins Zentrum stellen. Freiheit ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern eine soziale Leistung und Errungenschaft, die immer neu zu konkretisieren ist. „Frei zu sein und etwas Neues zu beginnen, war das Gleiche. Und diese geheimnisvolle menschliche Gabe, die Fähigkeit, Neues anzufangen, hat offensichtlich damit zu tun, dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt trat. Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind. – Insofern uns die Fähigkeit zum Handeln und Sprechen zu politischen Wesen macht […], ist Geburt, menschliche Gebürtlichkeit als Entsprechung zu Sterblichkeit des Menschen, die ontologische conditio sine qua non aller Politik.“ 24
‚Tugend‘ und ‚sanfte Freiheit‘ sind zentrale Begriffe in unserem Ansatz – ebenso der Begriff ‚Verhältnis‘. Was wäre, fragen wir uns, wenn statt der Idee der Selbstbestimmung, in der der einzelne sein eigenes Maß bildet, die Idee von Verhältnissen lebensleitend würde? Der Mensch beachtete die Verhältnisse, in denen er lebt. Diesen Gedanken wollen wir auf die Probe stellen und konkretisieren. Dabei wür24
Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein (ca. 1967). München 2018, S. 37. 37
de die Idee der Verhältnismäßigkeit von Handlungen eine zentrale Rolle spielen, die ein Mensch in seinen Handlungen beachtet. Wir nehmen damit eine Kritik an der Moderne auf, die im Historischen Wörterbuch der Philosophie so formuliert wird: „Die große Bedeutung, die dem Ethos des M[aßes] in Antike und Mittelalter zugekommen war, wird in der Neuzeit durch den Autonomieanspruch des Subjekts zersetzt.“25
Was verstehen wir unter ‚Verhältnis‘ und ‚Verhältnismäßigkeit‘? ‚Die Verhältnisse‘, darunter versteht man vordergründig die Umstände, die jemanden prägen. Die Verhältnisse in diesem Sinn könnten heute besser sein, wir leben vielleicht in einer Übergangszeit. Vertreter der Globalisierung setzen auf ein liberales Weltbürgertum, eine fortschrittliche Moral und Aufklärung, kritisieren Partikularismus und beängstigen diejenigen, die bei Globalisierung hauptsächlich an Vorherrschaft des Ökonomischen, Ausbeutung anderer Länder oder Übervorteilung der Menschen im eigenen Land und an Raubbau an der Natur denken. Fatalismus und Aktionismus sind Gegenspieler im Umgang mit Naturzerstörung. Der Mensch als Maß der Dinge, das autonome Subjekt, die westlich-modernen Lebensformen mit ihren Orientierungen am Individuum, an Zweckrationalität und Bedürfnissen stehen in der Krise, ebenso wie die Orientierung an Traditionen, die an vormoderne Zeiten erinnern können. ‚Verhältnisse‘, das sind, genauer betrachtet, nicht die Umstände, sondern die Zusammenhänge, die Relationen, die Beziehungen zwischen Polen: zwischen Menschen, in einem Menschen, zur Natur und zum Ganzen der Wirklichkeit. In Verhältnissen als Zusammenhängen ist jeder Pol eigensinnig und hat Einfluss auf einen anderen Pol, und die Pole werden aus dem Zusammenhang heraus geprägt. Kann es sein, dass sowohl bei einer Orientierung am Individuum – verstanden als eine von der Gemeinschaft und Gesellschaft losgelöste Monade, als eine Art Insel – als auch bei einer Orientierung an einer fest vorgegebenen, den Menschen
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Historisches Wörterbuch der Philosophie: Maß. (vgl. HWPh Bd. 5, S. 813) Vgl. auch Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924). Frankfurt/Main 2001, S. 131: „Maß und Begrenzung ist das höchste für menschliches Streben.“ 38
unterdrückenden Tradition die Verhältnismäßigkeit verlorengeht? Und zwar die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Menschen und dem, was um ihn herum ist. Der selbstbestimmte Mensch versucht, alle Verhältnismäßigkeit aus sich heraus zu gewinnen und läuft Gefahr, seine Umgebung als etwas Eigensinniges aus den Augen zu verlieren, er läuft Gefahr, sie nicht wahrzunehmen und stumpf für sie zu werden. Der Mensch, der sein Leben in festen Leitlinien aus vorgefundenen Traditionen abschreitet, läuft Gefahr, den einzelnen Menschen als Opfer ‚der Verhältnisse‘, genauer, der Umstände, in Kauf zu nehmen. In diesem Gegensatz lässt sich die Leitfrage dieses Buchs also auch so formulieren: Was heißt es, in einer Welt zu leben? Einer Welt, die uns als eigensinnige begegnet. Wir sprechen von einem Leben in Verhältnissen, um es von vereinzelter Lebensgestaltung und individualistischem Selbstverständnis abzugrenzen. Aber wir grenzen es ebenso von einer Gemeinschaft ab, die sich als Einheit versteht. In der gibt es nämlich keine Unterschiede zwischen Mitgliedern. In Verhältnissen, so verstanden, betonen wir die Aktivität der Menschen und ihre Differenzfähigkeit. Verhältnisse gibt es nur dort, wo Menschen einander in ihrem Eigensinn achten. Die Idee eines isolierten Individuums war immer schon eine Chimäre. Das sieht man bereits daran, dass die sogenannten Individuen viel anfälliger für Stereotype sind als in traditionellen Rahmen lebende Menschen, wie nicht zuletzt Horkheimer und Adorno herausgearbeitet hatten.26 Chimären können aber ihre eigene Wirklichkeit schaffen, in der es keine soziale Verantwortung mehr gibt. Möglicherweise verhält es sich daher mit den Verhältnissen, in die wir hineingeboren werden und in denen wir uns zu sozialer Verantwortung prägen, so, wie Goethe den Zusammenhang von sozialen Rahmungen und unserer Freiheit bestimmte: „Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“.27
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Vgl. Max Horkheimer /Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947). Frankfurt/Main 1988. Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Bd. 2, Berlin 1960ff, S. 89–90,121–122. Mag man Goethes Diktum noch überwundenen Zeitenaltern zurechnen, sei auf einen aktuellen Beitrag verwiesen. Die Schauspielerin Diane Kruger formuliert den Gedanken in einem ZEIT-Interview (22.08.2019) als Paradoxon: „Ich mag Disziplin. Das ist ja das Paradox: Man braucht Disziplin, um frei zu sein.“ Dieses Paradox kann durch sein Gegenstück ergänzt werden: Entwicklung braucht Freiheit. 39
Die Metapher des gerahmten Fensters ist auch außerhalb des Kontextes des klösterlichen Lebens in Cochabamba gewinnbringend: Wer durch ein Fenster sieht, der betrachtet die Welt in einem Ausschnitt und in einem Rahmen. Er fokussiert in einem begrenzten Bereich, was er sieht. Das ermöglicht es, etwas zu beobachten und zu analysieren. Es ermöglicht, Dinge festzustellen und zu bestimmen. Der moderne Mensch ist einerseits gewohnt zu sagen, alles sei eine Frage der Perspektive, andererseits scheint es ihm gewiss, Dinge so neutral sehen zu können, wie sie eben seien. Das Licht des Alabasterfensters hingegen scheint zu verfälschen, anders als ein durchsichtiges Fenster. Aber es könnte getreuer die Wirklichkeit durchlassen als Fotos, die die Menschlichkeit aus dem Blick verbannen können, indem sie vorgeben, die Welt, wie sie sei, in einer Art Verdopplung anzuhalten, zu reproduzieren und damit seiner Einmaligkeit zu berauben. Was ist ein Fenster? Fenster und Rahmen sind untrennbar; sie bedingen einander. Ein Fenster gibt einen Weltausschnitt vor, und was außerhalb des Fensterrahmens ‚ist‘, ‚ist‘ für den Betrachter nicht, denn es kann nicht erblickt und wahrgenommen werden. In prononciertem Selbstverständnis könnte vertreten werden, nur was ich in meiner Fensterperspektive bemerke, ‚ist‘ (kann den Anspruch erheben, zu sein). Erst derjenige, dem die Perspektivität seines Blickes bewusst ist, weiß, dass zwischen Innen und Außen unterschieden werden muss und dass ‚jenseits‘ des Rahmens Unbekanntes ‚ist‘. Er weiß gleichzeitig, dass man sich im Fensterblick unausweichlich in ein Verhältnis zur Welt setzen muss oder gesetzt ‚ist‘. Ein Rahmen begrenzt und strukturiert den Blick auf einen Weltausschnitt. Andererseits könnte genau das ein modernes Vorurteil sein: dass alles, was ist, nur perspektivisch gesehen werden kann. Denn Perspektivität ist selbst eine der modernen Rahmungen der Wirklichkeit, die Zentralperspektive entsteht in der Renaissance: so, wie etwas aus der Sicht eines Subjekts erfasst und betrachtet wird, so ‚ist‘ es. Die Illusion der Zentralperspektive gilt sodann als Realität, so wie uns Fotos heute als ‚realistisch‘ gelten, rechteckig und Ränder am Blickfeldrand automatisch ausschneidend. Das Modell der heutigen Wirklichkeit ist oftmals das Foto, mit festen, begrenzten Rändern. Das könnte eine partielle Blindheit zur Folge haben, die gerade durch Fokussierung entsteht. Die perspektivische Weltauffassung ist tendentiell eine, die bestimmend auf Dinge zugeht, statt dass sie die Wirklichkeit auch in Randbereichen auf sich zukommen lässt. Und Zweckorientierung verengt Blicke stärker. 40
Wer jemanden nur durch ein gerahmtes Fenster sieht, dem wird der andere nicht wirklich. Eine undogmatisch religiöse Sicht – beispielsweise – ist kein gerahmtes Fenster, sie lässt sich darauf ein, sich ansprechen zu lassen, auch und gerade vom Rand des Blickfelds. Einer rein perspektivischen Betrachtungsweise erscheint alles in einem Fenster und einer Rahmung, und sie verkennt damit Einstellungen, in denen dem Unbestimmten und dem, was zunächst nebulös, ahnend gesehen wird, ein größerer Raum gelassen wird. Ein nicht-ideologisches Verständnis von Religiösität ist gerade eines, in dem im Randbereich der Wahrnehmung etwas zugelassen wird, das auf uns wirkt. Ebenso gilt das für Menschen, die in einer (erweiterbaren) Tradition leben, und für Menschen, die sich auf andere einlassen. Sie achten auf das, was nebenbei gesagt wird; Blicke, Gesten und Zeitpunkte, zu denen etwas gesagt und nicht gesagt wird, bedeuten oft mehr als in Kriterien gefasste Aussagen. In der Moderne ist mit der Idee menschlicher Selbstbestimmung und der Idee der Perspektivität die Idee maßgeblich geworden, Wahrnehmung komme durch einen Akt der Fokussierung und Bestimmtheit zustande.28 Wer so denkt, blendet Unbestimmtes aus. Er läuft Gefahr, sich der Illusion hinzugeben, die Welt beherrschen zu wollen – alles ist, wie ich es bestimme. Wissenschaft, Herrschaft und individuelle Selbstbestimmung begünstigen eine Einstellung, in der unsere Welt nicht mehr auf uns wirken kann.29 Wie ambivalent die Verengung des Blickwinkels ist, mögen zwei Beispiele zeigen. Ein großer Konzern, der hier namentlich nicht genannt werden soll, hatte seit vielen Jahren Gewinne erzielt. In jedem Jahr hatten die größeren Teiles des Konzerns ebenfalls Gewinn erzielt, ein kleinerer jedoch noch mehr. Ein neuer Manager trat an, den Gewinn des Konzerns zu maximieren. Der Vorstand hatte sich dem Ziel der Effizienz verschrieben und stellte ihn ein. Verträge wurden unterschrieben, er ging an sein Werk. Wie erfüllte er sein Versprechen? Er verkaufte den lukrativsten Teil des Unternehmens für viel Geld, den, der die größten Gewinne erzielte. In der Folge war der Gewinn des Restkonzerns für kurze Zeit maximal, der Manager strich seine
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Vgl. René Descartes, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Leiden 1637, Kap. IV (3. Klarheit und Deutlichkeit). „Der moderne Mensch kann es nicht ausstehen, dass er auf etwas angewiesen ist, das er nicht selbst gemacht hat.“ Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen. Frankfurt/Main 2017, S. 121. 41
gewaltige Prämie und sein enormes Jahresgehalt ein (einige Jahre später hingegen wurde er gegen eine hohe Abfindung entlassen). Die Mitarbeiter des filetierten Teilstücks wurden entlassen, denn der Käufer hatte eigene Angestellte, die die Posten erhalten sollten. Sie erhielten ebenfalls eine Abfindung, wurden aber arbeitslos. Da sie ihren Job über Jahre hinweg gut gemacht hatten, erhielten sie noch das Angebot, sie dürften die Mitarbeiter einarbeiten und ausbilden, die sie anschließend ersetzen würden. Das lehnten sie verständlicherweise ab. Die Qualität des neuen Teilunternehmens sank. Im Endeffekt führte die enggeführte Effizienzsteigerung zu einer geringeren Qualität und langfristigen Verlusten. Das andere Beispiel: Ein Fotograf setzt sich zum Ziel, auf jeder seiner Reisen einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit zu fotografieren, einmal Gräser, dann Wolkenformationen. Er wird diesen Teil der Wirklichkeit wesentlich genauer wahrnehmen, ebenso wie Wissenschaftler im Segment, das sie erforschen, nur deshalb zu Erfolgen kommen, weil sie ihren Blickwinkel hierauf verengen. Die Kritik an der Engführung des Blickwinkels der Moderne ist geboten, weil die Moderne, wie oben gesagt, ihr Selbstverständnis darauf aufbaut, ihren vorigen Epochen überlegen zu sein. Dennoch ist der Gegensatz zwischen ‚der Moderne‘ und ‚der traditionsorientierten Lebensform‘ ein Scheingegensatz, der zwar einen zutreffenden Kern enthält, den es aber zu erweitern gilt. Der Gegensatz wird oft als Gegensatz zwischen einer freien und unfreien Welt und zwischen einer offenen und geschlossenen Gesellschaft pointiert. Eine schiefe Konfrontation wäre außerdem die Verknüpfung von Tradition mit ‚kollektiven Identitäten‘ und der Moderne mit ‚unverwechselbarer individueller Identität‘ (die als Auszeichnung, geradezu als Lob für jeden Menschen daherkommt, insofern er so verschieden von ‚den anderen‘ sei). Mit einer schlichten und schiefen Konfrontation zweier (Welt)Fenster ist angesichts der Einwände gegen beide Positionen jedoch nichts gewonnen, das wäre angesichts einer gegenwärtigen höchst ungewissen und bedrohlichen Weltlage höchst unbefriedigend. Und die Gegensätze verschwimmen: Die mit der Universalisierung verbundene Globalisierung wird von manchen als „Imperialismus des Universellen“ (Volker Steinkamp) verstanden und als Missachtung, wenn nicht gar Unterdrückung des begrenzten Heimatlich-Vertrauten, weil die individuelle ‚Identität‘ sich rechtfertigen müsse angesichts des (angeblich) zu eng gewählten Fensters. Wenn wir pointieren und eine Orientierung an Tradition einer Orientierung am Individuum gegenüberstellen, so verkürzen wir also. Wir tun das, um ein Schein42
dilemma unserer Zeit aufzugreifen. Und wir tun das, um die Gefahren solcher Orientierungen aufzuzeigen, die durch diese Aneignung der Verkürzung entstehen. Orientierung am Individuum kann nämlich, wie gesagt, heißen, sich an der sozialen Tradition zu orientieren, in der die Idee der politischen Freiheit und der Achtung von Menschenrechten zentral ist. Das ist die eine Ausrichtung der Moderne. Und es kann heißen, die Idee individueller Selbstbestimmung in den Fokus zu rücken. Orientierung an Tradition ist in analoger Weise doppeldeutig: Es kann heißen, sich von der Gemeinschaft und von Vorgängern anregen und inspirieren zu lassen, gerade dann, wenn Traditionen mehrdeutig und komplex sind, und es kann heißen, dass fixe Vorgaben ein freies Leben von Menschen behindern, weil eine Gemeinschaft ein festes Ideal der Lebensführung vorzeichnet, das den einzelnen keine Möglichkeit lässt, sich dazu ins Verhältnis zu setzen. In einer Tradition eingebettet zu sein ist aber mit dem Gedanken politischer Freiheit sehr wohl verträglich, ebenso wie es für sogenannte Individuen zur fest vorgegebenen Tradition werden kann, immer über alles bestimmen zu wollen und nichts außer sich selbst als etwas Eigenes kennen zu wollen. Können Tugenden die Differenz zwischen universaler Globalisierung mit ihrem weltumgreifenden Anspruch und partikularen Traditionen in lebbarer, aber immer prekärer Weise überbrücken? Können Tugenden sowohl einem forcierten (narzisstischen?) Individualisierungsanspruch als auch einem Globalisierungsanspruch Grenzen setzen, indem sie einen spannungsreichen Raum der Entfaltung eröffnen? Anhand zentraler Tugenden prüfen wir in diesem Buch, inwieweit ein Leben gemäß dieser Tugenden und ein Leben in Verhältnissen einen Ausweg aus dem Gegensatz zwischen individualistischer Selbstbestimmung und Orientierung an einer fixen Tradition darstellen. Lediglich ein Unterschied wird bleiben: Der in Traditionen (in ihm sein Leben erklärenden Mythen) lebende Mensch ‚weiß‘ oder ‚geht davon aus‘, dass er sich, ob verängstigt oder vertrauensvoll, in eine unbefragte Erzählung einpassen darf. Dieses von der Überlieferung bereitgestellte Vertrauensverhältnis hat der auf sich selbst gestellte Moderne nicht. Er kann bei Leiden nur auf das Schicksal oder sich selbst verweisen. Der mythische Mensch ist nicht sich selbst überlassen, sondern – wie der Moderne – in Undurchschautes eingelassen. In dieses begibt er sich jedoch stärker hinein als ein moderner Mensch. Tugend kann der Versuch sein, in prekärer Mitte sein Leben zu gestalten, sie kann auch ein erfülltes Leben in Gemeinschaft ermöglichen und sogar ein demutsvolles Vertrauen in das Ganze 43
der Wirklichkeit selbst angesichts des Todes begünstigen; sie kann jedoch kein Maß für Sicherheit bieten, das aus einer mythischen Unbefragtheit eines narrativen Kosmos entsteht. Tugenden im Sinne der Ausgestaltung menschlicher Lebensverhältnisse begünstigen allerdings ein gelungenes, wahrnehmungsreiches Leben. Berücksichtige ich nämlich die Verhältnisse, in denen ich lebe, so bin ich in ihnen aktiver Part, und ich weiß mich verdankt: Ich bin entstanden aus vorgefundenen Verhältnissen, die ich mit geformt habe. Weiß ich mich als verdankt, kann ich meine Umgebung als eine Art Geschenk ansehen. Sie ist mir gegenüber eigensinnig, und ich kann ihren Eigensinn wahrnehmen; dabei nehme ich wahr, wie unbestimmt sie ist. Mein Leben vollzieht sich in mir nur zum Teil bekannten Verhältnissen, die unabhängig von mir sind, die mich aber inspirieren, mich ausmachen und mich prägen; ich kann und sollte versuchen, ihnen und den an mich gestellten Ansprüchen gerecht zu werden. Diese Ansprüche erwachsen aus meiner Wahrnehmung der Verhältnisse, in denen ich lebe – aus ihrer Würdigung. Das heißt, ich kann versuchen herauszufinden, wie ich mich in dieses Verhältnis einbringen kann und sollte: was ich meinem Partner, meiner Heimat, meinen Eltern, dem Wald, in dessen Nähe ich wohne, schulde, und was ich meiner Freundschaft oder dem Staat schulde. (Und mich selbst, die andere Seite des Verhältnisses, kenne ich ebenfalls nicht.) Wenn ich mich frage, was ich jemandem schulde, nehme ich ihn in den Blick und verbinde mich mit ihm solidarisch, ohne mich mit ihm als eine Einheit zu denken. Den Gedanken aufnehmend, dass nicht alles, was wir wahrnehmen, nur durch unseren fokussierten Blick auf etwas Bestimmtes fest-gestellt ist: Ich kann auch fragen, ob es angemessen ist zu sagen, dass ich meiner Umgebung etwas schulde, wenn ich dem Unbestimmten ‚Rechnung zolle‘. Denn alle Verhältnisse, in denen ich verwoben bin, kenne ich nicht ganz, und wenn ich Kriterien aufstellen würde, denen gemäß mein Leben in meiner Umgebung verlaufen sollte, dann würde ich meine Vorstellung von den Verhältnissen als neues Maßband etablieren, und ich würde wiederum, ganz modern, das Maß dafür, wie in meiner Umgebung gelebt und gehandelt werden soll, aus mir zu schöpfen versuchen. Wer hingegen wie bei einem Alabasterfenster weiß, dass das, was er sieht, nicht genau das Wirkliche ‚abbildet‘, der bekennt sich zu seinem Nichtwissen, und der wird möglicherweise behutsamer mit seiner Umgebung umgehen. Wahre ich Verhältnismäßigkeit, nehme ich anderes ernst, in dem ich mein Verhältnis zu ihm wahrnehme. Und indem ich anderes wahrnehme, kann ich ver44
suchen herauszufinden, was ich anderen schulde. Das ist die Ausgangshypothese dieses Buchs: Welche Art von Verhältnismäßigkeit entsteht, wenn jemand wahrnimmt, er befindet sich mit sich selbst, mit anderen, mit der Natur und einem unbestimmten Ganzen der Wirklichkeit in einem Verhältnis? Wie prägt dieser Gedanke sein Leben, seine Wahrnehmung und sein Gefühl, und wie prägt es das, was er wahrnimmt, anderen zu schulden? Gibt es Tugenden, die Menschen auszeichnen, die davon ausgehen, im Verhältnis mit anderen zu leben? Bescheidenheit, Treue, die Wahrung von Formen des Zusammenlebens, die Berücksichtigung anderer Perspektiven? Entstehen unauflösliche Spannungsfelder, denen ein Mensch ausgesetzt ist, der solche Verhältnisse wahrnimmt? Und existieren Möglichkeiten, diese Spannungen in ‚würdevoller Lebendigkeit‘ auszupendeln, weil feste Prinzipien zu ihrer Vermeidung nicht erstrebenswert scheinen? Welches sind diese Spannungen, wie kann jemand zwischen Vertrauen und Kontrolle, staunender Warmherzigkeit und begrifflicher Erkenntnis, zwischen Form und Unbestimmtheit, in Nähe und Ferne leben? Ist das Auspendeln solcher Spannungsverhältnisse eine Möglichkeit, zwischen selbstbestimmter Orientierung am Individuum und neuem Kollektivismus urteilen zu können, ohne diese als Scheingegensätze im Raum stehen zu lassen? Verhältnismäßigkeit, Maß und Mitte wahren, heißt dabei, auf ein festes Maßband zu verzichten, je neu zu messen, ohne so vermessen zu sein, Maßbänder willkürlich modifizieren zu wollen. Maßgebend ist das Verhältnis selbst. Ein festes Maßband kann – und wird – es dafür nicht geben, da es etwas fix setzen und regeln würde, das jedem in Teilen entzogen ist. Zur Wahrung von Mitte und Maß sind Wahrnehmung, Gespräch und die Berücksichtigung von Perspektiven maßgebend. ‚Würdevolle Lebendigkeit‘ erweist sich darin, dass es kein konstantes Prinzip gibt, dem sich Beteiligte unterwerfen – sie sind dem Eigensinn der Menschen, der Dinge oder eben der Natur unterworfen –, sondern dass die Dinge einem Wandel unterworfen sind, der in der Beachtung von Perspektiven und von meiner Welt, in der ich lebe, entsteht und mich erweitern kann. Denn der Mensch, der Verhältnismäßigkeit wahrt, weiß sich von anderem her verdankt. Er weiß sich geboren aus einer Beziehung mit anderen, und er fühlt, dass er diesem Umstand eine Anerkennung schuldet. Das Symbol für Verhältnismäßigkeit ist die Waage, aber eine solche mit zwei Seiten, auf denen Maße liegen. Mit diesen begrifflichen Vorklärungen unserer zentralen Konzepte von Freiheit, Tugend, Verhältnissen, Verhältnismäßigkeit, würdevoller Lebendigkeit, Ver45
danktsein und Geschuldetem greifen wir vor. Das halten wir für nötig. Denn wer einen Orientierungsversuch mit einem derart weiten Überblick gewinnen will, sollte damit beginnen, seine Herangehensweise und seine leitenden Denkbegriffe auszuweisen, seine Voraussetzungen soweit wie möglich offenzulegen und sich seiner Grenzen zu vergewissern. Wir fragen, wie Menschen ihr Verhältnis (a) zu sich selbst, (b) untereinander, (c) zu Welt/Natur und (d) zum Ganzen, zum Umgreifenden gedacht haben und denken können. In alle diese Verhältnisse ist das Zeitverhältnis Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft eingewoben. Vor diesem Hintergrund kann die Leitfrage konkretisiert werden, denn wir fragen nach Verhältnissen, die den Weg in ein gelingendes, sich immer wandelndes Leben fördern. Um diese Herausforderung provozierend zuzuspitzen: Wie kann die Moderne, die auf Menschenrechte abgestimmt ist, ‚gerettet werden‘? Das kann realisiert werden, indem die auf individueller Selbstbestimmung aufgepflanzte Moderne kritisiert wird und ihr ein Verständnis menschlichen Zusammenlebens in Tugenden und ein dementsprechendes menschliches gemeinschaftliches Menschen‚bild‘ entgegengesetzt wird. Dieses besteht darin, dass kein festes Menschenbild zugrundeliegt, aber dass Menschen sich in Gemeinschaft ‚bilden‘ und formen. Anders formuliert: Welches im menschlichen Leben sind die Tugenden, die uns erlauben, in einer Welt zu leben, der wir ihren Eigensinn belassen und in der wir soziale Verantwortung übernehmen können?30 Wie gehen wir in den folgenden Kapiteln vor, um das skizzierte Problemfeld zu untersuchen? Im Mittelpunkt des Buchs, in den Kapiteln 2 bis 8, liegt die Entwicklung der sieben Tugenden – der Bescheidenheit, der Treue, des Takts, der Mehrperspektivität, des Vertrauens, des Staunens und des solidarischen Umgangs mit Fremden. Diese Tugenden verweisen auf die Fähigkeiten von Menschen, gut mit anderen Menschen und der Natur zusammenzuleben, nämlich mit Wahrnehmung, in Verbundenheit, in der Beachtung komplexer Situationen, mit Offenheit und Dankbarkeit für das, was existiert, in der Achtung des Eigensinns von Mitmenschen und in der Öffnung für Personen, denen man nicht nahesteht. Pro Kapitel nennen wir kurz das gesellschaftliche Problemfeld, in dem es wichtig ist, dass
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Vgl. E. Rosenstock-Huessy, Des Christen Zukunft oder: Wir überholen die Moderne. München Kaiser 1955. Gegebenenfalls gilt es auch, sie vor sich selber zu schützen, vor ihren als absolut gesetzten Voraussetzungen wie der Annahme, alle Verhältnisse der Gestaltung des Lebens seien aus selbstbestimmten Prinzipien heraus zu bestimmen. 46
wir uns heutzutage mit dieser Tugend auseinandersetzen. Wir stellen dar, was auf dem Spiel steht, wenn die jeweilige Tugend fehlt oder ausgeprägt vorliegt, nämlich inwiefern (in unterschiedlicher Akzentuierung) solidarische Gemeinschaften, Umgang mit Komplexität und mit Eigensinn, also wohlverstandene Freiheit, begünstigt werden. Wir nehmen pro Tugend ein Sprichwort und in die in ihm enthaltene Lebensweisheit zum Anlass, darüber nachzudenken, wie Menschen im gelingenden Verhältnis zu Mitmenschen, zu sich, zur Umwelt und im Ganzen der Welt leben können. Auf dieser Grundlage skizzieren wir, inwiefern ein selbstbestimmter Mensch und ein traditionsorientierter Mensch diese Tugend missachten. Die Darstellung dieses Gegensatzes an Beispielen zeigt die misslichen Folgen für das Leben und Zusammenleben auf, und sie lässt den dritten Weg sichtbar werden, für den wir argumentieren. Durch diesen gleichzeitig an zentralen Begriffen wie an exemplarischen Lebenssituationen orientierten Schreibstil wollen wir Lesende in eine Denkbewegung hineinführen, die sich ausgehend von den beiden Varianten Selbstbestimmung und fixe Tradition konkret entfaltet. Gewissermaßen schwebt uns vor, Lesende mit in eine Entwicklung hineinzuziehen, die den Übergang von aktuell vorherrschenden Menschenbildern zum Selbstverständnis bereitet, das wir im Sinn haben. Den Denkweg mit zu beschreiben, scheint uns an dieser Stelle ansprechender und sinnvoller, als lediglich die Ergebnisse des Denkens zu schildern. Alle Kapitel in der Mitte des Buchs, d. h. die Kapitel 2 bis 8, enthalten Zusammenfassungen und gegen Ende Zuspitzungen hinsichtlich des menschlichen Selbstverständnisses. In den Kapiteln 9 bis 11 fassen wir unseren Denkansatz hinsichtlich des Freiheitsverständnisses und der Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen zusammen.
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2 Bescheidenheit und Wahrnehmung Bescheidenheit ist eine Zier, weiter kommt man ohne ihr
Was steht auf dem Spiel, wenn wir über Bescheidenheit nachdenken? Diese Tugend kann heute auf den ersten Blick altbacken anmuten. Die Frage ist jedoch, wie westliche Gesellschaften zu einer Einstellung finden können, die gegenüber der Natur von Demut und gegenüber Mitmenschen von Unterstützung und Mitgefühl gekennzeichnet ist. Denn wer nur seine eigenen Absichten durchsetzen will, ignoriert anderes, er nimmt es nicht einmal als etwas Eigensinniges wahr. Allen Menschen stellt sich die Lebensaufgabe, wie sie mit den sich ihnen darbietenden Möglichkeiten der Welterschließung oder -eröffnung umgehen. Wir denken dabei über den unterschiedlich großen Spielraum nach, den sie der Natur, ihren Mitmenschen und sich selber gegenüber einräumen wollen. Alle Menschen haben wohl ausgeprägte Bedürfnisse, etwas ‚haben zu wollen‘, und sie haben ein Grundgefühl der Empathie mit anderen Menschen. Bescheidenheit gründet dementsprechend auf einer kulturell vermittelten Erziehungsleistung. Die lebensweltliche Kontroverse, die hier auf dem Spiel steht, ist diese: Soll ich – fragen sich Menschen – mich in meinem Leben selbst zu verwirklichen suchen, oder soll ich mich von anderen daran hindern lassen, meine Bedürfnisse zu erfüllen? Oder soll ich mich strategisch bescheiden zeigen, ohne es zu sein? Der Aufforderung Sei ein (bisschen) bescheidener begegnen Kinder bei vielerlei Gelegenheiten: nicht das eigentlich begehrte große Stück Kuchen nehmen, sich nicht vordrängeln, besser etwas abgeben, verzichten und anderen den Vortritt lassen. Kinder erfahren auf diese Weise, dass zwischen Sein und Schein unterschieden werden muss, will man sich in der Gesellschaft bewegen. Dem Kind, das eigentlich gerade vorhat, sich das größte Stück vom Kuchen zu nehmen, kann der bescheidene Verzicht zunächst als Verstellung erscheinen, die die Erwachsenen von ihm erwarten. 48
Der mit ironischem Unterton gesprochene Halbsatz Bescheidenheit ist eine Zier … kann allerdings auch entlarvenden Charakter haben und gegenüber jemandem geäußert und ‚eingesetzt‘ werden, der sich geradezu demonstrativ ‚bescheiden‘ verhält. Wer sich nur den Anstrich der Bescheidenheit gibt, wer sie als Zier zur Schau stellt, versucht, auf konventionell passendere Art zu Vorteilen zu gelangen. Der Spruch ist schon deshalb ironisch, weil er um des Reimes willen – ohne ‚ihr‘ – grammatisch ‚verbiegt‘: verbogen leben, Bescheidenheit als künstliche Zier zur Schau stellen, erscheint gut, schelmisch oder hinterlistig. Der Spruch, stellt man ihn sich gesprochen vor, erscheint wie eine Aufforderung, die nur mit einem Augenzwinkern vorgetragen werden kann. Wem klar wird, dass Bescheidenheit eine äußerliche Manier sein mag, der kann zu zwei gegensätzlichen Schlussfolgerungen gelangen. Bescheidenheit, das drückt der Spruch einerseits aus, muss glaubwürdig sein. Folgt man dem Spruch, kann er auch an sich selbst gerichtet werden: Wer sich erinnert, kann sich mit seinem eigenen Verhalten konfrontiert sehen und mag zwischen Scham und trotziger Selbstbehauptung schwanken. Scham, denn er muss erkennen ich habe mich verstellt, um andere zu täuschen, damit ich für mich Vorteile erreiche, und könnte ergänzen, so machen’s alle, ich will nicht immer der Verlierer sein. Die wider Erwarten erfahrene Scham wäre in diesem Falle der erste Schritt, problematisch empfundene Gier zu überwinden. Andererseits lässt sich auch das Gegenteil schlussfolgern. Das Sprichwort kann als Reaktion auf das Erlebnis ausgesprochen werden, ausgenutzt und enttäuscht worden zu sein. Man hätte eigene Wünsche und Interessen durchsetzen können, hat sich allerdings entschieden, jemand anderem den Vortritt zu lassen oder ihn zu unterstützen. Dieser aber oder eine Gruppe hat dieses Verhalten genutzt, um sich selbst Vorteile zu verschaffen; man ist übervorteilt worden, weil man sich bescheiden gegeben hat, obwohl man sehr gerne das größte Stück Kuchen genommen hätte. Man hat Bescheidenheit als Aufforderung verstanden, sich in jeder Situation konsequent zurückhaltend zu verhalten, dabei hat man die variablen Spielregeln des allgemeinen gesellschaftlichen Umgangs möglicherweise noch nicht hinreichend internalisiert. Im wahren Leben gilt es zwar, Bescheidenheit als Zier zur Schau zu stellen – wie ein Pfau, der auf seinen Federn die Aufschrift Ich bin bescheiden trägt –; kommt es einmal drauf an, gilt es allerdings, die Maske abzulegen und zu sehen, wie man selbst am weitesten kommt. Zier wäre dann eine die Mitmenschen gezielt täuschende Oberfläche, unter der man wissend etwas anderes verbirgt, und zwar die ‚wahren‘ eigenen Ziele; der Anschein tarnt das Sein. Es ist eine paradoxe Situation: 49
Um andere zu täuschen, verhält sich jemand den konventionellen (Erziehungs)Maximen entsprechend, damit er gerade in seinem Verhalten diese von vielen anderen akzeptierten Maximen unterlaufen kann. Auf der Gegenseite untergräbt das durchschaute Scheinverhalten (anderer) ebenfalls die bisher gelebten Konventionen und kann zu grundsätzlichen Zweifeln an bekannten Denk- und Lebensmustern führen. Man könnte aufgrund dieser vielen Erfahrungen in einer Spannweite von melancholisch bis zynisch die anthropologische Karte ziehen und sagen So ist der Mensch, das ist sein Wesen. Diese Verallgemeinerung wird dann aufschlussreich, wenn man sich verdeutlicht, selber ein Exemplar der Gattung Mensch zu sein. Ein erfahrungspralles und selbstkritisches Überdenken des Sprichworts könnte schließlich resignierend nahelegen, sein Leben nur noch nach strategischen Gesichtspunkten auszurichten, schließlich scheint für viele ungezügelter Kapitalismus alternativlos zu sein. Gibt es daraus einen Ausweg oder bleibt es dabei: Der Dümmere gibt nach und verzichtet; der Klügere dagegen ziert sich mit einer Maske aufgesetzter Moralvorstellungen? Geprüft werden könnte: Was sind meine ‚wahren‘ Ziele und Interessen, was kann das ‚wahre‘, das unverstellte Sein sein? Kann aus der Zurücknahme – die zunächst ja nur ein Fehlen von etwas ist, das Fehlen des schnellen Zugreifens, etwas Negatives, ein Hindernis, eine Hemmung, etwas, das ich nicht erreiche, weil ich mich bescheiden verhalte – etwas Positives entspringen? Bescheidenheit, als eine Praxis, in der wir etwas nicht tun, hat Gemeinsamkeiten mit anderen Tugenden und Verhaltensweisen. Mit Warten, Langeweile, Genügsamkeit, Großzügigkeit, Verzicht, Geduld und Takt. Sehen wir uns diese an. Wenn ich warte, erreiche ich keine Absichten; das stört. Warten ist nicht modern. Modern ist: feste Begriffe und Zwecke zu haben, nach ihnen urteilen und effizient handeln. Da zählt Wahrnehmung weniger, da hat man weniger Zeit. Während der Wartende etwas wahrnimmt und betrachtet, hat der selbstbestimmte Mensch bereits das Eisen geschmiedet, solange es heiß war; er hat nichts anbrennen lassen. Während der Wartezeit aber kann ich Dinge wahrnehmen, die mir sonst entgehen. Ich achte auf Dinge, ich gebe ihnen Raum und Zeit, gerade deshalb, weil mein Blick ziellos umherschweift. Die Fähigkeit, warten zu können, könnte, um eine Formulierung Immanuel Kants zu gebrauchen, ein „interesseloses Wohlgefallen“ an dem, was man sieht, zur Folge haben. Im Warten erweitere ich meine Weltwahrnehmung, ich kann auf mehr Dinge achten als sonst, denn ich stehe in einem breiteren Bezug zur Wirklichkeit. 50
Kinder mögen Langeweile nicht, sie sind zu schnell dafür, in ihrem Kopf ist zu vieles, das sie emsig verfolgen wollen. Und genauso weiß jeder: aus Situationen der Langeweile entstehen (auch in der Kindheit) die verrücktesten und überraschendsten Situationen, in denen Menschen eine geteilte Erfahrung machen und in der sie einander auf vielfältige neue Art wahrnehmen. Erfahrungen von Spontaneität und Gegenwart entstehen aus Langeweile. Plötzlich vergeht die zuvor unendlich gedehnte Zeit wie im Flug, ja, man geht in der unverhofft entstandenen Zeit auf. Auf alten Gräbern lässt sich noch die Inschrift finden: Sie (oder er) führte ein vergnügliches Leben. Vergnügen, beschäftigt man sich erst einmal mit diesem Wort und seiner etymologischen Bedeutung, meint dann aber eher Genügsamkeit. Ein vergnügliches Leben ist ein genügsames. Wieso soll aus Genügsamkeit, die wie Bescheidenheit als Eingrenzung der eigenen Wünsche verstanden werden kann, Vergnügen entstehen, von welcher Art soll dieses Vergnügen sein – wenn ich doch, im Bilde gesprochen, den Kuchen vor Augen habe? Es besteht darin, sich zu öffnen, wahrzunehmen, zuzuhören, zu lauschen, im geteilten Vergnügen, mit anderen zusammen etwas zu tun, in dem meine Wahrnehmung auf das Glück meiner Mitmenschen trifft. Wenn ich großzügig bin, kann ich verlieren: Geld, Arbeit, Freunde. Die anderen können genauer rechnen, weniger geben und mich ausnutzen. Aber großzügig zu sein ist auch weniger anstrengend: Ich muss keine Listen führen, wer gerade mehr Geld spendiert hat oder wer mehr für den anderen getan hat. Das kann man als großzügiger Mensch noch früh genug tun, wenn man merkt, die Freigiebigkeit ist nicht beiderseitig. Bis dahin aber etabliert man eine Art Zusammenleben, in dem Geben und Geben einander ergänzen. Großzügigkeit, wie Bescheidenheit, ist keine Einstellung einer rechnerischen Gleichheit. Großzügige Menschen rechnen nicht mit Vorteilen für sich und zielen nicht auf einen späteren Ausgleich. Vielmehr erkennen und bejahen sie individuelle Unterschiede und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, sie eröffnen eine soziale Situation. Großzügigkeit ist eine Einladung in eine Gemeinschaft. Wer verzichtet, erhält und behält nichts. Besitz aber bindet auch. Wenn ich verzichte, bin ich ungebunden; wer weiß, was ich mir alles auflade, wenn ich versuche, alles zu bekommen, was nur irgendwie möglich ist. Vermiete ich ein Haus, muss ich mich um die Reparaturen kümmern, besitze ich Geld, muss ich mich um die Zinsen sorgen, besitze ich Macht oder Verantwortung, muss ich meinen Einfluss- oder Sorgebereich pflegen. In Gesprächen mit Menschen, die vieles besitzen, lässt sich 51
immer wieder die Erfahrung machen, wie sehr sie diese Dinge einnehmen. Das ist kein Loblied wider Verantwortung oder Reichtum, aber es kann verdeutlichen, dass aus einem scheinbar Negativen ein Positives entspringt: Freiheit. Andere und sich wieder neu anzusehen, bedeutet zu staunen. Wer von der Abrechnung mit der Vergangenheit ablässt, kann Veränderungen an anderen (und an sich) sehen, er kann über alte und neue Formen des Verhaltens staunen und darüber, wo sich Formen erweitern oder wo jemand zunächst unbestimmt begegnet (natürlich aber kann sich die betreffende andere Person, der man innerlich verziehen hat, auch weiterhin in den gleichen Mustern verhalten und sie leben). Staunen in dem Sinne ist Abschied von Bemächtigung, anders als Verwunderung. Wer verwundert ist, hält an seiner ursprünglichen Idee fest – dass es eigentlich gerade anders sein müsste. Staunen ist ein Spiel zwischen Absichten, Begriffen und Wahrnehmungen, bei dem die Wahrnehmung eines Besonderen in den Blick gerät – ohne dass man das, was einem besonders erscheint, nur gerade so und treffsicher wirklich als es selbst sehen könnte (das wäre eine neue Form von Unbescheidenheit). Staunen, das aus Verzicht und Verzeihen erwächst, lässt sich so auch als ein Moment ansehen, der aus den Rastern der bisherigen Zeit- und Kausalfolgen herausfällt. Geduld meint: zunächst nur negativ eine Duldung des Status quo. Geduld kann jedoch zu einer Haltung werden, in der andere und die Umgebung akzeptiert werden, in der jemand, zuversichtlich abwartend, sich an den Entwicklungen, Handlungsfortschritten oder schlicht Handlungen eines anderen freut. Zusammenfassen lassen sich die Tugenden des Verzichts in der Art, taktvoll zu sein. Wer Takt übt, hält sich auch zurück, er schüttet sich mit seinen Empfindungen und Bedürfnissen nicht gleich in die Welt, sondern blickt auf sein Gegenüber. Bevor eine taktvolle Person etwas sagt, schaut sie hin, auch auf sich und ihre eigenen Empfindungen. Wer Takt hat, kennt seinen Bereich, sein ungefähres Verhältnisgefüge, er versucht nicht, alles zu sagen, zu bekommen oder zu sein. Er akzeptiert seinen und des anderen Standort in der Welt. Bescheidenheit so im Umkreis dieser anderen Handlungen und Tugenden betrachtet, gewinnt ein neues Verständnis, sie ist nicht nur ein Fehlen, sondern etwas Positives. Sie wird zu Be-scheidenheit, d. h. zum Weg zur Klarheit über das Eigene und zur Klarheit über den Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Man scheidet beides voneinander. Bescheidenheit, dem Wortsinn nach, besteht darin, das Be-schiedene anzuerkennen, ursprünglich das, was einem zugesprochen wurde, worüber man Be-scheid bekam. Ein bescheidener Mensch 52
hat (relative) Klarheit über Denk-, Bedürfnis- und Lebensmuster, und lässt sich gleichzeitig nicht von ihnen bestimmen – er wird so erst zu einem Ich. Wer bescheiden ist, steht Ideologien kritisch gegenüber, denn Ideologien sind der Versuch, ein Weltbild von allem zu haben, ein Ideologe glaubt zu wissen, während ein bescheidener Mensch sich zur Begrenztheit seines Wissens bekennt. Offenbar kann eine solche Begrenzung paradoxerweise eine Wahrnehmung ermöglichen, statt des bloß negativen Verzichts entsteht eine Öffnung für anderes. Bescheidenheit lässt das Ich, das Eigene entstehen, und nur, wer bescheiden ist, lebt in einer Welt – statt in seinen Absichten. Das Korrespondant zu Bescheidenheit ist Respekt. Wer bescheiden ist, ist dankbar. Er nimmt wahr, was er seiner Umgebung verdankt, und er nimmt wahr, was er hat. Die habitualisierte Tugend der Bescheidenheit setzt eine Abgrenzung von anderem und auch von Begierden voraus – auf diese Art setzt sie umgekehrt ein Ich, besser gesagt: das Eigene, ein Selbstverhältnis auch voraus. Bescheiden sein und Jemand-sein bedingen einander gegenseitig. Die Bescheidenheit, so verstanden, lässt. Dieses Lassen ist ein loslassendes Sich-frei-Machen, man fixiert weder sich selbst noch andere, man lässt beide in gewisser Weise im Unbestimmten, obwohl man beide betrachten kann. Bescheidenheit wird so unversehens zum Gegenteil einer bloßen Zierde im Sinne eines bloßen Scheins. Wer sich bescheiden Klarheit über den eigenen Stand verschafft, prägt einige Tugenden aus, die wir als Tugenden der Selbständigkeit auffassen können: seine Aufgaben wahrnehmen, nicht davon ausgehen, die Mitmenschen sollten die eigenen Angelegenheiten erledigen, nicht anderen als erstes die Schuld geben, wenn etwas nicht gelingt. Die Wahrnehmung, die aus Bescheidenheit folgt, erweitert auch den Blick auf die außermenschliche Umwelt. Wenn ich über einen zwitschernden Vogel staune, bemerke ich – und liegt dem zugrunde –: Ich weiß gar nicht viel über ihn; ich bescheide mich mit meinem Wissen. Und, mich im Ganzen der Welt bescheidend, erfahre ich sie als eine Fülle, ja, gegenüber dem Ganzen der Welt erfahre ich mich als demütig und unwissend, ich werde nie alles in der Welt oder die Welt als Ganze verstehen oder gar besitzen können. Wenn wir Bescheidenheit als Tugend des Lebens in Verhältnissen auszeichnen, dann lässt sich von da aus verstehen, was Bescheidenheit angesichts des Ganzen der Wirklichkeit ist. Das Ganze der Welt wird uns zwar nie offenbar, aber dennoch stellen wir uns in unseren Gedanken und unserer Lebensführung wie implizit auch immer zu einem Ganzen, indem wir uns fragen und mit anderen darüber reden, 53
was ‚das alles‘ soll, was ‚das Ganze‘ ist und was ‚der Sinn des Ganzen‘ ist. Indem wir erkennen, dass wir das Ganze nicht erkennen können und dennoch in einem Verhältnis zu ihm stehen, werden wir bescheiden. Bescheidenheit angesichts des Ganzen der Wirklichkeit ist Demut. Diese geht mit Ehrfurcht und Achtung vor einem Ganzen einher, das etwas unerreichbar Höheres und größer ist als wir. Wer sich bescheidet, weiß, dass es außerhalb seines Aktionsradius` noch mehr gibt. Damit ist für jemand Bescheidenen in gewisser Weise entstanden, was für ihn ein Anderes, ihm Entzogenes ist. Der Mensch begreift sich so als Teil eines Umfassenderen, Größeren.31 Damit hängt zusammen: Erst wer sich bescheidet, kann sich ansprechen lassen. Denn er meint nicht, alles erklären und auf alles Zugriff haben zu können. Wovon sich ansprechen lassen? Von Eigensinnigem. Von Komplexem, das man nicht im Griff hat. Von Unbestimmtem. Das ist erstaunlich, und es heißt auch, erst der Verzicht auf ein Weltbild macht frei dafür, sich von einem Ganzen ansprechen und umhüllen zu lassen. In sehr gewisser Weise ist ein naturwissenschaftliches Weltbild anmaßend und weltlos; statt einer Welt setzt es die Modellierung von Gegenständen. Umgekehrt kann ein methodisch aufgeklärtes naturwissenschaftliches Denken zu Bescheidenheit beitragen. Dazu sind drei Anmerkungen nötig, zum einen: Ein mythisches ‚Weltbild‘ mag zwar in Orientierungsabsicht entstehen und der Sehnsucht nach einem geordneten Ganzen entspringen, in dem man sich geborgen fühlt, aber die mythischen Kosmologien enthalten immer Geheimnisse, Leerstellen und solche Bilder, die eigentlich Fragmente sind und auf narrative Art Geborgenheit vermitteln. Zum anderen: Möglicherweise braucht es eine Phase, in der Menschen die Erfahrungen mit Unbestimmtem in eine Kosmologie gießen und diese dann kritisch befragen. Sonst bestünde die Gefahr, dass Menschen ihre Erfahrungen individuell und eingemeindend ausdeuten. Schließlich: Genau diesen Zusammenhang erklärt Jürgen Habermas 2019.32 Er zieht daraus allerdings in gewisser Weise entgegengesetzte 31
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Dieser Gedanke lässt sich christlich konfigurieren. Indem Jesus das Allerheiligste nicht als die Thora ansieht, sondern als den Himmel, zu dem er durch sich (statt durch das Blut von Ziegenlämmern) einen Horizont eröffnet, zieht er das Allerheiligste aus dem Verfügungsbereich von Menschen. Entzogen und zugleich wirklich. Die Welt als Ganze wird kein Weltbild und kann dadurch ganz bleiben. Vgl. Paulus Brief an die Hebräer 9:11; vgl. Harry Mulisch, De ontdekking van de hemel (1992, Amsterdam), dt.: Die Entdeckung des Himmels, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 671f. In: Auch eine Geschichte der Philosophie. Frankfurt/Main 2019, Bd. 1, S. 171f. 54
Schlussfolgerungen, da er in seiner Rekonstruktion keinen systematischen Platz für Unbestimmtes lässt. Was unbestimmt ist und in religiösen Orientierungen bedeutsam, dafür braucht der aufgeklärte Mensch laut Habermas eine Art sprachlicher Übersetzung, um zu prüfen, was davon im rationalen Sprachspiel mit argumentativen Gründen anerkennungsfähig sein kann. Offensichtlich rekonstruiert Habermas religiöse Einstellungen so, dass ihnen stets ein vergegenständlichter Bezug zum Ganzen der Welt innewohnt, das vom Innerweltlichen geschieden sei (S. 187–192), während „die“ Philosophie eine „intime“ Beziehung zum „Hintergrund der Lebenswelt“ unterhalte.33 Religionen beinhalten ihm zufolge sakrale Riten und enthalten unbegründbare Weltbilder bzw. Weltanschauungen; insofern Habermas sie ausgehend von säkularen Einstellungen aus und mit deren Mitteln rekonstruiert, betrachtet er sie letztlich ungewollt funktionalistisch. (S. 196) Er konstruiert dabei eine (u. E. unangemessene) Dichotomie zwischen religiösen und säkularen Einstellungen.34 Existenzielles den menschlichen Horizont Betreffendes betrachtet beispielsweise Platon mit Hilfe von Gleichnissen; dem kann Habermas nicht gerecht werden, er deutet es strategisch statt als eigensinnigen Blick auf Unbegriffliches. (S. 442f.) Jede begrifflich-vergegenständlichende Denkweise ist in ihrer Reichweite begrenzt, Habermas sieht diesen Punkt zwar und gelangt zur Schlussfolgerung, dass szientistische Einstellungen alles vergegenständlichen, auch unsere Alltagswelt, und dass in ihnen der Hintergrund unserer Lebenswelt objektivierend ausgeleuchtet wird. Er denkt auch, dass unser Bezug zur Welt im Ganzen auf solche Weise nicht verlustlos betrachtet werden kann.35 Aber Habermas räumt die Denkmöglichkeit nicht ein, dass Menschen von Unbestimmtem ‚wirklich‘ angesprochen werden können (vgl. Bd. 2, S. 806f.). Letztlich interessiert sich Habermas für religiöse Gehalte, insoweit ihnen eine universalistisch-egalitäre Rechts-Moral im Sinne der Diskursethik eingeschrieben ist. Diese brauchen Menschen, um dem „Sog zu einem transzendenzlosen Sein“36 nicht zu verfallen. Aber Habermas sucht eine „Transzendenz 33 34 35
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Ebd., S. 190. Anders allerdings: Ebd., S. 173, 225, mit Bezug auf Kunst: S. 244f. Ebd., S. 473. Ebenso Bd. 2, S. 172: „[E]ine aus dem subjektphilosophischen Ansatz entwickelte Metaphysik [lässt] keinen Platz für eine Ontologie der sozialen Beziehungen […] muss die intersubjektiv geteilte Welt interpersonaler Beziehungen auf Subjekt-Objekt-Beziehungen reduziert werden.“ Ebd., S. 807. 55
von innen“ (ebd.) Gemeinsam mit Habermas versuchen wir allerdings, das moralische Potential der Perspektiven der 1. und der 2. Person Singular sowie der 1. Person Plural auszuschöpfen. Diese Potentiale können als aus dem Hintergrund unserer Lebenswelt gewinnbare Tugenden rekonstruiert werden.37 Inwiefern Bescheidenheit dazu führen kann, sich vor dem Horizont eines Ganzen zu verstehen, und daraus wiederum folgen kann, die eigenen Annahmen und Glaubensgewissheiten zu erneuern, kann ein Beispiel zeigen. Eine Person denkt so-und-so über ein Elternteil, das ihr sehr viel bedeutet. Ihr Selbstbild ist verschränkt mit diesen Annahmen. Nun liegt der Angehörige im Sterben, Bilder und ehemalige Situationen erscheinen, die Person stellt sich den Sterbenden innerlich vor und begegnet ihm auch, beispielsweise im Krankenhaus. Nun die Pointe: Ohne es zu wissen und ohne diesen Gedanken selbst herzustellen, verändern sich in dieser Zeit die Vorstellungen und Bilder des Angehörigen, manches tritt deutlicher hervor, an dem man vorbeigegangen war, anderes tritt zurück. Vielleicht hatte man, indem man sich auf einzelne Aspekte der Person konzentrierte, diejenige immer anders gesehen, als sie war und ist, denn man steht im Leben immer auch fremd voreinander und distanziert sich, wahrt den Raum des anderen oder, trauriger, war in Dauerstreit verwickelt. Nun aber kann der bevorstehende Tod Bescheidenheit lehren, dieses Unbestimmte kann alle ihre Annahmen über den Sterbenden durchrütteln. Plötzlich sieht sie den Sterbenden mit seiner Mutter, als Jugendlichen, als hilfloses Kind, das sie in den Arm nimmt, als Atmenden, den sie im Leiden begleitet und vielleicht sogar beim Aushauchen seines Atems. Sie weiß nicht, wer diese Person ist, der sie verbunden ist, aber sie gewinnt einen neuen Blick in Unwissenheit. Und dieser neue Blick kann dazu führen, dass die trauernde Person sich selber anders ansieht, er kann ihre eigene Lebensorientierung durcheinanderrütteln. Plötzlich will sie aus dieser Verbundenheit und Unwissen-
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Vgl. Habermas, ebd., Bd. 2, S. 782 und 783f.: „Während das epistemische Potential der Einstellung der ersten Person Singular darin besteht, den Zugang zu subjektiven Erlebnissen zu bahnen, besteht das epistemische Potential der Einstellung der zweiten Person darin, dass sie die normative Geltung von moralisch konnotierten Verhaltenserwartungen erschließt. Normen gehören zum lebensweltlichen Hintergrund sozialer Interaktionen. […] dabei kann der zwanglose Zwang des besseren Arguments nur zum Zuge kommen, wenn die Beteiligten eine Wir-Perspektive einnehmen, aus der sie […] unparteilich beurteilen […] ‚Unparteilichkeit‘ des Urteils [wird] gerade nicht durch die vergegenständlichende Einstellung eines neutralen Beobachters gewährleistet“. 56
heit heraus andere Dinge tun, manche schwören dem Sterbenden etwas, manche sehen die Art, wie sie mit den Verbliebenen umgehen wollen, neu ausgerichtet. Das Nichtwissen, das sich in Bescheidenheit zeigt, kann wirksam werden, gerade wenn wir uns keinen Begriff von unseren Verhältnissen machen, aber uns ansprechen lassen von dem, was außerhalb von uns selbst liegt. Wenn jemand gestorben ist und wir dabei bescheiden werden, ist der Tod in dieser Weise – der Ansprache von Unbestimmtem – eine gute Gelegenheit, Liebe zu lernen. Die los- und freilässt, ohne die Verbindung aufzugeben. Die von Besitz und Gier löst statt von der Verbundenheit zu einer anderen Seele. Bescheidenheit in diesem Sinne kann zu Hingabe, Ergebenheit und zur Bereitschaft führen, für andere zu sorgen; darin liegt kein sklavischer Sinn, sondern Ausdruck einer Teilhabe, darin, sich in etwas Unergründlichem zu befinden, mit Erich Fromm die emotionale Haltung, durch deren Voraussetzung der Narzissmus überwunden wird.38 Interessanterweise wird Demut in diesem Sinne für Immanuel Kant in dessen Staatsphilosophie wichtig, da sie der Sinn des Menschen für das Gesetz im Vergleich zum Bewusstsein der Geringfähigkeit des eigenen moralischen Werts ist.39 Insofern ist gerade Demut Indikator der Würde des Menschen, nicht die Fähigkeit des Menschen zu seiner Selbstbestimmung.40 Eine derartige von moralischen Überzeugungen geprägte Bescheidenheit könnte man in Anlehnung an Thomas von Aquin als Kardinaltugend verstehen. Es ist zu unterscheiden zwischen bescheiden und devot. Zwar kann man jedem modernen Menschen nur empfehlen, eine Weile zu dienen. Der Mensch wird Geduld und Gelassenheit aufbringen, er wird Zeit haben und wahrnehmen, er wird Takt und Zurückhaltung darin üben, seine Auffassungen durchzubringen; er wird zu einem sanften Charakter, der es lernt, auf einen anderen zu reagieren, so wie es dessen Charakter entsprechend am verträglichsten ist.41 Es gibt aber eine vertikale 38 39
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Vgl. Erich Fromm, Die Kunst des Liebens (1956), Frankfurt/Main 2003, Kapitel 4. Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Werke in 6 Bänden (Hg.: Wilhelm Weischedel), Bd. IV. Darmstadt 1956, A94. Vgl. Artikel „Demut“. In: Martin Gessmann (Hg.), Philosophisches Wörterbuch. 23. Aufl. Kröner, Stuttgart 2009. Sanftmütige Charaktere fehlen in einer von Selbstbestimmung geprägten Welt. Wahrscheinlich könnte Sanftmütigkeit als zentrale Tugend profiliert werden, insofern sie Freiheit und Anteilnahme ausdrückt, das heißt die Wahrnehmung von Verhältnissen. Vgl. Ernst R. Hayschka: „Wer die Sanftmut als Schwäche ansieht, verkennt ihren Mut.“ 57
Bescheidenheit, die aus (etwas behauptender) Bescheidenheit erwächst. Vertikal weniger in Bezug auf Personen als gegenüber Konventionen, Traditionen oder Institutionen, denen man ‚bescheiden‘ oder resignierend folgen könnte oder gegen die man sich in Revolte oder Revolution auflehnte. Alexander der Große erstarrte nicht mutlos oder untertänig angesichts der überlieferten Erzählungen über den Gordischen Knoten, sondern zerschlug ihn. Luther lehnte sich gegen die Institution Katholische Kirche auf. Er überwand eine Form von devoter Bescheidenheit und konnte bescheiden und bestimmt sagen hier stehe, ich kann nicht anders. Er eröffnete herausfordernd den Blick auf neue Verhältnisse, sich bescheidend ordnete er sich zwischen demütiger Entschiedenheit und entschiedener Demut in ein neues Verhältnis zu Gott ein. Dementsprechend darf Bescheidenheit nicht mit Schicksalsergebenheit verwechselt werden. Wer seine Grenzen kennt, ist aufgerufen, sein Leben verantwortlich zu gestalten. Um das einsichtig zu finden, braucht man den Umgang mit der Coronakrise nur mit der Pest zu vergleichen. Wird eine Epidemie als Gottesgericht angesehen, wird zu (falsch verstandener) Demut aufgerufen, ohne dass nach Ursachen und medizinischer Abhilfe geforscht wird. Devot sein missversteht Bescheidenheit und deutet sie als Tugend der Selbstverkleinerung, um sich dann mit dem Schein zu verzieren, etwa im Sinne Nietzsches „Lukas 18,14 verbessert. – Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden.“42 In einem von Verhältnissen aufgespannten Feld ‚demütig – devot‘ kann man sich nicht selbst verorten, denn man kann sich selbst nicht als bescheiden bezeichnen. Eine Beurteilung dieser Verhältnisbeziehung steht (höchstens) anderen zu.43 Bescheidenheit als gelebte Tugend ist keine bloße Zier, sondern eine mühsam erarbeitete Haltung. Sie besteht darin, im Verhältnis zu anderen zu sein. Beim Weg zu Bescheidenheit wird man aufgefordert, den anderen, sich selbst, die Umwelt und das Ganze der Welt in den Blick zu nehmen, um dessen Eigensinn wahrzunehmen, ihm Raum zu geben und nicht nur die eigenen Wünsche und 42
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Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. Aphorismus 87. In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. G. Colli /M. Montinari, Bd. 2, München 1980, S. 87. Prägnanter: „Der gerechtfertigte Stolz geht mit tiefer Demut einher.“ Nicolás Gómes Dávila, Auf verlorenem Posten. Neue Scholien zu einem inbegriffenen Text. Wien 2006, S. 253. 58
Absichten durchsetzen wollen. Wer bescheiden ist, denkt und handelt nicht, um weiter zu kommen, sondern ihm geht es um die Art und Weise des gemeinsamen gelingenden Zusammenlebens. Offenheit und Vertrauen bestimmen Denken und Handeln – und gerade nicht ein unklarer Gedanke, wie man sich den eigenen Fortschritt vorstellen könnte. Nicht ein Fortschreiten-Wollen, ein Mehr-Haben-Wollen stehen im Zentrum, sondern die Vorstellung eines gelingenden Lebens. Im Kern geht es darum, wie Menschen sich in ihrem Verhältnisgewebe zur Gemeinschaft und Gesellschaft sowie zur Umwelt und im weitesten Sinne zur Natur deuten und wie sie dies in ihrem Denken und Handeln umsetzen. Bescheidenheit ist Bedingung der Möglichkeit menschlicher Nähe. Bescheidenheit grenzt sich entschieden von einem Selbstverständnis einer autarken, isolierten Selbstbezogenheit ab. Der Bescheidene weiß, dass forcierte Einzelhaftigkeit zu einer Weltentfremdung führt oder in ihr endet, da man keine autarke Existenz führen kann. Bescheidenheit ist an eine perspektivische Weltwahrnehmung gebunden; diese ist nicht zu überwinden und setzt daher Grenzen, wenn auch verschiebbare. Je mehr es gelingt, sich seiner Perspektivgebundenheit bewusst zu werden, je offener wird man für Menschen, Dinge und Natur. In der selbstbestimmt-modernen Welt sind die Gegenspieler hingegen klassisch: Macht und Ohnmacht. Der selbstbestimmte Mensch sieht darauf, wo Hindernisse seiner Machtentfaltung entgegenstehen, daher quälen ihn eher Angst und Wut als verpasste Wahrnehmungen, Schuldgefühle oder das Gefühl für eine tragische Situation. Bescheiden-Sein könnte ein Lern- und Bildungsprozess sein, über Leben, genauer über gelingendes Leben nachzudenken. Bescheiden-Werden und Bescheiden-Sein wären zu verstehen als ein Weg der Perspektivenerweiterung, beginnend mit der schrittweisen Emanzipation von einer Zentralperspektive. Dies kann gelingen, wenn man seine eigene Perspektive anerkennt, aber nicht grundsätzlich auf der Durchsetzung der eigenen Perspektive besteht, sondern vielmehr bereit ist, diese in Frage zu stellen. Es lohnt, von hier aus auf den Begriff des Ichs einzugehen, und zwar auf seine Form. Eine Perspektive zu haben und zu betrachten, so haben wir eben formuliert, setzt voraus, andere Perspektiven wahrzunehmen, und umgekehrt. Ein solches Verständnis der Perspektive des Ichs, in der sich anderes eröffnet, ist gänzlich unterschieden von dem, was heute als Authentizität verstanden wird. Nur wenn man das Individuum, das Ich als so ‚roh‘, so ungeformt auffasst, dass es gewissermaßen einem Container an Gedanken, Bedürfnissen und Bestrebungen entspricht, entsteht ein 59
Gegensatz zwischen Schein und Sein.44 Denn nur dann muss sich dieses Container-Ich verstellen, wenn seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Die Form des Verhaltens, sei sie bescheiden, aufschiebend, strategisch oder anders, kommt diesem Ich dann äußerlich hinzu, wie eine Zier, wie etwas Künstliches. Wenn das Ich aber als eine Gestalt gedacht wird, in der jemand mit seiner Form spielen kann und sie im Unbestimmten lassen kann, wenn er also nicht glaubt, sie endgültig zu kennen, dann kann der Einfluss, den andere auf dieses Ich haben, zu etwas Nicht-Äußerlichem werden. Im Begriff des Ichs sind dann die Selbstverhältnisse, aber auch die Verhältnisse zu anderen Menschen enthalten, und der Mensch kann nur ein Ich haben, wenn es geformt ist; die Zier, so wie Kleidung und Kultur, gehören dann zum Ich hinzu, erst und auch sie konstituieren das Ich. Nur für das moderne, Authentizität suchende Selbstverständnis existiert ein Gegensatz zwischen dem, wie man ‚sei‘ und dem, wie man sich in Gesellschaft ‚gibt/gäbe‘. In einer solchen Unterscheidung von ‚Sein‘ und ‚Schein‘ wird der Mensch als von der Gesellschaft losgelöste Monade angesehen. In Wirklichkeit jedoch formt jede Umgebung, jeder wird nur durch andere zum Menschen. Daher kann Bescheidenheit in der Tat als Zier gedacht werden, so wie wir oben rekonstruiert haben, aber damit ist keine Verstellung oder Strategie gemeint, sondern Schmuck im Sinne einer Kunst oder Tauglichkeit, die Inneres des Menschen erzeugt. Bescheidenheit erzeugt eine innere Schönheit eines Menschen, der erst durch sie entsteht, sie ziert ihn, d. h. sie macht seine Anmut aus. Bescheidenheit ist keine feststehende Charaktereigenschaft, sondern eher als (erlernbare) Disposition anzusehen. Eine Disposition ist, so wird es in der Antike gedeutet, eine Ordnung von Seelenteilen – und insofern eine Verfasstheit eines Menschen, der sich zu sich selbst ins Verhältnis setzen kann (etwa so, wie man sich die Seele als Form des Leibs vorstellen kann). Wer über eine Disposition verfügt, hat – durch Möglichkeiten der Ordnung, mit denen er disponieren kann – etwas zur freien Verwendung, beispielsweise seine Bedürfnisse, denen er nicht zum Opfer fallen muss. Eine Dis-Position unterscheidet sich von einer festen Position. Der Mensch, können wir folgern, hat keine feste Substanz (im Sinne einer Position), er ist eher wie eine Kraft zu denken.45 In einem solchen Sinn wäre jeder Egomane und selbst jeder Mörder, der unverhüllt tut, was ‚in ihm steckt‘, authentisch. 45 Vgl. J. PONGRATZ [Historisches Wörterbuch der Philosophie: Disposition. HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 4356 (vgl. HWPh Bd. 2, S. 262ff.)]. 44
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Im Sinne einer Disposition können wir mit Martin Seel in einer ersten Annäherung beschreiben, was Tugenden sind: „Tugenden wie Laster sind (…) als menschliche Dispositionen zu verstehen, sich in jeweiligen Situationen auf eine bestimmte – eher gute oder schlechte – Weise zu verhalten. Sie stellen eine habituelle Vorbereitung auf bekannte wie noch unbekannte Lebenslagen dar. […] Sie sind affektiv, kognitiv und volitiv konfigurierte Haltungen des Menschen, die ihn in seiner Lebensführung über längere Zeit hinweg prägen. […] Die Tugenden einer Person bedürfen einer lebenslangen Wartung. […] Wenn Tugenden eingeübte Fähigkeiten des angemessenen Agierens und Reagierens sind, so folgt, dass Laster ein habitualisiertes Defizit an Befähigung und Bereitschaft darstellen, das jeweils Richtige zu tun. […] Das Versagen, das darin liegt, beruht auf einem Mangel an Umsicht und Rücksicht, Mitgefühl und Sensibilität sowie an vielen weiteren Tugenden. […] Eine Person, die sich auf die eine oder andere Weise unmöglich benimmt, ist nicht nur unfähig, sondern auch unwillig, sich anständig zu verhalten. Umgekehrt sind mehr oder weniger vortreffliche Personen nicht nur fähig, sondern auch bereit, dem zu entsprechen, was sich unter Menschen gehört. Tugenden wie Laster sind spezifische Legierungen des Könnens und Wollens. Das macht ihre Eigenart aus.“46
Was zeichnet einen bescheidenen Menschen außer dem Gesagten aus? Bescheiden zu sein – das unterscheidet wie gesagt von devotem Verhalten –, bedeutet nicht, eigene Interessen außer Acht zu lassen. Zwei Gründe haben wir dafür rekonstruiert. Zum einen ist für Bescheidenheit eine gewisse Fähigkeit der Auseinandersetzung mit eigenen Bedürfnissen, aber keine Ignoranz der eigenen Interessen notwendig, zum anderen bedeutet Bescheidenheit zwar nicht, überbordende und andere außer Acht lassende Bedürfnisse durchzusetzen, aber das Eigene, Beschiedene, das, was zu einem gehört und was einen auszeichnet, auch behaupten zu können. Eigeninitiativen gehören zu Bescheidenheit im Sinne der Bescheidung 46
Vgl. Martin Seel, 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue. Frankfurt/ Main 2011, S. 238ff. 61
auf das Eigene; daher gehört zu Bescheidenheit, das Eigene zu behaupten. Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, sind nicht bescheiden; sie haben sich als Pol in einem Verhältnis nicht entwickelt. Vielmehr ist Bescheidenheit als Wahrnehmung anderer untrennbar mit Selbstwahrnehmung verbunden. Ein dritter Grund ist zentral: Bedürfnisse unterscheiden sich von Interessen. Jedes Bedürfnis greift auf einen individuellen Weltausschnitt zurück und gerät damit in Konflikt mit anderen, und jeder läuft Gefahr, andere gegebenenfalls zu verletzen. Indem der Handelnde weiß, dass er handelnd andere verletzt, muss er vielleicht nicht gewissenlos sein; er weiß aber, dass er Schuld auf sich lädt. Man muss nicht so weit gehen, einen Aggressionstrieb zu behaupten, aber dieses Schuldigwerden ist unaufhebbarer Teil menschlicher Existenz. Einige eigene Bedürfnisse sind unverhandelbar, ich muss auf ihnen bestehen, und daraus können sowohl Konflikte als auch tragische Situationen entstehen. Menschen müssen sich beispielsweise Nahrung sowie Unterkunft verschaffen. Man kann sich aber in Bezug auf seine Bedürfnisse nachhaltig irren, in der Sache und über sich selbst. Das Märchen Der Fischer und seine Frau veranschaulicht dies überzeugend. Legt die verselbständigte Gier alle Fesseln ab, dann wird sie maßstabslos und überschreitet alle Grenzen, denn ihr Ziel ist das Unbedingte. In diesem Sinne wünscht sich die Frau des Fischers konsequent: „ich will werden wie der liebe Gott.“ Sich zu dem Unbedingten in ein bestimmtes Verhältnis setzen zu wollen, sprengt alle Verhältnisse. Im Märchen endet diese Konfrontation im Alltäglichen, denn am Ende sitzt sie „schon wieder in der Fischerhütte.“ Indem die Frau des Fischers ihre Lebensverhältnisse ‚überspannt‘, irrt sie sich über ihre Lage. Interessen könnten sich von Bedürfnissen in zweierlei Hinsicht unterscheiden. Sie können als eher rational begriffen werden, Bedürfnisse enthalten keinen solchen Bezug zu Maßstäben oder anderen Menschen. Zwar sind nicht alle Interessen verallgemeinerungsfähig, aber man kann über ihre Berechtigung in ein Gespräch eintreten. Ein solches Gespräch etabliert bereits Bescheidenheit, weil über das Maß, das sich die Gesprächsteilnehmer für ihre Interessen vorgelegt haben, diskutiert und gestritten werden kann. Interessen enthalten außerdem mehr Antriebe als Bedürfnisse; ich kann ein Interesse an Gemeinschaft, an geteilten Vergnügungen, am Wohlergehen anderer, an Sport- oder Kulturveranstaltungen und beispielsweise am Aufbau einer pflanzlichen Zelle haben. Aufgrund dieser beiden Unterschiede liegt im Begriff des Interesses schon das Weltverhältnis, während 62
Bedürfnisse bloß die eigenen Antriebe betreffen. Inter-esse an etwas zu haben heißt, mit ihm in einen Austausch, in ein Verhältnis zu gehen. Wer bescheiden ist, besteht mehr aus Interessen als aus Bedürfnissen: Bescheiden zu sein heißt, Bedürfnisse einzuklammern und auf einige zu verzichten, gerade weil ich Interesse an der Welt habe. Daher macht es Sinn zu sagen, jemand verfehle in seiner Lebensführung, die auf Durchsetzung von Bedürfnissen gerichtet ist, seine Interessen.47 Von hier aus lässt sich fragen, was das „weiter“ im Spruch Bescheidenheit ist eine Zier, weiter kommt man ohne ihr bedeutet: Weiter wohin? Zur Durchsetzung eigener Machtaspirationen? Zu gutem Zusammenleben? Zu Glück im Umgang mit anderen? Indem wir Interessen von Bedürfnissen unterscheiden, können wir unsere eigene Rekonstruktion kritisieren, die im Grunde genommen darauf beruht, dass der Mensch sich zunächst – unbescheiden naiv – an seinen Bedürfnissen orientiert, um dann – gegebenenfalls – zu lernen, durch Auseinandersetzung mit sich und durch Weltoffenheit bescheiden zu werden und sich an Interessen zu orientieren. In dieser Rekonstruktion könnte eine Abfolge als natürlich fingiert sein, die in Wirklichkeit durch die Ökonomisierung unserer Welt bedingt oder übertrieben forciert ist. Der Kapitalismus ist in dieser Rekonstruktion zur Natur mutiert, Unbescheidenheit gilt in einer an ökonomischen Vorteilen orientierten Lebenssicht als anthropologisch-natürliche Konstante, die ‚alternativlos‘ scheint. Bescheidenheit, wohlverstanden, heißt, zufrieden mit einem Heim und Ort zu sein. Überhaupt entsteht durch Bescheidenheit ein Ort, an dem man sein Leben führen kann. Nur wer bescheiden ist, lebt an einem Ort in einer Welt. Das ergibt eine interessante Verknüpfung zum Staunen und zur Moderne. Denn wer die Welt unbescheiden mit seinen Begriffen überzieht, hat nur Weltbilder und staunt nicht. Das Gefühl, ein Ich (inmitten einer Welt) zu sein, entsteht in Bescheidenheit: in einer Welt zu sein, in der mir anderes gegenüber und bei mir steht. Ohne Beschei-
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Ein illustratives Beispiel dafür, wie jemand Interessen und Großzügigkeit statt Bedürfnissen in den Mittelpunkt rückt, findet sich in dem Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Glück von Jean Liedloff. (Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit. (1975) München 1980, S. 27ff. (Orig.: The continuum concept. In Search of Lost Happiness. London) Die Autorin, eine Ethnologin, erzählt von ihrer Begegnung mit dem Volk der Yequana in Venezuela, in der ein Indio ihr bei einem Tauschgeschäft immer mehr anbietet statt zu feilschen; er schenkt, weil ihn interessiert, sie möge begreifen, dass dies zu weit mehr geteiltem Glück beiträgt. 63
denheit entsteht ortloses Begriffs-Denken – weshalb das Staunen darüber, ‚ich‘ zu sein, oft auch aus dem Gegensatz zu dieser ortlosen Begriffsermächtigung entsteht, man taucht plötzlich aus dem unpersönlichen Denker- und Handelnsstatus auf, daher staunt man. Fassen wir zusammen: Bescheidenheit hat zwei Richtungen, nach innen und außen, sie ist begrenzend und behauptend. Sie ist eine Tugend im Verhältnis zu anderen, zu sich, zur Umwelt und zum Ganzen der Wirklichkeit. Wenn wir davon ausgehen, Verhältnisse gelingenden Lebens zeigen sich darin, dass die Verhältnisse grundlegend sind und die Pole – mich, Mitmenschen, die Umwelt – erst ergeben, dann ist Bescheidenheit eine zentrale Tugend: Erst aus ihr ergibt sich das Leben in einer Welt, erst aus ihr ergibt sich ein Verhältnis zu anderen, das durch Vertrauen, Großzügigkeit, Wahrnehmung, Interesse und Takt gekennzeichnet ist. In dieser Struktur: Was gehört zu Bescheidenheit? Ich weiß, ich kann mich nicht ausloten. Ich vertraue auf meine Stimmungen und Initiativen. Ich lasse anderen Raum zu ihrer Entfaltung, ich lasse ihnen ihren Eigensinn. Ich vertraue darauf, dass es jenseits meines Einfluss- und Erkenntnisbereichs anderes gibt; ich bekenne mich dazu, mich von diesem ‚Mehr‘ ansprechen zu lassen. Ich gehe in offene Gespräche. Ich bekämpfe Einstellungen, in denen jemand nur seine eigene Perspektive oder nur seine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen versucht. Wir wollen einordnen. Bescheidenheit können wir als Tugend auffassen, in der ein Mensch im Verhältnis mit anderen lebt und sie berücksichtigt. Erst aus Bescheidenheit erwächst die Fähigkeit, andere in ihrem Eigensinn wahrzunehmen und für sie da zu sein. Wir begreifen Bescheidenheit auch als Tugend im Selbstverhältnis des Menschen. So korrespondiert Bescheidenheit mit der antiken Tugend der Besonnenheit. Selbstbeherrschung ist ein Umgang mit den eigenen Antrieben, in dem diese nicht nur unterdrückt, sondern ebenso geformt werden. Bei Platon ist Besonnenheit die reflexive Fähigkeit zu unterscheiden, was man weiß und nicht weiß.48 Bescheidenheit und Besonnenheit eröffnen durch ein gewisses Selbstverhältnis ein Verhältnis zur Welt, das von Gelassenheit gekennzeichnet ist – ursprünglich ist Besonnenheit (sophrosyne) im Altgriechischen die Gesundheit des Zwerchfells, das als Sitz der Seele angesehen wurde. 48
Vgl. Platon, Charmides 171d. In: Otto Apelt (Hg.), Platon: Sämtliche Dialoge. Bd. 3, Hamburg 2004. 64
Was folgt aus unserer Untersuchung der Bescheidenheit für unser Verständnis von ‚Verhältnissen‘? Das Interesse an der Welt, in der ich lebe, stiftet das Verhältnis zu ihr, insofern sie wahrgenommen und berücksichtigt wird. Die Welt wird gewissermaßen in ihrem Eigenrecht oder Eigenmaß anerkannt, während das bloße Bedürfnis mich nur in einen instrumentellen oder feindlichen Bezug setzt und von der Welt abschottet – oder in eine naiv lustorientierte Verbindung mit anderen hineintreibt. Wer bescheiden ist, lebt in der Mitte zwischen sich und anderen (wobei er selbst sich auch zu einem anderen wird): Er kann andere sehen, ihren Eigensinn sehen und andere(s) als Maß nehmen. Was folgt aus der Erörterung der Bescheidenheit für unsere Bewertung der Moderne und einer traditionsorientierten Lebensführung? Das Maß im Selbst sehen ist Weltverlust, das Maß hingegen im Rahmen einer festgefahrenen sozialen Tradition im anderen sehen (oder nur in dem, was ‚die Gemeinschaft‘ will) ist Selbstverlust. In der ökonomisch ausgerichteten Moderne herrscht statt Bescheidenheit Gier, unter Umständen auch Zorn. Ein Glücksschmied ist nicht bescheiden. Bescheidenheit ist nicht verankert in denjenigen ‚Tugenden‘, die in einer kapitalistischen Welt verlangt sind. Selbstbestimmung steht Bescheidenheit diametral gegenüber, da Bescheidenheit die Anerkennung anderer als der eigenen Maßstäbe beinhaltet. Moral ist nutzlos, wenn sie nicht in den konkreten Bildern und Erwartungen dessen verankert ist, was als Erfolg und Glück gilt. Dann bleibt nur eine Doppelmoral angesichts der Ziele, die heimlich habgierig verfolgt werden, Moral wird zur Sonntagsrede, und die doppelte Moral entspricht der anfangs hier zitierten, die einen verlogenen Charakter erzeugt. Gib dich nach außen hin moralisch-bescheiden, in Wirklichkeit gelte dadurch etwas, dass du habgierig bist. Bescheidenheit ist eine Zier, weiter kommt man ohne ihr – könnte das zentrale Motto der auf Selbstbestimmung ausgerichteten Moderne sein, der Zeit der Blindheit gegenüber anderen, einer Blindheit, die gerade durch Fokussierung entsteht.49 In ihr werden zentrale Konzepte der Berücksichtigung anderer wie moralischer Respekt, Freundschaft, Treue und darauf basierend Vertrauen und Wahrhaftigkeit 49
In der modernen Welt ereignet sich parallel dazu ein Verlust von Bildern, die zunehmend durch menschliche Artefakte ersetzt werden – sogar ein Verlust an Erscheinungen, d. h. nicht nur dem, was außerhalb des Menschlichen eigensinnig gedacht werden kann, sondern dem, was ihm überhaupt noch begegnet. Vgl. Peter Handke, Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos. Frankfurt/Main 2002, S. 744. Vgl. Wolfram Hogrebe, Szenische Metaphysik. Frankfurt/Main 2019, S. 32f. 65
unterhöhlt. Wo nicht ignoriert oder doppelzüngig beteuert, kann höchstens noch eine strenge Moral entstehen, eine, die nicht in der positiven Besetzung der Wirklichkeit gegründet ist, eine, die kaum einer gerne erfüllt. Umgekehrt ist Bescheidenheit in einer modernen Welt gerade dort nötig – und entsteht dort –, wo freie Menschen versuchen, ihre Wirklichkeit gemeinsam und in mühsamen Aushandlungsprozessen zu gestalten. Wer bescheiden ist, ist auch frei, denn Bescheidenheit kann als gelassen sich öffnende Selbstbefreiung verstanden werden. Sie befreit aus selbst gezurrten Verhältnissen, und dann kann der Blick auf andere frei werden. Bescheidenheit hat sich in der sozialen Tradition herausgebildet, die durch die Forderung nach Menschenrechten entstanden ist. Wer die Rechte anderer achten soll, nimmt sie in den Blick. Wer die Sicherheit des Weltbildes einer festen Gemeinschaft verlassen hat, bescheidet sich mit seinem Nichtwissen und nimmt Menschen, die anders als er sind, genauer wahr. Auch das moderne wissenschaftliche Denken, sofern es sich nicht zu einem neuen Weltbild verfestigt, fördert Bescheidenheit. Denn ein moderner Wissenschaftler kann deshalb forschen und seine Vorurteile überprüfen, weil er davon ausgeht, kein endgültiges Wissen zu besitzen. Vielleicht gibt es sogar einen Zusammenhang zwischen Wohlstand und Bescheidenheit. Wer genug hat, kann es sich leisten, etwas abzugeben. Begünstigen Traditionen Bescheidenheit? Je nachdem welche Tradition herrscht, kann sie Bescheidenheit verhindern oder befördern. Wird das Eigene des Menschen im Rahmen einer Tradition als irrelevant erklärt, kann Bescheidenheit nur eine aufgesetzte Manier sein, der nichts Inneres entspricht. Insofern aber eine Tradition die Aufmerksamkeit des einzelnen auf die ihm vorgängigen anderen und auf Sitten richtet, kann sie Bescheidenheit begünstigen und das Gefühl des Menschen, in einer Gemeinschaft eingebunden zu sein. Eine Bescheidenheit, die nicht als Selbstzwang, sondern als Auseinandersetzung mit sich selbst und Wahrnehmung anderer verstanden wird, schränkt nicht ein. Vielmehr fördert sie ein Verständnis von Solidarität, insofern sie Freiräume ermöglicht. Der bescheidene Mensch ist frei im Umgang mit sich selbst, und er eröffnet der Freiheit zwischen Menschen den Raum. Bleibt eine Frage: Gilt Bescheidenheit gleichermaßen gegenüber nahestehenden Menschen wie gegenüber Fremden? Immerhin, das Verhältnis zu Fremden ist durch kein erprobtes Vertrauen geprägt. Vielleicht gelten dort eher die Beachtung von Gesetzen als der Verzicht, alles andere wäre dort vielleicht wirklich dumm (vgl. Kapitel 8). 66
3 Verbundenheit und Treue Denn was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden
Das scheint ein angestaubter Spruch zu sein. Was, bitteschön, soll Gott heutzutage zusammengefügt haben? Hat er, anstatt meiner, die Wahl getroffen, ich und eine andere Person sollten – für immer? – zusammenbleiben? Es ist doch, ich bitte darum, meine Entscheidung gewesen, mit wem ich zusammen bin! Ich konnte und kann jederzeit Ja oder Nein sagen. Oder Vielleicht. Wer von Treue redet, der könnte ein hoffnungslos veraltetes Wertesystem propagieren, das sich heute ebenso wie der Ruf nach Bescheidenheit als geradezu wilhelminisch konservativ ausnimmt. Wenn wir uns auf diese Art und Weise von Jesus’ Sprichwort aus der Bibel distanzieren, so möchten wir uns gleichzeitig nicht vorschnell mit denjenigen verbrüdern, die eine Partnerschaft als Lebensabschnittsgefährtenschaft ansehen. Da ist die Partnerschaft, wieder liegt es nahe, an unsere individualistische Moderne zu denken, direkte Folge meiner Selbstbestimmung und Entscheidung. Erst ich, dann die Zweisamkeit. Wenn wir danach fragen, ob Treue eine Tugend ist, steht auf dem Spiel, ob ich die Beziehungen zu anderen Menschen davon abhängig machen soll, wozu sie für mich gut sind, oder ob ich mich zwangsweise in die Gemeinschaft einfügen und mich ihr ohnmächtig ausliefern soll. Solidarität baut auf dem Gefühl der Verbundenheit auf. Wer sich anderen nur dann verbunden fühlt, wenn ihm diese Verbindung etwas nützt, wird sie auflösen, wenn ihm danach ist. Der wird nicht zur Solidarität fähig sein. Wer in Gemeinschaften lebt, weil er denkt, er dürfe oder könne sie nicht auflösen, wird sich quasi automatisch an den Regeln seiner Gruppe orientieren, das heißt, er wird nur dann solidarisch sein, wenn der andere so ist, „wie man sein sollte“, und er wird sich wahrscheinlich nicht eigenaktiv an Solidarität ausrichten. Wie sieht es mit den Wünschen moderner Menschen aus, auch derer, die ernüchtert ihre aktuelle ‚Beziehung‘ als eine Nähe auf Zeit und aus Übereinkunft 67
deklarieren – wünschen sie sich temporäre Liebesbeziehungen? Die Sehnsucht ist greifbar: Man möchte individuell leben und gleichzeitig jemanden zur Verfügung haben, der hundertprozentig zu einem passt, einen ergänzt, spiegelt und als einzigartig betrachtet. Ist das die letzte moderne Ideologie: die des Glaubens an die eine romantische Liebe? Die Ideologie der scheinbar Unideologischen? Ist das Ideal gar das Hindernis auf dem Weg zum Glück? Die Erwartung an Perfektion? An Verfügbarkeit? Droht mein Leben als ein Ganzes in Teile auseinanderzufallen, wenn ich zwischen Abschnittspartnerschaften wechsle, und muss ich mir dann mein Leben in einer Art Selbstlüge zurechtzimmern und mir sagen, es ist doch gleichwohl gelungen, schau mal, was ich alles erlebe? Wenn ich noch jung bin, scheint diese Strategie zu funktionieren, denn die Idee der einen großen haltbaren Liebe kann ich in die Zukunft verlagern: „später, da wird es anders“. Liegt der Sehnsucht ein Wunsch nach tieferer Nähe und Auseinandersetzung zugrunde, eine Hoffnung auf Selbstüberschreitung, will der moderne Mensch, genauer betrachtet, gar nicht so leben, wie er es praktiziert? Wenn ich beides will, Stabilität und dauerhafte Wahlmöglichkeit inklusive der Garantie des Ausstiegs, bietet sich ein Kompromiss an: Affären. Der andere muss es ja nicht merken. Habe ich Affären, so kann ich mir sagen, habe ich Nähe und Wahl (und Erlebnisse). Dass ich die Nähe mit dieser Strategie riskiere, das kann ich in den Ordner ‚Unwichtiges‘ verschieben. (Und stattdessen wird es mir leichtfallen, mir aufzusagen, um wieviel besser es für den Partner ist, wenn er von meinen Wünschen und Umtrieben nichts erfährt: Er ist zu schwach, zu labil, es interessiert ihn wahrscheinlich noch nicht einmal, er hat ja auch kaum Zeit für mich, er muss gerade viel arbeiten …) Man akzeptiert die Form und findet gleichzeitig einen Weg, nicht in ihr gefangen zu sein. Man hat beides. Nachteil: Man hat keins von beidem, das heißt, keine Person ganz und kein Vertrauen. Und man entwertet die Form der Beziehung, man höhlt sie aus. Man dünkt sich besser, geheimer, schlauer, attraktiver, und man wird verschlagen, man lügt, mindestens indem man die Wahrheit auslässt, man betrügt, baut ein Truggebilde um sich auf und vermeidet wahrhaftigen Kontakt (interessant, sich zu fragen, was Lust dann noch bedeuten kann). Man steht nicht aufrecht zur jeweils dritten Person, man vermeidet ein Verhältnis zu ihr, das auf Wahrheit und Offenherzigkeit aufgebaut ist. Und man erreicht sein Ziel nicht: Man inszeniert immer wieder Misstrauen und Isolation. Wenn jemand auf diese oder ähnliche Art seine Selbstbestimmung als Maßstab setzt, dann fehlt einiges, für ihn selbst und für seine Mitmenschen. Für den Part68
ner bricht in der Regel eine Welt zusammen, wenn er von dieser Strategie oder von den Vorbehalten des anderen erfährt. Diese Formulierung macht deutlich, dass die Partnerschaft nicht in einer gemeinsamen Wahrnehmung der Wirklichkeit verankert war, vielleicht sogar fehlt eben das: die Wahrnehmung für die Welt, mindestens für die des Partners. Weniger drastisch: Jeder von uns kennt Menschen, die immer alles in ihre Perspektive überführen wollen, das Zusammensein mit ihnen kann anstrengen. Sie versuchen nämlich, unsere eigenen Gedanken stets in ihre einzugemeinden. Man hat das Gefühl, wenig Kontakt zu ihnen zu haben. Menschen, die als Beobachter über die Beziehung zu mir urteilen, sehen, sagt meine Intuition, auf mich herab. Ich kann hier höchstens darauf vertrauen, dass ich den Maßstäben des Partners genüge, solange er mir nichts anderes sagt. Ich bin also in einer Art Assessmentcenter gelandet. Aber nicht einmal das ist gewiss, vielleicht ist es den Maßstäben meines Partners zufolge günstiger, mir gerade jetzt eine Weile nicht zu sagen, dass er mich demnächst verlassen wird. Vertrauen hingegen müsste Vertrauen auf Unbestimmtes sein, nicht kriteriologische Beurteilung. Worauf kann in einer Partnerschaft vertraut werden? Auf den anderen, darauf, dass ich mich anvertrauen darf, dass er sich mir anvertraut, auf die Verlässlichkeit unserer Zweisamkeit, auf ein vertrauensdurchtränktes Miteinander, auf meine Kraft, bei meinem Partner und für ihn da zu sein. Offenbar sind die Urteile, die ich in einer vertrauensvollen Partnerschaft bilde, anders als solche, die ich bilde, wenn ich über meinen Partner und seine Eignung für eine Partnerschaft mit mir nachdenke. Wer als Beobachter urteilt, ist einperspektivisch, auch wenn er zuvor möglicherweise Perspektiven gewogen hat. Eine Partnerschaft zu führen heißt aber, sich für eine andere Perspektive zu öffnen, man hat eine eigene, aber ein Interesse an der anderen, man urteilt – man betrachtet den anderen auch gegenständlich, beispielsweise fürsorglich-objektiv, wenn man einen Splitter entfernt, so wie ein Arzt, der sich um einen sorgt, einen als Objekt, als körperlichen Gegenstand betrachten muss –, aber als Teilnehmer in der unangezweifelten Gemeinsamkeit und nicht als Beobachter, der über diese urteilt. Im Verhältnis mit dem Partner wäge ich Perspektiven, ich wahre Takt und Verhältnismäßigkeit. Diese Art Urteilsvermögen setzt unsere Gemeinschaft voraus und meine Fähigkeit, mehrperspektivisch zu denken. Meine Urteile sehe ich zu einem Zeitpunkt als vorläufig und fragwürdig an, ich vertraue darauf, dass sich zeigen wird, was sie taugen. Ich urteile, wie Kant formuliert hat, nicht als logischer Egoist, nicht mono-
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perspektivisch.50 Möglicherweise liegt die Idee einer unverbrüchlichen Treue zu meinem Partner, wir können verallgemeinern, zu meinen Freunden und mir Nahestehenden, der Fähigkeit zugrunde, mich für andere zu öffnen und von ihnen anregen zu lassen. So scheint in einer modernen, auf Selbstbestimmung und Kriterien gegründeten Partnerschaft eines zu fehlen: Liebe. Sie ist die Fähigkeit, sich ansprechen zu lassen, sich verwandeln zu lassen und es zu wagen, sich ohne Vorbehalt in ein offenes Verhältnis zu jemandem zu begeben und sich von diesem Verhältnis aus zu begreifen. Da ich nicht über dieses Verhältnis verfüge, bedeutet das, mich von einem Unbestimmten bestimmen zu lassen und mich vom anderen her ansehen zu lassen. Die Liebe verbindet uns mit anderen, in dieser Verbindung nehmen wir wahr, was wir anderen schulden. Für den modernen Menschen kann das eine ungeheuerliche Vorstellung sein, die, weil er auf Macht verzichtet, als Ohnmacht erscheint. (Das selbstbestimmte Subjekt schwankt allerdings generell zwischen Macht und Ohnmacht.) Sigmund Freud beispielsweise deutet die Liebe in dieser Art, als Verzicht auf Selbstbestimmung.51 Und Wolfram Eilenberger rekonstruiert, dass zwei große Philosophen Anfang des 20. Jahrhunderts, Wittgenstein und Heidegger, die sämtlich die Moderne kritisierten, die Liebe in ihrem Leben und in ihrer Philosophie auf etwas zurückführten, das im einzelnen Menschen begründet ist – auch wenn beide gerade diesen Ausgang vom subjektiven Bewusstsein kritisierten. Eilenberger rekonstruiert die Folgen: Trauer und Einsamkeit. Den Menschen, der sich nicht als verdankt sieht, einer Partnerschaft, der Familie, seiner Mutter, Freunden, vielleicht auch einem Ganzen oder Gott, der sich nicht als aus einem Verhältnis geboren sieht, den spricht nichts mehr an. Er lebt wie hinter Glas.52 Wer über die Liebe verfügen will, wird sich nicht in die Idee einer ihn überschreitenden Verbundenheit erweitern können. Selbstbestimmung dient sich der Perfektion an: Der andere und meine Beziehung sollen perfekt sein. Wer perfekt 50
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Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Immanuel Kant, Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. 12. Darmstadt 1983, S. 409. Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), Frankfurt/Main 2009, S. 49. Vgl. Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929. Stuttgart 2018, S. 97, 99, 187, 215–219, 270. 70
sein will, kann nicht lieben, das ist das Problem der Narzissten, die gefangen in ihrer Sichtweise und Perspektive darum kreisen, ob sie genügend wahrgenommen und gewürdigt werden. Die (selbstbestimmte) Moderne ist lieblos, in der Idee der Suche nach Passung und Perfektion wird der Mitmensch typisiert, klassifiziert und etikettiert. Selbstbestimmte Treue, das ist eine contradictio in adjecto, denn Treue ist die Hingabe an jemanden oder eine Gruppe, in der ich gerade nicht das Maß bin. Sich verlieben dagegen, sofern es nicht nur der Sehnsucht danach entspringt, anerkannt zu werden, heißt, sich für einen anderen zu öffnen, heraus aus den eigenen Maßstäben und Kategorien. Indem ich auf meine Maßstäbe verzichte, kann ich gelassen und ruhig sein. Daher schweigen Liebende so gerne, daher wollen sie nicht Recht behalten, daher interessieren sie sich für anderes, auch wenn dieses Interesse sich in der ersten Phase nur auf den einen Partner konzentriert. Daher auch wollen sie geliebt werden als sie selbst, nicht für etwas oder wegen einer Eigenschaft (ihres Busens, ihrer Muskeln, auch nicht ihres Charakters wegen …) Meinst du mich wirklich? zweifelt der frisch Verliebte und drückt so aus, dass Zweifel und Vertrauen gegensätzlich sind. Dass Liebe ein Akt ist, in dem wir jemanden als Besonderen, Einzigen (als einen ‚Selbigen‘ und nicht als einen ‚Typ-von-X‘) ansehen, zeigt der Wunsch Verliebter, ihr Zusammentreffen als höchst unwahrscheinliche Zusammenkunft von Zufällen aufzufassen. Das Gegenüber ist kein vergleichbares ‚Was‘, sondern ein ‚Wer‘, und diese Einzigkeit verträgt interessanterweise auch keine Auffassung zeitlicher Begrenztheit, sie ist mit Treue verknüpft. Der andere ist in seiner Unvergleichlichkeit gewissermaßen auf ewig an einen herangerückt. Die Idee der Lebensabschnittsgefährtenschaft ist von dieser Idee radikal verschieden. Erst später, wenn die Verliebtheit sich im Alltag bewähren muss, geht es darum, die Idee der Einzigkeit, Unverbrüchlichkeit, des Vertrauens und der Ewigkeit in die Welt der Begriffe und (zeitlicher) Handlungen umzusetzen und wachzuhalten. Das Konzept des Menschen, seiner ‚Identität‘, ist, das zeigen die bisherigen Überlegungen, eine wichtige Voraussetzung für das Scheitern oder Gelingen einer Liebesfreundschaft. Gehe ich davon aus, etwas Feststehendes zu sein, entsteht das Verhältnis zum Partner als Relation zweier Teile, die schon vor Eingehen ihrer Beziehung feststehen: ich und der andere. So gesehen ist die Beziehung bestimmt, und so gesehen sind die Teile der Beziehung fest im Voraus gesetzt. Wir passen zusammen, für diese Art von Beziehung, oder wir passen nicht zusammen. Be71
ziehung – das wird zu einer Art Puzzle, das mit Hilfe bekannter Kriterien zusammengefügt werden kann. Die Liebe zwischen mir und meinem Partner ist folglich immer weniger, als wir beide einzeln es sind, es ist der größte gemeinsame Nenner, die Schnittmenge. Dem Glücksschmied dient jede Beziehung: seinem Glück. Anders gesehen, überschreitet die Liebe mich. Ich bin, zu einem Zeitpunkt X, die Summe meiner Erfahrungen, Wünsche und Ziele, die Summe der Verhältnisse, in denen ich gelebt habe und die in mir sind, ohne dass ich sie bewusst verarbeitet habe. Da ich, so gesehen, nichts Statisches bin, sondern meine Perspektive nicht fix ist, auch wenn ich mir das einzureden versuche und mich auf diese Weise zu konstituieren versuche, kann ich mich auf das Abenteuer einer Zweisamkeit einlassen, das umso größer wird, je mehr Vertrauen ich in es und in sie setze. Es könnte der größte Fehler unserer Zeit sein, die Beziehung zwischen Menschen als Folge dessen anzusehen, wie sich selbst ansehen. Umgekehrt könnte es sein: dass zuerst das Verhältnis da ist, der Bezug, der dann mich und meinen Partner oder mich und meine Mitmenschen prägt und erweitert. So betrachtet, ist das Sprichwort fehlinterpretiert, wenn man es auf den Gegensatz zwischen Tradition und Aushandlung zurückführt. In einer ersten Lesart allerdings liegt das nahe: Früher, da fügten sich Menschen in die Linie der Tradition. Zu der gehörte, dass man bei seinem Partner blieb und dass man den Bund der Ehe als gottgegeben ansah. Man lebte in überschaubaren Handlungsspielräumen und Sozialverbänden, da galt es, Kontinuität zu wahren. Es war nicht alles erlaubt, aber manches war möglich, denn die Zukunft war teilweise offen. All dies reduziert im vorhandenen Spielraum die Spannungsverhältnisse. Denn Tradition kann Vertrauen stiften und verlässliche Erwartungen an den Partner begründen. Die Tragfähigkeit der Tradition kann Kraft geben, Brüche zu bewältigen. Der moderne Einwand lautet, in diesem Verständnis werden die das Verhältnis bestimmenden Strukturen (weitgehend) festgestellt und zeitlos gedacht, sodass Individualität und Freiheit ausgeblendet oder unterdrückt werden. Zu Recht kann darauf hingewiesen werden, dass dem subjektiven Wirkungsgefüge kaum Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet werden. Wer, mit Hilfe einer Tradition oder in ihr, das ‚Wesen der Ehe‘ festschreibt, zementiert etwas und enthebt es der Zeit, und eben dies weist der moderne Mensch als unmöglich zurück. Im modernen Sinne könnte eine ‚Ehe führen‘ erfordern, dass beide Seiten oder Pole die Weise ihres Zusammenlebens aushandeln und von Zeit zu Zeit zu prüfen, ob diese Ab-
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sprachen noch gelten sollen. Sollte dies nicht der Fall sein, ist jede Seite frei, die Verbindung zu lösen. Eine Ehe im Rahmen traditioneller Grundnormen zu führen, ist hingegen nur in geringem Maße eine Frage des freien Aushandelns; der gesellschaftlich vorgegebene Rahmen öffnet und begrenzt den Freiheitsspielraum der Partner. Die Moderne sieht hierin – und in der Idee einer Zusammenfügung einer Ehe durch Gott – ein Gewaltverhältnis, denn der mögliche Spielraum wird im Namen einer höheren, traditionslegitimierten Ordnung unterdrückt. Wenn die Partner sich gezwungen sehen, zusammen zu bleiben, können dauerhafter Hass und Unzufriedenheit folgen, kann jemand sein eigenes Leben als irrelevant erleben. Beständigkeit war oft durch ökonomische, soziale und herrschaftliche Zwänge erzwungen, und die Rede von Gottes Bund für das Leben war dann nur die Legitimation, durch die Menschen motiviert werden sollten, leidend zusammenzubleiben. Allzu oft war (und ist) Gewalt in Ehen an der Tagesordnung. „Früher …“ – wenn wir Modernen heute sagen, damals hielten Ehen länger, kann das auch bedeuten, die Beteiligten hielten die Zwangsgemeinschaft länger durch; außerdem: Früher starben die Menschen eher, daher trennten sie sich nicht, sie hatten weniger Gelegenheit dazu. Soll man wirklich ernsthaft einer Frau raten, bei ihrem Partner zu bleiben, der sie regelmäßig schlägt und unterdrückt? Oder einem Mann, der den ständig schwelenden Vorwürfen seiner Frau ausgesetzt ist? Was Gott nicht zusammengefügt hat, kann man trennen, und Gott hat nichts zur Entstehung meiner Partnerschaft beigetragen. Wenn nicht mehr die Vorstellung herrscht, eine Partnerschaft solle ewig halten, dann entlastet das vom Druck, sich ewig zu binden. Ist es überhaupt wünschenswert, nur eine Beziehung im Leben zu haben? Variatio delectat, man macht mehr Erfahrungen heutzutage, man hat Ansprüche. Wenn hingegen heutzutage immer noch die Idee vorherrscht, ein Plan für die Ewigkeit sei immer das Gute, dann sieht sich derjenige, der eine Trennung verursacht, als mit einem Makel versehen an, er hat es nicht geschafft, er kann wohl keine Beziehung führen, er hat eine Einheit zerstört, er hat einen anderen tief getroffen, er hat sich egoistisch verhalten, etwas vorschnell beendet und dabei auf einen anderen keine Rücksicht genommen. Wir leben heute in einem kollektiven gesellschaftlichen Experiment, von dem wir nicht wissen, welche Auswirkungen es auf uns und unsere Kinder hat. Vielleicht entstehen offenere und glücklichere Partnerschaftsmodelle, wenn Menschen nicht mehr der Idee der Einheit einer Liebesfreundschaft anhängen, vielleicht ent73
stehen auch nur solche Beziehungen, in denen Menschen sich nicht aufeinander einlassen, nicht mit ganzem Herzen. Der ehemalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein fühlte, er habe sich weiterentwickelt, seine Frau hingegen nicht, da habe er sich trennen müssen. Neben der Optimierung des eigenen Lebens, der der Partner zum Opfer fällt, ist daran die Betrachtung des eigenen Partners als Mittel im eigenen Lebensplan schrecklich. Zu klären wäre, ob die Moderne ebenfalls von einem, wenn auch andersartig strukturierten, Gewaltverhältnis bestimmt wird. Entspräche der Unterdrückung durch die Institution ‚Tradition‘ eine Unterdrückung durch ein anderes Subjekt? Denn wenn das Aushandeln erfolglos bleibt, hat jede Seite ein einseitiges Kündigungsrecht. An die Stelle des am Beginn stehenden Dialogs tritt der einsame, selbstbestimmte Entschluss (es sein denn, man trennt sich freundschaftlich – war ja nur ein Versuch). Setzt die Tradition auf ein Vertrauen in die institutionelle Verfasstheit der Gemeinschaft, setzt die Moderne auf ein Vertrauen in die Aushandlung – in eine Art Vertrag – oder in das Selbstvertrauen. Die Unterdrückung in der Moderne vollzieht sich im Namen (individualistischer) Freiheit und Selbstbestimmung. Für die Moderne sind Formen des Zusammenlebens zunächst vorläufig, für sie tarnt sich die institutionelle Formgebung in der Tradition als eine Art Ontologie, die auf zeitlosen Wesenskonzepten basiert. Die Vernunft der Moderne vermag derartig Zeitenthobenes nicht zu erkennen. Vielleicht ist anzumerken: Wenn ‚die Moderne‘ auf Globalisierung setzt, erzeugt sie für viele Menschen übergroße Spannungen und erschwert somit eine Lebensgestaltung in überschaubaren Umgebungen. Erforderte dies zu prüfen, was es bedeuten könnte, Überschaubarkeit, gar Heimat neu zu denken? Eine gelingende Ehe könnte dadurch charakterisiert sein, dass sie einen heimatlichen Vertrauensspielraum eröffnet für Verhältnisse, in denen unterschiedliche Lebensentwürfe spielerisch und spannungsreich erprobt werden. Man kann die Moderne auch als Überforderung erleben, nämlich als Aufforderung ständig du selbst sein zu müssen, sich ständig neu erfinden zu müssen. Solche Fragen zu stellen ist wichtig. Dennoch steckt man in einer gedanklichen Falle, wenn man das Sprichwort – und unsere heutigen Arten, partnerschaftliches Zusammenleben zu verstehen – als Alternative zwischen Aushandlung und Tradition hinstellt. Eine Ehe führen bedeutet auch, ein offenes und unbegrenztes Gespräch zu führen (in einem offenen und unbegrenzten Gespräch zu ‚sein‘), in 74
dem man erst jemand ‚wird‘. Wer dies systematisch auszublenden versucht und nur Traditionen oder individuellen Dezisionismus gelten lässt, für den endet ein derartiges Zusammenleben immer im Freund-Feind-Verhältnis. Immer wird geprüft: Dient die Partnerschaft der Tradition und der Sippe – oder: Dient sie meiner Selbstverwirklichung? Ausgangspunkt ist jeweils etwas Bestimmtes. Zusammenleben scheitert, wenn Gesprächen nichts zugetraut wird und wenn die Beteiligten ihren eigenen Initiativen nicht vertrauen. Denn dann besteht die Alternative nur darin: über sich bestimmen zu lassen oder selbst zu herrschen. Die gedankliche Falle besteht außerdem darin, Traditionen nur als etwas Fixes, unverrückbar Vorgegebenes anzusehen, dem der einzelne ausgeliefert sei. Traditionen können aber ebenso die bergenden Annahmen sein, in denen jemand lebt und die er frei zu seiner Inspiration verwendet. Freiheit zeigt sich schließlich darin, sich zu dem zu bekennen, was einen hält, prägt und ausmacht. „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen“, dieser Spruch könnte nicht auf eine kodifizierte Norm hinweisen – erst die katholische Kirche und die Gerichtsbarkeit haben Trennungen geächtet –, sondern vielmehr auf eine Chance, die sich durch Treue für den einzelnen eröffnet. Die dritte Möglichkeit, eine Partnerschaft zu deuten, besteht, wie oben bereits angedeutet, darin, in Verhältnisse zu vertrauen. Um dies individuell zu erproben, könnte man sich fragen, von wem man bereit ist, sich sagen zu lassen „Du musst dein Leben ändern.“53 Man kann es sich selber sagen, aber um das Vorhaben umzusetzen, fehlt das entscheidend-entzweiende Sich-Selber-FremdWerden, das erst im vertrauensvollen Gespräch möglich ist. ‚Ändern‘ könnte bedeuten, sich – von „dem einen großen Gefühl: der Liebe“ (Ulla Hahn)54 – leiten zu lassen, um sich von der Zentralperspektive so weit wie möglich zu entfernen und dann staunend, hoffnungsvoll, neugierig oder ängstlich den Weg ins zeitlich Unbestimmte zu wagen. Es könnte daher sinnvoll sein, das Eheverständnis neu zu überdenken: Ehe ist mehr als ein nur formal juristischer Vertrag, sie vertraut auf das Bekenntnis, einen gemeinsamen Weg erprobend zu wagen. Die auf diesem Wege implizierten
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Rainer Maria Rilke, Archaïscher Torso Apollos. In: Sämtliche Werke. Erster Band. Frankfurt/Main 1955, S. 557. Ulla Hahn, Vernunft ist auch eine Herzenssache. Zum Verhältnis von Künstlicher Intelligenz und Literatur. In: F.A.Z. – Literarisches Leben, Samstag, 09.03.2019. 75
Grenzerfahrungen können im gelingenden Fall dazu verhelfen, einen Verhältnisraum des Maßes zu gestalten, der beiden Partnern Freiheitsperspektiven eröffnet. Wir verallgemeinern: Alles Vertrauen und alle Liebe kommen aus dem bejahenden Verhältnis, in dem ich zu anderem stehe und das ich nicht durchschaue, von dem her ich aber meine Einstellung und mein Handeln verstehe und inspirieren lasse – im Unterschied sowohl zu einer auf Autonomie begründeten Moral als auch zu einer auf einer fixen Tradition gegründeten. In einem bejahenden Verhältnis lebt man immer auch für jemand anderen, ohne sich ihm ausgeliefert zu fühlen, als einem inneren Gesprächspartner. Eingeschränkter Kontakt und mangelnde Resonanz auf Initiativen verhindern, tragfähige Verhältnisse zu entwickeln. Eine auf Selbstbestimmung oder fixer Tradition gegründete Partnerschaft erstickt daher an Narzissmus und Funktionalismus. Möglichkeiten zu Beziehungen eröffnen sich erst dann, wenn es gelingt, Mitmenschen wahrzunehmen und zu ihnen Kontakt aufzubauen. Dann will man nicht nur gesehen werden oder besonders gut sein – und setzt sich nicht deshalb in ein festes Verhältnis zu sich selbst, zur Tradition oder zur Sippe, weil es zu anderen fehlt. In einem bejahenden Verhältnis zu meinem Partner bejahe ich die Beschränkung, die in einer Partnerschaft beschlossen liegt. Das mag merkwürdig scheinen, denn die Bejahung ist ein freier Akt. Aber es ist hier wie bei einer Weggabelung: Alle Wege kann ich nicht gehen, und die Entscheidung für einen Weg bedeutet, ganz und gar diesen Weg gehen zu wollen, ohne auf einen anderen zu schielen. Vertrauen nämlich braucht eine Gestalt. Immanuel Kant hat in seiner Staatsphilosophie die sehr schöne Formulierung verwendet, der Bürger solle nicht „vernünfteln“ wider seine Obrigkeit.55 In der Tat, es ist ein bekanntes Phänomen: In einer Firma weiß jeder der Angestellten alles besser als die Chefs und weiß nur nicht, dass er dadurch das Vertrauen zerstört. Nicht vernünfteln solle man – sondern, man solle sich in etwas Höheres hineinbegeben, nicht von oben herab urteilen. (Wer vor einer Weggabelung steht und im Vorhinein bereut, dass er sich entscheiden muss, der ist noch nicht zum (bescheidenen) Teilnehmer des Lebens
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In der Rechtsphilosophie, im Unterschied zur Moralphilosophie, genügt es nicht, auf das Prinzip der Selbstbestimmung zu setzen. Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant: Werke in 6 Bänden, Bd. 4. Darmstadt 1956, A 497. 76
geworden.) Möglicherweise kann man, wenn man sich vertrauensvoll in etwas hineinbegibt, dennoch auf sich selbst achten, darauf, ob Verabredungen eingehalten werden, mit anderen Worten, man wird dadurch nicht zum bloßen Untertan. Es macht aber einen Unterschied, ob ich über etwas urteile oder ob ich in einem Horizont urteile und Kritik äußere, das heißt, auf der Basis von Vertrauen, Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Welche Gestalt braucht Vertrauen? Zunächst eine Form, die zeitlich beständig sein kann. Das liegt schon daran, dass Menschen Vertrauen zaghaft aufbauen und dass man es zerstören kann; Vertrauen ist, wie Porzellan, ein zerbrechliches Gut. Vertrauen braucht Zeit, bis es da ist; es kann erschüttert werden, wird es nur für einen Moment gegeben. Erst recht: Was gleich, von vorneherein, begrenzt wird, begrenzt Vertrauen. Wer als Beobachter seiner eigenen Beziehung sagt, diese währe mit Sicherheit nicht ewig, zerstört seine Teilnehmerschaft, er nimmt nicht mit ganzem Herzen teil. Wer an etwas teilnimmt, das behütende Nähe erfordert, hält Dauer für möglich, auch wenn er urteilen kann, er wisse nicht, ob Beziehungen generell für ein menschliches Leben halten. Zur Eigenart der Zeit gehört es, dass wir uns in ihr entwickeln und verändern. Vertrauen ist eine bedingende Konstante dafür, ebenso wie Verlässlichkeit. Wer gleich mit dem nächsten flirtet, ohne dass Vertrauen da ist, zerstört es. Angesichts der Tatsache, dass Gefühle und Begehren nicht regelbar sind, ergeben sich daraus einige Paradoxien menschlichen Zusammenlebens. Jemand verliebt sich in einen anderen als den Partner, jemand erlebt Lust mit einem anderen oder erstrebt das jedenfalls sehr stark, jemand ist in seinen Gefühlen hin und her gerissen, noch andere fühlen sich eingeengt oder zu oft alleine gelassen, jemand ist eifersüchtig auf des anderen Aktivitäten. Diese menschlichen Schwierigkeiten in einer Gestalt aufzuheben, die möglichst vielen Bedürfnissen Rechnung trägt, stellt wohl eine Herausforderung dar. Sie führt einige Denker und Beteiligte dazu, offenere oder geschlossenere Formen für Liebesbeziehungen zu ersinnen. Die Frau solle stets einen Schleier tragen, sie solle nicht begehrenswert auf Dritte wirken, die Beziehung solle offen(er) werden, sie solle ‚polyamourös‘ werden (wir hören, wenn Menschen das Wort aussprechen, allerdings immer: porös), ‚freie‘ Liebe solle herrschen; die Liste lässt sich ergänzen. Die Extreme in Richtung einer gar nicht oder sehr eng geformten Liebespartnerschaft scheinen verführerisch und ungeeignet zugleich. Sie laufen Gefahr, ein Ideal durchsetzen zu wollen, das den Interessen, in denen Menschen heutzutage sich entwickeln, nicht gerecht wird. In 77
beide Richtungen können sie leicht zu Zwängen und Verrat führen. Die Einheit zu zerstören, die jemandem als zu starr erscheint, etabliert ebenfalls oft eine Einheitsvorstellung, und sei es nur die, man solle immer den Partner wechseln, wenn einem gerade danach sei. Muslimische Mädchen wollen vor der monogamen Ehe noch schnell mit möglichst vielen Partnern Sex haben, derjenige, der den Abenteuern seines Partners zustimmt, kann seine Gefühle der Verletztheit leugnen und seine vertrauensvolle Liebe schwinden sehen – hält aber am Dogma fest, die neue Offenheit sei erstrebenswert, auch wenn gerade nicht für ihn persönlich. Diese Probleme können damit zu tun haben, dass in der Epoche der Moderne Menschen versuchen, eine strenge Form ausgehend von ihren Vorstellungen aus zu begründen. Weil diese so streng ist, versuchen sie anschließend, die Form zu zerstören. Die Würde einer Partnerschaft könnte hier darin bestehen, eine Gestalt zu wahren, die dem Vertrauen zwischen Personen, ihren Freiheitsspielräumen und Initiativen gerecht wird. Dabei wird sowohl eine gewisse Form gewahrt, beispielsweise in Gesprächen, als auch die Öffnung für die Unbestimmtheit der Zukunft. Natürlich gibt es auch den Reiz des Neuen (und es gibt Anziehung zwischen Menschen, die gerade nicht zusammen in einer Partnerschaft sind), aber wer alle Beteiligten im Blick hält und mit ihnen im Gespräch bleiben will, setzt nicht eins für das andere aufs Spiel. Und: Der Reiz des Neuen ergibt sich auch aus dem Kontrast: Das Nahe wird als Altbekanntes angesehen, was daran liegen mag, dass der Beobachter seinen Partner und sich reduziert und Erweiterungen nicht zugelassen hat. Das Problem der Treue stellt sich vielen Menschen als ein sexuelles Problem dar. Ohne sexuelle Gelüste negieren zu wollen – sie sind elementar –, so sind sie doch normalerweise (oder integrierterweise) mit den übrigen Anteilen des Menschen wie seinen Gefühlen, Gedanken und Verbindungen zu Mitmenschen verknüpft. Erst wo diese Verbindungen oder Verhältnisse auseinandergerissen sind – beispielsweise im Falle von Unzufriedenheit, Aggression, Narzissmus oder der vergegenständlichenden Beurteilung des Partners –, tauchen sie als losgelöste Triebe auf. Menschen, die in diese Gefühls- und Denkkonstellationen geraten, sind aber sowieso nicht treu gewesen, auch wenn sie ihre Gelüste nicht ausleben. Ehe ist in die Formen der Zeit eingelassene Liebe, sie wird nur in einer beschränkenden Gestalt eine Geschichte, zu der man sich bekennen kann, sie kann nur dann eine Erzählung werden, eine Lebens- und Liebesgeschichte, wenn sie in einen Bund eingewoben ist. Erst die Anerkennung der eigenen Begrenztheit, 78
der Begrenztheit und Begrenzung der Liebe ermöglicht es, sich auf anderes auszurichten, erzeugt Spannung und Begehren. Einen Liebesbund einzugehen heißt eine unbestimmte Beschränkung zu wollen – und zugleich sich vom göttlichen Wahnsinn und der Wahrnehmung einer geheimnisvoll wunderbaren Welt anstecken zu lassen. Wer die Beschränkung nicht will, zerstört auch das Mehr, auf das er aus ist. Er hat gar nichts und meint alles zu haben. Wer das Mehr nicht will, wird starr und liebt nicht. Er ist nicht offen. Lieben heißt einander und sich in der Beschränktheit anzunehmen und von ihr aus auf Größeres zu schauen, auch auf Unbestimmtes in beiden Partnern. (Übrigens gilt das auch für die sinnvolle Einstellung zur Arbeit: gegen Perfektionismus, Effizienzwut und Fatalismus – und für Wahrnehmung von Kollegen.) Ja sagen zu jemandem heißt, sich zu begrenzen und von dort her seinen Platz zu finden. Ja sagen heißt zu anderem Nein zu sagen. Erst Ausschließung erzeugt eine Gestalt und erzeugt Personen, erzeugt mich als Gesprächspartner und Verantwortlichen, erst eine Grenze konstituiert. Verhältnisse sind erst dann als Verhältnisse erkennbar, wenn sie Grenzen aufzeigen oder einschließen, eine Gestalt erwächst aus begrenzten Verhältnissen. Wir können an das vorige Kapitel denken: Wer alles haben will, lebt nicht in einer Welt, er öffnet sich für nichts. Die (begrenzte) Form, in der wir mit anderen leben, eröffnet eine Disposition im Menschen. Sie konfiguriert Verhältnisse und Tugenden, sie schafft eine Ordnung zwischen Menschen und in mir. Die Form behütet und kommuniziert Vertrauen. Sie schafft einen Raum, in dem sich Verhältnisse entwickeln können, in dem Tugenden als Dispositionen entstehen können – und somit eine Verfassung von Menschen. Nur in Wahrung von Formen lebt jemand in einer Welt. Ansonsten hat er keine klare Ausrichtung, nur nebulöse Verbindungen, aus denen kein Ich und keine Gemeinsamkeit erwachsen können, die in Verhältnissen liegen. Zur Gestalt, in der eine Partnerschaft wachsen kann, gehören neben Nähe auch Distanz, Höflichkeit und Etikette. Wo alles nah und brüderlich sein soll, gleich wie Interessensgegensätze verlaufen, wo alles immer gewertschätzt-gut-gefunden werden soll, fehlt nicht nur Ehrlichkeit, sondern wird Nähe ausgehöhlt – den Nächsten werden wir fern und können wir nicht mehr trauen, weil selbst dort keine Form für Auseinandersetzung gewährt wird. Für Takt, Geheimnis und Fremdheit, Verschleierung und Verkleidung, die anderes als Verstellung ist. Weil selbst dort der andere zum Eigenen, bestimmt-Vertrauten degradiert, gemein und bekannt gemacht wird. 79
Durch die fehlende Justierung von Nähe und Distanz im privaten und öffentlichen Leben, durch fehlende Form und Etikette, verschwindet die Möglichkeit verbindender Nähe. Zu solcher Wahrung von Distanz gehört auch, zeitweilig Ambiguität und fehlende Nähe auszuhalten, Partner entwickeln sich nicht parallel oder gleichsinnig, es gehört dazu, eine Partnerschaft zeitweilig wie eine Bürde dulden zu können. Wir respektieren damit, dass der andere für uns aktuell unbestimmt und fern ist. Das Unbestimmte (das kein Ding ist) geht mitten durch uns hindurch, mitten durch die Verhältnisse zu anderen und zur Welt. Das Verhältnis selbst ist unbestimmt. Das verleiht Verhältnissen Würde, die die Freiheit ist, auf der unsere Unantastbarkeit, unsere Unverfügbarkeit, unsere Unendlichkeit ruht, die eingelassen ist in die endlichen Formen des Handelns und Bestimmens. Diese Würde bedarf einer Form, in der Selbstverhältnisse, Verhältnisse zu Mitmenschen und zu den Dingen in der Welt, ja, in der die Verhältnisse selbst gewoben und auch inszeniert werden, in Zeremonien, Takt, Diplomatie, Spiel, mit dem Ungefähren, das wir sind. Daher die Tragik derjenigen, die sich nicht zu einer Form des Zusammenlebens mit anderen bekennen und die dadurch weder Würde noch eine Lebensform erhalten. Das gilt selbst für Sexualität, die als Inbegriff unverstellter Nähe gelten kann. Keuschheit und Bedecktheit gehören zur Nähe und zur Erotik. Anders könnte man nicht zart sein. Verlangen schafft außerdem eine Disposition zum Geistig-Seelischen. „Sie erkannten einander“, das ist ganz elementar gemeint: Zwei Personen lernen, einander zu sehen, es ist ein Prozess, so wie der Sexualakt auch ein Prozess ist, körperlich, immer wieder enthüllend, verhüllt, unverhüllt. Durch diese Form hindurch werden zwei Menschen angesichtig, zwei Formen, die sich öffnen für ein jeweils Anderes (und für Höheres, Numinos-Unbestimmtes) und sich enthüllen, alles in einem zeitlichen Prozess, der durch Begrenzung, Öffnung und Form dazu führt, dass sie einander gewahr werden können. Man will dabei gesehen, aber nicht getroffen sein. Liebesehe ist eine gesellige Form, in der man nicht der Hausherr, sondern Gast ist.56 Indem man zum Gast wird, kann man lernen, bescheiden zu bleiben und über den Partner wieder zu staunen. Eine Form für das Beisammensein zu wahren behütet Vertrauen, und es 56
Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924). Frankfurt/Main 2001, S. 68f. 80
behütet vor Zugriff durch Nähe, durch das sogenannte Eigentliche, das selbstbestimmt-moderne Partner häufig von sich erzwingen, es schafft Begegnung durch Verhüllung und Kleidung, es schafft Kultivierung und kultiviert das Nichtverstehen des Partners, das den Anlass bietet, sich mit ihm in Gesprächen verständigen zu wollen. Form ist das, was die moderne Authentizitätsdoktrin nicht denken kann, die daher gar nicht weiß, gar nicht wissen kann, was Authentizität bedeutet – ebenso wie sie statt Vertrauen immer Transparenz denken will. Sie findet Formen konstruiert und konstruiert selbst dauernd. In Bezug auf unregelbare Lust und in Bezug auf das Unbestimmte, das in jeder Art von Verhältnissen waltet, erzeugt jede Gestalt einer Ehe Paradoxien und Fülle, sie erzeugt unterschiedliche Konstellationen von Verhältnissen, erzeugt auch Tabus und daher Begehrlichkeiten. Daher gilt es, die Begrenzung und Begrenztheit zu kultivieren, nicht aber aufzulösen. Wer (bescheiden) um die eigene Begrenztheit weiß, wird sie in der Partnerschaft ebenfalls erwarten. Mit der Begrenztheit und Bescheidenheit, die Treue erfordert, hängt die individuierende Kraft der Treue zusammen. Nur wer jemandem treu ist, dem kann dieser andere zu einem Besonderen werden. Wer nach Merkmalen aussucht, mit wem er Zeit verbringen will – „heute diese Attraktion, morgen jene“, oder: „ach, diese Merkmale gefallen mir an demjenigen nicht ganz so gut, an dem besser“ –, der wird sein Gegenüber immer an allgemeinen Merkmalen messend beurteilen und vergleichen. Neben der Gier, die darin steckt, vergisst eine solche Person, dass ihr jemand nur zu einem besonderen Menschen werden kann, wenn sie ihn sich vertraut macht und Vertrauen gibt. Genau in diesem Sinn ist Antoine de Saint-Exupérys so berühmte Passage des kleinen Prinzen mit dem Fuchs zu verstehen. Der Fuchs rät dem traurigen Prinzen, der gerade festgestellt hat, dass unzählige andere Blumen so schön wie seine Blume sind, es komme darauf an zu verstehen, dass seine Blume für ihn durch Vertrautheit zu einer einzigen Blume geworden sei. Und der Fuchs bietet dem kleinen Prinzen an, sich von ihm zähmen zu lassen, damit er für ihn ebenso einzigartig werde und er ihn für immer an den Weizen der Felder erinnere. Aus diesem Verständnis von Treue und von Partnerschaft folgt nicht, dass ein Beisammensein zwangsläufig lebenslang sein muss. Es geht mehr um eine Qualität als um eine Quantität. Wer feststehende Dauer will, sucht Sicherheit statt Vertrauen und Kontakt. Aus der Innenperspektive freilich erfordert es, dass die Partner sich in dieser Idee der Ewigkeit einfinden. Es geht nicht um eine objektive 81
Ewigkeit – die könnte einem niemand garantieren, und wenn, dann nur in einer starren Form. Es geht um den subjektiven Versuch der Ewigkeit. Dieser Versuch ist Ausdruck der Ernstnahme des Gefühls, das in der Verliebtheit anhebt, wenn man sich auf sie einlässt (Verliebte empfinden Ewigkeit). Dazu gehören: Treue, Ehrlichkeit, Vertrauen, sich äußern und zuhören. Eine Bindung, die auf eine automatische Dauer gestellt ist – ‚lebenslänglich‘ –, wäre inkonsistent. Denn Partnerschaft ruht auf der wechselseitigen Öffnung für die andere Perspektive, das ist der Kern. Nehmen wir an, ein Partner würde stets nur von seiner Perspektive aus alles beurteilen und nach seinem Maß handeln – oder er würde strukturell gewalttätig sein –: Die Partnerschaft wäre keine mehr, die ihren Namen verdient, ihr Fortbestand stünde gegen ihre Idee selbst. Vielleicht ist das das Motiv für Jesus‘ Ausspruch: Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.57 Ebenso ist es im anderen extremen Fall: Jemand würde seine Partnerschaft von vorneherein nicht auf Dauer anlegen: Er würde sich nicht ganz öffnen, auch dann kann es keine Liebespartnerschaft geben. Nur wer sich öffnen kann, kann wissen, dass er in Verhältnissen lebt. Was folgt aus unserer Auseinandersetzung mit der Treue (die auch die Treue zwischen Freunden oder zu den Kindern sein kann) für ein Verständnis von Verhältnissen? Der Mensch tut gut, sich von Verhältnissen her zu denken. Und er tut gut daran, sich in Verhältnissen ansprechen zu lassen. Er verspielt sonst, was ihn überschreiten könnte. Er verspielt Gemeinsamkeit in Vertrauen. Er verspielt Glück und Verbundenheit. Vertrauensvolle Verhältnisse sind unbestimmt, aber sie realisieren sich in erweitern könnender begrenzter Form, Im Kapitel Bescheidenheit haben wir gesagt, nur wer bescheiden sei, lebe in einer Welt, weil sie ihm ansonsten nicht wirklich werde, sondern nur als etwas, über das er verfügen wolle. Hier gilt es analog: Nur wer in treuer Verbundenheit zu seinen Mitmenschen lebt, lebt in einer Welt. Das ist zunächst trivial, denn andernfalls lebt er außerhalb dieser Mitwelt. Tiefer besehen werden ihm seine Mitmenschen ohne Treue aber gar nicht wirklich: nicht emotional. Dafür ist auf Dauer gestellte Verbundenheit nötig.
57
Mt 5, 37 (Vom Schwören. Aus der Bergpredigt) Was ‚darüber‘ ist, das könnte das Schwören sein, aber ebenso die Einschränkung des Ja-Sagens, d. h. der Vorbehalt, den jemand gegenüber einer Treue äußert. 82
Was folgt für die Alternative zwischen Selbstbestimmung und Orientierung an fixer Tradition? Orientierung an Selbstbestimmung und an fixer Tradition setzen eine Einheit. Dagegen bedeutet Treue (und bedeutet Liebe), sich vertrauensvoll in etwas Unbestimmtes hineinzubegeben und dem Verdankten das Geschuldete entgegenzubringen. Orientierung an Tradition ist (wie schon gesagt) doppeldeutig: In fester, kontingenter, auch zwingender, gewalttätiger Tradition kann es keine Verhältnisse geben. Der einzelne Mensch käme in ihnen als aktiver Part nicht vor. Tradition als das Vorgegebene, Inspirierende, Mehrdeutige, Weisheitliche, mich Prägende, als das, in dem ich lebe und das mich ausmacht, mehr als ich in Begriffen und meinem Selbstverständnis wissen kann, als das, was in vielen Generationen kluger Menschen geformt wurde und von dem sie geformt wurden – sich daran zu orientieren bedeutet gerade, sich vertrauensvoll in einen Kontext zu stellen, in dem ich mich hingeben kann, mit dem ich in ein Gespräch gehen kann und dem ich treu verbunden sein kann. Verhältnisse, zumal Liebesverhältnisse begründen sich weder durch fixe Tradition noch durch Dezision des Subjekts. Selbstbestimmung und untertänige Ausrichtung an autoritären (nicht autoritativen) Vorgaben zerstören Liebe und Vertrauen. Treue bedeutet insofern, sich vom sturen Eigensinn zu befreien. Damit wird der Weg frei, den Eigensinn anderer wahrzunehmen. Eine Orientierung einer gestaltbaren Freiheit hingegen (die andere Seite der Moderne) begünstigt, dass Menschen aktiv in treue Verhältnisse gehen können. Diese Freiheit folgt jedoch nicht den eigenen festen Maßstäben, sondern kann sich nur in Verbundenheit realisieren und erweisen. Wie passt Treue in eine freie Gesellschaft? Man rechnet sie leicht zu den Tugenden geschlossener Gesellschaften; beispielsweise kann einem dabei die Treue zum Vaterland oder gar zu „Blut und Boden“ in den Sinn kommen. Daher scheint Treue in freien Gesellschaften problematisierungswürdiger zu sein. Die Grundprinzipien geschlossener Gesellschaften sind Autorität, Loyalität und Reinheit. Treue kann zu Autorität gehören, insofern man sich verbietet, eine Verbindung anzuzweifeln. Man kann dabei an eine höhergestellte Autorität denken, der gegenüber man treu sein will. Zu Loyalität gehört Treue, insofern man die eher unbedingte Geltung der Verbindung spürt. Und Treue gehört zu Reinheit, insofern man ganz, reinen Herzens, in die Verbindung geht und in ihr bleibt. Das merkt man daran, dass jemand, der systematisch vom Partner hintergangen wurde, irgendwann nicht nur Zorn, sondern auch Ekel empfindet. Ihn widert dann die gesamte andere Person an, die Beziehungsfähigkeit und Nähe ist grundständig zerstört. Das zeigt sich auch darin, dass 83
untreue Menschen, die sich ihres Betrugs innewerden, ebenso wie generell Menschen, die konservative Prinzipien vertreten, eher Scham im Sinne des Selbstekels empfinden als Schuld. Es steht bei der Treue stärker die ganze Person im Sinne ihrer Sozialfähigkeit auf dem Spiel als eine einzelne Handlung.58 Treue gehört jedoch ebenso zu den Werten offener Gesellschaften, die sich um Fürsorge, Fairness und Freiheit gruppieren. Treue zeigt sich in diesen dreien, insofern man sich das Bekenntnis zum anderen je neu verinnerlicht und damit aktualisiert. Nun ist es wichtig, diese Prinzipien nicht gegeneinander auszuspielen. Autorität, Loyalität und Reinheit sind nicht per se ‚schlecht‘. Wir können sie nicht einfach zu Zwanghaftigkeit rechnen und verabschieden, sondern sollten sie so kultivieren, dass ein treuer Mensch seine Verbundenheit nicht als Kadavergehorsam begreift. Dann können Menschen ihre Treue zum Partner fair, fürsorglich und frei ausüben. Und sie können, statt die Beziehung zum Partner oder zu Mitmenschen auf Basis ihrer Maßstäbe zu formen, sich von der Verbundenheit zu anderen her begreifen. Solidarität wäre dann dem Menschen und seiner Individualität vorgängig, sie wäre individualitäts-konstitutiv. Ein einfaches Beispiel liefert die Nähe, die man zu nahen Menschen schon ästhetisch als rein empfindet. Partner begeben sich körperlich, wenn sie gemeinsam einschlafen, vertrauensvoll in etwas höheres Unbestimmtes hinein. Wenn ich beim Eingehen einer Partnerschaft, beim Verlieben und während der Liebe, in Unbekanntes vertrauen muss – und darf –, dann ist die Liebe, über die ich nicht verfüge, ein Mysterium. Daher sind wir jetzt plötzlich an den ersten Teil des Sprichworts zurückerinnert und wollen fragen: Könnte Gott uns doch zusammengefügt haben – und indem er uns zusammengefügt hat, mich? Und umgekehrt: indem er mich zusammengefügt hat, uns? Ist aller Versuch, Liebe zu regeln, Tugenden und Fähigkeiten und Eigenschaften gelungener Partnerschaften aufzuweisen, am Ende der Versuch, Herrschaft auszuüben? Wenn es mysteriös und mir entzogen bleibt, was meinen Partner und mich zusammengefügt hat, dann ist der Grund unserer Gemeinsamkeit unverfügbar. Unverfügbares kann etwas begründen, insofern ich mich in etwas hineinbegebe, das mich übersteigt, das ich nicht durchschaue und nicht zu durchschauen versuche. Ja, das Allervertrauteste kann gerade das Unbestimmte sein, eine Erfahrung, die 58
Vgl. Philipp Hübl, Aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken. München 2019, S. 142. 84
gefühlsmäßig wohl jeder Liebende schon einmal gemacht hat, oder jeder, der sich behaglich, ohne darauf zu achten, irgendwo wohl gefühlt hat, besonders wohl, weil er nicht ergründen wollte, wie seine Situation war, und weil er sie gerade nicht beherrschen wollte, sondern – sich fallenließ. Das ist, als hätte eine Situation, als hätte ein Beisammensein, eine tiefe Verbundenheit, ein Tiefes, auf das man unbedingt vertraut, einen ‚Stiftungssinn‘. Und man selbst wäre nicht der Stiftende, sondern der, der sich anstiften lässt und sich in einen Sinn und eine Richtung hineinbegibt. Ein Stiftungssinn ist etwas anderes als ein Schwur, es ist etwas, auf das man sich rückbezieht – das ist der ursprüngliche Wortsinn des Worts Religion, Rückbezug –, das einem den Rücken stärkt, in das man fallen darf, statt dass man Transparenz fordert. Transparenz braucht man immer gerade dort, wo Vertrauen nicht mehr da ist, man denke nur an den Wunsch, dort Protokolle, Kriterienlisten und Paragraphen anzulegen und auf Vereinbarungen zu pochen. Vertraut man (demutsvoll) in eine Liebe wie in etwas unverfügbar Höheres, dann erlebt man sie wie eine Gunst; Liebende sprechen oft vom „Schicksal“, das sie zusammengeführt hat. Diesem Schicksal, folgt man einem Stiftungssinn, ist man weder passiv ausgeliefert noch lässt man sich, im Bilde gesprochen, von ihm bedienen und bleibt deswegen passiv. Vertrauen ist bedingungslos, aber es muss erneuert werden. Beispielsweise kann die Wunden der Liebe nur heilen, der sie schlug (Publilius Syrus). In eine Partnerschaft, in deren Verhältnis man sich begibt und die man als zusammengefügt durch etwas Höheres ansieht, webt man Vertrauen und gibt es vorlaufend, indem man einen Akt der Heiligung des Füreinander vollzieht. Dadurch kann man die Unverfügbarkeit und das Höhere bekennen – man heiligt, man bekennt, was heilig ist, was nicht zerstört werden soll, weil es etwas erzeugt, was sonst zerstört werden könnte: mich, den anderen, Kinder, Liebe. Bloßes oder nur genussvolles Vernehmen dessen, was mich umfängt, Sich-darin-Einstimmen und Geschehenlassen scheinen nicht zu genügen. Eine Heiligung des Füreinanders vorzunehmen, ist kein bloßer Gesetzesakt, in dem man einen Ehevertrag schließt, es ist auch nicht einfach ein normativer Akt, er ist poetisch, genauer: wahrwerdenlassend-zulassend, was wahr geworden ist. Es scheint eine Gestalt zu sein, in der man eine Form wahrt und zugleich überschreitet – und sich von ihr überschreiten lässt. Man bekennt sich dazu, sich in etwas hineinzubegeben. Man bekennt sich dazu, in etwas zu sein, das größer ist als man selbst. (Das fortlaufend einer Quelle entspringt, statt dass man ein Funda85
ment gräbt und eine Behausung konstruiert.) Man sagt Ja dazu, nicht der Urteilende sein zu wollen. Man transzendiert sich. Es ist kein autonomer Akt, auch kein bloß sittlicher, er erinnert an Jonas „kategorischen Urimperativ“ beim Anblick eines Neugeborenen. Die bloße Wahrnehmung wird zu einem Handlungsimpuls. Vielleicht lässt sich von solchen Akten der Heiligung aus etwas über die moralische Qualität der handelnden Realisierung von Verhältnissen lernen. Und vielleicht lässt sich von da aus auf den sogenannten naturalistischen Fehlschluss blicken, d. h. ein Kern von Moral – „hier trage ich dazu bei, dass etwas wirklich wird, gesehen wird und bleibt“ – identifizieren. Moral hieße, sich bekennen zu dem, ‚was ist‘, was zu-geeignet ist, was vergönnt ist und als Gunst angesehen werden kann – und daher schützenswert ist. Sich einem Geheimnis anheimgeben, sich ganz an es hingeben, ohne Reserve. Erst das könnte Treue ergeben, Treue zu sich selbst in Veränderung, Treue zum Ganzen der Wirklichkeit, Treue zur Welt. Wir sehen unverhofft: Was Gott zusammengefügt hat, dabei könnte weit mehr auf dem Spiel stehen als meine kleine ‚Beziehung‘, in der ich stecke; es steckt darin die Beziehungsmöglichkeit, in der ich zur Welt stehe und die ich nicht trennen und zerreißen soll. So wie ein Stiftungssinn eine Art Heimat bezeichnet, so auch eine Richtung. Was man dankbar empfängt, darin steckt eine Spur, der man sich würdig erweisen kann. Man wurde durch Liebe eingestiftet und begibt sich in die Richtung eines Stiftungssinns, dem nicht zu folgen einen herauskatapultiert aus seinen Möglichkeiten, ein Mensch inmitten bereichernder anderer zu sein. Treue zum Ganzen der Wirklichkeit und Treue zur Natur – was das ist, ist schwer zu formulieren und sperrt sich gegen begriffliche Darstellung. Aber jeder kennt wohl solche Situationen: dass er morgens aufwacht und feststellt, er hat lange nicht die Vögel zwitschern hören, er hat lange nicht gespürt, wie die Wiese um ihn herum riecht. Er hat lange nur das Gefühl gehabt, in einem isolierten Raum voller begrenzter Ziele zu existieren, und sich für anderes nicht geöffnet; nun hat er das Gefühl, wiederaufzutauchen und in gewisser Weise aufzuwachen. Treue zum Ganzen der Wirklichkeit zeigt sich im Gefühl von Verbundenheit, darin, nicht abgeschottet zu sein. Vielleicht darin, ausgerichtet zu sein auf das, was man, nicht nur kurzfristig, für am sinnvollsten hält, ausgerichtet zu sein auf das, was man dem schuldet, wofür man vertrauensvoll dankbar sein darf. Sie zeigt sich im Gefühl, offen, d. h. beispielsweise nicht verbissen, lethargisch oder ignorant zu sein. Darin, sich ansprechen zu lassen, auch von dem, was man noch nicht durch die eigene Vernunft als tragfähig erkannt hat. 86
Halten wir nach diesem Ausflug ins Mysterium inne. Er hilft, tiefer zu verstehen, was Verhältnisse sind, denn diese finden in einem Mysterium statt, und es ist gut, darum zu wissen, wenn man vertrauensvolle Verhältnisse weben möchte und wenn man sich in ein Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit stellt, wohlwissend, es nicht erkennen zu können. Kehren wir zurück zu Tugenden in Partnerschaften. Welche Art von Verhältnis zum Partner ist erstrebenswert? Lässt sich dazu etwas Grundlegendes sagen? Lassen sich Grundmuster auffinden, die sowohl den, der immer an einer Beziehung festhält, als auch den, der immer an einer festen Partnerschaft zweifelt, leiten können? Wer einen Plan für die Ewigkeit zimmert, zerstört das Beisammensein, er lässt eine starre Form entstehen, ein Korsett. Aber wer von vorneherein eine Partnerschaft als interessens- oder zweckabhängig ansieht, zerstört es ebenfalls. In einer Partnerschaft geht es sinnvollerweise um Vertrauen und Teilnehmerschaft, die zwischen starrer Form und nicht-auf-sie-Einlassen stehen. Tugenden in Partnerschaften – so wie Aussprüche in der Bibel – könnten dabei weniger als Normen verstanden werden, sondern vielmehr als Empfehlungen, die in gewisser Weise beschreibend oder transzendental sind, das heißt, sie machen auf eine mögliche Wahrnehmung aufmerksam. „Sieh genauer hin, wenn dir jemand begegnet, öffne dich dafür, dass dir hier etwas Eigensinniges widerfährt, und begib dich mit dem Menschen nicht nur in eine ‚Beziehung‘, in der du deinen momentanen Absichten folgst; du könntest dich um deine Wahrnehmung betrügen, du könntest eine tiefere Verbundenheit riskieren, du könntest dich abschotten.“ Ein paar Tugenden: Großzügigkeit. Ich kann zu mir großzügig sein, großzügig gegenüber Unbekanntem, großzügig zum anderen. Gewährenlassen. Dem anderen seine Initiativen lassen. Ehrlichkeit, Interesse, die Kraft, Probleme, Wahrnehmungen und Bedürfnisse anzusprechen. Zuneigung. Für jemanden da sein. Der Mut, sich fallen zu lassen, hineinzugehen in Gemeinsamkeit und sich zu zeigen. Paradoxerweise setzen der Aufbau und die Pflege von Vertrauen selbst Vertrauen voraus. Wer stets Kontrolle behalten will und wer stets auf den eigenen Vorstellungen beharrt, der öffnet sich nicht für eine Partnerschaft. Die Fähigkeit oder jedenfalls Bereitschaft, sich in Frage stellen zu lassen, sich erkennen zu lassen, ist für eine Partnerschaft außerdem zentral. Letzteres ist das Gegenstück zum Nichtetikettieren und zur Haltung, den anderen als Unbekannten zuzulassen: sich mit Urteilen auseinandersetzen. Am subtilsten sind wohl diese beiden Tugenden in einer langjährigen Liebesfreundschaft: zum einen die, die Begrenzungen und Eigenheiten des anderen 87
(und die eigenen) mit Sympathie begleiten zu wollen. Gerade wenn ich keinen Harzer Käse mag, ist die Frage der Liebe die: Freue ich mich an meinem Partner, der Harzer Käse für sein Leben gern isst, wenn ich ihn im Supermarkt sehe, und habe ich Lust, ihn ihm zu kaufen? Denn je mehr Voraussetzungen und Charakterdispositionen für die Pflege einer guten Beziehung aufgezählt werden, desto mehr könnte es scheinen, hier werde eine neue Perfektion formuliert, der gemäß man den eigenen Partner (oder die Freunde und Nachbarn) beurteilen kann: Führen sie eine gute Beziehung im Sinne dieses und jenes Aspekts? kann man vernünftelnd sich ereifern. Die Fehler des anderen muss man vielleicht nicht gleich ‚lieben‘, vielleicht soll man auch den anderen nicht ‚so verbrauchen, wie er ist‘, aber diese beiden Formulierungen drücken dennoch recht gut aus, was damit gemeint ist, den anderen zu akzeptieren und nicht die Partnerschaft selbst noch optimieren zu wollen, sodass alles weiterentwickelt werden müsse wie ein noch nicht perfekter Zustand. Gelassenheit (und Geduld) müssen dabei wohl in einigen Grundrichtungen gegenseitig sein. Attackiert mich mein Partner andauernd und nörgelt an mir herum, dann ist Akzeptanz kaum ein Gut, das ich auch dafür noch aufbringen sollte. Zum anderen die Tugend, den Partner nicht mit den Erwartungen zu übersäen, die ihm seinen Eigensinn rauben. Erwartungen sind unvermeidlich, wo Nähe herrscht. Denn man kann sich sonst nicht auf den Partner verlassen und in einem sicheren Rahmen leben, in dem man davon ausgeht, der andere tue gern, worauf man sich verlässt. Aber leider gibt es viele Paare, die man daran erkennt, dass sie sich häufig und in einem Tonfall ausschimpfen, den sie Fremden gegenüber niemals anschlagen würden – „iss das noch, denk noch an dies, vergiss nicht jenes, Herrgott, du solltest doch …“ Den anderen als Teil seiner selbst, also wie einen verlängerten Arm anzusehen, das kann sogar fürsorglich sein. Man glaubt, das Beste für den anderen zu tun, wenn man ihn ausschimpft, so, wie Eltern das oft bei den eigenen Kindern glauben. Hier zeigt sich ein bestimmtes Selbstverständnis des Menschen, sowohl im Umgang mit sich selbst als mit anderen. So wie ein Mensch sich selbst gegenüber streng sein kann, so auch denen gegenüber, mit denen er verbunden ist, sie werden schlicht in den Kreis derjenigen einbezogen, über die zu verfügen ist. Verfügungsgewalt ist nun zwar in gewissem Rahmen notwendig, um das Leben zu gestalten – zu essen, einzukaufen und dergleichen –, darüber hinaus kann sie aber eine Art und Weise anzeigen, der Welt zu begegnen, die typisch selbstbestimmt und fix-traditionsorientiert ist: Wenn ich davon ausgehe 88
zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält und vor allem, wie sie durch Handlungen zusammengehalten wird, werde ich meinen Mitmenschen mit dem Anspruch entgegentreten, sie sollen das tun, von dem ich weiß, dass es das Richtige ist. Das Selbstverständnis des Menschen in der selbstbestimmten Moderne und in einer auf festen traditionellen Sitten beruhenden Gemeinschaft, so besehen, zerstören Liebe. Denn in dieser akzeptiere ich die Eigenständigkeit des Geliebten. Lässt sich zusammenfassen? Ich sollte meinen Partner wahrnehmen können, mich auch, meine Emotionen, Wünsche und Initiativen ebenso wie seine, ich sollte sie auch zum Ausdruck bringen können, damit sie gesehen und geteilt werden können. Das bedeutet, eine Partnerschaft entsteht und besteht aus einem Gespräch. Wo das Gespräch endet, endet die Beziehung. Um ein Gespräch zu führen, muss ich auf Verständigung aus sein, ohne sie bereits vorauszusetzen. Das heißt, ich sollte in der Lage sein, den Unterschied zwischen mir und meinem Partner zu sehen. Das betrifft auch die Bereiche, in denen der Partner sich mit jemand anderem unterhalten möchte. Ohne gleich an Ödipus zu denken: In gewisser Weise ist die Fähigkeit, zu dritt mit anderen klarzukommen, eine Grundlage für eine Zweierbeziehung. Ein Gespräch besteht aus der Anreicherung von Perspektiven. Wer gerade nicht Recht behalten will, sondern wer Freude an anderen Perspektiven und am Entstehen neuer Ansichten hat, der sieht mehr und taucht in den Bereich ein, den Platon als Eros bezeichnet hat: Perspektiven werden fruchtbar gemacht. Dieses Aussein auf Unbekanntes zieht Gemeinsamkeit an und führt zu Attraktion. Es erweitert mich und zieht mich hinein in den Bereich der Gemeinsamkeit und des Geistes der Verbundenheit. Ich bin eingebettet in eine Verbundenheit, die mich trägt und formt.
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4 Takt und Kontextsensibilität Kleider machen Leute
In welcher Art und Weise soll ich mit anderen und mir umgehen? Soll ich auf Formen verzichten und sie als äußerlich abtun – und stattdessen authentisch leben – oder soll ich mich an eine starre Etikette halten? Gibt es eine Form, in der Selbstverhältnisse und Fremdverhältnisse sich ereignen sollen? An zwei Stellen sind wir schon auf Formen gestoßen: einmal, im Treueverhältnis zu anderen, auf die Form der Verlässlichkeit – die allererst den Menschen eine Form gewinnen lässt. Jemand wird nur jemand in verlässlich-konstanten Verhältnissen zu anderen, in denen er sich um eine Form bemüht; er kann nur so eine Form gewinnen und das heißt, jemand werden, der sich mit sich selbst auseinandersetzen kann. Und zuvor stießen wir im Selbstverhältnis der Bescheidenheit auf die Ordnung im Inneren des Menschen, die seine Disposition ermöglicht, hier den freien Umgang mit den eigenen Begierden. Nun sollte man zwischen vorgegebenen Formen (in gewisser Weise starren Schablonen), Formlosigkeit und Formen unterscheiden, die mit kontextsensiblem Urteilsvermögen auf eine Situation bezogen werden. Wer das Zusammenleben nach vorgegebenen Formen gestaltet, misst das Gegenüber an einer vorgegebenen Schablone. Das heißt, er sieht sein Gegenüber nicht. Er lässt keinen Raum für die Entwicklung einer anderen Individualität und anderer Leute Eigensinn. Wer hingegen Umgangsformen ignoriert und für unwichtig hält, bemisst Gemeinsamkeit an seiner eigenen Verfassung, er misst nur nach seinem eigenen Maß, das er als Authentizität ansieht. Gemeinsamkeit und Solidarität entstehen da bloß zufällig. Diese Taktlosigkeit ist schlecht verstandener Individualismus. Wer sich hingegen auf das feinsinnige, kontextsensible Spiel zwischen Menschen einlässt, zwischen Zurückhaltung, Urteilsvermögen und Ansprache dessen, was einen umtreibt und einem am Herzen liegt, der übt Ambiguitätstoleranz, er übt Umgang mit Komplexität und mit dem Eigensinn anderer – und dem eigenen Eigensinn. Takt erweist sich darin, mit Umgangsformen zu spielen. 90
Wer taktvoll ist, achtet die Komplexität von Situationen, und er behandelt andere Menschen nicht schablonenhaft. Beides befördert, dass er Mitmenschen achtet, also eine Mentalität der Fürsorge und der Solidarität. Aber einer solchen Solidarität, die daraus erwächst, den anderen als eine eigensinnige Person anzusehen, die nicht in die eigenen Denkmuster eingemeindet wird. Die vor einem liegende Situation als komplex anzusehen ist etwas, das einer wissenschaftlichen Einstellung und einer verbreiteten Alltagspraxis entspricht. Wissenschaft ist ja entstanden aus der Anerkennung des eigenen Nichtwissens.59 Nur wer zugibt, nicht zu wissen, kann offen forschen und Vorurteile hinterfragen. Unsere These – gutes Zusammenleben zeigt sich darin, dass Menschen mit Formen spielen – wollen wir begründen. Zunächst wollen wir dafür argumentieren, dass Menschen im Umgang mit einander Formen wahren sollten. Für moderne Zeitgenossen kann nämlich sowohl ‚Form‘ als auch ‚Gestalt‘ wie etwas Künstliches daherkommen, das man längst wie eine starre Etikette überwunden zu haben meint. ‚Form‘ erinnert an ‚Förmlichkeit‘ und an ‚Formales‘. Heute scheinen eher Innerlichkeit und Zwanglosigkeit zu gelten. Das zeigt sich scheinbar in der Kleidung: Sie soll eher informell, bequem und nicht steif sein. Heute gilt, was als ‚Authentizität‘ bezeichnet wird, die offenbar als eine Art Übereinstimmung gedacht wird: Jemand stimmt mit sich selbst überein (auch eine Art Selbstbestimmung). Ist das ein sinnvolles Konzept für sich und den Umgang mit anderen? Zunächst spricht einiges dafür. Wer auf Formen verzichtet, meint, dadurch die Besonderheit seines Mitmenschen jenseits starrer Etikette in den Blick nehmen zu können. Er kann sein informelles Verhalten sogar als taktvoll kennzeichnen. Denn Takt gilt als situativ angemessenes Handeln. Aber die Form des Umgangs mit Mitmenschen ist das Medium zwischen ihnen. Nur von sich selbst aus zu schließen, kann als grob und verletzend aufgefasst werden. Und auch wenn jemand einen anderen wahrnimmt, so ist es nötig, aufgrund dieser Anmutung den richtigen Ton zu treffen. Selbstbestimmung allein und bloße Authentizität genügen in diesem Fall nicht. Das ist im Fall willkürlicher und auf eigenen Vorteil ausgerichteter Selbstbestimmung klar. Aber auch im Fall einer Moral, in der sich jemand an selbstbestimmten Prinzipien orientiert, wird das Gegenüber an diesen Prinzipien gemessen. Die Wahrnehmung des Konkreten wird unterbelichtet, 59
Vgl. Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011). München 2015, S. 305ff. 91
wenn es um Autonomie, also um Selbstgesetzlichkeit, oder, konsequenzialistisch, um Betrachtung von Vorteilen geht. Takt dagegen ist die Tugend par excellence der Achtung eines anderen Individuums. Takt zielt auf eine Wechselbeziehung freier Menschen statt auf ein Prüfverfahren im Kopf eines einzelnen. Mit Helmuth Plessner formuliert: „Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens“.60 Er ist das „Vermögen der Wahrnehmung unaufhebbarer Differenzen“61 und damit die Tugend der Differenz schlechthin. Takt kann – insofern – als die Tugend entfaltet werden, die aus der Philosophie der Postmoderne geschlussfolgert werden kann. Aber um Differenzen in einen Raum zu stellen, bedarf es einer Form. Mit dem Einpendeln von Nähe und Distanz geht die Tugend des Taktes einher. Im Takt wird besonders die Sensibilität im Umgang mit anderen Mitmenschen deutlich, er ist die Tugend des Zwischenverhältnisses zwischen Menschen, die Tugend der Wechselbeziehung, Takt räumt dem anderen sanfte Freiheit ein. Takt könnte man als Be-Hut-samkeit definieren, das heißt als Tugend, etwas zu hüten, zu behüten und zu umsorgen. Das Bild des Hutes verdeutlicht, dass Menschen in Gesprächen in gewisser Weise ebenso einen Rollenabstand wahren – sie „tragen einen Hut“ – wie „unter einem Hut“ stecken, und dass nicht jeweils alles gesagt werden muss, sondern manches gut bewahrt in ihm bleiben soll. Es wird dann wie ein Geheimnis bewahrt und gewahrt, die taktvolle Person gewährt der anderen einen Spielraum und einen Eigensinn; Schweigen zu können gehört da mit hinein. Insofern zwei Menschen einander nie vollständig erkennen können, wahrt eine taktvolle Person im Wissen um wechselseitiges Vertrauen gewissermaßen die Treuhandschaft für ein Unverfügbares. Die hierbei benutzte Metapher der Wahrheit überstrapazierend könnte man sagen: Wahr ist nur ein Geheimnis, bzw. wahr wird ein anderer mir nur als ein Geheimnis. Takt ist Rhythmus, d. h. die Fähigkeit, den Rhythmus eines Gespräches zu beachten und dem Rhythmus des Gegenübers zu folgen, eine Form dafür zu finden, ihn aufzugreifen, zu akzentuieren und zu formen. Insofern ist Takt Fingerspitzen-
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Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft (1924). In: Ders., Gesammelte Schriften V, Frankfurt/M. 1981, S. 107. Vgl. zu den folgenden Absätzen: Michael Fröhlich, Klaus Langebeck, Eberhard Ritz, Was auf uns zukommt. Tübingen 2020, Kap. „Jemanden beraten“. Ebd. 92
gefühl (tactus, der Tastsinn, von lat. tangere, berühren) als Wahrnehmung einer Situation, in der ein Übergang zu einer anderen Gesprächsart unpassend wäre, ja vielleicht überhaupt als das Vermögen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann eine Gesprächsart oder -richtung gewechselt werden kann. Dass (taktvolle) Formen im und zwischen Menschen dringlich notwendig sind, beruht darauf, dass Menschen für sich und untereinander unbestimmt sind.62 Es scheint paradox, dass angesichts der Unbestimmtheit von Verhältnissen und aller Angelegenheiten zwischen Menschen Formen des Beisammenseins wichtig sind. Aber eben diese sind es, an denen entlang wir uns bilden und an denen entlang wir unser Vertrauen ausbilden – eingedenk dessen, dass wir mehr als diese Formen und Begriffe sind. Dass wir mehr als diese Formen sind, zeigen wir in Takt. Taktvoll achten wir die Tatsache, dass uns jeder andere im Prinzip immer auch unbekannt ist, und dass wir uns selbst ebenfalls nicht kennen. Die Achtung anderer in einer konkreten Situation verlangt, dass die Formen zwischen Menschen und im Menschen nicht starr sein dürfen. Die Form ist eher als eine Grundlage anzusehen, die sich, wie eine geologische Formation, in nichtfixierbaren Zeiträumen verschiebt. Wer die Form zu anderen wahrt, spielt zugleich situationsgerecht mit ihr. Um eine starre Form von einer abzugrenzen, in der Menschen Formen als Grundlage für ihr Beisammensein nehmen, wollen wir das Spiel mit gewahrten Formen eine Gestalt für Verhältnisse nennen. Gestalt ist also für uns, was eine Form hat, ohne diese starr auszuüben. (So wie jemand, der sich gut kleidet, in gewisser Weise mit seinen Kleidungsstücken spielt.) Eine solche Gestalt des Umgangs zeigt sich in Takt, Situationsangemessenheit, Humor und einer spielerischen Einstellung zu sich und anderen. In einer solchen Einstellung wird das, womit gespielt wird – die Form – ernstgenommen und auf ein Spielfeld gelegt. Ein Spiel ist nur dann ein Spiel, wenn es regelbestimmt ist; ohne derartige Regeln sprächen wir von ‚Zufall‘. Dieses Spielen mit Formen, die wir brauchen, ohne nur diese Form zu sein, wollen wir würdevolle Lebendigkeit nennen. In einem Spiel mit Formen wird eine Gestalt eröffnet. Lebendigkeit heißt, dass alles einem Wandel unterliegt, Würde 62
„Que seriez-vous, si vous n’étiez mystère“. Paul Valéry, Le philosophe et ‚La jeune Parque‘ (1935). In: Die junge Parze: Frankfurt/Main 1957, S. 208. Vgl. Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen. Frankfurt/Main 2017, S. 34. 93
meint die Wahrung der Form sowie die situationsangemessene Beachtung des Gegenübers und von sich selbst.63 Für jemanden hingegen, der sich an einer starren Tradition orientiert, gilt: Die Form zählt. Früher galt beispielsweise im Berufsleben eine stärkere Etikette als heute. Heute können wir in der Kleidung einen Verlust an der Darstellung öffentlicher Rollen wahrnehmen. Der Richter kann in Motorradkleidung erscheinen, der Lehrer im Parka, die Vorgesetzte im engen und offenen Kleid. Rollen, scheint es, prägen unsere Kleidung nicht mehr.64 Diese Einstellung zeigt sich bereits im Verständnis von Rollen: ‚Er spielt nur eine Rolle‘ heißt heute oft: ‚Er ist es nicht wirklich, er verstellt sich.‘ Das heißt, das, was jemand ‚ist‘, wird so angesehen, als existiere es in einer Welt ohne Verhaltenserwartungen und das heißt auch, in einer Welt ohne andere. (‚Selbstverwirklichung‘ ist in diesem Sinne wohl ohne ‚Wirklichkeit‘, nämlich ein Weg in Selbstisolierung und Einsamkeit.) Sehen wir uns zunächst anhand von Kleidung typisch moderne Ansichten über Formen des Zusammenlebens und des Verhältnisses zu sich an, um dann zu überlegen, welche Art Gestalt Verhältnissen guttut. Wir starten mit der Hypothese: Formen sind wichtig, aber es kann nicht genügen, sich nur an ihnen auszurichten.65 Die Frau, die zu dick geschminkt ist und ihr Alter versteckt, die in der Schminke maskenhaft aussieht, fällt demjenigen auf, der andere Normen oder Etiketteregeln vertritt. Auch der Mann, der seinen Bauch durch einen weiten Pullover und seine schütteren Haare durch einen Hut kaschiert, könnte uns darauf aufmerksam machen, dass das, was wir tragen und wie wir uns kleiden, etwas überdecken kann (oder soll), das wir ‚sind‘. Bewusst oder unbewusst können wir bei Außenstehenden die Vorstellung eines Gegensatzes zwischen der Kleidung eines 63
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Diese Begriffe verweisen natürlich auf Goethe „Urworte. Orphisch“: „Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt /Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“ Vgl. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1977). Frankfurt/Main 1986, S. 92, 341f., 428. Beispielsweise ist es nicht möglich, Verhältnisse zwischen Menschen und Selbstverhältnisse rein diskursiv auszuloten: In die Auseinandersetzung spielt immer mehr mit hinein, als sich in fest bestimmten Begriffen und Argumenten einholen lässt, da ist immer mehr, das jemand zu wägen oder zu bedenken hat, der vor einer Entscheidung steht, als das, was sich in Kriterienlisten einfangen lässt. Heutzutage wird an dieser Stelle von Gefühlen und Intuitionen gesprochen, allgemein ist der Horizont, in dem wir denken und handeln, weiter als derjenige Bereich, den wir klar erkennen können. 94
Menschen und dem ‚Rest‘ wahrnehmen, also unserem Bild, das wir uns von ihm machen. Kleidung erscheint uns zuweilen ‚äußerlich‘, gegenüber der Vorstellung eines möglichen Inneren, das ‚authentisch‘ wäre. Kleidung, besonders förmliche, wie man sie in Anzügen und feierlichen Kleidern findet, scheint uns heutzutage weniger zu bedeuten. Wir halten uns dabei vielleicht an Goethes Faust: „Du bist am Ende – was du bist. /Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, /Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken, /Du bleibst doch immer, was du bist.“66 Allerdings drückt heutige, legere, sportliche ‚Outdoorkleidung‘ nach wie vor den Versuch aus, in der Kleidung zu repräsentieren, wie man ‚ist‘ oder sein möchte. Man möchte sportlich aussehen, man möchte viel in der Natur sein und Trekkingtouren erleben, man möchte ‚echt‘ sein und sich nicht durch die Kleidung verstellen; authentisch sein heißt, original sein.67 Dabei trägt man natürlich Kleidung solcher Markenfirmen, von denen man weiß, Mitmenschen finden gerade diese Firmen gut, man passt sich also auf andere Art ebenfalls durch Kleidung an. Wenn förmliche Kleidung heute als Verstellung oder Anpassung an äußere Vorgaben gilt – und das verdeckterweise ebenso für die ‚informelle‘ Kleidung gilt –, so gilt: Das Äußere soll zum Inneren ‚passen‘, ja, es soll mich ‚ausdrücken‘, so wie ich ‚bin‘. Ein gutes Beispiel stellt insofern die Forderung der Rückkehr zu Schuluniformen dar, die nicht als Rückkehr zu Einheitlichkeit ohne Individualität aufgefasst werden sollte, sondern als Einsicht in die Tatsache, dass Kinder sich heutzutage an den Rollenvorbildern kommerzieller Marken orientieren – die zugleich Ausdruck einer ökonomischen Hierarchie sind. Paradox: Wo jemand ohne Kleidung früher gewissermaßen nackt dastand und sich so nur wenigen Menschen zeigte, wird heute der Körper als Kleidungsstück geformt: in Fitnessstudios, mit Hilfe von Tattoos oder anderen Utensilien. Es scheint, als ob die Idee, etwas Äußeres müsse den
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Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Vers 1806f. (Faust I, Studierzimmer (Mephistopheles)). D. h. man möchte ein unverwechselbar Solitär sein, kann dies aber nur in ausgestalteten Verhältnissen mit anderen. Was wiederum paradox erscheint und die Instrumentalisierung anderer verdeutlicht: Ich brauche die anderen, um einzigartig sein zu können. – Außerdem scheint Authentizität heute vor allem eine spezifische Konstruktion seiner selbst zu sein, sie riecht ein wenig zu sehr nach Gillette-Dreitagesbart und Antibotoxwerbung auf Großbildschirmen, die von Naturjoghurtwerbung begleitet wird. Authentizität weckt die Vorstellung eines Ursprungs – nach dem sich wohl alle Konstruktivisten sehnen. 95
Menschen ‚kleiden‘, nach wie vor aktuell sei. (Kein Wunder, dass ab dem Moment, wo Nacktheit selbstverständlich wurde, Tattoos in Mode kommen – die möglichst individuell sein sollen.) Und wir bemerken an anderen Menschen solche Kleidung, die ihnen gutsteht, die sie kleidet, sportlich erscheinen lässt, attraktiv oder geschäftsmäßig-elegant, die Farbe des Hemdes passt zur Augen- oder Haarfarbe; selbst ein Badeanzug, der etwas betont und anderes versteckt, prägt die Wahrnehmung der Person und ihrer Figur anders, als wäre sie nackt. So gesehen ist Kleidung keine Verstellung; sie drückt uns aus, und darüber hinaus zeigt sie, zu welcher Kultur wir gehören. Kleidung verweist auf eine Lebensform. Ein Mensch drückt durch seine Kleidung aus, wer er ist, oder er verkleidet sich, um sich gerade nicht oder nur Teile seiner selbst zu zeigen, einerseits; andererseits kleidet sein Aussehen ihn, und das heißt, seine Kleidung macht ihn zu dem, der er ist. Wer zum ersten Mal seinen Neffen im Anzug sieht und weiß, er steht jetzt in seinem ersten Beruf, der sieht ihn mit anderen Augen an, und der vermeint zu vernehmen, dass der Neffe sich erwachsener, ‚reifer‘, in Umgangsformen erfahrener zeigt. Kinder, die zum ersten Mal in der Verwandtschaft ‚Konversation betreiben‘, zeigen, dass sie jetzt nicht mehr nur im Verhältnis zu den Onkeln und Tanten, Großeltern und Großtanten leben, sondern dieses zu gestalten wissen. Dass die Umgangsformen zu den Kindern und der Anzug zum Neffen ‚passt‘, das meint hier nicht, dass der Neffe sich den Anzug passend ausgesucht und das Kind sich den richtigen Satz zurechtgelegt hat, sondern dass Neffe und Anzug, Kind und Ausdrucksform im Verhältnis zueinander passend wurden. Die äußere Form der Kleidung – verallgemeinern wir, des Handelns eines Menschen – bildet sein Inneres. Das ist für uns Heutige ein merkwürdiger Gedanke, er erscheint oberflächlich. Warum könnte es dennoch so sein? Im Kern, weil der Mensch ein Wesen ist, das zwischen Unbestimmtheit und Form wechselt und das äußere Formen braucht, um etwas zu ‚sein‘,68 gerade weil er etwas ist, das keine 68
Vgl. Hannah Arendt: „Jeder Mensch ist natürlicherweise mehr als alles, was er tut oder denkt, mehr als alles, was er je tun oder denken könnte. Dies ist sein eigentlicher Stolz, der Stolz des Natürlich-Irdischen-Menschlichen. Dass das eigentliche Wesen, das jeder ist, dass die eigentliche Größe, die jeder hat, mit ihm aus der Welt geht, ihn nicht überlebt wie ein Ding, sondern sterblich ist wie er und unrettbar verloren geht, wie dies „Wesen“, solange er lebt, unbezweifelbar wirklich ist.“ Hannah Arendt, Denktagebuch. 1950–1973. Erster Band. Tübingen 2002, S. 149. 96
Form hat, sondern nur Möglichkeit und Kraft ist; in der Form zeigt sich außerdem das Verhältnis des Menschen zu seiner Mitwelt.69 Formen wie Kleidung und Umgangsmanieren sind immer auch Arten, in Verhältnissen zu sein – mit anderen und in Selbstverhältnissen, vielleicht auch zum Ganzen der Wirklichkeit (über das wir Gedichte verfassen können, Bilder malen können oder zu dem wir im Gebet die Hände falten können, ohne uns direkt darauf auszurichten). Die Form, in der ein Mensch sich gibt, gibt ihm eine Gestalt, an der er seine Identität ablesen, abarbeiten, formen und bedenken kann – gerade auch wenn dies nicht wohlüberlegt, sondern passiv geschieht –; das Verhältnis gestaltet ihn mit. Die Form ist insofern nicht äußerlich, sondern verwebt sein Inneres mit der Umgebung. Dadurch kann das Verhältnis zwischen ihm und anderem seine Umgebung und ihn selbst gestalten. Wir sind Zwischenwesen in der Mitte von uns und anderen, nicht nur ein Gesprächspartner, sondern mitten im Ge Arendt berührt hier einen merkwürdigen Gedanken, den der doppelten Natur des Menschen zwischen Form und Unbestimmtheit, der sowohl die Zeitlichkeit als auch – möglicherweise – die Zeitlosigkeit des Menschen zur Folge hat. 69 Vgl. ähnlich Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn 1924). Frankfurt/Main 2016, S. 62, 63, 64, 71–72, 79, 80, 82, 85, 91: „Anders die seelische Seinsfülle. Sie erschöpft sich nie im Gewordenen, sondern passiert dieses Stadium der Bestimmtheit und Erschöpftheit nur, um wieder ins Werden, in die lebendige Aktualität überzugehen. Aus einem unauslotbaren Quellgrund, dem Innern, steigen ihre schwer faßbaren Gestalten ins Licht des Bewußtseins, an dem sie wieder wie alle echten Geschöpfe der Nacht zergehen. Die Seele ist allemal zweideutig, ihre Geheimnisse weichen vor jedem Versuch der Enträtselung in andere Tiefen zurück. […] Dieser plötzliche Gewichtsverlust, den die Psyche im Heraustreten erleidet […] braucht eine Kompensation, welche solchen qualitativen Gewichtsverlust ausgleicht, es braucht Bekleidung mit Form, damit es das auch an der Oberfläche bleibt, was es, in seiner unsichtbaren Tiefe genommen ist. In diesem qualitativ gesehenen Antagonismus zwischen Kraft und Erscheinung der Seele wurzelt der Zwang zur Form, mit der wir außer dem Gnadengeschenk der Liebe dem Fluch der Lächerlichkeit zu entrinnen vermögen. […] Aus den radikalen Nöten, denen er durch seine Innerlichkeit verfallen ist, sucht der […] Mensch einen Ausweg. […] (D)as gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konvention, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen. Die Liebenswürdigkeit ist ihre Atmosphäre, nicht die Eindringlichkeit; das Spiel und die Beachtung seiner Regeln; nicht der Ernst ist ihr Sittengesetz. […] Alles Psychische braucht diesen Umweg, um zu sich zu gelangen, es gewinnt sich nur, indem es sich verliert.“ 97
spräch, nach ihm anders als vorher disponiert. „(D)ie Mitwelt ist […] die Garantie der wirklichen (nicht nur möglichen) Selbsterkenntnis des Menschen“.70 Indem wir Formen wahren, werden wir, was wir sein können; schon wenn wir atmen und einen Rhythmus beachten, leben wir in einer Form, und beispielsweise dann, wenn wir zu einem Menschen hinsehen und bei ihm nachfragen, prägt uns das. Für Plessner besteht darin gerade die Würde des Menschen: Sein Inneres und Äußeres – die die Verhältnisse widerspiegeln, in denen er lebt – bilden eine Harmonie. Fassen wir das zusammen: Im Umgang mit anderen Menschen besteht die Tugend in der Wahrung bestimmter Umgangsformen, die den Menschen in diesen Formen unangetastet, unbestimmt lassen – und ihn gestalten. Warum genügt es aber nicht, dass Menschen im Umgang miteinander und mit sich bestimmte Formen beachten? Strikte Regeleinhaltung ist starr und kalt. Um unterstützend, menschlich miteinander umzugehen, bedarf es, wie oben gesagt, eines klugen und behutsamen Spieles mit Regeln und Formen, also der Umgangsweise in Gestalt des Taktes. Die würdevolle Lebendigkeit eines Menschen und des Zusammenseins zwischen Menschen zeigen sich in erweiterbaren Formen. Bestimmung bewirkt eine Verengung des Blickwinkels; der andere und man selbst werden eingeschränkt betrachtet und daher nicht in ihrer Freiheit geachtet, die immer auch bedeutet, dass der andere (und man selbst) ‚mehr‘ sein kann als die Deutungen von ihnen. Wer nur in einer Form denkt, dem geht Besonderes verloren, der nimmt andere und sich nicht als etwas Besonderes wahr, das immer auch mehr als diese Form ist. Generell kann die Wirklichkeit nicht allein in feststehenden Begriffen – die Formen sind – erfasst werden. Wahrnehmung ist eher ein unabgeschlossener Prozess als eine Zuschreibung einer Erkenntnis- oder Seinsform. Auch die Verhältnisse, die ein Mensch zu anderem eingeht und in denen er lebt, sind unbestimmt – und es ist zu wünschen, dass sie unbestimmt sind. Es gibt keinen (jedenfalls innerweltlichen) Anfang, aus dem Verhältnisse erwachsen, keinen Anfang, aus dem man Prinzipien ableiten könne, keinen Ur-sprung, aus dem heraus das Wesen der Wirklichkeit geschlussfolgert werden könnte. Jede Bestimmung entsteht erst im 70
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928). Ges. Schriften Bd. IV. 2. Aufl. Frankfurt/Main 2016, S. 378. 98
Verhältnis und aus ihm heraus sowie von den Gliedern des Verhältnisses her, die dabei dann in Form einer Fiktion als unabhängige Entitäten aufgefasst werden. Bestimmung ist eine Leistung des Subjekts oder eines Gegenübers bzw. dessen, was das Subjekt als Gegenüber auffasst. Dabei ist der Bestimmende schon herausgefallen aus dem Verhältnis, das er zu bestimmen sucht. Es ist notwendig, Modelle zu bilden, wenn man etwas erkennen oder gestalten will. (Es ist nur hilfreich, das Modell nicht für die ganze Wirklichkeit und für ihre bestmögliche Gestaltung auszugeben.) Jede Erkenntnis und jede Auffassung darüber, wie etwas gestaltet werden soll, benötigt eine Form. Erst die Fokussierung und Verengung lässt klar und genau sehen. Beispielsweise kann niemand etwas Besonderes ohne Form vor Augen haben, es ergibt sich erst im Durchgang durch eine Form als von ihr Verschiedenes. Das macht deutlich, dass ein Mensch, wenn er etwas wahrnehmen und gestalten will, immer Unbestimmtheit und Form braucht. Besonderes sozusagen ‚nur‘ als unbestimmtes Besonderes zu erkennen, ist unmöglich. Wahrnehmung ist ein Prozess, dem anderen können wir uns nähern, ohne ihn zu erreichen. Nur ein Gott könnte jemanden als Besonderen wahrnehmen.71 Flach ist eine solche Suche nach dem Besonderen in unserer Zeit, die gerade daraus erwächst, dass alles standardisiert ist: Das, was an Welt begegnet, ist in der modernen Welt oftmals als Objekt standardisiert, Besonderes kann dann gar nicht wahrgenommen werden, denn es ist immer schon begriffen, als ein Etwas, das so und so ist. Das wiederum erzeugt die Sehnsucht nach Besonderem, die heute schon in den Alltagsjargon eingesickert ist. Man erhält Geburtstagsgrüße zu seinem ‚besonderen‘ Tag, man kann jeden Tag zu seinem ‚besonderen Erlebnis‘ machen, von einem PC-Programm wird einem gesagt, wie; im Fitnessstudio ist alles ‚wunderbar‘, der Chef findet jede erledigte Arbeit ebenso ‚wunderbar‘, jeder ist ein ‚wunderbarer‘ Mensch, jeder schickt an jeden ‚herzliche Grüße‘. Aus der Tatsache, dass Formen sowohl beim Erkennen als auch im Umgang zwischen Menschen nicht genügen, folgt nicht, dass Begrifflichkeit keinen Wert hat, ebenso wie es nicht folgt, die damit einhergehende Gegenständlichkeit eines Gegenübers aufzugeben. Für den Arzt wird meine so individuelle Leiblichkeit zum Körper; in gewissem Sinne betrachtet er jeden Patienten als ‚Ding‘ mit Strukturen, denn er weiß, wo die Organe sind, an denen er tätig werden muss. Für den 71
Vgl. Nicolás Gómez Dávila, Notas. Unzeitgemäße Gedanken. Berlin (2) 2006, S. 285. 99
Arzt kann ich dabei beides sein, Subjekt und Objekt. Und vergleichbar: Für den Statistiker bin ich ein ‚Gegenstand‘, der in seiner Alterskohorte eine Reihe von statistisch auffälligen Gemeinsamkeiten besitzt, und dennoch vermag ein Statistiker noch, Menschen wahrzunehmen. Wir kritisieren allerdings eine allzusehr auf fixe Begrifflichkeiten hin geregelte Sprache. Sprache ist hingegen ein wilder Mix aus Metaphern, Bildern, ja: Verhältnissen. Sie stellt Dinge und Bedeutungen, Emotionen und Anmutungen wie ein Vektor dar: Ein Vektor verschiebt etwas – er rückt es also woanders hin, er verzerrt es dadurch möglicherweise auch –, und er kann als Richtungspfeil angesehen werden, er zeigt auf etwas. Das, worauf sprachlich gezeigt wird, ist selber aber nicht sprachlich, obwohl wir es niemals außersprachlich ‚sehen‘. Und etwas präzise begrifflich zu definieren, ist nur eine Möglichkeit, auf etwas zu zeigen, es gibt andere, es gibt keine 1:1-klare Beschreibung von etwas. Man richtet sich auf etwas aus, das selber nicht in der symbolischen Form liegt, in der man etwas bedeutet, daher ist man immer auf das Wohlwollen des Gegenübers angewiesen. Dieser sollte bereit sein, sich von dem Akt des Zeigens ansprechen zu lassen. Die Sprache ist auch in der Lage, das wieder hervorzuheben, was wir mit Augen und Begriffen von der Welt verkürzen. Taktvolles Handeln zeigt sich nun einerseits in der Wahrung von Formen – man platzt nicht in eine Trauerfeier mit einem fröhlichen Musikstück auf den Lippen hinein. Aber taktvolles Verhalten kann andererseits auch als Verletzung von Formen angesehen werden. Ein taktvoller Mensch kann plötzlich zögern, eine Prozedur fortzusetzen, er kann sich entscheiden, jetzt nicht weiter dem Prinzip zu folgen, das gerade angesagt schien, er kann in einer Situation Regeln verletzen. So jemand scheint Formen und Normen gegenüber der vor ihm liegenden Situation geringzuschätzen, auf die er mehr achtet als auf das, was das Prinzip jetzt von ihm fordert. Er geht davon aus, dass man mit anderen behutsam umgehen soll, dass man prüfen soll, ob man jetzt gerade jemandem gegenüber auf ein Gesetz oder sein Recht pochen sollte, und er geht davon aus, dass die Welt als Ganzes, Menschen und auch Dinge prinzipiell nicht erkennbar sind. Er berücksichtigt, dass er nicht weiß, wie der andere aufnimmt, was er ihm sagen will, in welcher Verfassung er gerade ist, ob also das, was er selber gerade vorhat und umsetzen will, zu dem passt, was dem anderen gerade im Sinn liegt. Unsere (westliche) Welt ist auf Eindeutigkeit aus, nicht nur in ihren wissenschaftlichen Beschreibungen von Gesetzmäßigkeiten, sondern ebenso in ihrer 100
klaren und minutiösen Regelung der Lebensverhältnisse; wo alles geregelt und bestimmt ist, da scheint kein Platz für Takt zu sein. Der Terrorismus attackiert genau diese Bestimmtheit durch westliche Rationalität, d. h., die Vereindeutigung der Welt, die Verengung des Blickwinkels durch westliche Rationalität. Natürlich liegen dem weitere Motive zugrunde, fehlende Teilhabe der Menschen anderer Länder, religiöse Glaubenssätze, Profit- und Machtgier. Aber die inhaltliche Leere des Terrors, die bereits Hans-Magnus Enzensberger beschrieb72, die fehlenden Alternativen, markieren eine Unzufriedenheit mit dem Modell der Bestimmtheit. Es wird genau das verletzt, wofür der Westen einsteht bzw. einzustehen glaubt, Achtung von Menschenrechten, Säkularisierung, Frauenrechte, Kulturgüter, Sicherheit (auch durch Nationalität), Macht durch Selbstbestimmung. Da keine Alternative diskursiv aufgezeigt wird, über die man streiten und diskutieren könnte, wird zudem die Alternativlosigkeit genau einer Denkweise artikuliert. In Terrorattentaten wird insofern auch übersteigert, wofür der Westen einsteht, Utilitarismus (Menschen werden als Mittel eingesetzt, um andere zu töten, beispielsweise in Selbstmordattentaten), Geldsucht, Ruhmsucht, der Wunsch, endlich von anderen gesehen zu werden, das Denken in logistischen Kategorien, Säkularisierung (denn ein Regionalfürst setzt sich als absoluten Herrscher), Buchstabenglaube, Macht – und, in Propagandavideos, der Wunsch nach Frieden, Ruhe und Gelassenheit. Die Bedrohung durch Terrorattentate und Amokläufe könnte ausdrücken, dass gegenüber der Bestimmtheit westlichen Denkens keine Alternative einer anderen Bestimmtheit gesehen wird, für die man streiten, werben oder in einen offenen Krieg ziehen könnte, sondern nur ein diffuses unbestimmtes Unbehagen, das sich in wirren Aggressionen entlädt. Eine Gestalt, in der wir anderes als geformtes Anderes betrachten und das Unbestimmte von Situationen, des Zusammenseins und des anderen berücksichtigen, drückt sich in Takt aus, wie Helmuth Plessner schreibt: sich für andere Perspektiven zu öffnen und zu interessieren, andere nicht nach dem eigenen Maß messen.73 Das Nichtansprechen, das Versagen des wahren Worts gehören nicht zum Takt; die Aufgabe, taktvoll zu handeln, stellt sich erst da, wo man sich schon entschie-
72
73
Hans-Magnus Enzensberger, Die Leere im Zentrum des Terrors. In: Ders., Mittelmaß und Wahn. Frankfurt/Main 1988, S. 245–249. Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn 1924). Frankfurt/Main 2002, S. 106ff. 101
den hat, sich in die Gefahr zu begeben, andere möglicherweise zu verletzen, das heißt da, wo man sich schon auf andere ausrichtet.74 Takt ist die Tugend, in der sowohl Form als auch Unbestimmtheit berücksichtigt werden; Takt zeigt sich in einer Form, die beachtet und auf die Besonderheit einer Situation hin überschritten wird, auf die Besonderheit desjenigen, dem man begegnet und den oder das man wahrnimmt. Wer taktvoll handelt, ist zartfühlend und macht sich verletzbar. Für taktvolles Handeln benötigt man Abstand zur eigenen Perspektive und braucht man die Ausrichtung auf andere, man braucht den Abstand überdies auch, um zu sich selbst in einem Verhältnis sein zu können, in beidem den Abstand der Empathie. Zu Takt gehört Großzügigkeit: nicht beckmessern, nicht kontrollieren, wie ein anderer sich verhält und darüber wachen. Wer großzügig ist, rechnet und rechtet nicht, er lässt einen Raum der Unbestimmtheit in der Verteilung zwischenmenschlicher Verhältnisse. Takt ist ein Spiel mit Formen. In der gesellschaftlichen Welt zwischen Unbekannten, beispielsweise angehenden Wirtschaftspartnern, bestehen häufig Regeln und Normen. Aber jede einzelne Situation verlangt gleichwohl, dass der Mensch seine Würde behält. Statt Gewalt bietet sich hier Diplomatie an.75 Die Verhältnisse zwischen den Beteiligten sind nicht etabliert, sie werden geschaffen; jeder nutzt dazu die Verhältnisse, die er kennt und aus denen er geboren ist. Und – nimmt den anderen wahr und verfolgt seine Absichten. Umdeutungen, Floskeln, das Spiel mit Perspektiven, die Erzeugung eines würdevollen Austauschs, auch wenn einer der Verlierer ist, die Wahrung seines Prestiges und Nimbus‘. List, Überredung, Wortbedeutungswechsel, auch Drohung, Schmackhaftmachen, Verhandeln, Nachgeben, sein Gesicht und das des anderen wahren, das alles gehört zu Diplomatie. Dabei entstehen Interessen und neue zwischenmenschliche Verhältnisse. Kluge Verhältnisse stellt man besser auf Dauer, schließlich will man vielleicht noch einmal zusammen Geschäfte machen. Kurzfristiger Sieg kann später bitter schmecken, weil man es sich mit dem Gegner als Partner verscherzt hat. Respekt ist grundlegend. Vertrauen gibt man daher besser vorlaufend, beim ersten Abschluss schielt man nicht auf zu große Vorteile. Man kann einen Freund oder einen verlässlichen Partner gewinnen. Das Prinzip der Gegenseitigkeit sowie das Prinzip des Aufbaus 74 75
Ebd., S. 106 Vgl. ebd., S. 99. Plessner setzt sich in diesem Text insbesondere mit den Formen des Nimbus, des Zeremoniells, der Diplomatie, des Prestiges und des Taktes auseinander. 102
von Beziehung zählen. Herrscht Misstrauen, helfen Zeremonien, beispielsweise gefeierte Vertragsabschlüsse. Man trinkt zusammen einen Kaffee und unterhält sich über Kinder oder das Wetter und die Anreise. Soviel Zeit und Raum muss sein, sie sind das Gegengewicht gegen den Anschein bloßer Zweckorientierung. Es geht ums Geschäftemachen, aber es geht nicht nur ums Geschäftemachen. In diplomatischen Beziehungen zehren Leute von den Verhältnissen, in denen sie gelebt haben, und sie spinnen neue Verhältnisse. Leute machen Kleider. (Die neue Internetwelt und digitale Kauf-Abschlüsse verstehen hiervon wenig, da zählt nur: Auf welchen Klick erziele ich den größten Vorteil? Verhältnisse zum Verkäufer zählen nichts.) Damit Verhältnisse gewoben werden können, die menschlich tiefer gehen, ist wiederum Takt erforderlich, d. h. die Wahrnehmung und Beachtung des konkreten Gegenübers, die Fähigkeit, ein situiertes Maß zu erspüren. Die Beachtung feiner Zeichen ist erforderlich, die Wahrung der Mitte zwischen Zuhören und Von-sich-etwas-Sagen, die Beobachtung, ob das Gespräch zu Vertrautheit und Vertrauen übergeht. Mehrmaliges Aussprechen verbindender Dinge bekräftigen die Beziehung, ebenso Entschuldigungen, die ausgesprochen werden, falls etwas grob gewirkt haben könnte.76 Diplomatie und Takt gemeinsam ist die Beachtung von Formen und von Situationen, in denen sich das Unbestimmte des Verhältnisses zeigt, in dem man sich gerade befindet. Sie äußern sich in Zeichen der Höflichkeit, in Gesten – auch Kleidung – und in Ritualen, in denen anderen Achtung bezeugt wird. In der Wahrung von Formen, die Menschen und ihre Verhältnisse kleiden, wird Leben zum Spiel zwischen Menschen. So wird das Leben insgesamt zum Spiel. Zu einem Spiel, in dem immer indirekt – und in indirekten Formen – auf etwas gezeigt wird, auf andere, auf sich, auf die Natur und auf das Ganze der Wirklichkeit. Gerade weil sich uns alles immer wieder entzieht, können wir auf diese Art der Wirklichkeit gewahr werden, statt sie nur fokussiert in unsere Denkwelt einzugemeinden. „Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.“77
76 77
Helmuth Plessner, ebd., S. 107. Friedrich Schiller, Tabulae Votivae 84. In: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke und Handschriften. München 1968. Bd. III, S. 305. 103
So lässt sich das Dilemma kurzfassen, so lassen sich aber auch die dadurch eröffneten Möglichkeiten darstellen, mit sich und anderem zu leben. Damit lässt sich an Schillers Bemerkungen zum Spiel anknüpfen, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren“.78 Über Verhältnisse nachzudenken, gerät so ebenfalls zu einem Spiel, man spielt mit Verhältnissen im Leben, und man spielt mit ihnen, wenn man sie sich vor Augen zu führen versucht. Spielen, ja, es erfordert: Muße! Muße ist nicht mit Freizeit zu verwechseln, die vielfach nur bedeutet, nicht arbeiten zu müssen. Muße erfordert, sich von zweckrationaler Bewältigung seiner Lebensgestaltung zu distanzieren (auch dies ist ein Können, eine Tugend); sie zielt nicht auf vorher definierte Ergebnisse, sondern ist ein tastender Weg, sich selbst zugeschriebene leibliche und intellektuelle Fähigkeiten zu erspüren, damit diese dann erprobt werden können. Auf dieser Spur können sinnlich erfahrbare Handlungsgrenzen erkannt, überschritten oder als Grenzen überhaupt wahrgenommen werden. Diese Form der Selbstbesinnung ist ein offenes Ertasten des Müßigen. Der Müßige ist sich selbst, anderem und Verhältnissen auf der Spur, leiblich und intellektuell. Insofern ist der Müßige auch ein kontemplativ Versunkener. In verkürzender Zuspitzung: In Muße – und Takt erfordert Muße, die Suspension des Ziel- und Formgerechten – versuche ich mir meine sowohl leiblichen als psychisch-kulturellen Möglichkeiten zurecht zu legen, um sie dann spielerisch umzusetzen. Dazu bedarf es des Mutes, Risiken einzugehen, nämlich ein Sich-Selbst-In-Frage-Stellen, indem man in sich selbst bisher Fremdes entdeckt; und es bedarf des Vertrauens, nicht abzustürzen – eines Vertrauens also in zweierlei Hinsicht, nämlich des Selbstvertrauens und des Vertrauens in Nahestehende. Oder sollten wir besser sagen, es bedarf eines Urvertrauens? Worauf gründet dieses Vertrauen? Leben bedeutet auch in einem labilen Gleichgewicht zu leben. Worauf könnte Vertrauen gründen? Vielleicht auf einer gelassenen Betrachtung dessen, was unbestimmt ist, indem man mit Formen spielt. Taktvolle Umgangsweisen eröffnen zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit Menschsein und Humanität. Diese Umgangsweisen wahren die Würde zwi-
78
Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Vierzehnter Brief. In: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in 5 Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke und Handschriften. München 1968. Bd. V, S. 353. 104
schen Menschen, sie erzeugen den Menschen selbst und eröffnen allererst ein Selbstverhältnis des Menschen. Wenn Takt die Tugend ist, in der wir ausdrücken, dass wir durch Formen hindurch und an ihnen entlang die Unbestimmtheit unserer Verhältnisse in den Blick nehmen, dann weist Takt darauf hin, wer wir sind: Auf der Grenze zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit sind wir – die Unbestimmtheit und alle Bestimmungen gehen mitten durch uns hindurch.79 Ein taktvoller Mensch sieht einen anderen als Geheimnis an. Er nähert sich ihm im Spielen mit einer Form und nimmt wahr, welche Begegnung sich durch diese Form und über sie hinaus eröffnet. In taktvollem Leben und Zusammenleben wird jeder vor zudringlichem Verhalten bewahrt. Dort würdigen Menschen einander als Unbekannte, sie richten sich indirekt aufeinander aus und glauben nicht, jemand könne einen anderen erkennen. Ja, sie wissen, kein Mensch ist etwas Definitives. Das Wissen um die Verbindung von Geheimnis und taktvoller Näherung fundiert Freiheit und ein menschliches, das heißt hier, sich explizit von prinzipienorientiertem Umgang abwendendes Miteinander. Diesen Gedanken äußerte der Schauspieler Michel Piccoli, indem er über die Besonderheit wirklich großer Schauspieler sagte: „Sie wissen, was Scham ist.“80 Das bedeutet nicht, dass sie sich für etwas Bestimmtes schämen, sondern dass sie wissen, dass jemand sich immer zugleich zeigt und verhüllt, ja dass Zeigen in einer tieferen Bedeutung ein Verhüllen ist, indem es ein Zeigen auf etwas Unbekanntes, auf immer Unbestimmbares ist. Was ist der Mensch? Der Mensch ist nur etwas in Verhältnissen, nichts davon Unabhängiges; Leben wird durch Umgangsformen zum Spiel, aber wir ‚sind‘ nur in diesem Spiel etwas. Weil wir soziale Wesen sind, können wir die sozialen Formen nicht aus uns herauslösen – dann bleibt nichts. Beispielsweise sagt man, man erkennt einen Menschen an seinen Gesten und an seiner Mimik. Diese sind in sozialen Verhältnissen erwachsen und drücken sie aus, so in der Anmut körperlicher Bewegungen. Wir sind das Verhältnis, in unserem Ausdruck zeigen wir unseren Stand, unser Verhältnis in der Welt und zu unseren Mitmenschen. Um das zu verstehen, muss man Abschied nehmen von der ‚Pol-Logik‘, es seien da zwei Pole in einem Verhältnis, die für sich bestehen. Nein, ohne Verhältnis (und dessen Ge79
80
Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn 1924). Frankfurt/Main 2002, S. 62f. vgl. Der SPIEGEL 22/2020, S. 125. 105
stalt) gibt es die Pole nicht. Daher ist das Spielen keine Verstellung, ebenso wie Kleidung. In Höflichkeit und Interesse demonstrieren wir, wer wir sind, und wir bestehen aus Höflichkeit und Interesse, wir bestehen aus der Ausrichtung auf andere. Man sagt – ein anderes Beispiel –, jemand sei ein humorvoller Mensch. Der Humor drückt sein Verhältnis zu anderen aus: Wie spielt er mit deren Vorstellungen und seinen eigenen, mit den Unverträglichkeiten und den sozialen Bändern, in denen er lebt? Ein humorvoller Mensch ist das Verhältnis, mit dem er sich auseinandersetzt und das er gestaltet. Deswegen ist es so müßig zu fragen, welche Motive dahinter stünden, dass jemand sich humorvoll lustig macht, solche Psychologie verfehlt ihr Objekt. Verallgemeinernd gesagt: Das Individuum ist nichts ohne eine Form – auch nichts ohne eine Tradition, die ihn formt – ebenso wie Menschen, die nur in einer Fremdbestimmung aufwachsen, dadurch keine Gestalt erhalten. Ein sogenanntes modernes Individuum, das alles aus sich schöpfen will, hingegen ist gar nichts, es wird sich alle Form durch eine Außenleitung suchen. Es tendiert viel stärker zur Fremdbestimmung als ein Mensch, der in einer Tradition aufgewachsen ist, zu der er sich ins Verhältnis setzen durfte und an der entlang er sich bildete. Der Satz Adornos – „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen“81 – ist aus der Perspektive des Verhältnisansatzes zu überarbeiten. Den von Adorno genannten Vielen könnte lediglich die Kraft und der Mut fehlen, sich Unbestimmtem zu öffnen; sie igeln sich vielleicht aus Angst, vielleicht aus fehlendem Mut ein, sodass sie sich nicht der Welt öffnen können. Sie sind daher nicht unverschämt, sie sind zu bedauern, denn sie entwerfen sich selber auf ein Container-Ich oder Container-Individuum hin, mit dem sie dann ihr Leben führen. Indem der einzelne sich aber als ein – wie auch immer zu beschreibendes – Geheimnis ansprechen lernt, kann er sein um sich selbst kreisendes Ich als eine Hülle ansehen, die ihm den Weg zu sich versperrt, und sich als jemand in Verhältnissen retten; nur so kann er ein Individuum werden, das mit anderen frei kooperieren kann. Die Harmonie in einem Menschen kann nicht als Authentizität gedacht werden; vielmehr ist sie eine Ordnung, eine Gestalt, in der Bekanntes und Unbekanntes, Prägendes und Verbindendes, Wünsche, Ausrichtungen und Unklares, Situatives miteinander ins Verhältnis gesetzt werden. Man könnte das als Wahrhaftigkeit be81
Theodor W. Adorno, Minima Moralia (1951). Frankfurt/Main 1981, S. 57. 106
zeichnen; sie garantiert tugendhaftes Zusammenleben, insofern sie die Treue zu den Verhältnissen markiert, die in einem Menschen liegen, und Vertrauen ermöglicht. Wahrhaftigkeit ist nicht Authentizität, sondern Rückbindung an eine Verbundenheit mit anderem, sie ist eine Art Harmonie im Verhältnis zu anderen, in taktvoll ausgestalteten Situationen, also kein inneres Übereinstimmungsprodukt.82 Dass Menschen nichts außerhalb von Verhältnissen sind, und dass sie stets ‚mehr‘ sind als unsere Deutungen von ihnen, erzeugt ihre Würde. Insofern kann es Darstellungsformen geben, die selbst würdevoll sind. In solchen bewusst verkürzenden Formen, in denen wir auf ein Ganzes der Wirklichkeit zeigen, bezeugen wir ein Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit, das wir nicht umgreifen und erfassen können, sondern in dem wir leben, aber dessen wir gewahr werden. Eine Gestalt selbst hat auf gleiche Art Würde. Die knappe, zur Stirn erhobene Hand beim militärischen Abschied an einem Grab, die ausdrückt, alle Tränen können diese Person doch nicht meinen, wieder zurückholen oder erreichen, hat Würde. Ja, solche würdevolle Gestalt erzeugt und ruft Inneres wieder wach, und sie weckt Verhältnisse, hier die zum Toten, gerade weil nicht der Versuch unternommen wird, eine äußere Form zu wählen, die den Toten oder das Verhältnis zu ihm sozusagen 1:1 abbilden könnten; der Tote und das Verhältnis zu ihm werden (bescheiden und treu) angezeigt, sie sind aber ‚mehr‘ als die Geste, die sie nur be-deutet.
82
„Ohne die wärmende Begrifflichkeit der Lebenswelt (…) findet sich die kalte Heimat expressiv entmündigter Menschen, eine Heimat, in der es auf den menschlichen Ausdruck nicht mehr ankommt.“ Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 12. „So ist die erste Hälfte des vergangenen 20. Jahrhunderts auf allen Feldern der Expressivität vor allem in Deutschland geradezu von einem Authentizitätswahn befallen. Je näher an das Leben herangegangen wird: desto authentischer im Sinne von wahrhaftiger, eigentlicher, echter. Aus diesem Syndrom entbanden sich ‚geist‘- und ‚form-feindliche‘, ‚anti-urbane‘, ‚anti-konventionelle‘ und ‚anti-bürgerliche‘ Affekte bis – ja bis die zivilisierten Formen des Umgangs miteinander in Trümmern lagen. Der Preis für zu große Lebensnähe ist die blutende Form, aber genau die wurde gesucht.“ Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 66. Hogrebe scheint beim zweiten Zitat im Unterschied zu uns von einer Nähe-Distanz-Theorie auszugehen, nach welcher Expressivität mit Distanz erkauft ist. Wir hingegen gehen davon aus – da der Mensch zu sich selber in einem Unbestimmtheitsverhältnis steht –, dass Nähe durch die Formen ex- (und im)pressiver Bezüge zu anderem entsteht. 107
Wieviel weniger intensiv sind bisweilen die endlosen Fotoserien, die man zur Vergegenwärtigung einer Person auf Beerdigungen oder Geburtstagen erlebt! Die Form, in der wir leben, kann gerade dann eine Würde haben, wenn sie die Unbestimmtheit des Menschen und seiner Verhältnisse mit ausdrückt. In einer würdevollen Form wird eine Öffnung für die Unbestimmtheit des Herzens deutlich, sie zeigt sich in einer Harmonie zwischen Innen und Außen, Unbestimmtem, Sichtbarem und Begreifbarem. In der Wahrung einer Form zelebrieren wir etwas, das wir ausdrücken wie in einem sozialen Tanz – die Gestalt ist die Verbindung zwischen Unbestimmtem und Ausdruck, und das, was wir darstellen, ‚ist‘ nur in dieser Form und kann nur in ihr sein, und wir zeigen an, dass es ‚Mehr‘ ist; wir ‚amplifizieren‘ unsere Welt, dadurch feiern wir sie und geben ihr Würde. Die Wahrung des Verhältnisses und seiner Unbestimmtheit zugleich, d. h. die Ausrichtung auf etwas in meiner Nähe, zu dem ich in Distanz stehe – zeichnet Würde aus. Würde liegt zwischen Nähe und Distanz, ist Ausdruck des Wissens um Distanz und Differenz, und in diesem Ausdruck und nur in ihm zeigt sie Nähe und kann sie sie gestalten. Daher ist Würde selbst etwas, das sich nur in einer Gestalt zeigt, und etwas, das ein spezifisches Verhältnis zu Form anzeigt, weder starr noch auflösend. Solche Gestalt kommuniziert Vertrauen und ist nicht nur die Form der Kommunikation selbst. Sie figuriert, sie schafft die Möglichkeit von Konstellationen, dazu, sich zu anderen und zu sich überhaupt zu stellen. Daher gibt es auch eine Würde der Gestalt selbst: in der man der Form als Stellung und in der man dem Unbestimmten, das sich nur in einer Form zeigt und in einer Gestaltung ereignet, eine Chance gibt. Würde- und taktvoll ist es ebenfalls, auf Alltagssituationen ritualisiert zu reagieren. Wir zelebrieren in Ritualen den Tag und unser Beisammensein, wir rhythmisieren unsere Verhältnisse, aber vor allem feiern wir die Besonderheit einer Situation und wir feiern unser Gegenüber. Guten Morgen. Guten Appetit. Wie geht es dir? Schlaf gut. Trinken wir einen Kaffee? Guten Tag, lieber Mitbewohner. Schön, Sie zu sehen. Wieder gilt: Die Form eröffnet das Verhältnis, und das Verhältnis prägt mich. Vordergründig könnte man sagen, Rituale verfremden – das stimmt auch, denn ich lerne durch solche Formen, je neu auf meine Mitmenschen zu sehen. Es wirkt fremd, wenn man gerade Appetit hat, zunächst ein Tischgebet zu sprechen, das einen an die Herkunft des Essens erinnert. Aber bei dieser Redeweise wird vorausgesetzt, jemand könne etwas außerhalb einer Form sein – und in diesem Fall wäre derjenige nur und ausschließlich sein Bedürfnis, zu essen, er 108
weiß nicht mehr um das Gesamtverhältnis, in dem er lebt. Wer den Menschen als etwas Eigentliches außerhalb von Formen ansieht, reduziert ihn und ignoriert, dass Verhältnisse in ihm leben. Einen Aspekt haben wir bisher völlig ausgeblendet. Die Verhältnisse, die wir betrachtet haben, betrafen nämlich nur die zu Mitmenschen, die Selbstverhältnisse und die zum Ganzen der Wirklichkeit. Es fehlt das Verhältnis zur außermenschlichen Umwelt. Das hat seinen guten Grund. Die Erörterung dieses Verhältnisses führt nämlich vielleicht dazu, dass wir unsere alltäglichen Praktiken verändern müssten, es ist unbequem, darüber nachzudenken. In Bezug auf alle Verhältnisse haben wir vorhin Würde gefordert. Aber: Lassen wir Tieren Würde? Haben sie gar Rechte? Wir sehen sie nicht als Selbstzweck, wir töten sie. Das mag unserer Bedürfnisstruktur geschuldet sein, wir müssen essen und uns behaupten, indem wir Nahrung verbrauchen. Fragt sich bloß: Wie? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wir essen keine Tiere mehr und lassen ihnen ihr Leben, ohne dass wir über sie verfügen. Oder wir essen sie und fragen uns, wie ein gutes Verhältnis zu ihnen gleichwohl aussehen kann. Vielleicht so: Unsere Bedürfnisse sind aus gesundheitlichen Gründen unverhandelbar, und obwohl wir wissen, es gibt keinen vernünftigen Grund außerhalb unserer Perspektive, erkennen wir unsere Perspektive an. Wir wissen dabei, das ist tragisch – so wie ein sich Trennender den Partner, den er verlässt, verstehen kann, aber dennoch seinen harten Weg der Trennung geht, weil es für ihn keinen anderen gibt –, und wir können tragisch wissen, wir werden sie schlachten. Es wäre in einem minimalen Sinne gut – und hieße, das Verhältnis zu Tieren zu würdigen, auch wenn wir die Tiere selbst nicht in einer Würde achten – wenn wir beizeiten Demut walten ließen. Sie könnte sich darin äußern, bewusster auf den eigenen Fleischkonsum zu achten, beispielsweise nicht zu viel Fleisch zu konsumieren und beispielsweise darauf Wert zu legen, dass die Tiere, die wir essen, wenigstens gut gelebt haben, bevor sie geschlachtet wurden, und dass wir darauf achten, wie sie getötet werden. Wir bemerken sehr wohl den Unterschied zwischen unseren Haustieren und den Tieren, die wir essen, und wir können die daraus resultierende Tragik in Ritualen und Zeremonien bekunden, sei es in Tischgebeten, sei es, indem wir zu gewissen Zeiten ritualisiert das Schicksal dieser Tiere bedenken, beispielsweise im Rahmen eines Erntedankfestes. Ein derartiges hinnehmendes Akzeptieren oder gar Demut verdeutlichten uns, dass uns ein Verhältnis zu Tieren in einem Vollsinn nicht möglich ist. Auf jeden Fall müssen wir, um im Verhältnis zu Tieren zu bleiben, die wir essen, entschieden 109
gegen die Tierhaltung ankämpfen, in der Tiere widernatürlich als reine Mittel zum Zweck gehalten werden, gefüttert mit ihrem eigenen Nachwuchs, auf engstem Raum gehalten und gleich nach der Geburt getötet, wenn sie das falsche Geschlecht aufweisen. Wenn wir uns in ritualisierten Formen zum Ausdruck bringen, dass wir ein Lebewesen essen, können wir (sehr begrenzt!) aufmerksam auf dieses Lebewesen werden; die Form eröffnet eine (etwas eindringlichere) Präsenz. Was folgt aus unseren Überlegungen für unser Verständnis von Verhältnissen, von einer modernen und einer an Tradition ausgerichteten Lebensweise? Verhältnisse bestehen in Formen, die erweiterbar sind. Die Form behütet das Verhältnis und sorgt dafür, dass Verhältnisse zwischen Menschen und in einem Menschen entstehen, gestaltet werden und Bestand haben können. Die Form ist der Walter dafür, dass die Pole von Verhältnissen nicht durch andere überwältigt werden. Kommunikationsformen und Takt konstituieren auf eine geradezu zarte Weise: Menschen, und in dieser nicht-überwältigenden Konstitution lassen sie Menschen einen Freiraum; Verzicht auf Form würde eine solche Freiheit des Menschen nicht ermöglichen können, es wäre einfach niemand da, der frei sein könnte. Und bloße Wahrung von Form wäre ebenfalls freiheitsverhindernd. Wer in gelingenden Verhältnissen lebt, weiß und erlebt, dass auf der Grundlage der Beachtung von Formen jedes sich jetzt gerade ereignende Verhältnis unbestimmt ist. Dieses Wissen zeigt sich in der Tugend des Taktes, Takt als Wissen um überbordende Bedeutungsfülle und Wahrung von Form, Takt ist situatives Handeln und darin Bereicherung, das heißt die Verstärkung des Besonderen, das sich jeweils in einer Situation zeigt. Takt entsteht aus dem Wissen, dass Situationen nicht determiniert sind. (Spielerischer Takt könnte auch schalkhaft sein.) Formen behüten sowohl die moderne, politische Freiheit der Menschen als auch Traditionen. Die Freiheit, in der Menschen ihre Verhältnisse gestalten, entsteht selbst in dem gestalteten Zwischenraum, in dem sie handeln und sich aufeinander beziehen, einander zuhören, Wahrnehmungen und Unbekanntes gelten lassen und wägen, Vorschläge und Gedanken aufgreifen, behutsam agieren und ebenso Entscheidungen treffen. Eine solche Freiheit ist etwas, das sich in einem Menschen durch das Zusammensein mit anderen ereignet. Traditionen sind Übermittler von Formen, von Formen der Kommunikation, der Wahrnehmung und der Symbolisierung unserer gemeinsamen Welt, die dadurch Kontur erhält. Menschen in wandelbaren Traditionen achten Formen, ohne ihnen zu verfallen. 110
Menschen, die sich auf dieser Grundlage in Freiheit mit anderen auseinandersetzen, wahren Formen des Miteinanders und sehen hin, was ihr Gegenüber und sie gerade tun, empfinden und äußern. Freiheit zeigt sich andererseits in situativem Umgang mit Unbestimmtheiten, in Erweiterung von Formen und in der je konkreten Einlassung auf ein Gegenüber und auf die Welt und unser Verhältnis zu ihr. Urteilskraft ermöglicht Perspektiven zu unterscheiden und zu bejahen. Freies Handeln ist taktvolles Handeln. Vergleichbar erfordert ein traditionsorientiertes Leben Takt. Formen sind die Grundlage für eine Auseinandersetzung des einzelnen mit der vorgefundenen und überlieferten Welt, in die er hineinwächst. Takt ist hier hauptsächlich der Respekt vor dem Traditionsangebot, der sich in eigenständiger und spielerischer Auseinandersetzung mit ihm zeigt. Ein Mensch, der hingegen Traditionen durchzusetzen versucht, exerziert Formen, statt dass er sie als Grundlage eines Zwischenraums ansieht, der Zwischenmenschlichkeit und Erweiterung erlaubt. Insofern ist eine solche Traditionsorientierung eine, in der es keine lebendigen Formen in Menschen und zwischen Menschen gibt. Lebendige Formen anerkennen bedeutet, einen offenen Spielraum, ein Dazwischen als Spielraum von Möglichkeiten einzuräumen; starre Traditionsorientierung hingegen kennt dieses Dazwischen nicht und schneidet damit Menschen die Möglichkeit ab, ihre Form finden und gestaltend erweitern zu können. Um ein Bild Max Webers benutzend, sie werden in ein stahlhartes Gehäuse gepresst. Menschen, die in fixen Traditionen leben, halten sich an starre, rigide Formen. Eine fixe Tradition fordert Form ein und enthält daher keinen Platz für Takt. Ein modern-selbstbestimmter Mensch wird nicht verstehen können, dass Formen ihn konstituieren und ihn in das Verhältnis zu anderen hineingleiten lassen. (Er wird höchstens verstehen können, dass er eine Form selbst gewählt hat, an der er sich sodann ausrichtet; wer dabei aber der Wählende war, wird er nicht bestimmen können.) Insofern er sich selbst als etwas Fixes denkt – dessen Maßgaben er dann flexibel folgen kann –, wird er auch nicht verstehen können, dass Formen der Auseinandersetzung ihn erweitern und weiterentwickeln können. Er wird sich durch Formen nicht inspirieren lassen, weil er anderen und Förmlichkeiten nicht traut. Insofern wird er tendentiell auf nichts vertrauen können außer seiner selbstgesetzten Konstitution. Selbstvertrauen sucht er, und er sucht es in der Verfasstheit, von der er glaubt, er sei sie. Der selbstbestimmte Mensch re111
duziert Zwischenmenschlichkeit, und er reduziert sich selbst, während er glaubt, (s)einem ‚Eigentlichen‘ nahe zu sein. Er versteht von Würde nichts, und er versteht von Lebendigkeit nichts. Denn er achtet keine Menschen in Formen, und er wandelt sich nicht in Auseinandersetzung mit anderen. So besehen leben selbstbestimmte Menschen nicht in würdevoller Lebendigkeit. Insofern sie in keinem Verhältnis zu anderen stehen, können sie sich nicht entwickeln und wandeln. Ihre Selbstauseinandersetzung referiert immer nur auf sich selbst, oder – setzt sich eine Person doch mit anderen auseinander – sie ist immer gefiltert: durch ihre Auffassung von anderen. Indem sie sich selbst fix setzen, gleichen sie fix traditionsorientierten Menschen (und machen sich zu ihnen), sie setzen eine Einheit, auch wenn diese Einheit nicht in einem Prinzip oder der Tradition gesucht wird. Sie sehen sich selbst als bestimmte Einheit, indem sie sich an sich selbst bestimmen. Selbstbestimmte Menschen leben in ihrer eigenen strengen Form und ignorieren andere Formen. Sie können daher kaum taktvoll sein. Sie nehmen anderes nicht wahr. Sie neigen zu Bestimmtheit in Form von Kriterienrastern. Diesen soll sich dann ihre Umwelt fügen, und diesen fügen sie sich. Eine weitere Gefahr selbstbestimmt-moderner Menschen ist die der Formzerstörung. Humorvolle Menschen bauen auf Formen auf und spielen mit ihnen, während zynische sie in destruktiver Absicht reflektieren, auch wenn sie das unter Umständen Ironie nennen mögen. Selbstbestimmt-moderne Menschen stehen Formen grundsätzlich skeptisch gegenüber und wollen sich nicht per se an sie halten, weil diese scheinbar ‚von außen‘ kommen. Sie erscheinen ihnen daher ‚äußerlich‘ und ‚oberflächlich‘. Sie beteuern dagegen ihr ‚Inneres‘, unwissend, dass dieses Innere ein Unbestimmtes ist, das die Verhältnisse zu anderen längst enthält. So gesehen ist die viel beschworene ‚Authentizität‘ eine besonders vornehme Form der Abschottung, Konstruktion und Selbstbezogenheit moderner Menschen.
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5 Mehrperspektivität und Öffnung Wat den Eenen sin Uhl’, ist den Annern sin Nachtigall
Was steht auf dem Spiel, wenn wir danach fragen, ob Mehrperspektivität eine Tugend ist? Wer auf seiner Perspektive beharrt, nimmt den Eigensinn der Wirklichkeit nicht wahr, die außerhalb seines Denkzugriffs liegt. Er verliert das Gespür für Komplexität und für andere Perspektiven. Wer versucht, mehrere Perspektiven in einer zu vereinigen, behält die Enge des Blickwinkels im Prinzip bei, denn er geht nicht davon aus, den Gesichtswinkel dauerhaft weit zu halten. Sinn für andere, für Gemeinschaft sowie die Wirklichkeit aufzubauen bedeutet, sich generell für das zu öffnen, was einem begegnet. Nur solche Offenheit kann – jenseits von Beliebigkeit – Engstirnigkeit vorbeugen. Soll ich meine Perspektiven durchsetzen, wohlwissend, dass sie begrenzt sind, im Glauben, die Perspektive der Perspektiven einzunehmen, oder im Glauben daran, dass ‚die‘ Tradition uns die richtige Weltansicht zur Verfügung stellt? Oder soll ich davon ausgehen, dass alle Perspektiven gleich gültig sind und mich gleichgültig machen für das Streiten um die Berechtigung von Perspektiven? Mehrperspektivität ist ein abgegriffenes Schlagwort unserer Zeit. Multiperspektivisch gar solle man in unserer globalisierten Welt sein, sagen einige, und das wird mit vielem gleichgesetzt, beispielsweise damit, nicht eurozentristisch zu sein und nicht borniert, sondern ‚flexibel‘; man solle nicht alles von seiner Warte aus betrachten, nicht von seiner scheinbar das Ganze umfassenden Sichtweise aus. Mehrperspektivität kann dabei zu einem bloßen Jargon verkommen. Wer für Mehrperspektivität eintritt, kann Diskursivität, d. h. hier das argumentative Eintreten für Positionen, für nicht mehr so wichtig erachten – denn es gilt ja alles ‚irgendwie gleich viel‘, und er kann in einem bloßen Gestus von Toleranz bei seinen Meinungen stehenbleiben, ohne sich mit anderen auseinanderzusetzen. Kurz, das Eintreten für Positionen und das Streiten um die Gültigkeit von Perspektiven kann durch eine wohlmeinende Attitude der Mehrperspektivität versperrt werden. Das kann Willkür und das kann Beliebigkeit zur Folge haben. Beliebigkeit, insofern es gleichgültig zu sein scheint, was noch gilt, wenn es keine bevorzugte 113
Perspektive gibt, Willkür, weil man auf dieser argumentativen Grundlage tun, entscheiden und durchsetzen kann, was man rein subjektiv für das Beste hält. Und wer einen profilierten Begriff von Mehrperspektivität hat, beispielsweise als Fähigkeit, an einer Diskursgemeinschaft teilzunehmen, was gehört für denjenigen zu dieser Fähigkeit, außerhalb des argumentativen Erörterns von Standpunkten und Interessen? Und wie wird diese Fähigkeit, wichtiger noch, der Wille im Leben eines Menschen aufgebaut und motiviert, an solchen Diskursen teilzunehmen, insbesondere ohne nur zu versuchen, seine Auffassung mit Gründen durchzusetzen? (Das scheint speziell heute wichtig zu fragen, wo Kinder angesichts als endlos empfundener Diskussionsfreudigkeit ihrer Eltern diskussionsmüde scheinen.) Wir wollen im Folgenden zunächst Vorteile, dann Grenzen von Perspektivität ausloten, und anschließend die Würdigung anderer Perspektiven in den Blick nehmen. Jemand anderes als ich sieht etwas als Nachtigall an, was für mich eine Eule ist. Ich kann wahrscheinlich nur dann verstehen, dass die andere Person eine Nachtigall sieht, wenn ich meine eigene Perspektive – ‚für mich ist das eine Eule‘ – deutlich einbringe und kläre. Denn nur dann wird mir der Unterschied gewahr. Ich verstehe eine andere Perspektive besser vor dem Hintergrund meiner eigenen, ja, wahrscheinlich kann ich mich selber auch erst dadurch besser verstehen, dass ich bemerke, jemand anderes sieht keine Eule. Denken bedarf der Unterscheidungen, daher unterstützt meine Wahrnehmung des Unterschieds zu einer anderen Perspektive mein Denken. Und: Wenn ich meinen Blickwinkel einbringe, kann die andere Person dadurch besser in ein Verhältnis zu mir gelangen. Denn sie kann verstehen – weil ich es ihr zeige –, weshalb ich denke, dass ‚Das-da‘ eine Eule ist. Und sie lernt vice versa sich und ihre Perspektive dadurch besser kennen. Unterschiede und das Kommunizieren von Unterschieden begünstigen und erfordern Verhältnisse, und eine Perspektive entsteht erst in sprachlicher und sozialer Gemeinschaft. Das Sich-Einbringen mit der eigenen Perspektive unterstützt sodann Gemeinsamkeit und Freiheit – Freiheit, weil ich zu meiner Perspektive einen Freiheitsraum gewinne. Und es enthält Abwege, besonders, wenn Menschen mit unterschiedlich großen Erfahrungen aufeinandertreffen. Erziehung als Hinführung zu Freiheit konstituiert, bildet und – ist ein besonders riskantes Verhältnis. Ein bestimmter Umgang mit der eigenen Perspektive ist in symmetrischen Verhältnissen wichtig, aber bei asymmetrischen wird der schmale Grat sichtbarer, der entsteht, wenn Erfahrenere (oder Mächtigere) ihre Perspektive ausspielen und zur Geltung bringen. Daher werden wir in diesem Kapitel stärker als in anderen auf Bildungs- und Erziehungsprozesse Bezug nehmen. 114
Kinder wachsen in eine Welt hinein, in der Perspektiven Erfahrener und in der Konventionen leitend sind. In der Schule und überall dort, wo Kinder auf Erwachsene treffen, also beispielsweise in der Familie, im Kindergarten und in Alltagssituationen erfahren die Unerfahrenen, die Kinder: Es gibt Richtig und Falsch. Es gibt Perspektiven, die stichhaltiger scheinen als die eigenen. Das ist erforderlich, damit Kinder Teilnehmer einer bestimmten Kultur werden können. Bildung ist zunächst die Veränderung von Menschen hin zu dem Wissen, dem Können oder den Werten, die jemand als erwünscht kennzeichnet. Das scheint gar nicht anders denkbar, denn es gilt, eine Tradition zu bewahren und weiterzugeben. Es scheint, die Perspektive der Erwachsenen gilt mehr als die der zu Bildenden – und man kann nicht nicht-erziehen. Es darf Erwachsenen außerdem nicht gleichgültig sein, ob ihre Kinder Nachtigallen als Eulen ansehen, ob sie beispielsweise eine Gestalt angemessen wahrnehmen und Unterscheidungen zwischen Wahrnehmungen treffen können. Hilfreich ist allerdings, zwischen Werten und Perspektiven zu unterscheiden. Denn dort, wo Werte vermittelt werden, werden diese (in der Regel) nicht reflektiert. Wo hingegen Perspektiven – als Perspektiven – in den Raum gelangen, kann das Kind sich zu ihnen verhalten, d. h. es kann sehen, dass jemand so-und-so denkt und das-und-das erwartet; es kann sich dann dazu ins Verhältnis setzen. Bei Werten ist das anders. Diese werden in einer Gesinnung vertreten, und es kann fortan nicht mehr um sie gestritten werden. Man ist automatisch auf der Seite der Schlechten oder Bösen, wenn man die Werte nicht teilt. Dann hat man ‚die falsche Gesinnung‘. Das unterscheidet Werte auch von Ansprüchen auf Rechte oder Wahrheit. Denn diesen Ansprüchen kann man mit Argumenten nachgehen und um ihre Berechtigung streiten. Bei Werten, die man vermitteln will, steht hingegen derjenige, der sie nicht teilt, ‚auf der falschen Seite‘. Gegen Rechte kann ich versuchen, anderer Rechte zu setzen und zu verteidigen. Gegen Gesinnungen kann man nur Gesinnungen setzen. Damit endet das Argumentieren. Robert Spaemann kritisiert das wie folgt: „‚Grundwerte‘ sind im Begriff, die Grundrechte zu unterlaufen, die Wertegemeinschaft droht an die Stelle der Rechtsordnung zu treten, die Pflicht, sich zu bestimmten Werten zu bekennen, an die Stelle der Pflicht, den Gesetzen zu gehorchen.“83 83
Robert Spaemann, Europa – Rechtsordnung oder Wertegemeinschaft? In: Neue Zürcher Zeitung 20.01.2001. 115
Andererseits kann das Eintreten für gewichtige, d. h. einen ‚Wert‘ enthaltende Grundüberzeugungen Verhältnisse auch befördern, nämlich dort, wo Menschen erst in eine Welt der Gemeinsamkeiten hineinwachsen müssen. Gerade wenn solche Grundüberzeugungen unverhandelbar sind, lassen sie Kinder und Mitmenschen in eine Welt der Gemeinschaft (und Gesellschaft) hineingelangen, die die Basis für Individualität und Gemeinsamkeit sind. Dazu können gehören: dass man sich auf die Worte von Mitmenschen verlassen kann, dass man anderen zuhört, dass man nicht lügt und dass man gastfreundlich ist, dass man sich an geltendes Recht hält, dass man nicht mordet und jemandem hilft, der in Not geraten ist. Das sind zivilisatorisch-kultivierte Grundlagen von Gemeinschaften. Nicht jeder kann diese Grundbedingungen menschlichen Miteinanders zur Reflexionsdisposition legen, und es ist auch nicht sinnvoll, sie in Alltagssituationen zur Disposition zu stellen. Sie bilden vielmehr die habituelle Basis dafür, in Verhältnissen mit sich und anderen überhaupt disponibel sein zu können. Gerade dort, wo Mitmenschen mich unhinterfragt und selbstverständlich in eine soziale Welt hineinführen, festigen sie in mir den unerschütterlichen Glauben an andere, an deren Verlässlichkeit und Standhaftigkeit und an meine eigene Aufrichtigkeit, die ich nicht per Reflexion zur Disposition stelle. Denn ich habe den Wert erfahren, den es darstellt, wenn ich mich in dieser Hinsicht absolut auf andere verlassen konnte. Sie bilden die Basis für Vertrauen. Solche Grundüberzeugungen können als Werte rekonstruiert werden. ‚Wir machen das so.‘ ‚Das macht man nicht.‘84 Solche Sätze können Heimat und Zugehörigkeit ausbilden, und es ist unmöglich zu definieren, wann das sinnvoll ist – eine Grenze zwischen arbiträren, fundamentalistischen oder gar Gewalt ausübenden und verhältniskonstitutiven Grundüberzeugungen einer Gemeinschaft zu ziehen. Das Maß zwischen Überzeugungen auszubalancieren, die unhinterfragt und unerschütterlich gelten sollen, und zwischen solchen 84
Ein Beispiel aus Astrid Lindgrens Buch Die Brüder Löwenherz (Stockholm 1973, Hamburg 1974), das verdeutlicht, dass manche Tugenden, wenn man sie von anderen unerschütterlich vorgelebt bekommt, eine unbedingte Gültigkeit haben und nicht rational bestimmt werden können. Es wird in dem Buch als wiederholtes Motiv für Aufrichtigkeit und Mut verwendet: „‚Warum hast du diesem Pärk das Leben gerettet? War das wirklich recht?‘ ‚Ich weiß nicht, ob es recht war‘, antwortete Jonathan. ‚Aber es gibt Dinge, die man tun muss, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck, das habe ich dir schon früher gesagt.‘“ (S. 166, vgl. ebenso S. 59 und schließlich S. 236, dort überwindet Karl, der Ich-Erzähler, seine Angst und übernimmt diese Maxime von seinem Bruder Jonathan schließlich im Handeln.) 116
Ansprüchen, die zu diskutieren Selbständigkeit, Einsicht und Veränderbarkeit eröffnet, stellt eine enorme (und für Erziehende ggf. verunsichernde) Herausforderung dar, die weder dadurch aufgelöst werden kann, dass man zuerst entscheidet, welches die ‚rational-sinnvollen‘ Überzeugungen seien, noch dadurch, dass man gläubig oder dezisionistisch ‚Basta‘ ruft. Die Grenze wird in einem historisch-zeitlichen Prozess gewandelt, der getragen ist von einem existierenden Schatz an Traditionen, Weltreligionen, Naturreligionen, Ethik, Kunst, Wissenschaft und Literatur. Sich in ihn zu stellen vergrößert die Disposition zu Verhältnissen und auch zu Selbstbesinnung. Demokratie und Diskurse in einer offenen Gesellschaft regen dazu an, Grundüberzeugungen mal zu vertreten und mal kritisch zu bedenken. Und dies dient dazu, dass der einzelne in seinem Selbstverhältnis zur Mündigkeit kommen kann. (Jakob streitet eine Nacht lang mit Gott – beharrt er auf seiner Perspektive? –, erst dann wird er erleuchtet.85) Selbstverständlich etablierte Verhaltensweisen Erfahrener können auch die Zugehörigkeit zur Natur und zu Mitmenschen ausdrücken. Fausto Reinaga rekonstruiert die präkolumbianische Erziehung amerikanischer (indigener) Kinder als eine einheitliche, ‚kosmisch mit allen anderen Wesen verbundene‘. Je nachdem, ob die in dem folgenden Beispiel der Erziehung von Kindern ausgedrückten Werte einer selbstverständlich eingenommenen Tradition entsprechen oder eine Art Indoktrination darstellen würden, könnte man sie als positives oder negatives Beispiel für eine eingeübte Orientierung ansehen, in denen Verhältnisse zu anderen und anderem etabliert werden: „Die erste Übung, die die Eltern mit ihrem Kind durchführten, noch ehe es in die Schule kam, war: ‚Siehst du dieses Kind da? Denke daran, daß es die gleichen Augen hat wie du und daß es auch dich sieht; daß es genau so ist wie du selbst, nur mit einem anderen Gesicht. Könntest du ihm weh tun?‘ (…) Später nahmen sie ihr Kind mit zur milpa (dem Maisfeld, d.Ü.) und sagten ihm: ‚Sieh das Maispflänzchen da: es fängt an zu wachsen, weil es geregnet hat und nun von der Sonne beschienen wird. Du mußt wissen, daß Regen, Sonne, Luft und Erde zusammenwirken, um dem Pflänzchen bei seinem Wachstum zu helfen, alle Wesen in der Welt wirken zusammen. Denke also daran, daß der Mais dich ernährt, daß in dir etwas ist, 85
1 Mose 32 (25ff.). 117
das Regen, Sonne, Luft und Erde dir gegeben haben, und daß du geformt bist durch ein Zusammenwirken, das auch in deinem Leib sich vollzieht.‘“86
Insgesamt ist es – oberhalb der eben diskutierten Grundüberzeugungen – erstrebenswert, vielleicht sogar als Leitidee von Bildung, wenn Erwachsene eine Haltung praktizieren, in der sie ihre eigene Perspektive zur Geltung bringen, in der aber diese Perspektive nicht als das einzige Maß gilt. Verhältnismäßigkeit kann sonst nicht entstehen, es zählt nur ein Maß, und die Perspektive des jungen Menschen wird nicht genügend beachtet. Wer seine Perspektive für das Maß der Dinge hält, beurteilt von dort aus abschließend, was sein Gegenüber tut. Wer sich hingegen mit anderen über Perspektiven austauscht, beurteilt in Prozessen, gerichtet auf Zukunft und eingelassen in die Gegenwart. Er sagt, wenn er einen Erfahrungsvorsprung hat, „probier’ mal noch das“ statt „Das ist falsch /nicht gut“. Er erfreut sich an einer anderen Perspektive, er diskutiert mit, er wägt Argumente, tritt für sie ein, und wenn er einen Erfahrungsvorsprung oder Wissensvorsprung ausspielt, sagt er nicht, was falsch ist, sondern gibt konkrete Hinweise für die Zukunft, basierend auf der Wahrnehmung des bisherigen Könnens und der subjektiven Sichtweise des Kindes. Er exploriert, er denkt mit. Mehrperspektivität ist Ernstnahme des Gegenübers in seinem Eigensinn und Klarheit von Erwartungen zugleich. Mehrperspektivität ist Voraussetzung für Freiheit. Sie setzt voraus, Differenzen ertragen zu können. Der Erwachsene bringt seine Perspektive ein, versucht aber, die andere(n) zu verstehen und aufzunehmen. Mehrperspektivität ergibt sich aus Wahrung einer Perspektive, d. h. mehrperspektivisch zu denken erfordert, die eigene Perspektive zu klären und sie ggf. zur Geltung zu bringen. Eben darin konkretisieren sich Freiheit und die Fähigkeit vernünftigen Denkens, dass Unterscheidungen entwickelt und vorgeschlagen werden können, auch um sich damit von anderen zu unterscheiden. Unterscheidungen, die anderen gegenüber zu begründen sind, weil sie in deren Freiheit eingreifen könnten. Mehrperspektivität (nicht als verdecktes Einheitsdenken verstanden) und Freiheit verweisen und bedingen einander. Freiheit bedeutet: frei sein in einer zu begründenden Perspektivenwahl.
86
Fausto Reinaga, America und das Abendland (1974). München 1980, S. 27 (orig.: América India y occidente. La Paz). 118
Mehrperspektivität ist, zusammengefasst und bisher, das Einbringen der eigenen Perspektive – als Perspektive –, das Mitwirken daran, dass sich überhaupt eine Gemeinschaft konstituieren kann – ggf. auch im Einbringen von Werten und unverrückbaren Grundüberzeugungen – sowie die Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven und Argumenten. Der letzte Aspekt erfordert es, die eigene Perspektive einklammern zu können. Damit die Berücksichtigung einer anderen Perspektive nämlich nicht nur formal oder diskursiv erfolgt – der Erfahrenere wird immer bessere Argumente aufbringen können, weil er sie schon länger geprüft hat – ist es zentral, wie ernst man eine andere Perspektive nimmt. Andere Perspektiven zu wägen, zu erfragen, im Gespräch zu überlegen, was an diesem Blickwinkel ‚dran‘ ist, sich hineinzuversetzen versuchen, ist ein Weg, das Gegenüber wirklicher zu machen. Aus der Sicht des einzelnen spielt sich natürlich die Deutung anderer Perspektiven innerhalb der eigenen Perspektive ab. Daher ist es verführerisch, die anderen Perspektiven vor der Folie der eigenen auszudeuten. Das Interesse an anderen aber, das Nachfragen, Mitdenken, die Zuneigung und die Wahrnehmung – diese erst sind im wahrsten Sinn des Wortes mehrperspektivisch. Perspektivwechsel ist dabei nicht so zu verstehen, dass eine allemal feststehende andere Sichtweise angeeignet wird. Denn es geht um einen Prozess des Miteinanders, in dem und durch den sich bestimmte Perspektiven wandeln, und außerdem trägt jeder Mensch einen unausschöpfbaren Überschuss an Wahrnehmungen, Anmutungen und Unbestimmtheiten in sich, das heißt, Sichtweisen von Menschen sind nicht durch und durch bestimmt. Das bedeutet, Perspektiven entstehen im Austausch, in Verhältnissen, und diese werden durch Beachtung von Perspektiven, Eindrücken, Wahrnehmungen und Argumenten begünstigt. (‚Verstehen‘ heißt also nicht, zu einem ‚Stand‘ oder Standpunkt zu kommen, es ist ein ‚schwebender‘ Prozess.) Im Rahmen einer fixen Tradition, die ‚vermittelt‘ werden soll, würde man die Perspektive der zu Bildenden außer Acht lassen. Hingegen würde man die Tradition und Bildungsinhalte zu gering veranschlagen, wenn man alle Bildungsprozesse nur von der Warte der Selbstbestimmung des Lernenden aus denkt, etwa, wenn man im Rahmen einer konstruktivistischen Lerntheorie lediglich ‚Schülerorientierung‘ und die Bedürfnisse Lernender in Anschlag bringt. Bildung, das Entstehen von Menschen in Zusammenhängen mit anderen, Inkulturalisation, stellt ein Problem dar, in dem die Perspektive erfahrener Menschen und die weniger Erfahrener auszubalancieren und aufeinander zu beziehen sind. Es könnte einen 119
Ausweg aus dem Problem darstellen, wenn man Lernen und Bildung selbst als ein Verhältnis begriffe. Üblicherweise wird Bildung und Lernen als etwas angesehen, das in einem Menschen stattfindet oder, betrachtet man den Gegenstand des Lernens, als etwas, das in ihn hinein soll. Bildung, Lernen und Erkennen, verstanden als etwas, das im Menschen geschieht. Warum nicht als etwas, das zwischen Menschen (oder Perspektiven) geschieht? Ich erkenne etwas. Da denkt man, die beiden Teile des Verhältnisses seien schon da und prägten das andere. Was, wenn das Verhältnis das erste ist? Erkennen hieße, in einer Relation zu sein. Liegt uns unser subjektivistisch-modernes Denken im Weg, das denken zu können? Wir versuchen in dieser Denkungsart, alles Erkennen und Lernen und alle Bildung zurückzuführen auf etwas im Menschen Liegendes, sei es psychologisch, erkenntnistheoretisch oder (neuro)biologisch. Wenn aber Erkenntnis, Bildung und Lernen erst aus dem Verhältnis zwischen Menschen und Perspektiven, zwischen Mensch und Welt entstehen (insofern Menschen ja immer gemeinsam in eine Sprache und Kultur hineinfinden und erst in dieser zu sich und zur Welt kommen), dann bedürfte nicht nur dieses Verhältnis besonderer Betrachtung, sondern es entstünden die Glieder des Verhältnisses – der eine und der andere Mensch, der eine Mensch und sein Denkgegenstand, mehrere Menschen und ihr Lerngegenstand – erst aus dem Verhältnis. Bildung wäre die Entstehung des einzelnen Menschen aus dem Verhältnis heraus, in dem mehreres zueinander stünde. Menschen konstituierten sich als Menschen, indem sie in Bezug (zueinander) träten. Das ist ein Gedanke, der sowohl in klassischen Bildungstheorien anzutreffen ist – der Mensch als durch Bildung Entstehender, Werdender –, als auch beispielsweise bei Martin Buber, der davon ausgeht, dass jedes Ich aus einem Du hervorgeht. Er spielt eine Rolle bei der Idee des pädagogischen Eros, der ursprünglich bedeutetet, dass in einem Gespräch Größeres entsteht als das, was die einzelnen Menschen in sich tragen. Und er steckt in der Idee des gemeinsamen Gesprächs als Leitidee (sokratischer) Bildung. Demgegenüber kommt einem der (radikale) Konstruktivismus, der Lerntheorien prägt, seltsam monadisch vor. Lässt man den Gedanken der Mehrperspektivität wirken, können einem einige heutige Auffassungen über gute Bildung als typische Ausgeburten der Epoche der (im Subjekt verankerten) Moderne erscheinen. Zum einen wird dem Menschen vom Menschen vorgegeben, was er zu lernen hat, zum anderen geht man davon aus, er erzeuge seine eigene Wirklichkeit. Das Menschenbild dahinter ist das des Zeitgenossen, der mit genügend Selbstbewusst120
sein und Verfügungsgewalt ausgestattet ist, es ist der Mensch, wie ihn Francis Bacon und Descartes vor Augen hatten. Eine Variante solcher moderner Denkungsart ist die, Lernen als Verstehen aufzufassen, und Verstehen wiederum als Aneignen von der Warte eines subjektiven mentalen Modells aus. Lernen, als etwas verstanden, das im Verhältnis stattfindet, ist jedoch nicht als Verstehen begreiflich zu machen, wenn Verstehen im Sinne von Einfügen gedacht wird; es ist eher als offener Prozess zu denken, in dem wechselseitiges Sehenlernen entsteht, und als offener Prozess, in dem eine Kultivierung des Nichtverstehens stattfindet. Lernen als Veränderung des Sehens beinhaltet eine Öffnung für Anderes, für die Welt und andere Perspektiven. Lernen ist eher gemeinsames Nachspüren, Exploration. Lernen hauptsächlich als Verstehen im Sinne des Einfügens aufzufassen, führt dazu, die Welt zu verdinglichen und als instrumentelles Objekt aufzufassen. Das sich autonom dünkende Subjekt konstruiert eine Form von Rationalität, die erobernd und annektierend ist. Was man einfügend erkannt hat, ist kategorisiert, dem kann man feste Eigenschaften zuschreiben und es etikettieren. Eine Perspektive leitet diesen Vorgang. Worüber man verfügt, was man sich an-eignet, das hat man (schwarz auf weiß) In-Besitz-genommen, das kann man benutzen, verdinglichen und zerstören. Eine andere Perspektive ist hierbei sogar ausgeschlossen.87 Was man sich dagegen aufschließt und in Blick nimmt, das kann man zulassen und wahrnehmen, daran kann man sich in offener Nachdenklichkeit erfreuen. Ein Begriff von ‚Verstehen‘, der als Erschließen oder Einfügen verstanden wird, wird Verhältnissen, Gemeinsamkeit und inklusiver Bildung nicht gerecht. Denn es gilt bei solchem Verstehen nur, etwas in die eigene Perspektive einzufügen; Differenzfähigkeit, Solidarität und Auseinandersetzung mit Anderem können nicht auftauchen. Das Wägen und Zulassen anderer Perspektiven, für das das Einklammern der eigenen Perspektive erforderlich ist, ist eine Form der Selbstbildung. Um das zu können, muss man nicht nur der eigenen Perspektive zeitweilig ‚Urlaub‘ geben können, es erfordert auch den zeitweiligen Verzicht auf Zentral-Perspektivität.
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Dieses Konzept von Verstehen fügt sich in die neuzeitlich-moderne Subjekt-Objekt-Spaltung ein und geht gleichzeitig damit einher, dass der moderne Mensch durch nichts mehr bewegt wird, was er versteht. Denn ‚Verstehen‘ spielt sich nur in seinem Kopf ab. 121
Es bedeutet nämlich, zuzulassen, was sich außerhalb von Fokussierung zeigen kann. Nur in eigener Perspektive zu leben, schottet von anderen ab. Wer alles nur durch seine Brille sieht, lebt in keiner Welt. Da aber jeder nur seine Perspektive ‚hat‘ – und mit ihr in einem Verhältnis steht! –, besteht der ‚Verzicht‘ auf Fokussierung innerhalb der eigenen Perspektive in offenen Gesprächen und zugelassenen Wahrnehmungen. Man nimmt anderes ernst, indem man Unbestimmtes auf sich wirken lässt und es so würdigt. Und indem man das praktiziert, geht man davon aus, dass die eigene Perspektive nicht mehr zählt als andere. Mehrperspektivität, so aufgefasst, beinhaltet nicht nur die heute so oft beschworene Toleranz, sondern vielmehr Solidarität, nämlich die Idee der Gemeinschaft, die im einzelnen als Folge von Verhältnissen aktualisiert ist. Erst Solidarität stiftet Zusammenhalt und die Möglichkeit, gemeinsam die Zukunft zu gestalten.88 Bildung, in der Lernen in Mehrperspektivität stattfindet – und nur das kann wirklich Bildung genannt werden –, ist ein Gespräch. Freude über Differenzen herrschten, weil nur sie Gemeinsamkeit eröffnen. Perspektiven würden kultiviert, Lernen folgte dem Modell des Handelns, nicht des Herstellens. Eine solche Bildung wäre von Wahrnehmung geleitet. Wahrnehmung wäre dabei immer Wahrnehmung eines Geheimnisses, das nicht ‚noch nicht‘, sondern besser nie (nur) in die eigene Denkwelt eingemeindet wird. Erfahrene, beispielsweise Eltern oder Lehrer, würden nachfragen, zuhören und Interesse äußern. Interaktion wird so zu einem humorvollen Spiel mit mehreren Denkweisen und Perspektiven.
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Vgl. Robert Paul Wolff, Jenseits der Toleranz (1965). In: R. P. Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/Main, S. 58f.: „Wir müssen das Bild von der Gesellschaft als eines Schlachtfeldes konkurrierender Gruppen aufgeben und ein Ideal der Gesellschaft formulieren, das höher steht als das bloße Gelten-Lassen entgegengesetzter Interessen und vielfältiger Sitten. Es bedarf einer neuen Philosophie des Gemeinwesens jenseits von Pluralismus und jenseits von Toleranz.“ Hier ist der Gerechtigkeit halber darauf hinzuweisen, dass dieser Gedanke sowohl in der kantischen Ethik bereits ausgeformt ist als auch bei Jürgen Habermas zentral wird: indem sich ein Mensch fragt, ob seine Handlungsmaximen verallgemeinerbar sind, erweist er möglichen anderen Menschen Respekt und solidarisiert sich mit ihnen. In Habermas’ Philosophie geht es zentral darum, wie Menschen sich in Gesprächen als gleichberechtigt achten können und wie darauf aufbauend gerechte Gesellschaften gestaltet und transnationale Probleme bearbeitet werden können. Die Ideen von Demokratie und Freiheit sind so verstanden immer rückgebunden an die Achtung anderer und an vernünftige Auseinandersetzung mit ihnen. 122
Gehen wir einen Schritt weg von Bildungs- und Lernsituationen und weiten den Blick. Mehrperspektivität lässt sich als Zustand des Nichtwissens auffassen; ihr ist der Zweifel eingeschrieben und das Vertrauen darauf, Unterschiede in Gesprächen stehenlassen zu können. Ich bin offen für andere Perspektiven, weil ich nicht davon ausgehe, alles zu wissen. Wie oben gesagt, kann man seine Perspektive für angemessener halten und in ein Gespräch gehen, das auch und vor allem gegenüber unerfahrenen Mitmenschen – aber dafür muss man seine eigene Perspektive einklammern können. Wer seine Perspektive allein für maßgeblich hält, wird sie durchzusetzen versuchen oder sich strategisch zurückhalten – oder lügen. Der Lügner gibt seinem Gegenüber auf Basis seiner Entscheidung ein Verständnis der Wirklichkeit, das allein von seinen Maßstäben und Vorteilsabsichten abhängt. Lügner und Belogener leben nicht im gleichen Bezug zur Wirklichkeit, und ihr Vertrauensverhältnis zueinander wird zerstört. Lügen zerstört Verhältnisse zu anderen und schließlich auch Selbstverhältnisse. (Die Strafe des Lügners ist nicht, dass ihm niemand mehr glaubt, sondern dass er selbst niemandem mehr glauben kann.89) Das gleiche Phänomen kann beim Empfänger herrschen: Wer immer auf Erwartungen anderer achtet, sei es, dass er sie erfüllen oder nicht erfüllen will, nähert sich dem Lügner an; er passt sein Verhalten den Erwartungen anderer an und kann versuchen, diese zu beeinflussen. Im Medienzeitalter und in Zeiten postfaktischer Verbreitung von Darstellungen kann der Blick auf die Welt und kann Mehrperspektivität zerstört werden. Verallgemeinern wir und ordnen historisch ein. Wie ist der moderne Gedanke der Perspektivität entstanden? Zunächst bot sich die Welt dem Menschen dar. Wir modernen Menschen hingegen gehen davon aus, dass der deutende Blick auf die Umwelt sich im Bild einer Perspektivenwahl konkretisiert und damit Weltausschnitte festschreibt. Dies verweist auf den besonderen Zusammenhang von Verhältnis und Perspektive. Ein Blick in die Bildende Kunst mag verdeutlichen, dass beide aufeinander verweisen. Bilder christlicher Künstler im Mittelalter sind polyfokal und entwerfen Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge auf ein Ganzes90; allgemeine Bedeutung und Sinn sind zentral für das mittelalterliche Bildverständnis. Die Perspektive ist eine ‚Bedeutungsperspektive‘. Mittelalterliche Bilder, heute vor 89 90
George Bernard Shaw Vgl. Werner Hofmann, Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte. München 1998, S. 16ff. 123
allem aus der Byzantinischen Zeit erhalten, nähern sich ihrem Objekt, dem, was dargestellt wird, zumeist aus mehreren Perspektiven, polyfokal. Wird eine Perspektive gewählt, so erscheint sie ‚platt‘, flächig (beinahe könnte man vermuten, der Bildner wisse: Jede Perspektive ist begrenzt, analog zu der damaligen theologischen Annahme: Der Mensch nähert sich den Dingen mit Modellen, wahrhafte Erkenntnis gibt es nur durch Gott). Mit Beginn der Neuzeit tritt eine tradierte Bedeutungsvermittlung zurück, und es entfaltet sich der Versuch, die Welt so darzustellen, wie ‚man‘ sie sieht; wie sie ‚wirklich‘ sei. Die Darstellung von übergreifenden Sinnzusammenhängen tritt zurück zu Gunsten der Empirie und d. h. der Zentralperspektive des betrachtenden und die Natur beherrschen wollenden Subjekts, man betrachtet ‚monofokal‘. Der Mensch deutet die Welt von seinem Platz in der Welt aus. Mit der Renaissance wird die Zentralperspektive entdeckt, das heißt, die Darstellung wird so ausgerichtet, dass sie von einem Blickpunkt aus beleuchtet und betrachtet wird. Dieser Illusionismus gilt nun als Realität, die Bildende Kunst wird zentralperspektivisch. Die mittelalterlich traditionslegitimierte Einheit des Verhältnisses der Sinnzusammenhänge – und der Lebensgestaltung – löst sich auf, und an die Stelle tritt eine Denkform in konkurrierenden Zentralperspektiven handelnder Subjekte, die nunmehr vor der Aufgabe stehen, die Formen und Inhalte ihres Zusammenlebens auszuhandeln. An die Stelle eines tradierten Sinnzentrums tritt das Goldene Kalb eines sich selbst ins Zentrum der Verhältnisse setzenden und selbstbestimmenden Subjekts, in dessen strahlendem und normensetzendem Licht sich die Welt so zeigen kann (und muss), wie es die Konstruktionsbrille des Tunnelperspektivenblicks des Subjekts zulässt. Die Menschen werden zu „gottlosen Selbstgötter[n]“91. Der gestaltende Blick der Zentralperspektive impliziert, die Welt unbescheiden mit seinen Begriffen zu überziehen und Weltbilder festzuschreiben, oder um Max Weber umzuformulieren, man schließt sich gleichsam selbst in ein stahlhartes Weltbildgehäuse ein. Wer so denkt, wird kaum noch staunen können, denn der Blick auf die Welt ist vorstrukturiert; es gibt nur, was es geben kann, anderes kann nicht zugelassen werden. Demgegenüber lautet die vorherrschende Legende des Übergangs vom Mittelalter zu unserer Zeit, der Mythos unserer Zeit: „Früher, da unterwarfen sich die 91
Heinrich Heine, Geständnisse. In: Ders., Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. München 1975. Bd. VI, S. 479. 124
Menschen der Welt und Gott, da waren sie in ihren Rollen unfrei, da wurden sie vom ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ überrollt. Sie hatten sich in die Gemeinschaft und in die vorgefundene Wirklichkeit einzufügen, und sie wurden von Normen beherrscht.“ „Dann“, so geht die Erzählung weiter, „war das Mittelalter vorbei, mit der Renaissance wurde der Mensch entdeckt, ja geboren, er begann, die Welt zu erobern, er begann, die Ideen von Aufklärung, Säkularisierung, von Rationalität und Demokratie hervorzubringen, die uns Heutigen die Freiheit gebracht haben. Bezogen auf die Kunst: In der Zentralperspektive kann man endlich die Dinge sehen, wie sie sind, vorher waren die Künstler unfähig, sie zu gestalten.“ Zunächst ging der Mensch davon aus, wer die Welt erkennen wolle, der müsse sein Erkennen eben der Welt anschmiegen. Denn die Welt sei gewissermaßen ‚da‘, und nun müsse sie noch erkannt werden. Erst die Welt, dann der sie erkennende Mensch. Ab der Renaissance jedoch kehrte sich dieses scheinbar logische Verhältnis um. Der Mensch unterwarf sich die Welt. Nicht nur gestaltete er sie nach seinen Vorstellungen, auch seine Annahmen darüber, was Erkennen sei, wandelten sich: Wenn etwas erkannt werde, dann werde es ‚als etwas‘ erkannt, und das heißt: Die Formen des Erkennens prägen, was es ist. War zuvor die Grunddisziplin aller Philosophie die Ontologie, die Wissenschaft vom ‚Sein‘ – von dem, was ist, und dessen Grundlagen –, so wurde dazu jetzt die Erkenntnistheorie. Wer von der Welt redet, meint immer: seine Perspektive auf die Welt. Das heißt, er muss davon ausgehen, zu kennen, wovon er spricht. Da die Wirklichkeit im Allgemeinen nicht bekannt ist, gibt es – über die Zentralperspektive hinaus – mehrere Weisen, sich ihr zu nähern. So ist es beispielsweise in der Bildenden Kunst geschehen. Die Perspektivität wird Anfang des 20. Jahrhunderts als nur eine Sicht auf Dinge thematisiert; sie wird dekonstruiert und teilweise wieder aufgelöst; die Bildende Kunst wird wieder polyfokal oder sie zeigt die (Ein)Perspektivität als Illusion auf. Was in der Bildenden Kunst sichtbar wird, zeigt sich im 20. Jahrhundert an vielen anderen Stellen. In der Architektur wird mit mehreren Formsprachen gespielt, beim späten Wittgenstein wird die Sprache als ein kultureller Zwischenraum von Menschen angesehen, der die Sichtweise einzelner prägt. Sprache ist die Grundlage für jeden Wirklichkeitsbezug, sie ist im Zwischenraum zwischen Mensch und Wirklichkeit, sie drückt aus und prägt die Lebensform der Menschen. Heidegger stellt fest, dass Menschen 125
immer schon gemeinsam in einer Welt leben, statt dass ein Subjekt der Welt gegenübersteht. Hannah Arendt erweitert diesen Gedanken: Eine Welt eröffne sich erst in mehreren Perspektiven. In der Philosophie werden Konstruktionen, Systeme und Einheitsvorstellungen ‚dekonstruiert‘, in der 12-Ton-Musik wird die übliche Tonleiter und werden Harmonien überschritten, erweitert und aufgelöst, analog werden Formen in der Literatur überprüft: In der Radikalisierung der Subjektivität einer Perspektive wird die Brüchigkeit des Subjekts dargestellt, in Formzerstörung Perspektivität befragt, in Erzählperspektiven Perspektivität überschritten. Das geschieht vielleicht um seiner selbst willen, aber auch als Ausdruck und Unbehagen an der Begrenztheit der Perspektivität, es ist Kritik und Aufzeigen der Begrenztheit – und Suche nach neuen Formen. Wo es bei Formdekonstruktion bleibt, ist das selbst nicht nur Zerstörung, sondern in der Zerstörung von Perspektivität – in der Zerstörung des neuzeitlich-modernen Subjektbegriffs – ein Interesse an der Wirklichkeit: die sich eben nicht in die Perspektive fügt, in der sie modern betrachtet wird. Wenn dahinter eine neue Form aufscheint, dann kann dies nur eine Form anderer Art sein, und möglicherweise liegt es nahe, dass diese andere Art Form selbst offen für Formlosigkeit oder jedenfalls eine nicht-starre Form ist. Radikalisiert könnte das bedeuten: Die Wirklichkeit zeigt sich nicht in einer neuen Art von System, es wird keine neue, ‚richtige‘ Perspektive geben. Die Wirklichkeit selbst ist unbestimmt (nicht notwendigerweise formlos), und sie kann eine Form haben, die fluid ist – d. h. die sich in der Zeit wandeln kann, die ‚lebendig‘ ist. Wenn man so denkt, muss man nicht unbedingt denjenigen Strömungen im 20. Jahrhundert folgen, die eine esoterisch-erweiterte Form der Wahrnehmung suchen. Moderne ist jedenfalls auch Suche nach Wahrnehmung, nach Überschreitung der Enge der Zentralperspektivität. Das sich selbst ermächtigende Zentrum der auf Selbstbestimmung ruhenden Moderne ist das autonome Subjekt, das Zentrum der Vormoderne ist eine ‚vorgegebene‘ traditionslegitimierte Instanz. Beide zielen auf eine Form von Einheit, sei es einer zu formierenden Globalisierungshaltung, seien es transzendente Einheiten. Tradition und Moderne haben Bezugspunkte. Mehrperspektivität kennt nur zeitlich vorübergehende, sich wandelnde Verhältnisgewebe, denn es gibt keine zeitlosen Wahrheiten, kein zeitloses Wissen und damit keine ‚ewig geltende‘ Erkenntnis. Wissen, dass sich als zeitlos ausgibt, wird vielfach monoperspektivisch sein, denn es blendet seine Einbettung in Verhältnisse aus. Nur 126
ein Leben in Verhältnisgeweben ermöglicht Bildung als lebendigen und lebensprallen Prozess, einschließlich aller sich daraus ergebenden Probleme und Gefahren (Freiheit, Willkür und Machtmissbrauch). Bildung, die sich als Wissensvermittlung versteht, ist in diesem Sinne ein Ein-Fenster-Blick mit indoktrinierenden oder disziplinierenden Folgen. Nur Wissen-Lernen vereinseitigt den Weltzugang. Möglicherweise liegt hinter unserer historischen Rekonstruktion ein Vierschritt. Zu Beginn sind Menschen diffus in die Welt eingelassen und überwältigt von vielen undifferenzierten Perspektiven. Sie leben unbefragt in ihrer Perspektive, die sie oftmals übernommen haben, und verlassen sich auf sie. In einem zweiten Schritt entfalten Menschen die Zentralperspektive als Selbstermächtigung. Sie glauben, wie es das Wort ‚per-spicere‘ nahelegt, den Durchblick zu haben. Und dann verlangt das Scheitern danach, um seine Perspektive als Perspektive zu wissen. So entsteht Diskursivität. Die so entstehende Mehrperspektivität enthält jedoch drittens Gefahren: A) Wer um die Relativität von Perspektiven weiß, dem kann alles beliebig sein. B) Ist alles beliebig, kann man die eigene Willkür erst recht ausleben und Macht ausüben. C) Man kann glauben, die Perspektive der Perspektiven einnehmen zu können. Darin liegt heute die Gefahr einer globalisierten Selbstermächtigung der Allperspektivität, in der alle Perspektiven nur scheinbar aufgehoben sind. Bei Mehrperspektivität, das soll der historische Ausflug deutlich gemacht haben, geht es nämlich nicht darum, die ‚Perspektive der Perspektiven‘ einzunehmen – nicht darum, alles ‚in einem Kopf ‘ abzubilden. Mehrperspektivität erwächst dagegen aus der Auffassung, dass alle Wahrheiten nur bedingt gültig seien. Ein solcher Relativismus ist ein Aufklärungsfortschritt: etwas als bedingt zu erfassen und zu merken: Was hier gilt, ist eine Frage der Perspektive, historisch, kulturell, individuell, sprachlich oder begrifflich geprägt. In dem einen Rahmen sieht man es so, im anderen anders. Ist Mehrperspektivität aber nur ein willkürliches Spiel mit Welt-Bildern? Gar Beliebigkeit, wenn nichts mehr gilt? Wat den Eenen sin Uhl … Haben wir durch unser Verständnis von Mehrperspektivität der Beliebigkeit die Tür geöffnet? Rekonstruieren wir unsere Gedankenführung: Mehrperspektivität ist zunächst das Vertreten der eigenen und traditionellen Sichtweise – als Perspektive und als Voraussetzung für Verhältnisse –, dann beinhaltet sie die Ernstnahme anderer, das Interesse an anderen, einen Prozess des Betrachtens von Perspektiven und das Einklammern der eigenen. 127
Viertens bedeutet Mehrperspektivität den Verzicht auf eine Zentralperspektive, die Weitung des Bereichs, in dem man etwas vernimmt, schließlich Solidarität auf Basis der Annahme der prinzipiellen Gleichberechtigung von Perspektiven. Steckt darin Beliebigkeit? Betrachten wir ein Bild, Dora Maar92 – selbst Malerin, zugleich eine Muse und Geliebte Picassos –, vielleicht zeigt es uns, was Mehrperspektivität sein kann, wo sie nicht Gleichgültigkeit wird. Das Bild ist zunächst selbst kein zentralperspektivisches, wie oft bei Picasso. In einer Seitenansicht würden wir nicht beide Augen sehen, in einer Vorderansicht nicht die Linie der Nase. Die rechte Hand ist nicht naturalistisch gezeichnet, die Farben ebenfalls nicht. Hier drückt das Fehlen einer Zentralperspektive darüber hinaus aus, dass das Sujet selbst mehrperspektivisch lebt. Auf dem Bild Pablo Picasso, Dora Maar. (1937) (c) Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2020.
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gibt und nimmt Dora Maar, es sieht so aus, als würde sie hier ganze Bücher geben, sie ist an Menschen interessiert, gründlich, gleichzeitig wohlabgegrenzt nach vorne und hinten, sie wirkt umsichtig, in einem schön farbigen Raum, sie kann es sich gut gehen lassen und für sich sorgen, in einem Rahmen und einer Form, in einem Raum, in dem man durch Zuhörenwollen anderen und anderem Raum gibt, auch zur Ent-Faltung; Raum geben, das ist die poietische, die wahrnehmenwollende Moderne im Unterschied zur auf Selbstbestimmung ausgerichteten, in der man nur nach festen Maßstäben urteilt und auf Ziele hin möglichst effizient vorrückt. Die Figur auf dem Bild nimmt wahr (wie groß sind die Augen!), nimmt auf und an, sie praktiziert die Tugend: Sie will eher verstehen als verstanden werden. Dafür braucht man mehrere Augen und eine Nase, die mal in die eine, mal in die andere Richtung riecht, die aufnimmt und fühlt. Sie betrachtet von mehreren Warten aus und in mehrere Richtungen, denkt also besonnen und komplex. Sie nimmt nachdenklich an, was ihr begegnet: behutsam, abwägend, emotional-verbunden, fürsorglich und ruhig. Die Farben symbolisieren klassisch, mitten im Gesicht steht die Hoffnung, die Ränder sind komplexer: Aus Nachdenklichkeit scheint sie etwas Neues zu machen, weiß, unter den Augen (sind es weiße Tränen? entspringt aus heller Trauer etwas Neues, gar eine Hoffnung?), weiß ist auch der Mund, der Mund kann immer, jederzeit, einen neuen Anfang setzen, wie schön; die rechte Hand ist innen vielleicht ganz so. Dora Maar, nehmen wir dieses Bild für einen Begriff von Mehrperspektivität, kann Perspektiven wägen, abgehen, sehen, sie zu verstehen versuchen und sich darum in Gespräche einlassen. Einen neuen Standpunkt entwickelt sie nicht. Mehrperspektivität, die in Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit übergeht, repräsentiert die Figur auf dem Bild gleichwohl eindeutig nicht. Sie gibt ‚Resonanz‘, eine Haltung der Wahrung – vielleicht, gehen wir etwas von dem Bild weg, Gleichwertigkeit – von Perspektiven, Auseinandersetzung. Diese Resonanz ist aber mehr als diejenige, von der in pädagogischen Diskursen die Rede ist. Auf der Basis der Artikulation von Perspektiven ist Mehrperspektivität mehr als Resonanz. Diese, so wichtig sie als zwischenmenschliche Grundlage ist, muss in Diskursivität übergehen können, sonst wird eine blasse Idee von Gemeinsamkeit etabliert, die keine Auseinandersetzung ermöglicht. (Geradezu zynisch ist die Rede von ‚Resonanz geben‘ und von ‚Resonanzpädagogik‘ – so sehr sie als Grundlage von Mehrperspektivität berechtigt ist – dort,
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wo Mitarbeiter, statt beteiligt zu werden, noch ‚Resonanz‘ geben dürfen – die sachlich folgenlos bleiben kann, aber den Untergebenen ein gutes Gefühl geben soll.) Mehrperspektivität ist ein zentraler Aspekt davon, im Verhältnis zu anderen zu sein, sie ist die Tugend, bereit zu sein, anderes in den Blick zu nehmen, sich von ihm her ansprechen zu lassen und in einen aktiven Austausch zu gehen. Das Verhältnis zu anderen hängt wechselseitig damit zusammen, in welchem Verhältnis jemand zu sich selbst steht. Mehrperspektivisch zu sein heißt, sich selbst unterschiedlich betrachten zu können, in Bildern mehrere Deutungen zuzulassen und keinen fixen Begriff seiner selbst aufzubauen. Man weiß vielmehr, dass man sich nur in Teilen kennt und dass jede Form, in der man über sich urteilt (und über anderes), eine präzisierende Verengung darstellt. Wie sieht ein mehrperspektivisches Verhältnis zur außermenschlichen Umwelt aus? Diese kann ja nicht sprechen. Oder doch? Sieht es so aus, wie Camus das mittelmeerische Denken beschreibt? Denken wir an Dora Maar. So könnte sie auch auf eine Landschaft, einen Landwirtschaftsbetrieb oder sonstiges blicken. Mehrperspektivität könnte dementsprechend heißen, etwas auf sich wirken zu lassen, um allererst vernehmen zu können, und dabei sein Urteil und seine Maßstäbe zunächst hintanzustellen. Es könnte möglich sein, den Anmutungen dabei Raum zu lassen. Vielleicht bedeutet es nicht, von seiner Zentralperspektive aus zu urteilen, wenn man eine Landschaft als misshandelt, traurig, grau, fröhlich oder ausgebeutet wahrnimmt. Und zum Ganzen? Hier ist es radikaler: Es gibt keine ‚Perspektive‘ eines Ganzen, die zu uns sprechen könnte. Oder? Vielleicht geht es hierbei darum, sich von woher zu denken und angesprochen zu finden, sich verdankt zu wissen. Und es gilt: Der Mensch, der alles aus sich heraus gründen will, wird sich kaum von einem Ganzen ansprechen lassen können. Wenn sich Gott ihm zeigt, versteht er es nicht, sieht es nicht, und kann es nicht zulassen. Wat den eenen sin Uhl … – darin drückt sich nicht nur ein Unterschied in Sichtweisen, sondern auch in Bewertungen und Geschmäckern aus. Es könnte einen größeren Bezug zu anderen Menschen und zu mir selbst ergeben, wenn ich meine oft nicht bewusst getroffenen Ablehnungen und Zustimmungen überprüfe, weil ich anderen zuhöre. Was mir eine Nachteule zu sein scheint, ist für den anderen ein singender Vogel – ich könnte prüfen, ob ich das, was mir begegnet, auch so klingend wahrnehmen kann wie ein anderer. Was folgt aus unseren Überlegungen für ein Verständnis von Verhältnissen? Wer nur seine Perspektive kennt, tritt nicht in Verhältnisse ein, wer sie als Wert durchsetzt, zerstört Verhältnisse oder, sich für sie einsetzend, bereitet ihren Boden. 130
Verhältnisse entstehen auf dieser Grundlage, wenn Perspektiven jongliert werden, wenn sie zu Spielbällen werden. Perspektiven formatieren Modalitäten, beispielsweise der Vertrautheit oder ‚Eingefleischtheit‘ der jeweils eigenen Verhältnisse. Was folgt für unser Verständnis von Traditionsorientierung? In einer festgesetzt geltenden Tradition sind vorausliegende Perspektiven das Maß und der Wert. In einer Tradition als Auseinandersetzungsfolie sind sie die Bedingung für Verhältnisse und für Bildung. Was folgt für unser Verständnis der Moderne? Radikal selbstbestimmt zu leben heißt, die eigene Perspektive unbedingt zu setzen, von der aus man in die Welt blickt wie aus vereinzelten Schießscharten. Indem Menschen davon ausgehen, dass jeder nur seine subjektive Perspektive habe, führt die Idee der Selbstbestimmung dazu, dass um Perspektiven nicht mehr gerungen wird, also zur Beliebigkeit – oder zur Vertuschung und unterschwelligen Verführung und Manipulation im Namen von Freiheit. Das freiheitlich-politische Verständnis der Moderne beinhaltet, andere Perspektiven zuzulassen und in einen argumentativ-offenen Austausch über sie zu gehen, ja, es setzt implizit voraus, dass die Beteiligten sowohl gemeinsam zu sprachlich-kulturellen Perspektiven gekommen sind als auch sich unterscheiden. Der Austausch darf nicht verengt geführt werden, sondern muss einbeziehen, was nicht ‚clare et distincte‘ ist, was zunächst nur vernommen werden kann und gegebenenfalls erst später klar wird. Jedes Handeln und Denken muss sich in Perspektiven vollziehen; andererseits ist jede solcher Perspektiven nur eine von mehreren, und Mitmenschen blicken aus (vergleichbaren und) anderen Richtungen auf die Welt. Die Hinführung zu dieser Einsicht wird als Bildungsprozess verstanden. Dieser Bildungsprozess ist (nur) dann erfolgreich, wenn erkannt wird, dass Einperspektivität von anderen und von der Welt isoliert, weil nur ein Fenster zur Welt eröffnet wird. Und wer nur von einem Fenster aus blickt, hat keinen Freiheitsraum zu ihm. So wie gilt, wenn ein Mensch stirbt, stirbt eine Welt, so gilt ebenfalls, mit jeder Geburt formt sich eine neue Welt (und damit ggf. Entdeckungsfreude). Bildung ist Hinführung zur Entdeckungsfreude. Freimachende Bildung wird verstanden als begleitende Unterstützung, Weltzugänge zu erproben. Das mündet in die Freiheit, durch unterschiedliche Fenster blicken zu können. Wie vollzieht sich dieser Prozess? Im gemeinsamen Denken in Gesprächen, in denen die Perspektiven Beteiligter ge- und beachtet werden. Gesprächsdenken muss variierend mehrperspektivisch sein. In Verhältnissen leben verlangt auch und besonders die Fähigkeit, Sich-Zu-SichSelbst-ins-Verhältnis-zu-setzen, d. h. vielfältige Anforderungen auszupendeln (insofern die Forderung nach lebenslangem Lernen und nach lebenslanger Bildung). Diese unübersichtlichen Anforderungen auf unterschiedlichsten Ebenen auszupendeln, er131
fordert situatives Handeln und daher Takt. Takt im Binnenverhältnis ist mehr als eine vielfach propagierte Achtsamkeit; Takt im Binnenverhältnis bewegt sich in der Spannung von ethischer Prinzipienreiterei und einem gleich gültigen Relativismus. Das Ziel ist, einen Weg zu finden, der Maß(stäbe) im Blick hat und gleichzeitig versucht, eine immer prekäre Mitte zu finden, also das Wohlergehen aller im Blick zu halten. Ein taktvolles Verhältnis zu sich selbst entwickeln, bedeutet auch, Gelingen und (tragisches) Scheitern zu ertragen, melancholisch zu bewältigen, aber nicht ‚unterzugehen‘.93 Sich-Zu-Sich-Selbst-ins-Verhältnis-setzen zu können verweist noch einmal darauf, dass es in der Welt kein sicheres Fundament geben kann.
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Nietzsche: „Ein jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxieren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demut vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit, zu kommen und fortzubleiben, wie es will; es wird deswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der Mensch selber.“ Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr. Aphorismus 624. In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. G. Colli /M. Montinari, Bd. 2, München 1980, S. 351. 132
6 Vertrauen und Dankbarkeit Einem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul
Die kindliche Vorfreude am Vorabend des eigenen Geburtstages: Man durfte Geburtstagsgeschenke erhoffen – was würde es sein? Womit würde man beglückt werden? Zumal wenn man nicht erwartet hatte, das-und-das zu bekommen. Man hatte die Situation normalerweise auch ohne Geschenk akzeptiert, und nun erhält man etwas: obendrauf. Das zu genießen bedeutet, anders als bei einem Kauf, das Geschenk nicht kritisch zu inspizieren. Tut man das, untergräbt man die Freude am Geschenk und entwertet es – und in gewissem Sinne auch den Schenkenden. Das liegt nicht daran, dass ein Geschenk weniger wert ist als ein gekaufter Artikel. Vielmehr kann es die Freude und Dankbarkeit daran zum Ausdruck bringen, in einer größeren Fülle zu leben als nötig: der Fülle, dass einem ein anderer etwas zum Geschenk dargeboten hat, und der Fülle, mehr als erwartet zu haben. Was ist, so verstanden, ein Geschenk? Es ist das andere, das Nichterwartete, das eindeutig Vieldeutige. Es ist das, was eigensinnig in die Welt gestellt und nun zu uns gekommen ist. Unsere Einstellung zu dem, was um uns herum ist, können wir am Paradigma eines Geschenks entfalten. Was kann man alles als ein Geschenk ansehen? Das Leben, Nahestehende, Gesundheit, Natur, Nahrung und Behausung, die zu entdeckende Welt. Wir werden in der Regel von Menschen beschenkt, die uns nahestehen. Wir haben also Grund zur Annahme, das Geschenk sei sorgfältig ausgesucht worden. Nun gilt es allerdings, eine Fallunterscheidung zu treffen. So gibt es Geburtstagsgeschenke, die der Beschenkte konventionell erwarten kann, und Überraschungsgeschenke, die ‚einfach so‘ als Ausdruck besonderer persönlicher Nähe überreicht werden. Wird das Geschenk im gesellschaftlichen Rahmen einer Konvention überreicht, kann der Schenkende wissen, dass es Teil der Konventionen ist, mit einem Geschenk zu erscheinen. Ohne Geschenk zu kommen, könnte als nachlässig und 133
gleichgültig oder gar konfrontativ erscheinen. Daher weiß man nicht genau, ob der andere ‚gern‘ geschenkt hat. Der Schenkende könnte sich beispielsweise beruflich schaden, wenn er kein Geschenk hätte; aus strategischen Gründen folgt er überlieferten Umgangsformen oder schlicht, weil Konvention und Takt es erfordern. Vertrauen kann also manchmal angebracht, manchmal weniger stark angezeigt sein. Wieder wollen wir fragen, was in unserem Denkzusammenhang auf dem Spiel steht, wenn wir danach fragen, ob Vertrauen eine Tugend ist. Soll ich anderen nur dann vertrauen, wenn ich Grund dazu habe, etwa weil ein Wahlverfahren genügend transparent ist und ich es kontrollieren kann, oder soll ich mein Urteil aufgeben und blind in andere vertrauen? Vertrauen ist erforderlich, um anderes auf sich wirken lassen zu können und es anzunehmen. Wer seine Absichten durchsetzen will, geht hingegen den umgekehrten Weg, er betrachtet die Welt als abhängige Variable seiner Absichten. Damit steht und fällt die Grundlage für ein Miteinander von Lebewesen auf diesem Planeten, denn das gemeinsame Existieren bedeutet, sich anregen zu lassen und aktiv zu sein. Vertrauen ist die Grundlage dafür, sich in der Welt eingebettet zu finden und sie zu akzeptieren, ohne zu fragen, welchen Nutzen man von ihr haben kann. Es kann naiv erscheinen, eine so einfache Sache wie Vertrauen in die Auseinandersetzung um die Gestaltung westlicher Gesellschaften einzubringen. Das hat aber seinen guten Grund: Denn misstrauisches Beherrschenwollen hat zu einem Fortschrittsdenken geführt, das sich als Ignoranz gegenüber der Umwelt auswachsen kann. Wer sich gegen Anderes behauptet, will kontrollieren und vermeiden, was Angst erzeugen könnte, Angst vor der Umgebung. Hier fehlt: Vertrauen. Um Fälle zu untersuchen, in denen es problematischer oder sogar unter Umständen nicht sinnvoll ist, zu vertrauen, wollen wir zuerst einen Begriff des Vertrauens aufbauen. Er kann uns dienlich sein, solche Erfahrungen auszuwerten, in denen Misstrauen zwischen Menschen begründet ist. Solche Fälle werden wir besser ausgehend von einem tieferen Verständnis vertrauensvoller Verhältnisse erörtern können. Der Begriff kann an dieser Stelle nämlich eine Vorstellung erwecken und entspringen lassen, was es für das Leben von Menschen bedeuten kann, zu vertrauen, was also ‚auf dem Spiel steht‘, wenn Vertrauen zu schwinden droht. Und er enthält Beschreibungen tugendhaften Zusammenlebens. 134
Wenn wir dem Schenker und dem Geschenk vertrauen, dann müssen wir nicht zu der Einsicht gelangen, dass wir genau dieses Geschenk ausgewählt hätten; wir könnten andere Maßstäbe anlegen. Ein bestimmtes Teil hätte sorgfältiger gearbeitet sein, die Farbe anders ausfallen können. Dann sehen wir, in einer anderen Ecke des Geschenks, da hat der Schenker genau hingesehen, wir hätten darauf vielleicht nicht geachtet, das ist gründlich bedacht und von hoher Qualität. Wenn wir auf das Geschenk vertrauen, nehmen wir es hin und an – Vertrauen heißt im Kern, annehmen können94 –, und wir machen dabei mehrere Erfahrungen: Wir wachsen in die Sichtweise des Schenkenden hinein, denn wir benutzen nun etwas, das so auch der Schenkende benutzt. Wir lernen das Geschenk zu akzeptieren und ärgern uns nicht darüber, dass es nicht genauso ausgefallen ist, wie wir es bestimmt hätten. Wir freuen uns darüber, dass sich dieses Ding in unserem Umkreis befindet. Orientierung an Kriterien dagegen, dass wir durchgängig ‚Transparenz‘ verlangen; das unterhöhlt Vertrauen. Um das zu verdeutlichen, gehen wir wieder vom Klischee des selbstbestimmt-modernen Menschen aus; er geht vom Gegenteil aus. Er denkt: Ich kann nur vertrauen, wenn die Realität transparenten Sicherheitsansprüchen genügt, die sich in Kriterien ausweisen lassen. Er vertraut auf Statistiken, den Arzt, die Blutwerte, die Kalorienangaben auf Lebensmittelpackungen und Checklisten in seinem Beruf. So geht er durch die Welt und überprüft, ob derzeit alles so ist, wie es ausgewiesenermaßen sein sollte. Da das selten genau der Fall ist, versucht er die Welt um sich herum zu verbessern. Wir überziehen das Klischee: Er beäugt seine Umgebung, und um sich abzusichern, erstellt er weitere Kriterienlisten. Er tadelt seinen Partner oder seine Kinder, wenn etwas nicht gemäß der Kriterien ausfällt, und gibt so seinen Mitmenschen wiederum: kein Vertrauen. Sicherheitsbedürfnis, Bestimmtheit in Form von Kriterien und Kontrolle erzeugen Angst und zerstören Vertrauen auf beiden Seiten.
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Wahrscheinlich bedeutet es zunächst ganz naiv, sich in etwas hineinfallen zu lassen, und auf dieser Grundlage, sich für Eigensinn zu öffnen und insofern Mehrperspektivität bewusster zu praktizieren. Das zeigen auch feinsinnige Geschenke, in denen dem Schenkenden etwas am Beschenkten aufgefallen ist, was diesem entzogen war. 135
Vertrauen in Unbekanntes aufzubringen fällt heutigen sich selbst bestimmenden Menschen besonders schwer, denn sie leben in der Regel in einer Welt von Sicherheiten und vertrauen nur auf das, was sie beurteilen können. Und sie vertrauen auf sich. Zum einen taugt diese Einstellung aber nicht für das Ganze des Lebens, für Begegnungen mit Liebe, Leid, Chaos (Unwägbarkeiten) und Tod. Zum anderen wird der Umgang des Menschen mit sich selbst schwierig, wenn das Selbstvertrauen erlischt, sei es, weil eine Reifung oder eine äußere Veränderung ansteht. Der selbstbestimmte Mensch, weil er nicht in unbestimmte Entwicklungen vertraut, läuft dann Gefahr, sich als ‚gestört‘ anzusehen, weil er Sicherheit und Funktionstüchtigkeit braucht. Wenn er Pech hat, versäumt er daher Weiterentwicklungen – die zunächst oft mit diffusen Gefühlen und Leid verbunden sind. Auf der anderen Seite erklärt die Tatsache, dass wir in einer Sicherheitswelt leben, die Sehnsucht nach (gezielter) Unsicherheit, sei es nach Outdoorerlebnissen, Bungeejumps oder der Natur; darin könnte der Wunsch verborgen liegen, Unwägbarem zu vertrauen (oder sich auch darin noch sein Können zu beweisen). Sicherheit aber schafft keine Erfahrung des Vertrauens, und die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus dem Ich, das als getrennt von der Umwelt erlebt wird, suggeriert nur eine Erfahrung von Vertrauen, denn sie erfolgt nach ganz klar reglementierten selbstbestimmten Maßstäben. Ein Vertrauen in die Wirklichkeit hingegen muss eines sein, das sich gerade dann bewährt, wenn Kriterien nicht erfüllt sind. Vertrauen erweist sich im Extremfall erst dann, wenn es gilt, das Unperfekte, das Eigenständige, Spontane, Krankheit und selbst den Tod anzunehmen. Vertrauen heißt, sich in Anderes hineinzubegeben, sich fortzugeben, sich anheimzugeben. Ein Beispiel: Wenn ich lange genug über eine Wanderroute nachgedacht habe, entscheide ich mich nach vielen Überlegungen und mit meinen Argumenten für: den linken Weg. Solche Wege kenne ich, ich weiß beispielsweise, wie ich sie finde und nach welcher Zeit eine Einkehr möglich ist. Mein Wanderpartner hat sich mit seinen Gründen für: den rechten Weg entschieden. Zwei Möglichkeiten, vorausgesetzt, es handelt sich in beiden Fällen um keine waghalsige Route: Wir diskutieren und streiten uns schließlich, die Freude am Tag ist schneller vorbei als gedacht. Oder: Einer folgt dem Vorschlag des anderen. Dabei machen beide eine wichtige Erfahrung, der eine überwindet seinen sturen Eigensinn und vertraut der Sorgfalt des anderen und lernt Wege kennen, die er sonst nie gegangen wäre, er lässt sich dabei in die Rolle des Teil136
nehmers und Gastes hineinfallen. Der andere wird in seiner Gründlichkeit bestärkt, ihm wird zugetraut, zu führen, er darf Verantwortung übernehmen. Die Bindung beider aneinander wird gestärkt. Das natürlich nur, wenn der mit dem Vorschlag des anderen Beschenkte nicht bei jeder Schwierigkeit lamentiert und meckert, wie schlecht der Weg sei, es steht unter der Voraussetzung des Vertrauens. Ein weiteres, extremes Beispiel: Die Medizinmänner Boliviens und Perus, die Callaway, praktizieren ein traditionelles Heilungsritual; da wird ein Lamafötus geopfert, da werden Orte der Kraft angerufen, da wird Mutter Erde um Vergebung gebeten, alles verbunden mit realen Zutaten, die aufgetischt, verbrannt, angeordnet und einbezogen werden. Susto, Schrecken und Seelenverlust, aber auch alltägliche Streitigkeiten und schwere körperliche Krankheiten werden auf diese Art behandelt. Eine solche Heilung, das gehört zu ihrem Begriff, funktioniert nur, wenn die Person, die behandelt wird, in den Medizinmann, in die symbolische Situation und in die Verhältnisse zwischen den Kraftorten vertraut, die Heilung ist gestiftet durch das Vertrauen in die soziale Situation und das Vertrauen darin, dass Orte der Welt und Erinnerungen mich ansprechen können. Dieses Vertrauen setzt den ganzen Leib voraus, nicht nur Gedanken, anders kann eine Callaway-Heilung nicht wirken. Dieses Beispiel kann gerade dann verdeutlichen, was Vertrauen ist, wenn der Leser nicht daran glaubt, eine solche Heilung könne wirksam sein. Denn dann kann er anhand seines Misstrauens bemerken, was nötig wäre, um zu vertrauen – und zwar nicht eine naturwissenschaftliche Verifikation. Würde ein Skeptiker nicht zu Recht fragen, ob es Literatur gibt, in der zumindest ansatzweise Heilungen belegt sind? Nein, er würde dann an der Quelle zweifeln und misstrauisch bleiben. Vertrauen braucht eine Offenheit des Herzens, es braucht Gelassenheit und das Wagnis, sich dort in anderer Abhängigkeit zu begeben, wo wenig Grund dazu vorliegt – es ist „der Wille, sich verletzlich zu zeigen“.95 Als etwas, das beeinflussbar ist, das vom Wollen und Können abhängt, ist Vertrauen – wie die Fähigkeit zu lieben und sich lieben zu lassen – eine Tugend. Etymologisch stammt das Wort ‚Vertrauen‘ von ‚trauen‘: fest werden, glauben – glauben ist nicht das Gleiche wie wissen – hoffen, zutrauen, wagen. Trauen im Sinne von Ehelichen gehört zu der 95
Margit Osterloh, Antoinette Weibel (Hg., 2006), Investition Vertrauen. Prozesse der Vertrauensentwicklung in Organisationen. Wiesbaden. 137
Wortgruppe von Vertrauen, Anvertrauen gehört zu Treue. Treu ist jemand, der zuverlässig ist, ehrlich, wahr, richtig, echt, stark; treu sein ist verwandt mit Trost (jemandem eine Feste sein, eine ‚feste Burg‘). Man betreut jemanden, und man betraut jemanden mit etwas, weil man ihm traut. Die Trautheit eines Heims (‚trautes Heim‘) ergibt sich aus der Festheit und dem Zutrauen; die Vertrautheit ergibt sich aus Nähe, wie Vertraulichkeit. Klar scheint zu sein: Gegenseitiges Vertrauen ist daran gebunden, sich wechselseitig zu akzeptieren. Da solche Akzeptanz nicht rechnerisch genau ‚berechtigt‘ sein kann, ist Vertrauen damit verbunden, sich teilweise von seiner Zentralperspektive zu verabschieden, sich von seinen Mitmenschen ansprechen zu lassen und sich ihnen zu öffnen. Insofern ist Vertrauen unmodern, und es bedeutet, sich gewissermaßen im Verhältnis mit anderen zu befinden. Wenn man sich so einlässt auf das Zusammenleben mit anderen (oder mit Gott, der Natur, sich selbst), dann lebt man relativ entspannt inmitten von allem als einem unbestimmten Ganzen. Verharrt man dagegen in der Perspektive desjenigen, der beurteilen will, dann fehlt es an Kraft und Mut zu einem vertrauensvollen Sich-Öffnen; das wird als ein unkontrollierbares Wagnis wahrgenommen, das Angst und Zweifel hervorruft und nach kontrollierender Überprüfung verlangt. Der selbstbestimmte Mensch kann sich höchstens von der Notwendigkeit des Vertrauens überzeugen: In jeder Situation, die ohne Regelungen stattfindet und in jeder Situation, die zu komplex ist, als dass sie geregelt werden könnte, ist Vertrauen unverzichtbar. Einsicht in Notwendigkeit aber erzeugt kein Vertrauen. Vertrauen heißt, ins Verhältnis zu anderem zu gehen. Es heißt, sich in seinem Leben von Unbestimmtem benetzen zu lassen. Ein merkwürdiger Befund, der einen tatsächlich zur modernen Sichtweise zurückkehren lassen kann. Laut Niklas Luhmann ist Vertrauen das Zutrauen zu eigenen Erwartungen. Luhmann führt Vertrauen auf Selbstvertrauen zurück, also auf etwas, das im Menschen liegt, der vertraut. Das hat mit dem anderen nichts zu tun, ist typisch modern, und es hat weder mit der Gründung von Verhältnissen durch Vertrauen noch mit der Gründung von Vertrauen durch Verhältnisse etwas zu tun. Vertrauen wäre gemäß Luhmann entweder begründet, weil die Erwartung berechtigt ist, oder weil die Person viel Zutrauen hat; Vertrauen wäre in beiden Fällen durch Selbstbestimmung ersetzt, einmal in Form von Argumenten, einmal in Form von Selbstvertrauen. Richtig daran ist: Vertrauen benötigt neben der Unbestimmtheit eine Gestalt, in Form von Verlässlichkeit, Orientierung und Vorhersagbarkeit. Vertrauen kann 138
verspielt werden. Es gründet in einem Verhalten eines anderen oder in der Einschwingung in ein Verhältnis, das dann als vertrauensvoll gekennzeichnet wird, beispielsweise in Ritualen, Gewohnheiten, Beruhigungen oder, besonders bei Kindern, der Anwesenheit von Begleitern, die Gefühlslagen aufnehmen und sie ‚herunterschwingen‘, wenn das Kind gerade aufgeregt und beunruhigt ist. Vertrauen entsteht in der Zeit und gibt uns dann ein Gefühl, nicht nur heute, nicht nur punktuell, sondern dauerhaft in einem Verhältnis eingebettet zu sein. An zwei wichtigen Bruchstellen des Lebensweges wird deutlich, dass wir diese Vorbedingungen nicht aus eigener Kraft schaffen können: Ein neugeborenes Kind vertraut auf seine Eltern, es vertraut ihnen beinahe mit einer Engelsgeduld, und wo die Eltern dieses Vertrauen enttäuschen, weil sie keinen Halt und keine Festigkeit, keine Verlässlichkeit und keinen Glauben an das Kind aufbringen können, da hofft es noch beinahe unendlich lange weiter, es glaubt an Besserung, auch dort, wo das Vertrauen längst zerstört ist. In wichtigen Entscheidungen und Situationen, in denen wir abhängig von anderen sind, geht es ebenfalls immer um Vertrauen, das wir aufbringen müssen, ohne es schon erworben zu haben: in Fällen medizinisch größerer Eingriffe, wenn wir sterben, einen komplizierten Rechtssprechungsfall bearbeiten lassen und wenn wir die Erziehung unserer Kinder in die Obhut anderer legen. Weil die wichtigen und grundlegenden Lebenssituationen Vertrauen benötigen, ohne dass wir dieses berechtigt finden können – oder ist das unsere moderne Sichtweise, und wir sollten gerade diese Situationen zum Paradigma für Vertrauen erheben und das alltägliche Vertrauen daran messen? – ist Vertrauen immer mit einer Vorleistung verbunden: Vertrauen wird vorlaufend gegeben, in jeder alltäglichen Situation neu, sei es zwischen Geschäftspartnern oder Freunden. Ja, vielleicht sollten wir so denken: Weil wir gebürtlich mit einem Vorschuss an Zutrauen in diese Welt kommen und weil wir uns aus dieser Welt nur vertrauensvoll verabschieden können, sollen wir Neugeborenen, Hilfsbedürftigen und Sterbenden unser Vertrauen erweisen, sollten wir uns im Kern generell zu Vertrauen durchringen und uns selbst vertrauenswürdig zeigen. Merkwürdig, wir führen Vertrauen im Leben jetzt auf etwas gänzlich Unbestimmtes zurück, das wir gewissermaßen in die Welt legen müssen, wir führen es auf etwas in nicht dogmatischer Weise Religiöses zurück und bemerken, ohne einen solchen Kontext können wir kein Verständnis des Vertrauens erwerben. Erst Vertrauen zu einem unbestimmten Ganzen ermöglicht alltägliches Vertrau139
en. Vertrauen, das ist schließlich auch der Grundzug des Glaubens. Und umgekehrt: Nur vorbehaltloses Vertrauen, auch wenn es durch den Zweifel bewusst geworden ist, eröffnet Zugang zum religiösen Glauben. Jesus’ Vorleistung für dieses Vertrauen, sein Tod am Kreuz (!), kann, christlich verstanden, die Einsicht geschichtswirksam werden lassen, dass nur durch Vertrauen ein humanes Leben möglich wird und dass das unabhängig „von der Erfahrung gilt, daß Vertrauen immer wieder enttäuscht wird.“96 Das lässt sich an einem sehr elementaren Ereignis festmachen. In jeder Wahrnehmung, in jedem Prozess, in dem wir etwas in unserem Blick gleiten lassen, ziehen lassen und betrachten – gleichgültig, ob wir dabei, wie Immanuel Kant es in einem berühmten Beispiel in der Kritik der reinen Vernunft vor Augen hatte, einen kausalen Zusammenhang überprüfen – lassen wir einen Bis-auf-Weiteres-Vorbehalt mitlaufen und stimmen uns im Ganzen ein in die Wahrnehmung, die sich gerade zeigt. Wir suspendieren unser Urteil und sehen hin, wir vertrauen darauf, was sich zeigen wird, was – bald und möglicherweise – bestimmt sein wird. Das können wir auch anders sagen: Dabei sind wir in einem sehr prominenten Verhältnis – mit Unbestimmtem. Dass wir während eines Wahrnehmungsprozesses in ein unbestimmt Ganzes vertrauen, heißt, wir sehen grundlegend das, was wir wahrnehmen, als ‚wahr‘ an. Der Glaube daran, dass sich Dinge und Prozesse offenbaren, dass wir nicht gleich zweifeln müssen und wir nicht getäuscht werden, der Glaube an die Wahrheit von Dingen, die sich im Verhältnis mit mir offenbaren können, ist fundamental für jede Wahrnehmung und für jedes Vertrauen. Das Wahrheitsverhältnis ist für Vertrauen zentral. „Es ist Wahrheit, in der wir einander verbunden sind.“97 Gleiches gilt für das Vertrauen zu uns selbst. Wir vertrauen auf ein Unbekanntes und nehmen es (als und für) wahr. Wenn wir daran zweifeln, 96
97
Reinhard Schmidt-Rost, Vertrauen. In: Volker Drehsen u. a. (Hg.), Wörterbuch des Christentums. Düsseldorf 1988, S. 1322; vgl. ebd. zu den vorigen Sätzen des gleichen Absatzes in diesem Kapitel. Vgl. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube. (Vorlesungen 1947.) Frankfurt/Main 1958, S. 43–44: „Wahrheit ist, was uns verbindet — und: in der Kommunikation hat Wahrheit ihren Ursprung. Der Mensch findet in der Welt den anderen Menschen als die einzige Wirklichkeit, mit der er sich verstehend und verläßlich verbünden kann. Auf allen Stufen der Verbindung zwischen Menschen finden Schicksalsgefährten liebend den Weg zur Wahrheit, der dem Menschen in der Isolierung, im Eigensinn und im Eigenwillen, und in sich abkapselnder Einsamkeit verloren geht.“ Vgl Josef Pieper, Wahrheit der Dinge. München 1947. 140
ob wir jemandem Vertrauen geben können und ob wir vertrauenswürdig sind, dann hilft nur die handelnde Anerkennung von anderen und uns selbst, in der wir Vertrauen schenken und uns zu unserer Vertrauenswürdigkeit bekennen, gerade weil wir uns selbst nicht kennen. Wir werden dadurch vertrauenswürdig. Wir gewinnen dadurch Würde und geben sie anderen. (In diesem Prozess zeigen wir uns vertrauenswürdig, indem wir die Perspektive anderer (und unsere) berücksichtigen und würdigen, d. h. indem wir sie als Verhältnis-Maß unserer Handlungen etablieren.) Das gilt es, begrifflich auszuwerten: Wenn wir vertrauen, fühlen wir uns angenommen. Diese Annahme kann ich mir als einzelner vergegenwärtigen. In der Selbstbesinnung erfahre ich meine Dankbarkeit darüber, annehmen zu dürfen; dann kann ich verstehen, dass ich dieser dankbaren Annahme etwas schulde, d. h. ich mich ihr würdig erweisen will. Vertrauen ist kein Urteilsakt. Vertrauen heißt immer auch zu akzeptieren, was man nicht so gut findet. Dass wir alle in dieser Weise vertrauen, mag wiederum ein Beispiel zeigen. Wenn wir in einer westlichen Welt geprägten Menschen sehen und hören, wie Menschen anderer Länder darum streiten und Krieg führen, wer die Regierungsmacht haben soll, dann sagen wir schnell: „Warum wählen sie nicht einfach?“ Wir setzen Vertrauen in Wahlen statt in Gewalt. Dabei wissen wir, denken wir nur länger darüber nach, dass in Wahlen der schlimmste Diktator gewinnen kann. Unser Vertrauen in Demokratie bleibt bei diesem Wissen aber unangetastet, es liegt unseren Urteilen darüber voraus, dass unser Vorschlag zum Guten führen wird. Wir begeben uns vertrauensvoll in eine Wahl hinein und verzichten darauf, gemäß eigener Maßstäbe zu urteilen. (Das machen wir dann am Stammtisch, wir werden aber keinen Putsch gegen die gewählte Regierung anstrengen.) Vertrauen heißt, etwas unangezweifelt zu lassen oder es trotz Zweifel nicht zersetzend in den eigenen Urteilen zu negieren. Man lebt in dem, worauf man vertraut. Den Kreis zu verlassen, in dem man vertraut und auf den man vertraut, das ist wie ein Tabu – einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Erst wo wir nicht mehr vertrauen, beispielsweise dort, wo demokratische Regierungen dauerhaft weit mehr Arme als Reiche erzeugen oder demokratische Staaten instabil werden, zweifeln wir und lassen uns nicht mehr auf die Staatsform ein. Wenn das Vertrauensverhältnis zerbricht, muss das Selbst versuchen, sich in seiner zerbrechlichen Welt zu behaupten. Wenn wir an etwas zweifeln, kann das dabei rein destruktiv sein und Vertrauen erschüttern oder gerade auf dem Vertrauen in eine 141
andere Möglichkeit beruhen. (Wir können uns dann beispielsweise erinnern, dass in einem Staat neben Demokratie die Achtung egalitärer Universalisierbarkeit, die Achtung subjektiver Rechte, Gewaltenteilung oder schlicht ökonomische Gleichheit wichtig sind.) Wir haben anlässlich der bisherigen Überlegungen Grund dazu, von zwei Vertrauensverständnissen auszugehen. Diese können uns gleich den Weg weisen, Situationen, in denen Misstrauen angezeigt ist, zu analysieren. Es gibt ein grundlegendes Vertrauen und ein eingeschränkteres. Vertrauen wird zunächst erwidert, es ist ein sich anheimgebender Ruf, der auf einen Anruf hin erfolgt. Dann wird es gegeben. Schließlich, als Folge von Erwiderung und Geben, entsteht ein Vertrauensverhältnis. Dieser Dreischritt weist darauf hin, dass alle Menschen zunächst in einem fundamentalen, grundlegenden Vertrauen aufwachsen. Dieses ist umfassend und die Basis, auf der wir symmetrischere und partiellere Vertrauenskonstellationen aufbauen. Jeder von uns trägt solches grundlegendes Vertrauen in sich. Allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen. Daher ist die Bindungsfähigkeit von Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und die Trennungsfähigkeit ebenfalls. Die Trennungsfähigkeit besteht darin, dass wir Bezugspersonen loslassen können, um die Welt vertrauensvoll zu entdecken. Das grundlegende Vertrauen, mit dem wir in die Welt kommen und das wir dann empfangen, ist eine Schule, die darin besteht, dass wir mit Unwägbarkeiten zurechtkommen und uns auf andere verlassen lernen – statt dass wir überall Sicherheiten suchen und kontrollieren wollen. So besehen ist Vertrauen zunächst verdankt. Später fragen wir uns, was wir anderen schulden, eingedenk dessen, dass wir wahrgenommen haben, was es für uns bedeutet, dass wir vertrauen durften. Wenn wir nun an symmetrische Vertrauensverhältnisse denken, die wir aufbauen und pflegen, dann sind diese in gewisser Weise begrenzt. Solche begrenzten Vertrauensverhältnisse können sehr unterschiedlich aussehen, wir geben in ihnen Vertrauen immer ‚bis auf weiteres‘. Das bedeutet, wir geben es in einem offenen Zeithorizont – etwa in einer Partnerschaft also nicht ‚bis-dann-und-dann‘ – und wir geben es in einem Rahmen, der unterschiedlich gestaltet sein kann. Denn es kann Bedingungen enthalten, beispielsweise die Verlässlichkeit des anderen oder die Tatsache, dass er mich nicht instrumentalisiert, und es kann verspielt werden. Vertrauen ist zwar in einer grundlegenden Weise immer schon da, wenn Menschen zusammentreffen, aber es kann zerstört werden. Und die Bedingungen, die wir knüpfen, wenn wir je142
mandem unser Vertrauen schenken, können unterschiedlich restriktiv (und auch, beispielsweise in einem Vertrauensmandat, zeitlich befristet) sein. Wir vertrauen jemandem etwa eine vierjährige Kanzlerschaft oder die Durchführung einer Wahl an, aber das Verfahren, das diese Person gestaltet, muss dann transparent sein; wir erwarten also manchmal eine gewisse Kontrollierbarkeit. Von einem Geldboten, dem wir ein Vermögen anvertrauen, erwarten wir, dass er uns eine Quittung oder einen anderen Nachweis darüber zurückbringt, dass das Geld den Empfänger erreicht hat. Sehen wir uns ein Beispiel an, das zeigt, wie Menschen Vertrauen wiederherstellen können, wenn es verspielt wurde. Zwei Kinder spielen in einem Sandkasten, das eine legt eines seiner Sandformen in die Nähe des anderen und spielt dann mit weiteren Formen, statt wachsamen Auges zu kontrollieren, was mit der angebotenen Form geschieht. Es macht also ein Vertrauensangebot. Die andere Person aber steckt die Sandform in seinen Rucksack – sie ist sehr schön, es ist eine rote Muschel – und geht damit nach Hause. Dieses Kind hat noch keinen rechten Begriff von Eigentum und Diebstahl, wollen wir annehmen. Nun aber, zu Hause, kommt diesem Kind das Bild des Kindes, das die Muschel anbot, vor Augen. (Das könnte auch anders sein, die Muschel ist schließlich schön und rot, aber wir wollen es so annehmen.) Es merkt damit jetzt, es hat auf das Vertrauensangebot nicht angemessen reagiert. Wie können wir diese Situation begrifflich rekonstruieren (ohne dass das Kind die dabei verwendeten Worte im Kopf haben muss, ihm schwebt jetzt nur das Bild des anderen Kindes vor Augen, von dem die Muschel kam, vielleicht schämt es sich.) Jetzt, sagen wir, ereignet sich Diversität. Das Kind, das merkt, die Muschel wurde ihm vertrauensvoll, aber nur zum Spielen, angeboten, erfährt die Position des anderen Kindes – als eine von ihr verschiedene. Jetzt, nimmt das Kind seine Scham ernst, kann es überlegen, die Muschel zurückzugeben (und damit das Vertrauen wiederherstellen). Dafür braucht es Freiheit. Und zwar in mehrfacher Weise. Zunächst die Freiheit gegenüber dem (eigensinnig-behauptenden) Wunsch, die Muschel zu behalten (die Freiheit, in der Bescheidenheit entsteht). Dann die Freiheit, weiterhin ernstzunehmen, dass die Muschel dem anderen Kind (dass sie zu ihm) gehört. Und die Freiheit – den Freimut – sich der dann folgenden Situation zu stellen. „Ich hab’ deine Muschel vorhin mitgenommen.“ Das Kind lässt sich so darauf ein, dass das andere Kind darauf vertraut hat, dass seine Muschel nicht ‚weg‘ sein würde, sondern zum Spielen überreicht wurde. Das entspricht dem ‚sanften‘ Freiheitsbegriff, den wir als ‚Zulassung des anderen‘ 143
gekennzeichnet haben. Es ist wichtig festzustellen, dass diese Freiheit nicht als Selbstbestimmung rekonstruiert werden kann. Der Akt, sich zu entscheiden, die Muschel zurückzugeben, ist zwar einer, der aus eigenem Entschluss heraus erfolgt. Aber maßgeblich dafür ist das Bild des anderen, das einem vor dem Auge steht. Maßgeblich ist also hier schlicht: der andere in seiner Eigenheit. Und insofern der andere nicht in den eigenen Verfügungskreis eingezeichnet wird – das wäre der Fall, wenn das Kind denken würde, „ach, der andere hat es vielleicht schon vergessen, und ich kann ja sagen, ich hab’ es nicht mitgenommen“ – ist hier der andere in seiner Würde angesprochen und wahrgenommen. Die Wahrnehmung der Würde des anderen folgt hier dem Bestimmungsverzicht. Nach diesen Überlegungen glauben wir, etwas genauer zu verstehen, was Vertrauen ist, und inwiefern Vertrauen ein hohes Gut ist, zwischen Menschen, im Menschen und in die Wirklichkeit insgesamt. Daher wollen wir uns jetzt mit Situationen beschäftigen, in denen Vertrauen faktisch weniger angezeigt ist. Hier scheint Vertrauen naiv – auch wenn es insgesamt natürlich schöner wäre, man könnte vertrauen. Es scheint so zu sein: Allen kann man nicht vertrauen, keinem darf man nicht. Neben solchen Situationen, die Anlass zu Misstrauen geben, liegt es auch beim Menschen selbst, inwieweit er generell Vertrauen aufbringt. Worauf der Einzelne faktisch vertrauen will und zu vertrauen glaubt, mag von unbestimmt vielen biographischen Einflüssen abhängen. Einige Menschen setzen ihr Vertrauen in die je gegenwärtigen Verhältnisse, also in die Beziehungen, die ihr gegenwärtiges Leben bestimmen. Darunter und daneben vertrauen wir auf ein weitgehend Unbestimmtes. Ob man zu einem Unbestimmt-Unbekannten bewusst in vertrauensstiftende Verhältnisse eintreten kann, kann nur jeder selbst entscheiden. Allerdings bleibt die Frage, in welche Art von Selbstverhältnissen diese Entscheidung eingeflochten ist. Wer entscheidet was? Ein Agnostiker wird diese Frage vielleicht dahingehend beantworten, dass er schon die Frage nicht verstehe und sie als unbeantwortbar bezeichnen. Auf sog. ‚ozeanische Gefühle‘ anspielend verweist Freud darauf, er könne sich „von der primären Natur eines solchen Gefühls nicht überzeugen“, wolle aber sein Vorkommen bei anderen nicht bestreiten.98 In welcher Weise stellt sich ein Gefühl als Verhältnis dar? Eine andere Alternative wäre beispielsweise, auf Kierkegaards Sprung in den Glauben hinzuweisen. Ein Sprung, der das aufge98
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders., Kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/M. 1974, S. 197. 144
worfene Problem des Zusammenhangs von Interesse und Selbstfindung paradox ‚auflöst‘: „vermöge des Ewigen hat das Selbst den Mut, sich selbst zu verlieren um sich selbst zu gewinnen.“99 Nun Beispiele, die Anlass zu Misstrauen geben; wir wählen sie wieder aus dem Bereich von Geschenken und Kaufangelegenheiten. Zwar scheint es beim Überraschungsgeschenk nahezuliegen, ein tragfähiges, gutes Verhältnis zwischen den Beteiligten zu vermuten, aber auch in diesem Fall bleibt die Frage: ‚wirklich?‘ Oder schenkt der Ältere dem Jüngeren etwas, um ein unklar-unbestimmtes Verpflichtungsverhältnis zu etablieren, und der Mitarbeiter dem Vorgesetzten, um sich in ein gutes Licht zu stellen? Das Geschenk drückte zwar auch eine Zuneigung zum Beschenkten aus, der bedeutendere Akzent läge aber auf der zukünftig erhofften ‚Gegenleistung‘ des Beschenkten. Daher könnte sich in diesen Fällen die Frage stellen: Ist es ein ‚vergiftetes Geschenk‘? In diesem Falle täuscht der Schenker Vertrautheit vor, folgt aber nur seiner – allen anderen verdeckten – Intention. Er schützt Vertrautheit vor, weiß aber, dass von seiner Seite jede Vertrautheit fehlt. Das ‚vergiftete Geschenk‘ scheint mithin nur darauf abzuzielen, Beschenkte zu erfreuen, sein ‚wirkliches‘ Ziel ist vielmehr, dem Schenker Vorteile zu verschaffen. (Und manchmal will sich der Beschenkte auch täuschen lassen, weil er an seinem Trugbild des geschätzten Schenkers festhalten will.) In der Situation eines Pferdekaufs auf einem Hinterhof hingegen braucht man solche verdeckten Absichten nicht zu erraten. Der Käufer ‚weiß‘, er muss damit rechnen, dass der Verkäufer ihm nichtzutreffende Information über die Besonderheiten des zu verkaufenden Pferdes geben könnte. Es handelt sich in dieser Situation um einen bewusst inszenierten und auf der anderen Seite ggf. auch erwarteten Täuschungsversuch. Der Pferdekauf vollzieht sich im Kontext der Möglichkeit getäuscht zu werden, man muss einen Teil der Verantwortung bei sich selber suchen. Entpuppt sich ein Geschenk als vergiftet, wird man mit der Frage konfrontiert, wie dies geschehen konnte, welche Signale man übersehen habe. Am nachhaltigsten belastet vielleicht der daraus resultierende Selbstzweifel. Könnte das vergiftete Geschenk zur Selbstbesinnung einladen, mithin als Aufforderung verstanden werden, genauer nachzuschauen? Schau dem Gaul ins Maul.
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Sören Kiekegaard, Die Krankheit zum Tode. In: Ders., Die Krankheit zum Tode und andere Schriften. München 1976, S. 100. 145
Die Art der Wahrnehmung eines Geschenkes verweist auf Grundlegenderes, nämlich darauf, wie die Beteiligten ihr wechselseitiges Vertrauensverhältnis deuten. Auch in Vertrauensverhältnissen empfiehlt es sich, Unterscheidungen zu beachten. So heißt es in Fontanes „Stechlin“: „Engelke [Stechlins Diener], noch um ein Jahr älter als sein Herr, war dessen Vertrauter geworden, aber ohne Vertraulichkeit. Dubslav verstand es, die Scheidewand zu ziehen.“100
Das macht darauf aufmerksam, dass Vertrauensverhältnisse der Zeit und der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung unterworfen sind. Vertrauen mag sich entwickeln können, und diese Entwicklung stellt sich als Prozess dar. Vertrauen ist wohl nie grenzenlos, und Dubslav zieht daher eine Scheidewand, eine Grenze. Da alle Verhältnisse, sei es zu Menschen, zu Dingen oder zur Natur einem Wandel unterworfen sind, lässt sich diese Grenze nicht kriteriologisch ausweisen. Biographische Erlebnisse können Vertrauen erschüttern, und vielleicht ist sogar Alltagsvertrauen, aber auch zum Teil weitergehendes lebenstragendes Vertrauen ein- oder mehrmals erschüttert worden. Gibt es ein Vertrauen ohne jeden Zweifel? Gibt es nicht sogar Situationen, in denen man sich selbst misstraut? Ist heute Glauben ohne einen Anflug von Glaubenszweifel möglich? Wir stoßen hier auf eine Schwierigkeit: Verhältnisse sind auf Vertrauen angewiesen, aber allein, die Umstände sind nicht immer so, und damit gilt es, zurechtzukommen und seinen Weg zu finden. Was tun? Misstrauisch werden. Vielleicht gegen die Person, der gegenüber man Grund zum Misstrauen findet, vielleicht genereller. Sich ein pessimistischeres Menschenbild zurechtlegen. Sich zu der Einsicht durchringen: den anderen so nehmen, als ob er das Geschenk persönlich und gerne ausgesucht hätte. Selber in vergleichbaren Situationen den ursprünglichen Sinn eines Geschenks wachrufen und sich fragen, wie man dem anderen etwas Gutes tun könnte und womit man ihn bereichern könnte. Taktvoll und nachsichtig Verständnis aufbringen und das Geschenk zur Seite legen. Aufklären. Nachfragen, wie die Person zu diesem Geschenk gekommen sei. Selber verdeutlichen,
100
Theodor Fontane, Der Stechlin. In: Ders., Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. München 1980. Bd. V, S. 14. 146
dass einem Geschenke ohne den Sinn der Bereicherung einer Person unwichtig sind. Das alles sind Versuche, den Sinn des Schenkens wachzuhalten. Allgemeiner gesagt, gilt es wahrscheinlich gerade in Situationen der Erschütterung des Vertrauens, Vertrauen zu etablieren und neu in die Mitte zu rücken, möglichst den Weg zum Vertrauen zu ebnen. Es bleibt das Riskante jeder individuellen Lebensform – und das macht ein lebendiges, überraschungsoffenes Leben aus –, Vertrautheiten zu riskieren oder besser: riskieren zu müssen, und zwar im Wissen darum, dass sie scheitern können sowie auch im Wissen darum, wer zu viele Grenzen zieht, grenzt sich ein, wer keine Grenzen zieht, ‚zerfließt‘. Die Kunst der Grenzziehung setzt ein Selbstvertrauen und ein erfahrungsgesättigtes Vertrauen in die Umgebung voraus, das sich in Widerfahrnissen des Erfolges, des Scheiterns und des erneuten Weitermachens ausbilden kann. Oben haben wir gesagt: Nur vorbehaltloses Vertrauen eröffnet Zugang zum religiösen Glauben. Vorbehaltloses Vertrauen muss nicht naiv sein, und es bedeutet auch nicht, unkritisch die Absichten anderer auszublenden. Dort, wo Vorbehalte aber angebracht sind, kann es heißen, vorbehaltlos seinen Teil dazu beizutragen, dass Vertrauen in die Welt kommt, d. h. sich in einen Prozess zu stellen, der zu Vertrauen führt. Es gilt, durch das eigene Verhalten dafür zu sorgen, dass Vertrauen entstehen kann (und ggf. restringiertere Vertrauensverhältnisse einzugehen.) Wer sich berechtigt findet, nicht auf sein Gegenüber zu vertrauen, kann sich dabei dennoch das Vertrauen bewahren: beispielsweise darauf, andere Leute in den Vertrauenskreis hineinzulassen und das Verhalten des Gegenübers kritisieren zu können. Tragisch, wenn Vertrauen so zerstört ist, dass eine Person gar nicht grundständig vertrauen kann. Was dann? Fühlt man sich existenziell bedroht, wird es nur noch wenige Menschen geben, denen man überhaupt noch vertraut. Ob man dann optimistisch mit Reemtsma behaupten kann, dass man „nicht nicht vertrauen kann“101, wird sich allenfalls im Einzelfall zeigen können, denn jeder wird immer seine Gründe finden. Lebt man in einem leidlich geordneten Umfeld, mag Reemtsmas These nachvollziehbar sein, denn man muss im Alltag auf einen regelmäßigen Gang der Dinge, auf 101
Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2013. Vgl. auch Interview in „brand eins“ Archiv 2014 „Gewalt kann eine Lebensform sein“. 147
‚normale Verhältnisse‘ vertrauen können. Man kann diesen Satz theoretisch wissen, entscheidend ist aber, dass das biographische gegründete Können etwas ist, dass man selber erbringen muss, – aber in der konkreten Situation vielleicht gar nicht kann! Vertrauen ist ein Binnenverhältnis, das Kinder durch das Bekenntnis ihrer Eltern, ihrer ersten Bezugspersonen, Ältere durch das ihrer Partner und Nahestehenden erfahren und ausbilden können. Wer allerdings um die Vieldeutigkeit der Dinge weiß und deshalb dem Zweifel schon anheimgegeben ist, der wird sich nicht durchgängig an einem derartigen vertrauensgegründeten Denken festhalten können. Das Ringen um Vertrauen kann sich für ihn als Weg eines Kampfes darstellen, der nur durchgehalten werden kann, weil er im Vertrauen auf ein Höheres einen Weg weist (oder in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, zu der man beiträgt). Vertrauen kann man auf dieser Grundlage nur denen, von denen man erfahrungsgesättigt annehmen kann, dass sie das eigene Wohlergehen wünschen, wollen und erstreben. Existenziell bleibt die Einsicht, dass Vertrauen Voraussetzung für perspektivenreiche Offenheit ist, einer Offenheit, ohne die man sich nicht auf Verhältnisse einlassen kann. Vertrauen kann jederzeit enttäuscht werden. In Konstellationen der Ferne erwarten wir das eher, geht es um nahestehende Menschen, berührt es uns stärker, weil wir unser Verhältnis nicht auf Kontrolle hin eingerichtet haben. Je ferner einem der andere ist, je anonymer und damit unpersönlicher die Art des Verhältnisses ist, in der man zu ihm steht, desto mehr besteht die Möglichkeit, dass die menschliche Qualität des Verhältnisses ‚moralferner‘ wird, weil der Nächste, der zu lieben ist, aus dem konkreten Blick gerät. Nähe und Ferne menschlicher Beziehungen bestimmen sich durch das sich wechselseitig entgegengebrachte Vertrauen. Wechselseitiges Vertrauen wächst im alltäglichen Umgang, und unbedingtes Vertrauen zu Menschen gibt es wohl nur im engsten persönlichen Bereich. Die meisten von uns werden der öffentlichen Verwaltung in einem schwierig zu bestimmenden Spielraum vertrauen, aber darauf wetten wird kaum jemand. Dagegen werden viele darauf wetten, dass sie ihrem Ehepartner und engen Freunden vertrauen können. Und – dies ist entscheidend – selbst wenn dieses Vertrauen einmal enttäuscht wurde. In der Nähe bemerkt man vielleicht nicht, wie lange man schon vertraut hat, obwohl es längst keinen Grund mehr dazu gab. Man lebt im Nebel, in dem keine Wolke zu sehen ist; dann bemerkt man eventuell, man hat längst einen Klappergaul in seiner Nähe, den man nicht einmal mehr geschenkt haben möchte. Man vertraute naiv und blind, das Vertrauen ist durch nachlässige 148
Gewöhnung enttäuscht oder auf die Zerreißprobe gestellt worden. Vertrauensbeweise wären nötig, man hätte sie oft geben können (vor allem der andere, sagt man sich), jetzt müssen sie eingefordert werden; nun mal besser hinsehen, was geschieht. Bei enttäuschtem Vertrauen distanzieren sich beide, der Getäuschte und der Täuschende, voneinander, sie nehmen Abschied von dem Bild, das bisher ihr Verhältnis bestimmte. Eine derartige Erfahrung kann sowohl die Erwartungshaltungen an sich selbst als auch an andere reduzieren. Bescheidenheit ist dann in neuer Weise erfahrungsgesättigt, aber nicht resigniert von bisherigen Erwartungshaltungen. Ein Verhältnis der Nähe vermag es, neues Vertrauen wachsen zu lassen, weil (und wenn!) der, der das Vertrauensverhältnis zerstört hat, durch sein Verhalten zeigen kann, dass er sein Verhalten bereut. Auch ein neu wachsendes wechselseitiges Vertrauen kann gelingen, wenn es dem Enttäuschten gelingt, dem anderen entgegenzukommen, weil er bereit ist zu verzeihen und einen neuen, besonnenen Anfang zu ermöglichen. Verzeihen bedeutet nicht, alles zu vergessen, gebrochenes Porzellan wird selten wieder so wie neu, aber es kann einzigartig werden, und vielleicht wird ein Verhältnis durch Brüche vertieft. Vier Arten des Verzeihens lassen sich unterscheiden.102 Erstens, die andere Person hat sich schuldig gemacht und dann glaubhaft geändert, in einem schweren Fall hat sie sich mir gegenüber zu ihrer Schuld bekannt: Ich kann dann von der Vergangenheit ablassen, nicht nachtragend sein, das Alte nicht aufwärmen und der Person eine neue Chance geben. Verzeihen heißt hier, die Person nicht von einer moralisch-rigorosen, starren Form aus zu betrachten. Zweitens, die andere Person hat Schuld auf sich geladen, diese ist sogar ein Muster, das immer wieder auftaucht, und die Person bleibt nach wie vor in ihrem Muster –, aber das Muster ist verstehbar als eine Art Tragik, man kann sozusagen mit der Entstehungsgeschichte mitfühlen: Dann kann ich über das Muster und die Unausweichlichkeit trauern und es unter Umständen akzeptieren und die Person darin begleiten. Voraussetzung: Die Person erscheint mir konstant verbunden und zugewandt, und ich kann mich von den Handlungen (oder Teilfacetten) distanzieren, der Person aber verbunden bleiben. Drittens, die Situation ist wie im zweiten Fall, aber ohne 102
Wir lassen dabei die häufigste Umgangsform – die kein Verzeihen ist – außer Acht: es auf sich beruhen zu lassen und mit weniger Vertrauen so weiterzumachen wie zuvor – das Gesicht des anderen immerhin scheint einem ja nach wie vor vertraut –, das Geschehene aber weiter in sich zu tragen, woraufhin es bei irgendeiner Gelegenheit als Vorwurf herausbricht. 149
empathisches Verständnis für die andere Person, und Auseinandersetzung mit der Person ist unmöglich: Dann kann ich die Person in Ruhe lassen, von Dauerwut oder -empörung absehen, auf Klärung verzichten, in Distanz gehen, die Person auf Abstand halten und von ihr gehen. Indem ich die Person in Ruhe an einem anderen Ort seinlasse, bin ich nicht nachtragend. Ich verzichte darauf, mich ständig weiter über die Person zu empören, dessen entsage ich, statt die Person weiter ihrer Fehler zu bezichtigen. Verzeihen findet hier um den Preis des Abstandes bei Vertrauensbruch bzw. Vertrauens-zerstörung statt. Dieser dritte Fall taucht möglicherweise bei selbstbestimmt-modernen Menschen häufig auf, da diese sich nicht verändern und andere nicht in den Blick nehmen. Der moderne Mensch vermeidet die Rede von Schuld – und kann sich daher nicht weiterentwickeln –, weil er schuldunfähig ist. (Er redet lieber von Fehlern.) Schuld kann nur tragen, wer etwas außerhalb von sich selbst kennt. Wo das Wort Schuld auftaucht, reagiert der selbstbestimmt-moderne Mensch reflexhaft: Bloß nichts zulassen, was mein Maß übersteigt. Wer dagegen merkt, dass er seine Umgebung nicht berücksichtigt hatte, kann sich plötzlich schuldig fühlen. Diese Schuld kann erdrücken und schwarz sein, ihr liegt die soziale Erkenntnis zugrunde, zu wissen, dass man anderen etwas schuldet, Achtung, Wahrnehmung, Berücksichtigung dessen, dass man ihnen dankbar sein könnte und sich diesen Danks würdig erweisen könnte.103 Viertens, die Situation ist wie im dritten Fall, ich deute sie aber wie im ersten oder zweiten: Ich gebe der Person eine neue Chance und mag sie, obwohl keinerlei Gründe dafür vorliegen. Offenbar ist das für Menschen kein sinnvolles Verzeihen (?), es könnte auch naiv sein, scheint aber Jesus’ Art des Vergebens zu sein: Von Grund auf ist jederzeit Neuheit möglich. Darin erwiese sich radikales vorauseilendes und je neu aktualisierbares Vertrauen – wer weiß, vielleicht ändert sich die Person erst und nur durch diese vierte Art des Verzeihens (oder sie lernt gerade dadurch nie, dass sie etwas Schlechtes getan hat). Natürlich ist ein Wechsel der vier Möglichkeiten denkbar, je nach neuer Situation oder Einstellung, Möglichkeiten ändern sich manchmal, beispielsweise angesichts des Sterbens oder bei schwerer Krankheit, durch die Ver-
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Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der Erzählerin in Das achte Leben von Nino Haratischwili. Sie ist erst nach einer langen Selbstbesinnung in der Lage wahrzunehmen, dass sie ihrem Partner etwas schuldet; diese Erkenntnis geht einher damit, ihn überhaupt stärker wahrzunehmen. (Frankfurt/Main 2014, S. 1265f.) 150
söhnung angebahnt werden. Der Mensch ist mehr als sein aktuelles Verhalten, seine Freiheit entsteht mit Verzeihen, und Verzeihen macht frei. Fassen wir zusammen – was folgt für unser Verständnis von Verhältnissen? Verhältnisse sind unbestimmt und wandelbar; Menschen, die sich auf sie einlassen, vertrauen einander und sich, in aller Unbestimmtheit und Einlassung. Selbstbestimmung kennt kein Vertrauen, ebenso wenig eine Kultur, in der eine feste Tradition das Leben bestimmt. Denn in beiden Fällen wird etwas Bestimmtes mit Argusaugen beargwöhnt. Der selbstbestimmt-moderne Mensch trägt statt Vertrauen überall Erwartungen aus, er fordert ein, wovon er gemessen an seinen Maßstäben glaubt, dass andere es ihm schulden. (Und daher droht ohne Vertrauen eine Desintegration des (Selbst des) modernen Menschen, die er nur durch eine Bestimmung seiner selbst, durch seine Selbstbestimmung zu kompensieren versucht.) Der politisch-freie Mensch vertraut anderen, der Gemeinschaft handelnder Akteure, er vertraut darauf, dass andere Perspektiven berücksichtigt werden können. Er misstraut Menschen, die ihre Position durchzusetzen versuchen. Politisches Zusammenleben in Freiheit braucht Vertrauen, insofern es gilt, statt Sicherheit die Unwägbarkeit der Zukunft gemeinsam zu gestalten. Vertrauen heißt auch, sich der Tradition, der Überlieferung, die von vormals lebenden Menschen stammt, anheimzugeben, sich dieser zu überliefern. Und es braucht Vertrauen – und schafft es –, zuzulassen, dass Menschen in einer Tradition leben, aber wählen, wie sie sich damit auseinandersetzen. Wir fragen uns, wovon Vertrauen zur außermenschlichen Natur gekennzeichnet ist: Ist es ästhetisches Vertrauen, das Vertrauen darin, dass mich diese Welt trägt und ernährt? Wenn wir uns vertrauensvoll in der Natur befinden, ‚schwingen wir uns in ein Vertrauen‘ ein. Ein solches Vertrauen ist leibvermittelt, so wie das auch der Fall ist, wenn wir jemanden kennenlernen, von dem wir auf Anhieb denken, ‚dies ist ein vertrauenswürdiger Mensch, jemand, dem man sofort vertrauen kann‘. Statt dass wir bestimmen könnten, woran das liegt, geben wir hier einer Stimmung Raum. Die Ästhetik ist hier der Anwalt des Unbestimmten. Und sie ist bei Naturerfahrungen auch der Anwalt des Ganzen. Denn wenn wir in einer Naturlandschaft spazieren gehen, fühlen wir uns in einem Ganzen und eingestimmt in ein Ganzes. Es ist schwer zu sagen, wie dieser Zusammenhang gedacht werden kann, denn die Natur könnte hier mehr als eine Metapher für ein Ganzes sein; vielleicht liegt ein Ganzes in ihr wie ein Geschenk verborgen. 151
7 Staunen und Achtung des Eigensinns Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles
Sich an etwas zu gewöhnen ist manchmal hilfreich und erleichternd – man wird nicht nur gewöhnlich, sondern auch wohnlich. Man richtet sich in einer Umgebung ein, in der man vertraut lebt. Sicherlich, man kann dabei in einen Trott hineingeraten, in dem man die Umgebung in ihrer Fülle nicht mehr bemerkt; der Partner beispielsweise kann zu einem unbeachteten Möbelstück werden. Da könnte es gut sein, ihn von Zeit zu Zeit wieder zu bemerken, vielleicht dann, wenn er sich unerwartet benimmt. Staunen heißt, Dinge und Personen anders und neu wahrzunehmen und scheint damit der Überraschung zu ähneln, die einen aus der abstumpfenden Gewöhnung entlässt. So hatte man etwas nicht erwartet; daher stolpert man über den anderen, der sich so ungewöhnlich, geradezu ungebührlich aufführt – und man kann sich über das eigene bisherige Denken wundern. War der immer schon so oder hatte ich das nur nicht mehr bemerkt? Was kann man durch das Staunen gewinnen? Inwiefern lässt sich Staunen als Tugend profilieren? Soll ich mich an meine Umgebung gewöhnen und sie vertraut-wahrnehmungslos akzeptieren oder soll ich sie wie ein fremder Beobachter begrifflich analysieren, um sie besser erkennen zu können? Staunen bewahrt uns vor identitätsschützenden Denkfehlern. Wir setzen uns mit Neuem auseinander, statt nach Begründungen dafür zu suchen, dass das, was wir Neues bemerken, in unsere Denkmuster hineinfällt – dass es so wie das Altbekannte ist oder mit seiner Hilfe beurteilt werden kann. Staunen bewahrt dementsprechend vor Fremdenfeindlichkeit und Ignoranz, es erhöht unsere Chance, Neues wahrzunehmen. Wer staunt, kann ein Gegenüber als eigensinnig gelten lassen, und er kann ihm mit Zuwendung begegnen, statt es mit seinen Denkrastern zu etikettieren. Er kann mit komplexen Situationen umgehen, weil er sich für Neues öffnet. Um Staunen als eine solche Tugend herauszustellen, ist es jedoch nötig, die negativen Seiten 152
des Irritiertseins aufzuzeigen. Verwunderung kann mich von meiner Umgebung distanzieren – dann bin ich dem gegenüber unverbunden, über den ich mich wundere –, und wenn mich etwas überrascht, kann ich mit Abwehr reagieren. Erlebt der eine den Eigensinn seiner Mitmenschen als störrischen Widerstand seiner Umgebung, versteht ein anderer ihn als Freiheits-Aufbruch – „zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“ –, also als Versuch, Altes grundsätzlich neu zu bedenken. Wenn ein anderer sich anders als erwartet benimmt, kann ich das als Kontrollverlust auffassen. Das Widerfahrnis ‚Kontrollverlust‘ kann zunächst negativ als Hindernis oder Widerstand erlebt werden, es kann aber auch als Einladung, Aufforderung und Motivation zur Selbstbesinnung verstanden werden. Widerstand kann neue Denkmöglichkeiten eröffnen und insofern Evolution oder Fortschritt einleiten. Was spricht dafür, dass Staunen nicht bloß Distanzierung ist, sondern mit einer im Vergleich zu früher genaueren Wahrnehmung der Umgebung verbunden ist, der eine neue Art der Bezugnahme und Verbundenheit folgen kann? Distanzieren könnte man als ein ‚Herausfallen aus einem Zusammenhang‘, nämlich aus der Gewöhnung, verstehen. Und zwar aus einem Zusammenhang, den ich zunächst gar nicht als Zusammenhang verstanden habe, eben weil ich fragloser und staunensloser Teil des Zusammenhangs war. Wer überrascht ist, hat sich in gewissem Sinne einen Schritt von seinem bisherigen Denken entfernt. Jetzt urteilt er neu oder überhaupt erst über das, was sich so anders zeigt. Urteilen bedeutet, ‚zergliedern, was sich eben als Eines zeigte oder als Vieles in einem‘. Daher schließt Denken immer Distanzierung ein, nämlich Dinge zu benennen und damit zwischen sich und Dingen zu unterscheiden. Man könnte sogar noch weitere Schlussfolgerungen ziehen: Indem der Mensch sich denkend, urteilend und Unterscheidungen treffend von der Welt distanziert, entsteht er selbst als etwas von der Welt Unterschiedenes. In und mit dieser Unterscheidung – d. h. gleichsam dem Unterscheidungsprozess unaufhebbar parallellaufend – konstituiert sich das diese Unterscheidungen treffende Subjekt. Das Staunen könnte also in einer subjektkonstituierenden Unterscheidung liegen, genauer in der Konstituierung eines ‚subjekthaften Ich‘.104 Staunen als Distanzierung wird in der Philosophie oft thematisiert. Es gilt nämlich als ihr Anfang und als der Anfang des Denkens. Es gilt als Motivation dafür, 104
Vgl. François Jullien, Über die „Zeit“. Über Elemente einer Philosophie des Lebens. Zürich 2002, S. 69. 153
wissen zu wollen. Derjenige, der nicht staunt, kann so verwoben mit seiner Umgebung sein, dass er nicht nach Gründen fragt. Wer hingegen etwas wissen will, fragt sich, warum dasjenige so ist, dass er darüber staunt. Der Mensch distanziert sich von seiner Umgebung, und darin sieht interessanterweise auch die Moderne ihr Zentrum. Staunen gilt andererseits als ein Zustand, in dem Menschen auf merkwürdige Art von dem ergriffen sind, worüber sie staunen. Dementsprechend liegt im Staunen nicht nur Distanz, sondern auch Bezugnahme – eine solche Bezugnahme, in der wir dem Objekt des Staunens positiv gesonnen gegenüberstehen; wir sind ihm warmherzig zugewandt. ‚Warum ist da etwas und nicht vielmehr nichts?‘ Diese Urfrage der Philosophie dagegen springt – mit dem ‚Warum?‘ – bereits aus einem Weltgefühl heraus, in dem man die Welt staunend bemerkt. Zunächst ist das Gefühl da, das Staunen: Da ist etwas, ich bemerke es, oder es scheint mir anders, als ich eben noch vertraut mit ihm beisammen war. Dann erst kommt die Frage: Warum ist es? Daher könnte es trügerisch sein, das Staunen nur als Distanzierung zu denken. Es könnte zwischen zwei Formen der ‚Ergriffenheit‘ unterschieden werden – während derjenige, der nur aus einem gewohnten Zusammenhang herausfällt, insofern er sich distanziert, gar nicht ergriffen ist. Ergriffenheit kann erstens bedeuten: Das ‚Ganze‘ umschließt mich, ergreift mich, ich werde und bin ergriffen und bin dann fraglos-fragloser und staunensloser Teil eines Ganzen, ohne dass ich ‚Ich‘ sagen könnte. Denn dann staunte ich schon (distanziert). Diese erste Ergriffenheit ist unterscheidungslos, will und kann gar nicht unterscheiden, uns umfängt ein trüb Verschwommenes.105 Ergriffenheit kann zweitens das Staunen darüber sein, ‚dass da etwas ist und nicht vielmehr nichts‘, nämlich die angesichts des Gewahrwerdens von etwas sich einstellen könnende ‚Ergriffenheit‘, und dieses Staunen könnte die Frage einschließen: ‚Wie kann das sein?‘ Man sieht, bei der ersten Ergriffenheit ergreife ich nichts, ich werde ergriffen und bleibe passiv – insofern ist das kein Zustand der Gewöhnung, aber einer, in dem ich verwoben mit meiner Umgebung bleibe. Im Fall der zweiten Ergriffenheit dagegen erkennt ein Mensch, dass es anderes (und andere Wesen) gibt, mit eigenem Willen und eigenen Augen. Die emotionale Färbung dieses Aufmerkens auf 105
Insofern sind wir dann – gegen Hogrebe gesagt – in einem Verhältnis, aber nicht in einer Szene. 154
Elemente eines Gewebes, in dem er eben noch steckte, ist wichtig für den Zustand, in dem er jetzt gerade ist, und für das, was auf ihn folgt. Beide Ergriffenheiten sind emotional gefärbt, anders als bloße Distanz. Mit Georg Picht lassen sich mehrere Arten des Staunens unterscheiden, die Bestürzung vor dem Unbegreiflichen, die Furcht vor dem Gewaltigen und die Bewunderung vor dem Schönen.106 Für Picht ist das Staunen immer auch das Staunen über etwas Göttliches, d. h. über uns Stehendes, das wir nicht eingemeinden können in unsere Weltsicht. Etwas Eigensinniges – Unbegreifliches, Gewaltiges, Harmonisches. Wir staunen über eine Welt. Indem wir über etwas Neues staunen bzw. darüber, dass uns etwas ‚neu‘ erscheint, staunen wir darüber, dass etwas ‚ist‘. In der antiken Philosophie galt das Staunen als der Anfang der Philosophie, weil es das Wissenwollen weckt – ‚warum ist das?‘. Darin steckt zweierlei: Die Frage zielt auf eine Begründung, und sie enthält ein Interesse am ‚Sein‘, an der Wirklichkeit. Sie enthält ein Interesse daran, die Wirklichkeit zu sehen. (‚Thaumazein‘, das griechische Wort für Staunen, ist etymologisch mit ‚theoria‘, der Theorie, Schau oder Wahrnehmung verwandt.) Könnte es sein, dass heute eine umgekehrte Reihenfolge vorliegt? Dinge sind uns in der Regel ‚begriffen‘ und ‚ergriffen‘, wir gehen an ihnen vorbei, und das Staunen ist das Stehenbleiben vor ihnen. Wir könnten dann auch zu Furcht oder Bestürzung gelangen – allerdings leben wir dafür in einer zu sicher geglaubten Welt. Damit uns etwas gewahr wird, ist zunächst der Rückweg von den Begriffen entscheidend, mit denen wir uns wohnlich in unserem Verhältnis zu den Dingen eingerichtet haben und an die wir uns gewöhnt haben. Das ist der Rückweg zum Besonderen, über das wir staunen, der Rückweg dazu, dass es ‚ist‘. In unseren Begriffen sind die Dinge ‚normal‘, ‚gewöhnlich‘, eben so, wie wir sie denken – Teil unserer Begriffs- oder Absichtswelt. Darin wären wir übrigens nicht entgegengesetzt zur platonischen Philosophie: Die Schatten, die die Höhlenbewohner in Platons Höhlengleichnis sehen, sind die begriffenen Dinge, über die sie nicht mehr staunen. Staunen, anders als Überraschung oder Verwunderung, erzeugt Freiheit, denn es ist zweck- und absichtsfrei. Wer in seinen Absichten gefangen ist, wird nichts bemerken und nicht staunen. Zusammen mit der Freiheit, die im Staunen entsteht, entsteht ein Bezug zu den Dingen. Wenn wir mit unserer Umgebung in Interaktion treten, kann uns Folgendes widerfahren. Eben noch waren wir mit 106
Georg Picht, Aristoteles „De Anima“. Stuttgart 1978, S. 159. 155
unserer Umgebung verstrickt, dann haben wir mit ihr experimentiert, sind mit unseren Initiativen an sie herangegangen, haben etwas ergriffen, waren kurz davor oder legten es gerade wieder weg. Eben noch haben wir ein Gespräch geführt, trat etwas auf uns zu, jemand wollte etwas von uns oder sah uns an. Nun halten wir inne – und bemerken – etwas. Die Verlangsamung und das Warten geben der Wahrnehmung und geben anderen Raum, Zeit und Gelegenheit; wir merken auf. Möglicherweise bemerken wir darüber hinaus auch uns, wie wir angesprochen wurden, auf etwas oder jemanden zugegangen sind, oder wir bemerken uns im Bezug auf etwas anderes, das heißt, wir bemerken (in einer gewissen Weise aus einer Distanz heraus) unsere Zugehörigkeit, unser Verhältnis zu anderem. Diese Rekonstruktion unterscheidet sich in einem zentralen Aspekt von der Distanzierung, die wir oben beschrieben haben und die wir als ‚Subjekt-Konstitution‘ in Distanz begriffen haben. Denn hier bemerken wir etwas im Bezug zu uns, und wir bemerken uns im Bezug auf die Dinge; wir fallen nicht heraus aus einem Zusammenhang, sondern wir fallen staunend in einen Bezug hinein, auch wenn wir darüber noch gerade stutzen. Staunen, so verstanden, besteht in einem Gewahrwerden der Welt, einer Verlangsamung unseres Weltverhältnisses, darin wir auf Menschen und Dinge zugehen und darin sie unmerkbar auf uns wirken. In dieser Perspektive widerfährt uns Staunen als Ergriffenheit, als ein Eintauchen in ein anderes, neues Wirklichkeitserlebnis, in dem wir Nähe und Verbundenheit wahrnehmen. Wir fallen aus einem vorher unterstellten definierten Zusammenhang heraus und stoßen auf einen neuen, ‚tieferen‘ Sinn von Wirklichkeit. Anfänglich und erstlich ist somit Staunen: ein ‚Weltgefühl‘, ein Aufmerken auf Bestimmungen, Verstrickungen, wohlige Gewohnheiten oder umhüllende Nähe, in die wir eingelassen und geworfen sind. Anfänglich und erstlich somit ist Staunen ein Gewahrwerden: dass ‚es etwas gibt‘, eine Welt, die nicht mit einer Umwelt verschmilzt, welche ich fraglos nehme und annehme! Anfänglich und erstlich somit nehme ich staunend wahr: dass es andere, besondere Wesen gibt, die nicht in meinen Begriffen von ihnen aufgehen. Wenn wir aufmerken und etwas beobachten, kann das ein Herausfallen aus unserem Lebenszusammenhang zur Folge haben; das kann zu existenziellem Schwindel führen, zu Furcht und Angst vor dem, was dann wohl (oder übel) folgen mag, wenn man etwas oder jemanden erblickt hat. Oder es kann zu Angst um die liebgewordenen endlichen Begriffe und Absichten führen, die uns leiten 156
und strukturgebend zusammenhalten, die wir verfolgen und die sich vielleicht bei solchem Betrachten als nicht mehr länger haltbar erweisen. Staunen aber ist kein solches Herausfallen aus unseren Zusammenhängen.107 Wir bleiben mit den Dingen verbunden, während wir sie betrachten. Es erfolgt eine Öffnung für dieses Sichtbare. Das lässt sich beispielsweise an solchen Situationen nachvollziehen, über deren Eintreten wir staunen. Plötzlich scheint die Sonne ungewöhnlich durch einen Wipfel, unerwartet befinden wir uns in einem herzlichen Gespräch – und dann bemerken wir, dass wir gerade etwas Ungewöhnliches erleben, wir werden unserer Umgebung bewusst. Dass wir dann über etwas staunen, ist meistens mit einer besonders intensiven Wahrnehmung der Begleitumstände verbunden. Wir staunen über unseren Mitmenschen, und wir sehen das Sonnenlicht durch seine Haare, wir riechen den Duft einer Blume, wir hören ein Vogelgezwitscher oder fühlen den Wind. Wir staunen drüber, dass wirklich 107
Die Tatsache, dass wir hier Staunen als einen Zustand auffassen, in dem wir in einem Verhältnis zu anderem stehen, das uns gegenüber-steht, markiert den Unterschied zur Verwunderung und zum Erschrecken. Sie markiert, dass der staunende Mensch Welt nur gegenüber haben kann – und zugleich in einer Welt leben kann – wenn er nicht herausfällt aus den Zusammenhängen mit der Welt. Das markiert einen wichtigen Unterschied beispielsweise zu Heideggers (Früh)Philosophie, der zwar vom In-der-Welt-sein ausging, aber, indem er die Angst an die zentrale Stelle rückte, die hier dem Staunen gilt, doch die Vorstellung eines einzelnen menschlichen Wesens rehabilitierte (das Dasein, das bei Heidegger stets im Singular anzutreffen ist). Das ist auch der Grund dafür, dass er der Angst diese Zentralstelle zuweist: „das Wovor der Angst ist die Welt als solche (…) wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst. (…) Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein (…) erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann. (…)“ Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). Tübingen 1986, S. 187, 188, Unterstreichung von den Vf. - Für Heidegger gibt es „Welt“ im eigentlichen Sinne für den Menschen nur außerhalb des sozialen In-der-Welt-Seins. „Allein in der Angst liegt die Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens, weil sie vereinzelt.“ (ebd., 191), Unterstreichung von den Vf. – Freilich, das Gewahrwerden von etwas kann sich in Situationen der Einsamkeit ereignen, aber genau dann, wenn der Mensch dabei seine Bezogenheit auf anderes und Verbundenheit mit anderem erfährt. – Da es der Angst ebenso um das In-der-Welt-Sein geht, schlussfolgert Heidegger aus diesem „um“, um das es dem angsterfüllten Dasein geht, sowohl die Sorge als Grundzug des Daseins als auch die Zeitlichkeit des Daseins, vor allem: die bevorzugte Rolle der Zukunft. (Vgl. ebd., S. 191ff.; vgl. ebd., S. 328f. Auch darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu unserem Ansatz, der die Gegenwart und die gewärtigende Wahrnehmung in den Mittelpunkt rückt. 157
wir es sind, die hier gerade an diesem Ort stehen, das heißt, vom Verhältnis her, in dem wir uns wahrnehmen und von dem her wir auf uns blicken, betrachten wir uns neu. Diese Begleitumstände können uns klarmachen, dass wir gerade in einen Bezug zur Wirklichkeit hineingefallen sind oder in ihm stehen, ein Tor, ein Horizont hat sich eröffnet, und sie machen überdies darauf aufmerksam, dass das Staunen mit einer Wahrnehmung für ein Ganzes der Wirklichkeit, in dem wir uns wahrnehmen, verbunden ist.108 Staunen ist ein Geschenk. Etwas kommt zu mir, ein Zusammenhang, Unabsehbares. Insofern bin ich, wenn ich staune, auch passiv, mir widerfährt etwas.109 Staunen kann ich nicht ‚herstellen‘, ich kann mich nur dafür bereithalten, offen sein und den Mut haben, mich von (früher definierten) Bildern zu lösen. Unklar ist, was ich daraus mache. Zunächst ist das, was mir in meiner Überraschung begegnet, dürftig, oder es ängstigt oder erschreckt mich. Ich kann die Erfahrung, die gerade anhebt, abweisen, weil sie mich in meinen Denkgewohnheiten irritiert. Ich kann bemerken, dass die Abweichung des Ereignisses von meiner Erwartung darin begründet liegt, dass Schreckliches oder auch Entsetzliches geschieht. Aber in diesen Fällen mache ich entweder keine Erfahrung oder nicht die Erfahrung, zu staunen. Erst wenn ich mich auf die Spur begebe, das Begegnende wohlwollend zu betrachten, mich von seiner Unbestimmtheit umhüllen zu lassen, staune ich. Staunen enthält dementsprechend keine abgründige Negativität, sondern eine abgrundlose Positivität. Denn ich richte mich wohlwollend und bezogen auf das aus, worüber ich staune, aber ich kann es nicht bestimmen. Insofern ich mich in der Erfahrung, zu staunen, verändere und neu in einen Bezug zur Wirklichkeit gehe, komme ich auf eine zweite Art zur Welt. Natürlich steckt in diesen Gedanken eine Annahme über das, was wir ‚Unbestimmtes‘ nennen, vielleicht ist diese Annahme eine religiöse. Denn ‚Unbestimmtes‘ nehmen wir hier als etwas, in das wir uns vertrauensvoll hineinbegeben (dürfen), etwas (nicht-Gegenständliches), das 108
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„daß sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Staunen auflösen muß“. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant, Werke in 12 Bänden, Bd. IV. Darmstadt 1956, B650/ A622. Vgl. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 73. Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Zeit und Wissen. München 1992, S. 592. „Ein solches Geschenk ist das Staunen – das Geschenk des Verlustes der Selbstverständlichkeit.“ 158
wir in einer Stimmung wahrnehmen und empfangen, von dem wir uns stimmen lassen, etwa so, wie der Beginn der Nacht im Abendlied von Matthias Claudius eine Stimmung entfaltet, die von unseren stolzen Bestimmungen zu einer Wahrnehmung des Mondes und zu einer Stimmung „so traulich und so hold“ übergeht. Altmodisch und schlicht formuliert: Das Sein und das Gute kommen hier zusammen, so nehmen wir an. So gedacht, hängen die Tugenden des Vertrauens und des Staunens auf mehrfache Art und Weise zusammen. Zunächst scheinen sie Kontrapole zu bilden. Während Vertrauen am ehesten die Tugend ist, die auf einer nahen Zugehörigkeit basiert (die als unbegriffliche Einheit erlebt werden kann), ist Staunen neben Mehrperspektivität und Takt die Tugend, die eine Distanz und Entzweiung (oder Entfremdung) zur Voraussetzung hat. Staunen ist insofern die Tugend der Moderne und der Differenz. Vertrauen aber ermöglicht auch Staunen. Denn wer staunt, muss, selbst wenn ihm etwas zunächst ungeheuerlich erscheint, die Kraft aufbringen, darauf zu vertrauen, dass sich in seiner Erfahrung etwas zeigt, das einen erweiterten Bezug zur Wirklichkeit eröffnet. Außerdem begünstigt Vertrauen Staunen, insofern jemand, der einem anderen vertraut, ihn frei lässt. Er übergibt ihn gewissermaßen der Welt. Anstatt ihn zu kontrollieren und das, was er tut, an genau seinen eigenen Maßstäben zu messen, stattet er ihn gewissermaßen mit einem eigenen Maßband aus oder hofft, er möge verhältnismäßig handeln. Wer vertraut, ist bereit, sich vom Eigensinn des anderen anstecken und inspirieren zu lassen. Damit stiftet Vertrauen (wie Treue) die Bereitschaft zu Neuem und dazu, dass Abweichendes begegnen kann, in der Hoffnung, dies möge staunend geschehen. Das Gewahrwerden von etwas, jemandem oder sich selbst – ‚das ist‘ –, ist flüchtig: Wer über sein Staunen nachdenkt, kann schnell verlieren, was er gerade gewonnen hatte. Man kann Gründe suchen – ‚warum ist das so?‘ –, Ursprünge, Urteile. Philosophie biegt Staunen um, denn indem sie befragt, stellt sie die vertraute, alltägliche Sinnhaftigkeit distanzierend in Frage, kann aber die so erzeugte Distanz nie mehr überwinden. ‚Warum ist da etwas und nicht vielmehr nichts?‘ Diese Frage der Philosophie sucht Unvergleichliches, Besonderes, Einziges auf Vergleichbares, Wesensgleiches, Vieles oder Einzigartiges zurückzuführen. Es kommt nicht darauf an, wo Anfänge und Begründungen gefunden werden – in Prinzipien, Ideen, Sein, Kategorien, dem Dasein – oder darauf an, wie die Antworten ausfallen: Alles, was ‚der Fall ist‘, ist herausgefallen aus der Erfahrung des Staunens darüber, dass wir die Welt wahrnehmen. Und in diesem Herausfallen 159
verliert sich der Sinn für das Verhältnis zur Mitwelt ebenso, wie dieses Verhältnis möglicherweise pointiert begriffen werden kann. Sinn ist nicht Bedeutung, im Gegenteil, fest-gestellte, eingefrorene Bedeutung – im Singular – zerstört Sinn. Sie zerstört das Gefühl dafür, vor etwas Realem zu stehen. Stattdessen steht man vor einer Konstruktion. Sinn ist vielmehr Modulation und Variation in einer Gemeinschaft. Er entsteht durch das gemeinsame Vibrieren um eine Bedeutung, die von verschiedenen Menschen aufgegriffen wird und die sich in neuen Situationen verändert und erweitert. Nur in Kategorien etwas sehen heißt, es nicht zu sehen. Es wird nicht wirklich. (Ohne sie aber auch nicht, weil dann alles formlos im Nebel versinkt.) Staunen ist ein Spiel mit Deutungen, die Wahrnehmung wird offen, Wahrnehmung ist dabei immer auch ästhetisch-unbestimmt. (Spiel, Humor, Lebendigkeit, Offenheit für Zufall und Mut hängen und wirken zusammen.) Staunen ist auch ein Spiel mit der Zeit. Die Wahrnehmung von Verdanktsein liegt im Staunen enthalten, die Wahrnehmung, in etwas zu sein, das unausschöpflich ist. Vertrauen gründet auf einer Form impliziten oder gnomischen Wissens110. Vertrauen stände so gesehen in einem Verhältnis zum Glauben, den man ebenfalls als ein Fürwahrhalten eines Unbestimmten verstehen kann. Darauf könnte sich warmherziges Staunen gründen. Man mag dabei an den stundenlang starrstehenden Sokrates denken, der von einer Sekunde auf die andere vor etwas stehenblieb, was ihn vielleicht faszinierte, oder der plötzlich über etwas neu nachdachte und deshalb nicht von A nach B weiterging. Das Leben in seiner Praxis von sprachlichen Erkenntnisansprüchen befreien: Das war, in seiner frühen Philosophie, Wittgensteins Ziel. Es war ein ethisches Ziel. Weil er aber die Welt so bestimmte, wie er es tat, als einen Haufen von Tatsachen, eliminierte er gleichzeitig jede Möglichkeit einer Ethik – die nämlich
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Hogrebe macht darauf aufmerksam, dass es im Griechischen eine Erkenntnisart gab, die heute nicht mehr aufgegriffen wird: gnomische Erkenntnis: Das meint eine situative, praktische Erkenntnis, die aus einer Art Sinn, Gesinnung, Denkart, einem Gefühl, einer Neigung oder ‚aus wahrer Herzensmeinung‘ erwächst und die Mut, Entschlossenheit, sein Augenmerk, sein Vertrauen auf etwas zu richten, gewönne, daraus, dass uns etwas ‚ans Herz gewachsen sei‘, sie beinhaltet Einsicht und Klugheit. Aristoteles berücksichtigt diese Erkenntnisart in der Nikomachischen Ethik. Über sein Verhältnis zur Welt wissend könnte es daher ethische Intuitionen geben. Vgl. Hogrebe, Riskante Lebensnähe. a.a.O., S. 8. 160
nicht auf eine Welt bezogen sein konnte; nichts Moralisches kann aus einer Welt bloßer Tatsachen gefolgert werden. Und er eliminierte die Dinge und Zusammenhänge der Welt – Dinge gibt es für den frühen Wittgenstein nicht. Staunen kann man aber nur über sich selbst, andere Personen oder Dinge, über etwas und über ein Darin-sein. Indem Wittgenstein die Welt beschrieb als alles das, was „der Fall ist“, als Tatsachen, eliminierte er das Gefühl für die Welt – in dem sie doch gerade gewahr wird – aus der Welt. Dieses Gefühl ist für den frühen Wittgenstein mystisch. Das stimmt wohl, denn es ist unbegreiflich-unbegrifflich – aber unbegreiflich ist vielmehr, dass das für Wittgenstein kein Warnsignal, sondern ein Ausschlusskriterium ist. Seine Frühphilosophie besteht gerade darin, alles Besondere aus dem Reich des Tatsächlichen, genauer: dessen, was ist, auszuschließen. Wer staunt, lässt die Welt so, wie sie ist, er verharrt (dem Wortsinn nach bedeutet Staunen, zu erstarren). Wer Gründe für die Welt sucht – warum ist sie, warum ist sie so? – sucht danach, sie auf etwas anderes zurückzuführen. Jede Suche nach einem Anfang zerstört die staunende Wahrnehmung eines Besonderen, zu dem wir in einem unbestimmten emotional verbundenen Bezug stehen. Sucht man das, worauf man zurückführen möchte, was es gibt, den Anfang, innerhalb der Welt als eines ihrer Merkmale oder ihrer Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, oder sucht man es in einer externen Instanz – in Ideen, Strukturen, Gott oder in Tatsachen –, die die Welt begründet und ihr den Leitfaden, ihr Gesetz vorgibt, dann gilt einem die Welt als bestimmt. Sucht man den Anfang im Menschen, so degradiert man die Welt als eine menschengemachte und fingiert dabei ein menschliches Wesen, das man doch ebensowenig kennt. Bei all diesen Versuchen, den Suchbewegungen nach einem Anfang, sucht man Herrschaft über das Staunen, über die Welt und über sich selbst. Einen Ausweg könnte man mit dem folgenden Anfang suchen: den Anfang in das Verhältnis selbst zu legen, in dem man gerade eben stand, bevor oder als man staunte. Dann würde alles Erkennen und alles Miteinander nicht von der Welt, wie sie sei, ausgehen, und auch nicht vom Menschen, sondern von eben diesem Zwischenraum, in dem sich beide befinden. Das ist möglicherweise die Suchrichtung, die durch die Betrachtung der Sprache und der Symbole in der Philosophie des 20. Jahrhunderts beschritten wurde. Es mag sein, dass sie auch in der Überschreitung der Monoperspektivität und Subjektivität zu Tage tritt, ‚der einen menschlichen Perspektive‘, d. h. in der Mehr161
perspektivität, wie sie sich in der Bildenden Kunst und Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt und in der Dekonstruktion und Differenzbetonung postmodernen Denkens. Leider aber ist auch dieses Verhältnis, das Zusammenspiel von Perspektiven, das Zusammenleben, unbestimmt. Es bestimmt uns, prägt uns und die Art, wie wir die Wirklichkeit prägen. Es selbst aber ist nicht fixierbar. Darin liegt das Primat der Praxis und der praktischen Philosophie vor aller theoretischen begründet. Gestaltungen menschlicher Verhältnisse und Erkenntnis heben vom unbestimmten Verhältnis an, in dem wir zu anderem stehen und in dem wir eine lange Zeit der Gewöhnung an solche Verhältnisse erleben, bevor wir über sie nachdenken und sie bemerken. Mit dem anderen, in dem wir in einem Verhältnis stehen, damit sind auch wir selbst gemeint, die Verhältnisse, in denen wir leben, finden ihren Widerhall in uns, und unser Selbstverhältnis ist immer eine Bezogenheit auf eine Welt, in der wir leben, es gibt kein ‚Innen‘ unseres Selbstbewusstseins, dem gegenüber es eine ‚Außenwelt‘ gibt.111 Wir ungefähre Wesen: Wir werden im Nebel gezeugt und bleiben in ihm, und das Licht, das wir sehen, bietet uns keinen Anhalt für die Prägung dessen, was es beleuchtet. Wir können lediglich über uns selbst staunen und darin unsere Verbundenheit mit unserer eigensinnigen Welt bemerken. Was folgt daraus? Wenn wir staunen, setzen wir uns nicht der Welt als ein von ihr getrennter Beobachter gegenüber. Wir nehmen vielmehr wahr, dass wir in einem Bezug stehen, und wir nehmen anderes emotional verbunden wahr.112 Daraus folgt nicht, dass Staunen dauerhaft zu empfehlen ist, und daraus folgt ebenfalls nicht, dass regelmäßiges Staunen davor behütet, in dauerhafter Distanz zu Dingen zu leben. Es liegt nämlich im Wesen modernen Denkens, für ein ‚romantisierendes Staunen‘ einzutreten. Staunen und die Suche nach dem Einmaligen, dem Besonderen, könnten heute die Gegenbewegung gegen die Starrheit einer erschlossenen Lebenswelt darstellen und sie gerade nicht überwinden oder erweitern. Heute wird gegen moderne feste Schemata und Zwecke Einmaligkeit, Besonderes gesetzt, daher sind Staunen und die Suche nach Einmaligkeit Teil der 111
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Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (Bamberg 1807), Werke in 20 Bänden, Bd. 3. (Abschnitt B. Selbstbewusstsein). Frankfurt/Main 1986, S. 137f.: „Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst“. Sich das Staunen zu bewahren scheint eine andere Entwicklungslinie zu sein als die, die Freud vorschwebte und die von Narzissmus zu Objektliebe ging, und auch als eine, die von Trennung in Subjekt und Objekt zu Narzissmus und Selbstbestimmung führt. 162
Moderne – suche den besonderen Moment, gestalte dein Leben einzigartig usw. In solchen Gestaltungswünschen zeigt sich gerade nicht die Besinnung auf das eigene Nichtwissen und damit die Bescheidenheit desjenigen, der staunen kann, wenn ihm Neues begegnet. Ebenfalls folgt nicht, dass Staunen einfach ist, das ist es nur als Jargon und Redensart. Kategorien, Modelle und Schemata sind beharrlich, wie Denkgewohnheiten, es ist bequem, bei ihnen zu bleiben. Echtes Staunen dagegen ist anstrengend, es ist nichts, was sich als Haltung nur auf einen Berg bezöge, den man Sonntags betrachtete, um dann Montags wieder ungerührt in seinen Begriffen und Absichten weiterzuleben. Der besondere Sonntagsberg wäre bei alldem Teil der begriffenen und verfügbaren Umwelt. Dass Staunen als anstrengend angesehen werden kann – sich-seines-Staunens-bewusst-werden ist eine sich selbst deutlich werdende, überwindende, im Bewusstwerden einer Distanzierung nicht-distanzierende (Bezug nehmende) Verwandlung –, eigentlich aber eine ureinfache, wenn gleich nicht in Begriffen darstellbare Erfahrung ist, verbindet es mit religiösen Einstellungen und Wahrnehmungen. Was wir staunend sehen, gefällt uns, es entzückt uns, es steht in einem besonderen Licht dar. Es ist gleichzeitig vernünftig, es so zu sehen, weil es eine Wahrnehmung ist, die uns von unseren Wahrnehmungsgewohnheiten löst und deshalb auf ein Etwas aufmerksam werden lässt. Staunen entstammt einer und verweist auf eine dem Geheimnis verbundene Vernunft – dass wir uns im Gespräch, in Freiheit (weder in Fremdbestimmung, Naturbestimmung noch Selbstbestimmung) verständigen können. Denn wäre die Welt ein Rätsel, dann würde das Besondere, das im Staunen begegnet, in der Analyse wieder verschwinden. Diese dem Geheimnis verbundene (also wohl religiös entsprungene) Vernunft wäre dann nicht nur staunend, sondern auch warmherzig, weil sie nicht dem Herrschaftsparadigma folgt. Ihr widerstrebt es, Dinge zu beherrschen, vielmehr lässt sie sich auf sie und ihren Eigensinn ein, weil sie sich als Teil eines Ganzen versteht. Fassen wir wieder zusammen: Welche Konsequenz ergibt sich für das Verständnis von Verhältnissen? Sie bestehen in Zuwendung und in Zulassung von Eigensinn. Was folgt bezüglich unserer Auseinandersetzung mit Moderne und Tradition? Selbstbestimmte Menschen staunen nicht, daher suchen sie dauernd neue Erlebnisse. Staunen vollzieht sich vor einem Hintergrund, der dem Staunenden selbst 163
zunächst verschlossen ist. Im distanzierend bezugnehmenden Staunen eröffnet sich einem Menschen die Möglichkeit, Teile eigener Hintergrundannahmen (seiner ‚Lebenswelt‘) zum Teil wahrzunehmen. Selbstbestimmung hingegen sieht Welt durch selbst hergestellte ‚grüne‘ Brillen. ‚Eine feste Burg ist mein Selbstbewusstsein.‘ Politisch-freie moderne Menschen staunen regelmäßig, nämlich immer im Austausch mit anderen. Freie Menschen staunen über vieles, unter anderem über sich selbst, andere, die Natur und Gott. Sie lassen das zu. In festen Traditionen wird nicht gestaunt. In der Auseinandersetzung mit einem Arsenal an Traditionen wird gestaunt: über vielfältige Möglichkeiten, die Welt zu betrachten. Der selbstbestimmte Mensch ist nicht warmherzig. Ein freier Mensch ist warmherzig, insofern er anderen vertrauensvoll verbunden ist und sie in ihrer Besonderheit zulässt und wahrzunehmen versucht. Warmherzigkeit ist kein Qualitätsmerkmal einer an Traditionen ausgerichteten Gesellschaft (sie könnte in ihr vorkommen, muss es aber nicht). Staunen, generell die zarte Beachtung der Umgebung wieder zu erlernen, das kann schwer sein, besonders dann, wenn man lange so gelebt hat, dass man feste Vorstellungen durchzusetzen versuchte. Das ist vergleichbar mit der Situation, die Feldenkrais beschrieb: dass jemand jahrelang nur auf gröbere Unterschiede achten musste; es wird ihm dann schwerfallen, feinere wahrzunehmen oder zu gestalten. Liao Yiwu beschreibt eine Entfernung, die (staunende?) Rückkehr erschwert, am 16. März 1991 im Gedicht ‚Meiner Mutter‘: „Ich bin alt sehe älter aus als du komme ich eines Tages heim wird der Glatzkopf dich noch ‚Mutter‘ nennen, vor allen? Spüre ich das noch – Liebe? Ertrage den viel zu sanften Windhauch?“
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8 Solidarität und Zugehörigkeit Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt
Gibt es eine Ethik der Nähe und eine der Ferne: hier Vertrauen, da einzäumende Regeln? Ethik der Nähe bezieht sich auf familiäre Verhältnisse und auf die Verhältnisse innerhalb überschaubarer, benachbart-heimatlicher Beziehungen. Sie ist bei allen Unterschieden durch individuell personalisierte Gleichberechtigung, Wohlwollen und jederzeitige Unterstützung geprägt. Ethik der Ferne bezieht sich auf Menschen, die einem im allgemeinen unbekannt sind und zu denen man höchstens indirekt rechtlich oder wirtschaftlich in Beziehung steht, die man aber nicht als ‚gleich‘ im Sinne der Nahestehenden ansieht und denen man sich im ersten Impuls nicht solidarisch verbunden fühlt. Wenn es eine (rabiatere) Ethik der Ferne gibt: Worin soll die Gunst bestehen, in Verhältnisse mit fernen Menschen einzutreten? Vielleicht nur darin, Waren tauschen zu können. Wenn man ferneren Menschen realistischerweise nicht so begegnen kann wie Nahestehenden, dann ist es unter Umständen unvermeidlich, dass das ungünstige Folgen hat: der Stärkere, Reichere oder Mächtigere kann sich in Verhandlungen besser durchsetzen. Wenn Menschen nichts Moralisches mit Menschen verbindet, die ihnen fernstehen, wird eine auf Vorteilssuche gegründete Nützlichkeitsbeziehung gegründet, die Ungleichheiten zwischen Menschen verstärken sich, und die Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern bleiben groß. Vielleicht sollte man daher höchstens einen Umgang zwischen Fremden fordern, der auf ein Minimum fairer Regelungen hin formalisiert ist, sich damit aber begnügen. Oder kann (und soll) es eine weltumspannende Solidarität, eine Art weltbürgerlicher Brüderlichkeit geben – ist das realistisch? Oder ist es zwar erwünscht, wo es um ökologische Probleme oder Gerechtigkeit zwischen Nationen geht, aber eine Illusion? Wie kann eine solidarische Praxis über Nations- und Gruppengrenzen hinaus entstehen? Kann es ein menschliches Selbstverständnis von Menschen geben, das Solidarität mit Fremden begünstigt? Was ist besser: sich partikularistisch nur zu 165
seiner Gruppe zu bekennen und anderes zu ignorieren oder ein liberaler Weltbürger zu sein, der entweder eine gehaltlose Vorstellung von Toleranz lebt, Fremde in einer Art ökonomischem Universalismus übervorteilt oder glaubt, sein universalistisches Maß gelte für alle? Philipp Hübl argumentiert biologisch und psychologisch, alle Menschen seien tendentiell fremdenfeindlich. Denn unsere Emotionen rührten noch aus der Zeit unseres Stammeslebens her. Die anderen, die könnten uns unser Futter wegnehmen, Parasiten mitbringen oder uns gar töten.113 Weil sie anders sind, sehen wir sie zunächst nicht als gleich an, ein Reflex, der in Coronazeiten hochgespült wird und immer dann, wenn etwas bedrohlich wird: Das Virus stamme aus China oder aus Europa, das konnte schnell geäußert werden. Als eine Variante des Milgram-Experiments hat Albert Bandura ein Versuchsdesign entworfen, in dem Menschen anderen Personen Stromstöße zwecks besseren Lernens verabreichen sollten. Äußerte sich der Versuchsleiter abfällig über die Ethnie oder das Aussehen, waren die Testpersonen bereit, deutlich höhere Stromstöße zu geben.114 Vielleicht sind aber auch nur kollektivistische Gemeinschaften und Gesellschaften tendenziell fremdenfeindlich. Denn sie verstehen sich als Einheit gegen „die anderen“. Fremdenfeindlichkeit basiert eher auf Ekel als auf Angst, daher herrscht sie eher in geschlossenen Gesellschaften vor, in denen Neugier weniger stark ausgeprägt ist.115 Und individualistische Gesellschaften sind vielleicht gleichgültig gegen alles, was sie nicht selbst betrifft. Selbstbestimmten Menschen sind Fremde, scheint es, gleichgültig, sie benutzen sie als Mittel, weil sie ihre Absichten verfolgen. Dann stünden Hass oder Gleichgültigkeit zur Wahl und beide gegen Solidarität mit Fremden. Individualistische Gesellschaften wären innerhalb dieses Möglichkeitsraums besser, denn sie würden wenigstens nicht offensive Gewalt befördern, sondern nur strukturelle. Yuval Noah Harari rekonstruiert, dass ein Drittel der Männer in Gruppenkollektiven der Yanomami, dem Stamm im Amazonasgebiet,
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Philipp Hübl, Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken. München 2019, S. 183f. Vgl. ebd., S. 183ff., 211; vgl. Albert Bandura u. a. (1975), Disinhibition of Aggression Through Diffusion of Responsibility and Dehumanization of Victims. In: Journal of Research in Personality 9(4), S. 253–269. Philipp Hübl, ebd., S. 190ff., 211. 166
für den sich Rüdiger Nehberg unermüdlich einsetzte, früher oder später an gewalttätigen Auseinandersetzungen stirbt. In bäuerlichen Gemeinschaften starben 15 Prozent aller Menschen an zwischenmenschlichen Konflikten, 400-mal häufiger als heute in Europa. Heute stirbt man weit seltener an Hunger als früher, selbst in Entwicklungsländern.116 Komplexität und Ambiguität auszuhalten und damit gut zu leben, gelingt in offenen Gesellschaften außerdem weit besser.117 Wie bei Treue steht man bei Solidarität vor einem Progressivitäts-Konservatismus-Dilemma: Treue kann gegen Selbstbestimmung und für Orientierung an Autorität und Kadaverloyalität stehen. Dann ist sie gewissermaßen innerlich hohl und steht gegen Fürsorge und Freiheit. Solidarität kann nur für die eigene Sippe gelten oder sich als Treue zu Blut und Boden auswachsen, sie kann mit Inkonditionalität, also Kadavergehorsam und Ekel vor allem Neuem einhergehen. So stellt sich das Problem, wie sie sich mit Freiheit vereinbaren und auf Fremde ausdehnen lässt. Wenn doch Individualismus sich darin zeigen kann, jegliche Solidarität aufzugeben und als einzelner selbstbestimmt durch das Leben zu gehen, unverbunden zu anderen. Ignazio Silone beginnt seinen Text ‚Notausgang‘ mit den Worten „Ich bin in einer ländlichen Gemeinde in den Abruzzen geboren und aufgewachsen. Sobald ich anfing, mir Gedanken zu machen, beeindruckte mich am meisten der scharfe unbegreifliche Gegensatz zwischen dem Leben des einzelnen und der Familie, das in den meisten Fällen sittenstreng und ehrenhaft war, und den sozialen Beziehungen, die oft rücksichtslos, haßerfüllt und unehrlich waren. Von dem Elend und der Verzweiflung in den süditalienischen Provinzen kennt man (ich selbst habe dergleichen erzählt) viele trostlose Geschichten. Aber eben denke ich nicht an aufsehenerregende Ereignisse, sondern an die kleinen Begebenheiten des Alltags, in denen die seltsame doppelgleisige Lebensweise der Menschen, unter denen ich aufwuchs, deutlich zu Tage trat.“118
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Vgl. Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit (2011), München 2015, S. 449. Vgl. Philipp Hübl, ebd., S. 322. Ignazio Silone, Uscita di Sicurezza. Notausgang. Zweisprachige Ausgabe München 1973. S. 2. 167
Tugenden der Nähe haben den Anderen konkret vor Augen. Zugehörigkeit spannt ein wechselseitiges Verhältnis auf, das meinen Stand in meinem Leben definiert – so wie ein Liebender, der sich zu seiner Liebe bekennt, seinen Platz in dieser Liebe einnimmt und sich von diesem Platz aus wie von einer Heimat her begreift. Wenn er diesen Platz eingenommen hat, wird er sich nicht fragen, ob es einen ‚besseren‘ Platz gibt – das wäre ortloses Beobachterdenken –, er wird Teilnehmer des Lebens an genau dem eingenommenen Platz, der ihn ausmacht. Und er wird seine Verantwortung auf die ihm nahestehenden Menschen ausrichten, die ihm anvertraut sind. Je mehr sich die Verhältnisse in solche der Ferne verschieben, desto mehr schwindet der Glaube an die Tragfähigkeit eines persönlichen erfahrungsgesättigten Vertrauens: Auf Grund der zunehmenden Anonymität in den Verhältnissen steigt die Belastungsspannung, und bedeutsamer wird es, Forderungen nach Transparenz und formaler Überprüfbarkeit einzuhalten. Mit zunehmender ‚Entfernung‘ vom anderen wird sich der Nachdruck ändern, mit dem man seine Interessen definiert und filtert; ‚Entfernung‘ wirkt entfremdend und entzweiend. Wer sein Interesse bestimmt hat, ist nicht mehr ‚ortlos‘, denn mit der Interessensbestimmung hat er seinen Ort bestimmt. In der Ferne fehlt nun leider das durch Erfahrung und Gewohnheit gewachsene Band eines einander beistehenden Vertrauens. Es liegt daher nahe, im Umgang mit Fremden andere Arten von Bezügen zu stiften: eine kodifizierte Moral in Form von Gesetzen oder Verträgen, die dem Misstrauen Rechnung trägt, das man Unbekannten entgegenbringt. Gesetze geben Verlässlichkeit und Fairness. Sehen wir uns verschiedene Möglichkeiten der Beziehungen zu fernen Menschen an. In Lateinamerika beispielsweise spielen Regeln für den Umgang in ferneren Konstellationen keine sehr große Rolle; diese werden stets auf den Umgang mit nahestehenden Personen zurückgeführt: Man muss jemanden kennen, schon bekommt man, was man benötigt, auch in Ämtern. Alles wird auf eine Ebene von zwei Personen zurückgeführt. Man gibt einem Freund Nummern und Kontakte, und dessen Türen werden geöffnet, der Freund meines Freunds ist dein Freund. Das hat gravierende Nachteile, es gibt beispielsweise in Bolivien keine ausreichende Krankenversicherung, gesellschaftliche Gruppen bekämpfen einander, es gibt viele Arme, das öffentliche Leben wirkt chaotisch, es gibt kaum einen Ausgleich zwischen sozialen Gruppen.119 Im Straßenverkehr winkt man zusätzlich 119
Vgl. https://www.dw.com/de/kommentar-lateinamerika-ein-kontinent-ohne-gesellschaftliche-solidarit%C3%A4t/a-51038046, letzter Aufruf 30.05.2020. 168
zum Blinken aus dem Autofenster, man hupt, man fährt auf Sicht, man signalisiert dem, der in der Nähe ist, was man will und wahrnimmt. Zu Hauptverkehrszeiten steht der Verkehr still, weil er nicht geregelt wird, aber die Menschen wirken herzlich und aufgeschlossen, vielleicht entspannter als in Europa. Es wirkt in einigen Bereichen, als wäre die Moderne hier nicht angekommen. Möglicherweise ist die Rückführung von ‚Fernbeziehungen‘ auf solche zu Nahestehenden eine gute Idee. Denn Gemeinschaften können einen tragfähigeren Kitt bilden als lose Beziehungen in der Ferne. Emmanuel Todds Auffassung zufolge bewegen sich Menschen immer in Freund-Feind-Konstellationen, sie definieren sich immer über eine Gruppe, die sich in Abgrenzung gegen eine andere versteht. Deswegen ist für Todd sowohl die Idee eines isolierten Individuums als auch die Idee eines Weltbürgers eine Illusion.120 Wie können Beziehungen zu ferneren Menschen weiter aussehen? In dem Moment, in dem Menschen eine strukturierte alltägliche Situation verlassen, können sie sich schnell in einer zugewandten zwischenmenschlichen Situation wiederfinden, sie können sich aber auch in eine Konkurrenzsituation versetzt sehen – beides kann schnell ineinander übergehen –; dies verändert die Parameter der Beurteilung des anderen entscheidend. Drängelt sich der Fremde im Zug vor, sehe ich ihn anders an, als wenn mein Freund das gegenüber jemandem tut. Verlangt ein südamerikanischer Polizist ohne plausiblen Grund, mit lauter Stimme und ohne Beleg von mir als Autofahrer eine Strafsumme und steckt sie in sein Hemd, sehe ich ihn als autoritär und korrupt an. Aus dem mit mir Zusammenlebenden, mit dem ich nur locker und zufällig verbunden bin, wird: ein Konkurrent, ein mich Übervorteilender, einer, der sich an keine Absprachen hält oder seine Macht ausnutzt. Sind die Spielregeln nur vage bestimmt, öffnet sich dem Misanthropen ein weites Feld der Menschenbeobachtung. Besonders in einer Marktwirtschaft sind den Teilnehmern weite Handlungsspielräume gegeben, um ihre Interessen umzusetzen. Nur Bekanntschaft, scheint es, könnte da helfen. Am Arbeitsplatz, in Krankheitssituationen oder bei nachteiligen Folgen für nahe Angehörige, beispielsweise die eigenen Kinder, schlägt die Wahrnehmung einer Situation dann ins Grundsätzliche um: „zuerst wir!“ In den öffentlichen Verkehrsmitteln ist Verhaltensklugheit gefordert, in der Konkurrenzsituation geht es 120
Vgl. Emmanuel Todd, Traurige Moderne. Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanicus (2017). München 2018, S. 120. 169
vielfach ums Existenzielle. Das Verhältnis zum anderen ist bei der Verhaltensklugheit durch eine Urteilskraft des alltäglichen Umgangs bestimmt; bei existenziellen Fragen wird das Verhältnis durch die Alternative „Ich oder sie/er“ bzw. „mein Kind oder das andere“ gestaltet. Mag eine Konkurrenzsituation zur Zeit der Buddenbrooks noch moralbesetzt gewesen sein, da sich alle an die Maxime halten sollten „Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können“121, so gilt dies heute allenfalls nur noch sehr eingeschränkt. Liegt das daran, dass es keine tragende Moral mehr für Nah- und Fernbeziehungen gibt? Gab es sie je? Ist nicht geregelte Konkurrenz besser als Mord und Totschlag – den es ja auch oft gab und gibt? In Konkurrenzsituationen kann man zu einer Übereinkunft kommen oder nicht. Wenn kein Kompromiss gelingt, bleiben nur Macht, Gewalt, Aufgeben oder Unterwerfung. Konkurrenz, bei der sich die Konkurrenten vielfach anonym sind, ist moralfrei, aber verhandelbar. Es ist nicht gleichgültig, ob man sich kennt oder nicht. In der persönlichen Begegnung mit dem konkreten Anderen von Angesicht zu Angesicht sind viele Menschen auch in konkurrierenden Situationen geneigt, großzügig oder nachsichtig mit dem Verhalten anderer zu sein. Je größer die Distanz wird, je ferner und damit unbekannter mir der wirkliche oder vermeintliche Konkurrent ist, desto weniger werde ich geneigt sein, großzügig zu sein. In welchem Verhältnis steht man zu jemandem, der einem gänzlich anonym ist und von dem man kein anschauliches, erlebnisgestütztes Bild hat, sodass man sich von ihm selber ein Bild machen muss? Ein Bild, in dem ich mir die Erscheinung des Anderen konstruierend deute (und das klischeehaft-abstrakt bleiben kann) – die rechte Gunst, die mir in der Fremde erwiesen wird, besteht darin, von Korruption, Feindschaft und Egoismus umgeben zu sein. Das können Unterstellungen sein; man ‚muss‘ etwas unterstellen, weil man den Fremden nicht kennt und nicht kennen kann. Der unbestimmte Andere in der Ferne ist dann schnell das mir fremd Bedrohliche – so wie der fremdenfeindliche Deutsche denkt, der über den Türken in seiner Nachbarschaft sagt, ja, der sei ehrlich und nett, aber alle Türken seien geldgierig. Wird das Zusammenleben primär unter dem Aspekt der Konkurrenz und der Freund-Feind-Perspektive gesehen, stellt sich ein Einwand allerdings sofort ein: 121
Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. In: Ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt/Main 1974. Bd. I, S. 176. 170
Das Bild der Konkurrenz ist friedenssüchtig ins Negative überzeichnet! In der Konkurrenzsituation geht es nicht immer und nur ums Existenzielle! Leben bedeutet Harmonie und Disharmonie. Lebendige Verhältnisse (im Gegensatz zu erstarrten, vorgegebenen) schließen eine Bereitschaft zum Risiko ein, eine Lust an der Selbsterprobung und dem damit einhergehenden Staunen über noch unentdeckte eigene Möglichkeiten in einer noch unentdeckten Welt. Konkurrenz kann daher wie für Einzelne so auch für die Gesellschaft fördernde Wirkung haben. Der liberale Weltbürger denkt Fernverhältnisse ebenfalls positiver (oder hält normativ für möglich, dass sie so gestaltet werden). Er misst dem Unterschied zwischen einer Ethik der Nähe und einer der Ferne wenig Bedeutung bei. Er glaubt, nicht an eine Heimat gebunden zu sein. Heimat ist für ihn Selbstbindung an (zufällig entstandenes) Konkretes und damit Begrenztes. So verstandene Heimat kann anderes ausschließen, daher will sich der Weltbürger von willkürlich Entstandenem befreien. Er glaubt daran, dass sich auch Fremde brüderlich verstehen können und sollen und dass in der Begegnung mit Fremden eine Welt erwächst, die von Zugewandtheit, Fürsorge und Gerechtigkeit geprägt ist. Nicht selten täuscht sich der Weltbürger über sich selbst; als Botschafter würde er seiner Hausangestellten in einem Entwicklungsland nicht den gleichen Lohn zahlen wie sich selbst, sondern lieber für sich so viel sparen, dass er noch reicher wird. Wäre es da nicht ehrlicher, sich zu seinem Ort in der Nähe zu bekennen und schlicht zu sagen: „ja, ich messe die Dinge von meinem Ort in der Welt aus, Menschen anderer Länder behandle ich im Rahmen des Üblichen fair, aber nicht so, wie ich wollen würde, behandelt zu werden. Von meinem Ort aus gestalte ich unterschiedliche Arten von Verhältnissen zu meinen Mitmenschen.“ Die universalistische Prinzipienorientierung des Weltbürgers erweist sich in der Praxis oftmals als blass und folgenlos. Was heißt es nämlich, von einer konkreten Situation zu abstrahieren und das Allgemeine herauszupräparieren? Auch globale Regeln sind konkret zu leben.122 Die Wahrnehmung konkreter fremder Menschen spielt in der universalistischen Moral eine zu geringe Rolle. Die Moral des sogenannten Weltbürgers könnte so gesehen auf einer Fehlvorstellung dessen beruhen, was Moral ist. Es ist die gleiche Fehlvorstellung, die die Moral der Selbstbestimmung auszeichnet. Am Beispiel Nietzsches lässt sich das rekonstruieren. In ‚Moral des reifen Individu Dafür ist der Alltagsrassismus in liberalen und weltoffenen Gruppen nur das markanteste Beispiel.
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ums‘123 formuliert Nietzsche, der reife Mensch werde ein „Kollektiv-Individuum“. Wer aber glaubt, alle Perspektiven in sich zu vereinigen, geht von Prinzipien aus und läuft Gefahr, in realer Interaktion nicht moralisch zu sein. Denn ‚Ich berücksichtige in realen Situationen Perspektiven‘ bedeutet etwas radikal Verschiedenes als ‚Ich glaube, alle Perspektiven in mir zu vereinigen‘. Im ersten Fall höre ich zu, im zweiten habe ich immer schon verstanden, was andere sagen werden. Moral spielt sich im zweiten Fall im Kopf des einzelnen ab, im ersten Fall geht es um das Verhältnis von Perspektive zu Perspektive. Wer seine Moral im Kopf konstruiert (auch wenn er dabei in einer idealtypischen Sprechsituation ein Verhältnis zu anderen antizipiert), spult im realen Kontakt mit anderen vielleicht nur sein Programm ab, da ist es nur ein kleiner Schritt vom wohlmeinenden Weltbürger, der in seiner abstrakten Sonntagsrede alle als gleich beschwört, bis hin zu dem praktizierten, vielleicht sich selbst nicht ganz eingestandenen Grundsatz: „die fremde Person, die vor mir steht, kann ich nach ganz anderen Maßstäben messen als mich selbst und die mir nahestehenden, sie ist weniger wert.“ Die andere Person wird so jemandem nicht wirklich. Für eine solche Person, die so denkt, kann es eine Gunst sein, Fremde kennenzulernen und wahrzunehmen. Die Gunst besteht darin, von romantisierenden Gleichheitsvorstellungen und von Ängsten vor Fremden Abschied zu nehmen. Vielleicht liegt der Moral eines Weltbürgers auch eine naive Rückführung von Fern- in Nahbeziehungen zugrunde, etwa wie sie in Max Frisch’ These begegnet: „Ohne Freiheit kein Friede – durch den Umbau der Gesellschaft in eine Gemeinschaft.“124 Wolfgang Streeck bezieht dazu Stellung125: „Politik ist weder Wohltätigkeit noch Kampf für den eigenen Vorteil oder darf doch keins von beiden ausschließlich sein: Ihr Thema ist die gerechte
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Friedrich Nietzsche, Moral des reifen Individuums (1878). In: Ders., Menschliches, Allzumenschliches. München 1999, Nr. 95 (Zur Geschichte der moralischen Empfindungen). FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS 1976, https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/1976_frisch.pdf, letzter Aufruf 30.05.2020. Ein Weltbürger ist nirgendwo Bürger. Kosmopolitismus klingt gut, verpflichtet aber zu nichts: Plädoyer für einen lokalen Patriotismus. Ein Gastbeitrag von Wolfgang Streeck, 20. Juni 2018, DIE ZEIT. 172
Ordnung eines Ganzen, das sich als Ganzes versteht und Mitglieder hat, die sich für es verantwortlich fühlen und berechtigt und in der Lage, es mitzugestalten. Die Welt kann kein solches Ganzes sein; hier gilt der Merksatz einer ungeliebten und praktisch wohl wenig begabten (aber wo sie recht hat, hat sie recht!) britischen Premierministerin, „A citizen of the world is a citizen of nowhere“ – ein Weltbürger ist nirgendwo Bürger. Seltsam, dass die kosmopolitisch fühlenden Universalisten, die es mit dem Ausdruck ihrer Empörung über Theresa Mays schlichte Erkenntnis nicht genug sein lassen können, nicht merken, wie nah sie dabei der berüchtigten Maxime ihrer Vorgängerin Margaret Thatcher kommen: „There is no such thing as a society, there are only individuals and their families“ – es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen und ihre Familien.“
Dazu existiert eine Antwort von Jan Reemtsma126: „… wobei wir nicht vergessen wollen, dass Familien, statistisch gesehen, die unsichersten Orte in der Gesellschaft sind – hinsichtlich Mord, Vergewaltigung, Grausamkeit und Demütigung. Ferner, dass Nachbarschaften exquisit streitanfällige Zonen sind, Gerichtsakten bewahren die Zeugnisse dafür auf. […]. Man kann versuchen, sich die Abfolge Familie–Nachbarschaft–Gemeinde–Region–Land/Staat/Staatenbund … als soziale Orte auf konzentrischen Kreisen vorzustellen, deren Dichte und Bindungen (seien sie emotionaler, moralischer, gesetzlicher Art) mit wachsender Distanz abnehmen – am Ende wäre die Bindungsdichte so dünn, dass allenfalls der schwärmende Nowhere Man noch von „Weltgemeinschaft“ faselt. […]. Das Modell der Kreise abnehmender Bindungsdichte passt nicht zu den sozialen, ökonomischen, gesetzlichen und moralischen Komplexitäten der Welt. Es gibt eine „Weltgesellschaft“, wie es „nationale“ und „Dorfgesellschaften“ gibt, und jeder beschriebenen Gesellschaft kann eine Idee von „Gemeinschaft“ zugeordnet werden. Welcher Art die ist, darüber streitet man; unter anderem ist das ein politischer Streit. Der kann auch nicht vermieden werden, wenn man ihn mit einem Vermeidungsvokabular führt à la „all politics is local“.“ 126
Jeder Weltbürger ist irgendwo Bürger – und auch noch Weltbürger: Eine Erwiderung auf Wolfgang Streeck, 27. Juni 2018, DIE ZEIT. 173
Wenn Reemtsma Recht hat, dann ist das Bild, in dem wir bisher gedacht haben, schief, denn es suggeriert, dass der Mensch erst friedlich-vertrauensvolle Nahbeziehungen pflegt, um von dort aus zu fernen Beziehungen zu schreiten, in denen er misstrauisch seinen eigenen Vorteil sucht. Nahes und Fernes sind ineinander verschränkt. Um das zu verdeutlichen, können wir zum einen die Annahme anzweifeln, Nahes kennten wir. Nahes ist nicht bestimmt, in der Nähe leben wir in der Fremde, in der wir nicht einmal uns selbst kennen. Nur wenn wir das Menschenbild eines selbstbestimmten Wesens in Anspruch nehmen – oder einer Lebensform, in der wir gemäß fester Sitten ‚die Unsrigen‘ zu kennen glauben und glauben zu wissen, wie sie seien –, dann können wir glauben, mit zunehmender Entfernung nehme das Un-heimliche des Kontakts zu anderen zu. Zum anderen können wir das Phänomen des Zu-Gast-Seins betrachten. Wann sind wir bei anderen zu Gast? Sicherlich bereits häufig bei Freunden und Verwandten. Wir benehmen uns als Gast anders als dort, wo wir zu Hause sind. Auch wenn unser Besuch einer strategischen Absicht diente, wirkt die Zeit und verändert unser Verhältnis zum Gastgeber. Der Situation geschuldet benehmen wir uns zunächst höflich, dann entsteht Kontakt. Gespräche unterlaufen rein zweckorientierte Beziehungen, wir müssen uns auf unser Gegenüber einstellen, das in einem ganz anderen Takt, mit anderen Hintergründen und Selbstverständnissen handelt und sich äußert. Wir wahren die Form, in die wir hineingeraten sind und in die uns die Situation gestellt hat. Wir fragen taktvoll nach und interessieren uns. Wir vertrauen, mindestens, indem wir das unbekannte Essen kosten. Wir verhalten uns in gewisser Weise mehrperspektivisch, wir sehen, was auf uns zukommt, prüfen, wo Unterschiede auftauchen, wir bereiten Treue vor (sonst werden wir kein zweites Mal eingeladen, das ist insbesondere bei diplomatischen Anlässen unverzichtbar), und wir staunen angesichts kultureller Unterschiede, sofern sie uns nicht zu drastisch unmoralisch vorkommen. In so einer Situation werden unter der Hand und absichtslos subjektive Menschenrechte etabliert. Es ist kein Zufall, dass wir in dieser Rekonstruktion der Gast-Situation unsere Tugenden auffinden. Wir tasten uns eher vor, statt dass wir über die Situation verfügen, wir nehmen wahr statt (nur) zu kategorisieren. Nun gibt es unzählige Anlässe, bei denen wir in der Fremde zu Gast sind: auf Reisen, bei einem Schüler- oder Studentenaustausch, bei einer Familie, die uns während eines Auslandaufenthaltes bei sich wohnen lässt, in der Nähe unserer Ferienwohnung zum Kaffeebesuch beim Hausbesitzer, als Botschafter, bei wirt174
schaftlichen Zusammenkünften, bei einem Geschäftsessen des ausländischen Handelspartners. Vertrauen existiert längst auch in Fernbeziehungen: Ich vertraue auf mein japanisches Auto und darauf, dass die Gastfamilie in Kanada meine Tochter gut aufnehmen wird. Die Verhältnisse zum Nahen und zum Fremden sind unbestimmt. Wir füllen diese Unbestimmtheit mit einem Vorschuss an Vertrauen und sind darauf angewiesen. Auch wenn uns unser Gegenüber schlitzohrig übervorteilt, werden wir notgedrungen manchmal weiter das Gespräch suchen; wir werden unter Umständen verzeihen können und (so wie bei Freunden) Verständnis für einmalig egoistisches Verhalten aufbringen, wir verzeihen ‚Ausrutscher‘ – oder wir werden die Beziehungen irgendwann abbrechen, dann ist das Anfangsvertrauen aufgebraucht. Irgendwann kann Fremdes uns sogar überraschend nah vorkommen; Nähe kann gerade durch Distanz entstehen und Distanz durch Nähe. Man denke an jugendliche Reisende, die zu Fremden Nähe aufzubauen, die Freunde überall in der Welt finden, man denke an romantische Urlaubsflirts, die den Alltagstest nicht zu überstehen brauchen. Man hat hier nichts zu verlieren, da man nicht unbedingt strategisch an die Bekanntschaften herangegangen war. In die Fremde zu gehen dient der Erkenntnis und Selbsterkenntnis; Reisen ist nicht umsonst der älteste Begriff für Philosophie: Man lernt sich selbst neu kennen, und man sieht neu auf Altvertrautes. Zwischen Produzent und Konsument scheint es vor allem bei großen Firmen, die langfristig Erfolg haben wollen, ebenfalls leicht zu sein, Vertrauen zu Fremden aufzubauen, schließlich braucht man einander. Der Kunde soll das Auto auch in Zukunft fahren, er soll es weiterempfehlen. (Wie einige Autofirmen kann man die Zeit, bis zu der eine Unwahrhaftigkeit und Manipulation auffällt, allerdings durch heimliche Lügen verlängern.) Vertrauen und gegenseitige Vorteilsnahmen können in Geschäftsbeziehungen leicht Hand in Hand gehen, Handel kann die Etablierung von Bedürfnis und Achtung gleichermaßen sein. Zwischen Unternehmer und Arbeiter scheint es die größten Probleme zu geben: Den ausländischen Mitarbeiter kann man schlecht bezahlen, solange es genügend andere Arbeiter gibt, die Schlange stehen. Zwischen Politikern scheint es schillernd zu sein; oft wird um Vertrauen geworben, um Vorteile für beide Seiten, oft wird Unterstützung gegeben. Aber ebenso oft wird gedroht, es herrschen Freund-Feind-Beziehungen oder es zählt nur das Beachten der Vorteile für das eigene Land. Jedenfalls aber 175
ist die Annahme, Beziehungen zu Fremden seien immer instrumentell, so generell falsch. Sie basiert auf einer falschen Gleichsetzung von Nähe mit Vertrauen und Fremdheit mit Misstrauen. Diese wiederum ruht auf einem Menschenbild: Nahestehende kennte der Mensch wie sich selbst, da er ja weiß, was ‚man‘ hier so tut, was sich ‚hier‘ ‚gehört‘, da er selbstbestimmt davon ausgeht, nach seinen bekannten Maßstäben handeln zu können. Wir leben aktuell in einer Übergangszeit, in der es mehr Kontakt zu fernen Menschen gibt als früher. Die Angelegenheiten der Menschen sind längst verflochten, Zugehörigkeit zur Nähe eröffnet dafür die Freiheit, während die Angehörigkeit zur Nähe den Rahmen bereitstellt, in dem wir Umgangsformen des Vertrauens auch zu Fremden erwerben. Unsere Angelegenheiten beziehen sich auf Nähe und Ferne. Die Situationen in der Ferne sind längst die Dinge, ‚bei denen wir liegen‘, an denen uns gelegen ist, es sind die Gelegenheiten, in denen wir Nähe und Ferne feststellen; insofern ist ‚Angelegenheiten‘ auch ein erfahrungsnaher Begriff für Verhältnisse überhaupt. Lassen sich Fernbeziehungen solidarisch gestalten? Wir müssen zur Beantwortung einen Schritt zurückgehen. Wir wollen die fehlende Wahrnehmung in der Ferne dabei in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen. Wer über sein Verhältnis zu fernen Menschen nachdenkt, dem fehlt vor allen eins: Wahrnehmung. Verhältnisse haben wir als etwas etabliert, das den Menschen prägt, unter anderem weil er wahrnimmt. So gesehen sind Fernverhältnisse keine Verhältnisse. Also können wir fragen: Wie kann die Wahrnehmung in die Beziehungen zu fernen Menschen gelangen? (Denn gleichwohl leben wir alle in ‚einer Welt‘, und d. h. ‚mein‘ Essen wird auch von Menschen hergestellt, zu denen ich nie in ein Nahverhältnis treten werde. Ich forme deren Leben durch mein Konsumverhalten mit.) Wenn wir die Wahrnehmung in den Mittelpunkt von Verhältnissen stellen, dann lautet die moralische Antwort auf das Problem einer Fernethik: Gibt es eine Pflicht zur Wahrnehmung? Ja. Gibt es dementsprechend eine Pflicht zur Achtung fremder Menschen? Ja. Denn faktisch leben wir längst nicht mehr in mehreren nationalen Gesellschaften, die unabhängig voneinander sind, sondern in einer Weltgesellschaft mit einer Weltinnenpolitik, weil die Angelegenheiten der Menschen vieler Nationen miteinander verflochten sind. Es fehlen ‚nur‘ noch überoder zwischennationale durchgreifende Regelungen für diesen Zustand. Wer verpflichtet ist, sich die fremde Person vor Augen zu führen, mit der er Kontakt hat, der rutscht in ein Gewebe von Würde, Achtung, Aufbau von Vertrauen und Be176
scheidenheit hinein, er holt die Person in seine Verhältnisse hinein. Das schließt das Verständnis dafür ein, dass jemand nicht auf andere und Fremde achtet, mit denen er keinen Kontakt hat. Gibt es eine Pflicht dazu, fernen Menschen zu vertrauen? Nein. Was aber könnte eine Motivation für eine solche Moral der Ferne sein? Denn eine Pflicht zur Achtung Fremder wäre möglicherweise nicht geerdet in dem, was Menschen wollen und tun. Herrscht Misstrauen und suche ich nur den Vorteil für mich und meine Nächsten, bleibt die Rede von einer Pflicht zur ‚Fremdenfreundlichkeit‘ einer Sonntagspredigt ähnlich. Die entscheidende Frage muss lauten: Gibt es etwas, das den Menschen, ausgehend von dem Verständnis von Verhältnissen, das wir hier beschrieben haben – oder von anderen Motiven aus – leiten kann, in herzliche, vertrauensvolle oder mindestens achtende Verhältnisse zu Fremden (und ökologisch: zum Ganzen der Natur) zu gehen? Die Wahrnehmung anderer könnte ein Indiz bieten: entweder für ein Motiv oder eine Möglichkeit, Fernverhältnisse zu gestalten. Wer einen Fremden wahrnimmt, kann ein Interesse an ihm um seiner selbst willen entwickeln. Solche Wahrnehmungen könnten kultiviert werden. Das heißt umgekehrt, wer Fremden nicht staunend begegnet, betrügt sich um ein Stück Weltwahrnehmung (und Offenherzigkeit). Betrachten wir die anderen Tugenden, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben, in Bezug auf den Umgang mit Fremden. Wer unbescheiden seine Absichten durchsetzt, verliert ebenfalls ein Stück Welt, in der er lebt; ihm begegnet weniger, und er selbst begegnet sich nicht, denn erst in der Bescheidung kann eine Selbstklärung erfolgen. Analog ist es mit der Treue; der Geschäftstüchtige, der die Interessen seines fremden Partners außer Acht lässt, reißt das Verhältnis zu ihm auseinander, möglicherweise in der Folge auch sich selbst, vielleicht wenn er hinterher erschrocken seine Gleichgültigkeit bemerkt. In strittigen Situationen ist Mehrperspektivität zwischen Fremden unerlässlich. Über Diplomatie und Takt gegenüber Fremden haben wir bereits in Kapitel 5 geschrieben. Möglicherweise kann ein schlichtes Motiv dafür, Vertrauen zu Fremden aufzubauen, darin liegen, sich daran zu freuen. Und schließlich kann es eine beglückende Erfahrung sein, über einen Fremden zu staunen. Diese Aspekte können Menschen motivieren, zu Fremden Verhältnisse aufzubauen, die von Achtung geprägt sind. Es folgt nicht, dass Menschen Fremden gegenüber genauso motiviert sind oder sein müssen, in Verhältnisse einzutreten, wie gegenüber Nahestehenden. Die Bedingung für Verhältnisse bleibt die Wahrnehmung. 177
Die moralische Qualität von Verhältnissen entsteht in der Wahrnehmung anderer; daraus folgt ein gewisser Partikularismus. Der Ort, an dem ich stehe, definiert den Bereich und den Raum, in deren Verhältnissen ich mich orientiere und ausrichte. Vergrößert sich der Raum – was heute faktisch für viele Menschen der Fall ist –, erweitern sich die Verhältnisse. Allerdings kann das für mich emotionsleer und abstrakt bleiben. Dann würde sich in Fernbeziehungen das wiederholen, was wir eingangs als Problem des Konstrukts der selbstbestimmten Moderne gekennzeichnet haben: das Agieren in Kontexten, zu denen die Akteure keine Beziehung, kein Verhältnis aufbauen. Warum und unter welchen Bedingungen entwickelt sich eine Erweiterung naher Verhältnisse nicht? Ludger Heidbrink und Alexander Lorch rekonstruieren als Grund für die fehlende Moral in Wirtschaftsunternehmen nicht primär eine egoistische oder niederträchtige menschliche Natur, sondern die Anpassung an die strukturell in Unternehmen erwarteten Normen:127 „Eine Studie der Beratungsagentur Ernst&Young von 2017 hat zutage gefördert, dass sich mehr als zwanzig Prozent der deutschen Manager unethisch verhalten würden, wenn dies ihrem persönlichen Erfolg nützt (in anderen europäischen Ländern waren es noch mehr) […]. Dieses Phänomen lässt sich besonders gut mit dem Phänomen der sogenannten shifting baselines erklären. Hiermit wird ein moralsoziologisches Phänomen bezeichnet, bei dem Menschen ihren moralischen Referenzrahmen schrittweise den Umständen anpassen, unter denen sie agieren. Bespiele hierfür sind vielfältig und reichen von Soldaten, die in Kriegssituationen ihre eigenen Moralvorstellungen so verändern, dass Töten zur Normalität wird, über Bürokratien, die es schaffen, ihre Beamten zu bloßen Befehlsempfängern zu „erziehen“. Ein bekannter Fall ist das Stanford-Prison-Experiment, bei dem Probanden im Laufe des Experients immer gewaltätiger wurden und aufgrund von Rollenzuschreibungen als Gefängniswärter ihre Hemmungen verloren.
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Ludger Heidbrink und Alexander Lorch, Erst die Moral, dann die Ethik. F.A.Z. – Feuilleton, Montag, 26.02.2018. 178
Auch wenn dies Extrembeispiele sind, illustrieren sie den Umstand, dass die Organisationsverfassung den „gesunden Menschenverstand“ beeinflusst und sich die Maßstäbe, die sonst ganz selbstverständlich an Anstand, Moral oder Tugenden der Organisationsmitglieder angelegt werden, unmerklich verschieben. Dabei werden individuelle Vorstellungen von richtig und falsch, von Normen und Gesetzen nicht einfach außer Kraft gesetzt. Sie werden vielmehr von Gruppenansichten oder Systemimperativen so überlagert, dass sie eine neue Gültigkeit gewinnen. Diese Verschiebung von Moralvorstellungen lässt sich auch im Management von Konzernen beobachten. Die shifting baselines bezeichnen keine plötzliche Veränderung im Urteilen und Handeln von Individuen, sondern sind vielmehr ein „Gleiten und Driften von moralischen Standards, das sich nicht auf Intentionen von Akteuren, vielmehr auf Effekte von Systemen zurückführen lässt“, wie der Soziologe Günther Ortmann es ausgedrückt hat. […] Um ihre wirtschaftlichen Ziele zu erreichen, entwickeln Unternehmen Prozesse und Strukturen, die den Mitarbeitern dabei helfen, die Organisationsziele besonders effizient zu erreichen. Dabei ist es unausweichlich, dass solche Prozesse und Strukturen die jeweiligen Dispositionen ihrer Mitglieder nicht oder nur wenig berücksichtigen. So führen die kapitalmarktgetriebenen Strukturen der Marktwirtschaft dazu, dass der Gewinn an erster Stelle steht, der Einzelne dieser Gewinnlogik folgt und sie als erforderlich akzeptiert. Dies bedeutet aber auch, dass Mitarbeiter und Führungskräfte nicht mehr täglich jede ihrer Handlungen im Organisationskontext hinterfragen, da sie ja von den Organisationsstrukturen legitimiert werden. Die reale Außenwelt tritt in den Hintergrund und wird nicht mehr eigens berücksichtigt. Sie wird bloß noch strategisch wahrgenommen und kommuniziert, aber nicht mehr autonom und selbstverantwortlich reflektiert.“
Heidbrink und Lorch fordern: Kontrollen und Anreizsysteme. Darüber hinaus sagt der Text, woran es fehlt: an Wahrnehmung der realen Außenwelt. Daher könnte man fordern, die Wahrnehmung in solche Systeme zu integrieren, in denen verschobene moralische Grundlinien eine Abschottung von den Wirkungen des Handelns und daher eine bloß innere (Gewinn)Logik mit sich bringen. Dort 179
vergessen Menschen den Ganzheitshorizont, in dem sie leben (ebenso wie diejenigen, die nur ihre Gemeinschaft als obersten Wert im Blick haben). Das Konstrukt der selbstbestimmten Moderne (ebenso wie das Konstrukt einer sittlichen Tradition, die nur auf die eigene Gemeinschaft angewendet wird) erzeugt selbst das Problem des Umgangs mit Fernstehendem. Wenn eine Firma sich zum zentralen Ziel setzt, möglichst hohen Gewinn zu erzielen, dann werden die Mittel tendentiell so gewählt, dass die Nebenfolgen für außenstehende Menschen aus der Optimierungsrechnung herausfallen. Das Wesen selbstbestimmt-modernen und gruppenegoistischen Denkens blendet zum Teil die Aspekte von Beziehungen aus, die sich nur als ganzheitliche gestalten lassen; diese reduzierende Ausblendung zerstört die Tragfähigkeit der Beziehungen selbst.128 Unsere Welt ist von dramatischen Abschottungen geprägt: von den Problemen ferner Menschen, von denen wir gleichwohl wissen und mindestens vermittelt durch Medien wahrnehmen, dass wir über Herstellungsprozesse mit ihnen in Verbindung stehen, sowie von Flüchtlingsproblematiken. Müll wird in andere Länder verklappt, es herrschen katastrophale Arbeitsbedingungen bei der Herstellung der Güter, die wir in Supermärkten kaufen; sie werden an den Rand der Wahrnehmung gedrängt. Das bleibt problematisch, solange die Beziehungen zu Fernstehenden fehlen oder strategisch ausgerichtet sind, solange eine universalistische Moral nur als ein blasses Prinzip im Kopf einzelner ausgeprägt ist und wenn Fremde nicht angesichtig werden. Eine nationale Firma wird sich, vielleicht wie seinerzeit Ford oder Krupp, für die Mitarbeiter des eigenen Landes zuständig fühlen, ebenso wie für das Prosperieren der eigenen Nation. Wenn jedoch Mitarbeiter in fernen Ländern arbeiten, könnte eine ausländische Filiale beispielsweise zum Wohle der näherstehenden Firmenanteile gewinnbringend abgestoßen werden, auch wenn dadurch klar scheint, dass es den fernerstehenden Mitarbeitern künftig schlechter ergehen wird. Auch von den Wirkungsweisen solcher Mechanismen her scheint die heutige Sehnsucht nach neuen Nationalismen verständlich; sie bieten einen Raum der eigenen Zuständigkeit und Zugehörigkeit. Was kann aber, alternativ gedacht, ein Ganzes sein, für das sich Menschen zuständig und dem sie sich zugehörig fühlen, 128
Und es ist interessant, dass dieses ‚Wesen‘ in einem Rahmen existiert, in dem die modernen Menschen, sich auf ihre Freiheit berufend, davon ausgehen, kein festes Wesen zu besitzen. 180
wenn es nicht ein geschlossenes Konstrukt einer partikularen Gemeinschaft oder Gesellschaft ist, die anderes ausschließt? Oder wenn es nicht nur ständig um das eigene individuelle Selbst geht? Es könnte sinnvoll und notwendig sein, im Kontrast zu einer Ethik, die auf Selbstbestimmung fußt, und im Kontrast zu einer gruppenbezogenen Sitte eine Ethik im Rahmen von Verhältnissen zu suchen, d. h. eine, die andere teilhaben lässt und sie nicht abschottet. Welche Art Ethik kann geeignet sein? Sie müsste sich von den modernen Ethiken signifikant unterscheiden. Leider passen die modernen Ethiken nämlich zu den modernen Lebensgestaltungen. Diese setzen Beziehungen zu anderen gerade nicht in den Ausgangspunkt, auch wenn sie vorgeben, das zu tun. In einer konsequenzialistischen Ethik herrscht ein Folgenkalkül. Wohlbefinden bzw. die Vorteile anderer, genauer der Mehrheit der Beteiligten wird in Rechnung gestellt. Der andere klassische Typ moderner Ethik, der Universalismus einer kantisch-deontologischen Ethik, verabschiedet sich einerseits durch seinen Pflichtcharakter von den realen zwischenmenschlichen Beziehungen, andererseits geht es auch hier nicht um den anderen, es geht um die ‚Achtung des Gesetzes in mir‘, die Universalisierung ist keine Ausrichtung auf den anderen, sie ist eine logische Verallgemeinerung, sie sucht statt anderer: ein Gesetz.129 (Sie wurde ja auch ausgehend von meiner individuellen Selbstbestimmung begründet.) Daraus, dass Moral in modernen Ethiken im einzelnen Menschen verortet wird, entsteht ein absurdes Verständnis des Menschen auf einer Insel; Immanuel Kant selbst gibt dieses Beispiel und macht dadurch deutlich, worum es geht: um das, was im Menschen für ihn selbst geschieht. Im Kern geht es bei diesen Ethiken immer um den einzelnen. Von ihm aus und für ihn wird die Ethik gedacht, als Grundvoraussetzung für diese Ethiktypen geht ein, dass der Mensch als abgeschottet von anderen gedacht wird, und es geht darum, wie er mit diesem Befund ‚umgehen‘ kann, einigermaßen verträglich oder sich zur Allgemeinheit aufschwingend. Wie Beziehungen zu anderen als den Menschen ermöglichend oder ihn inspirierend gedacht werden können und wie die Beziehungen gestaltet werden, darüber erfährt man wenig. Beziehungen werden dem Inhalt und der Qualität nach in mo-
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Ein Wunsch: Hätte Kant doch konsequenter von seiner theoretischen Philosophie auf seine praktische geschlossen: geht es beim Erkennen um Funktionen, so aufgrund der Freiheit des Menschen und der Reziprozität in der praktischen Philosophie um Relationen. 181
dernen Ethiken als Grundlage der Moral gerade ausgeklammert, auch wenn die Beachtung von Regeln (oder besten Folgen oder der Ausrichtung auf die Idee der Menschheit an sich) natürlich Beziehungen entstehen lassen; es scheint um Verträglichkeit oder um das forum internum der Moral zu gehen, also den Menschen im Umgang mit sich selbst (angewendet auf Beziehungen), nicht aber um die Tiefe oder Qualität konkreter Beziehungen. Auch derjenige, der sich konsequent modernen Ethiken folgend um andere kümmert und um ihretwillen handelt, tut das, weil er ein Bild in seinem Kopf hat, an dem er seine Handlungen misst, ein selbst bestimmtes Bild von sich, dem er gerecht werden will – er tut es nicht deswegen, weil es der andere ist, der vor ihm steht. Deswegen kann eine moderne Ethik die moralischen Probleme von Fernbeziehungen nicht lösen.130 Da der einzelne in der modernen Welt als vereinzelt und isoliert betrachtet wird, getreu Hobbes’ Bild des Naturzustandes, ist die Gesellschaft eine Gesellschaft von Egoisten; daher braucht es auch eine Ethik für Egoisten, wie sie im Utilitarismus ausgeformt ist. Jeder sucht seinen Vorteil, und moralisch ist, wenn das möglichst für die meisten verträglich gelingt.131 Und die konkrete Gestaltung der Lebensverhältnisse zielt auf den Vorteil des einzelnen ab; das untergräbt selbst noch die Vorstellung einer utilitaristischen Moral. Es herrscht in den konkreten Beziehungen moderner Menschen, zumal in ihren Wirtschaftsbeziehungen, immer etwas, das angerufen wird und an dem man sich orientiert, dem gefolgt wird, von dem her man sich begreift und das man als bekannt ansieht: beispielsweise Macht, Geld, Selbstverfügung. Hobbes’ als natürlich verstandenes Menschenbild ist längst kulturell erzeugt worden. Heutzutage ausgegebene Moral wirkt oft wie die in Dopingdiskussionen: Zu unwiderstehlich ist es, angesichts horrender Ruhm- und Geld-
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Noch allgemeiner liegt im modernen Denken generell ein Beziehungsproblem zu anderen Menschen. Identität wird im westlichen Denken als Substanz verstanden, im Unterschied dazu, es als Relation zu begreifen, wie Achille Mbembe es für antike afrikanische Traditionen rekonstruiert. Vgl. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin 2017, S. 14ff.; vgl. Worüber denken Sie gerade nach, Herr Mbembe? Interview mit Achille Mbembe. In: Die Zeit 44/2018 (Protokoll: Elisabeth von Thadden). Vgl. Robert Paul Wolff, Jenseits der Toleranz (1965). In: R. P. Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/Main, S. 33: „Vernünftigkeit reduziert sich so auf kalkulierende Vorsicht (…). Es ist natürlich ein Gemeinplatz, daß diese buchhalterische Einstellung zum Gefühl die direkte Widerspiegelung der Einstellung des bürgerlichen Kaufmanns zu Gewinn und Verlust ist.“ 182
verlockungen leistungssteigernde Mittel zu nehmen, als dass eine Moraldebatte wirken kann. Eine Moral, für die man motivieren muss, steht gegen das, was sonst im Leben auch als wichtig gilt. Das ist trivial, weil wir auch andere als moralische Bestrebungen haben.132 Eine Moral aber, die gegen die gesellschaftlich als erstrebenswert geltenden Handlungen aufgestellt wird: muss scheitern. Da steht dann Moral gegen Sitte. Der Marktvollzug fordert: Achte auf Gewinn für dich, häufe Geld an, konkurriere. Sich daran zu orientieren macht unmoralisch, obgleich es als moralfrei gilt. Handlungsstrukturen prägen Identitätsstrukturen. Unser Wirtschaftssystem setzt Gier und Konkurrenzstreben voraus und in den Mittelpunkt. Flankierend soll eine Moral wirken, die eben diese Eigenschaften kritisiert. Das kann nicht funktionieren, denn aus beidem entsteht ein gespaltener Mensch, der – einerseits – das Gute darin sucht, besser als andere zu sein, mehr zu erwirtschaften, Geld anzuhäufen usw., und – andererseits – als Gegengewicht gegen dieses Gute ein sogenanntes moralisch Gutes befolgen soll, das das Gegenteil fordert. Nur eine Moral, die a) das echte, reale Zwischenverhältnis von Menschen in die Mitte rückt und die b) das echte, reale, alltägliche Handeln von Menschen reguliert, kann tauglich sein, unser Wirtschaftssystem und d. h. unsere alltäglichen Interaktionen sittlich zu prägen. Das aber wäre eine Ethik der Nähe. Sehen wir noch einmal auf den Kern der Tugenden, mit denen wir uns hier beschäftigen, und prüfen, ob er für eine Moral der Ferne taugt. Der Kern der Tugenden liegt in der Ausrichtung auf andere und in der Wahrnehmung, und er liegt in der Berücksichtigung dessen, dass wir uns verdankt wissen, und zwar den Verhältnissen, in die wir verstrickt sind. Das zentrale Moment des Zusammenlebens liegt in der Bejahung und in den Formen, die die Bejahung jeweils benötigt. Was wird bejaht? Der andere, das Verhältnis, ich. Bejahung heißt Öffnung und bedeutet, Besonderes in den Blick zu nehmen. Schließlich bedeutet es, sich von einem Ganzheitshorizont aus ansprechen zu lassen. Genau ein solcher Horizont eines Ganzen fehlt, wenn in Betrieben eine bloß innere Maximierungslogik herrscht, in der anderes ausgeschlossen wird (beispielsweise diejenigen, die zu einem Hungerlohn in anderen Ländern arbeiten müssen, die Umweltschäden, die aus der Manipulation von Autos entstehen, die Unredlichkeit, mit der gegenüber Kunden 132
Moral, solange sie als Sollen auftritt, könnte der Weg zu Wahrnehmung sein (in der die Strenge des Sollens verschwindet). 183
gelogen wird). Das gilt nicht nur für diese Anrufungen: Moderne Ethiken heute blenden generell den Ganzheitshorizont eines gelingenden Lebens aus. Und das Leben vor dem Horizont eines Ganzen sehen zu können, gelingt in westlicher Sitte nicht (könnte aber ökologisch gesehen wertvoll sein). Um sein Leben in einem Ganzheitshorizont zu sehen, ist es nötig, in Verhältnissen eingebettet zu sein, die als Ganzes nicht durchschaut und bestimmt werden können. Über ein solches Ganzes haben die Menschen keinen Überblick, der sie dazu verleiten könnte, ein scheinbares Ganzes gegen ein anderes abzugrenzen. Beim Problem der Fernethik, das wir hier gerade diskutieren, wird der Mensch jedoch als Pol gesehen, der Verhältnisse auf der Basis seiner Vorstellungen gestaltet. Könnte es sein, dass diese Voraussetzung – dass der typisch selbstbestimmt-moderne Mensch zu Fremden in Kontakt tritt – in unsere Annahme eingegangen ist, der zufolge Fernbeziehungen eher von Gier und Vorteilssuche geprägt sind? Damit kommen zwei qualitativ andere Verhältnisse in den Blick, die bisher nur indirekt angesprochen wurden, und zwar erstens das Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit und zweitens das Selbstverhältnis des Menschen. Wer sich in einem Verhältnis zum unbestimmten Ganzen der Wirklichkeit weiß, in dem er sich eingebettet sieht, und weiß, dass er sich nicht direkt darauf ausrichten kann, der hat eine Affinität zu ökologischem Denken. Er weiß sich einem Ganzen verdankt und achtet daher, wahrscheinlich schon emotional, die Natur als Ganzes, auch wenn Natur und Wirklichkeit nicht das Gleiche sind. Zweitens können wir das Selbstverhältnis desjenigen betrachten, der zu Fremden in Kontakt tritt. Dies könnte unproblematisch erscheinen, zumal man sich auf das Sprichwort beziehen könnte Jeder ist sich selbst der Nächste – und daher angeblich sich selber alltagsbekannt. Im Selbstverhältnis konkretisiert sich das Bild, wie man sich selber wahrnimmt und wie man zu sich selber steht oder eben auch nicht mehr stehen kann, weil man Mühe im Umgang mit sich selbst hat. Die bedrängendste Lage ist vielleicht die, in der es einem Menschen nicht mehr gelingt, ein Verhältnis zu sich selbst zu erleben. Denn wenn dieses Selbstverhältnis nicht gelingt, gibt es auch kein Netz von Verhältnissen zu anderen Menschen, das einen (Vertrauens)Halt bieten könnte. Und damit auch kein Verhältnis zu fernen Angelegenheiten. Es besteht ein wechselseitig verweisender Zusammenhang, denn ein Selbstverhältnis kann sich nur entwickeln, indem man sich anderen öffnet. Der selbstbestimmt-moderne Mensch aber: Tritt er in ein Verhältnis zu sich selbst? Jedenfalls nicht in ein lernendes, denn er meint, sich bereits zu kennen. 184
Wagen wir eine Zwischenbilanz: Haben wir uns in einen Selbstwiderspruch verstrickt, indem wir in unserer Argumentation ein Verständnis von Tugenden vorausgesetzt haben, von denen wir doch gerade prüfen wollten, ob sie auch auf ferne Beziehungen anwendbar sind? Wir haben sie vorausgesetzt, um nahezulegen, dass die Annahme möglicherweise gar nicht richtig ist, Fernbeziehungen müssten sich notwendigerweise auf einer Ebene von Gewalt, Konkurrenz und Regelungen abspielen. Und wir haben sie vorausgesetzt, um mit ihrer Hilfe zu prüfen, ob es eine Chance zur Veränderung von Fernbeziehungen hin in Richtung der Tugenden geben kann, die wir hier beschrieben haben. Damit haben wir die scheinbare Alternativlosigkeit unserer modernen Welt also angezweifelt. Es bedarf tatsächlich neben Anreizen, Regelungen und Kontrolle eines Einstellungswandels, hin zum Selbstverständnis, ein Wesen in Verhältnissen zu sein, das ebenso sehr von Beziehungen geprägt ist, wie es sie beeinflussen kann. Gelingt das, hin zu stärkerer Wahrnehmung und Beachtung, dann wäre es eine Gunst, so in der weiten Welt zu sein, eine Gunst, sich zu befragen, am Fremden das Eigene zu überprüfen, nicht vorschnell zu urteilen, hinzusehen, eine Gunst, festzustellen: Vertrauen ist auch zwischen Fremden möglich. Sehen wir, welche Schlussfolgerungen wir ziehen können: Für eine Gesellschaft, in der als erstes der Eigennutz von Gruppen zählt, ist als zweiter Schritt eine an allgemeinen Prinzipien orientierte Moral ein Fortschritt. Eine Gruppenmoral ist ungeeignet, auf weltweite Herausforderungen zu reagieren. Sie kennt nur den Nahbereich. Beispielsweise kann in einer solchen Gesellschaft Korruption herrschen, wie sie in vielen Ländern Lateinamerikas an der Tagesordnung ist. Wer nur seine Gruppe im Blick hat, betrügt und belügt Fremde. Er hat keine Instanz zur Verfügung, die das als unmoralisch kennzeichnen könnte. In gruppenbezogenen Staaten herrscht keine Möglichkeit der Einspruchnahme, es gibt keine übergreifenden durchgesetzten Regeln und demokratischen Entscheidungsprozesse. Hier würde eine an allgemeinen Prinzipien orientierte Moral den Blick für Fremde öffnen können, ebenso wie Erfahrungen mit Fremden, die diese in den Nahbereich der Gruppe holen. Recht (insofern es abstrakt scheint) kann nicht nur gegen (vertrauensvolle) Verhältnisse stehen, sondern kann auch: Verhältnisse etablieren und sie durchsetzen. Wo jemand andere missachtet, kann ein Gesetz daran erinnern, dass dieser andere zu den Personen gehört, die im Blick zu haben erforderlich ist. Fehlen Gesetze, könnten außerhalb des Rahmens der Vertrautheit Willkürmacht herrschen – oder 185
Rituale, die Vertrautheit zwischen Fremden beschwören und in Kraft setzen. Ob Gesetze einen Rahmen für Vertrautheit etablieren können, das kommt darauf an, ob die Menschen in sie vertrauen können, weil sie beispielsweise die Erfahrung machen, dass sie bei ihren Angelegenheiten unterstützt werden und dass sie nicht schlechter als andere behandelt werden. Im Rahmen solcher Kulturen könnte ein vertrauensvolles Zusammenleben in einem nationalen, aber auch in einem übernationalen Rahmen möglich sein. Die Erklärung der prinzipiellen Gleichheit alias der Gleichwertigkeit der Menschen war ein ungeheurer Fortschritt, ein normatives Postulat, wohlverstanden eine Öffnung und Überschreitung der eigenen Gemeinschaft. Allerdings spielte, historisch betrachtet, Gleichheit dabei im Sinne bestimmter Kriterien eine zentrale Rolle. Gleich und dementsprechend gleichberechtigt war, wer die eigene Hautfarbe, das eigene Geschlecht oder die eigene Herkunft besaß.133 So setzte sich faktisch eine nicht ausgewiesene Gruppenidentität fort. Die Begründung der Gleichwertigkeit auf Basis von Gleichheitsmerkmalen war infiziert mit Rassismus und Genoziden – die systematisch weit nach Erklärung gleicher Menschenrechte stattfanden –, mit Unterdrückung von Frauen und von Menschen mit Behinderungen sowie von Tieren. Es ist daher sinnvoll, die Idee gleicher Rechte aller Menschen von den Gleichheitsmerkmalen bestimmter Zugehörigkeiten zu entkoppeln. Nicht die Idee einer geschlossenen Gruppe oder Spezies – ‚der Weiße, der Mann, der Mensch‘ – soll das Maßgebliche für gleiche Berechtigung sein. Gleichberechtigung ergibt sich vielmehr im Rahmen von Mehrperspektivität, von Selbstbescheidung und Anerkennung von Verbundenheit. Gleichwertigkeit kann besser verstanden werden als etwas, das sich im unbestimmten Verhältnis zwischen Menschen – von Angesicht zu Angesicht – ereignet, das heißt, als ein in solcher Angesichtigkeit wirklich werdendes Postulat freier Tugenden zwischen Menschen. Angesichts des anderen können wir staunen und gleichzeitig auch erschrecken und befremdet sein, denn der Fremde verhilft mir dazu, mir das Fremde in mir wahrzunehmen und langfristig anzunehmen.
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Vgl. Emmanuel Todd, Traurige Moderne. Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanicus (2017). München 2018, S. 262. Todd sieht die Entstehung der amerikanischen Verfassung in den USA – „all men are equal“ – in der Abgrenzung gegen ‚die Schwarzen‘ begründet. 186
Eine alleinige Ethik der Nähe, das heißt hier die Annahme, in Nahbeziehungen – und nur dort – gäbe es vertrauensvolle Beziehungen, könnte auf einem romantisierenden Verständnis von Nahbeziehungen ruhen. Hingegen gibt es in solchen Verhältnissen, wie Reemtsma formulierte, immer auch Gewalt, wir sollten Nahbeziehungen nicht idealisieren. Notwendige Bedingung von Vertrauen und Mitmenschlichkeit mag Nähe sein, hinreichend ist diese Bedingung nicht.134 Im Gegenteil zerbrechen Nahbeziehungen oft, wenn die strikten Normen und Tabus fallen, die Menschen aneinander kitten – und wenn sie die (beispielsweise finanziellen) Möglichkeiten dazu haben. Menschen suchen auch das Unbekannte und fremde Menschen. Von Fremdbegegnungen aus blicken sie anders zurück auf ihre Nahbeziehungen, was diese befördern kann. Nähe kann durch Distanz entstehen, Distanz durch Nähe. Begegnung mit Fremden kann als symbolisch Drittes helfen, Nahes zu erkennen und zu würdigen. Eine prinzipienorientierte universalistische Moral könnte geeigneter sein, Probleme zu lösen, die Gruppen in ihrer Reichweite überschreiten, sie leidet aber neben einer Identitätsbestimmung der Menschen – am universell begriffenen ‚Menschen‘ oder ‚Wesen mit Interessen‘ – an zwei Problemen: Sie bleibt erstens blass, was die Motivation betrifft.135 Denn Motivation entsteht durch Verhältnisse und Verbundenheit. Und sie wird daher immer, wenn es darauf ankommt, unterlaufen werden durch (gruppen)egoistische Interessen. (Das beides ist der Grund dafür, dass unter der Maske des Weltbürgertums Ausbeutung und Ignoranz entstehen.) Zweitens appelliert sie an Selbstbestimmung und das heißt, andere werden nicht wirklich. Ein Regelmensch könnte im Extremfall jemanden, den er kennt, der aber seinen Personalausweis nicht bei sich trägt, nicht durch eine Schranke lassen, wenn das universalistische Prinzip besagt, dass der Durchlass nur mit Ausweis erfolgt. Ein Prinzipienmensch könnte Anweisungen kalt befolgen. Es ist ein Dilemma. Wenn es nur die Alternative zwischen einer ausschließlichen Orientierung an der Autonomie des einzelnen und der festen Orientierung an einer Gruppe gibt, dann kann es keine Lösung von Problemen geben,
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Familie ist weder ein Ort des unbedingten Vertrauens noch ein Ort wie jeder andere in der Fremde; Familie ist der Ort der Einübung des Umgangs mit anderen und Fremden. Daher ist sie ein Ort der Differenzen und der Schulung der Tugend der Differenzfähigkeit. Zum Problem der Motivation einer universalistischen Moral: Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2. Frankfurt/Main 2019, S. 805. 187
die über den Bereich von Gruppen (oder heute: Nationen) hinausreichen. Denn die Orientierung an einer Gruppe hat den Preis der Inkonditionalität, das heißt, das Gruppenmitglied stimmt unbedingt allen Meinungen seiner Gruppe zu, im Extremfall im Sinne eines Kadavergehorsams. Die Gruppe mit ihren Imperativen und Glaubenssätzen ist ‚die letzte Instanz‘ und das Gegenüber der Verantwortung; sie kann also nicht überschritten werden. Diese Zugehörigkeit als eine bedingte aufzufassen, d. h. kritisch zu hinterfragen, heißt, die eigenen Auffassungen und Gründe mit ihren Maßstäben ins Spiel zu bringen. Dabei besteht aber die Gefahr, die Zugehörigkeit preiszugeben und nur noch das eigene Maß und die eigenen Bestimmungen gelten zu lassen. Das führt dazu, dass Solidarität nicht überschritten und über die eigene Gruppe hinaus erweitert, sondern aufgegeben wird. Einerseits kann das Dilemma aufgelöst werden, indem je nach Situation eine Mischung aus kritischer individueller Vernunft und Zugehörigkeit praktiziert wird. Dabei lässt eine Haltung der Mehrperspektivität Eigenes und Zugehörigkeit aufeinander Bezug nehmen. Andererseits kann der Konflikt zwischen den beiden Orientierungen dadurch entschärft werden, dass die Zugehörigkeit als ein Vertrauen in Unbestimmtes aufgefasst wird. So verstanden kann ich mich mit meiner Gruppenidentität kritisch auseinandersetzen, ohne sie aufzugeben. Ich denke als kritisches Mitglied und als Teilnehmer meiner Gruppe, ohne mich als einsam autonomer Richter aus ihr herauszukatapultieren. Drittens kann ein Mensch seine unkritische Gruppenzugehörigkeit überschreiten, indem er sich von einem unbestimmt wahrgenommenen Ganzen her versteht. Denn dann kann sich seine Nächstenliebe insofern zur Solidarität erweitern, als er sich – anders als ein autonomes Individuum – in einem Ganzen eingebettet sieht, in dem andere sich in eben der gleichen Lage befinden wie er selbst. Damit zusammenhängend bildet sich das Selbstverständnis eines Menschen unter (besonders heutigen) Umständen nicht nur in Nahverhältnissen. Jemand kann sich auch anhand geteilter Auffassungen in Verhältnissen mit solchen anderen Menschen sehen, die vergleichbare Lebenseinstellungen oder Interessen teilen; es kann Physikernetzwerke geben, Christen, Juden und Buddhisten können einander an verschiedenen Orten der Welt nah fühlen, auch wenn sie einander nicht kennen, ebenso wie ökologisch bewegte Jugendliche oder auch schlicht rucksackreisende junge Menschen, die einander als Fremde in irgendeinem Land der Welt begegnen. Beispielsweise breitete sich das frühe Christentum im römischen Reich aus, indem unabhängige Gruppen an verschiedenen Orten des römi188
schen Reichs christlich lebten; deren religiöse Gemeinsamkeit griff quer durch die Nahverhältnisse und Orte der Römer hindurch.136 Und die ein Selbstverständnis prägende, egalisierende und dadurch universalisierende Kraft von Einstellungen zum Ganzen der Wirklichkeit kann auch dann eine Verbindung über Nahverhältnisse hinweg gründen, wenn ‚das Ganze‘ als unbestimmt angesehen wird; es könnte sogar eine Verbundenheit durch gemeinsam gelebte Tugenden entstehen. Es kommt insgesamt darauf an, die Vorzüge beider Einstellungen zu gebrauchen, einer ortsgebundenen, auf Nähe und Verhältnissen aufbauenden Sitte und einer auf universalen Rechten gegründeten Kodifizierung und Markierung von Gerechtigkeit – oder einer auf übergemeinschaftlichen Verhältnissen beruhenden Nähe – über Gruppeninteressen hinweg; es kommt darauf an, die Vorzüge von Partikularismus und Universalismus zu vereinen. Geöffnete (solidarische) Zugehörigkeit weiß, dass sie sich in der Welt vollziehen muss – daher die Zugehörigkeit – und sie weiß gleichzeitig, dass die Erkenntnis dieses Verhältnisses das Wissen um ein Verhältnis zur Welt einschließt – daher die Öffnung.137 Aus einem Verständnis geöffneter Zugehörigkeit lässt sich eine gehaltvolle Vorstellung von ‚Heimat‘ gewinnen, denn unterschiedliche Menschen brauchen in unterschiedlicher Ausgestaltung den Schutz und die Sicherheit einer leidlich überschaubaren Gruppe eines kulturellen Umfeldes, um ihr Leben führen zu können. Es kann sich schnell der Vorwurf der ‚Heimattümelei‘ einstellen. Doch gilt es, in Bezug auf ‚Heimat‘ Maß und Mitte auszupendeln und sich offen für Fremdes zu zeigen. Zu viele Unterschiede allerdings können eine Kooperation einschränken oder gar verhindern, die immer auch ein auszutarierendes Vertrauensverhältnis erfordert. Hingegen fördert reale und vorgestellte Bekanntschaft den Umgang mit globalen Problemen, sofern ein Horizont eines Ganzen vorhanden ist, in dem sich Menschen sehen und einordnen. (Im Einheitsverständnis unterscheiden sich Globali-
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Vgl. Jürgen Habermas in: Auch eine Geschichte der Philosophie. Frankfurt/Main 2019, Bd. 1, S. 526: Die christliche Kirche „stand allen offen und integrierte ihre Mitglieder, indem sie durch alle ethnisch, sprachlich und kulturell trennenden Grenzen zwischen partikularistisch vergesellschafteten Kollektiven hindurchgriff.“ Dieser Ansatz ist anschlussfähig an Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns, insofern sich in Kommunikation, gleichgültig, ob zwischen Menschen einer Gemeinschaft oder Gesellschaft oder zwischen Fremden, Verhältnisse spinnen, die in der Interaktion moralrelevant sind. Dieser Ansatz ist in gewisser Weise universalistisch, realisiert sich aber in Formen der Nähe zwischen Menschen. 189
sierung und Kosmopolitismus. In der ‚Globalisierung‘ liegt eine Dominanz des Einheitlichen, das das Besondere an den Rand drängt. ‚Kosmopolitismus‘ stellt den für alle geltenden Kern des Menschlichen, also die humane Substanz, einschließlich ihrer Besonderheiten, ins Zentrum. Kosmopolitisch sind kulturelle Umfelder – man könnte sie auch als ‚Heimat‘ bezeichnen – erwünscht, weil sie eine spezifische Form lebendigen Zusammenseins ermöglichen. Kosmopolitismus setzt einen Kosmos, ein wohlgeordnetes, aber nicht vollständig erkanntes, vor allem kulturelle geprägtes Ganzes voraus. Daraus leitet sich ein – nicht argumentativ ausgewiesenes – Wissen in kulturellen Umfeldern ab. Dieses Wissen kann sich selbst nicht absolut setzen.) So wie es jetzt bereits in vielen Ländern einen gesellschaftlichen Ausgleich zwischen den Interessen verschiedener Gruppen gibt und geben sollte, so kann es einen solchen Ausgleich auch zwischen verschiedenen Gesellschaften geben. Eine solche Einstellung, soweit sie den einzelnen und nicht politisch-öffentliche Regelungen betrifft, ließe sich als Tugend der ortsgebundenen Verantwortung oder als geöffnete Zugehörigkeit bezeichnen. Eine eher auf Vertrauen aufgebaute Sitte des Nahbereichs wäre verbunden mit der Einübung in ein ortsüberschreitendes Denken, das für sich genommen kalt und blass bliebe, grob gesagt, eine Herzensmoral der Nähe und kalte Prinzipienmoral würden einander ergänzen. Möglicherweise lässt sich die Vereinigung von Partikularismus und Universalismus in einem zeitlichen Prozess darstellen: Nach einer Gruppenmoral, die universalistisch abgelöst wird, kann sich in einem dritten Schritt eine situative Moral, in der Fremde geachtet werden, entwickeln. Dieser dritte Schritt bleibt ein Prozess, ausgehend von geöffneter Zugehörigkeit.138 Was ergibt sich aus unseren Überlegungen für unser Verständnis von Verhältnissen? Verhältnisse sind an vertrauensvolle Nahbeziehungen geknüpft. Das macht es schwierig, aus ihnen einen Umgang mit der ökologischen Krise und einen fairen Umgang mit Menschen anderer Nationen und Kulturen zu entwickeln. Nahbeziehungen allein erweisen sich als untauglich für die Lösung ökologischer Probleme (was manche historisch begründen, manche soziologisch, manche genbiologisch). Insgesamt kann Vorstellungskraft, Offenheit, aber auch Zugehörig-
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Vgl. Jürgen Habermas zu einem nicht-abstrakten universalistischen Verständnis des Umgangs gegenüber Fremden, das auf der Erweiterung von Einstellungen gegenüber Nahestehenden basiert: Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2. Frankfurt/Main 2019, S. 792f. 190
keit wegweisend sein, ebenso wie das weitere Arbeiten daran, dass gegenwärtig schon klar formulierbaren Rechten und Pflichten eine übernationale Macht folgt, die sie durchsetzen kann. Was folgt für unser Verständnis von Selbstbestimmung, Moderne und Tradition? Selbstbestimmung ist untauglich für die Gestaltung von Fern- wie für Nahbeziehungen. Eine fixe Tradition ist untauglich, weil sie nicht auf Wandel reagieren kann. Und sie ist anfällig für gruppenbezogene Egoismen und Ignoranz. Wer sich einer festen Idee verschreibt, der konstruiert sich eine Identität durch Zugehörigkeit zu ihr. Der wird sich anderem nicht öffnen können, weil er seine Identität so definiert hat. Wer sich hingegen den seinen in Verhältnissen zu ihnen zugehörig fühlt, wird sich anderen leichter öffnen. Er hat in seinen Verhältnissen nämlich immer schon Differenzerfahrungen gemacht. Takt, Mehrperspektivität und Staunen führen dazu, Zwischentöne zu bemerken und mit ihrer Hilfe zusammen mit anderen zu leben. Das wiederum unterstützt den Umgang mit Ambiguität, mit Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten, und daher einen differenzierten Umgang mit Fremden. Offensichtlich werden Menschen in freien Gesellschaften leichter auch über Stammes- oder Nationsgrenzen hinweg solidarisch. Denn in kollektivistischen Gesellschaften lautet das Prinzip eher ‚wir versus die anderen‘. Menschen scheinen sich jedoch besser für andere öffnen zu können, wenn sie sich auf solidarische Verhältnisse zwischen Nahestehenden verlassen können, mit denen sie aufwachsen und deren Verbundenheit zu ihnen sie als selbstverständlich erleben. Der westliche Gemeinschaftsverlust, den individualistische Menschen heute erleben, befördert dies explizit nicht. Solidarität und Selbständigkeit müssen gemeinsam etabliert werden. Außerdem scheint in freien Gesellschaften Verbundenheit zwischen Menschen besser in den Emotionen einzelner verankert zu sein. In kollektivistischen Gesellschaften, so rekonstruiert Philipp Hübl, werden moralische Gefühle von Menschen eher dann aufgerufen, wenn Werte wie Loyalität, Autorität und Reinheit auf dem Spiel stehen, während sie in individualistischen Gesellschaften dort anspringen, wo es um Fürsorge, Fairness und Freiheit geht. In die Tugenden der Verhältnisse übersetzt, die wir hier diskutieren, bedeutet das, dass Treue und Verbundenheit (die sich in Fürsorge und Loyalität ausdrücken), Mehrperspektivität (die sich in Fairness zeigt), Staunen (in Freiheit und Fairness) und Vertrauen (verstanden als Loyalität ohne inkonditionalen Kadavergehorsam) sich besser in freieren 191
Gesellschaften ausprägen können. In kollektivistischen Gesellschaften hingegen scheinen sich strengere Moralvorstellungen und zu ihnen passende moralische Gefühle zu bilden – die außerdem nur auf das eigene Kollektiv bezogen werden. Die Welt wird dort eher als Kampfplatz angesehen, und in diesem Sinne werden Menschen in solchen Gemeinschaften offenbar auch gefühlsmäßig erzogen.139 Interessant ist die Zuordnung der Firmenkollektive, in denen sich ‚shifting baselines‘ etablieren. Scheinbar entscheiden sich Menschen individuell dazu, in ihnen zu arbeiten, um gewisse Ziele zu erreichen. Faktisch orientieren sie sich, arbeiten sie erst einmal in der gewählten Firma, an den autoritativen Werten, die in kollektivistischen Gesellschaften gelten. So scheinen sich individualistische, selbstbestimmte Gesellschaften, in denen Solidarität nicht etabliert ist, zu wenig für viele Perspektiven zu öffnen; daher wohnt ihnen eine Tendenz zum Kollektivismus inne. Es bedarf einer solidarischen Tradition, die im Nahbereich aufgebaut wird und in der Fremde und Ferne beachtet wird; eine solche Tradition diente der Anregung und Auseinandersetzung. Natürlich wäre es am wünschenswertesten, die Freiheit jedes einzelnen bestünde darin, dass er ein deutliches Gefühl dafür hat, was es heißt, möglichst viele andere Menschen, denen er begegnet und die er in seiner Vorstellung im Blick hält, zuzulassen und in der Weise zu achten. Aber das bleibt eine Utopie. Dennoch zeigt sich die Freiheit des Menschen darin, dass er seinen Bedürfnissen nach Vorteilssuche nicht ausgeliefert ist, dass er staunen kann, wenn er Fremden begegnet, dass er seinen eigenen Etikettierungen anderer nicht auf den selbstgelegten Leim geht und dass er in einem politischen Prozess mit anderen darum ringt, überregionale Probleme, die er sich vor Augen führt, zu lösen.
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Philipp Hübl, Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken. München 2019, S. 76ff., 177, 325. 192
9 Freiheit und Würde Aus nichts wird nichts
Soll ich mich insgesamt an vorgegebenen Traditionen orientieren oder selbstbestimmt durchs Leben gehen, d. h. mein Maß nur in mir und meiner Autonomie finden, um nicht abhängig von anderen zu sein? Beginnen wir mit einer These – Selbstbestimmung und Fremdbestimmung sind keine Gegensätze: Selbstbestimmung ist im Kern Fremdbestimmung. Ein selbstbestimmter Mensch lebt nicht im Verhältnis mit anderen, daher kann er nicht frei wägen, was er tun will. Er orientiert sich, ohne sich darüber im Klaren zu sein, an der Masse und glaubt, das sei, was er wolle.140 Umgekehrt sind Fremdeinflüsse die Basis für Freiheit. Tradition und Freiheit sind ebenfalls keine Gegensätze, Freiheit bedarf der Auseinandersetzung mit Traditionen; eine Begegnung mit Fremdem kann als Chance einer Selbstbegegnung verstanden werden. Insofern ist die Alternative zwischen einer freien Welt und einer traditionsorientierten schief, ebenso wie die zwischen einer auf Selbstbestimmung gegründeten und einer auf Fremdbestimmung gegründeten Gesellschaft. Eine traditionsorientierte Gesellschaft bzw. Gemeinschaft, die unverrückbare Traditionen als Maßstab festlegt, enthält ebensoviel Willkür, wie diese im Konzept der Selbstbestimmung angelegt ist.141 Fremdbestimmung und Selbstbestimmung sind Modelle der Herrschaft.
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Der vermeintlich Selbstbestimmte weiß nicht darum, dass er im unbestimmt Ganzen lebt, und sein Unwissen verführt ihn dazu, diese Leerstelle selbst zu besetzen. Dabei läuft er Gefahr, sich nach einer als von außen kommend erlebten Struktur zu sehnen: individuelle Identität enthält oft den Wunsch nach einer Rollenidentität, auch dort, wo sie vorgibt, sich gerade von einer solchen loszulösen. Vgl. Navid Kermani, Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München 2009, S. 15, 30, 31: „Fundamentalistische Lebensentwürfe sind attraktiv, weil sie die Menschen mit dem versorgen, was ihnen in der modernen, globalisierten Welt am meisten fehlt: Eindeutigkeit, verbindliche Regeln, feste Zugehörigkeiten – eine Identität. […] Das bedeutet, daß just mit der Auflösung festgefügter Identitätsmuster, wie sie die Glo193
Die Tugend von Menschen im Umgang mit sich selbst, mit anderen und dem in einer Gesellschaft Vorgefundenen lässt sich als traditionsorientierte Freiheit bezeichnen. Ein freier Mensch orientiert sich in, an, durch, mit Traditionen und über sie hinaus. Nur wer Selbstbestimmung als einen Fortschritt gegenüber einer an Traditionen orientierten Gesellschaft ansieht, kann Vertrauen und Nahverhältnisse geringschätzen; er hat sich im Namen der Kritik an fixen Traditionen und an Fremdbestimmung von der Eingebundenheit in Verhältnisse verabschiedet und damit ein hohes Gut verspielt. Alle bisher dargestellten Tugenden weisen auf Freiheit, die die anderen Tugenden zusammenfasst. Der bescheidene Mensch ist frei im Umgang mit sich selbst, und er öffnet der Freiheit zwischen Menschen den Raum. Der anderen treu verbundene Mensch wird in seiner Freiheit durch andere gestützt und getragen, und er trägt sie in ihrer Freiheit. Treue Verbundenheit befreit, auch wenn Menschen sich in ihren Beziehungen unfrei fühlen mögen – in denen sie dann gerade nicht mit ihren Partnern verbunden sind. Taktvolles Handeln ist per se freies Handeln, in dem mit Formen gespielt wird. Freiheit zeigt sich in der Erweiterung von Perspektiven. Wer Vertrauen erlebt, fühlt sich in einer umhüllenden Eingebundenheit freigelassen, er erlebt die Geburt der Freiheit aus dem Vertrauen heraus – insofern ist Freiheit immer verdankt –; wer Vertrauen gibt, lässt andere frei und wünscht ihnen Freiheit. Da Staunen den Eigensinn der Wirklichkeit zur Geltung kommen lässt, macht es frei von Etikettierungen, Dogmen und Vorurteilen. Schließlich befreit die Öffnung für Fremde von kleingeistigem Gruppendenken, indem Beziehungen von Nähe zu Ferne hin erweitert werden. Freiheit ist bei alledem als Fähigkeit aufzufassen, sie ist eine Disposition, das heißt eine gegen Verfestigungen anarbeitende Umgangsweise mit sich und anderen. Das unterscheidet sie von einer ursachenlosen Willensentscheidung. Das Konzept der Willensfreiheit ist auf Basis der Fiktion einer individualistisch verstandenen Autonomie des Menschen entstanden. Freiheit ist nicht als der Sozialität vorausliegende menschliche Eigenschaft zu denken; das Handeln des Menschen ist vielmehr komplex als akausal. Freiheit ist als Aufgabe zu verstehen. Der
balisierung mit sich bringt, offenbar der Drang entsteht, sich an etwas festzuhalten, was als Eigenes, als Merkmal, das einen von den anderen unterscheidet, zu reklamieren wäre. […] Niemand bricht radikaler mit der Vergangenheit als jene Gruppierungen, die in die Vergangenheit zurückkehren wollen.“ 194
Mensch ist zur Freiheit fähig und erwirbt Freiheit in einem gemeinschaftlichen Bildungsprozess: Er wird freier, indem er mehr Verhältnisse wägen kann und so eine Disposition zu sich selbst und anderen erwirbt. In dieser inneren Ordnung werden Bedingungen gewogen. Dadurch baut ein Mensch sich eine relative Handlungsfreiheit in Verbundenheit zu dem auf, was ihn prägt und anregt. Freiheit kann durch mehrfache (und unbestimmte) Determination ausgelöst werden. Wird jemand mehrfach geprägt, kann er sich mit seinen Bestimmungen auseinandersetzen. Das Problem der Willensfreiheit ist ein Scheinproblem, das nur entstehen konnte, weil man den einzelnen losgelöst von seiner Umgebung gedacht hat, als würde er aus sich heraus Handlungsantriebe schöpfen. Es entsteht aus dem unverständlichen Menschenbild eines selbstbestimmten Wesens. Nur so konnte man dahingelangen, Freiheit als eine (fremd)ursachenlose Handlung anzusehen, die von einem durch nichts bedingten Willen ausgelöst sein sollte, und danach zu suchen, ob eine solche in der Welt möglich wäre. Wollte man diese Aufgabe argumentativ bewältigen, musste man dasjenige bestimmen, was der Grund für die fehlende Heteronomie im Willensleben des Menschen denn sein könne. Dadurch war die Aufgabe gleichzeitig unlösbar – denn Freiheit ereignet sich im Unbestimmten und ist eben darum nicht erforschbar. Der Mensch entscheidet sich für etwas in einem komplexen Nebelgeflecht, in dem Verhältnisse zu anderen Menschen und zu sich selbst eine zentrale Rolle spielen. Mit Hilfe von Tugenden erwirbt er einen Freiraum, mit diesen Verhältnissen zu spielen. So gesehen entspringt die Frage, was ein Laplacescher Dämon vorhersagen kann und überhaupt sein könne, einem schon wahnsinnig zu nennenden Bestimmtheitsanspruch; sie entsteht aus einem Blick, der wirklich von nirgendwoher erfolgen könnte.142 Was ist auf dieser Grundlage ein wohlverstandes Verständnis von Freiheit? Wie in der Einleitung gesagt, ist Freiheit Zulassung, sanfte Freiheit, wie Schelling formulierte. Das meint im Gegensatz zu einengender, begrifflich reduzierender, in Zuschreibungen feststeckender Erwartungshaltung eine Einstellung, in der man anderen etwas zutraut, sie als ‚Mehr‘ ansieht. Darin steckt eine Anerkennung anderer, die mehr als Wertschätzung und das Bekenntnis zu ihnen ist, nämlich eine Potenzialhaltung. Die ‚Achtung der Würde des Menschen‘ drückt das so genau 142
Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie Bd. 2. Frankfurt/Main 2019, S. 581f. 195
aus, wie es möglich ist. Denn wir achten hierbei etwas, das uns ganz und gar entzogen ist. Wir entsagen uns, jemand anderen ganz in unseren Denkhorizont hineinzuziehen. Erst diese Entsagung öffnet uns für einen anderen als anderen – und für unsere Verbundenheit zu ihm. Insofern Freiheit jenseits von Kriterien liegt, steckt im Begriff der Freiheit die Unbestimmtheit. Und darin gründet die Achtung der Unbestimmtheit unserer Verhältnisse, in denen wir zu anderen stehen. Diese Beachtung erstreckt sich jedoch nicht nur auf unsere Mitmenschen, sondern ebenso auf die Natur, das Ganze der Wirklichkeit und uns selbst. Das bedeutet, Freiheit zeigt sich darin, eine eigensinnige Wirklichkeit zuzulassen. Das ist ein Gedanke, der ökologisch relevant ist und der einen spielerischen Umgang mit sich selbst erlaubt. Und der ein staunendes, vielleicht schwebendes Gefühl dafür zulässt, in einer unbekannten Welt zu leben und in sie hineingestellt zu sein. Diese Gefühle angesichts eines Unbestimmten führen, das wollen wir zeigen, zu Verbundenheit. Zunächst zeigt sich Freiheit als Fähigkeit, Unterscheidungen vornehmen zu können. Wer das kann, vermag Überliefertes zu übernehmen und neue Positionen vorzuschlagen. Wenn man die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen, in den Mittelpunkt der Freiheit stellt, ergeben sich schnell die Fehldeutung der Freiheit als Selbstbestimmung und ein individualistisches Selbstverständnis. Es ergibt sich ein Denken, das von Prinzipien ausgeht. Vor dem Hintergrund eines unbestimmt Ganzen ergibt sich jedoch das Wissen, dass die Wirklichkeit nie vollständig, sondern nur in Ausschnitten erkannt werden kann. Das setzt der Selbstbestimmung unbestimmte Grenzen, die handelnd erfahren werden. Diese Erfahrung wiederum kann man ebenfalls fehldeuten, nämlich als Ausgeliefertsein an Vorgegebenes, an eine Tradition, und als Schicksal. Wer das tut, lebt im Gefängnis der Überlieferung. Einen Ausweg aus diesen beiden Fehlvorstellungen bietet es, sich als ungefähres Wesen zu verstehen. Freiheit ist negativ die Unabhängigkeit von beziehungsweise der Umgang mit Bestimmungen, daher können sich Menschen durch Selbstbesinnung von Etikettierungen und Selbstetikettierungen, von ‚Selbst-bestimmungen‘, befreien. Positiv verstanden ist Freiheit die Zulassung von Besonderem. Warum nun ergibt sich aus diesem Verständnis von Freiheit Solidarität? Zunächst könnte man denken, Freiheit führte entweder zu Selbstbestimmung oder zu Solidarität. Freiheit befördert die Wahrnehmung von Komplexität und die Achtung von Eigensinn. Freiheit macht einen Menschen sich selbst gegenüber dis196
ponibel dafür, überhaupt etwas anderes wahrzunehmen. Er etikettiert es nicht, er öffnet sich. Freiheit als Zulassung bedeutet sodann, anderes zu achten und es in dessen Freiheit zu wahren; das drücken wir üblicherweise mit der Achtung der Würde eines anderen aus. Sodann stellt Freiheit keine Solidarität sicher – Freiheit ist Freiheit –, aber wer sich der Bedingungen seiner Freiheitsfähigkeit innewird, ist dankbar dafür, und er hat gelernt, seinen Mitmenschen zu vertrauen, die diese Bedingungen verkörperten. Er weiß sich in seiner Freiheit eingebettet in eine Gemeinschaft; die Freiheit erweist sich als eine Freiheit in Eingebundenheit. Solche Freiheit muss je aktualisiert werden, das heißt, es braucht Gelegenheiten, in denen Menschen ihre Eingebundenheit in Freiheit erfahren: in Gesprächen, in nicht bloß rhetorischer Würdigung, die sie als Arbeitnehmer erfahren, in demokratischen Prozessen auch über Regierungsverantwortung hinaus. Im Gefühl, partizipieren zu dürfen, gehört zu werden, sodass aus der Anhörung Taten folgen oder Schlussfolgerungen gezogen werden. Tugenden entspringen der Ernstnahme der Verhältnisse, in denen wir leben. Tugenden der Freiheit tragen gleichzeitig den spezifischen Errungenschaften der Moderne Rechnung: freies Zusammenleben, Beachtung der Freiheit jedes Menschen, das Ringen um die Gestaltung der Wirklichkeit in Gespräch und Dialog, die argumentative Suche nach Konsens, Vergegenständlichung von Dingen im Rahmen menschlicher Wissenschaft und Lebensgestaltung, aber ohne den Preis der gänzlichen Instrumentalisierung aller Dinge und Zusammenhänge. Zusammengefasst sind das Tugenden der Freiheit, die in Solidarität gedeihen und sie begünstigen. Leben in Verhältnissen, Freiheit und Achtung sind untrennbar miteinander verknüpft und verbinden Sozialität und Selbstverständnis des Menschen. Wer in Verhältnissen lebt, kann andere wahrnehmen und in der Gegenwart leben, und er kann frei werden, mit anderen zusammen und durch sie, und durch das, was er selbst nicht ist. Freiheit, die Wahrnehmung anderer, Unbestimmtheit und Würde hängen eng zusammen. Würde, wie sie in § 1 des deutschen Grundgesetzes ausgesprochen ist, ist eine verpflichtende Bindung an eine Unverfügbarkeit im Sinne eines unbestimmten Höheren, von dem her Menschen ihr Selbstverständnis gewinnen. Und das kann – gerade und nur als Unbestimmtes – maßgebend für die Gestaltung von Lebensumständen und des Zusammenlebens von Menschen werden. Die Ausrichtung des Lebens von Menschen auf diese Würde hin führt zur Wahrheit zwischen Menschen, d. h. dass sie einander und sich als Unverfüg197
bare offenbar werden können. Verpflichtende Bindung ist dabei als pflegende, treu werdende Ausrichtung zu verstehen, im Sinne einer freien Zulassung. Das heißt, man sieht sich und andere als in ihrer Unverfügbarkeit zu Schützende an. Jemand, der sich, eingebettet in ein Unbestimmtes, als verbunden mit anderen begreift, kann eher etwas und andere zulassen kann als jemand, der sich ein festes Ich aufgebaut hat, das ihm als Maßstab in seiner Lebensführung dient. Das lässt sich am Beispiel ‚entmenschlichter Zustände‘ (oder ‚unmenschlicher‘) illustrieren. Wer davon spricht, dass irgendwo ‚entmenschlichte‘ Zustände herrschen, der kann das mit Verweis auf Missachtung, Verdinglichung und fehlende Berücksichtigung von Menschenrechten tun. Faktisch aber haben Menschen, die andere massiv ‚entmenschlicht‘ behandelt haben, stets ihre Gründe gehabt, die außerhalb dieser großen Begriffe liegen – keiner, der andere missachtet, legt sich als Prinzip die Außer-Kraft-Setzung von Menschenrechten vor, vielmehr: Der andere war sündig, ein Untermensch, er hatte als Frau keine Rechte, als Kind, Behinderter oder Andersgläubiger, „ich muss meine Interessen durchsetzen“ etc. Beispielsweise wurden in irischen katholischen Heimen junge Frauen gedemütigt, die uneheliche Kinder zur Welt brachten. Die Kinder wurden schlecht behandelt und starben weit überdurchschnittlich häufig. Die Begründung aber war: Die jungen Frauen waren vom Teufel besessen, sie hatten gesündigt, und die Kinder solcher Verhältnisse waren ‚infolgedessen‘ nicht so überlebensfähig. In all diesen Fällen wurden Menschen als ‚so-und-so‘, als (und nur) ‚als-etwas‘ angesehen. Sie wurden nicht als Besondere angesehen. Es war ‚notwendig‘, sie so-und-so zu behandeln, weil sie so-und-so begegneten. Was hier fehlt, ist Freiheit. Die Achtung der Würde eines Menschen zeigt sich darin, dass wir ihm in Freiheit begegnen. Da Freiheit mit Solidarität verknüpft ist, zeigt sich Achtung der Würde außerdem darin, die Verhältnisse zwischen Menschen in den Blick zu nehmen. Zunächst wird in Würde eine gewisse Gestalt gewahrt, und ein Mensch (und ein Teil der Welt) wird in gewisser Weise im Unbestimmten belassen, ihm wird ein Spielraum der Freiheit bzw. Eigensinnigkeit gewährt. Würde ist so gesehen die Harmonie zwischen Unbestimmtheit und Form, zwischen unbekannt-unbestimmter Potenz des Menschen und Ausdruck, zwischen Innen und Außen.143 Außerdem 143
Vgl. zu diesem Verständnis von Würde: Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn 1924). Frankfurt/Main 2016, S. 75 (Der Kampf ums wahre Gesicht. Das Risiko der Lächerlichkeit.) Würde berührt für Plessner 198
betrifft Würde die Achtung der Pole, zwischen denen Verhältnisse etabliert sind. In Würde wird der Mensch geachtet, der Mitmensch, die Umwelt und das Ganze der Wirklichkeit. Weiterhin hat etwas Würde, vor dem wir, bildlich gesprochen, stehenbleiben, das wir als etwas Besonderes in Augenschein nehmen – wir drücken das üblicherweise so aus, dass wir jemandem die Würde lassen bzw. wahren, bezogen auf Menschen lässt sich dieser Gedanke, wie im deutschen Grundgesetz formuliert, radikalisieren: Würde hat, wer nicht (nur) als Mittel gebraucht wird, sondern als Selbstzweck, um seiner selbst willen angesehen wird, wessen Schutz in gewisser Weise ‚heilig‘ ist, Würde beruht so gesehen auf der Sakralität einer Person, insofern sie ein Mensch ist.144 Achille Mbembe und Pankaj Mishraj rekonstruieren unsere moderne Welt, egal ob auf der Seite des sogenannten ‚Westens‘ oder auf der Seite ‚der anderen‘, beispielsweise der Kulturen des Nahen Ostens, als eine Welt ohne Beziehung.145 Die Menschen aller Staaten versuchen, sich vor anderen abzuschotten. Sie achten die Verhältnisse, in denen sie leben, nicht. Sie ignorieren sie vielmehr. Das gilt überraschenderweise auch für Menschen der sogenannten liberalistischen Denkungsart.
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hier die Ganzheit des Menschen. Ist diese nicht gegeben, erscheint der Mensch, sei er auch noch so moralisch, lächerlich. Vgl. anders Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Frankfurt/Main 2015. S. 73 „Ich bin in meinem Wollen wie versteinert. (…) Die Würde der inneren Selbständigkeit ist nicht ans Gelingen geknüpft, sondern an das Bewußtsein vom Ziel und an die Anstrengung. […]. [Würde] geht erst dann verloren, wenn die Selbständigkeit als Ziel aus dem Blick gerät.“ Wir setzen hier die Wahrung von Eigensinnigkeit ins Zentrum, während Bieri – damit verträglich – die Selbständigkeit in den Fokus rückt. Vgl. Franziskus von Heereman, Identitätsfragen: Deutsch sein, was bedeutet das eigentlich? FAZ vom 19.07.2018 (FAZ Plus Artikel Identität und Werte: Wer zu Deutschland gehört). Pankaj Mishra rekonstruiert unter Berufung auf René Girard (Der Sündenbock, Das Heilige und die Gewalt) in Das Zeitalter des Zorns (ders.: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Frankfurt/Main 2017 (orig.: Age of anger. A History of the Present. London 2017), S. 80f., 237, 301, 315ff.) beispielsweise die Art des Zusammenlebens von Menschen in der Zeit der Aufklärung, die die Moderne vorbereitet. Statt wohlwollender Ausrichtung auf andere und einer Einbettung in eine Gemeinschaft mit ihnen herrsche und herrschte eine mimetische Rivalität. Man richtete sich an Vorbildern aus, mit denen man konkurrierte. Der Rivale, der zum Vorbild wird, ist das Vorbild, der zum Rivalen wird. Das ökonomische Konkurrenzmodell kapitalistischer Gesellschaften wird zum Vorbild der Beziehungen zwischen Menschen. Vgl. Achille Mbembe, Politik der Feindschaft (2013). Berlin 2017. 199
Denn diese bekennen sich zwar zum sogenannten Weltbürgertum, zur Idee eines alle Menschen aller Staaten umfassenden Menschenrechts. Diese ‚moralische Globalisierung‘ bleibt aber ort- und heimatlos, der liberalistisch gesonnene Zeitgenosse baut überwiegend keine solidarische Praxis mit anderen auf, sondern lebt als Egoist. Denn er denkt seine Identität im Sinne einer bezugslosen Insel, er kennt keine Heimat und keinen festen Ort, von dem aus er in Beziehung zu anderen treten könnte (und wollte), die nicht gerade in seine Absichten und Pläne passen. Die Beziehungslosigkeit prägt ebenso solche Kollektive, in denen Menschen anderer Auffassungen oder Nationen deshalb nicht als gleichwertige zugelassen werden, weil diese nicht zu ihrem Kollektiv gehören. Menschen, die eher gemeinschaftsbewusst leben, spüren die Ortlosigkeit der modernen Welt, sind ihr gegenüber aber ohnmächtig und leiden unter dem modernen Selbstverständnis, unter der Rücksichtslosigkeit, der Zersiedelung von Städten, unter Slums und ökonomischer Ungleichheit. Aber gleichzeitig haben sie nicht etwa noch eine lebendige Tradition, sie sind genauso die Entwurzelten und Modernen, und sie suchen sich einen Halt in einer Idee, einem festen Kollektiv, das ihnen als absolut gilt – statt in einer Idee einer lebendigen Familien- und Gesprächstradition. Die Beziehung, die sie zu anderen haben, ist in eine feste Form gegossen, insofern feste Verhaltensregeln herrschen; ebenso ist das Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit in eine Ideologie eingebunden. Der liberale Zeitgenosse, so wie er eben skizziert wurde, lebt ebenfalls in einem klar definierten Verhältnis zu anderen: Sie sind gleichgültig oder sie interessieren, aber nur und genau dann, wenn sie in die eigenen Absichten eingefügt werden können, oder wenn sich an ihnen die Idee der Toleranz exemplifizieren lässt. In dieser Hinsicht und im Blick auf dieses Kriterium werden sie: gescannt. Das gilt gleichermaßen für das Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit: Es wird nicht betrachtet. Beziehungsweise, hier lässt sich auch das genaue Gegenteil behaupten, denn der so verstandene moderne Mensch setzt sich selbst statt eines Ganzen. Er hält sich selbst für das Größte. Insofern ist das Selbstverhältnis des modern-liberalen (selbstbestimmten) Menschen ebenfalls durch eine feste Form gekennzeichnet: Ich folge immer meinen Antrieben, ich soll mich selbst verwirklichen usw., das setzt sich dieser Mensch als festes Antriebsprinzip. (Jedes Begehren wird als Bedürfnis ausgegeben, W. Kamlah.146) 146
Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Zürich 1972. S. 52ff. 200
Gemeinsam ist (selbstbestimmt)westlichen und eher (fix)kollektivgebundenen Menschen: Die Umstände, wie sie als gut, richtig oder notwendig aufgefasst werden, orientieren sich an festen begrifflichen Leitlinien. Die Verhältnisse selbst sind in der Argumentation das Zweite, Abgeleitete. Als erstes steht das individuelle oder das kollektive Prinzip, dem dann das Verhältnis zum anderen untergeordnet wird. Würdelos sind beide Arten von Leitlinien, insofern der andere in diesen starren Formen nur soweit erscheint, wie er unter dem Licht dieser Prinzipien begegnet. Der andere wird nicht angesichtig, und er wird nicht in einem Eigensinn zu sehen versucht. Gemäß dem sogenannten CAD-Modell werden moralische Werte in die Bereiche der Autonomie, Gemeinschaft und Heiligkeit eingeteilt.147 Würde legen wir üblicherweise in den Bereich der Autonomie. Denn wir gehen mit Immanuel Kant davon aus, wessen Würde wir achten, den sehen wir als Zweck an sich selbst an. Es wäre einen Versuch wert, die moralpsychologisch erforschten Prinzipien der Reinheit und der Loyalität, also solche, die in die Bereiche von Gemeinschaft und Heiligkeit gehören, zur Würde zuzuordnen. Das erweiterte das Verständnis von Würde. Zunächst entspräche es nicht unseren Intuitionen, denn wir verbinden Reinheit mit Fremdenfeindlichkeit und mit Ekel vor Verletzung liebgewordener Gewohnheiten, und wir verknüpfen Loyalität mit unkritisch zustimmender Verbundenheit. Außerdem verbinden wir unbedingte Treue mit Heiligkeit. Würde den beiden anderen Bereichen zuzuordnen, wäre aber förderlich. Denn dann könnte die Achtung der Würde mit Emotionen verbunden werden (und in der Erziehung so auftauchen), die üblicherweise zu geschlossenen Gemeinschaften und zu religiösen Einstellungen gehören. Das wiederum würde die Motivation der solidarischen Beachtung anderer befördern. Wie könnte das geschehen? Zu Loyalität könnte die Beachtung der Würde anderer emotional gelegt werden, wenn jemand sich anderen Menschen verbunden fühlt und ihnen darin zustimmt, dass alle Menschen eine Würde – so wie er selbst – haben. Zu Reinheit könnte sie emotional passen, wenn jemand ein Selbstverständnis aufbaut, in dem die Verletzung menschlicher Würde als ekelhaft empfunden wird. Eine solche Disposition wird 147
Vgl. Philipp Hübl, Aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken. München 2019, S. 76, mit Bezug auf Paul Rozin u. a., The CAD Triad Hypothesis, A Mapping Between Three Moral Emotions (Contempt, Anger, Disgust) and Three Moral Codes (Community, Autonomy, Divinity). In: Journal of Personality and Social Psychology 76, S. 574–586. 201
üblicherweise durch Bildung aufgebaut, wenn Kinder mit Unmenschlichkeiten wie den Gräueltaten des Dritten Reichs konfrontiert werden. Die Würde aller Menschen zu achten kann dann als eine Art heiliger Pflicht oder, weniger streng, als eine Heiligung des Menschen selbst angesehen werden, also als Idee, ihn aus dem Bereich des Verfügbaren oder Minderwertigen herauszuholen. Wie können darüber hinaus würdelose Verhältnisse aussehen, nämlich dort, wo andere Menschen in fester Form betrachtet werden? Die anderen werden kriteriologisch betrachtet, der Bezug zu ihnen wird quasialgorithmisch hergestellt, dementsprechend sind sie gleichgültig und werden instrumentalisiert. Mitmenschen werden auf Eigenschaften hin etikettiert und reduziert, die als unabänderlich angesehen werden.148 Das Verhältnis zum Ganzen wird entsprechend eingenommen. Dasjenige, an dem sich solche Menschen orientieren, ist etwas, das sie als fix ansehen, auch wenn es in Wirklichkeit nebulös ist – sie begreifen sich von der Idee der Selbstbestimmung her, von der Nation, der Rasse, des Volks, der Kultur oder der Demokratie. Es wird als etwas Bekanntes angesprochen, obwohl es unbekannt ist, nicht existiert oder kein Zusammenleben eröffnet. Es sind Gott-Surrogate. Das Ganze – oder, sagen wir, der Sinn des Ganzen – wird unter das Joch eines Prinzips gezwungen, unter eine begrenzte, scheinbar begriffene Idee. Der Mensch glaubt, er könne alles erklären. Von hier aus ist auch die Rückkehr der alten Männer als Vorbilder, als solche, die man sich an der Spitze der Gesellschaft herbeisehnt, verständlich; sie entspringt einer Sehnsucht nach Ordnung ‚des Ganzen‘. Das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst kann funktionalistisch sein: Jemand kann sich ein Korsett seiner Lebensführung anlegen und ein Leben leben, von dem er weiß, es hat mit seinen Bedürfnissen und Zielen gar nichts zu tun. Er kann aber auch, ebenso seine Identität festzurrend, eben diese als Maß aller Dinge ansehen. In beiden Fällen handelt es sich um einen Menschen, der alles genau
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Wenn wir so rekonstruieren, nehmen wir dabei nicht an, der Mensch habe eine unbestimmte Identität ‚hinter‘ der der begrifflich erfassbaren, oder dass ‚Identität‘ ein Konzept sei, das sich ‚neben‘ den Begriffen oder ‚unabhängig‘ von ihnen bilde. Das wäre in der Tat ein merkwürdiges Konzept. Aber mit Helmuth Plessner gehen wir davon aus, der Mensch ist nicht nur das Festgeschriebene, sondern immer auch jemand, der sich nachdenklich, flüchtend und an ihnen abarbeitend zu seinen Festschreibungen verhält. Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924). Frankfurt/Main 2001, S. 62ff. 202
dann tut, wenn es seinem Vernunftbegriff entspricht, um jemanden, der nur sein Maß kennt.149 Heutige psychologische Modelle können verhindern helfen, ‚feste‘ Strukturbeziehungen zwischen Menschen zu etablieren, indem in Beratungs- und Therapiesettings Muster und Selbstbezogenheiten aufgearbeitet werden. Beispielsweise ist dafür die Wahrnehmung von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen dienlich, wie sie in der Freud’schen Psychologie analysiert werden. Ein Gegenüber wird nicht länger im Lichte der determinierenden Vergangenheit gedeutet. Ebenso kann die Analyse bestimmter Ich-Zustände, die jemand in einer Kommunikationssituation einnimmt – wie in der Transaktionsanalyse –, befördern, dass jemand freier und rationaler an Gesprächen teilnimmt. Psychologische Fortbildungen und Beratungen übernehmen dabei heute manchmal die Rolle, die früher die weisheitliche Tradition der Philosophie oder Religionen einnahmen. Andererseits besteht die Gefahr, dass in psychologischen Modellen – so wertvoll sie in ihrer Fokussierung auf Aspekte der Psyche sind – ein eng perspektiviertes Verständnis der Wirklichkeit und des Menschen gestrickt wird, das Verhältnisse sogar verhindern kann. Manche psychologischen Strömungen fokussieren den einzelnen Menschen im Sinne eines Aspekts und führen damit seine Interessen sämtlich auf diesen Aspekt zurück. Das kann für die Entwicklung eines Menschen förderlich sein, der diesen Aspekt bisher vernachlässigte. Aber es kann zur Folge haben, dass der Mensch losgelöst von den Verhältnissen betrachtet wird, in denen er lebt. Die Heilung mit Hilfe manch psychologischer Theorie ist reduktionistisch und kann weltlos machen, Weltlosigkeit und Lieblosigkeit gehen dann Hand in Hand. Ein Beispiel dafür ist die heute so gern beschworene Konfliktfähigkeit, die von Arbeitnehmern erwartet wird, zumal von leitenden Angestellten. Sie gilt als Behauptungskraft, Durchsetzungsstärke – oder, wo das zu machtvoll erscheint, als würdigend-ignorantes Anhören von Anliegen. Hier lässt sich sehr genau das fehlende dialogische Verhältnis zwischen Menschen wiederfinden, das schon im Anforderungsprofil von modernen Mitarbeitern vorausgesetzt wird, denn es wird nicht Diskursivität erwartet, sondern die Fähigkeit, dort, wo Diskursen und Ge149
Um hier die offensichtlich entwürdigenden Verhältnisse zur außermenschlichen Umwelt nur kurz zu erwähnen: Die Funktionalisierung von einem selbst geht oft einher mit einer Funktionalisierung der Umwelt; dabei braucht man noch nicht einmal an die drastische Behandlung von Hühnern in Hühnerfarmen zu denken, es genügt, sich den Abbau begehrter Rohstoffe durch notsuchende Arbeitnehmer vor Augen zu führen. 203
sprächen nichts zugetraut wird, die vorgegebenen Leitlinien ‚umzusetzen‘. Das heißt, es geht um einen strategisch klugen Umgang mit Macht und Ohnmacht. Umgekehrt: Wie sehen würdelose Verhältnisse aus, in denen auf Form verzichtet wird? Zunächst können sie darin würdelos sein, dass ein bestimmter Bereich von Verhältnissen nicht beleuchtet und daher nicht geformt wird. Wer (beispielsweise) alles in psychologische Diskurse umwandelt und darauf drängt, dass alle Aussagen (z. B., wenn in einer Firma gerade ein Konflikt darüber entbrannt ist, ob ein bestimmtes Verhalten fair gewesen ist) subjektiviert werden – „sag bitte, wie du dich gerade fühlst, sprich jetzt nur über deine Wahrnehmungen, nicht über etwas, von dem du ausgehst, es sei wirklich so gewesen“ – der blendet Gerechtigkeitsfragen und alle normativen Diskurse aus. Sie existieren für ihn nicht. (Denn Gerechtigkeitsfragen betreffen die Verhältnisse, also den Raum zwischen Menschen, und nicht die einzelnen Menschen in ihrer Subjektivität.) In der Folge unterstützt so eine Person ein Zusammenleben, das allein von Macht und Willkür gekennzeichnet ist – und von Ohnmacht. Die Auflösung von Diskursen über gutes Zusammenleben in psychologische Diskurse macht blind für gelingende zwischenmenschliche Verhältnisse, obwohl in der betreffenden Psychologie unter Umständen genau solche zu erzielen geglaubt werden (häufig aber dienen solche Psychologen nur den Mächtigen, die sie eingekauft haben). Wer auf solche Art psychologisch verschiebt, was in die Moral gehört, beraubt den Menschen seiner Sozialität, und er verwechselt „die interpersonale Bindungskraft von Werten, Verpflichtungen und Berechtigungen […] mit dem Appell von Aufforderungen im Sinne einer einseitigen Willensäußerung“.150 Kurz, er setzt außer Kraft, was den Menschen zum Menschen macht, und befördert seine Auflösung als eines Wesens, das erst durch Sozialität und Moral, durch die Anerkennung interpersonal-bindender Verpflichtungen zum Menschen wird. Fehlende Auseinandersetzung mit sich selbst liegt vor, wenn eine Person je nach Situation behauptet, „halt eben so zu sein“, wie sie ist. Diese Art von Authentizität verhindert jede Auseinandersetzung. Solche Verweigerung liegt auch vor, wenn jemand immer zwischen dem Verhalten eines Menschen und seinem ‚Wesen‘ unterscheidet. Zwar ist es berechtigt, jemanden nicht damit zu identifizieren, dass er etwas Schlechtes getan hat. Denn das verschließt ihm die Möglichkeit, 150
Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Frankfurt/Main 2019, Bd. 1, S. 266. 204
sich freiheitlich zu verändern. Aber die Betonung, dass jemand anders sei, als er sich gerade verhalte, ist auch ein Freifahrtsschein dazu, keine Verantwortung für seine Handlungen als jemand zu übernehmen, der sich verändern kann. Es gibt ja kein ‚Wesen‘, das jemand unabhängig von seinen Handlungen ‚ist‘. Solche Ontologie des Menschen etablierte nur ein von Sozialem befreites menschliches Subjekt, das sich aus dieser Sozialität herausstiehlt (und begünstigt bei Eltern, die heutzutage oft so über ihre Kinder reden – „er ist eigentlich ganz anders, als er sich zeigt“ –, eine Verhinderung von Erziehung). Vielmehr ist die Rede davon, den Menschen nicht auf sein Verhalten festzulegen, nur insofern berechtigt, als der Mensch nicht gänzlich durch sein Verhalten bestimmt ist. Insofern unbestimmt, kann der Mensch sich formen und bilden und vor allem seine aktuelle Form – die sich in seinem Handeln und seinem Leben in Verhältnissen, kurz: in seiner Art, sozial oder nicht sozial zu leben, spiegelt –, erweitern. Würdelose Verhältnisse können zu guter Letzt darin bestehen, dass Menschen zwischen Form und Unbestimmtheit changieren. Wer beispielsweise behauptet, er verfüge über eine Allerkenntnis des Prinzips der Welt, er praktiziere dies auch in einer Sekte, dann aber jede genauere Auskunft schuldigbleibt – der behauptet etwas, das er gleichzeitig gegen jeden Diskurs immunisiert. Zwei weitere Beispiele: Eltern, die alles immer verstehbar machen wollen und für alles Empathie aufbringen wollen, zerstören das Bedürfnis nach Auseinandersetzung und Abgrenzung ihrer Kinder. Weil die Eltern immer alles verstehen, haben die Kinder kein diskursives Gegenüber. Jeder Mensch ist zwar (auch) unbestimmt, aber er sehnt sich nach einer Form, an der er sich abarbeitet. Lässt man ihm nicht seine Unbestimmtheit, gibt man seinen Initiativen keinen Raum, drastisch in Manipulation und Gewalt, zerstört man ihn – aber auch in der Idee, ‚immer‘ für das Kind da zu sein. Denn das zerstört seine Selbständigkeit. Die Person – das Kind – erfährt: Es ist bequem, wenn man meine Bedürfnisse befriedigt. Und wenn diese empathisch ‚gesehen‘ werden, orientiert sich das Kind an ihnen und wird so gleichermaßen infantilisiert wie festgelegt. Es hat keine Chance, einen eigenen Willen auch in Abgrenzung und im In-Ruhe-gelassen-Werden zu entwickeln. Und es wird außerdem auch eine Form zerstört, nämlich die Form, in der das Kind erzogen werden könnte und in der qualitativ-gehaltvolles Zusammensein entsteht und gestaltet werden kann. Das Kind darf alles und wird in diesem Allem – was es selbst nicht ist, was aber unbestimmt hervorbrechen kann – begleitet. Das heißt, die Eltern denken, das alles gehörte unterschiedslos zum Kind dazu. Das Verhältnis zwischen 205
Unbestimmtheit und Form wird nicht gewahrt – das ist die Würdelosigkeit der modernen scheinbar allliebenden Erziehung, in der Abgrenzung nicht gewährleistet wird. Lieblosigkeit und Weltlosigkeit bestehen in dieser falsch begriffenen Idee der ‚Akzeptanz‘ darin, dass kein Gegenüber als ein Gesprächspartner ernst genommen wird, die andere Person taucht als ein bestimmter, zurechnungsfähiger Mensch gar nicht auf. (Solches ist übrigens unbescheiden: Das Elternteil glaubt zu wissen, dass genau diese Allempathie für das Kind immer gut sei.) Nehmen wir die bisherigen Beispiele als Grundlage: Welche Gestalt(en) haben würdevolle Verhältnisse demzufolge? Im Verhältnis zu einer nahen Person ist es angezeigt, sie immer mal wieder zu verfremden. Man kann sie mit neuen Augen ansehen, z. B. schon dadurch, dass man sie von Zeit zu Gelegenheit sehr höflich und zuvorkommend behandelt. Man wechselt dadurch von einer Form zu einer anderen. Umgekehrt kann man fernstehende Menschen und Strukturen zu Situationen naheholen und so eine genauere Wahrnehmung ermöglichen. Wenn ein KZ-Überlebender Besuchern eines Konzentrationslagers von seiner Gefangenschaft und Misshandlung erzählt, wird, was geschah, zu einer Situation – wenngleich, mit Claude Lanzmann, das Grauen eines Konzentrationslagers nie ganz zur Situation werden kann, denn es war keine. Wäre es eine, wäre es nicht geschehen, es hätte niemand handeln können. (Das war der Grund dafür, dass Lanzmann die Tötungsmaschinerie der Konzentrationslager im Film Shoah nicht zeigte.) Würdevolle Verhältnisse beinhalten Demut, die Einklammerung der eigenen Glaubenssätze, dass man anderen Raum gibt, dass man ihnen zuhört – auch Empathie –, und sie beinhalten Humor, sie sind sichtbar in Staunen, Vertrauen und Warmherzigkeit. Zur Würde im Umgang mit anderen, mit sich und dem Gefühl dafür, im Ganzen einer Wirklichkeit zu sein, gehört es, etwas emotional auf sich wirken zu lassen. Jemandem die Würde zu erweisen, bedeutet, ihn als etwas Besonderes anzusehen. Möglicherweise ist es daher sinnvoll, ‚Menschlichkeit‘ als etwas aufzufassen, in dem Menschen als Besondere begegnen, die uns ansprechen können und mit denen wir verwoben sind – und wir sollten Menschlichkeit nicht, wie oft geschehen, an ein bestimmtes Menschenbild anlehnen, getreu dem Motto: „Ein Mensch ist, wer gewisse Kriterien erfüllt.“ Gerade der Versuch, Menschlichkeit und ‚Menschheit‘ an Kriterien anzuknüpfen, führt in die (begriffliche) Irre. ‚Der Mensch‘ ist ‚besonders‘, er ist in seiner Würde unbestimmt und bestimmt zugleich, daher ist Menschlichkeit eine ‚Ohne-Eigenschaft-Spezifität‘. Humanität zielt nicht 206
auf eine kriteriologisch bestimmte Spezies, sondern auf das Vermögen, jemanden als Besonderen zu erblicken und in dieser Weise frei zuzulassen. Jemanden als Besonderen anzublicken bedeutet, nicht direkt auf ihn zuzugehen, sondern mit ihm in der Unbestimmtheit, in der er begegnet, zusammenzuleben. Wer andere als ‚Typ von …‘ ansieht, dem fällt es leichter, sie nicht zu beachten. Insofern etikettierendes Betrachten anderer sie entindividualisiert – das heißt hier, sie nicht als etwas Besonderes wahrzunehmen –, entmenschlicht es. Jemanden als Besonderen anzusehen ist ein Akt der Freiheit. Wer staunt, nimmt Besonderes wahr. Welche moralische Art des Zusammenlebens folgt daraus? Staunen enthält eine Distanz, bloß keine, in der das Verhältnis zur Umgebung abgeschnitten wird. Deshalb ist Staunen nicht das Gleiche wie Warmherzigkeit und Zuwendung, es ist aber dafür eine günstige Bedingung. Sich das Staunen zu bewahren öffnet dafür, etwas als etwas einmalig Besonderes anzusehen; man denke nur an Kinder, die sich in unbändiger Frede wieder und wieder über die Natur freuen und die Welt entdecken. Ein Wunder ist nichts, was Naturgesetzen widerstreitet – es ist, was unseren üblichen Horizont übersteigt, der heute oftmals im Glauben an die Naturgesetze besteht. Er besteht aber auch in unseren starren Bildern von anderen und in unseren Glaubenssätzen darüber, was wichtig ist, was wir tun und verfolgen und erreichen wollen. Staunen bedeutet, den Horizont zu verbreitern, sich einem offenen Horizont zu überlassen, zu öffnen und anzuvertrauen. Und Staunen schließlich öffnet dafür, die Bereitschaft zu kultivieren, mehrere Perspektiven zu berücksichtigen, nicht nur in einer verhaftet zu sein. Das Staunen über jemanden in seiner Besonderheit ist etwas, aus dem Warmherzigkeit folgen kann, denn wir werden von einer Wirklichkeit angezogen. Im Staunen erleben wir uns als ein Pol, der sich auf jemanden ausrichtet – und ihn frei zulässt –, den er mit einem gewissen Wohlgefallen ansieht. (Anders ist es, wenn wir von einem Erdbeben oder einer Virusinfektion überrascht werden, denn dann können wir unseren Eindruck der Wirklichkeit nicht stehenlassen, sondern fühlen uns bedroht. Staunen ist zugleich der Anfang einer jeden Situation: in der wir etwas einzelnes bemerken. Im Staunen erfahren wir: Wir stehen in einem unbestimmten Bezug zu anderen, sind überdies selbst unbestimmt – und wir bemerken das warmherzig staunend. Die Unbestimmtheit ist das zentrale Moment für die Achtung auf Besonderes und die Achtung von Besonderem (Achtung als Alias von Gewahrwerden). Aus mei207
nem unbestimmten Verhältnis zum Ganzen der Welt quillt – so paradox es aus einer menschengemachten Sicht klingt, denn wie könnte auf Unbestimmtem etwas ‚gründen‘ – die Unbestimmtheit meiner Freiheit und die Nichtfestgelegtheit meiner Auffassungen von anderen. Diese Einzigkeit dessen, was uns begegnet, erfahren wir als etwas Besonderes und zugleich Entzogenes – und wir erfahren sie im Gegensatz zu den Vergleichsgesichtspunkten, die uns ansonsten sagen, was etwas ist. In diesem Gegensatz wird uns etwas gewahr. Im Kontrast bemerken wir und wird uns merklich: Was wir sehen, ist nicht ‚so-wie‘ ein anderes, es ist kein ‚etwas-als-etwas‘, es hebt sich heraus. Unbestimmtheit (die selbst kein Ding ist und von der man auch nicht sagen kann, dass sie ‚ist‘) konstituiert das Besondere ebenso, wie bestimmte Eigenschaften es sichtbar machen. Im Gedanken ‚mir wird etwas gewahr‘, ‚da ist etwas Besonderes‘, ‚ich freue mich darüber, dass etwas ist, dass es etwas gibt‘, ‚ich stehe in einem emphatisch bejahenden Verhältnis zu etwas‘ – in warmherzigem Staunen –, könnte ein zentrales Moment eines gelungenen Lebens zu finden sein. Ein solches könnte keinen Kodex einer Ethik ergeben, welche sich aus Regeln speist oder die ein einsames Subjekt in die Welt wirft. Es könnte nicht aus der Struktur der Welt gewonnen sein und nicht aus der Struktur des Verhältnisses, in dem ich zur Welt stehe. Weder unterliegt so ein zentrales Moment dem naturalistischen Fehlschluss noch seiner Replik, weder wird alles, was irgendwie aufgefunden werden kann, werthaft besetzt, noch kann eine Moral unabhängig von einer positiven Ausrichtung auf anderes gedacht werden, das in seinem Sein beschützenswert ist. Das hier reklamierte zentrale Moment entspricht analog dem Grundgedanken von Hans Jonas: Ein Ungeborenes – ein Besonderes – zu sehen, ruft mich auf, es zu beschützen. Und es entspricht dem Gewahrwerden eines Wirklichen für ein Wirkliches, Robert Spaemanns Grundidee jeder Ethik. (Diese moralische Intuition ist selbst in den klassischen modernen Ethiken zu finden, denn in einer konsequenzialistischen Ethik richtet sich der moralisch handelnde Mensch auf einen anderen aus, bejaht ihn also, indem er nämlich dessen Vorteile in den Blick zu nehmen sucht. Und in einer deontologischen Ethik steht die Achtung des anderen, steht seine Eigensinnigkeit im Mittelpunkt.) Aus dem bejahenden Verhältnis zur Welt, aus dem Gewahrwerden ‚ich staune: Da spricht mich etwas an‘, ‚da sehe ich staunend etwas‘, ‚da ist etwas, das da ist und das ich nicht kenne‘, ‚da bin ich mit jemandem verbunden, der ganz unabhängig von mir ist‘ – was hieße es, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen? Behauptet man 208
Handlungen, die direkt daraus folgten, läuft man Gefahr, borniert, dogmatisch oder fanatisch zu werden. Widerfahren ist das Heidegger, indem er Emphase auf die Eigentlichkeit des (einzelnen) Daseins gelegt hat. Heideggers Anfälligkeit für den Nationalsozialismus scheint keine zufällige Folge, denn wenn man weiß, wie man ‚eigentlich‘ lebt, läuft man Gefahr, sich mit der Erhebung über die Besorgungen und das ‚Zeug‘ auch über das Miteinander zu erheben, da scheinen andere überflüssig zu werden. Ist Bejahung ein normativer Akt? Das zu fragen ist wichtig, denn Bejahung ist Zulassung, und das ist der Kern von Freiheit. Erwächst aus Freiheit als Zulassung etwas Moralisches? Ist der Satz ‚Bejahe die Welt, achte deinen Mitmenschen, lass dich von ihm ansprechen‘ ein moralischer Imperativ? Kann er normbegründend sein – sind, anders, alle Normen nur relativ zu sozialen Verhältnissen gültig, relativ zur Kultur? Oder ist es gar ein grundlegendes menschliches Phänomen, ein zentrales Moment, das jeder akzeptieren kann? Wir leben inmitten der Dinge und anderer Menschen, und wir leben so, dass wir selbst in diesem Zwischenraum existieren, in einem von Verhältnissen aufgespannten Verhältnis. Wir sind selbst ein Verhältnis, an dem wir einzelne Momente betrachten und von dem wir manchmal aussagen können, so seien wir.151 Wir bestehen aus einem Rückgrat, aus Verbindungen verschiedener Teile, Nerven- und Gehirnzellen, aus Gerüchen, Gedanken, eigenen und denen anderer, die in uns stecken, aus dem, was wir sehen und ertasten. Zwischenwesen sind wir, wir sind, was ‚zwischen‘ unserem Körper und den Dingen existiert; selbst existieren wir nur in diesem ‚Zwischenraum‘, nicht als von diesem losgelöste ‚Substanz‘. Ein ‚Inneres‘, das wir authentisch suchen und sein können, gibt es nicht, stets sind wir nicht, was wir zu sein meinen und als was wir angesprochen werden. Besonderes wahrzunehmen, es zuzulassen, bedeutet, sich in einem anderen Zeitverständnis wiederzufinden als dem der sequenzialisierten Abläufe von Minuteneinheiten. Besonderes wahrnehmen ist ein Akt der Freiheit, in dem wir uns auch von getakteter Zeit befreien. Leben wird zum Spiel, Zeitlichkeit wird zu etwas Neuem.
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Wir müssen uns immer mit Abbildern von uns begnügen, auch im Spiegel sehen wir nur ein Bild von uns. René Magritte zeigte dies eindrücklich in Die verbotene Reproduktion (1937). 209
Zeit und unser vergegenständlichender Bezug zu Etwas hängen miteinander zusammen. Insofern wir taktvoll und würdevoll in Formen auf etwas zeigen, von dem wir wissen, es ist nicht nur in dieser Form, setzen wir uns in die Zeit und weisen in der Zeit auf etwas, das außerhalb der Zeit steht. Unterschiedlich steht der Mensch in der Zeit, wenn er sich außerhalb oder innerhalb von Verhältnissen begreift. Konstituiert sich das Subjekt einsam und in Abgrenzung von der Mitwelt, fällt es in die Zeit hinein – denn nun wird es das, was ihn umgibt, beurteilen, messen und als eine Abfolge von Gegenständen und Ereignissen ansehen. Wenn wir im Alltag etwas ins Verhältnis setzen, beziehen wir uns im Allgemeinen auf eine Beziehung, die von zwei Polen aufgespannt wird. Diese Pole sind im vagen Verständnis Gegenstände, also Festgestelltes, Abgegrenztes, Unterschiedenes. Damit erliegen wir einer selbst konstruierten und selbst auferlegten verdinglichenden Illusion, denn die das Verhältnis im Raum aufspannenden ‚Enden‘ sind selber in zeitlichen Verhältnissen entfaltete Wirkungsgefüge – und somit keine strikt abgrenzbaren Dinge. In der Trennung von den Dingen setzen wir eine Grenze, das, was wir sehen, sehen wir als ein Begrenztes, auch zeitlich Begrenztes an. Das ist aus der Betrachterperspektive rekonstruiert. Aus der Teilnehmerperspektive versucht das moderne Subjekt mit Begriffen, die Zeit anzuhalten, es versucht, dem ständig beobachtbaren Wandel eine Beständigkeit zu geben, und es weiß gleichzeitig in seiner Lebensführung: Alles in der Außenwelt unterliegt dem Wandel, schließlich ist auch mein Leben, denn ich muss mich letztlich auch als körperlichen Gegenstand ansehen, ein Endliches in der Zeit. Konstituiert sich der Mensch in Verhältnissen, dann außerhalb der Zeit – auch außerhalb der Vorstellung einer unendlich langen, fixen Zeit –, weil er situativ versunken reagiert auf die unbestimmte Rhythmik von Verhältnissen und weil er kontemplativ in den Verhältnissen versunken ist. Wenn wir etwas sehen und so an ihm teilnehmen, sehen wir es nie in der Zeit, sondern immer im Moment oder, anders gesagt, ausgefüllt. Das Sehen wie die wahrnehmend-emotionale Verbundenheit sind immer Anzeichen einer Ausrichtung auf etwas, das uns als jetzt-ewig erscheint; wir gegenwärtigen es, und diese Gegen-wart ist kein mathematischer Zeitpunkt X. Mit anderen Worten, die Ewigkeit liegt im intensiven Verhältnis zum Phänomen selbst. Das scheint der Grund dafür, dass Liebende und kontemplativ Versunkene die Zeit vergessen und ein Gefühl von Ewigkeit haben. Liebe ist ewig. Besonderes zu sehen 210
ist etwas, das nicht in der Zeit liegt. Das ist aus der Teilnehmerperspektive formuliert.152 Aus der Beobachterperspektive hat der Mensch in Verhältnissen weder zeitloses Wissen noch zeitlose Identität; er verändert sich gemeinsam mit seinem Umfeld, was Selbsterkenntnis ausschließt. Die Vorstellung von Leben vollzieht sich in einem Verhältnisgewoge von Bildern, dem sich ändernde Attribute zugeschrieben werden. Begriffe greifen in diesen Zeitablauf ein und stellen vergegenständlichend eine Gegenwart ‚fest‘, die schon keine mehr ist, da sie bereits vergangen ist. Die Verhältnisse unterliegen einem ständigen Wandel, ebenso wie die Identitäten der Pole dieser Verhältnisse, also auch die des Menschen. Leben in Verhältnissen ist, von außen rekonstruiert, eines in ständig wechselnden zeitlichen Prozessen. Und auch aus der Teilnehmerperspektive … in der Ewigkeit kann niemand dauerhaft leben, auch nicht in Verhältnissen. Denn jeder merkt irgendwann wieder auf, handelt ausgerichtet auf die Zukunft und betrachtet die Verhältnisse, die sich in der Zeit wandeln. Die müßige Selbsterkundung will ja gerade ‚das Eigene‘ erkunden, das Eigene, das immer auch im zeitlichen Hier und Jetzt lebt und leben muss – aber sie tut es (auch) aus der Beobachterperspektive. Es wäre wohl lohnend zu versuchen, die Zeit und den Menschen in der Trias Ich-Du-Er zu denken. In Verhältnissen ist der Mensch ‚in‘ der Zeit gewoben und dadurch fühlt er sie nicht wie einen Ablauf; in der Ich-Perspektive sieht er sich entweder wie ein Gegenstand 152
Der (frühe) Heidegger deutet Gegenwart grundsätzlich anders als wir, nämlich vor dem Horizont der Zukunft, obgleich der Mensch laut Heidegger in von ihm so genannten Ekstasen außer-sich ins Verhältnis zu Anderem gehen kann: Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). Tübingen 1986, S. 365 (§ 69c) Das zeitliche Problem der Transzendenz der Welt): „Das horizontale Schema der Gegenwart wird bestimmt durch das Um-zu. (…) Die Welt (…) „ist“ mit dem Außer-sich der Ekstasen da.“ Vgl. ebd., S. 359ff., 385. Dass Heidegger dem Gewärtigen eines anderen in der Gegenwart keinen Eigenwert zubilligt, liegt im Systemzusammenhang von Sein und Zeit daran, dass das Gewärtigen in der Gegenwart schon dem Man-Selbst vorbehalten ist, das an das ‚Besorgen‘ der Alltäglichkeiten und die gewöhnlichen Auffassungen aller ‚verfallen‘ ist. Vgl. ebd., S. 391 (§ 75. Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Welt-Geschichte): „Die Zeitlichkeit der eigenen Geschichtlichkeit dagegen ist als vorlaufend-wiederholender Augenblick eine Entgegenwärtigung des Heute und eine Entwöhnung von den Üblichkeiten des Man.“; vgl. S. 425. – Vgl. Heidegger zeitlich später in Selbstkritik: „… ist die Gegenwart ein Offensein für Begegnendes“. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie. In: Gesamtausgabe Bd. 24. Frankfurt/Main 1975, S. 436. Vgl. Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen. Frankfurt/Main 2017, S. 61. 211
oder selbst wie ein Verhältnis an, als statisch oder wechselhaft oder im Einklang mit der Zeit; in der Du-Perspektive kann er zu anderen einen Zugang haben, der die Zeit überdauert; in der 3.-Person-Perspektive kann er anderes als Gegenstand ansehen, das einen Moment im Zeitgefüge darstellt, oder das feste, zeitkonstante Eigenschaften hat – oder er kann staunen, dann sieht er sozusagen für einen kurzen Moment über die Zeit hinweg. Erst die Dreiheit des Menschen als ‚Ich-Du-Er‘ ergibt ein vollständigeres Bild des Menschen; ebenso bei der Zeit, sie ist nicht nur ein in der 3.Person-Perspektive stattfindender Ablauf, sondern ebenso etwas mit mir Verbundenes, das über die Zeit hinweg mich ergibt, in der Du-Perspektive können wir sie nicht verstehen. Den Menschen, dieses unbestimmte Wesen, als ‚Ich-Du-Er‘ anzusehen bedeutet, ihn als Verhältnis aufzufassen, in dem es ‚Geist‘ gibt, betonen wir die Verbundenheit, ‚Seele‘. Ein Ziel der Rede vom gelingenden Leben in Verhältnissen ist der wahrnehmende Zeitgenosse. Wahrnehmung in einer eingebundenen Situation heißt in gewisser Weise, zeitlos zu sein. Das gilt auch für den Begriff der Trauer, der sich ergibt, wenn jemand eingebunden ist: Die Trauer ist dann hell, sie ist nicht die Verabschiedung, sondern die Wahrnehmung von Erfüllung in einem Moment; denn man erinnert sich beim Trauern an die erfüllten Momente. Insofern verweist der Moment der Trauer auf eine Ewigkeit, auf eine Verbundenheit, die als wirklich seiend wahrgenommen und so sichtbar wird. Wer trauert – und das ist nur ein Beispiel für eine Kontemplation –, der ist versunken in die Anschauung eines Phänomens, der ist – hineingefallen in ein Verhältnis – herausgefallen aus der objektivierenden Zeit, in der ein Subjekt etwas als einen ihm gegenüberstehenden und mit ihm unverbundenen Gegenstand der Welt betrachtet (dieses wäre dunkle Trauer, in der der Verlust begegnet). Die objektivierende Zeit setzt ein Subjekt, das der Welt gegenübersteht. Sehr überzeugend sind in diesem Zusammenhang der Frage nach der Zeitlichkeit des Lebens in Verhältnissen Schillers Ausführungen zum Spiel. Vierzehnter Brief: „der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“ Fünfzehnter Brief: […] bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet? […]. „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ 212
Zum Spielen gehört, den Menschen und das, was die Wirklichkeit zusammenhält, in seiner tiefsten Dimension unangetastet zu lassen. Unbestimmtes, das wir entlang an Formen unverfügbar lassen, prägt uns nämlich vielleicht mehr und nachhaltiger, als ein angenommener Ursprung, von dem her wir uns bestimmen und deuten. Möglicherweise wäre es in diesem Sinne eine gute Idee, das religiöse Zentrum Jerusalems frei zu lassen von politischen Ambitionen, es als (zugängliches, besuchbares, aber unverfügbares) Mahnmal stehen zu lassen. Möglicherweise könnte sich eine künftige Zivilisation dadurch auszeichnen, dass sie, in einer Variation von Lessing, ihr Zentrum als Unverfügbares frei lässt. Menschen mit Allmachtsphantasien sind das Problem, auch bei Religionen. Das Ganze der Welt kann nicht gedacht werden, das ist eine gedankliche Nebenfolge einer klugen Religion; diese vermeidet es zu sagen, da sei ein zürnender Gott, der schon kleinen Kindern in den Kopf gucken könne und der genau geregeltes Verhalten erwarte. Eine kluge Religion nimmt ‚das Ganze‘ aus der Verfügungsgewalt der Menschen heraus – das Ganze und das, was der Mensch, das Leben und Zusammenleben ist. Das Ganze als ein Unverfügbares, möglicherweise als unbekannt Vertrautes, das kann es gleichwohl geben. Dann wird Ganzheit, besser, ein Horizont eröffnet (und nicht nur ein perspektivischer Strich), in offenen Zusammenhängen finden wir uns dann ein. Wir sind, wenn wir uns als unbestimmt und zugleich in einem Verhältnis begreifen, ein Gespräch Gottes mit der Seele. Das heißt, das Gespräch ist ein Bezug. Gesprächsarten sind Verbindungsvektoren, wie Begriffe, wie Blicke, das Tasten, Gerüche und die Unbestimmtheit geistiger Erlebnisse. Auch das Licht ist ein Zwischen, Gemeinschaft ist ein Zwischenfeld, in dem wir uns orientieren, auch wenn wir uns mühen, ihm zu entkommen. (Wir verändern durch solchen Fluchtversuch aber das Feld.) Verhältnisse zwischen Menschen und im Menschen selbst finden in einem Ganzen statt, das sich uns entzieht. Wenn sich Menschen auf Verhältnisse zu anderen einlassen, wissen sie gleichzeitig, dass das Verhältnis und das Ganze, in dem das Verhältnis stattfindet, ihnen entzogen ist. Dieses taktvolle Bekenntnis zum Nichtwissen könnte ein anderes Verhältnis, eine andere Beziehung zu Mitmenschen und zu mir bedeuten und eröffnen: als Freiheit, Liebe, Ausrichtung auf Gott. Unbestimmtes zuzulassen bedeutet, andere zuzulassen und sich zu ihnen zugewandt zu bekennen – innerhalb eines umgreifenden Unbestimmten, innerhalb dessen wir uns verstehen. Wenn wir es so konfigurieren, gehen wir von dort aus – ohne dass das ein Ort sein könnte – in Relationen zu anderen, die von Achtung gekenn213
zeichnet sind. Ein Verständnis im Ganzen ist wichtig, weil wir einander nur so nicht als Verfügbare und Bestimmte ansprechen. Man könnte von hier aus ein Lob des Schattens aussprechen: Alles scheint heute eindeutig, im Licht, im Traum der Vernunft, die keine ist, die sich einer absichtsvollen Vernunft andient, die alles Andere ausschließt.
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10 Missverständnisse der Freiheit als Selbstbestimmung Wie konnte es dazu kommen, dass Selbstbestimmung zum vorherrschenden Narrativ der Moderne wurde? Diese Frage ist nach dem Bisherigen einfach zu beantworten. Der Mensch wollte sich von Fremdbestimmung emanzipieren und setzte sich selbst als Bestimmer. Das Konzept der Freiheit als Zulassung, als sanfte Freiheit ist demgegenüber subtiler, und es wäre vielleicht seinerzeit auch nicht so leistungsstark und durchsetzungsfähig geworden wie das griffigere Konzept der Selbstbestimmung. Es scheint naheliegend zu sein: Wer die Freiheit des Menschen und freiheitliches Zusammenleben befördern will, der denkt den Menschen nicht als fremdbestimmt. Für den sich von Fremdbestimmung Verabschiedenden scheint die automatische Folge sein zu müssen: Der Mensch ist selbstbestimmt. Er handelt autonom und nicht heteronom. Sich von Mythen und Irrationalitäten zu verabschieden kann dazu führen, von Prinzipien und Fundamenten aus zu denken. Sich von Gewalt und Eingemeindung durch andere distanzierend, kann es Denkern logisch erscheinen anzunehmen, der Mensch sei besser als einzelnes Individuum zu denken. Wer sich davon verabschieden will, Moral als Sitte zu denken, der kann sie als selbstbestimmtes Prinzip im Kopf etablieren. Wer fürchtet, der Mensch könne insgesamt abhängig von der Umwelt sein, die ihn überwältige, kann sich davon verabschieden, indem er alles, was ist, als beherrschbaren Gegenstand ausweist. Ein selbstbestimmtes Menschenbild und individualistische Selbstverständnisse aber haben eine Kultur geformt, in der, was gilt, ausgehend vom einzelnen Menschen ausgezeichnet und legitimiert wird: Der Staat soll den einzelnen dienen, Moral und Rechtsansprüche sollen durch ein Prinzip im Kopf eines einzelnen gegründet sein. Alles, was ‚ist‘ und überhaupt begegnen kann, wird als so-und-so geformter Gegenstand konstruiert. In einer solchen Kultur sehen Menschen Sozialität als eine Anhäufung von Atomen an, sie konstruieren sich schließlich selbst und wollen, dass sich alles um sie herum ihrer Konstruktion fügt. Die Annahme, die Moderne werde durch die Autonomie des einzelnen fundiert, ruht auf einer falschen anthropologischen Prämisse, die zweierlei verkennt. Ar215
gumentativ verkennt die Moderne ihre entscheidende Prämisse, dass sie nämlich kommunikative, freie und zur Vergesellschaftung bestimmte, tugendhafte Verhältnisse zwischen Menschen und im Menschen voraussetzt. Genealogisch hingegen missachtet und ignoriert die Moderne, dass sie Verhältnissen entspringt – und aus ihnen dauerhaft quellt –, in denen Menschen immer schon leben und in denen sie zur Welt, in die Welt und in ihre Wahrnehmung kommen. Die Fiktion eines selbstbestimmten und individualistischen Menschen schneidet das Denken über sinnvolles menschliches Leben und Zusammenleben von diesen Quellen jedoch ab. Ebenso schneidet ein modernes Denken, das – übergeneralisierend – alles, was betrachtet und wahrgenommen wird, als Gegenstand kennzeichnet, von der Wahrnehmung eines Horizontes ab, in dem Menschen sich in einem Ganzen sehen können. Damit aber wird auch Natur zum bloßen Gegenstand, dem kein Eigensinn zugestanden werden kann und der nicht für sich geachtet wird. Insofern bedeutet die Gleichsetzung von Freiheit mit Selbstbestimmung – mit dem Verzicht auf die Freiheit ermöglichende Rolle der Gemeinschaften – eigentlich einen Verzicht auf Freiheit; Freiheit wurde durch Selbstbestimmung ersetzt. Was bedeutet diese Ersetzung biographisch? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten. In jedem Fall deuten sich Menschen, die sich als selbstbestimmt verstehen, als stärker von ihrer Umgebung getrennt. 1968, auf dem Höhepunkt der Moderne, verpflanzt Christiaan Barnard das erste menschliche Herz. Eine Kommission deutscher Chirurgen bekennt sich daraufhin zum Hirntod als Todeskriterium; ein Mensch gilt fortan als tot, wenn sein Hirn stirbt. Das Herz als das zentrale Organ des Menschen wird vom Gehirn abgelöst. Das Herz ist austauschbar, ein Mensch kann weiterleben, auch wenn sein Herz nicht mehr pumpt und (für kurze Zeit) außer Kraft gesetzt wurde. Dieses Ereignis ist symbolisch; das Herz gilt als das Organ, mit dem ein Mensch intensiven Kontakt zu anderen aufnimmt, das Gehirn als der Ort des individuellen Denkens und des Verknüpfens von Vorstellungen. Mustergültig findet sich das selbstbestimmte Verständnis in dem folgenden Zitat. „Ich hätte so gern alle Versprechen vom Leben eingelöst bekommen, alles, was mir das Leben zuflüsterte, als ich auf die Welt kam. Ich weiß, wie es sagte, ich solle lieben und geliebt werden, ich solle so viel Leben bekommen, dass ich daran ersticke … 216
Es kann doch nicht sein, dass … ich nur existiert habe, beschrieben und definiert immer nur über das Andere, den Anderen, die Anderen? Ich will mein Ich zurück, meines, meins, meins – das, was ich war, bevor ich hierher kam, bevor ich gemessen und verglichen wurde, bevor ich die Andere wurde? Bevor ich gekoppelt wurde an die Liebe, an die Tragik, an die Emotionen, die vielleicht gar nicht meine waren und sind? Ich will mein Herz zurück – unbefleckt und einmalig.“153
Nino Haratischwili lässt das eine ihrer Figuren sagen, in ‚Das Jahr von meinem schlimmsten Glück‘. Das typische selbstbestimmt-moderne Subjekt sucht sich selbst, es will sein eigenes Leben führen, in Abgrenzung von seinen Mitmenschen. Es fühlt sich durch andere falsch gesehen, falsch beurteilt und manipuliert. Es glaubt, es könne ohne andere viel eher es selbst sein als mit ihnen. Es sieht sich als eine Monade, als etwas, das es selbst gerade nicht in den Verhältnissen mit anderen sein könne. Dieses Es-selbst-sein-ohne-die-anderen – die es etikettieren, vergleichen, messen – sieht es als Ausweg aus einer allzu engen und gewalttätigen Gemeinschaft. Lassen wir dahingestellt, ob dies einer realen biographischen oder sogar historisch allgemeinen Konstellation entspringt, in der einzelne Menschen von der Gemeinschaft, in der sie lebten, überrollt wurden, oder ob der Wunsch, ‚mehr‘ zu sein als das Produkt der Gemeinschaft und sich demgegenüber ‚mehr‘ vom Leben zu erhoffen, eine das Leben vieler moderner Menschen leitende Denkidee geworden ist: Es wird beides sein. Der Text von Haratischwili ist subtil und zeigt die Ambivalenz moderner Menschen, denn das, was sich der Protagonist wünscht, wird zwar darin artikuliert, ein eigenständiges, unmanipuliertes Wesen sein zu können, aber das Versprechen des Lebens, das es dem Menschen gab, als er auf die Welt kam und das er sich immer noch eingelöst erhofft, besteht nicht in Autonomie oder dem Losgelöstsein von Mitmenschen: Ihm wurde verheißen, zu lieben und geliebt zu werden. ‚Ursprünglich‘ versprach das Leben also, eines in wohltuenden, herzlichen Verhältnissen zu sein, auch wenn die darauffolgenden realen Erlebnisse in den Lebenszusammenhängen mit anderen offenbar von anderer Art waren – als wäre der Protagonist in der Welt als ein mutterloses Kind, wie in einer Krippenklappe abgegeben. Hinter 153
Nino Haratischwili, Das Jahr von meinem schlimmsten Glück. 2010. 217
ihr wartet eine entfremdende, entzweiende, an andere ausliefernde lieblose, herzlose Instanz auf, die zwingt, sich mit sich als etwas zu identifizieren, das von der Gemeinschaft gelöst ist. Diese Entfremdung verhindert grundständig eine wünschenwerte Entwicklung, nämlich ein Werden-zu-sich, für das als Ausgangs- und Zielpunkt das Erleben, bei sich in einem andern zu sein, vonnöten ist – das, was wir brauchen, bevor wir sind und bevor wir uns entdecken. Erst das ermöglicht, ob wir uns inmitten der anderen entdecken können. Das ist in dem Text ausgeschlossen, es fehlt das Herz. Das Leben bei sich mit anderen ist ausgeschlossen, ein gedeihliches Weltverhältnis, ein warmherziges Einbezogensein in ein Ganzes. In dem Text kommt mehr als zehnmal das Wort ‚ich‘ vor, und man muss fragen, welcher Denkhorizont aufgespannt wird. In den Sätzen artikuliert sich ein Lebensgefühl, das sich biographisch als Leiderfahrung erlebt, aus der heraus verzweifelt protestiert wird. Nur – wogegen? Der Impuls des Einspruches kommt aus einem individuellem Leiden daran, sich nicht mehr als Möglichkeitswesen erfahren und entfalten zu können. Das Leiden wird artikuliert als ein durch Definitionen präpariert-worden-Sein. Der Protagonist erfährt Leben als ‚definiert‘, sieht sich vielleicht sogar als begrifflich ‚verdinglicht‘. Leidet das Ich am fehlenden Sinn? Es könnte angeraten sein, (Ich)Identität als Sinn-Verhältnis zu verstehen, also als die Art und Weise, wie ein Ich sich in Gesprächen mit anderen in seinen kulturellen Verhältnissen selbst deutet und je neu umdeuten kann, ohne sich von der Umgebung überwältigt zu finden, aber auch ohne diese Deutung als etwas Festes endgültig zu bestimmen. Wie kann sich ein Mensch inmitten der Dinge erleben? Wir wollen den Faden fortspinnen und zwei idealtypische Konstellationen herausarbeiten. In der einen erfährt sich ein Mensch inmitten der Dinge, verwoben mit ihnen. In der anderen trennt sich der Mensch im Lauf seiner Entwicklung von seiner Umgebung und von den Vertrautheiten, in denen er gelebt hat. Diese beiden Idealtypen weisen Ähnlichkeit zum traditionellen Menschen und zum modernen Menschen auf, in dieser Hinsicht spitzen wir Entstehungsgeschichten zu. Als Kind, vielleicht auch als Mensch vor den Zeiten der Aufklärung, ist der Mensch zunächst immer mit seiner Umgebung verwoben, die er unmittelbar erlebt und in der er aufzugehen scheint. Er richtet sich auf die Welt aus und geht in sie hinein, ohne dass er davon ausgeht, er sei eine spezifische, von dieser Welt getrennte Zelle. Das Kind strebt fort und wieder zur Mutter zurück, als würde 218
es zur Welt durch eine Kraft hingezogen und als wäre – gleichzeitig – die Entfernung ein sich straffendes Gummiband. Es sucht Erholung und Zurückbindung bei seiner Mutter, es sucht den Rückweg zur Quelle seines Gedeihens, ganz so, wie es diese Quelle aus der Zeit des Austragens kennt, da seine Mutter mit ihm schwanger war; in dieser vertrauten Nähe der Mutter erneuert sich – gleichsam mit der zweiten Nabelschnur der leiblichen Berührung und der Blicke – die Energie, die es braucht, um wieder Kraft und Zutrauen für seine Wege in die Welt der Dinge zu finden. Der Antrieb des Kindes ist so immer erst der Mutter verdankt und geschuldet. Das Kind ist darauf angewiesen, zu Ruhe und Sicherheit zurückzufinden und im Wachen bei der Mutter und schließlich auch im Schlaf wieder zu Kräften zu kommen. Vertrauen verdankt sich einer Vertrautheit. Ein Verständnis, das Verhältnisse gedeihlichen Lebens zu figurieren sucht, ist darauf angewiesen, an diese ursprünglichen Konstellationen grundständig anzuknüpfen, aus denen gelingendes Zusammenleben mit anderen, aber ebenso Selbständigkeit quellen. Dennoch – und deswegen – ist ein Kind nicht nur verwoben mit seiner Umgebung. Es handelt aus eigenem Antrieb, es fühlt Widerstand, es erprobt sich, es grenzt sich ab, weil es erfährt: Meine Initiativen stoßen an Hindernisse, und die Umwelt reagiert mit einem gewissen Eigensinn auf mich. In diesem Wechsel, mal weniger, mal mehr konfrontativ oder kooperativ, entwickeln sich Erfahrungsmuster. Natürlich ist es glücksbringender, wenn ein Kind erfährt: Die Umgebung fördert mich in meinen Initiativen, sie zeigt mir, dass ich wahrgenommen werde. Und natürlich ist es für das spätere Leben vorteilhaft, wenn die Umgebung in der Interaktion mit dem Kind einen Eigenwert behält, wenn das Kind also auch lernt, zu folgen und sich anzupassen. In der Interaktion, geschehe sie mit Dingen oder anderen Menschen, bildet sich ein Mensch heraus, das, was wir heute oft ein Selbst oder einen Charakter nennen. Es bilden sich Interaktions- und Kooperationsmuster, und es bilden sich gefühlsmäßige Konstellationen heraus, Anspannungen und Stress oder Glück und Freude während einer Interaktion. Auf solche Gefühle zu reagieren, fördert sicherlich die Kooperationsfähigkeiten von Kindern. Beispielsweise wird Kindern heute in Kindertagesstätten beigebracht zu sagen „Halt-Stopp-ich-mag-das-nicht“, wenn ihnen nicht gefällt, was ein anderer mit ihnen tut, beispielsweise können sie lernen wahrzunehmen, was andere wollen, wenn ihnen Worte von der Erzieherin oder dem Erzieher, der Mutter oder dem Vater dafür gegeben werden, und beispielsweise können sie ihre Innenwelt kennenlernen und ihre Emotionen regulieren, wenn ihnen jemand Worte dafür 219
gibt, wie er diese Emotionen und Initiativen wahrnimmt und mitfühlt. Die Reaktion des Kindes kann zeigen, ob es seine Innenwelt dadurch verstanden und bereichert fühlt, z. B., indem es seinen Begleiter freudig anblickt oder nicht. (Daraus folgt nicht, dass das Kind genau ‚verstanden‘ wurde. Die Idee des Verstehens als eines haargenauen ‚Treffens‘ einer Person setzt schon ein bestimmtes ‚Ich‘ voraus, das sozusagen abgebildet werden könne. In Wirklichkeit sind Menschen im Aufeinander-Reagieren gebogene Spiegel, die gerade in dieser Krummheit ihre Gemeinschaft etablieren und sich und den anderen je neu erzeugen. Ver-stehen drückt daher eher einen Prozess des Beeinanderstehens aus, des beieinander zu Gast Seins, der Verständigung, des Gesprächs, in dem Menschen einander in ihrem Verhältnis konstituieren.) Das Pendel zwischen Verwobensein, Bereicherung durch die Mitwelt und Abgrenzung schwingt in jedem Fall ständig hin und her – es bleibt eine Grundfigur des Lebens. Irgendwann gehen Kinder gezielt weg, sie trotzen, um ihren Willen durchzusetzen. Wahrnehmung wird gefördert durch Erkundungen, durch Sprache, ebenso wie Affektregulation und Kognition. Dabei kommen die Dinge zum Stehen, und irgendwann entdeckt der Mensch, dass er es ist, der etwas entdeckt. So wird Subjektivität geschult: Imagination, die Entwicklung des Vorstellungslebens, das Vertrauen in die eigenen Initiativen. Eigenständigkeit als Wahrnehmung und Berücksichtigung eigener Impulse, Urteilsvermögen und Selbstwahrnehmung. Kooperation und Vertrauen in die Umgebung werden auf verschiedene Weise geschult. Das geschieht, indem die Wahrnehmung gefördert wird, durch Klarheit von Anweisungen, durch Rückmeldungen über gelungene Interaktionen mit der Umwelt, mit anderen Worten, durch Vertrauen in die Wirksamkeit von Erfahrungen. Die Entwicklung zwischen Einwebung und Abrenzung ist ein lebenslanger Prozess. Wie der Mensch sich versteht, das wird durch den Prozess geprägt, in dem Nähe und Distanz einander abwechseln und überlagern. Das Ausmaß an Vertrauen und Erschütterung des Vertrauens prägt dabei, wie sehr jemand sich in seiner Distanzierung als isoliert setzt oder wie entspannt jemand mit anderen zusammen ist. Das Pendel zwischen Kooperation und Konfrontation prägt auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit, es beeinflusst die emotionale und kognitive Sicht auf die Welt. Es entscheidet mit darüber, in welcher Färbung jemand seine Umgebung wahrnimmt und ob er sie mehr oder weniger als etwas Besonderes und Eigensinniges ansieht. 220
Im Erwachsenenleben gibt es höchst unterschiedliche, individuell verschiedene Formen, sich auf die Welt zu beziehen und sich als Teil von ihr oder als getrennt von ihr zu erleben. Das liegt schlicht daran, dass unser Zustand in der Welt nicht von dauernder Harmonie geprägt ist. Wir müssen uns abgrenzen, uns zu Erwartungen, Zuschreibungen, Zumutungen und Enttäuschungen verhalten, wir müssen mit unseren gescheiterten Anliegen, die wir an unsere Umwelt adressieren, irgendwie zurechtkommen. Das Pendel zwischen vertrauter Nähe und abgrenzender Distanz erscheint auch in der logischen Art, sich die Welt verständlich zu machen – in Begriffen. Die Begriffe, entlang derer sich ein Mensch die Welt erschließt, sie aufteilt und strukturiert, bilden Zugänge und trennende Momente. Scheinen sie dem einzelnen trennscharf bestimmt, scheint die Welt in separierte Dinge zu zerfallen. Scheinen sie poetisch oder metaphorisch nah aneinander zu stehen, gehören sie verbunden zueinander. Begriffe sind die Folie, vor der Menschen etwas erfassen, entlang von Begriffen erscheint uns etwas. Aber das, was erscheint, geht nicht in diesen Begriffen auf, weshalb Menschen die Dinge nicht nur für die Begriffe ansehen, sondern über sie staunen und beobachten können, weshalb aber auch ein Mensch niemals etwas, gewissermaßen ganz, als etwas Besonderes auffassen kann. Nur ein Gott könnte jemanden sehen, d. h., wer er ist, und nicht nur, was er ist, durch das Licht der qualifizierenden Begriffe. Wenn es stimmt, dass Kognitionen und die Gefühle, in denen Menschen zur und in der Welt stehen, zusammenhängen, dann ist es interessant, sich vor Augen zu führen, wie – von der Warte modernen Denkens aus betrachtet – sich ein Subjekt konstituiert – das typischerweise als autonom gilt, sich als der Welt gegenüberstehend versteht und das begrifflich den Unterschied zwischen sich und seiner Umgebung in den Blick nimmt. Mit der Unterscheidung zwischen sich und den Dingen – der Mensch unterscheidet Dinge, irgendwann unterscheidet er sich von ihnen und irgendwann bedenkt er den Unterschied zwischen sich und anderem – konstituiert sich das Unterscheidungen treffende Subjekt in Abgrenzung von anderem, als etwas Eigenes. Es gründet in seinem Kopf seine eigene Weltsicht, es kommt zu Begriffen, es handelt und urteilt autonom. Das Subjekt der Moderne entsteht als Pol, der Verhältnisse zu anderem nur ausgehend von sich gestaltet, auf der unterstellten Grundlage seiner Selbstbestimmung und Identität. So in etwa, verkürzt gesagt, entsteht der moderne Mensch, und so glaubt er, sich zu entwickeln. 221
Das stimmt, und es stimmt auch wieder nicht. Denn der einzelne entschließt sich nicht monologisch dazu, ‚Etwasse‘ in seiner Umgebung durch Unterscheiden hervorzuheben (und sich damit selbst zu konstituieren); vielmehr entstehen Unterscheidungen in Gesprächen mit anderen, und sie entstehen in Erfahrungen, die gemeinsam mit Dingen und anderen Menschen stattfinden – sie entstehen gewissermaßen dia-logisch, und in solchen Gesprächen verändern sich Deutungen und Begriffe; nur feste Begriffe lassen sich nicht frei ändern. Das moderne Subjekt ist in seinen selbstkonstruierten Begriffsgewohnheiten gefesselt und nicht frei. Nur gemeinsam mit anderen kann man sich aus Gewohnheiten befreien. Das monologisch sich verstehende Subjekt könnte glauben, einer Privatsprache zu folgen; einer Sprache, die es Wittgenstein folgend nicht gibt. Um überhaupt eine Sprache sprechen zu können, verständigt man sich mit einem konkreten Gegenüber, gemeinsam Unterscheidungen zu treffen, und vor allem übernimmt man Unterscheidungen, Sprachgebräuche – und Bewertungen –, ohne sie genau zu analysieren; erst danach können sie weiterentwickelt werden. Dem vorauslaufend, sind die Dinge immer schon in der Sprache unserer Vorfahren und unserer Eltern gegeben und unterschieden, und wir werden in diesen Zusammenhang hineingewebt.154 Und dem folgend werden Subjekte in Verhältnissen selbst auch gewebt – nicht notwendig als von ihnen getrennte – und konstituieren sich Subjekte wechselseitig; Konstituierung ist kein autonom-monologischer, sondern ein prozessualer Akt der Anerkennung und des Hineinwachsens in ein ‚In-der-Welt-Sein‘ – das aber nicht, wie Heidegger es als Ausweg versuchte, in einer Art ‚Eigentlichkeitssprung‘ des einzelnen zur wahren Existenz führen könnte (indem er seiner Angst innewird und seines Sterbens, was ihn für den Anruf des Gewissens empfänglich macht), sondern das, wie Hannah Arendt zutreffender herausstellte, immer in einem Verhältnis von Gemeinsamkeit, Mehrperspektivität und Öffentlichkeit geschieht. Konstituierung kann auf dieser Grundlage dann zwischen rationalen Erwachsenen ein dialogischer Akt in Relationen sein. Es ist schwer zu sagen, ob das Pendel zwischen Verwobenheit und Abgrenzung in der Moderne zu sehr zu einer Seite ausgeschlagen ist. Als Gegenbewegung gegen eine allzu enge Verflechtung mit der Umgebung – die ersticken und erdrü154
Vgl. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 18ff., 29f. 222
cken kann – ist es verständlich, das Subjekt, den einzelnen Menschen, das Individuum, in seiner Eigenständigkeit zu betonen, zu fördern und zu artikulieren. Wir gehen von der These aus, dass ein ‚Zurück‘ zu einer mächtigeren Rolle der Gemeinschaft den Menschen passiver machte und für den einzelnen nicht sinnvoll und möglich ist. Vielmehr bestehen gelingende Verhältnisse zwischen Menschen und zwischen dem Menschen und seiner Umwelt in einer Berücksichtigung beider Pole – des einzelnen und des jeweils anderen. Und wir gehen davon aus, dass es für das Selbstverständnis des Menschen gut ist, sich selbst als aus solchen Verhältnissen entstanden zu denken. Wie der einzelne selbstbestimmte Mensch und wie die Figur in Haratischwilis Text gewinnt die Epoche der Moderne ihr Selbstverständnis und ihre Rechtfertigung hingegen daraus, sich in Abgrenzung gegen eine Welt zu verstehen, in der alle einzelnen Menschen von der Gemeinschaft und von irrationalen Bestrebungen, von ‚Mythen‘ beherrscht werden. ‚Deswegen‘, das ist die argumentative Grundlage der Moderne, sei es besser, dass die einzelnen Menschen autonom seien und ihr Leben selbstbestimmt aus sich heraus begründen. Das ist selber ein Mythos. Wie konnte es in der Entwicklung westlicher Gesellschaften zu dem führenden Narrativ der Selbstbestimmung kommen? Das wollen wir im Folgenden nicht als eine biographische Verfassung rekonstruieren, sondern als eine philosophische Denkkonstellation, die weithin in Anspruch genommen wurde. Damit können wir die Geburtsfehler in einigen Denkannahmen, die die Moderne betreffen, deutlicher herausstellen. Die Idee der modernen Philosophie, es gäbe da ein autonomes Wesen, das sich selbst bestimmt, das vernünftig für sich ist und handelt – eine Idee der Aufklärung – ist in Wirklichkeit eine Fiktion. Dieser Fiktion zu folgen hat viele politisch-moralische Vorteile, beispielsweise in Bezug auf die Beachtung von Menschenrechten. Aber sie ruht auf einer falschen anthropologischen und erkenntnistheoretischen Annahme. Wir versuchen, das historisch zu rekonstruieren, und beginnen mit der Philosophie René Descartes’. Descartes verblüffte mit einem einfachen und folgenreichen Gedanken, der eine hohe Anfangsplausibilität besitzt: Wenn ich sicheres Wissen über etwas gewinnen will, dann macht es Sinn, zunächst an allem zu zweifeln, was nicht gewiss ist. Ein solcher Zweifel ist im Prinzip an allem möglich, an allen Wahrnehmungen und schließlich sogar daran, dass es überhaupt eine Außenwelt gibt – aber: Am Zweifeln selbst kann 223
ich nicht zweifeln. Wenn ich zweifle, bleibt gewiss: Ich bin es, der zweifelt, ich bin es, der denkt. Gewissheit besteht in Bezug auf: den Zweifelnden, mich. Mich gibt es also. Cogito, (ergo) sum. Alle Gewissheit, folgerte Descartes, gründet im Ich. Ich denke, und ich bin. Verblüffend einfach. (So ähnlich hatte bereits Augustinus argumentiert.155) Was so plausibel und evident erscheint, hat gravierende Konsequenzen. Alle Erkenntnis wird nach Descartes auf den Menschen zurückgeführt, und der Mensch wird als ein denkendes Ding angesehen, gemäß einer sprachlichen Analogie: Wenn der Denkende nicht davon abstrahieren kann, dass er es ist, der zweifelt und also denkt, dann ist er offenbar ein denkendes Ding. Seine Existenzform ist die eines von der Welt losgelösten denkenden Etwas‘, er ist eine denkende Substanz, etwas von der Welt Losgelöstes. Notwendigerweise taucht die Anschlussfrage auf: Wie bezieht sich der Mensch auf die Welt, wenn doch die einzige erste Gewissheit ist: dass er ‚existiert‘, dass: „ich bin“. Ebenso wie fragwürdige Konsequenzen entstehen, ruht das Argument auf dem, was begründet werden soll; es ist zirkulär. Die Entgegensetzung zwischen Mensch und Welt ist bereits in die Anfangskonstellation eingraviert, in der Descartes argumentiert. Da wird ein Mensch fingiert, der sich der Welt gegenübersieht und über sie als etwas von ihm Getrenntes nachdenkt. Ausgehend von seinem eigenen Denken zweifelt er an der Außenwelt und ist sich seiner selbst dabei von vorneherein als etwas gewiss, das der Welt gegenübersteht. Die Moderne begründet sich mit sich selbst, und dabei wird Wahrheit durch Selbstgewissheit und Selbstbewusstsein ersetzt. In dieser Anfangskonstellation sind Verhältnisse zwischen Mensch und Welt von vorneherein ausgeklammert. Descartes setzt den Zweifel in den Mittelpunkt, um Sicherheit zu gewinnen – statt Vertrauen auf Kontakt, statt sich auf Verhältnisse einzulassen. Descartes’ Zweifel ist nur kurz, ihm folgt die Gewissheit. Auf Sicherheit zu bauen bedeutet aber schon, in einem Konstrukt leben zu wollen, einem System von sich oder von Zusammenleben, es begründet eine Abschottung von der Welt. Sowohl der methodische Zweifel als auch die Anforderung nach Sicherheit legen die Voraussetzung für ein Men-
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Augustinus, De vera religione 39. Werke Bd. 68. Paderborn 2007, S. 73. In der Sprache von Verhältnissen ausgedrückt, kann die Selbstgewissheit bei Augustinus (anders als bei Descartes) jedoch nur deshalb zur Wahrheit führen, weil der Mensch sich in der Innenschau seines Verhältnisses zu Gott innewird, d. h. hier Gottes Wirken. 224
schenbild, in dem der Mensch losgelöst von den Verhältnissen zu seiner Umwelt begriffen wird. Immanuel Kants Philosophie steht in der Denktradition von Descartes. Kant griff zu einem drastischen Bild, um empirische Erkenntnis zu begründen. Bereits in diesem Bild verdrehte er das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt: Würde man, so argumentierte Kant, das, was man erkennt, anhand der passiven Eindrücke einer ‚objektiv‘ vorgegebenen Welt deuten, wäre alles nur aus Erfahrung und letztlich Gewohnheit gültig (so dachte Hume). Daher drehte Kant das Verhältnis in einer gewagten Hypothese, in einem Gedankenexperiment um. Nicht mehr sollten sich die menschlichen Eindrücke nach der Welt richten, nein, der Mensch solle der Welt sein Gesetz aufprägen. Kant griff auf das Bild des Kopernikus zurück. ‚Man versuche es einmal umgekehrt, statt dass wir uns nach den Dingen richten, richten diese sich nach uns‘.156Er entwickelte einen genialen Gedanken (weiter): Wenn etwas für uns ein Objekt ist, wenn es zum Gegenstand geworden ist, dann haben wir in diesen Gegenstand bereits Eigenschaften hineingelegt, ohne die er kein Gegenstand wäre. Erkenntnis ist Interpretation. Alles, was wir erkennen, erkennen wir auf unsere Art, ‚als etwas‘ – so, wie wir es sehen, würden wir heute sagen. Da Kant die Formen, in denen allein wir etwas als Erfahrungsobjekt ansehen, als allgemein menschliche auffasste, war die naturwissenschaftliche Welt der Erfahrungsobjekte für alle Menschen gerettet. In dieser Erkenntnistheorie legte Kant einen weiteren Grundstein für die Isolierung des Menschen von der Welt. Er begründete die Idee eines von der Welt losgelösten menschlichen Subjekts, das die Welt erkennt – und moralisch-autonom Gesetze für sein Handeln entwirft.157 Die Philosophie, die sich auf Kant beruft – oder auf Vorgänger wie Descartes – wird üblicherweise Subjektphilosophie oder mentalistisch genannt, sie
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Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. III. Frankfurt/Main 1974, B XVI. Man muss hiervon Kants Alterswerk, das sich in der Kritik der Urteilskraft zeigt, abgrenzen. Dort ist er einem Verständnis von Wahrnehmung näher, wie es sich hier bei uns zeigt. Wahrnehmung ist immer schon im Zwischenraum, im Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen dem, was erst in einer Trennung Subjekt und Objekt sind. Vgl. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 90f., Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790). In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant: Werke in 12 Bänden. Bd. 10, B XLII, A XL. 225
nimmt ihren Anfang im Bewusstsein des einzelnen Menschen. Die Verhältnisse zur Welt, in denen der Mensch gemäß dieser Denkrichtung steht, gehen vom Menschen aus, er erkennt die Welt, er beurteilt sie, und er gibt ihr das moralische Gesetz, in dem gehandelt werden soll. Diese Philosophie herrscht weitgehend heute noch, auch wenn das ursprünglich kantische Denksystem überholt und erweitert wurde. Beispielsweise erweiterte Ludwig Wittgenstein Kants Gedanken um die Dimension der Sprache und vertiefte dabei in seinem Frühwerk Tractatus Logico-philosophicus die Kluft zwischen Mensch und Welt. Die Welt, wie sie ist, so Wittgenstein, sei für uns Menschen unzugänglich, wir betrachten sie durch Filter des begrifflichen Denkens und der Sprache. In diesem Buch Wittgensteins herrschen gleichzeitig viele Sprachbilder, die von der Sehnsucht nach Überwindung dieser Kluft gekennzeichnet sind. Freilich, das als System begründete Feld des Wissens liegt innerhalb der Grenzen des Subjekts bzw. der Menschen, man dringt nicht hinaus. (Die Welt, formuliert Wittgenstein, als Gesamtheit der Tatsachen, ist selbst keine Tatsache, alles in der Welt seien noch nicht einmal Dinge, es seien Tatsachen, von denen wir – in der Sprache – etwas sagen können.)158 Wittgenstein erlebte sich als grundsätzlich von der Welt getrennt.159 Das Leben lag für Wittgenstein gänzlich außerhalb dessen, was er in der Beschreibung der Welt zu fassen versuchte. Das Gefühl beispielsweise, die Welt staunend anzusehen, das Gefühl, dass ‚da etwas ist, dass es überhaupt etwas gibt‘, „das Gefühl für die Welt als Ganze“, wie Wittgenstein schrieb – was sich weder beweisen noch widerlegen lässt und daher für Wittgenstein ein Scheinproblem ist – begleitet den Menschen zwar, aber das Staunen dringt nicht in Wittgensteins System ein, es ist laut seiner Auskunft „mystisch“. Auch daher liegt für Wittgenstein jede Ethik außerhalb des Feldes des Tatsächlichen und außerhalb des Feldes des Wissbaren.160 Und doch liegt gerade im Staunen, sofern es das Gewahrwerden eines anderen ist, der Keim jedes Zusammenlebens und der Keim jeder Ethik. Wittgenstein radika158
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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus (1918/1921). Frankfurt/ Main 1998, Satz 1.1. Vgl. Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919–1929. Berlin 2018, S. 82f., 96. Und doch ist der Sinn des Tractatus ein ethischer; vgl. Wittgensteins Brief an seinen Verleger Ludwig von Ficker (Ludwig Wittgenstein, Briefe an Ludwig von Ficker. Salzburg 1969, S. 96, zitiert nach: Eilenberger, a.a.O., S. 55f.). 226
lisiert die moderne Philosophie und das moderne Weltbild, indem er es in seiner Begrenztheit darstellt und indem er aufweist, dass die eigentlichen Lebensfragen aus moderner Sicht außerhalb des Denk- und sinnvoll Begreifbaren liegen. Sie wirken geradezu absurd, dadurch wird jedoch die Absurdität des Denksystems Wittgensteins nahezu emotional greifbar. Während Wittgenstein in seinem Frühwerk noch eine Begründung eines begrenzten Weltbildes (innerhalb der Grenzen der Sprache) versuchte, und während Kant objektive Erkenntnis durch den Aufweis allgemein menschlicher Denk- und Anschauungsformen zu begründen versuchte, wiesen andere Denker in der Folge Kants auf die Relativität der menschlichen Versuche hin, sich die Welt zu erklären. Sie entdeckten die kulturellen, individuellen und historischen Formen, in denen Menschen etwas deuten. Alles, was erkannt ist, ist auf subjektive, kulturelle oder historische Art geprägt – so die erkenntnisrelativistische These. Damit zerfiel, was Kant im Sinn hatte, nämlich die apriorische, vor jeder Erfahrung liegende allgemeingültige Begründung von Wissen und von Erfahrungsobjekten, es blieben „historische Aprioris“, wie Foucault sie bezeichnete, also solche feststehenden Wahrheiten, wie sie für Menschen einer Epoche unabdingbar erschienen. Und der Mensch geriet zu einer „empirisch-transzendentalen Dublette“: Er ist zugleich derjenige, von dem aus die Dinge bestimmt werden, und derjenige, der selbst ein Objekt der Erfahrungswissenschaften ist. Dadurch wird er selbst fraglich, das „Zeitalter des Menschen“, der Anthropologie beginnt mit dem 19. Jahrhundert; und mit ihm die Frage, was der Mensch ‚eigentlich‘ sei. Zusammengenommen zeigt dieser kurze Abriss: Die durch Descartes inspirierte Philosophie begründet eine Trennung zwischen Mensch und Welt, und sie setzt den Menschen in den Fokus. Diese Denkkonstellation wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts kritisiert, vielleicht mit Friedrich Nietzsche etwas eher (mit Vorläufern wie Herder, Schleiermacher und Humboldt, vgl. Kapitel 5). In der Bildenden Kunst begannen Maler vor gut hundert Jahren, die Zentralperspektive aufzubrechen und sich der Wirklichkeit mehr- oder aperspektivisch zu nähern. Der Philosoph Martin Heidegger ging just von der Feststellung aus, die Trennung zwischen Subjekt und Welt sei zu hintergehen, der Mensch sei immer schon „in der Welt“; Heidegger versuchte in seinem Frühwerk, Verhältnisse, in denen Menschen zu Dingen und zu Mitmenschen stehen, vom ‚Dasein‘ des Menschen aus zu begreifen. Etwa zeitgleich kritisierte Ludwig Wittgenstein in seiner Spätphilosophie die Fiktion eines einzelnen menschlichen Subjekts, das 227
die Welt in seinen Denkmustern erschließt, mit Verweis auf die sozial vorausliegende Sprache. Beides war Kritik an der typisch modernen Denkrichtung, in der die Wirklichkeit ausgehend vom neuzeitlichen Subjekt und dessen gedanklichen Vorstellungen erfasst wurde. Hannah Arendt formulierte bereits in den 1950er Jahren, die Welt eröffne sich erst in mehreren Perspektiven – und jedenfalls nicht in einer immer stärker standardisierten Industriegesellschaft. Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kritik an der Aufklärung und insbesondere an Zweckrationalität passen zweifellos in diese Linie. Wenn Handlungen, die andere schädigen, rational eingepreist werden161, dann ist das Ausdruck eines engen, nämlich zweckorientierten Denkens, das letztlich auch die Ethik des Konsequenzialismus bzw. Utilitarismus auszeichnet, in der der einzelne Mensch prüfen soll, welches die besten Konsequenzen seiner Handlung für die meisten sind. Schließlich folgt die sogenannte Postmoderne dem Ansatz, dass die Welt überhaupt nicht in einer bestimmten Einheitsvorstellung dargestellt werden kann; in postmodernen Denkrichtungen wird daher die Differenz zwischen Perspektiven und wird Pluralität hervorgehoben. In der sogenannten Postmoderne wird Einperspektivität dekonstruiert, architektonisch in Form von Collagen, literarisch in einem Spiel mit Erzählperspektiven, philosophisch in der Dekonstruktion von Begriffen und von Einheit. Postmodernes Denken bleibt aber oft dabei, die Beziehungen zwischen Menschen als destruktiv zu entlarven, sie verharrt in der Kritik, sie zeigt Vereinzelung und Singularität. Wo Einheit zerstört wird, kann die Möglichkeit von Verhältnissen mit zerstört werden. Denn wo nichts ist, kann auch nichts ins Verhältnis zu anderem gesetzt werden. Wie würde sich ein Wesen ‚in Verhältnissen‘ verstehen? Wir wollen den Unterschied zu einer biographischen Erfahrung, in der Selbstbestimmung vorherrscht, herausstellen. Ein Ego-Subjekt wäre unfähig zur Perspektivenübernahme. Es sieht und erlebt in sich vielleicht die Angst angesichts des Fremden, nämlich vom fremden Anderen überwältigt zu werden, was Selbstverlust zur Folge hätte; Angst auch vor dem Fremden in sich selbst. Ein Subjekt hingegen, das sich in Verhältnissen
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Vgl. Mathias Binswanger, Der Wachstumszwang. ZEIT 05.03.2020: „Kapitalistische Wirtschaften sind auf Wachstum angewiesen, damit eine Mehrheit der Unternehmen langfristig Gewinne erzielen kann. Ist das nicht der Fall, gerät die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale. […]. Es gibt deshalb nur zwei Optionen: wachsen oder schrumpfen!“ 228
eingebunden weiß und von ihnen aus betrachtet, ist bereit, sich dem Fremden zu öffnen und zu lernen, denn es weiß, dass es erst in der Relation mit Anderen zum Subjekt werden kann. Es weiß auch, dass Kultur (z. B. Gemeinschaft, Moral und Recht) in diesen Verhältnissen allererst entstehen kann. Die individuelle Aneignung des Allgemeinen der Kultur ermöglicht es ihm, sein Individuelles zu gestalten; Gesprächskultur in der Auseinandersetzung mit Anderen individualisiert durch Aneignung von Allgemeinem. Das bedeutet: Zu viel Distanz erschwert, ein solches Individuum zu sein, aber zu viel Nähe ebenfalls. Ein Ich, eingebunden in Verhältnisse, vor deren Hintergrund es sich selbst als Eigenes und Verwobenes begreift, kann staunen: Es entdeckt anderes und andere vor dem ausgependelten, aber nie festzustellenden Horizont von Distanz und Nähe. Gegenüber der modernen Fiktion eines sich monologisch konstituierenden autonomen Subjekts könnte man in modifizierter Weise von einem sich in Erfahrungen von Verhältnissen und dann gesprächsweise-konstituierenden Ich sprechen. Der Übergang von einem selbstbestimmten Selbstverständnis zu einem Selbstverständnis, Verhältnisse zu würdigen, kann als Öffnung beschrieben werden. Für solche Öffnung sprechen zunächst nur wenige Begründungen, denn diese erfolgen nach eigenem Maß.162 Aber diese Öffnung lässt sich mit zentralen Erweiterungen und der Bildung eines sozialen Ichs verbinden. Der Mensch wird dankbarer, er sucht nicht mehr ein rollenfreies, gewissermaßen substanzielles Ich, das als unabhängig von anderen existierend gedacht wird. Er lebt in stärkerem Kontakt zu anderen, er lässt in stärkerer Weise seine Wünsche nach Verbundenheit zu, und, formulieren wir etwas kitschig, seine Liebe. Diese Bereicherung erlebt der Mensch als Vervollständigung seiner selbst, obgleich er in dieser Bereicherung gerade darauf verzichtet, sich selbst zu suchen; er findet vielmehr in sich die anderen. Die ‚Ganzheit‘ des Menschen, die darin besteht, in sich die anderen aufzufinden und insofern auf ‚sich‘ als etwas Einheitliches zu verzichten, besteht in dem, was Haratischwili als den ursprünglichen Wunsch beschreibt, der uns zugeflüstert wurde: zu lieben und geliebt zu werden. Ein gesprächsweise-konstituiertes Ich ‚weiß‘, dass es sich immer nur vor dem Horizont anderer Partner verstehen und dementsprechend auch handeln kann. 162
So denkt etwa der Protagonist Lloyd Vogel im Film A beautiful day in the neighborhood (Der wunderbare Mr. Rogers), der Fred Rogers (gespielt von Tom Hanks) begegnet und ihn zunächst als naiv ansieht, bevor er sich für seine Mitmenschen öffnet. 229
Dabei wird es sich nie nur mit dem Anderen identifizieren, aber der Abstand darf auch nicht zu groß werden, denn dann bräche die Verständigung ab. Insofern ist es das gesprächsweise-konstituierte (oder erweiterte) Ich, das die Grundfigur für ein ‚Wir‘, für eine gute Gestaltung zwischenmenschlicher Verhältnisse abgeben könnte. Da ein solches Ich in sich wandelnden Verhältnissen lebt (und aus einem kleinen Abstand des ‚Wir‘ entstanden ist), kennt es sich nicht vollständig, und es lebt in unbestimmten Konstellationen, auf die es gleichwohl vertraut; ein solches Ich ist ein ‚ungefähres Wesen‘. In einem Gespräch beispielsweise befindet sich ein solches Ich sowohl an seinem Platz als auch im Zwischenraum zwischen sich und den anderen Gesprächspartnern. Daraus folgt viel: Ich bin nach einem Gespräch ein anderer als vorher, und wenn ich mich darauf einstelle, bin ich offener für andere und anderes und für Ungewisses. Das Verhältnis, in dem sich ein Mensch begreift, geht nicht von festen Prinzipien aus. Weder wird der Grundsatz solcher Verhältnisse in festen Regeln gesetzt, die als vorgegeben angesehen oder ausgehandelt werden und dann ein für alle Mal gelten, noch gehen die Verhältnisse von den Maßstäben der einzelnen Menschen aus. Das Verhältnis selbst ist in seiner Wandelbarkeit das Grundlegende, es ist eine Sache, die immer dem einzelnen, auch wenn er nachdenkt, vorausliegt und die er begrifflich nicht ganz erfassen kann.163
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Zur Einordnung: In diesem Sinne unterscheidet sich unser Ansatz davon, die Umgebung oder vorausliegende Strukturen, in denen Menschen leben, als ursächlich für die Bestimmung des Menschen und für seine Lebensform aufzufassen. Die Verhältnisse, in denen Menschen leben, fassen wir als Zwischenraum auf, der keinen Pol – Vorausliegendes, was Menschen umgibt – als einzig Prägendes ansieht. Verhältnisse sind unbestimmt Konstituierendes, das von den Polen selbst mit geformt wird. Unser Ansatz fügt sich dementsprechend nicht in einen strukturalistischen Ansatz ein, demzufolge bestimmte Strukturen das Menschsein prägen und in dem Strukturen deskriptiv verstanden werden. Wir hintergehen einen solchen Ansatz gewissermaßen dreifach: indem wir Verhältnisse statt umliegender Gegebenheiten in den Mittelpunkt rücken, indem wir Verhältnisse als unbestimmt auffassen und indem wir sie als zugleich beschreibend und werthaft ansehen. Im gleichen Sinne unterscheidet sich unser Ansatz von Foucaults Auffassung der Machtdispositiva, die Menschen grundlegend bestimmen, auch wenn diese Auffassung deskriptiv beleuchtet zutreffen kann. Ohne die Denkstruktur Levinas’ zu teilen, der zufolge der ‚andere‘ als Transzendenz in die subjektive Weltanschauung des Menschen einbricht, hat unser Ansatz mit Levinas die Gemeinsamkeiten, dass dem anderen ein Primat für das Ich zugehört. Das ‚Antlitz‘, das für Levinas – im 230
Wir Menschen, so verstanden, sind ‚Zwischenwesen‘ und können das Pendeln zwischen Nähe, Distanzierung und Leiden an dieser Distanzierung nicht überwinden; daher bleibt uns nichts anderes – und ebenso dürfen wir dies erhoffen –, als uns zum Status eines ‚ungefähren Wesens‘ zu bekennen; ‚bekennen‘ heißt, sich bescheiden und Grenzen anerkennen. Ein Ich, das sich in sozialen Verhältnissen denkt, wird in der Konsequenz auch in wirtschaftlicher Hinsicht anders kooperieren als ein Ich, das nur sich im Blick hat.164 Ökonomen figurieren den Menschen üblicherweise als von rationalen Eigeninteressen geleitet. Kooperationen ergeben sich nur dann, wenn daraus für die Individuen ein Vorteil entspringt, eine ‚Synergie‘. So hat bereits Adam Smith das Wirken der ‚unsichtbaren Hand‘ des Marktes beschrieben. Das könnte ein Fehler in der Modellierung von Menschen sein, ein Fehler allerdings, der rückwärts die Menschen hin zu dem verändert, wie sie modelliert sind. Die Ziele von Personen können ebenso egoistisch wie prosozial sein.165 Es könnte sein, dass in Verhältnisse eingebundene Menschen ihre Ziele von diesen Verhältnissen bestimmen lassen. Das Interesse am Verhandlungspartner kann zum Interesse an einem kooperativen Verhandlungsabschluss werden. Soziale Präferenzen wären dann nicht abgeleitet von individuellen Interessen, sondern umgekehrt prägten die aus der Interaktion sich ergebenden Interessen dasjenige, was mich glücklich oder zufrieden macht.
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Unterschied zur Objektivierung eines anderen bei Sartre – bedeutsam ist, hat Ähnlichkeiten zur Angesichtigkeit, von der wir reden, und zum Gewärtigen eines anderen. Vgl. Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere. Frankfurt/Main 1981, S. 92ff.; Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Freiburg, München 1983, S. 199. Vgl. Institut für Weltwirtschaft, Cooperation, Motivation and Social Balance, by Steven Bosworth, Tania Singer and Dennis J. Snower (2016) (7, Concluding Remarks). Smith ist sich allerdings der Krisenanfälligkeit des marktwirtschaftlichen Systems durchaus bewusst gewesen und fasst den Menschen außerdem als ein Wesen auf, das ebenso von Eigennutz wie von Sympathie und Wohlwollen geprägt ist. 231
11 Zusammenfassung – Tugenden vor dem Horizont der Ungewissheit Den allgemeinen Horizont, in dem wir inhaltlich begonnen haben nachzudenken, bildet die uralte und Bibliotheken füllende zeitübergreifende Frage allen philosophischen Denkens, nämlich die nie abschließend zu beantwortende Frage, wie man in unserer Welt leben sollte und kann. Die Frage stellt sich uns besonders heutzutage angesichts einer (auch) als krisenhaft wahrgenommenen Gegenwart. Nun verweist die Frage, wie ich handeln und leben sollte, auf meine Lebensform und damit auf mein Selbstverständnis: Allem, was ich denke, tun zu sollen, liegt ein Selbstverständnis, ein Verständnis meiner Mitmenschen und ein Wirklichkeitsverständnis zugrunde. Umgekehrt prägen meine Handlungen und Handlungszielbestimmungen, wer ich sein werde und sein kann. Eine Moral, die diesen Zusammenhang mit dem menschlichen Selbstverständnis ausklammert oder verkürzt, verdient ihren Namen nicht. Liegt unseren heutigen Auffassungen, wie wir handeln sollen, also ein bestimmtes Selbstverständnis, ja, ein Bild vom Menschen zugrunde, das mitauslösend für krisenhafte Geschehnisse unserer Zeit ist? Das haben wir uns zu Beginn des Nachdenkens gefragt. Der Mensch soll selbstbestimmt leben, er soll die Grundsätze seines Handelns aus sich heraus schöpfen; das gilt als ein Kern des heutigen modernen Selbstverständnisses. Provoziert angesichts der Nebenwirkungen dieser Selbstbestimmung weiter gefragt: Wie kann man die Moderne, sie neu verstehend, ‚überholen‘? Wer so fragt, gesellt sich der Gruppe der Kritiker der Moderne zu. Kritiker kann aber auch jemand sein, der dem Kritisierten im Ganzen wohlwollend gegenübersteht und Einzelnes kritisch mustert – so verstehen wir unseren Ansatz. Wir nähern uns einigen Problemen der Moderne, indem wir ihre Leistung und ihren Kollateralschaden aufzeigen, um die Frage nach neuen Möglichkeiten anzuschließen. Grundsätzlich sind wir davon ausgegangen, dass Menschen immer schon in Verhältnissen zu sich und zur Natur, zu Mitmenschen und zum Ganzen der Wirklichkeit leben. Verhältnisse sind zunächst über jeden Rahmen hinaus ins Unbestimmte geweitet, und von dieser Weite her leben wir in ihnen. Insofern Ver232
hältnisse unbestimmt sind, sind es Menschen auch. Sie kennen die Welt nicht, sie kennen andere nicht, und sie kennen sich nicht. Daher sind sie ‚ungefähre Wesen‘. Für ungefähre Wesen, die Teil unbestimmter Verhältnisse sind, kann der Wandel, in dem sie leben, nie vollständig durchschaut und erkannt werden. Somit drängt sich die Einsicht auf, dass Selbstbestimmung die Wahrnehmung von Komplexität und von einer eigensinnigen Welt verhindert. Individuelle Lebensgestaltung, in der Menschen sich von ihren Verhältnissen her verstehen und in der sie mit anderen verbunden sind, kann hingegen als Aufgabe eines Lern- und Bildungsprozesses verstanden werden. Sicherheitsstreben, in dem statt der Wahrnehmung von Verhältnissen ein fester Rahmen und ein System konstruiert wird, erweist sich als Abblendung der Wirklichkeit und, aufs Ganze eines Lebens gesehen, als Irrweg. Wir sind zu der These gelangt, dass die Wahrnehmung von Verhältnissen vor einem Horizont von unbekannt-Unbestimmtem neu verstandene Freiheits- und Lebensperspektiven ermöglicht. Das Wissen um Unbestimmtes eröffnet freie, aber immer unsicher-vorläufige Wege, denn Menschen sind immer schon umfangen von Weltverhältnissen, ohne diese vollständig erkennen zu können. Insofern plädieren wir für einen neuen Bildungsbegriff, der sich von Nutzen und Effektivität betont abgrenzt und sich in die gegenwärtige Diskussion um veränderte Lebensformen einklinkt. In-Verhältnissen-denken verlangt ein neues Bildungsverständnis. Dieses ist über Unbedingtes informiert, es weiß, dass Offenheit, Takt und Neugier im bewusst gelebten Nichtwissen ausgependelt werden. Wer, wie wir, sich gegen eine einheitliche Prinzipienmoral wendet und sich für eine Tugendmoral ausspricht, gerät in immanente, selbstproduzierte argumentative Probleme. Eine Prinzipienmoral kann auf Prinzipien als (letzte) Gründe verweisen; eine Tugendmoral räumt Unbestimmtem eine zentrale Bedeutung ein und stößt daher auf argumentative Grenzen, denn Argumentieren im Unbestimmten ‚hat‘ keinen ‚letzten Halt‘. Ein Ansatz bei Tugenden ermöglicht es allerdings, würdevolle Lebendigkeit konkret an Beispielen zu erkunden. Inhaltlich konkreter versuchen wir, eine Skizze der Möglichkeiten eines gelingenden Lebens in der Moderne zu entfalten. Das kann schon deshalb nur eine Skizze bleiben, die nicht mit Sicherheit punktet, weil sie ja gerade den Versuch darstellt zu beschreiben, wie es geht, würdevoll in Unsicherheit zu leben. Eine Skizze kann einen allenfalls schattenhaften Umriss geben. Zu welchen – wenn auch immer vorläufigen – Ergebnissen kommen wir? Wir denken, unser Ansatz, eine alternative Gestaltung des Lebens in Form bestimmter 233
Tugenden zu untersuchen, hat sich als leistungsfähig für einen Umgang mit typischen Krisen der Epoche der Moderne ergeben. Das lässt sich zunächst im Unterschied zu typisch modern-selbstbestimmten Lebensmaximen darstellen. Verallgemeinert und damit schlagwortartig: Der selbstbestimmte Mensch ist nicht auf Grund seiner Selbstbestimmung bescheiden, sondern gierig; er ist seinen Mitmenschen nicht treu-konstant verbunden, sondern benutzt Menschen zu seinen inkonstanten Glückszwecken. Er kann nicht taktvoll mit Formen des Zusammenlebens spielen, sondern wälzt sich mit seinen Ansprüchen in seine Umgebung, er setzt seine Perspektive durch, statt für die Erweiterung von Perspektiven offen zu sein. Er misst andere mit Hilfe selbstgewählter und jeweils angesagter Kriterien statt seinen Mitmenschen zu vertrauen, er beurteilt andere mit seinen Maßstäben und Begriffen, statt seine Umgebung staunend als etwas Besonderes zu sehen. Er übervorteilt und ignoriert Fremde und bekennt sich bloß mit Lippen zu Gleichberechtigung aller, statt sich im Horizont der Wahrnehmung dessen, dass alle Menschen gemeinsam unseren Planeten bewohnen, für die Wahrnehmung Fremder und ihres Eigensinns zu öffnen, er versteht Freiheit als Willkür oder Prinzipientreue statt als Zulassung von Wahrnehmungen und statt als Selbstbesinnung in einer unbestimmten Welt. Die Corona- und die Klimakrise können als Lern- und Bildungsprozess aufgefasst werden, in dem die Tugenden eine zentrale Rolle spielen, die wir erörtert haben: Das Virus zeigte drastisch den Eigensinn dessen, was es gibt. Es war nicht beherrschbar und hat das öffentliche, soziale und wirtschaftliche Leben lahmgelegt. Auf diesen Kontrollverlust kann mit der Anerkennung von Komplexität reagiert werden. Diese zeigt sich in Takt und Mehrperspektivität. Vertrauen und Dankbarkeit sind dabei unverzichtbar, ebenso wie die Fähigkeit zu staunen, die bedeutet, den Eigensinn dessen, was uns begegnet, zu akzeptieren. Wir stehen dann der Wirklichkeit zugewandt gegenüber, und das begünstigt Solidarität. Diese Solidarität unterscheidet sich von derjenigen in kollektivistischen Gemeinschaften. Der einzelne wird in einer freien Gemeinschaft nicht eingemeindet, sondern er kann sich auf Basis der Anerkennung seiner Besonderheit und Unterschiede solidarisch auf andere ausrichten. Es erweist sich als förderlich für dieses neue Verständnis solidarischer Gemeinschaften, dass in den letzten Jahren um Inklusion und die Akzeptanz von Differenzen gestritten wurde. Dass wir heute unterschiedlichen sexuellen Präferenzen aufgeschlossen begegnen können, ist das prominteste Beispiel für die Fähigkeit heutiger Menschen, Unterschiede wahrzunehmen und sich 234
auf verschiedene Menschen zugewandt einzustellen. Das kann Mut machen, die Krise als eine Chance anzusehen, den Freiheitsbegriff über Selbstbestimmung hinaus zu erweitern. Sicherlich ist es besser, entsprechend der dargestellten Tugenden zu leben als gemäß der ihnen korrespondierenden Untugenden; sicherlich ist treue Verbundenheit normalerweise besser als instrumentelle Behandlung anderer zum eigenen Vergnügen. Das ist im Fall der Bescheidenheit, die der Gier (moralisch) zu bevorzugen ist, trivial, bei anderen Tugenden allerdings bestenfalls interessant oder aufschlussreich. Die Leistungskraft unseres Ansatzes zeigt sich darin, zwei Zusammenhänge verdeutlicht zu haben: einerseits den Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und den Untugenden sowie andererseits zwischen einem Selbstverständnis als Mensch in Verhältnissen und den Tugenden. Man kann nicht zugleich die Selbstbestimmung feiern und über den Verlust gemeinschaftlicher Sitte klagen, denn es ist inkonsistent, seine eigenen Auffassungen als Maß setzen zu wollen und zugleich den Verlust des wahrhaftigen Kontakts zu anderen zu bedauern. Inwiefern lassen sich die Tugenden, die wir erörtern, als Tugenden in Verhältnissen beschreiben? Denn den Begriff des Verhältnisses haben wir benutzt, um ein Leben in Verbundenheit zu kennzeichnen, abgegrenzt von einem Leben, in dem ein Mensch sich hauptsächlich nur auf sich selbst bezieht oder von anderen fremdbestimmen lässt. In jedem Kapitel sind wir von einer lebensweltlich bedeutsamen, ethisch fragwürdigen Situation ausgegangen, die jeden Menschen in seiner Lebensgestaltung betrifft und die ihn sogar existenziell bedrängen kann. In dieser Situation liegen eine Kontroverse und ein Dilemma verborgen, innerhalb derer ein Mensch scheinbar vor einer Entweder-Oder-Entscheidung steht. Das Dilemma betrifft auf einer tieferen Ebene Auffassungen über sinnvolle Lebensgestaltungen, die unsere Zeit im Kern berühren – unser heutiges modernes kulturelles Umfeld. Diese Grundauffassungen über gutes Leben haben wir zu rekonstruieren versucht. Ihnen liegen unterschiedliche Selbstverständnisse von Menschen zugrunde. Die Selbstverständnisse ruhen auf unterschiedlichen Einstellungen von Menschen sich selbst und ihren Mitmenschen gegenüber. Und sie ruhen auf unterschiedlichen Einstellungen zur Natur und dazu, wie Menschen sich im Ganzen der Wirklichkeit verstehen. Indem wir diese Einstellungen betrachteten, haben wir uns von einer soziologischen Untersuchung entfernt. 235
Die Tugenden bedingen einander. Bescheidenheit-Treue-Takt-Mehrperspektivität- Vertrauen-Staunen-solidarische Zugehörigkeit stehen in einem wechselseitig sich beleuchtenden Zusammenspiel, in dem traditionsorientierte Freiheit die Hintergrundfolie bildet. Die solidarische Verbundenheit zur Wirklichkeit ist dasjenige, das zu akzeptieren und auszugestalten den Horizont bildet, um die Tugenden auszubilden. Stattdessen leben sowohl Menschen, die in festen Traditionen leben, als auch Menschen, die sich der Idee der monadischen Selbstbestimmung verschreiben, nicht in solchen solidarischen Beziehungen, die wir ‚Verhältnisse‘ nennen. Entweder sie glauben, die Traditionen sollten die Lebensgestaltung vorgeben oder sie obliege dem einzelnen. Die Tugenden zu erwerben, die wir uns angesichts der Wahrnehmung unserer modernen Welt vorgelegt haben, bedeutet, in einem kulturellen Umfeld zu leben, das sie fördert, und es bedeutet, über sein Leben nachzudenken. Beides ergänzt sich, eins entwirft ein Bild einer alternativen Gesellschaft, eins appelliert an den einzelnen. Verhältnisse, die geeignet dafür sind, dass Menschen gut leben, erfordern entsprechende Gemeinschaften und entsprechende einzelne Menschen. Dies deshalb, weil der einzelne und Gemeinschaften in Verhältnissen aufeinander bezogen sind und nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können und weil Menschen und Mitmenschen ihr Leben nicht unabhängig voneinander gestalten können. Wir reden daher besser von Selbstbesinnung als von Reflexion, die zu sehr den einzelnen losgelöst von den anderen fokussieren würde. Selbstbesinnung ist eine Fähigkeit, die nur im Austausch, im Gespräch eingeübt und erprobt werden kann; sie ist nicht per se gegeben, quasi als Naturausstattung, sondern bedarf der Übung und Pflege (der Erziehung und Bildung). Selbstbesinnung könnte sich als immer wieder erneuerter Versuch darstellen, eine Kultur des Vertrauens und Taktes zu fördern. Vor diesem Hintergrund könnte aus dem Wissen um das nie zu klärende Weltverhältnis von aktiv und passiv, von angestrebter Welteroberung und erlittenen Widerfahrnissen die Kraft zu gewinnen sein, in wissender Weltunsicherheit zu leben. Gelassenes, warmherziges und freies Staunen wäre dann auch ein Teil einer Lebenskunst, sich etwas ‚zulassen‘ zu können. Welche Arten von Tugenden haben sich konkret daraus ergeben, dass Menschen in Verhältnissen leben? Die erste Tugend, die wir in Kapitel 2 erörtert haben – Bescheidenheit – besteht darin, die eigenen Bedürfnisse einzuklammern und andere wahrzunehmen. Sie besteht in der Freiheit im Umgang mit eigenen Bedürfnissen. Bescheidenheit bedeutet, sich in einem Ganzen einzufinden und wissen, dieses ist 236
‚größer‘ als man selbst – Demut. Die entsprechende Untugend besteht darin, nur auf die eigenen Bedürfnisse zu sehen, der Gier zu verfallen und auf eigene Vorteile zu schielen. Die Richtung, in der hier auf Verhältnisse geblickt wird, ist: „Ich in meinem Bezug auf andere(s) – von mir zu anderem“. Die zweite Tugend, Treue, besteht darin, das Verhältnis konstant zu lassen und es zu gestalten. Das beinhaltet das Bekenntnis dazu, nur durch andere und anderes zu sein. Entsprechend zerreißt jemand, der nicht in dieser Tugend lebt, die Verhältnisse zu anderen (und zu sich), er betrachtet andere als Mittel – oder er liefert sich anderen aus. Der Aspekt, in dem hier auf Verhältnisse geblickt wird, ist: „die Konstanz bzw. Stärke des Verhältnisses“. Die dritte Tugend, Takt bzw. würdevolle Lebendigkeit, zeigt sich in der Ernstnahme von Situationen und in der Ernstnahme der Unbestimmtheit von Verhältnissen, die Umgangsformen und Spiel mit Formen nötig macht. Dagegen steht die Untugend, in starren Formen mit anderen und sich zu leben oder Formen als äußerlich abzutun. Der Aspekt, in dem wir hier auf Verhältnisse blicken, lässt sich als „die Gestalt bzw. Form des Verhältnisses“ beschreiben. Die Ernstnahme von Perspektiven und Unterschieden zwischen Perspektiven bezeichnet die vierte Tugend, Mehrperspektivität. Sie beinhaltet die Öffnung für das, was nicht perspektivisch bestimmt ist. Gegenüber ‚Weltneulingen‘, d. h. unerfahreneren Menschen besteht sie darin, ihnen eine verlässliche Welt zu zeigen: Perspektiven zur Geltung zu bringen, Macht verantwortlich auszuüben, Vertrauen zu geben und Fundamente zu legen, mit anderen Worten, den Boden für Verhältnisse zu bereiten. Und sie beinhaltet, sich für ihre Perspektive zu interessieren sowie ihnen Freiheit zu geben. Mit der Bekanntschaft mit Perspektiven wird man aufmerksam für die Verhältnisse anderer und kann damit die eigenen Verhältnisse perspektivieren. Perspektiven mit roher Gewalt durchzusetzen, Beliebigkeit, Willkür, Verschleierung von Macht, nur bestimmt fokussierte Perspektiven zuzulassen sowie der Glaube daran, die Perspektive der Perspektiven zu besitzen, das hingegen ist eine Untugend. „Welt(an)sichten im Verhältnis zueinander“, das ist der hier betrachtete Aspekt, in dem auf Verhältnisse geblickt wird. Die fünfte Tugend, Vertrauen, besagt, annehmen zu können, was ist, sich hineinzubegeben in Vorgefundenes, das Leben und die Welt als Geschenk anzusehen. Nicht tugendhaft ist in dieser Richtung, alles durch das Nadelöhr der eigenen Vernunftmaßstäbe zu betrachten. In dieser Richtung, Verhältnisse zu analysieren, geht es um die „Annahme anderer – von anderem zu mir“. 237
Fragen wir uns bezüglich von Verhältnissen, wie wir „auf anderes blicken, wie wir aus der Distanz zum Verhältnis auf es blicken“, dann ergibt sich die sechste Tugend, warmherziges Staunen, die wir im siebten Kapitel erörtert haben. Zugewandt bemerken, dass es eine eigensinnige Welt gibt, jemanden (und sich) in seinem Eigensinn schätzen, Nahes immer mal wieder zu verfremden, Besonderes wahrzunehmen – das bedeutet das. Die entsprechende Untugend besteht darin, über anderes verfügen zu wollen, zu glauben, anderes zu kennen, entfremdet aus Zusammenhängen herauszufallen oder in Gewöhnung Nahestehende(s) gar nicht zu bemerken. Bei allen Tugenden tauchten Überlegungen auf, in denen es galt, die Balance, die Mitte zu wahren bzw. das Maß zu halten. Das liegt daran, dass es um Verhältnisse zwischen Polen geht, die ausgewogen bedacht werden sollen. Bescheidenheit liegt zwischen Zurücknahme und Behauptung (vgl. Kapitel 2) und Treue zwischen Versprechen einer Ewigkeit und Wahrnehmung sowie Berücksichtigung der Gegenwart (vgl. Kapitel 3). Alle Verhältnisse, das Verhältnis zwischen Menschen, Selbstverhältnisse, Verhältnisse zur außermenschlichen Umwelt und zum Ganzen, bestehen zwischen unbestimmten Entitäten, die zugleich eine Form haben – außerdem ist das Verhältnis selbst unbestimmt und geformt. Besonderes wahrzunehmen gelingt nur vor der Folie der Bildung von Begriffen, nur mit Hilfe allgemeiner Begriffe aber wird niemand etwas Besonderes gewahr. Wer etwas in einer bestimmten Form begreift und zugleich weiß, dass es nicht nur das Bestimmte ist, begegnet ihm in der Gestalt des Takts. Ein taktvoller Mensch wahrt Formen, und er betrachtet auf dieser Grundlage Situationen und Verhältnisse in ihrem unbestimmten Eigensinn (vgl. Kapitel 4). Mehrperspektivität liegt zwischen Geltung der eigenen Perspektive und Berücksichtigung anderer (vgl. Kapitel 5). In jedes Verhältnis gilt es, vertrauensvoll hineinzugehen, aber auch – kontrollierend? – wahrzunehmen, was geschieht (vgl. Kapitel 6). Mit etwas anderem, mit anderen Menschen und mit sich in einem Verhältnis zu sein bedeutet, warmherzig zugeneigt zu sein und es staunend als etwas Besonderes anzusehen (vgl. Kapitel 7). Auch diese zentralen Tugenden sind um den Begriff des Verhältnisses herum gruppiert. Im Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz stoßen wir auf ein Problem: Vertrauensvolle Verhältnisse spinnen sich in Nahbeziehungen, aber wirtschaftliche, soziale und ökologische Probleme sind darauf angewiesen, in einem übergemein238
schaftlichen Rahmen bearbeitet zu werden. Die zugehörige Tugend lautet geöffnete solidarische Zugehörigkeit (Kapitel 8): sich in einer Gemeinschaft wissen und um sie kümmern. Das Bekenntnis zum Ort, an dem man lebt, zu seiner partikularen Gemeinschaft, von der aus man den Radius erweitert, gehört hier hinein. Sie beinhaltet, von diesem Ort aus aus immer dann, wenn Wahrnehmungen und Kontakt vorhanden sind, Fremde fair zu behandeln, sich für sie zu öffnen und Vertrauen zu ihnen aufzubauen, Fernes per Vorstellung nahe zu holen, Nahes in Höflichkeit zu verfremden und Solidarität und Mitgefühl auch mit in Not Befindlichen aufzubauen, die in der Fremde leben. Untugendhaft hingegen ist, ferne Personen auszunutzen, ortloses, nur als solches proklamiertes Weltbürgertum, folgenlose Toleranzbekundung, fremde Kulturen mit den eigenen Moral- und Politikmaßstäben zu überziehen sowie abdichtender Partikularismus. Der Aspekt, in dem hier auf Verhältnisse geblickt wird, ist „der Zusammenhang verschiedener Verhältnisse zueinander, von meinen Verhältnissen aus auf andere sehen, von Fernverhältnissen auf nahe Verhältnisse zurückblicken“. Anschließend setzten wir uns mit dem übergeordneten Zusammenhang zwischen Moderne und Tradition sowie Selbst- und Fremdbestimmung auseinander, der oft als Spannungsfeld rekonstruiert wird und der der Ausgangspunkt für dieses Buch insgesamt ist. Zusammenfassend lässt sich die achte Tugend als traditionsorientierte Freiheit bezeichnen: andere und sich in ‚sanfter Freiheit‘ zuzulassen, sich mit Traditionen auseinanderzusetzen, mit anderen in Freiheit das Leben zu gestalten. Die entsprechende Untugend besteht in Selbstbestimmung, Isolierung, Trennung von Verhältnissen, Unterdrückung und darin, Traditionen als feste, Freiheit verhindernde Vorgaben zu begreifen oder in ihnen leben zu müssen. Der Aspekt, in dem hier auf Verhältnisse geblickt wird, lautet: „Verhältnisse erfordern aktive Pole, Pole entstehen in Verhältnissen“ (vgl. die Kapitel 9 und 10). Wie haben wir die Tugenden plausibilisiert? Wer sich bescheidet, umgrenzt sich und seine Bedürfnisse. Er erwirbt so eine Disposition, andere wahrnehmen zu können und sich für sie zu öffnen. Andersherum ist der enge und starre Rahmen einer fixen Weltvorstellung – gleich ob selbstbestimmt oder traditional – die Grundlage, die Welt als eigensinnige aus dem Blick zu verlieren und nur um sich selbst zu kreisen. Wer sich anstiften lässt von anderen, wer sich zur Verbundenheit mit ihnen bekennt, der kann den Glauben, nur aus sich heraus leben zu können, in seiner rahmend-einengenden Wirkung erkennen und befragen. Er kann sich von anderen inspirieren lassen und in den Horizont eines gemeinsam einander 239
vertrauenden Lebens hineinbegeben. Weil Rahmen einerseits unaufhebbarer Teil des Lebens sind und andererseits immer einen impliziten Kollateralschaden entfalten, gilt es, im Zusammenleben ein situationsbedingtes Maß und Mitte zu erkennen und zu leben. Taktvolle Menschen nehmen Situationen wahr und können bedacht-nachdenklich mit sich und anderen umgehen. Lernen kann als Fähigkeit verstanden werden, sich in zunehmend komplexer darstellenden Verhältnisgeweben taktvoll bewegen zu können. ‚Taktvoll‘ kann man gelernt haben, nachzugeben, weil man Eigenes zurückstellen kann, um großzügig auf mögliche eigene Ansprüche verzichten zu können. Wer die eigene Perspektive einklammern kann, kann einen weiteren Gesichtswinkel erhalten. Wer in dieser Weise Vertrauen aufbringt, lebt konkrete Mehrperspektivität in einem vorgefundenen bejahten und bejahenden kulturellen Umfeld. Diese Bejahung unterscheidet sich vom ‚Ja‘ eines Urteils; im Spanischen gibt es in vergleichbarer Weise zwei Worte für das deutsche ‚Ja‘: ‚ya‘ und ‚si‘. Mit ‚si‘ wird das Urteil der Zustimmung im Unterschied zu einer Ablehnung zum Ausdruck gebracht, mit ‚ya‘ wird die Akzeptanz des Gesagten unterstrichen. Bejahendes Verhältnis zum Unbestimmten verbindet die Anerkennung des Anderen, ohne Selbstaufgabe. Vertrauen als Geschenk gibt trotz aller Unsicherheiten Mut und Zuversicht im Wissen um Unbestimmtes. Ein derart ausgebildetes Vertrauen ermöglicht eine Haltung des Verzeihens. Erfahrenes Vertrauen versetzt in einen Stand der Freiheit; es ermöglicht und fördert Differenz und eine Grundlage für warmherziges Staunen. So kann jemand bemerken, dass es eine eigensinnige Welt gibt, und er kann andere (und sich) in seinem Eigensinn schätzen. Was ist der ‚Kitt‘ der Gesellschaft: Moral oder Interesse? Werden Nähe oder Ferne als Nächstenliebe und Solidarität wahrgenommen? Wer sich in einem Sinn des Vertrauens zu anderen zugehörig fühlt, ist frei, die eigene Gemeinschaft nicht als enges Zwangskollektiv zu erleben. Gelebte Mehrperspektivität der Zugehörigen eröffnet Zugänge für und ein Verständnis des ‚unbestimmten Wesens‘ des Menschen, und es öffnet für Fremde. Denn wer Menschen als unbestimmt begreift, kann andere zulassen und sich dafür interessieren, sie wahrzunehmen und zu berücksichtigen. So gesehen können Partikularismus und Universalismus miteinander und füreinander bestehen. Wer schließlich weiß, dass er in letztlich unüberschaubaren unbestimmten Verhältnissen lebt, kann und muss ein Verständnis von Freiheit als Zulassung entwickeln. Lebendige, gelebte Freiheit braucht Vertrauen – Leben in Verhältnissen bedeutet Paradoxien wahrzunehmen und 240
Leben in Spannungsfeldern spielerisch gestalten zu können, denn nur riskant und mutig-spielerisch lassen sich Freiheitsräume eröffnen. Sicherheitsstreben erweist sich von hier aus noch einmal als Irrweg; ein derartiges Streben schließt im Kern Freiheit aus. Freiheit bedeutet auch Unsicherheit. Eine Bildung, die dem freien Spielcharakter, als das man menschliches Leben ansehen kann, gerecht zu werden versucht, wird nicht immer einfach sein. Sie setzt Auseinandersetzung, das Aushalten von Unsicherheiten und Selbstbesinnung voraus und ermöglicht sie. Damit fördert sie ein Leben, in dem Menschen mit der Entzweiung umgehen lernen, die daraus erwächst, dass wir alle uns in unserer Entwicklung von anderen abgrenzen und dass wir unsere Welt (und uns selbst!) vergegenständlichen müssen, um sie zu erkennen. Jenseits des wünschenswerten Staunens und der Warmherzigkeit, die sich ergeben kann, wenn wir jemanden als Besonderen wahrnehmen, bleibt die kaum auszublendende Melancholie der Unsicherheit und des Risikos – und des Enttäuschtwerdens. „Bildung tritt ein als ein Ertragen von Abschieden.“166 Jeder Mensch muss sich in einem solchen Bildungsprozess auch als individuelles Zentrum erfahren, seine selbstpräparierten Interessen entwickeln, erkennen und relativieren, er muss Verantwortung übernehmen und dabei durch ein Regelwissen hindurchgehen; erst dann kann er situativen Takt entwickeln. Er muss eine Perspektive entwickeln, um urteilen und präzise betrachten zu können, erst dann kann er an seiner Perspektive leiden und sie erweitern. Unbestimmtes als letzten Denkhorizont und ‚Umgreifendes‘ im (Rand)Blick zu halten, wie Karl Jaspers es nannte, kann bei einem solchen Bildungsweg stets der inspirierende Funke sein, der die Wahrnehmung wachhält. So kann der Mensch gleichzeitig ein ‚individuelles Selbst‘, ein bestimmter Mensch, sein und jemand, der sich im Gespräch ihm Fremdes aneignet, sich eigenem Fremden bewusstwird und gleichzeitig das Geheimnis seines ‚Selbst‘ erspürt und bewahrt. Warum gerade diese Tugenden? Sie bilden zusammen die Würdigung der Verhältnisse, in denen wir leben. Aus der Wahrnehmung von anderem, der Konstanz der Verhältnisse, aus ihrer Form, Reziprozität, Annahme, distanzierenden Bezugnahme, in der Ferne und in ihrer Freiheit entstehen unsere solidarischen Beziehungen zu uns und zu anderen.
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Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen. Frankfurt/Main, S. 89. 241
Diese Tugenden waren besonders in der Coronakrise gefragt. Und sie sind heutzutage mühsam zu erwerben. Menschen sind es gewohnt, dass sie mit ihren Absichten schnell und effizient durch die Tage gehen, dass sie sich zügig mit dem Auto oder Flugzeug von A nach B bewegen, dass sie Produkte kaufen können, die ihnen das tägliche Leben erleichtern. Viele leben mit dem Anspruch, jederzeit zu jedem Ort in der Nähe gelangen zu können, sei es ins Kino, wo sie sich unterhalten, oder sei es ins Café, Restaurant oder zu Bekannten. Unsere Lebenswelt ‚funktioniert‘ normalerweise, und dieses Funktionieren war während der Ausgangsbeschränkungen massiv gestört, ein ‚Shutdown‘ oder ‚Lockdown‘ fand statt, wie es hieß. Es schien, dass das Lebenssystem, in dem wir zu leben gewohnt sind‚ ‚downgebootet‘ wurde. Was dabei geschah, kann als teilweise Lahmlegung oder sogar als zeitlicher Zusammenbruch selbstbestimmter Lebensführung angesehen werden. Wir konnten nicht mehr alles machen, was wir wollten. Wir konnten dabei wahrnehmen und würdigen lernen, auf wie vielen Pfeilern und Errungenschaften unser Leben bisher ruhte. Vielleicht konnte uns die als Entscheidungssituation gedeutete Coronakrise eine Lektion in Sachen Vertrauen erteilen, und zwar ein Vertrauen in ein merkwürdigerweise immer unbestimmt Bleibendes. Das Virus selbst ist nicht unbestimmt, sondern das, was uns erwartet. Wir wissen es nämlich nicht. Das Virus ist allzusehr bestimmt, es greift die Lunge und andere Organe an, und daran kann man sterben, mit Vorerkrankungen ist das wahrscheinlicher. Wir können die kohortenbezogene Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der wir sterben müssen, und wir können das Ansteckungsrisiko ermitteln. Was uns individuell erwartet, wissen wir allerdings nicht, und wir können erkennen, dass das immer schon so war. Wir haben immer schon in Unbestimmtes vertraut, ohne das zu bemerken. Unsere Wahrscheinlichkeit, an COVID-19 zu sterben, war trotz vieler Toter deutlich geringer als an einem Autounfall, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs. Das preisen wir normalerweise ein und leben gleichwohl im Gefühl der Sicherheit. Wir lebten immer schon mit einem hohen Risiko. Wir vertrauen, paradoxerweise, in Unwägbares, auch wenn wir davon ausgehen, dass wir dank medizinischer Hilfe in Sicherheit leben. Unser Leben ist immer schon fragil gewesen, und daher kann uns die Krise nahelegen, dankbar für die schlichte Tatsache des Lebens und für das zu sein, was wir im Zusammenleben haben und was wir annehmen dürfen – aber auch welche Gestaltungsaufgaben noch anstehen, politisch, sozial, wirtschaftlich, aber auch hinsichtlich der Erkenntnis, dass eine 242
Ethik nicht tragfähig sein kann, in der der einzelne Mensche sich als Maß aller Dinge ansieht. Ein Essay – und als Essay verstehen wir dieses Buch – ist immer auch ein Versuch. In diesem Versuch haben wir erkundet, wie tragfähig der Gedanke ist, die Orientierung an den Verhältnissen zwischen dem einzelnen und dem, was ihn umgibt, in die Lebensgestaltung von Menschen zu rücken. Wir haben versucht, eine Alternative diesseits der aktuellen Orientierungen am einzelnen oder dem, was ihn umgibt, zu finden. Bei diesem Versuch haben wir immer zwei Gedanken mitlaufen lassen, die wir gelegentlich in den Mittelpunkt unserer Überlegungen gerückt haben. Wir glauben, dass diese Gedanken Arten von Verhältnissen berühren, die grundlegend sind für die Verhältnisse, die ein Mensch zu anderen Menschen eingeht, und die er zu sich finden kann. Das sind die Verhältnisse zum Ganzen der Wirklichkeit, genauer dazu, sich im Ganzen der Wirklichkeit zu wissen, und zur Natur. Wir wollen jetzt diese Verhältnisse würdigend in den Blick nehmen. Wahrscheinlich lohnte es, ein eigenes Buch über sie zu schreiben. Tugenden entfalten sich immer in Verhältnissen und sind der immer riskante Versuch, sich in ein Verhältnis zum Ganzen zu setzen. Eine Tugendethik grenzt sich gegen kriteriologisch ausgewiesene Prinzipienorientierung ab; das macht es schwierig, über ein Verhältnis zum Ganzen zu reden. ‚Das Ganze‘ ist unbestimmt. Man läuft Gefahr, nebulös darüber zu schreiben, auch deshalb, weil man ‚das Ganze‘ nicht direkt ‚ansteuern‘ oder intentional – oder gar vergegenständlichend – in den Blick nehmen kann. Und man läuft Gefahr, komplizierte oder metaphernreiche Kunstworte zu benutzen oder auf solche Worte zurückzugreifen, die in Kontexte bestimmter Religionen oder auch Dogmatiken gehören – was das Risiko beinhaltet, dass sie einengend aufgenommen und (miss)verstanden werden. Unbestimmtes ist nicht immer nur einstweilen, das heißt, bevor jemand es erforscht hat, rätselhaft. Einiges kann prinzipiell unbestimmbar sein, beispielsweise in begrifflich-rationalen Sprachspielen. So werden die Nachkommastellen der Zahl Pi aufs Ganze gesehen arithmetisch immer unbestimmbar bleiben, während die gleiche Zahl Pi geometrisch betrachtet klar die Länge des Umfangs eines Kreises mit dem Durchmesser 1 ist. Für ein ‚In-Verhältnissen-denken‘ ergibt sich ein ‚Teil-Ganzes-Problem‘: Wie kann das Verhältnis des Teils zu dem Verhältnis gedacht werden, in dem er lebt? Wie kann ein Teil das Ganze erkennen? Man kann, was Verhältnisse sind, selber nicht ganz bestimmen, sondern nur ein wenig entfalten. Verhältnisse sind in ein 243
unbestimmtes Teil-Ganzes-Verhältnis eingelassen, und weil dieses ‚übergreifende‘ Verhältnis nicht gedacht werden kann, verweist dies auf ein Unbestimmtes. Dieses sowohl räumlich als auch zeitlich unbestimmte Ganze eröffnet einen Freiheitsraum, in dem Verhältnisse sich für alle Menschen entfalten und auch wieder zusammenziehen. Also besser über den Versuch schweigen, sich in ein Verhältnis zum Ganzen zu setzen – oder dazu, sich in einem Ganzen zu befinden? Das scheint uns keine Alternative zu sein, wenn doch dieses Verhältnis möglicherweise den Grund gibt oder den Weg weist für die Verhältnisse zwischen Menschen, zur Natur und zu sich selbst. Auch deshalb verschließt solches Schweigen den Blick für Tugenden, weil Menschen im Zuge von Selbstbestimmung heutzutage oft den Ganzheitshorizont vergessen, in dem sie leben, und daher den Blick nicht auf anderes hin öffnen. Besonders der moderne Mensch lebt in einer gesteuerten Intentionalität, durch die er das Ganze jeweils und unvermeidlich fragmentiert. „Hölderlin begreift übrigens diesen Fluch zur Endlichkeit, dieses Verdammtsein zur Fragmentierung als Kern des Tragischen.“167 Es ist in diesem Sinne keine Bestimmung oder Vergegenständlichung eines Unbestimmten, und es ist auch keine Vortäuschung eines Wissens, das sich in der Benennung des Unbestimmten als Gott ausdrückt. Es ist Ausdruck der Überschreitung unseres Rahmens auf einen Horizont hin, von dem wir uns umhüllen und in ästhetisch gestimmter Form ansprechen lassen. Ansprache und Sich-(ein)stimmen-Lassen sind daher keine vergegenständlichenden Formen der Bezugnahme, dies sind vielmehr Formen der Bezugnahme in indirekter Weise, in der Ansprache einer zweiten Person, also einer (uns) verfremdenden und (uns) nahe holenden Kommunikation, die nie ganz ein Perspektivwechsel werden kann. Gott ist der Ort, an dem sich unsere Begrenztheit zeigen kann und auf den hin wir unsere Begrenztheit präsentieren, um sie auf anderes hin zu überschreiten. „Es ist Strafe genug“, schreibt Habermas in Auswertung eines Gesprächs mit einem Jesuitenprofessor, „wenn dem Sünder ins Bewusstsein gerufen wird, wie sich das Leben, das er geführt zu haben meinte, von der nun grell ins Licht der Tatsachen gerückten Lebensgeschichte unterscheidet, für die er vor Gott ohne Möglichkeit des Ausweichens die Verantwortung übernehmen muss.“168 Das 167 168
Wolfram Hogrebe, Metaphysische Einflüsterungen. Frankfurt/Main 2017, S. 13 Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2. Frankfurt/Main 2019, S. 18. 244
Interessante an diesem Zitat ist die Rückübertragung auf das rein-säkulare, modern-selbstbestimmte Selbstverständnis. Denn dieses kennt nichts anderes als die konstruktiv (selbst-gewiss) verfolgte Lebensführung, es kennt keine Wahrheit, die immer mit der Konfrontation mit Unbestimmtem und daher mit Schuld- und Lernbewusstsein und mit Tragik einhergeht. Erst aus dem Widerspruch zwischen dem, wie die Dinge für uns sind, und dem Anderen, das die Wahrheit sein könnte, ergibt sich Wahrnehmung und Wirklichkeit. In diesem Sinne leuchtet das folgende Zitat ein: „daß jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, daß jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß.“169
Wir vermuten, dass es zu jeder Tugend, die wir betrachtet haben, Untertugenden gibt, die sich auf diese beiden Verhältnisse, zum Im-Ganzen-Sein und zur Natur bezieht. Diese Untertugenden nennen wir jetzt und beschreiben, inwiefern sie ein gelingendes Leben in Verhältnissen ermöglichen. Wer sich im Ganzen der Wirklichkeit bescheidet, so haben wir bereits rekonstruiert, ist demütig. Wer bezüglich der Natur bescheiden ist, begreift sich als Teil einer Gemeinschaft von Lebewesen. Das Gefühl oder das Bewusstsein für diese Demut könnte der Anlass für Menschen sein, auch gegenüber sich und Mitmenschen in einer unverrückbaren Weise bescheiden zu sein. Wer die Treue zum Ganzen der Wirklichkeit hält, der fühlt sich in einer kosmischen Weise zum Ganzen dessen, was ist, verbunden, eine Art ‚Weltgefühl‘, das sich einstellen mag, wenn jemand in die Sterne, auf Berge oder auf das Meer sieht.170 Was die Natur betrifft, so lebt er in Verbindung zu Lebewesen und bemerkt Ähnlichkeiten zu ihnen. Die Treue zu einem Ganzen und die Verbundenheit zu Mit-
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George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990, S. 13. In diesem Sinne bedeuten Khalil Gibrans berühmte Verse „When you love you should not say, ‚God is in my heart‘, but rather, ‚I am in the heart of God.‘“ nicht nur, dass der Mensch sich zu seiner Liebe bekennen soll statt über sie zu verfügen, sondern auch, dass die Liebe zu einer Person den Menschen dahingehend verwandeln kann, dass er 245
wesen, die man in einem wohlgefügten ökologischen System wahrnimmt, kann den Ausgangspunkt dafür bilden, die Treue zu anderen und zu sich zu halten. Treue, d. h. konstante Verbundenheit dazu, sich im Ganzen der Wirklichkeit zu befinden, kann sich ausdrücken in (taktvollen) Formen der Ausrichtung auf ein Ganzes und des Erspürens einer Verbindung: in Meditation, Gebet, Tänzen, Yoga oder Tai Chi, Kontemplation, Schweigen oder in Ironie als Indirektheit der Ausrichtung auf Existenzielles. Solch taktvolles (zartsinniges) Handeln gegenüber der Natur kann sich zeigen in Essensritualen, in schonender Behandlung der Natur oder darin, sich als Teil eines Kreislaufs zu wissen. Der Takt erweist sich auch darin, die Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse demutsvoll zur Geltung zu bringen. Eine zurückhaltend-taktvoll gewahrte Form zu einem Ganzen oder Umgreifenden, sei es natürlich oder transzendent gedacht, kann den Ankerpunkt dafür bilden, taktvoll mit sich und anderen zu leben. Die Perspektive eines Ganzen können wir nicht einnehmen; aber wir können uns ansprechen lassen von Unbestimmtem oder auch Gestimmtem; dazu gehört, sich von Stimmungen ansprechen zu lassen. Gegenüber einem angenommenen Ganzen kann man die eigene Perspektive auch angesichts wahrgenommener umspannender Ungerechtigkeiten behaupten, unter Umständen etwa so, wie Hiob Gott anklagt und Jakob eine Nacht lang gegen Gott kämpft. In Bezug auf die Natur kann Mehrperspektivität bedeuten, Lebewesen in ihrem Eigensinn wahrzunehmen und sie nicht nur instrumentell zu betrachten, aber ebenso seine eigenen Bedürfnisse nach Nahrung und Ernährung zur Geltung zu bringen. Wer sich in und von einem Ganzen und durch die Natur ansprechen lässt, wird seine eigene Perspektive als einen Teil – und nicht selbst als ein Ganzes – ansehen können. Vertrauen in ein Ganzes zu setzen heißt, sich in es hineinzubegeben, sich in gewisser Weise von ihm umhüllen zu lassen. Urvertrauen in einem nicht-psychologischen Sinn könnte das genannt werden – eine Art Flow-Gefühl, ein ozeanisches Gefühl oder ein Offen- und Hingewendet-Sein, im Mut des Sich-Einlassen-Könnens. Da das Ganze unbestimmt ist, folgt daraus kein frömmelnder Buchstabenglaube, sondern eine fromme (nicht unkritische) Annahme dessen, was ist, d. h. ein Sich-anheim-Geben in ein Höheres, die Fähigkeit, pietätsvoll, sanft oder sogar, sich von einer Liebe umgreifen lassen kann, in die er kraft der Liebe zu einer Person hineingestellt wurde. Einer solchen Liebe, die sich von derjenigen zu einer anderen Person aus ausdehnt. Khalil Gibran, Der Prophet (1923). Düsseldorf 2016 (Von der Liebe). 246
christlich konfiguriert, gottselig zu leben und sich segnen lassen zu können. Vertrauen in die Natur ist die ästhetische Annahme des Eingebettetseins in die Natur, die Annahme dessen, dass ‚Mutter Natur‘ uns ernährt. Das zeigt sich unter anderem darin, ein Gespür für Naturgewalten zu entwickeln. Solches Vertrauen könnte das Paradigma für Vertrauen zwischen Menschen und Selbstvertrauen sein. Wer angesichts des Gefühls staunt, in einem Ganzen zu sein, der entwickelt Ehrfurcht oder Bewunderung. Staunen angesichts der Natur und in ihr führt zu Bewunderung und zum Gefühl der Erhabenheit der Natur. Im Alltag bewundern wir jemanden oft ‚für-das-und-das‘, die hier gemeinte Bewunderung überschreitet das jedoch, sie ist eine Bewunderung im Sinne des Stehenbleibens vor einer Wirklichkeit – ‚dass‘ da etwas, jemand oder ein Zusammenhang ‚ist‘. Dieses Staunen kann die Grundfigur für die Wahrnehmung der Besonderheit anderer und für die Fähigkeit sein, sich selbst in überraschenden Momenten annehmen zu können. Dazu gehört der Mut im Ganzen, um sich aus Gewohnheitsverhältnissen befreien zu können. Wer sich seiner Zugehörigkeit zu Nahestehenden innewird, der entwickelt seinen Platz inmitten eines Größeren, d. h. er sieht sich, metaphorisch ausgedrückt, wie ein Kind inmitten eines Horizontes. Der kann gegenüber anderen die Idee in die Mitte rücken, dass sich alle Menschen, nahe und ferne, in einem gemeinsamen Horizont befinden, wie Kinder, die in einer gemeinsamen, geteilten Welt leben. Zugehörigkeit zur Natur kann beinhalten, um seine Bedürfnisse zu wissen, um die Bedürfnisse von Lebewesen zu wissen und sie zu achten, es kann heißen, die Fürsorge über Lebewesen und die Natur auszuüben. Ein tiefes Gefühl für Zugehörigkeit in einem metaphysischen oder physischen Sinn könnte das Gefühl für Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder zu sich selbst stiften. Wer sich in einem solchen Sinn als zugehörig versteht, wird in Gesprächen mit Fremden darum wissen, dass alle Menschen in einem gemeinsamen Ganzen leben, er wird dieses Wissen handelnd realisieren, und er wird Fremde in einer Art lebendigem Entdeckungssinn kennenlernen. Wer sich mit anderen auseinandersetzt, gewinnt Freiheit. Sich dabei in einem Ganzen zu fühlen bedeutet, ein Ganzes zuzulassen, sich in Erzählungen zum Ganzen zu spiegeln, zu erweitern und erkennen zu lassen. Bezüglich der Natur kann das die Freiheit von der Gier bedeuten, die Natur auszunutzen, die Freiheit, die Natur ‚seinzulassen‘, d. h. Reservate zu schaffen, in denen Natur nicht nur als Mittel dient, und es kann heißen, die ‚Weisheit‘ der Organisation natürlicher Phänomene auf sich wirken zu lassen. Sich im Ganzen frei zu wissen und in der Wahrnehmung zu leben, dass die Natur etwas Eigensinniges ist, kann die Freiheit 247
gegenüber anderen und sich selbst nach sich ziehen, auch im Sinne von Gelassenheit. Wer in einem Ganzen frei ist, kann anderes und sich zulassen. Wie wir uns anderen Menschen (und uns selbst und der Natur) nähern, wird indirekter, wenn wir uns dabei im Horizont eines unbestimmten Ganzen sehen. Das geschieht just so, wie die Nonnen im Kloster von Cochabamba nur indirekt und durch das Alabasterfenster auf die Außenwelt blicken. Diese Indirektheit zeigt sich darin, dass wir staunen. Denn dabei bekennen wir uns dazu, dass wir nicht viel über unseren Mitmenschen wissen. Wenn wir vertrauen, beäugen wir unsere Mitmenschen nicht kritisch, sondern lassen sie, die uns nahestehen, frei. Wir lassen ihnen ihren Eigensinn und freuen uns, wenn sie woanders hinziehen; wir bleiben ihnen treu verbunden und wollen nicht unbescheiden über sie verfügen. Wir sehen ihren Initiativen taktvoll zu. Wir setzen nicht unsere Perspektive durch, sondern versuchen, unseren Gesichtswinkel weit zu halten. Insofern wir wissen, dass wir auch Nahestehende nicht kennen können, lassen wir Fremde gleichsinnig an uns herankommen. Zum Schluss des Buchs wollen wir unseren Ansatz in Abgrenzung gegen die Annahmen der auf Selbstbestimmung beruhenden modernen Kultur erklären. Indem wir Selbst- und Weltverständnisse der Moderne kritisch befragen – und sagen, diese entspringen unbestimmten Verhältnissen, die ernstzunehmen heißen kann, sie als Tugenden zu kultivieren –, suchen wir eine modifizierte moderne Kultur, die eine sozialere und lebensgestalterisch günstigere Gesellschaft und einen vergleichbaren Staat befördern kann. Die Annahmen der (auf Selbstbestimmung ruhenden) Moderne sind: Was ist, ist bestimmt. Es gibt ein singuläres Subjekt – den einzelnen, das Individuum –, das sich außerhalb der Gemeinschaft und ihr gegenüber positioniert und konstituiert. Ein Ideal einer Gemeinschaft festzusetzen bedeutet, sich an etwas Bestimmtem zu orientieren: entweder an einer bestimmten Vorstellung dieser Gemeinschaft, an einer bestimmten Vorstellung dessen, was für den einzelnen gut ist, oder an einem Prinzip, das in der Autonomie des einzelnen lebt. Gute Erklärungen verweisen auf einen Ursprung: in Prinzipien, Begriffen, Bestimmungen des menschlichen Subjekts, in einer Erkenntnis- oder Bedeutungstheorie, in der Sprache. Im Vergleich dazu unsere Annahmen: Der Mensch schwankt zwischen Unbestimmtheit und Form, er benötigt beides, um sich zu entwickeln und zu formen. Die Wirklichkeit kann uns ansprechen. Um menschliche Lebenswege zu verstehen, beginnt unser Annäherungsversuch mit einem deutungsoffenen Bild 248
und nicht bei Begriffen, wie z. B. Wesen und Existenz. Wir wählen das Bild eines Verhältnisgewebes, dessen Pole allererst aus Übergängen entstehen. Verhältnisse prägen und bedeuten Menschen, sie sind jedoch selbst in Teilen unbestimmt. Jeder Mensch ist in Gemeinschaft und Gesellschaft, die ihn formen, darin spielen Gespräch und Auseinandersetzung mit sich selbst eine zentrale Rolle. Jedes gelingende Verhältnis zu anderem (und alle Moral) kommt aus dem bejahenden Verhältnis, in dem ich zu anderem stehe und das ich nicht durchschaue, von dem her ich aber meine Einstellung und mein Handeln verstehe bzw. inspirieren lasse – im Unterschied zu einer auf Autonomie gegründeten Moral. Insgesamt ist unser Vorhaben nicht primär begründend, sondern begriffsgenerativ171 – in Abwandlung von Kants berühmter kopernikanischer Wende: Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Vorhaben und Aufgaben des menschlichen Lebens damit besser vorankommen, wenn wir annehmen, die Menschen dürfen sich nach den unbestimmten Verhältnissen richten, in denen sie leben, und in sie vertrauen. Scheitert daher der Ansatz, die auf Erkenntnis oder Handeln abzielenden Bezüge zwischen Mensch und Welt entweder vom Menschen oder aber von seiner Umgebung aus zu konfigurieren, versuche man es damit, bei den Verhältnissen zu beginnen und leite die Pole wieder aus Verhältnissen ab.172 Tappen wir damit in die Falle des naturalistischen Fehlschlusses? Denn wir beschreiben Verhältnisse zwischen Menschen und weisen das, was begegnet – wir reden von dem besonderen anderen Menschen, von der Welt – als etwas Wertvolles aus. Die Rede vom naturalistischen Fehlschluss ist allerdings selbst irreführend, wie beispielsweise Alasdair MacIntyre und Hans Jonas (oder auch John Searle) gezeigt haben: In die Beschreibung des Menschen gehen notwendigerweise immer bereits Wertvorstellungen ein, und auf irgendein Wirkliches, das als etwas Gutes aufgewiesen wird, geht jede Ethik zurück, sei es das Vorhandensein einer Welt überhaupt, das Wohlbefinden von Menschen, die widerspruchsfreie Wünschbarkeit von Hand171
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Auch wo wir diskursiv schreiben, ist unser Ziel eigentlich eher, eine evozierende Gesprächsform anzubahnen: Vgl. Wolfram Hogrebe, Szenische Metaphysik. Frankfurt/ Main 2019, S. 16. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). In: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. III. Frankfurt/Main 1974, B XVI: „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten“. 249
lungsweisen und –leitlinien, das Zweck-an-sich-Sein jedes Menschen oder die Unfraglichkeit dessen, dass ein Neugeborenes schützenswert ist.173 Was ist unser Vorhaben also? Vielleicht lässt sich sagen, wir versuchen die Beschreibung einer alternativen sozialen Kosmologie.174 Solch eine Kosmologie ist als eine Art Struktur gedacht – die Beziehungen zwischen Menschen leben zwar davon, dass sie unbestimmt sind: Keiner weiß, wie ein anderer sich verhalten wird und was er im nächsten Moment sagen wird; mit der Umwelt und mit der Zukunft ist es generell ebenso. Eine soziale Kosmologie enthält aber gleichwohl Spielfelder, Spannungsfelder und Konstellationen, kurz: Es ist eine Art Erklärung eines Spielfeldes, das soziale Verhältnisse ermöglicht. Es handelt sich insofern um eine Logik (Kosmologie), als sie eine bestimmte Form voraussetzt, Vorhersagbarkeit und einen Ordnungsrahmen. Und sie enthält Geschichten, der Mensch ist eingewoben in sie, verstrickt, sie enthält narrative und mythische Anteile sowie Bewertungen, die zur Beschreibung der Welt dienen, in die der Mensch eingehaust ist. Aber, da das soziale Spielfeld – und das ist der Unterschied unseres Ansatzes zur Bestimmung einer sozialen Kosmologie – im Ganzen nicht voraussagbar und berechenbar ist – und das auch nicht sein soll –, handelt es sich eher um einen sozialen Raum, den wir versuchen zu beschreiben und auszugestalten. Wir werben für ein Bild eines alternativen sozialen Raums, indem wir sagen, was einen solchen Raum überhaupt möglich und lebenswert macht.175 Dieser (gesuchte) soziale Raum soll im Kern warmherziges Staunen beinhalten. Darin stecken zwei Anliegen bzw. zwei Seiten eines Anliegens: Es bedeutet erstens, das Verhältnis soll von Verbundenheit, Zugewandtheit und Vertrauen ge173
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Vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend (After Virtue, 1981). Frankfurt/Main 1995, S. 83ff., 200; Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/Main 1979, S. 92f. (Vgl. Georg Edward Moore, Principia Ethica. Cambridge 1903, S. 65, Kap. 2; David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur (A Treatise of Human Nature, 1740). Hamburg 1989, 2.3.3; John Searle, Sprechakte: Ein sprachphilosophischer Essay (London 1969). Frankfurt/Main 1971, S. 131ff. Vgl. die eindrückliche (fiktive) Beschreibung einer Welt, in der nur beschrieben wird: Ricardo Menéndez Salmón (2012), Medusa. Barcelona. Vgl. Navid Kermani, Kurzmitteilung. Zürich 2007. Vgl. Ina Rösing, Dreifaltigkeit und Orte der Kraft: Die weiße Heilung. Nächtliche Heilungsrituale in den Hochanden Boliviens. Mundo Ankari 2, Buch II. Nördlingen 1988, S. 705. Wenn wir von den Verhältnissen zwischen Menschen schreiben, ist es ein sozialer Raum; ansonsten ebenso ein den einzelnen Menschen betreffender und ein natürlicher Raum (oder ein metaphysischer). 250
kennzeichnet sein, und zweitens, wer in einem Verhältnis ist, soll ein – von ihm aus als Anderes erkennbares – Gegenüber haben, das er wahrnimmt und das ihn wahrnimmt. Vertrautheit einerseits und andererseits Angesichtigkeit sowie die Fremdheit jedes anderen sollen gewahrt bleiben. Wir unterscheiden dabei zwischen Staunen und Überraschung; letztere kann unangenehm sein. Im Staunen verbinden sich dagegen vor allem das von einem angenehmen Gefühl begleitete Stehenbleiben des anderen und mein Stehenbleiben vor ihm als dem anderen. Wenn wir staunen, werden wir nicht von dem überwältigt, was sich anders zeigt als gewohnt. Im Staunen werfen wir jemanden als anderen uns gegenüber und betrachten ihn wohlwollend. Wir unterscheiden zwischen einer zweckrational beherrschen wollenden Rationalität, die weltlos ist (und daher langfristig die Welt zerstört) und einer wahrnehmenden Vernunft, die in die Welt verstrickt ist, weil sie in sie hinein hört.176 Wir möchten die kopernikanische Wende nicht ins Vormoderne zurückdrehen, sondern um eine Vernunft erweitern, die offen ist, den Eigensinn der Dinge wahrzunehmen. Diese Vernunft könnte dann eine staunende Vernunft sein, die weiß, dass in der Welt nie alles (zugleich) wahrgenommen werden kann. Die Wirklichkeit kann uns ansprechen, etwas mitteilen, aber nie alles; für diese Vernunft wäre die Welt (als Ganzes) dann ein Geheimnis und kein Rätsel, Geheimnisse werden offenbart oder offenbaren sich – und bleiben geheim. Ein Rätsel ist darauf angelegt, lösbar zu sein. Das gegenwärtige Grundgefühl vieler westlicher Menschen gibt bei einer vorherrschend zweckrationalen Vernunft keinen Anlass mehr zu glauben, die Verhältnisse würden sich stetig zum immer Besseren wandeln. Vielmehr leben wir in einer zivilisierten Zeit, die ebenso von enormem Wohlstand wie von enormen Ängsten durchzogen ist. Der Glaube daran, die Ideen von Demokratie und Liberalität, von weltweitem Handel und Ideenaustausch führten von alleine zu einer friedfertigen Welt, lässt sich heute nur noch als Illusion begreifen, die sich angesichts äußerer und innerer Feinde dieser Ideen einer jedenfalls faktischen Kritik stellen muss. Daher scheint es aussichtsreich, sich typische Denkmuster unserer Zeit anzusehen und typische Umgangsformen von Menschen untereinander, die möglicherweise den Keim darstellen für die Art destruktiver Beziehungen, die heute (auch) zwischen Staaten und zwischen Menschen herrschen. Diese Beziehungen sind: 176
Vgl. hier ähnlich: Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). Tübingen 1986, S. 32ff. (B. Der Begriff des Logos). 251
strategisch, feindselig, an Macht und Vorteil orientiert, an Eigennutz, an Isolation, an fehlender Übernahme der Perspektive anderer. Es gilt, auch hier wieder eine Einschränkung zu machen. Denn keinesfalls sind alle Beziehungen zwischen (westlichen) Menschen (und Staaten) heute feindselig, es scheint nur Tendenzen zu geben, die sowohl in Richtung einer größeren Zivilisiertheit zwischenmenschlicher Beziehungen zeigen als auch in Richtung ihrer Auflösung. Das selbstbestimmt-moderne Subjekt setzt sich monologisch als Anfang aller Dinge: Es selbst bestimmt, es setzt Kriterien und Prinzipien. Damit setzt es einen Weltbezug, der als frei erscheint, vor allem aber Angst erzeugt. Einen Anfang setzen, das schließt schon ‚Angst setzen‘ ein. Bestimmt man einen Anfang, so provoziert das, Meister Eckhart folgend, die Frage nach dem Vorher und dem Nachher und die nach der Zeit. Angst bezieht sich immer auf ein Ende. Jedes System, das einen Anfang setzt, setzt daher eine Enge in die Welt, und damit Angst. Es ist auffällig, dass die Angst im Zentrum vieler Denkbemühungen der Moderne steht, etwa bei Kierkegaard und bei Heidegger. Angst ist abgeleitet von der Selbstsetzung in Einsamkeit. Daher ist sie auch verbunden mit dem Wunsch nach Öffnung. Angst vor dem Tod hat vielleicht (in dieser Stärke) nur das einsame moderne Subjekt. Der Angst vor dem Tod ist außerdem der Todeswunsch eingeschrieben, nämlich der Wunsch, seine selbstbestimmte Einsamkeit und Isolation sterben zu lassen, die Ungeheuerlichkeit des modernen Subjekts, das sich als autonom begreift und mit seinem Selbstbestimmungsdrang in die Welt zieht, sie zu erobern. Angst ist Furcht vor Zugehörigkeit, die zugleich ersehnt wird: Wer eingeigelt ist, traut sich nicht zu springen. Wer Angst hat, will immer noch: herrschen, und diese Herrschsucht treibt weiter in die Angst. Angst verdrängt und betrachtet, aus der Kammer der regulierten Selbstbestimmung, auch alles Ungefähre als Bedrohung. Dagegen könnte man mit Meister Eckhart ein Lob dessen singen, was nicht vom Menschen ausgeht, wofür er sich aber empfänglich zeigen kann: „Ganz so sollte der Mensch dastehen, der für die allerhöchste Wahrheit empfänglich werden und darin leben möchte ohne Vor und ohne Nach und ohne Behinderung durch Werke und alle jene Bilder, deren er sich je bewusst wurde, ledig und frei göttliche Gabe in diesem Nun neu empfangend“.177 177
Meister Eckhart, Predigt 1. In: Meister Eckhart: Werke I. Deutscher Klassiker Verlag Frankfurt/Main 1993. Bd I, S. 17. 252
Angst ist eine Folge der unaufhebbaren Distanzierung von der Welt, also eine Folge, die jedem Denken notwendig parallel läuft. Denn in der denkenden Distanzierung habe ich mich konstituiert und erkenne gleichzeitig, dass ich mich aus einem (bergenden?) Ganzen herausgelöst habe: Verlustangst als Konsequenz selbst errungener und bestimmter Selbstbestimmung. Solche Angst begleitet jedes Leben, es wird aber in der Moderne gesteigert. Nicht jede, aber diese die Moderne ständig begleitende Angst kann überwunden werden – diese Angst, die ja eine Einengung, eine selbstauferlegte Fesselung ins Ich bedeutet. Das setzt in der Tat voraus, es kann eine Öffnung für Sichtbares folgen. Dafür wäre kein Wunder nötig. Das Wunder könnte erfordern oder einschließen, das Subjektgefängnis des modernen Selbstverständnisses zu verlassen. Neben der Angst hinterlässt die formale Selbstbestimmung vor allem eine Lücke. Svenja Flaßpöhler rekonstruiert, analog den Kommunitaristen, dass der Freiraum, der den Menschen zugestanden wird, in der Epoche der Moderne nicht durch eine soziale Kultur gefüllt wird, die Orientierung bleibt Aufgabe des einzelnen – der sich auch als einzelner begreift, d. h. losgelöst von Traditionen und dem, was ihn von außen konstituieren könnte.178 Daraus resultiert für den modernen Menschen die Aufgabe, Lebensgestaltungen zu finden, soll das Leben nicht in Momente oder in Fragmente, in immer bessere Erlebnisse zerfallen. Dieses paradoxe Vorhaben kann nur mit Hilfe der Aufgabe der Isolation des modernen Subjekts gelöst werden kann. Denn jede Orientierung kann als außengeleitet oder fremdbestimmt erlebt werden, wenn der Mensch keine soziale Kultur um ihn herum hat, die ihn als Wesen anspricht, das sich frei mit seiner Umgebung auseinandersetzen darf. Wie wird diese Aufgabe gelöst? Sie ist als Suche nach einer Gestalt anzusehen. Und zwar einer Gestalt im Zwischenverhältnis zwischen Menschen, nicht nur als Form des einzelnen. Aber diese Aufgabe ist zugleich unlösbar, wenn der einzelne Mensch als einzelner begriffen wird – dann bleibt ein garstig breiter, unüberbrückbarer Graben zwischen dem einzelnen und den anderen, dem einzelnen und seiner Lebensform. Es ist der gleiche Abstand wie der zwischen dem einzelnen und Gott – der dann nur durch einen Sprung überwunden werden kann, der sich – aus der Perspektive des einzelnen – durch nichts rechtfertigen kann: Denn der einzelne erkennt immer 178
Vgl. Svenja Flaßpöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit. Berlin 2018, S. 29. 253
nur an, was sich ihm als plausibel zusammenfügt. Der fehlende oder erschwerte Sprung zum anderen zeigt sich heute auch an der MeToo-Debatte. Einerseits vereinzelt sie den Menschen stärker, denn selbst Begehren und Verführung, so Flaßpöhler, können stets falsch verstanden werden – man muss formal immer erst die Zustimmung des anderen Selbstbestimmten einholen. Andererseits werden die begehrlichen Verflechtungen, in denen Menschen mit anderen stehen, in Konstellationen von Macht praktiziert, aber auch gedeutet; man darf kein Objekt werden, es sei denn, man hat auch das selbst gewählt. Das moderne Leben läuft in unausweichliche Paradoxien hinein, und wie das Subjekt sich versteht – und also auch ‚ist‘ – hat weitreichende soziale Konsequenzen.179 Wir Autoren müssen uns angesichts ‚aufgestellter Leitsätze guten Lebens‘ fragen: Sind wir weltfremd? Diese Frage muss sich heutzutage vielleicht jeder gefallen lassen, der über Ethik schreibt, aber insbesondere wir, weil wir davon ausgehen, die Tugenden, die wir behandelt haben, ergäben sich zwar nicht aus einer Anthropologie, aber doch aus einer Verfasstheit menschlichen Lebens. Er lebe nämlich immer in Verhältnissen. Nun, wir gehen davon aus, unser Schreibziel erreicht zu haben, wenn eine Leserin oder ein Leser ihr oder sein Selbstverständnis im Blick auf Selbstbestimmung überprüft hat und vor diesem Hintergrund einen Geschmack für mögliche Verhältnisse erworben hat, die ihr oder ihm ein gutes Leben ermöglichen – im Sinne des guten Lebens, das jeder erzielen will. Insofern diese Verhältnisse unbestimmt sind, sind wir zufrieden, wenn potentielle Lesende sich einen Raum öffnen für die Wahrnehmung von Unbestimmtem. (Und wir behaupten, so wird die Welt etwas weniger fremd, wenngleich stets ‚andersartig‘; weltfremd hingegen im Wortsinn scheint uns der selbstbestimmte moderne Mensch.) Haben wir eine Utopie versucht, darzustellen? Utopien, die als bestimmtes System einer Gesellschaft oder Gemeinschaft auftreten, laufen Gefahr, mit Gewalt durchgesetzt zu werden. Wir dagegen spüren eine Art Leben auf, in dem Akzeptanz und Vertrauen herrschen, gerade da, wo die Beziehung zu anderen und anderem unbestimmt ist. Sehen wir auf das Faktische, könnten wir versucht sein, unseren Versuch als eine (unrealistische) Utopie zu kennzeichnen: Menschen sind egoistisch, gewaltbereit, sie ignorieren andere, sie drehen sich nur um sich selbst, sie suchen Vorteile auf Kosten anderer, sie zerstören die Umwelt unserer Nachfahren – so zeigen sie sich bisweilen. Es nimmt sich auf Grund dieser Beobachtungen 179
Vgl. ebd., S. 13, 25f. 254
vermessen oder weltfremd aus, Verhältnisse beschreiben zu wollen, die hierzu eine Art Gegenentwurf bilden – unsere gesellschaftliche Welt scheint ‚alternativlos‘, vor allem wirtschaftlich beleuchtet. Aber gerade weil es so ist, ist die Suche nach Alternativen nötig, will man nicht in der Resignation verharren, zumindest nach Alternativen, die Denkräume eröffnen. Und, wichtiger, wer etwas (abwertend) als eine Utopie kennzeichnet, argumentiert von einem gewissen Menschenbild aus, er zieht eine ‚anthropologische Karte‘, auf der steht, wie unrealistisch das Gewünschte ist. Wir lassen die Frage nach einem Menschenbild hingegen möglichst offen, bis auf den Punkt, dass wir davon ausgehen, der Mensch könne in solchen Verhältnissen geformt werden, die ein freies, wahrnehmungsreiches und gelingendes Leben begünstigen. Es lässt sich ausweisen und motivieren, dass unser Lebensalltag in der Wahrnehmung anderer und der Öffnung für ein unbestimmtes Ganzes reicher ist als ein selbstbestimmtes Leben, in dem Menschen deshalb ihr Glück verfehlen, weil sie es unablässig suchen und sich dabei von anderem abschotten. Und es lässt sich zeigen, dass ein so verstandenes tugendhaftes Leben recht viele Probleme der heutigen Zeit lösen helfen kann. Empirisch lässt es sich nicht begründen, ebensowenig wie eine menschliche ‚Natur‘ solche Tugenden nahelegen kann. Man kann über seine Mitmenschen ebenso erschrecken wie zugewandt staunen. Man kann angesichts der Feststellung, auf wie unsicheren Beinen man doch das menschliche Leben fristet, nach Kriterien rufen und sich Sicherheiten durch Technik und feste Auffassungen verschaffen, statt (begrenzte) Offenheit zu wagen und zu vertrauen. Jeder Blick in menschliche Angelegenheiten kann melancholisch stimmen, und er kann aufrufen, Tugenden als Bildungsweg zu suchen und zu leben. Angesichts einer ‚Tugendorientierung‘ könnte der Einwand formuliert werden, wir lieferten nur einen ‚wiederbelebten‘ Aristoteles. Bei uns ist jedoch nicht Glück das Ziel, sondern Wahrnehmung von Verhältnissen. Im Platonismus und im Christentum wird das Gute in einer als für gut befundenen Wirklichkeit verankert, also gewissermaßen im ‚Sein‘; Aristoteles ist wohl der erste, der diesen Zusammenhang auflöst und eher pragmatische Vorschläge in Form von Tugenden eröffnet, die dem Menschen im Rahmen der polis ein vernünftiges Leben auf dem Weg zum Glück verheißen. Wir verankern ‚das Gute‘ nicht in einer festen Vorstellung der Wirklichkeit, es gibt aber einen konstituierenden Bezug zwischen dem Guten und dem ‚Sein‘ – wir verstehen umgekehrt Tugenden als das Wachhalten des Blicks auf eine Welt, die wir nicht kennen, von der wir uns aber gleichwohl in aller Unbestimmt255
heit ansprechen lassen können. Tugenden und gutes Leben können also unserer Auffassung nach nicht von einem bestimmten Verständnis des ‚Seins‘ aus begründet werden, aber sie können sich auf die Wahrnehmung dessen, was unbestimmt ‚ist‘ und ‚begegnet‘, ausrichten. Bei uns liegt kein Telos des Menschen als Mensch fest – dementsprechend beschreiben wir keine Güterethik –, sondern es geht bei ‚unseren‘ Tugenden um die Tauglichkeit für ein Leben in wahrnehmender Anerkennung von Verhältnissen. Es geht nicht um eine Orientierung an Glück, sondern in Verhältnissen. Und damit: an anderen, an einem Verhältnis zum Ganzen und um dessen Wahrnehmung. Somit wird ein anderer Vernunftbegriff zentral. Bei Aristoteles’ Ethik ist die Praxisklärung des vernunftbegabten Wesens zentral, das seiner Vernunft folgt; wir begreifen Vernunft als Wahrnehmung angesichts des bewusst gewordenen Nichtwissens, im Gesprächsaustausch mit anderen. Wir gehen von der Frage aus, wie folgt man der Wahrnehmung, ein Wesen in Verhältnissen zu sein, Aristoteles von der Frage, wie folgt man der Bestimmung der eigenen Vernunft, die zum eigenen Glück führt. Das Selbstverständnis des Menschen liegt bei uns nicht fest, sondern bildet sich in Verhältnissen. (Gemeinsamkeiten liegen darin, dass wir ebenso wie Aristoteles eine Orientierung angesichts veränderbarer Handlungssituationen, eine Disposition beschreiben.) Wir schreiben eine Ethik im linguistischen Paradigma. Wenn Menschen sich immer schon in einer Sprache und Kultur vorfinden, die ihnen den Weg weisen, zu sich und zur Welt zu kommen, und wenn dieses Zu-sich-Kommen als Freiheit rekonstruiert werden kann: Welches sind die Tugenden, die diesem Stand des Menschen, geboren aus unbestimmt vorgefundenen Verhältnissen, entsprechen? Wie können sie, daraus entspringend, zu einer Gesprächsgemeinschaft finden, in der die Zwanglosigkeit des zu Gastseins mit anderen ins Leben spielt?180 Dem kosmologischen (ontologischen) Paradigma entspricht eine aufgenommene religiöse oder metaphysische sittliche oder moralische Orientierung, dem selbstbestimmten (mentalistischen) Paradigma eine Universalisierung, die von der Autonomie oder den Vorteilen des einzelnen ausgeht. Dem linguistischen Paradigma entspricht entweder eine sprachanalytische Rekonstruktion der Bedingungen sprachlicher Lebensformen – oder, wie hier, wo wir stärker die Verhältnisse als Vorgefundenes in den Fokus rücken, eine Wahrnehmungsethik der Dankbarkeit 180
(um Habermas’ Konzept der Diskursgemeinschaft mit dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu erweitern) 256
und Schuldigkeit gegenüber Vorgefundenem, aber inklusive der Freiheit in aktiven Verhältnissen. Wenn wir auch unseren Denkansatz so rekonstruieren können, so fragen wir uns dabei doch mehreres: zum einen, weshalb wir in unserem Sinne von ‚Tugenden‘ sprechen können, und zum anderen, wie wir das, was wir beschreiben, im Unterschied zu den anderen Ethiktypen einordnen können. Natürlich wollen wir unsere Überlegungen von einem prinzipienorientierten Ansatz abgrenzen, das ergibt sich schon aus dem Stellenwert, den wir ‚Unbestimmtem‘ geben. Von Tugenden zu reden, verweist auf einen geringeren Allgemeinheitsanspruch; wir gehen nicht davon aus, dass Situationen eindeutig moralisch beurteilt werden können. Außerdem sympathisieren wir mit einer Ethik, die zu einer Lebensform werden kann und die auf eine mögliche Sitte zurückverweist. Platonisch gedacht, konnte die Moral als Weg zum Sein verstanden werden, das als Idee des Guten formuliert war. Diese Orientierung auf etwas hin wird und wurde christlich als Gott angenommen. Aristoteles fehlt dieser moralische Bezug auf ein Höheres, daher geht es bei ihm um Klugheitsregeln und Tauglichkeit auf dem Weg zum Glück. Die Einbettung dieser Lebensform liegt darin, dass der Mensch in einer polis lebt und als soziales Wesen aufgefasst wird. Foucault schreibt gegen Ende des Buchs ‚Die Ordnung der Dinge‘, es sei kein Wunder, dass nach der Relativierung des ‚allgemein menschlichen Subjekts‘ keine Ethik mehr formuliert wurde. Das überzeugt. Denn wenn der einzelne Mensch der Welt gegenübersteht, kann er weder von ihr aus noch mit anderen gemeinsam gedacht und kultiviert werden. Selbstbestimmung des einzelnen kann keine Ethik und keine Lebensform begründen. Das ändert sich jedoch mit der Ernstnahme des linguistischen Paradigmas. Hier wird der Mensch als sprachlich und kommunikativ vergesellschaftet begriffen; das bringt ihn den anderen Menschen und einer Sitte näher, wir würden sagen, die Verhältnisse, in denen Menschen sind, können hierdurch in den Blick genommen werden. ‚Die Menschheit an sich‘ kann so nicht wieder als eine Idee rehabilitiert werden, aber die Gemeinschaft und Beachtung der Rechte aller Menschen gleichwohl. Sie ergibt keine Einheitsvorstellung, aber ein unbestimmtes Ganzes, in dem wir Menschen alle leben. In gewisser Weise knüpft eine Ethik in Verhältnissen sogar wieder an eine kosmische Vorstellung an, in der eine Ausrichtung an ein ‚Sein‘ erfolgt, von dem her Menschen sich verstehen und ihre Orientierung nehmen; nur ist dies eine Orientierung an einem Unbestimmten und auf etwas Un257
bestimmtes hin. In einer uns noch unklaren Weise denken wir also, dass unser Ansatz einer Ethik in Verhältnissen sowohl an metaphysische Ethiken und an eine (kommunitaristische) Tugendethik im aristotelischen Sinn als auch an eine Ethik des Perspektivenwechsels im Sinne Kants anschließt. Jeweils berufen sich diese Ethiken auf die Grundkonstellation, in der der Mensch im Bezug zur Wirklichkeit gesehen wird. Die Ethiken passen sich an dieses Grundverständnis an: Der Mensch wird vom ‚Sein‘ aus gedacht, er wird als soziales Wesen mit einem telos begriffen, er wird als autonom-konstitutiv gedacht, und er wird als Wesen in sprachlichen und sozialen Verhältnissen begriffen, die gemeinschaftlich-diskursiv auszugestalten sind oder als Verhältnisse in einem Unbestimmten wahrgenommen werden sollen, einem Unbestimmten, aus dem Würde erwächst. Würde zeigt sich, das hat sie mit dem deutschen Konjunktiv ‚würde‘ gemeinsam, in einer Möglichkeit. Die Würde und alle Achtung eines Besonderen entsteht aus der Unbestimmtheit. Um eine Formulierung Bertolt Brechts (und Marcel Reich-Ranickis) abzuwandeln: Vorhang auf und alle Fragen offen. Allerdings weist solche Offenheit auf die Verbindung zu unseren Mitmenschen und zu unserer Welt hin. ***
„Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann: sollt ich die kurze schauerliche Zeit nur mit Gedanken Umgang haben und allein nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun? Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?“181
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Ingeborg Bachmann, Erklär mir, Liebe. In: Gesamtausgabe Bd. 1 (Werke in vier Bänden). München/Zürich 1978, S. 109. Vgl. Christa Wolf, Vierte Vorlesung. Ein Brief über Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit; über sehr alte Zustände und neue Seh-Raster; über Objektivität. In: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München 1993, S. 146ff. 258
Danksagung Dank für das Zustandekommen dieses Buchs gebührt vielen, unseren Familien, die uns die Möglichkeit der Muße für das Nachdenken, Sprechen und Schreiben gegeben haben, und den Autoren, auf die wir uns beziehen und von ihnen Anregungen entnehmen konnten, auch dort, wo wir uns von ihnen abgrenzen. Wir danken nicht zuletzt Eberhard Ritz für viele Anregungen und Gespräche im Verlauf der Entstehung dieses Buchs. Manche Spur ist in diesen Gesprächen gelegt worden, die das Buch beeinflusst haben.
Autorenbiographien Michael Fröhlich und Klaus Langebeck, beide Dr. phil, haben als Lehrer, in der Fachdidaktik Philosophie, in der Hamburger Bildungsbehörde und als Ausbilder für Referendare gearbeitet. Zuletzt erschienen: Begleitest du noch oder lehrst du schon wieder? Über guten Unterricht (Fröhlich, 2018), Was auf uns zukommt (Fröhlich und Langebeck zusammen mit Eberhard Ritz, 2020) und Philosophieunterricht (2014).
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