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German Pages 199 [198] Year 2010
„Solange das Imperium da ist“ Carl Schmitt im Gespräch 1971
„Solange das Imperium da ist“ Carl Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971
Herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Frank Hertweck & Dimitrios Kisoudis in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler Mit einem Nachwort von Dieter Groh
Duncker & Humblot · Berlin
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Zum Andenken an Klaus Figge (6. November 1934 – 5. September 2006)
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Band 1:
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Katholizismus und Verschwörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1: Kindheit in der katholischen Diaspora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Kapitel 2: Der Kreis um Kurt von Schleicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3: Das katholische Pfarrhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 4: Die Blütenlese des Anklägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 5: Blüten des Nachkriegsjournalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 6: Die Chronologie und der Kalender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Kapitel 7: Die große Parallele und der Aufhalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Band 2:
Was steht in der Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Kapitel 8: Das unausgesprochene Thema der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Kapitel 9: Warum haben Sie Jura studiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 10: Ubi nihil vales, ibi nihil velis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Kapitel 11: Die Reichsgründungsrede 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 12: Das Eidestrauma des Reichspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Band 3:
Warum hast du mitgemacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Kapitel 13: Legalität statt Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Kapitel 14: Die wichtigsten Begegnungen und Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
Kapitel 15: Zum Positivismus ermächtigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Band 4:
On s’engage, puis on voit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
Kapitel 16: Die schöne Pilgerfahrt nach Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
Kapitel 17: Mein erster Blick ins Dritte Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Nachwort:
Wie ist es zum Gespräch mit Carl Schmitt gekommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Einleitung „Mit der Sendung eines Gesprächs im Südwest-Funk (6 / 2 / 72, Klaus Figge und Dieter Groh) war ich zufrieden“, schreibt Carl Schmitt in einem Brief vom 23. Februar 1972;1 zufrieden mit dem geschnittenen, moderierten Gespräch in der Sendereihe ,Zeitgenossen‘, ausgestrahlt zwischen 18 und 19 Uhr: „sah mich (als wäre es Fernsehn) als alten, gebrechlichen Mann, doch wurde meine Darlegung dadurch überzeugend; sonderbar. Dieter Groh glich die Gebrechen aus durch seine Einschaltungen, seine zeitgeschichtlichen Hinweise und seine Präsenz“. So notiert Schmitt am 5. März in seinen ,Losungen 1972‘. Weniger zufrieden war er mit der Veröffentlichung „des von C.S. korrigierten und genehmigten Textes“ durch Piet Tommissen im niederländisch-deutschen Sammelband ,Over en in zake Carl Schmitt‘ drei Jahre später. Im Separatum aus dem Nachlass im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStA, RW 265-28642) steht über dem Titel des Gesprächs handschriftlich die Bemerkung: „Dieses Gespräch vom Februar 1972 ist in dem hier gedruckten Zustand 1) korrekturbedürftig und 2) kommentarbedürftig. C.S.“ Carl Schmitt hat den abgedruckten Text nicht nur verbessert, er hat ihn auch durch Absatzmarken, Anmerkungen und Literaturhinweise ergänzt und mit zwei Zitaten eingerahmt. Gegenüber vom Vortitel hat er vier Jahre nach Abdruck einen kleinen Zeitungsausschnitt eingeklebt: „Zitat (Spiegel 2 / 9 / 79) ,In Chile und Argentinien hat das Militär getan, was die Reichswehr 1933 gegenüber Hitler leider versäumt hat‘ (der hessische CDU-Vorsitzende Alfred Dregger).“ In der historischen Parallelwelt des Papierschnipsels spiegelt sich Kurt von Schleicher in Augusto Pinochet und Jorge Rafael Videla. Auf der letzten Seite macht sich Schmitt nach der Schlussmoderation ein Wort des Reichstheologen Werner von Trott zu Solz zu Eigen: „Heute: ich will nicht und wollte nie ,aus der Tragödie meines Volkes ausbrechen‘“.2 Wie seine Werke sah der Situationist unter den 1 Brief an den Publizisten Hans-Dietrich Sander. Carl Schmitt / Hans-Dietrich Sander, Werkstatt-Discorsi. Briefwechsel 1967 – 1981, hg. v. Erik Lehnert / Günter Maschke, Schnellroda 2008, S. 203. 2 Werner von Trott, nicht zu verwechseln mit dem Widerstandskämpfer Adam, seinem Bruder, erzählt im Vorwort zum Sammelband: Der Untergang des Vaterlandes. Dokumente und Aufsätze, Olten / Freiburg 1965, S. 7 – 12, hier: S. 7 f., vom Scheitern seiner Bemühungen, das neue Deutschland nach dem Weltkrieg aus dem Geiste des Widerstands hervorgehen zu lassen: „Die unter einem guten Stern begonnenen Gespräche wurden unergiebig, nachdem der Kreis der Versammelten den für seine politische Wirksamkeit notwendigen Umfang erreicht hatte. Als der Autor darum schon fünf Jahre nach dem 20. Juli die aus diesen Begegnungen hervorgegangene Gesellschaft Imshausen auflösen mußte, weil sich die nun in größerer Zahl auftretenden Repräsentanten der östlichen und westlichen Zonen in zunehmendem Maße in der Sprache ihrer Besatzungsmächte bekämpften und in der eigenen immer weniger
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Einleitung – Zur Kommentierung
Staatsrechtslehrern auch die Hörfunksendung im Fluss der Zeitgeschichte: „Montag, 16 / 10, nachm[ittags] 15.05, wiederholt der Deutschlandfunk das Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh; überraschend neu, aktuell wird es durch die Kritik des gerichtlichen Prozesses (vgl. Verf. Aufsätze 1958, S. 109) angesichts des gegenwärtigen Mahler-Prozesses in Berlin; doch wird sich niemand dergleichen anhören, zu meinem Glück.“3 Wir geben das Gespräch in voller Länge heraus, originalgetreu nach den Tonbändern des SWR-Archivs – als ein autobiografisches Dokument ersten Ranges, das in der Oral History von Plettenberg im Dezember 1971 entstanden ist.4 Dirk van Laak hat 1993 mit der Schreibung dieser Geschichte angefangen, als er Carl Schmitt nach Zeugenbefragung „in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik“ verortete. Wir halten eines jener Gespräche fest, das in der Sicherheit des Schweigens geführt worden ist, um ins unsichere Medium des Hörfunks eingespeist zu werden. Unser Buch ist eine kritische Leseausgabe, verlässlich im Wortlaut, lesbar in der Synopse von Gesprächstext und Anmerkungen. Wo im Gespräch auf Texte verwiesen wird oder angespielt, werden ihre ,entscheidenden‘ Stellen dokumentiert. Es spannt sich unter dem Seiltanz des Gesprächs ein Netz von Texten, die das gesprochene Wort absichern, ein Netz, in dem Löcher klaffen und abgestürzte Weggefährten liegen. Zwischen den Maschen scheinen die Abgründe der Historie nur versehentlich auf, in den Versprechern oder Auslassungen. Auf dem Seil trägt Carl Schmitt seine Biografie im apologetischen Duktus der ,Verfassungsrechtlichen Aufsätze‘ von 1958 vor. Auf dem Grund der Anmerkungen liest sich die Lebensgeschichte anders, ohne dass sie von einem allwissenden Erzähler anders erzählt werden würde. Im Gesprächstext breitet Schmitt in positivistischer Manier Dokumente aus; in den Anmerkungen hingegen, die er meist selbst evoziert, zieht er die Schnur nach, an der sich sein Handeln ausrichtete.5 zu verständigen vermochten, war ihm klar geworden, daß jetzt nicht mehr zwischen Hitler und seinen Gegnern, sondern nur noch zwischen der Preisgabe des Vaterlandes und der Einsamkeit jener großen Deutschen gewählt werden konnte, die nicht aus der Tragödie ihres Volkes ausgebrochen waren, daß die Liebe zum Vaterlande nun nicht mehr auf die Schafotte, in die Regierungen und Versammlungen, sondern in die Verlassenheit dieses Vaterlandes und in die Hoffnung führt, auf solcher langen Reise in die Nacht Deutschen zu begegnen.“ Wir danken Doktor Levin von Trott für den Hinweis. 3 Brief an Sander vom 16. Oktober 1972, ebd., S. 235. Zur Zeit der Ausstrahlung wurde dem RAF-Terroristen und sozialistischen Kollektivanwalt Horst Mahler im Glaskasten unter anderem wegen ,Bildung einer kriminellen Vereinigung‘ zum zweiten Mal der Prozess gemacht. 4 Vgl. Dieter Grohs Brief an Carl Schmitt v. 21. 12. 1971, HStA, RW 265-5204: „Ich bezw. wir haben uns gefreut, an drei Tagen mit Ihnen diskutieren zu können. Klaus Figge fährt jetzt für drei Wochen nach USA; wir werden Ende Januar die Sendung unter Verwendung der Bänder fertigstellen.“ 5 Gegenüber Julien Freund, dem ehemaligen Kämpfer der Résistance, äußert sich Schmitt direkt: „Sie sind sehr eng in die Widerstandsbewegung in Frankreich verwickelt gewesen. Was bedeuten die Dokumente, wenn Sie das Gefühl haben, gehandelt zu haben wie Sie mein-
Einleitung in Kapitel 1
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Das Gespräch besteht aus vier Tonbändern, die wiederum aus 17 Aufnahmen bestehen. Das erste Tonband bildet den Kopfsatz, sein Hauptthema ist der Katholizismus, sein Nebenthema die Verschworenheit. Es spannt sich von der Kindheit „in der katholischen Diaspora“ zum Katechon, dem Aufhalter des Antichristen; vom Trost über verlorene Prügeleien mit evangelischen Mitschülern, „am jüngsten Tage die wahre Religion“ zu haben, bis zur Frage des Augustinus: „Wer garantiert mir den Sieg?“ Nach einer kurzen Orientierung erkennt Carl Schmitt in Kapitel 1, dass Dieter Groh und Klaus Figge ihm keine biografischen Superlative – „so mehr amerikanisch“ – entlocken wollen, sondern Raum geben, seiner Laufbahn als Staatsrechtler mit Anlauf nachzugehen. „Der Start ist dieses kleine Nest Plettenberg“; erst das NDR-Fernsehgespräch mit Jens Litten und Rüdiger Altmann von 1970 gibt letzte Sicherheit, dass Schmitt seinen Geburtsort als „Start“ bezeichnet und nicht als „Staat“, wie es sich auf dem Tonband zunächst anhört. Jenes TV-Dokument zeugt von der Formelhaftigkeit, in die der Senex die Jahre seiner Kindheit und Jugend gebracht hat. Und doch ist dem 83-jährigen Gelehrten, der in seiner Heimat lebt wie im Exil, die klare Fernsicht auf die prägende Frühzeit nicht abzusprechen. Der katholische Exot zwischen den protestantischen Staatsrechtlern wächst auf als „Angehöriger einer konfessionellen Minderheit in einer intensiv evangelischprotestantisch, zum Teil auch protestantisch-sektiererischen Umgebung“. Aus der Diaspora kommt Carl Schmitt „dann in eine katholische Stadt, Attendorn“, am staatlichen, aber „im Übrigen streng katholischen humanistischen Gymnasium“ lernt er die alten Sprachen. Es ist „diese merkwürdige Prägung“ einer Erziehung zwischen preußischer „Erziehungsanstalt“ und jesuitisch-katholischem Humanismus, die Denkfiguren seiner Staatslehre präfiguriert: preußischer Anstaltsstaat, begriffen anhand der katholischen Repräsentationslehre. Der Schüler begegnet in seinen Lehrern abweichenden Weltanschauungen: darwinistisches Freidenkertum, antiklerikale Systempädagogik, naturalistische Lebensreform. Sie stehen seinem „jugendlichen und kindlichen Katholizismus“ zunächst fremd gegenüber. Als Schmitt aus dem katholischen Konvikt „rausgenommen“ wird, weil „man das ,Leben Jesu‘ von David Friedrich Strauß bei mir entdeckt“ hatte, ist er dem katholischen Milieu schon entstiegen. In der entschiedenen Wendung gegen Strauß, 1919 vollzogen in ,Politische Romantik‘, macht Schmitt den Katholizismus für sein staatsrechtliches Denken fruchtbar. Damit verbindet er eine Wendung gegen ten handeln zu müssen. Morgen wird man andere Dokumente gegen und für mich auftreiben. Man kennt einen Menschen nur, wenn man seine Richtschnur kennt.“ Freunds ,Notice biographique sur Carl Schmitt concernant ses rapports avec le nazisme‘ ist übersetzt und veröffentlicht worden von Piet Tommissen, Über Julien Freunds ,Entdeckung‘ von Carl Schmitt und einige ihrer Folgen, in: Hans-Christof Kraus / Heinrich Amadeus Wolff (Hg.), Souveränitätsprobleme der Neuzeit. Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages, Berlin 2010, S. 18 – 20, hier: S. 18. Nach dieser Erzählung hat Schmitt nach der Machtergreifung in drei Einzelentscheidungen beschlossen, zu „bleiben und das Los des deutschen Volkes“ zu teilen; „eine aktive Haltung“ einzunehmen „mit dem Risiko sich zu kompromittieren; Hitler nicht zu bekämpfen“, sondern „mit ihm zusammen[zu]arbeiten, um zu versuchen, seine Politik zu orientieren“.
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Einleitung in Kapitel 2
den romantischen Katholizismus und eine Hinwendung zur französischen Staatsphilosophie der Gegenrevolution. Auch für den Denkort Frankreich gibt es biografisch „eine ungeheure, aber entfernte Abstützung bei den Verwandten an der Mosel und bei den Verwandten in Lothringen, bei französischen Verwandten, die also alle katholisch waren“. Von den „Raufereien“ im Konvikt springt Carl Schmitt in Gedanken zur Gefangenschaft nach dem Krieg. Über die Philosophie „des Schmerzes und des Elends“ in den Büchern seines Freundes, des Kollaborateurs Pierre Drieu la Rochelle begibt er sich zurück in die Schulzeit. Nun sind „diese entsetzlichen Raufereien“ nicht mehr „spezifisch an eine Konfession oder irgendeine Religion gebunden.“ Die Schule wird zum Kampfplatz jeder gegen jeden; das Schwanken zwischen einem katholischen und einem neutralen Begriff des Politischen macht sich im Erinnern bemerkbar. Schmitt wiederholt die Frage seiner Gesprächspartner: „Warum haben Sie Jura studiert?“ Er modelliert sie um in die Frage: „Wie konnte der arme Johann Schmitt seinen Sohn studieren lassen?“ – und beantwortet sie mit der Mutter: „Es war meine Mutter, die das durchgesetzt hat.“ Er umreißt die soziale Lage seiner Familie, geht an der Frage nach dem ,warum?‘ zunächst vorüber und hängt an die Schilderung der Elektrifizierung allgemeine Reflexionen über den Fortschritt an. In Kapitel 2 schneiden Dieter Groh und Carl Schmitt das Thema des Nationalsozialismus an. Zwei Daten sind hier von Bedeutung. Der Dezember 1936, in dem Schmitts politisches ,Engagement‘ in nationalsozialistischen Institutionen beendet wird, markiert den Standpunkt, auf dem die Jahre 1932 bis 1934 betrachtet werden. Von dort aus erkennt Schmitt den dezisionistischen „Jargon“ seiner Abhandlung ,Legalität und Legitimität‘ als „naiv“; denn der Reichspräsident hatte durch die Ernennung Hitlers bewiesen, dass er sich zur politischen Entscheidung für die ,Legitimität‘ der Weimarer Reichsverfassung (WRV) in der entscheidenden Situation nicht durchringen konnte. Der Januar 1933 markiert die Schwelle zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, auf der ein Turm von Büchern und Notizen im Gespräch die Sicht versperrt: „Sie glauben nicht, wie viel ich da schon liegen habe.“ Das dicke Dossier „Januar 1933“ RW 265-21410 aus dem Nachlass dokumentiert, wie gut gerüstet der ,Alte von Plettenberg‘, el Viejo de Plettenberg, seine Gesprächspartner vom Rundfunk empfing. Carl Schmitt situiert sich im Kreis um den Reichswehrminister und Reichskanzler Kurt von Schleicher: „Das war der Gefährlichste, der konnte gar nicht am Leben bleiben, der Schleicher, von Hitler her gesehen“. Auf Nachfrage Dieter Grohs erzählt Schmitt nicht etwa aus der Sicht des ,Insider‘ über Schleichers Absicht, die NSDAP zu spalten, aufzulösen, zu verbieten oder durch die Reichswehr angreifen zu lassen; er verweist auf die bekannte Monografie Karl Dietrich Brachers. Von Beginn an bezieht sich Schmitt in seiner Erzählung auf veröffentlichten Text; wo es im Gespräch um Geschichten geht, die der Öffentlichkeit durch zeitgeschichtliche Überformung zugänglich sind, äußert sich Schmitt eher kommentierend als erinnernd. Er beurteilt als Homme de lettres im vorliegenden Gespräch auch seine
Einleitung in Kapitel 3 – 6
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Kontaktmänner bei der Reichswehr nach ihrer „Begabung für Zitate“. Sich selbst charakterisiert er als Ideologen, der „beobachten konnte“, im Gegensatz zu Otto Schmidt-Hannover und Ewald von „Kleist-Schmenzin und was da rumtanzte“, den DNVP-Politikern und monarchistischen Gegnern Hitlers. In Kapitel 3 baut Carl Schmitt in Abgrenzung „gegenüber dem evangelischen Milieu“ seine Familie mütterlicherseits zum ,katholischen Pfarrhaus‘ auf: „Ich habe mehr vom Kulturkampf gehört und erfahren als vom Krieg 1870.“ Obwohl Dieter Groh ihn an die Frage nach dem Jurastudium erinnert, fährt Schmitt mit seiner Erzählung von den drei Onkeln fort, die den Kulturkampf als Pfarrer erlebten. Den Zölibat lobt er als Band „der lebendigen Familie“. Abschließend erkennt er „das evangelische Pfarrhaus“ als das „gefährlichste“ der großen „Dynamitlager in der Geistesgeschichte“ an. Damit legt Schmitt die Vermutung nahe, dass die gefährlichen Teile seiner Lehre auf die familiäre Nähe zum katholischen Pfarramt zurückzuführen sind. In Kapitel 4 beklagt sich Schmitt über die Veröffentlichung seiner Vernehmung in Nürnberg, die nicht einmal ausdrücklich auf Vernehmungsschriften gestützt sei. Indem er sich als „einen Menschen“ bezeichnet, „der sowieso in der Öffentlichkeit so angegriffen und beleidigt und mit fantastischen Mythen vernebelt wird,“ bringt er Dieter Groh auf die Idee, „einige dieser Mythen dann vielleicht morgen aufzuzählen“. Die Aufzählung und Erzählung der Legenden erfolgt in Kapitel 5 noch am selben Tag. Carl Schmitt nimmt Groh und Figge mit zur Blütenlese in den Journalismus der Nachkriegszeit. Die Kontroverse um seine Kontakte zur Wochenzeitung ,Die Zeit‘ und der Skandal in der ,Frankfurter Rundschau‘ und im ,Neuen Deutschland‘ um seine gelehrten Gespräche mit Kurt Georg Kiesinger führt Schmitt „zurück auf die Sache Fritsch“. Im Herbst 1934 war das Gerücht aufgekommen, der Chef der Heeresleitung, Werner von Fritsch, plane einen Putsch und wolle Carl Schmitt zur staatsrechtlichen Begründung vortragen lassen. Schmitt gibt sich im Gespräch durchaus geschmeichelt über das Gerücht um Kiesinger 1966. Er habe dem friedensbewegten WDR-Redakteur Ansgar Skriver auf Nachfrage geantwortet: „Ausgerechnet Kiesinger. Hab denen dann auch gleich gesagt, das wäre aber wirklich der letzte, auf den ich käme.“ In Kapitel 6 geben Carl Schmitts Materialien zum Gespräch Anlass für eine Reflexion zum Kalender und einen Plausch zur Stenografie. Was auf den ersten Blick eingestreut wirkt, erweist sich bei näherem Hinsehen als Lektüreschlüssel. „Ohne Kalender keine Geschichte“, diese Maxime wird das Gespräch beherrschen, wo Schmitt über seine Einlassung in den Nationalsozialismus berichtet. Was der Leser, Dieter Groh und Klaus Figge zunächst für eine Entscheidung für Hitler halten müssen, wird von Schmitt in ein Nacheinander und Zugleich von wenigen datierbaren Ereignissen im Januar 1933 aufgelöst. Bestimmen lassen sich diese Daten nur anhand des Tagebuchs, das allerdings stenografiert ist und daher decodiert werden muss, bevor sich die Daten irgendwie bewerten lassen. Vom engen Zusammenhang zwischen Kalender und Schrift im Denken Carl Schmitts sprechen die unveröffentlichten Tonbänder eines Gesprächs mit Eberhard Straub, damals Redakteur
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Einleitung in Kapitel 7
der ,Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘.6 Tito, der zugleich mit der kyrillischen Schrift den orthodoxen Glauben habe verdrängen wollen, wird in einem Zug genannt mit der Französischen Revolution, die einen neuen Kalender eingeführt habe. Wichtiger als die Schrift sei aber der Kalender. Mit dem Thema des Kalenders ist die große geschichtsphilosophische Parallele zwischen Urchristentum und Revolutionszeitalter eingeführt, um die es in Kapitel 7 geht. Hier wird das Gespräch zum lebendigen Dialog. Hier haken Dieter Groh als Kenner des Sozialismus und Klaus Figge als evangelischer Theologe ein. Dadurch reißen Maschen ins Netz der Referenzwerke, die Abgründe freilegen. Der Dialog beginnt mit dialektischen Spitzfindigkeiten zwischen dem Linkshegelianer Groh und dem Rechtshegelianer Schmitt. Schließlich gelingt es Schmitt, Grohs Einwürfe einfach abprallen zu lassen. Er lenkt das Gespräch auf die Konstantinische Wende: „Auf einmal tritt das in der Weltgeschichte nicht vorgesehene Ereignis ein: Der Kaiser wird Christ.“ Unvermittelt schwenkt er zur Adolfinischen Wende: „Man muss nur staunen, dass der dumme Adolf das nicht. . . Wenn der so großzügig um sich geschmissen hätte. [ . . . ] Na Gott, der war zu klein, aber so ’ne Type wie Konstantin.“ Diese Zeilen werfen Schlaglicht auf das Streitgespräch zwischen Carl Schmitt und Erik Peterson um die weltliche Präsenz des Reichs Gottes. Carl Schmitt gibt Dieter Groh den Rat: „Lesen Sie mal Augustinus. Da ist nämlich schon alles drin.“ Diesem ,Nimm und lies!‘, mit dem einst die Stimme unter dem Feigenbaum Augustinus von Hippo auf den Römerbrief stieß, lässt Schmitt begeistert einen Monolog folgen. Er ruft Mao als ,Katechon‘ der Studentenbewegung auf den Plan, um anschließend aus der ,Civitas Dei‘ das „Kapitel über die Wunder, die Wunder, die beweisen, dass das Christentum die Wahrheit ist“, nachzuerzählen. Hier knüpft Schmitt implizit an den Familienmythos des Kulturkampfes an, in dem die ultramontanen Katholiken gegen die legalen Machtmittel des preußischen Staates auf die legitime Wunderwirkung der Reliquien setzten. Über die „politische Theologie“ kommt Schmitt näher auf den Katechon aus dem zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher zu sprechen: „Ich hab mir mal zu meiner eigenen Information eine Liste gemacht der sogenannten Aufhalter, vom ,Aufhalter‘ her.“ Diese Stelle ist dunkel. Wie kann Schmitt „vom ,Aufhalter‘ her“ eine Liste anfertigen? Schmitt erklärt das Problem des Aufhalters zur Kernfrage der Historie: „solange ich in der Geschichte, in der Zeitgeschichte denke, wiederholt sich dieses Schema, auch bei den Marxisten.“ Es folgt ein angedeutetes Gespräch über Naherwartung und das „Umschwenken auf die Fernerwartung.“ Zum Schluss des ersten Tonbandes spricht Carl Schmitt unaufgefordert sein Bekenntnis zum Katechon. Das zweite Tonband variiert das Thema der Schrift. Es spannt sich vom „Zentralthema“ im Werk Carl Schmitts zu Paul von Hindenburgs Frage: „Was ist ver6 Aus dem Gespräch entstand der schöne Artikel: Der Jurist im Zwielicht des Politischen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 163 vom 18. Juli 1981, wieder abgedruckt in: Eberhard Straub, Götterdämmerung der Moderne. Von Wagner bis Orwell, Heidelberg 1987, S. 75 – 90.
Einleitung in Kapitel 8 – 9
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fassungsmäßig?“ im Jahre 1932; von der „Dialektik, Antithetik, Feindschaft usw. von Wort und Schrift“ bis zur Auflösung der Verfassung zum Verfassungsgesetz im positivistischen Verfassungskommentar.7 Der Tadel, seine Gesprächspartner sähen „nicht ausgeschlafen aus“, könnte darauf hindeuten, dass mit dem zweiten Band ein neuer Tag angebrochen ist. Dafür spricht auch, dass das Gespräch nicht im Plauderton weitergeführt wird, sondern neue Tiefen erreicht. Zu Beginn von Kapitel 8 widerspricht Carl Schmitt „polemisch und herausfordernd“ dem Prolog des Johannes-Evangeliums: „Im Anfang war nicht das Wort, sondern die Schrift.“ Er kennzeichnet den Widerspruch mit einem Zitat aus dem Geschichtsdrama ,Ein Bruderzwist in Habsburg‘ des Habsburger Hausdichters Franz Grillparzer als protestantisch. Im Vorübergehen reflektiert er auf das Medium der „Tonbandaufnahmen“, auf das sich „auch nicht viel mehr“ bauen lasse als auf das geschriebene Wort. Schmitt verortet diese Gedanken „im Dozentenseminar von Max Weber.“ Er führt die „Notenschrift“ an als „Bedingung der Möglichkeit“ von klassischer und moderner Musik. Keineswegs geht es Carl Schmitt hier um musikhistorische Erörterungen. Er veranschaulicht sein Verfassungsdenken an der Parallele von Verfassung und Partitur. Vor dem Hintergrund dieses Kapitels lassen sich die Ausführungen zu Hindenburgs Ratlosigkeit vor der Weimarer Reichsverfassung verstehen. Carl Schmitt erzählt, wie er in der nationalsozialistischen ,Akademie für Deutsches Recht‘ das Thema: „Wer ist der Autor des Films?“ behandelte. Er sei auf den „Drehbuchverfasser“ gekommen, weil alle anderen Beteiligten den Film so umsetzen müssten, wie von ihm geplant – „einfach, weil es aufgeschrieben ist.“ Diese intrinsische Bestimmtheit des Kunstwerks finde ihre höchste Form in Richard Wagners „Partitur der Meistersinger“. In höflicher Zurückhaltung umreißt Schmitt gegenüber dem Historiker Groh und dem Theologen Figge nur knapp, wie sein „Zentralthema“ die ,Verfassungslehre‘ von 1928 durchzieht, „der ,agraphos nomos‘ und der geschriebene Nomos, und wie der Nomos sich ändert in dem Augenblick, wie er geschrieben wird“. Schmitt schließt das Kapitel mit zwei Zitaten aus Konrad Weiß’ Dichtung ,Largiris‘, die seine Überlegungen wiederum in eine katholische Tonart überführen. In Kapitel 9 gibt Carl Schmitt Antwort auf die in Kapitel 1 angerissene und in Kapitel 3 übergangene Frage nach dem Grund fürs Jurastudium. Anknüpfend an die Überlegungen im vorigen Kapitel erzählt er von seiner – noch im Abiturzeugnis notierten – „Absicht, Philologie zu studieren“. Die Entscheidung zum Studium der Rechtswissenschaften schreibt er dem reichen Onkel zu. „Um eine Theorie des Dezisionismus überhaupt entwickeln zu können“, so Schmitt, müsse man so „eine 7 Als Motto zum zweiten Band könnte Carl Schmitts Aufzeichnung aus dem Glossarium vom 2. Oktober 1949 (S. 274) stehen: „Verstehe jetzt Caesars caesarischen Witz über Sulla: dieser war zu ungebildet, um ein Dictator zu sein. Wer nicht sprechen kann, kann auch nicht befehlen; die Welt lebt von Rheema; rheemasin peithomenoi, en panti rhemati. Das beste in der Welt ist ein Befehl und kein Gesetz; der Befehl ist direkte Sprache; das Gesetz generell, d. h. indirekt.“
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Einleitung in Kapitel 10
merkwürdige Art Passivität“ haben wie er. Bei dieser Selbstbefreiung von der Verantwortung seiner Entscheidungen kann sich Schmitt anscheinend auf einen Gesprächsabschnitt außerhalb der Tonbandaufnahme beziehen. Bedenkt man, dass dieser Gedanke als Egodizee am Schluss des Gesprächs wieder aufgenommen werden wird, so deutet sich hier das gestaltende Motiv des Picaro, des prototypischen Entscheiders, bereits an. Das Bild vom jungen Carl, der zum Sommersemester 1907 vor den Hürden „Juristische Fakultät und Philosophische Fakul. . .“ zögernd steht, „dann einfach in die Hürde Juristische Fakultät“ geht, sich einschreibt und bleibt, würde neben anderen Bildern aus dem Gespräch bestens in einen Schelmenroman passen. Das Kapitel 10 stellt Carl Schmitt unters Motto ,Wo du nichts giltst, sollst du nichts wollen‘. Er bezeichnet damit „die reflexionsmäßige Brücke zu der Distanzierung“ von der katholischen Kirche. Die Szene, wie der Schüler Carl aus dem katholischen Konvikt geworfen wird, weil man das Buch eines hegelianischen Protestanten bei ihm entdeckt hat, wird zweimal variiert. Als er merkte, dass „meine Schrift über den römischen Katholizismus, die 1923 erschienen ist“, „ein halbes Dutzend nennenswerter Leute“ zur Konversion bewegt habe, „da kam doch ein ungeheuerlicher Schock, und da fiel mir auch wieder dieses Wort ein: ,Ubi nihil vales, ibi nihil velis‘, denn ein Laie hat nichts zu sagen in dieser zölibatären Bürokratie.“ Weil er „mit drei wirklich rührenden Großonkels als Pfarrern an der Mosel groß geworden“ sei, habe sich ihm das Problem der Konversion vorher nie gestellt. Die Spitze gegen den künstlichen Katholiken Peterson verweist zurück auf Kapitel 7, standen sich doch im Streit zwischen Schmitt und Peterson der Vorwurf der Reichsideologie und der Vorwurf des Konvertitentums gegenüber. Carl Schmitt verschweigt, warum er es sich ursprünglich „nicht für alle Ewigkeit, aber wohl für alle Zeit“ mit dem geistlichen Stand verdorben hatte. Nachdem seine erste Ehe mit der Betrügerin Pauline Dorotic von der Kirche nicht annulliert worden war, blieb er in zweiter Ehe von den Sakramenten ausgeschlossen. Nach erfolgter Wiederzulassung und getaner Beichte8 markiert der Ausruf ,Schweigt, ihr Theologen, im fremden Geschäft!‘ – aufgefunden beim zum Protestantismus konvertierten Juristen Albericus Gentilis – den letzten Schritt „zu der inneren Distanzierung von dieser Art zentralisierter zölibatärer Bürokratie.“ Schmitt gibt sich als abendländischer Rationalist, der in seiner politischen Theologie nur Max Webers Religionssoziologie auf den römischen Katholizismus „von der Katakombe bis zum Tridentinum“ erweitert habe. Für irrationale Züge verweist Schmitt auf sein „Interesse an der modernen Malerei“ und seine lebhafte Beteiligung an „Bierzeitungen“. So „unerklärlich“, wie Schmitt behauptet, erscheint jenes Interesse am Avantgardismus bei näherer Betrachtung nicht. Sobald sich seine ästhetische Kraft von der – analytisch erkalteten – katholischen Kirche entfernt, springt sie auf das rein Irrationale über: Dada. Motivationsästhetisch gesehen ist Hugo Ball die auto8 Wolfgang Hariolf Spindler, Eine Art Vergangenheitsbewältigung: Carl Schmitts Beichte 1947, in: Die Neue Ordnung 62, 4 (2008), S. 309 – 318.
Einleitung in Kapitel 11 – 12
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biografische Gegengestalt zu Carl Schmitt: Der radikal irrationale Künstler, der sich in antipreußischem Affekt zur kirchlichen Ratio bekehrt, steht dem künstlerisch begabten katholischen Staatsrechtler gegenüber, der sich von der zölibatären Bürokratie abwendet, dem ,Reich der Vernunft‘ namens Preußen zuwendet, dort aber auf die kultische Irrationalität der aufsteigenden SS stößt. In Kapitel 11 erzählt Carl Schmitt von der Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1933. Wieder nähert er sich einem historischen Ereignis mit einem geistreichen Zitat. Der französische Botschafter André François-Poncet quittiert Franz von Papens Vermittlung zwischen Hindenburg und Hitler trocken: „Fränzchen hat sich selbst entdeckt.“ Von Anfang an stellt sich Schmitt im Gespräch auf die Seite Schleichers, um jeden Verdacht auszuräumen, er sei am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung als ,Mann Papens‘ zu betrachten. (So lautet die These in einem Aufsatz Heinrich Muths, auf den ihn Dieter Groh am 1. September 1971 im Brief aufmerksam gemacht hat.) Sogar seine Reichsgründungsrede ,Bund und Reich als Probleme des öffentlichen Rechts‘ sei ihm „durch die Mitarbeit mit Schleicher geradezu aufgezwungen“ gewesen. Der Gegenstand der Rede zeugt von den Erfahrungen im Prozess Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig, zu dem Schmitt vom Reichswehrministerium als Rechtsberater der Reichsregierung hinzugezogen worden war; das Problem des Dualismus zwischen Preußen und Reich vom „Reichsgedanken“ her zu lösen, wie Schmitt in seiner Rede vorschlägt, weniger. Das Verschwörungs-Thema wird in Kapitel 12 durchgeführt, in preußisch-protestantischem Tongeschlecht. Reichspräsident Hindenburg, der als einsame Spitze des Staates, als Hüter der Verfassung souverän entscheiden sollte, versucht die Verfassung zu verstehen. Um ihn gruppieren sich Reichswehrleute, preußische Dissidenten und nationalsozialistische Revolutionäre im Verbund mit positivistischen Juristen. Carl Schmitt identifiziert sich mit dem alten Reichspräsidenten: „Bin doch schließlich ungefähr so alt wie der alte Hindenburg, der war 85, ich werde 84.“ Zwar betont Schmitt, „immer informiert“ gewesen zu sein, „auch über Einzelheiten der Entwicklung“. Und doch bezieht er sich bei seinen Erzählungen in erster Linie auf die „Memoiren von Brüning.“ Im Vorlauf erzählt er „die Geschichte der alten Männer“ Hindenburg, Clemenceau, de Gaulle. Die Geschichte des alten Mannes Hindenburg, eines Mannes von einer „vorzeitlichen Einfachheit, aber Geradheit“, erzählt Schmitt als „echte, ganz klare menschliche, politische Situation“. Hindenburg habe – und hier beruft sich Schmitt auf „Schilderungen von dem Major Marcks, Erich Marcks, dem Pressechef“ Schleichers – „ein alles bestimmendes Eidestrauma“ gehabt. Erstens habe er „dem Kaiser, dem obersten Kriegsherrn, einen Eid geschworen und diesen Eid gebrochen, indem er damals mit der republikanischen Regierung zusammenarbeitete“; zweitens habe er 1925 als Reichspräsident einen Eid auf die Verfassung geschworen, der sich in seiner Vorstellung mit „diesem Mann, der da in Doorn saß, dem Kaiser Wilhelm II.“, verband. Als „das dritte Trauma“ Hindenburgs (hierbei handelt es sich eigentlich nur um die Äußerung des zweiten Traumas) nennt Carl Schmitt den „Prozess Preußen-
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Reich“, den er als Berater und Prozessbevollmächtigter des Reichs „schon von einem denkbar guten Beobachtungsposten her“ verfolgen konnte. Hindenburgs Eidestrauma verschwimmt zunehmend mit Schmitts eigener „Allergie gegenüber Prozessen“, festgehalten im Tagebuch jener Tage; nicht nur im Rückblick, sondern aus der Situation heraus. Schon im Sommer 1932 stand und fiel Schmitts Lehre vom ,Hüter der Verfassung‘ mit Hindenburgs Herrschaft über die politische Situation. Der Unterschied zwischen beiden Männern liegt in der Bildung und Ausbildung, in der Differenz zwischen Theorie und Praxis. Schmitt nahm „solche Haufen Akten, solche Haufen Material“ und eine Strategie mit zu den Verhandlungen nach Leipzig, während Hindenburg „bestenfalls“ als Kommandierender General in der Provinz „den Oberlandesgerichtspräsidenten seines Standorts kennengelernt“ habe. Doch war Paul von Hindenburg im Denken Carl Schmitts gerade als Oberbefehlshaber ,über die gesamte Wehrmacht des Reichs‘ über das Verfassungsgesetz gestellt und zum Hüter der Verfassung befähigt.9 In seiner Person kamen Biografie und Amt zur Deckung, fielen militärische Entschiedenheit und parteipolitische Neutralität zusammen. Hindenburg hätte nach Schmitt über die Verfassung befehlen müssen und fragte stattdessen seine Vertrauensleute nach dem Befehl der Verfassung. Der Hüter der Verfassung stellt höchstpersönlich in der Krise die Frage: „Was ist verfassungsmäßig?“ im Sinne einer Frage nach dem Buchstaben der Verfassung. Um diese Tragik herauszustellen, erwähnt Schmitt die Standardwerke zur Weimarer Reichsverfassung, den Kommentar von Gerhard Anschütz und das ,Handbuch des deutschen Staatsrechts‘ von Anschütz und Thoma. Er referiert die Widersprüche in der Auslegung und schließt mit dem Epitaph: „Das war nun die Verfassung.“ Zur Auslegung der Verfassung im Sinne einer präsidialen Demokratie war Paul von Hindenburg nicht gewillt, aber auch ideologisch nicht bereit. Das haben die biografischen Forschungen Wolfram Pytas ans Licht gebracht. Carl Schmitt zieht diesen Schluss nicht ausdrücklich, lässt ihn aber anklingen, indem er Hermann Hellers Schrift von 1925 in der Terminologie seiner eigenen Verfassungslehre paraphrasiert: Weimar, das sei „der Triumph der nationalen, das heißt demokratischen Legitimität über die dynastisch[e]“. Der Reichspräsident als demokratisch legitimierter „politischer Führer“? „Damit wäre er ja gar nicht fertig geworden, der Mann.“ So musste Hindenburg dem „sehr bösartigen Instinkt von Hitler“ unterliegen, der gegen einen verfassungsgesetzestreuen Reichspräsidenten das Mittel 9 Die Kommandogewalt hat Carl Schmitt im Vortrag ,Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches‘ als substanzspendenden Bezugspunkt noch der Weimarer Reichsverfassung enthüllt. Günter Maschkes im Erscheinen begriffene Neuauflage der Schrift von 1934 kann mit Spannung erwartet werden. Dass Dieter Groh den Ausführungen Schmitts auf Augenhöhe folgen konnte, erweist sein kurz zuvor ausgestrahlter Hörfunkvortrag über: Die misslungene ,innere Reichsgründung‘. Verfassung, Wirtschaft und Sozialpolitik im zweiten Reich, in: Revue d’Allemagne 4 (1972), S. 88 – 112, hier: S. 93: „Die extrakonstitutionelle Wehrverfassung mit der kaiserlichen Kommandogewalt ragte als Relikt aus absolutistischen Zeiten in den Verfassungsstaat hinein und entlarvte im Konfliktfall den Kompromiss zwischen bürgerlich-liberaler Bewegung und preussischer Militärmonarchie, wie er im preussischen Verfassungskonflikt zustandegekommen war, als Scheinkompromiss.“
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der Präsidentenanklage in die Hand nahm. Im letzten Schluss macht Carl Schmitt „das ewige Ideal dieser Art Anständigkeit eines Soldaten“ für Hindenburgs Scheitern am 30. Januar 1933 verantwortlich, das Ideal, „wie der Hauptmann von Kafernaum“ der Devise: „Tue das, also tue ich es“, zu folgen, als gebe der Rechtspositivismus moralische Leitung wie die Kirche oder Befehle wie die preußische Armee. Hindenburg erscheint als Reichspräsident, der am Zusammenhang von ,Legalität und Legitimität‘ der Verfassung gescheitert ist: Er konnte sich ihrer Legalität nicht bemächtigen, weil er ihre Legitimität falsch verstand – im Horizont der Monarchie, als deren Statthalter er sich fühlte. So konnte er den Befehl nicht aussprechen, der an der Wende der Jahre 1932 und 1933 zwischen Legitimität und Legalität vermittelt hätte. Das dritte Tonband nimmt die fingierte Frage Hindenburgs vom Beginn des zweiten Tonbands („Was stand denn nun eigentlich in der Verfassung?“) auf und demonstriert ihre falsche historische Beantwortung durch die Ereignisse bis zum Ermächtigungsgesetz. Als richtige Antwort führt Carl Schmitt in seiner Argumentation die Theorie von den „Prämien auf dem legalen Machbesitz“ aus der Abhandlung ,Legalität und Legitimität‘ mit. Hätte sich Hindenburg an die Prinzipien – statt an den Buchstaben – der Verfassung gehalten, so die Moral von Kapitel 13, hätte er eine andere Entscheidung getroffen als am 30. Januar 1933, und zwar: „Der Reichstag wird aufgelöst, und für die 60 Tage bleibt Schleicher der geschäftsführende Reichskanzler.“ Die Richtigkeit jener Theorie habe sich letztlich im Reichstagsbrand erwiesen, der den Nationalsozialisten in der Zeitspanne zwischen Auflösung des Reichstags und Neuwahlen die Prämien auf den legalen Machtbesitz, die Möglichkeit wirksamer Propaganda in die Hände gespielt habe: „Wenn an dem Moment die Berliner Polizei und alles, was da weiter zu gehört, wenn so der Reichstag brennt, in der Hand Schleichers gewesen wär’, dann wär’ das völlig undenkbar gewesen“. Schmitt spitzt die „Situation“ Hindenburgs auf eine Entscheidung zu zwischen Auflösung mit Bestimmung des Termins zu Neuwahlen oder ohne Bestimmung des Termins, wie es seinem Theorem vom „organisatorischen Minimum“ des Diktaturartikels 48 zuwiderlaufe. So schlüssig diese Zuspitzung erscheinen mag, entspricht sie doch weder Carl Schmitts Ratschlägen an der Jahreswende 1932 / 33 noch Kurt von Schleichers Zügen während seiner Kanzlerschaft. Schmitt riet dem Reichspräsidenten nicht, den Reichstag unter Bestimmung eines Termins aufzulösen, er dachte ihm in seinem Proklamationsentwurf vom 4. Dezember 1932 zu, den Reichstag zu ignorieren – so wie Caesar nach dem Überschreiten des Rubikon den Senat nicht mehr wahrnahm, der ihm sein Imperium über Gallien und Illyrien streitig machen wollte. Schmitt unterstellt Schleicher eine Aneignung seiner Verfassungslehre, wie sie heute nicht bestätigt wird. Daher ringt er um Worte, wenn er erklären will, warum sich auch Schleicher zur Auflösung unter Bestimmung eines Termins nicht durchringen konnte. „Ich hab ihn [ . . . ] in diesen letzten Tagen gar nicht persönlich gesehen“, räumt Schmitt richtig ein, dass auch die Politik Schleichers in den Begriffen seiner Lehre nicht aufgehen kann. Schmitt erwähnt die „Briefe von Franz Neu-
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mann“, später Politologe im New Yorker ,Institut für Sozialforschung‘, um seinen Gesprächspartnern klarzumachen, dass Schleicher keinen Rechtskurs fuhr, sondern einen Kurs der politischen Neutralität – und nur ein „typisch bürgerlicher Ideologe“ von links, nämlich Rudolf Breitscheid, aus doktrinären Erwägungen den Kurs durchkreuzte. Um wie in den ,Verfassungsrechtlichen Aufsätzen‘ zu beweisen, dass er am Vorabend der Machtergreifung gegen die Nationalsozialisten gekämpft habe, führt Carl Schmitt einen redaktionellen Paratext und eine umstrittene Deutung von frei schwebenden Stellen aus ,Legalität und Legitimität‘ an. In der Abhandlung vom 10. Juli 1932 bleibt unklar, ob die NSDAP den anderen Parteien im Parlamentarismus die ,gleiche Chance innerpolitischer Machtgewinnung‘ nehme oder ob vielmehr der NSDAP diese Chance genommen werde. Erst die Redaktion der ,Täglichen Rundschau‘ fügt einem Auszug aus ,Legalität und Legitimität‘ am 19. Juli die „Nutzanwendung“ hinzu, dass die Partei bei der Reichstagswahl am 31. Juli von der Macht fernzuhalten sei. Wird in der Literatur oft gemutmaßt, Schmitt habe vor der Machtergreifung eine Sonderpolitik für die Nationalsozialisten verfolgt, so beansprucht Schmitt für sich eine politische Sondertheorie gegen die Nationalsozialisten. Die Dokumente zum vorliegenden Gespräch zeugen davon, dass Schmitt, solange er sich als Advokat des Reichspräsidenten fühlte, gar keine Sonderpolitik verfolgte. Wichtig erscheint hier der Zeitpunkt, zu dem er sich vom Reichspräsidenten abgewendet hat. In dieser Frage widerspricht das Tagebuch (7. Dezember 1932) dem Aufsatz ,Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland‘, in dem der Reichspräsident noch für Februar 1933 als „Säule der Weimarer Verfassungsordnung“ aufgestellt wird. Anders als Hindenburg wusste Carl Schmitt angesichts der negativen Mehrheit im Reichstag: „Da steht gar nichts in der Verfassung!“ Nun ist Hindenburg mit zwei Alternativen konfrontiert, „seine Freunde, Papen und so, sein Sohn Oskar, sagen: ,Das ist Notstand, das ist Verfassungsnotstand‘“ – eine Beurteilung der Lage, die Schmitt schon aus rechtsdogmatischen Gründen nicht teilen kann. Und Hitler fordert Neuwahlen und Ermächtigungsgesetz. „Auf einmal war er der Hüter der Verfassung. Auf einmal waren die Rollen vertauscht, und jeder, der davon abweicht, der stieß auf diesen in dem Moment unüberwindlichen Punkt bei dem Alten, in dem Kopf des Alten.“ Auf einmal ist Hitler der Hüter der Verfassung, zum Zeitpunkt des Gesprächs auch im Kopf Carl Schmitts, der die Namen Hitler und Hindenburg ständig verwechselt. Es habe sich „die Überlegenheit Hitlers über diese ganze konservative Gesellschaft“ darin erwiesen, dass er die ,Prämien auf den legalen Machtbesitz‘ durch eine Legalitätsstrategie zu erringen verstand. Für die Unterlegenheit der Konservativen steht „der Brief des Prälaten Kaas vom 26.“ Januar, aber nicht nur exemplarisch. Der Brief an Reichskanzler Schleicher, der von Heinrich Brüning „noch am gleichen Tage an den Reichspräsident“ weitergegeben wurde, ist in der Autobiografie von Carl Schmitt die letzte Ursache für die Ernennung Hitlers! „Damit war ja praktisch die Sache entschieden. Das wussten ’se, am 27. war die Sache schon aus, nicht erst am 28.“ In der Geschichte der
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Arcana imperii war für die Machtergreifung der Nationalsozialisten entscheidend, dass der Fraktionsvorsitzende der Deutschen Zentrumspartei seine Beschwerde über „die das gesamte Staatsrecht relativierenden Grundtendenzen von Carl Schmitt und seinen Gefolgsmännern“ bis zum Reichspräsidenten vorbrachte. Am 27. Januar 1933 schrumpft Hindenburg zu einer der „historischen Parallelen“ von Erich Marcks, verschriftlicht im Kalender des Tagebuchs: „Er sagt, der Mythos ist, wörtlich, der Hindenburg-Mythos ist zu Ende – also das ist ein Mac Mahon.“ Statt vom Verfassungsentwurf zu erzählen, den er im September 1932 in übler Laune für Reichskanzler Franz von Papen anzufertigen versuchte, erzählt Carl Schmitt in Kapitel 14 von Verfassungen, die er mit seiner Tochter zum Spaß nach dem Vorbild der Merzbühne entworfen hat.10 Er verhandelt mit Dieter Groh und Klaus Figge über die weiteren Fragen. Von Figge erfahren wir, dass Schmitt schon „zwei abgelehnt“ hat. Die Fortsetzung der Geschichte vom Ermächtigungsgesetz hat er hingegen „schon zugestanden“. Groh will ihm „die Geschichte mit Görings Eingriff, dass Göring Ihnen das Leben gerettet hat“, fürs Publikum entlocken. Carl Schmitt bietet „eine kleine Ausarbeitung von zehn Seiten Maschinen ungefähr (wenn ich sie finde, schicke ich sie Ihnen) gemacht über mein erstes Berliner Semester“ an, um sie im Hörfunk „vorlesen“ zu lassen, nachgereicht zur Antwort auf die Frage nach dem Jurastudium. Das Motiv der Entscheidung aus Kapitel 9 kommt wieder auf. Groh will die Unmöglichkeit der Entscheidung philosophisch herleiten, wohingegen Schmitt auf seinem Monopol zur Unentschiedenheit beharrt. Figge stellt nun – anscheinend gut vorbereitet – zwei „so mehr amerikanisch“superlativische Fragen: „Was würden Sie sagen, sind die drei wichtigsten Begegnungen?“ und: „Was würden Sie sagen, sind die drei wichtigsten Bücher, die Sie geschrieben haben?“ Als wichtigste Begegnung nennt Carl Schmitt „die väterliche Freundschaft mit dem späteren Justizminister am Zehnhoff.“ In dieser Begegnung klingt das Thema des Katholizismus wieder an: „Er wollte mich immer unterbringen an der Rota Romana. Die Rota Romana, das ist der zentrale Gerichtshof der römischen Kirche.“ Doch Schmitt hat sich anders entscheiden lassen. Bestimmend für seine Laufbahn ist die zweitwichtigste Begegnung, in der die Verschworenheit im preußischen Dur der verworfenen katholischen Laufbahn kontrapunktisch entgegentritt: „Popitz würde ich vielleicht doch an zweiter Stelle nennen. Am Zehnhoff, dann Popitz.“ Dem Verschwörungs-Thema gehört auch die Reflexion über die Alternative Katholik oder Freimaurer an, die sich hinter der „Alternative evangelisch / katholisch“ verberge. Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort auf die drei wichtigsten Bücher. Hier fällt auf, dass der ,Leviathan‘ als Buch des inneren Widerstandes anstelle des beruflich wichtigeren Buches ,Die Diktatur‘ genannt 10 Ebensowenig erzählt Carl Schmitt von seiner Beteiligung an den Staatsnotstandsplänen unter Reichskanzler Papen vom Sommer 1932, die erst durch die Veröffentlichung von Ernst Rudolf Hubers Vortrag im Speyerer Sonderseminar vom Oktober 1986 im Sammelband ,Complexio Oppositorum‘ zitierfähig geworden ist.
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wird. Die Reflexion über das „45. Lebensjahr“, bis zu dem systematische Bücher gelängen, schlägt den Bogen zu Johannes Popitz, der seinem Freund zum Abschluss des 45. Lebensjahres den Titel eines Preußischen Staatsrats schenken lässt. In der Stimmung der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Staatsrats und in esoterischem Bezug zur Rede Hitlers vor den preußischen „Militärs“ (s. u.) steht das Gemälde, das Carl Schmitt im Gegenzug seinen Gesprächspartnern als „Rätsel“ vorlegt: der romantische Dichter José Zorrilla bei der Rezitation vor der isabellinischen Gelehrtenrepublik, gemalt vom romantischen Maler Esquivel. Groh greift den Hinweis „dieser Dichter“ auf und fühlt sich an Puschkin erinnert. Dafür erntet er bei Schmitt Lob. Figge denkt an „eines der Gemälde von der Kaiserproklamation, wo der Bismarck steht und. . .“ scheidet aus. – Im kommentierten Gespräch scheint Klaus Figge näher an der Lösung des Rätsels. In seinen Unterlagen blätternd macht sich Carl Schmitt in Kapitel 15 an die Beantwortung der Frage: „,Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht?‘ Eine sehr naheliegende Frage, die ich als Frage anerkenne, sonst würde ich sie nicht beantworten.“ Er eignet sich die Frage an, indem er sie im inneren Monolog stellt: „Warum hast du mitgemacht?“ Um auf dem zwischen Schrift und Kalender gespannten Seil antworten zu können, nimmt er sich die Freiheit, „die Frage so zu beantworten, dass ich erst die Chronologie klarstelle. Es geht einfach nicht ohne Kalender.“ Im nächsten Schritt schiebt Schmitt der Frage nach seinem Motiv die Richtung auf eine objektive, zeitgeschichtliche Entwicklung unter: „Warum hast du eigentlich mitgemacht? Wie kam das?“ Angelpunkt im Kalender ist der 30. Januar 1933, Zielpunkt ist das Ermächtigungsgesetz, verkündet am 24. März 1933. Zu Beginn der Geschichte steht diesmal ein Zitat von Popitz, das Marcks’ Zitat vom Hindenburg-Mythos zur Schrift, zur Lektüre hin variiert: „Die Legende, die letzte deutsche Legende ist zu Ende.“ Ausgerechnet Popitz, der später die entscheidende Rolle bei Schmitts ,Engagement‘ für den Nationalsozialismus spielen wird, rät ihm am 29. Januar: „Müssen Sie von der Bildfläche verschwinden.“ Wie eine spiegelverkehrte Mise en abyme erscheint das Hörfunkgespräch, das Schmitt am 2. Februar mit dem Nationalrevolutionär Veit Roßkopf führt. Schmitt scheint das zu ahnen, wenn er auf „Belastungsmaterial“ hinweist, das in den Tonbändern zum Gespräch warten könnte. Denn in jenem Gespräch äußert sich Carl Schmitt in einem Sinne zum Positivismus, der seiner Apologie im vorliegenden Gespräch (um im Bild der Heraldik zu bleiben) diametral entgegengesetzt ist. War es im Februar 1933 der Positivismus, den es nun zu überwinden gelte, so muss der verrufene Rechtspositivismus im Dezember 1971 als Entschuldigung herhalten. In der autobiografischen Rolle des Positivisten bekennt Schmitt sich schuldig, um die Schuld auf den Positivismus abzuwälzen: „das Ermächtigungsgesetz, nun, vom 24. März. Damit begann natürlich für mich als Juristen ’ne völlig neue Situation als Positivist.“ Carl Schmitt bezieht sich – durchaus nicht sinnentstellend – auf Hans Kelsen und ein interessantes Wiener Streitgespräch zwischen Kelsen und Alexander Hold-Ferneck. Auf das Motiv der schelmischen (Un-)Entschiedenheit zurückgreifend, gibt Schmitt
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sein ,Bekenntnis‘ zum Positivismus mit einem Zitat aus Hegels Rechtsphilosophie: „Nun bin ich kein Positivist im Sinne von Kelsen. Aber es gibt andererseits auch kein anderes als positives Recht.“ Auch hier liefert er den Hinweis zur richtigen Deutung mit, war es doch Hegels Staatsphilosophie, die er in seinen Aufsätzen von 1933 / 34 zur Legitimierung des Nationalsozialismus heranzog. Im Gespräch läuft die Rede von der Legitimität aber nur als Subtext unter dem Legalitäts-Diskurs her. Insofern gibt eine andere Äußerung besser Aufschluss über das Motiv, das Schmitt zur „Mitarbeit“ im Nationalsozialismus bewog: „Popitz hatte eine Sache am Herzen, das war übrigens etwas, was ihn mit Schleicher innerlich verband: Preußen.“ Nur kurz bringt Schmitt als Gegengestalt zum Preußen Popitz den erbitterten Preußen-Hasser Hugo Ball ins Spiel – „Ich war kein Eremit, wie Hugo Ball das geworden ist“ – um sich von ihm zu distanzieren, vielleicht auch, um auf dem gekaperten preußischen Staatsschiff einen biografischen Anker in die Hand zu bekommen. Das vierte Tonband ist das Rondo-Finale, in dem der Katholizismus als Ritornell immer wiederkehrt. Es beginnt im Durcheinander der Machtergreifung, macht Halt beim Emblem des Kampfstiers und klingt aus in der autobiografischen Gestalt des Picaro, des spanischen Schelms. In Kapitel 16 versetzt sich Carl Schmitt in die Zeit vor seiner „Mitarbeit mit Hitler“. In die Distanz zur Goethe-Religion des deutschen Bildungsbürgertums legt er seinen Abstand zum „Genie“ Hitler, in der Überwindung der Distanz durchmisst er seine Annäherung an den Nationalsozialismus. Johannes Popitz tritt im letzten Band als entscheidende Figur auf, die den unentschiedenen Dezisionisten Schmitt aufs Gleis setzt. Die Geschichte setzt ein mit der Fahrt „nach Weimar mit meinem Freunde Popitz“, zeitgeschichtlich gesehen zu einer „Beamtentagung“, einem Lehrgang in Vertretung des Reichsinnenministers, geistesgeschichtlich gesehen zu einer „Pilgerfahrt nach Goethe.“ Der Topos Weimar vermittelt zwischen der alten Ordnung der Weimarer Republik und dem neuen politischen Genie-Kult, als den Schmitt den Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit aufarbeitete.11 So begibt sich Carl Schmitt im Gespräch auf diesen Topos, um unter den Fragen zum Kalender im Subtext seine Vergangenheit zu ,bewältigen‘. „Ich fuhr am 26. März mit Popitz nach Weimar, und wir hielten dort den Vortrag, besichtigten das Goethe-Haus.“ Von den Handwerkern der Berliner Staatsoper lässt er sich 11 „Die Idee bemächtigt sich eines Individuums und tritt dadurch immer als fremder Gast in die Erscheinung. Der fremde Gast war Adolf. Er war fremd bis zur Karikatur. Fremd gerade durch die aseptisch-leere Reinheit seiner Ideen von Führer, Charisma, Genie und Rasse. Er war ein voraussetzungsloser Vollstrecker. Die Masse der Gebildeten war ungebildet. Die wenigen Gebildeten standen noch bei Goethe und Carus. Sie hatten die Krisis von 1848 noch nicht erfahren. Bruno Bauer und Max Stirner galten als komische Knulche. Adolf dagegen, der als Geistiger weniger war als Max, galt bei Gebildeten wie Popitz als ein Genie. So trat er denn in die Erscheinung.“ Aufzeichnung vom 17. Mai 1948 im Glossarium. S. dazu Reinhard Mehring, Friedrich Schillers ,Demetrius‘. Ein später Baustein zu Carl Schmitts Hitler-Bild, in: Weimarer Beiträge 53 (2007), S. 559 – 575.
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später „nach dem Muster des Stehpultes von Goethe dieses Pult machen“, das während des Gesprächs in Plettenberg im Zimmer steht. In Weimar fühlt er den Abstand zur Religion der „gebildeten Deutschen“, in Weimar bekehrt er sich mit schelmischem Vorbehalt zu Goethe: „Ich habe lange Zeit gebraucht wegen meiner katholischen Herkunft, ehe ich überhaupt einen Kontakt mit Goethe hatte und daran glaubte.“12 Bei allem Sarkasmus bleibt im Gespräch angesichts des Opfers, das Johannes Popitz im Widerstand gegen Hitler später erbracht hat, ein Kern der Achtung vor der preußisch-protestantischen „Bildungsreligion“ hörbar, wenn Schmitt betont, „dass diese Preußen unter Popitz immer noch ruhig die Kirchensteuer verwaltet haben, wie das dem Konkordat oder wie das der Überlieferung entsprach“. Achtung vor der Existenz des Bildungsbürgers, nicht aber vor den Kultstätten der Bildungsreligion! In der „Weimarer Fürstengruft“ schießt die Abscheu vor der kultischen Dichterverehrung Goethes und Schillers in eine gelehrte soziologische Parallele zusammen: „wie Lenchen Demuth am Grabe von Marx, ich weiß nicht, lag da unten zu Füßen, liegen diese beiden da zu Füßen der Fürsten oder der Herzöge von Sachsen-Weimar“ – und in ein Zitat, wonach diese Unterwürfigkeit die „Realisierung des berühmten Verses von Schiller ist, dass ,soll der Dichter mit dem König gehen, sie stehen beide auf der Menschheit Höhen!‘“ In München macht Carl Schmitt Halt auf dem Weg nach Rom, wo er mit Erik Peterson die Karwoche 1933 verbringen will. Hier scheidet sich Zukünftiges von Vergangenem: Seinen Verleger und jüdischen „Freund Ludwig Feuchtwanger“ findet er „in großen Sorgen“ vor. Die „alten Kameraden da vom Stellvertretenden Generalkommando“ rufen Erinnerungen an den Artikel 48 WRV wach, der Schmitts Karriere in der Weimarer Republik begründet hat. „Konrad Beyerle, Mitschöpfer der Weimarer Verfassung“, will „unter allen Umständen mitmachen“ bei den Nationalsozialisten und führt ihm vor Augen, dass die Zeiten des preußischkatholischen Verfassungskompromisses nun vorbei sind. Das Wiedersehen mit seinem Doktorvater Fritz van Calker, der auch Lehrer seines Gönners im ,Dritten Reich‘ Hans Frank gewesen ist, wird im Tagebuch schon im Lichte des Nationalsozialismus besehen. (Frank selbst wird im Gespräch als „der Mann da in Köln“ nicht namentlich genannt.) Vorher schon hat ihm Otto Koellreutter, künftig sein schärfster Konkurrent um die Stellung als ,Kronjurist‘ des ,Dritten Reiches‘, in Jena mitgeteilt, „dass er der NSDAP beigetreten sei.“ Schließlich liegt für Schmitt am 31. März ein Telegramm im Hotel: „Montag Nachmittag 5 Uhr Sitzung im Staatsministerium.“ Die Umkehr nach Berlin / Preußen und die Absage nach Rom lassen sich mit dem „Finger auf das Kalenderdatum“ als biografischer Wendepunkt bestimmen. Mit einer neuen beruflichen Herausforderung erwarten ihn Popitz und Görings Staatssekretär Erich Neumann zur „Beratung über das Reichs12 „,Jugend ohne Goethe‘ (Max Kommerell), das war für uns seit 1910 in concreto Jugend mit Hölderlin, d. h. der Übergang vom optimistisch-ironisch-neutralisierenden Genialismus zum pessimistisch-aktiven-tragischen Genialismus. Es blieb aber im genialistischen Rahmen, ja, vertiefte ihn noch in unendliche Tiefen.“ Aufzeichnung vom 18. Mai 1948 im Glossarium.
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statthaltergesetz“. Schmitt trifft in seiner Erzählung keine Entscheidung, sondern folgt „eigentlich ohne Bedenken und ohne Reflexion, aber auch ohne jede Spur von Dezisionismus“ dem ,Anruf‘ im „Telegramm von Popitz, Staatsministeriumssitzung. . .“ Kapitel 17 entsteht aus dem Bedürfnis, „wegen der Wichtigkeit noch ein Wort über das Reichsstatthaltergesetz“ zu verlieren. Göring, Popitz und Schmitt erscheinen inzwischen als verschworene Einheit, in der „das persönliche Interesse Görings, Preußen in der Hand zu behalten, von uns aus gesehen“ werden kann. Gemeinsam schneiden sie das Reichsstatthaltergesetz so auf Göring zu, „dass also auch die Partei sich da nicht mehr einschalten konnte.“ Als Repräsentant des Führers in Preußen ist Göring aus der Hierarchie von Führern und Unterführern ausgenommen. Carl Schmitt vermeidet, auf seine eigenen Texte jener Tage zu verweisen. Sie bleiben seiner Erzählung von der positivistischen Parteinahme für den Nationalsozialismus aber eingesenkt. So öffnet sich im Gespräch ein doppelter Boden, eine esoterische Ebene, die die exoterische Rede vom Positivismus unterläuft. Eine Ausnahme macht Schmitt bei seinem „kleinen Kommentar“ zum Reichsstatthaltergesetz, nur um an ihm vorüberzugehen, „denn da steht aber auch nicht viel drin.“ Tatsächlich macht Schmitt in diesem Kommentar nicht nur auf den angeblich verborgenen ,springenden Punkt‘ aufmerksam, dass Preußen überhaupt keinen Statthalter habe. Er leitet das Gesetz im Kommentar auch ausdrücklich aus der Reichskrise her, die im Preußenschlag erstmals durch „eine einheitliche innerpolitische Staatsführung“ überwunden werden sollte. Mit dem Reichsstatthaltergesetz hält Schmitt die Frage seiner Gesprächspartner für beantwortet: „Nun wissen Sie, seit wann ich mitgemacht habe und in welcher Sache, mit welchem Thema ich mitgemacht habe.“ Doch noch einmal spitzt Carl Schmitt das Gespräch auf ein Datum zu; nicht auf den 7. April, an dem das Reichsstatthaltergesetz verkündet wird, oder auf den 8., an dem der ausgebootete Papen mit Ludwig Kaas nach Rom geht, um über das Reichskonkordat zu verhandeln, sondern auf den 6. April: „Da war um 8 Uhr abends ein Empfang, den gab Papen.“ Schmitt sitzt „in der dritten, vierten Reihe und einige Meter von dem Pult des Redners entfernt, also vom Führer Adolf“. Wieder markiert ein Pult den geistesgeschichtlichen Ort des staatstragenden Bildungsbürgertums. Schmitt nimmt Tempo aus dem Gespräch, er verharrt bei der Szene, um sie auf zwei Zitate zulaufen zu lassen. Popitz und er hören zu, beobachten und bekommen ihrer verschiedenen Herkunft entsprechend – „ich kam ja doch eben aus dem katholischen Westen, und Popitz war in Anhalt geboren, also von der Elbe“ – unterschiedliche Eindrücke. „Popitz sagte: ,Der Mann wird die soziale Schicht, die er braucht, nämlich die gebildete Bürgerschicht, in diesem Sinne die Gesellschaft, nicht so leicht gewinnen.‘“ Schmitt borgt sich sein Bild erneut in Spanien, dem Mutterland der Gegenreformation: „Der kam mir vor wie der Stier, der in die Arena kommt.“ Schmitt wendet die Frage, die er daraufhin Popitz stellte, umgehend an seine evangelischen Gesprächspartner: „Haben Sie mal so eine richtige Corrida, einen richtigen Stierkampf gesehen?“
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Einleitung – Zur Edition
Erneut gelingt es ihm, die Ereignisse in einem Sinnbild zu fixieren. Wie schon im Gemälde evoziert, geht er zur letzten biografischen Station im Gespräch über. Wieder zieht Popitz die Strippen, wieder ist es ein Telegramm, „ein Telegramm von Berlin, dass ich auf Lebenszeit zum Preußischen Staatsrat ernannt werde, pünktlich am 11. Juli 1933, also an meinem 45. Geburtstag“. Ein letztes, mehrdeutiges Zitat – man weiß nicht, bezieht es sich auf Napoleon, auf Lenin, auf Georg Lukács oder auf Charles de Gaulle – bringt die Egodizee zu einem glücklichen Ende: „Die Rechtfertigung dieser, wie soll ich sagen, Uminterpretation Ihrer Frage, die liegt in dem ,On s’engage, puis on voit.‘“ Mit diesem Motto macht Schmitt „der exakten faktenmäßigen und datenmäßigen Darlegung“ zur Frage „Wie ist es gekommen?“ ein Ende. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die ,positivistische‘ Beantwortung die Frage nach dem Motiv für sein Engagement im Nationalsozialismus überhaupt nicht trifft. Von langer Hand führt er die Frage in die theoretische Aporie des Positivismus: Wo Legitimität die Legalität nicht motiviert, bedarf legales Verhalten auch keiner Rechtfertigung. Carl Schmitt kostet seinen Triumph in der Befragung aus. Der liegt im Kunstgriff, den Verdacht gegen seine Rechtsphilosophie des Dezisionismus gegen die Verdächtiger umgewendet zu haben: „Ich habe nichts beschlossen, Hitler hat beschlossen.“ Für diesen Schluss des Gesprächs findet Carl Schmitt im tridentinischen Spanien den biografischen Typus des Picaro: „So wie der Spitzbogen das Kriterium des gotischen Stils ist (das ist ganz einfach zu sagen), ist diese Wendung im Roman ,Ich beschloss, dass. . .‘“ das literarische Kriterium des Picaro. Doch selbst der Picaro bildet sich oft nur ein, er beschließe. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zur Edition: Die Transkription des Gesprächs folgt dem gesprochenen Wort. Sie lässt Füllsel weg, die nicht zum Verständnis beitragen. Sie teilt Wiederholungen nicht mit, wo sie durch Interpunktion zu übersetzen sind. Wo mitten im Wort abgebrochen wird, wird das Wort in eckigen Klammern ergänzt, sofern der Abbruch nicht signifikant und die Ergänzung dem Wissen zuträglich ist. Korrekturen werden in eckigen Klammern eingeblendet, wenn es sich um offenkundige Irrtümer bei Namen oder Daten handelt. Nonverbale Äußerungen werden in eckigen Klammern mitgeteilt, wenn sie eindeutig einer Quelle zuzuordnen sind. Konjekturen an der mündlichen Sprache unterbleiben. Textualisiert und kontextualisiert wird das Gespräch in den Anmerkungen. Der Grundsatz, Referenztexte sprechen zu lassen, wird auch dort weiterverfolgt, wo sich Carl Schmitt nicht ausdrücklich oder anspielend auf einen Text bezieht. Die Angaben zur Sekundärliteratur und zu weiteren Quellen stehen im engen Kontext der Anmerkung. Alle Monografien werden wo möglich nach den Ausgaben in der Bibliothek Carl Schmitts zitiert.13 Dass das Gespräch von 1972 in der vorliegenden Form als Buch erscheinen konnte, ist nur durch die liebenswerte Zusammenarbeit mit Dr. Gerd Giesler möglich gewesen, der das Manuskript auch gegengelesen hat. Ihm sei dafür von Herzen 13 Der Geschichte der Bibliothek Carl Schmitts, also der Basiserzählung seines Lebens, wird Martin Tielke in dem ersten Band Schmittiana, Neue Folge 2011, nachgehen.
Einleitung – Danksagung
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gedankt! Dr. Eberhard Straub sind wir dankbar für die Leihgabe seiner Gesprächsbänder von 1981, die sich als äußerst wichtig für den Zugang zum vorliegenden Gespräch erwiesen haben. Für die Einsichtnahme in die Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1930 – 1934 und die freundliche Erlaubnis, aus dem Manuskript zu zitieren, danken wir Professor Wolfgang Schuller ganz herzlich. Für Inspiration bei der Bearbeitung von Gesprächen bedanken wir uns bei Norik Stepanjan, für Anregungen bedankt sich DK persönlich bei Timo Kölling und Kornelia Happel. Dr. Matthias Meusch vom Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf hat unsere Arbeit erleichtert und soll an dieser Stelle dankend erwähnt werden. Verbindlichen und großen Dank sprechen wir Professor Jürgen Becker, dem Verwalter des Nachlasses Carl Schmitt, für die Erlaubnis zum Abdruck des Gesprächs und die Erlaubnis zur Einsicht in den Nachlass aus. Fürs Vertrauen in die Edition dieses bedeutenden Tondokuments danken wir ihm ebenso wie Dr. Florian Simon von Duncker & Humblot. Besonderen Dank schulden wir Waltraud Figge und Professor Dieter Groh für die Erlaubnis zum Abdruck des Gesprächs. Baden-Baden, den 20. Juli 2010
Dimitrios Kisoudis & Frank Hertweck
Band 1: Katholizismus und Verschwörung Kapitel 1
Kindheit in der katholischen Diaspora Carl Schmitt: . . . geht ein Stück ab und schließlich, wenn es verbraucht ist, dann stirbt der Mensch. Wenn der Mensch es nun merkt, dann versagt er sich viele Wünsche und strengt sich an, überhaupt auf alles zu verzichten und sich nicht mehr aufzuregen über nichts. Und das Interessante ist nun, da können Sie machen, was Sie wollen, auf einmal sitzen Sie doch in einem Wutanfall oder einem Anfall von Ärger und Empörung und dergleichen. Da sind wir aber schon beim Lebensabend, wissen Sie, der letzten Dämmerung schon der Sache. Ich dachte erst, Sie hätten das so mehr amerikanisch gemacht: „Was hat Sie am meisten gewundert in Ihrem Leben?“ Der Start ist dieses kleine Nest Plettenberg.[1] Die soziale Situation: ein kaufmännischer Angestellter in bescheidenen Verhältnissen, der von der Mosel kam oder aus der Eifel, bei Ürzig. Das heißt: katholisch, streng katholisch. Meine Mutter ebenfalls, aus einer Familie in Trier, Steinlein; also eine sehr bescheiden situierte (monatliches Gehalt 150 Mark) katholische Familie, die in einer bescheidenen Mietwohnung hier in der Nähe wohnte. Das bedeutet also: Angehöriger einer konfessionellen Minderheit in einer intensiv evangelisch-protestantisch, zum Teil auch protestantisch-sektiererischen Umgebung; bedeutet, dass man als Kind von sechs Jahren an in die katholische Schule einen Schulweg von drei bis vier Kilometern machen musste, auch im strengsten Winter. Nun kam noch hinzu, dass die meisten Katholiken. . . Gelegentlich mal katholische Amtsrichter, die Preußen waren da ja sehr verständig und tolerant, oder mal ’n Arzt, Sanitätsrat, aber die kleine Minorität der Katholiken hier in der Gegend, das waren kleine Leute, also Fabrikarbeiter.[2] Die besondere Situation meines Vaters bestand darin, dass er als Mann, der etwas von Buchhaltung und dergleichen wusste, in dieser katholischen Gemeinde die Steuern, die Kirchensteuern, die die Kirche selber erheben musste, einfach als braver Sohn der Kirche unentgeltlich bearbeitete. Dadurch habe ich gelernt: Steuerzettelschreiben. Nachdem ich kaum schreiben konnte. Ich habe ferner von meinem Vater gelernt: Stenografie. Ich konnte, ach, beinahe so früh stenografieren wie sogenannte Kurrentschrift schreiben. Und drittens habe ich von meinem Vater Schwimmen gelernt, in der Lenne.
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Das war damals noch ein schöner sauberer Fluss. Ich bin also meinem Vater. . . An den denke ich mit Rührung und Dankbarkeit. Ein sehr frommer katholischer Mann, der sehr viel Unglück gehabt hat in seinem Leben, die sieben jüngeren Geschwister großgezogen hat, zum Teil auch von der Mosel und der Eifel hierher holte, so dass auf einmal so ein Dutzend Vettern und sowas mit da ’rumliefen. Das kam aber alles in diese Industrialisierung hinein: ’88 geboren, 1900 wurde das akut. Und 1900 kam ich dann auf das einzige humanistische Gymnasium hier in der Gegend nach Attendorn. Das war aber ein staatliches Gymnasium. Ich kam aber in das katholische Konvikt, in so ein Internat, und habe da die ersten Jahre von Quarta bis Unterprima im Internat verbracht.[3] Ab Unterprima schrieb der Präses des Konvikts an meine guten Eltern, dass es bedenklich mit mir aussehe, mein Betragen entspräche nicht meinem Wissen und solche Sachen. Da hatte man das ,Leben Jesu‘ von David Friedrich Strauß bei mir entdeckt.[4] Nun wurde ich da rausgenommen und musste dann jeden Tag von Plettenberg über Finnentrop umsteigen, anderthalb Stunden Aufenthalt, auch im kältesten Winter morgens um Punkt acht in Attendorn sein. Und das hat auch die letzten anderthalb Jahre funktioniert. Das war so ein gutes altmodisches Gymnasium: sehr guter Lateinunterricht, sehr guter griechischer Unterricht und Geschichte, guter altmodischer Studienrat und auch anderes. Aber diese merkwürdige Prägung, aus der katholischen Diaspora, dann in eine katholische Stadt Attendorn, aber ein staatliches Gymnasium. Und der Lehrer in Mathematik und Naturwissenschaften, das war ein Freidenker schlimmster Sorte, Rießelmann hieß er. Der unterrichtete uns in Darwinismus usw.; ein Junggeselle, ein etwas versoffener Mann. Aber wie gesagt, Sie können sich einen solchen Lehrer an einem im Übrigen streng katholischen humanistischen Gymnasium denken – aber der genoss den Schutz des preußischen Staates, der Mann. Der war nicht so leicht da wegzubeißen, denn der preußische Staat, der schützte seine Beamten. Und das war ein staatliches Gymnasium. Was der Mann da also an Weltanschauung verzapfte, solange es nicht direkt sozialdemokratisch war, das war gleichgültig. Und er brachte einem auch was bei; aber, wie gesagt, er trank.[5] Was sollte er denn machen in so einem kleinen Nest? Ich weiß nicht, was aus diesen Leuten geworden ist. Im Alter erinnert man sich der Leute. Das war also dieser arme Rießelmann, hieß er. Und ohne dass ich mir dessen bewusst war, kam dann diese Art Kritik, die Neugierde für andere Sachen. Wer mir den David Friedrich Strauß in die Hand gedrückt hat (ich sehe es heute noch vor mir, ein ganz dickes Buch, das ließ sich auf die Dauer nicht verstecken, daher diese Panne), das weiß ich nicht mehr. Die zweite Einwirkung kam von einem Volksschullehrer. Der war schon Sozialdemokrat, wurde später Schulrat in Frankfurt, Josef Wüst. Mit dem verbrachte ich hier die Ferien. Ja, der impfte mich mit dem typischen Volksschullehrer-Antiklerikalismus. Der hatte nur einen Feind, das war der geistliche Ortsschulinspektor. Das bekam ich nun genau erklärt. Und vor allen Dingen, was das für ein Verstoß gegen die Grundsätze der Pädagogik sei, dass ein Theologe, der nicht einmal Pädagogik
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studiert habe, nichtmal den großen Pädagogen Herbart kannte, dass der auf die armen Kinder losgelassen würde und sich anmaße, die Volksschullehrer zu kontrollieren und die Erziehung. Das habe ich auch gar nicht gemerkt, wie einen diese Infiltration. . . Das war ja auch gar nicht agitatorisch gemeint, der freute sich, er war ein paar Jahre älter als ich, dass er da so einen Jungen hatte, der zuhörte in den Ferien, wochenlange Ferien, man lag im Walde und unterhielt sich. Und der Dritte war ein Freund dieses Volksschullehrers, ebenfalls ein Volksschullehrer, Ernst Sommer hieß der. Der ist früh gestorben und der trieb. . . schrieb Bücher über Gymnastik des Willens und Körperkultur und sowas und verdiente damit nebenbei einiges Geld und brachte mir bei der Gelegenheit auch alles Mögliche bei, von Bushido und dergleichen.[6] Ja, das sind Dinge, die mir erst ganz spät in ihrer Wirkung bewusst wurden. Hätten Sie mich vor zwanzig, dreißig Jahren gefragt, hätte ich Ihnen etwas ganz anderes als entscheidend oder irgendwie doch mitbestimmend genannt. Nun, diese sonderbare Situation, durch die Situation in der katholischen Diaspora zurückgeworfen auf den Katholizismus der Familie. Dieser Katholizismus der Familie hat nun eine ungeheure, aber entfernte Abstützung bei den Verwandten an der Mosel und bei den Verwandten in Lothringen, bei französischen Verwandten, die also alle katholisch waren natürlich und bei denen ich die Ferien verbrachte; mit einem französischen Vetter, der konnte nicht viel Deutsch, die Mutter konnte kein Wort Deutsch, der Vater war ein Bruder meiner Mutter. Und dann kam so der Kontakt mit Frankreich. Aber das war nichts, worauf ich mir etwas einbilden konnte oder einbilden durfte. In dem Konvikt ging es noch ganz altmodisch zu. Da wurden die Jüngern von den Größern ja fürs Leben erzogen. Nun, da bekam man Tritte und Stöße und Ohrfeigen usw. Und das alles hat mir eigentlich nicht wehgetan. Ich hab nicht den Eindruck, als ob das bei mir Komplexe oder dergleichen erregte. Im Gegenteil, als ich später in die Kaserne kam und dann ins Camp, ins amerikanische Camp, da hab ich einen gewissen Sinn darin gefunden, dass mich das alles eigentlich nicht überraschte.[7] Und plötzlich da einen Fußtritt zu bekommen und auf einmal von Herr Professor und Herr Staatsrat von der entgegengesetzten Seite her behandelt zu werden – es hat mich nicht gewundert, weil ich sowohl in der Volksschule. . . Die Raufereien der Kinder, vor allen Dingen mit den evangelischen, zwischen katholischen und evangelischen, und die evangelischen waren natürlich die Mehrheit. . . Wir waren immer in der Minderheit und trösteten uns damit, dass man ja sehen wird, wer am jüngsten Tage die wahre Religion hat. So einfach ist das alles. Und wer diese Art Trost hat, der kommt über manches hinweg. Ich glaube besser, als wenn er von solchen Dingen verschont wird. Aber damit will ich mich nicht in die Pädagogik und auch nicht in die Psychoanalyse einmischen. So war das einfach. Diese, wie soll ich sagen, diese Erziehung fürs Leben war sehr hart in einem solchen Konvikt. Da will ich keine Einzelheiten erzählen. Aber es wurde einem der Subjektivismus, der sogenannte Subjektivismus, der wurde einem wirklich ausgetrieben, von allen Seiten her: von diesem strengen katholischen Religionsunter-
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richt und der katholischen Erziehung und von diesen Schulkameraden aus dem Sauerland – die ließen sich durch nix imponieren. Nicht dadurch, dass ich ganz nett Französisch sprechen konnte oder so. Im Gegenteil, ich hab mich gehütet, mit solchen Dingen zu glänzen. Das konnten sie nicht vertragen. Ich erinnere mich (wenn Sie sich für solche kleinen Dinge interessieren), auf Quarta hatte ich diese Sommerferien in Lothringen verbracht, im französischen Lothringen, bei Rombach (Rombas) und glaubte, so manchem Schulkameraden einen Gefallen zu tun, dadurch, dass ich denen von den berühmten Metzer Mirabellen ein Pfund mitbrachte. Die Metzer Mirabellen, das sind besonders schöne und berühmte gelbe Pflaumen, kleine Pflaumen. Und bot die denen an und sagte ganz stolz: „Das sind Mirabellen.“ Dann sagte der eine: „Na, hör mal, wenn ich sowas höre, dann wird mir aber schon ganz ü. . .mira-bel.“ Und alles brüllte vor Lachen. Ich war blamiert mit meinen Mirabellen und merkte mir: also besser nicht auffallen oder mit solchen. . . vor allen Dingen nicht mit fremden Sprachen oder dergleichen. Es ist nicht schade, aber man kann daraus keine Pädagogik konstruieren. Sie können nicht ad hoc ein paar grobe Bauernjungens in jede jugendliche Erziehungsanstalt stecken und die sozusagen mit einbauen in die Schulung fürs Leben. Obwohl es ’ne gute Schulung war. Diese biografischen Dinge erzähle ich Ihnen, wie Sie es wünschen. Sonderbar – warum fällt mir das jetzt ein? Es gibt so viel zu erzählen, aus jedem Leben. Vielleicht weil ich hier wieder in der Nähe sitze. Da hinter den Bergen ist ja schon Attendorn. Aber das Gymnasium in Attendorn will nichts mehr von mir wissen. Ich bin jetzt der einzige überlebende Abiturient des Jahres 1907, überhaupt der Älteste wohl mit 84 [richtig: 83] Jahren. Aber ich werde ignoriert. Und vor 30 Jahren, nein, 1950, als mein Buch ,Der Nomos der Erde‘ erschien, da wohnte ich schon wieder in Plettenberg (’47 bin ich zurückgekommen), da bin ich einer Anwandlung von Sentimentalität gefolgt und habe Attendorn wiedergesehen, die übliche Enttäuschung erlebt, wenn man die Stätten der Jugend besucht, und habe der Bibliothek des Gymnasiums ein Exemplar meines ,Nomos der Erde‘ gestiftet. War grade kein Bibliothekar und der Studienrat war nicht da, ich hab das da hingelegt mit einem Schreiben. Aber sie haben keine Notiz davon genommen und haben es auch nicht bestätigt, den Empfang, und auch nicht der Bücherei einverleibt, wie mir später einer erzählte, ich weiß es nicht. Nun, damit ist dieser Teil meiner Jugenderinnerungen also klar. Das ist auch eine gute Lehre. Sehen Sie, die Dinge, die einen im Moment schmerzen oder einem wehtun, gehören dazu. Ich will nicht so weit gehen wie mein Freund Drieu la Rochelle. Ist das für Sie ein Name? Pierre Drieu la Rochelle. Er hat sich ’44 das Leben genommen. Französisch, ein Pariser. Er war langjähriger Freund von Aragon, von Hause Sozialist und später wusste er nicht mehr, wohin. Der meint, außerhalb des Leides – und ja sogar des Schmerzes und Elends sogar – gibt es keine Wirklichkeit.[8] Nun, das ist seine Art Philosophie. Sie hat aber etwas Einleuchtendes. Und man kann sie vielleicht auf irgendeine andre pessimistische Weltanschauung reduzieren, ist mir gleich. Wir wollten ja ganz einfach und praktisch sprechen. Also, die schlimmsten Dinge,
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diese entsetzlichen Raufereien mit Schulkameraden – fürchterlich war das, dieses Verprügeltwerden. Erst von den Evangelischen, nicht, dann auch von den Kameraden, die waren alle katholisch. Das ist nicht spezifisch an eine Konfession oder irgendeine Religion gebunden. Das alles ist nun diese Art von Jahrgang. Ich bin Jahrgang 1888, kam mit zwölf Jahren auf die Quarta und erledigte dann das so. Ich finde das alles nicht besonders interessant. Ich frage mich nur oft, wenn ich sehe, wie heute. . . wenn ich auch meine Tochter sehe, mein Kind, oder deren Kinder wieder (nun, die werden noch altmodisch erzogen, die sind in Spanien, die sind jetzt Spanier,[9] hört aber auch in Spanien jetzt auf), ich frage mich immer, ob es überhaupt Sinn hat, dass ich mit jüngeren Jahrgängen spreche. Ich tue es nicht mehr. Ich habe eine gewisse Scheu davor, aber ohne Abneigung. Es ist fremd und es nützt mir nichts und es nützt den jungen Leuten auch nichts. Das weiß ja jeder, Erfahrung kann man ja heute gar nicht mehr mitteilen, austauschen.[10] Dann machte ich mein Abitur, ein schönes Abitur. Dann ging ich also zuerst nach Berlin, zwei Semester nach Berlin und dann München und dann Straßburg. Sie fragen: „Warum haben Sie denn Jura studiert?“ Denn der Sohn so bescheidener Leute, Gehalt des Vaters 150 Mark, der studierte normalerweise. . . Stipendien und sowas, das gab es nicht sehr zahlreich. Wir hatten in der Familie meiner Mutter zwei Familienstipendien. Da sind einmal (ich kann mich noch genau erinnern) 75 Mark gekommen und dann nochmal, glaube ich, fuffzig. Da fuhr mein Vater mal dahin und erkundigte sich bei dem Verwalter. Der Verwalter war natürlich ein Geistlicher, ein Ortspfarrer, wo die Wälder dieser Familienstiftung lagen. Das ist eine Stiftung aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, und eine andere Familienstiftung noch früher. Ich hab das vergessen. Und mein Vater, bescheiden, fragte dann noch, ob ich da auch etwas bekommen könnte, weil wir doch irgendwie zu der Familie gehörten. Nein, meine Mutter war das. Und der Pfarrer, der guckte sich meinen Vater an und sah, dass das ein braver Mann war, und sagte dann eben gleich: „Ja, da wollen ’se alle was haben, da sind jetzt so viele. Sehen Sie, da ist einer, der ist ganz frech geworden und hat sich beschwert beim erzbischöflichen Generalvikariat, der kriegt gar nix.“ Aber mein Vater kriegte 75 Mark. Wir fragten ja: „Wie konnte der arme Johann Schmitt seinen Sohn studieren lassen?“ Die Leute haben ihn auch alle für verrückt gehalten. Er hätte es auch gar nicht getan. Es war meine Mutter, die das durchgesetzt hat. Und da half dann ein Onkel nach, ein Bruder meiner Mutter. Es war aber alles sehr bescheiden, unendlich bescheiden, auch die zwei Semester in Berlin. Da wohnte ich bei einem Onkel, der hatte ’ne kleine Druckerei in Lichtenberg. Nun kam aber mit 1900 doch der allgemeine Aufstieg. Das merkte man doch deutlich, das hab ich an Ort und Stelle mitbekommen. Und das gehört nun wirklich zu meinem Leben – auch dieser Beginn der Elektrifizierung. Nun saßen wir ja hier in einer kleinen Eisenindustrie und bekamen das von selber mit, alles was dazugehört: elektrisches Licht, dann Fahrräder, Motorrad und sowas. Diese Dinge sind für mich niemals ein Grund des Erstaunens gewesen in dem Sinne, dass ich mir vom technischen Fortschritt jemals hätte imponieren lassen. Ich weiß nicht, ob das etwas Rückständiges oder etwas
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eigentlich doch Gutes ist. Es ist mir nicht möglich, mir von irgendetwas, Landung auf dem Mond und was es so gibt, auch nur einen Schatten von großartigem Eindruck zu verschaffen. Ich nehme davon Kenntnis und suche mir auszumalen, was es gibt. Aber diese amerikanische Vorstellung, auch die Vorstellung: der Fortschritt als solcher! Ich bin auch der erste (dessen kann ich mich rühmen) der darauf hingewiesen hat, dass Fortschritt ja doch eine unendlich verschiedenartige Bedeutung hat, je nach dem moralischen, dem technischen, dem kulturellen usw. Fortschritt. ,Fortschritt‘ ist ja gar kein einheitlicher Begriff.[11] Was heißt denn das überhaupt, ,Fortschritt‘? Also dieser Allgemeinbegriff ,Fortschritt‘ hat für mich nie existiert. Es hat mich nicht die geringste Mühe gekostet, auch nicht etwa Abneigung gegen technische Fächer, technische Wissenschaften, Naturwissenschaften. Ich fand das alles sehr interessant, aber was das mit Fortschritt zu tun hat, begreife ich heute noch nicht. Vielleicht erklärt sich das daraus, dass ich in dieser Gegend, wo die Dinge. . . als Kind kam. Vielleicht sind einige Jahrgänge unter den heute heranwachsenden Kindern, denen das auch nicht mehr imponiert; die also einen Nobelpreisträger nicht für eine höhere Art von Menschen, für die neue Rasse halten, die künstlich nun hergestellt werden müsste, wenn wir mal so weit sind. Wie gesagt, dieses strebsame Völkchen der Nobelpreisträger hat mir nie imponiert – bei aller Sympathie persönlich für diese Menschen.[12] Ich hab ein schönes Gespräch mit Heisenberg mal gehabt. Die Frage des leeren Raumes, was das eigentlich ist.[13] Ist ein überaus gebildeter Mann. Soviel ich weiß, ist er Nobelpreisträger, nicht? Und wie ich nachher hörte, das ist ein Nobelpreisträger, da hab ich auch polemisch keine Regungen erfunden. Gar nichts. Ich möchte wissen, woher diese sonderbare – und vielleicht durchaus nicht rühmenswerte – Immunität gegen das Fortschrittsdenken kommt. Auch nicht etwa reaktionär! Ich halte das auch nicht für einen Rückschritt oder so, auch nicht für teuflisch, gar nicht. Ich staune [schmunzelt] nur darüber, dass zum Beispiel Menschen glauben können, sie wären höher entwickelt als die Chinesen, weil sie das Pulver zu Kriegszwecken erfunden haben statt wie die alten Chinesen zu einem fröhlichen Feuerwerk. Ich glaube nicht an die technische Intelligenz. Das ist also mein Defi. . . mein Manko, wenn Sie wollen, das bekenne ich hiermit. Ich benutze technischen Fortschritt, soweit es gut ist, ich bin ja nicht verrückt. Aber ich lasse mir nicht imponieren, dass das sozusagen die Basis oder der Träger oder der Motor irgendeiner Höherentwicklung wäre. Wollen wir ’ne Pause machen? . . .Das ergibt sich vielleicht. [Lacht.] Schade. Dieter Groh: Wir sollten doch immer laufenlassen. Carl Schmitt: Ja, ist genug. Die Sendung dauert doch nur ’ne Stunde, nicht? In einer Stunde kann man nicht. . .
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Dieter Groh: Ja, wir möchten das aber nicht nur. . . Carl Schmitt: Ich habe so viele Vorlesungen in meinem Leben gehabt. Das waren also 45 Minuten. Ich weiß genau, was man in 45 Minuten. . . Wie wenig! Klaus Figge: . . .und vor allem in den Wind. Carl Schmitt: Wie gesagt: Improvisationen gelingen nur, wenn sie sehr sorgfältig vorbereitet sind. [Schmunzelt.] Aber anders geht’s nicht – im Ernst. Das heißt: Die Vorbereitung besteht nicht darin, dass ich’s auswendig lerne, sondern es muss sich so sammeln. Muss sein im richtigen Moment. Das andere ist ja einfach Quatsch. Kann man nicht einfach in die Luft spucken.
Kapitel 2
Der Kreis um Kurt von Schleicher Carl Schmitt: Ja, das ist ’ne aufregende Sache mit diesem . . . Ich muss Ihnen doch mal die Stelle . . . Warten Sie mal, ob ich sie so schnell finde: bei Göring.[14] Das müssen Sie, wenn die. . . [Entfernt sich.] Woher kommt das? Das gibt’s heute nicht mehr. Ja, ich könnte es nicht mehr aufbringen jetzt. Wenn ich das heute lese, dieses grade ,Legalität und Legitimität‘. Es ist einfach . . . ,Naiv‘ ist gar kein Wort dafür. Und ich sehe auch jetzt, ich verstehe, wenn man mich auf diesen politischen Jargon stellte.[15] Das war der Gefährlichste, der konnte gar nicht am Leben bleiben, der Schleicher, von Hitler her gesehen, nicht wahr. Der war wirklich . . . Also, das war ’ne unheimliche Geschichte. Aber so nah dabei zu sein, nicht, nicht? Klaus Figge: Warum war Schleicher der Gefährlichste? Carl Schmitt: Ja, das würde Sie, weil er . . . Das sagt sogar Bracher, das können Sie, wenn Sie bei Bracher diese Seiten lesen, über diese letzten, wie soll ich sagen, letzten Tage . . .[16] Ich hatte mir das so gedacht . . . Ja, Sie glauben nicht, wie viel ich da schon liegen habe. Ich habe ja einen ungeheurn Vorteil, ich habe täglich, wenn ich abends noch so müde war, in diesem Jahr Tagebuch geführt, so dass mit absoluter Zuverlässigkeit das Datum immer stimmt und die Namen, der Tag des Gespräches
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Band 1: Katholizismus und Verschwörung
und das, worüber man gesprochen hat. Ungefähr, nicht das ganze Gespräch; meistens war man abends auch so müde, dass man gar nicht mehr. . . Aber es hat funktioniert, Tag für Tag. Und so habe ich von dem ganzen Januar, also von dem ganzen Jahr ’32 und von dem ganzen Januar ’33, vom 1. bis zum 30., alle Gespräche, auch alle Eindrücke und diese fast täglichen Gespräche mit Ott und Marcks.[17] Ott war damals Oberstleutnant, und Marcks war Pressechef von Schleicher und von der Reichsregierung. Der hatte auch täglich Vortrag bei Hindenburg. Dadurch war der immer am besten eigentlich [informiert]. . . War ein sehr gebildeter Mann, ein Sohn von diesem Historiker Marcks, war ein fabelhaft gebildeter Mann, unheimlich. So dieser Typ Offizier, preußischer Offizier – und im zweiten Weltkrieg so zerschossen! Ein Bein ab, die Schulter ab, also es war unheimlich. Dann ist der als Kommandeur dieser Armee, wo die Invasion stattfand, im Juni ’44, da ist er gefallen, in Saint-Lô, und in Saint-Lô haben die Franziskaner ihn auf ihrem Friedhof begraben. Und die Witwe (ich weiß nicht, ob sie noch lebt, aber die mich öfters auch in Plettenberg noch besucht hat) wollte die Leiche überführen. Haben da ein Grab, ich weiß nicht, in Hamburg oder wo, die Frau stammt aus Hamburg. Aber wie sie dieses schöne Grab sah, auf dem Franziskanerfriedhof, da hat sie’s dann doch da gelassen. Und das war am 19. Juni; keine vierzehn Tage, die haben dann Saint-Lô noch verteidigt. Speidel erzählt auch viel von Marcks.[18] Der hat den da noch erlebt, da war er schon total zerschossen, unheimlich. An den muss ich auch viel denken. Und dann hatte der Mann, wie diese Art gebildeter, noch heutigen Preußen, die Begabung für Zitate. Der konnte originell, nicht die geläufigen Zitate, sondern. . . Wir sahen uns, am 30. Januar abends kamen wir in der Wilhelmstraße. . . Da wurde der Fackelzug gebracht, da hat Marcks wörtlich gesagt: „Und Völker auch ergreifet die Todeslust.“ [19] Fabelhaft war das, nicht? Muss mir noch ein paar schöne Zitate, die habe ich mir auch. . . Wundervoll, wie der das konnte! Es war wirklich erstaunlich. Dann hat Schleicher ihn noch besucht in Münster, da war er Batteriechef, im Mai ’34. Aber bei der Armee war man ziemlich geschützt, das funktionierte noch. Warum sie dem Marcks nichts getan haben, dem Major? Funktionierte. Dieter Groh: Und Ott? Carl Schmitt: Ott, ja der hatte Glück. Der war gefährdet, der hat ja auch persönliche Gespräche mit Hitler gehabt. Der hatte ja dieses (erinnern Sie sich?) Gespräch, wo man sich in Weimar traf, der eine kam von München und der andere von Berlin.[20] Ott, der war auch der Entschiedenste und energisch, aber Marcks war ein Poet. Ich zeige Ihnen mal einige schöne Stellen in dem Tagebuch. Wenn man das anbringen könnte! Dieter Groh: Ja, interessant ist. . .
Kapitel 3: Das katholische Pfarrhaus
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Carl Schmitt: Zum Beispiel am 27. Sehen Sie mal, wenn man so nah dabei war wie ich, und dann nicht etwa als agierender kleiner Politiker, Herr Kleist-Schmenzin und was da rumtanzte oder Schmidt-Hannover und so, sondern beobachten konnte. Dann sah man ja unendlich mehr. Und ich war gar nicht, wie soll ich sagen, eigentlich praktisch an einem Ergebnis inter[essiert]. Es war aber auch nicht wissenschaftliche Neugier, ich weiß es nicht. Wie Sie das eben sagten, es war mein Fach, und hatte man das Ziel, und die Sackgasse wurde immer enger, in der Schleicher drin saß. Und dann kam die allerletzte. . . Und alle sprechen noch vom 28. Januar. Ich war am. . .
Kapitel 3
Das katholische Pfarrhaus Carl Schmitt: Zu meiner Abstützung, zu der Abstützung meines jugendlichen und kindlichen Katholizismus gegenüber dem evangelischen Milieu muss ich noch etwas erwähnen. Drei Brüder meines Großvaters mütterlicherseits waren Pfarrer, Ortspfarrer an der Mosel, der eine in Minheim bei Piesport, der andere erst in Saarburg an der Saar und der dritte in Hontheim, das ist ein Dorf in der Eifel über Bad Bertrich.[21] Dadurch war bei uns die Erinnerung an den Kulturkampf lebendig. Ich hab mehr vom Kulturkampf gehört und erfahren als vom Krieg 1870. Das kam erst viel später. Aber der Kulturkampf war ja schon zu Ende, als ich geboren, ’88. Und diese Zeit, von der ich jetzt spreche, achtzehnhundert, sagen wir mal: ’93, ’95, ’97, da war aber der Kulturkampf deswegen vor allem noch lebendig, weil der Onkel Peter Steinlein, der Pfarrer von Minheim, der jüngste dieser drei Brüder, weil der eine Zeitlang (es war nicht sehr lange) im Gefängnis gesessen hat. Der war also Opfer von Bismarck. Der kam öfters zu Besuch, und das war ein ungeheures Fest. Dann bat mein Vater den Inhaber der Firma ,Graewe & Kaiser‘ um die Erlaubnis, dem das zu zeigen, und [dann] wurde dem die Fabrik gezeigt und solche Sachen. Dieser Pfarrer, dieser Onkel Peter Steinlein, der hat sich also im Kulturkampf bewährt als wahrer Katholik. Der in Saarburg, der hat die Maigesetze unterschrieben und wurde strafweise vom Bischof nach Laufeld in der Eifel, ein schauerliches Eifeldorf, der Schneifel, versetzt. Das war das schwarze Schaf. Dazwischen stand der dritte. Dieser zweite, also das schwarze Schaf, hieß Andreas.[22] Und der dritte, der hieß Nikolaus und der saß in Hontheim und beantwortete keine Zuschrift, weder vom Staat noch vom bischöflichen Ordinariat. Stellte sich dumm, hielt die Ohren steif und überstand auf diese Weise, auf die anständigste Weise von der Welt, den ganzen Kulturkampf. Dem wurde das Gehalt nicht gesperrt, der wurde nicht vom Bischof strafversetzt. Also, der hat das eigentlich richtig gemacht. Das alles hört man dann so, nicht wahr. Und die besuchte ich auch in den Ferien.
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Band 1: Katholizismus und Verschwörung
So hab ich dann also im Pfarrhaus in Minheim an der Mosel (ein unbeschreiblich schönes Pfarrhaus, herrlicher Wein wächst da, Minheimer Wein bei Piesport) die Ferien verbracht. Das war eine gewisse Abstützung auch für, wie soll ich sagen, soziales Selbstgefühl. Ich konnte gar nicht auf die Idee kommen, mich als Proletarier zu fühlen, obwohl es Fabrikarbeiter gab, die mehr verdienten als mein Vater, die sogar eigene. . . Wir wohnten bei einem. War zur Miete, war Fabrikarbeiter.[23] Aber dadurch ist wahrscheinlich diese. . . Die andern Fabrikarbeiter waren damals, auch die Katholiken waren ja. . . kamen ja alle nicht, auch nicht für irgendeine Art von Sozialismus in Betracht. Die katholische Abstützung, von der ich eben sprechen wollte, die lag also auch – aber vor allem von der Familie der Mutter her – in dieser Jugenderinnerung und Erzählungen vom Kulturkampf. Nun kam noch folgendes hinzu: Dieser Pfarrer in Minheim, das war der Stolz der Familie, steht noch auf seinem Grabstein in Minheim (wenn Sie mal dahin kommen, gucken Sie sich das an): „Ich habe den gerechten Kampf gekämpft“, das bezieht sich darauf, dass er mal. . . Wird nicht lange gewesen sein, wie gesagt, aber immer. . . Egal. Das war also die Legende, die Familienlegende, und auf den setzte nun meine Mutter große Hoffnungen. Der war eigentlich der Wohlhabendste von den Dreien, nicht wahr, und auch eine Erbschaft. Aber aus der Erbschaft wurde nichts. Er hat da sein Vermögen, ich weiß nicht, irgendwelchen Stiftungen vermacht. Vor allen Dingen aber, das habe ich oft zu hören bekommen von meiner Mutter, er hat ein verhältnismäßig hohes Vermächtnis, sein Legat, vermacht an die Piuskirche in Berlin, weil das die einzige Kirche in Berlin war, in der polnisch gepredigt wurde. Also nun malen Sie sich doch mal aus: ein Pfarrer an der Mosel. Nun, und ich erinner’ mich noch oft, wenn da Kollekten gemacht wurden, man musste sammeln und Geld zeigen usw., dann sagte meine Mutter: „Nein, mein Onkel, der hat das Geld, statt es mir zu vermachen, der Piuskirche in Berlin vermacht.“ Wollen wir jetzt aufhören? Ist das der Mühe wert? [Lacht.] Klaus Figge: Sie wollten uns noch erzählen. . . Carl Schmitt: Oder ist es zu konkret? Klaus Figge: Nein, nein. Sie wollten uns noch erzählen, warum Sie Jura studiert haben? Carl Schmitt: Ja, nachher, jetzt nicht. Das geht nicht so schnell. Ich weiß noch aus Erzählungen meiner Mutter und vor allen Dingen anderer Verwandter, meines Onkels, eines Bruders meiner Mutter: Es gab in Trier einen berühmten Bischof Korum, der hat auch im Kulturkampf eine Rolle gespielt – ein sehr angesehener Bischof. Der habe, als der letzte dieser drei Brüder Steinlein starb, ich glaube, das war der Onkel
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Andreas in Laufeld, da hat also der Bischof Korum von Trier, Erzbischof Korum von Trier, gesagt: „Gott sei Dank, der letzte Steinlein.“ [Kichern.] Ja, es ist merkwürdig, sehen Sie mal, es ist doch unheimlich. Ich glaube nicht, dass der Katholizismus heute noch imstande ist, solche Dinge. . . Sehen Sie mal, das ist nicht Politik! Ich meine, wenn mein Vater nationalliberaler Abgeordneter gewesen wäre, hätte ich auch Bilder von Bismarck oder weiß der Kuckuck was oder Eugen Richter, der ja in Hagen eine große Rolle spielte. Aber das war für uns gar nicht vorhanden: Eugen Richter. Dagegen der Bischof Korum und all die Sachen.[24] Und diese Art Familie, man sollte meinen, das Zölibat schneidet sozusagen den Klerus ab von der lebendigen Familie. Das war bei mir aber nicht der Fall. Und es hört überhaupt nicht. . . Vielleicht ist es heute so. Hat sich ja vieles sehr geändert. Ich glaube nicht, dass das. . . Ich hab das auch mal irgendwo geäußert. Kein Mensch weiß, was kommt, wenn der Klerus sich nicht mehr aus Bauernsöhnen, sondern von der Industrie her rekrutiert.[25] Dieter Groh: Oder aus Klerikern. Carl Schmitt: Bitte? Dieter Groh: Oder aus Klerikern. Carl Schmitt: Oh ja, ja. Dieter Groh: Es gibt eine große Bewegung innerhalb der deutschen. . . Carl Schmitt: Ja, oder aus Klerikern. Ob es denen gelingt, das evangelische Pfarrhaus zu imitieren – das glaube ich nicht. Es gibt für mich drei große Dynamitlager in der Geistesgeschichte: Das ist das Ghetto mit den Rabbinern, das sind gewisse Orden, christliche Orden, nicht alle, aber einige doch, und ’ne Zeitlang auch die Jesuiten – und das evangelische Pfarrhaus. Das gefährlichste war das evangelische Pfarrhaus. Nicht wiederholbar und nicht wiederbringbar.[26] Wenn sie mir heute mit politischer Theologie revolutionär kommen, da kann ich nur sagen: Schämt euch vor Bruno Bauer.[27] Jetzt wollen wir aber aufhören, nicht?
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Band 1: Katholizismus und Verschwörung
Kapitel 4
Die Blütenlese des Anklägers Carl Schmitt: . . . eine Blütenlese aus seinen Vernehmungen in Nürnberg veröffentlicht hat. Und da figuriere ich auch am Schluss, ich weiß nicht, ob Sie’s gelesen haben.[28] Und das ist aber unabhängig von all den dummen Druckfehlern, die da stehen, und seinen überflüssigen Glossen, die gar nicht in eine Edition hineingehören (jedenfalls höchstens unter den Text und nicht in Klammern dazwischen), ist das für mich so empörend, dass ein Ankläger die Protokolle einer Vernehmung (ja, hat er die mit nach Hause genommen oder wo hat er die her?). . . und daraus nun Blütenlesen veröffentlicht, wo er als der Vernehmer die andern so in die Pfanne haut. Ich hätte eigentlich, wenn ich noch auf die Idee käme, irgendwie Leserzuschriften oder sowas zu machen oder jemand zu in. . . oder an Kempner selbst zu schreiben. Veröffentlichen Sie bitte das gesamte Protokoll. Das waren tagelange, stundenlange Vernehmungen, davon werden da acht bis zehn Druckseiten vernommen. Nach welchen Gesichtspunkten sind die ausgesucht und zusammen? Ist das eine Veröffentlichung? Ich möchte wissen, wo die Quelle ist. Hat er sich das mit nach Hause genommen? Hat das die amerikanische Regierung erlaubt? Wo sind die Protokolle? Und wenn man mich in dieser Weise mit dummen Kerlen in eine Reihe stellt, dann ist das für meinen Geschmack keine faire Art und Weise, einen Menschen, der sowieso in der Öffentlichkeit so angegriffen und beleidigt und mit fantastischen Mythen vernebelt wird, bloßzustellen. Ich hab mir das angesehen, ich brauch’ mich gar nicht zu genieren wegen dieser Veröffentlichung. Sie ist ja auch im ,Diskus‘ veröffentlicht worden. Ich hab da jemand vom ,Diskus‘ geschrieben, dieser, wie heißt sie, diese Inge Maus. Ingeborg Maus. Ja, die hat den Vorspann geschrieben, die hat mir aber auch gleichzeitig geschrieben, sie hätte mit jemand darüber gesprochen, das wär’ eigentlich ein dummer Vorspann: Da sähe man, wie die Nazis lügen, an diesen Veröffentlichungen.[29] Lassen sie alle die echten weg, und ich werde als einziger da im ,Diskus‘ veröffentlicht mit diesem Vorspann! Da schrieb die Frau Ingeborg Maus, der Vorspann, der wär’ vom Verleger, der wär’ nichtmal von der Redaktion des ,Diskus‘! Nun, solchen Sachen kann ich nicht nachlaufen. Aber es würde mir doch Vergnügen machen, diese Protokolle mal vollständig veröffentlicht zu sehen. Ich habe noch meine schriftlichen Antworten. Ich war ja in Einzelhaft, und da bekam man dann so ’ne Fragestellung und einen Bleistift und einen Tisch und Papier und beantwortete die Fragen schriftlich.[30] Die hab ich noch. Da hab ich mir ’ne stenografierte Abschrift zurückbehalten und die dann mit aus diesem. . . Bin ja auch nicht angeklagt worden. Ich weiß gar nicht, was das soll. Dieter Groh: Was ich für ganz wichtig halte, dass wir einige dieser Mythen dann vielleicht morgen aufzählen. Und dass Sie dazu Stellung nehmen. Das ist ja doch ’ne entscheidende Frage.
Kapitel 5: Blüten des Nachkriegsjournalismus
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Carl Schmitt: Ach, diese Fragen von Ihnen? Dieter Groh: Nein. Die Frage, was Sie als. . .
Kapitel 5
Blüten des Nachkriegsjournalismus Carl Schmitt: . . . bei der ,Zeit‘ war, da kamen die gelegentlich von Hamburg und besuchten mich. Und da erzählte mir Richard Tüngel. Erinnern Sie sich noch an den Namen? Der war vor der Gräfin Dönhoff da.[31] Da kamen die mal, und da erzählte mir Tüngel, hätte Tüngel irgendjemand gesagt, weiß nicht, ob es die Gräfin Dönhoff selbst war, das glaube ich aber nicht. . . Irgendjemand in der Redaktion sagte: „Ich muss jetzt nach Plettenberg fahren.“ Und dann fragten die: „Was wollen Sie denn in Plettenberg?“ Da sagte der: „Da will ich Carl Schmitt besuchen.“ Und da hätten die andern ganz entsetzt gesagt: „Ja, wollen Sie denn einen Staatsstreich vorbereiten?!“ [Lachen.] Das geht ja zurück auf die Sache Fritsch, die müsste man erwähnen, die ist ganz wichtig. Das kennen Sie, nicht? Von Fritsch? Dieter Groh: Ja. Wir. . . Carl Schmitt: Das ist ja auch bei Krausnick veröffentlicht.[32] Dieter Groh: Da sollte man vielleicht morgen auch nochmal drauf eingehen. Carl Schmitt: Vergessen Sie es nicht. Die Sache Fritsch, das ist auch eine tolle Geschichte. Ja, das wäre gut, wenn das zur Sprache käme. Klaus Figge: Was zu schreiben. . . Grad den Namen. Carl Schmitt: Fritsch, ja. Fritsch, dann dieser Kiesinger. Hoffmann hieß der Mann. Das wurde mit Riesenschlagzeilen auf der ersten Seite dieser, wie heißt sie, ,Neue Deutschland‘ da in der Ostzone. . . Das müssten Sie mal sehen: „Kiesinger besucht Carl
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Schmitt im Sauerland“. „Kiesinger geht jedes Wochenende ins Sauerland“.[33] Ich habe einmal in meinem Leben ’ne Unterhaltung mit Kiesinger gehabt, ich weiß nicht, vor wieviel Jahren, und zwar über Tocqueville. Da hatte er den Wunsch, mich. . . Er wusste, dass ich Tocqueville-Kenner bin.[34] Und mich interessierte auch, was er. . . Und da sah ich, dass er Tocqueville-Kenner, nicht, Amateur. . . Dieter Groh: Da war er noch Ministerpräsident in Baden-Württemberg? Carl Schmitt: Nein, das war er, glaube ich, noch gar nicht. Dieter Groh: War er noch gar nicht. Carl Schmitt: Nein, nein, vorher. Nein, da gab er sich so ein eher, wie soll man das nennen, eher als Tocqueville-. . . Tocqueville war mal so ’ne Zeitlang ein Tipp. . . .Schon längst kein Geheimtipp mehr. Dieter Groh: Als solcher wurde er auch eingeführt in der intellektuellen Landschaft der Bundesrepublik. Carl Schmitt: Richtig, ja. Dieter Groh: Die haben endlich einen intellektuellen Minister, der liest Tocqueville. Carl Schmitt: Und nun kenne ich noch meinen Freund Díez del Corral, der ist nun echter Tocqueville-Kenner[35] und kennt auch vor allen Dingen diesen Mayer (wie heißt er mit Vornamen?), der den Nachlass gekauft hat. Und der kennt vor allen Dingen den Enkel, oder was es ist, von Tocqueville, oder schon Urenkel, ich vergesse das. Das ist ein etwas verkommener junger Mann, der hat das zu Geld gemacht. Und hat den ganzen Nachlass seines großen Ahnen dem Mayer gegeben. Und nun sitzt der da drauf, und keiner kann über Tocqueville was sagen, weil der da drauf sitzt. Dieter Groh: Und das stand wirklich im ,Neuen Deutschland‘ als Schlagzeile?
Kapitel 6: Die Chronologie und der Kalender
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Carl Schmitt: Ja, vielleicht find’ ich es noch. Dieter Groh: Sie sagten: „Kiesinger besucht Carl Schmitt im Sauerland, um einen Staatsstreich vorzubereiten“? Carl Schmitt: Ja, ja. Wenn ich es finde, schicke ich es Ihnen wahrscheinlich. Es ist so viel Material. Ja, das ging aber im ,Spiegel‘ [richtig: in der Frankfurter Rundschau] mit größter Selbstverständlichkeit. Und ich hab nichts gemacht. Da waren Leute, wie hieß der noch. . . Ansgar, Hans gar, Skriebar, Skrieber? Klaus Figge: Ansgar Skriver. Carl Schmitt: Der und noch andre, die waren grad da, wie das erschien in der ,Frankfurter‘.[36] Und die fragten mich ganz erstaunt, darum hab ich’s überhaupt erst erfahren. Ausgerechnet Kiesinger. Hab denen dann auch gleich gesagt, das wäre aber wirklich der letzte, auf den ich käme. Dieter Groh: Um ’nen Staatsstreich vorzubereiten. Carl Schmitt: Ja, ja. [Lacht.] Ausgerechnet, nicht wahr? Und da brauchte ich noch das Wort ,Schöngeist‘, das ist ihm, glaube ich, hinterbracht worden. Ja, der ist böse. Einerseits wollte er natürlich nichts mit mir zu tun haben, aber andererseits wollte er doch auch nicht aus dem Grunde und bei der Gelegenheit so gekennzeichnet werden. Aber es ist ja heute überflüssig, darüber zu sprechen. – Ja, aber sowas hält sich, und da sind sie ja von einer erstaunlichen Wertneutralität, nicht. Es ist ja völlig wurscht, wenn sie’s brauchen können, machen sie eine Riesensache draus und lassen es drauf ankommen.
Kapitel 6
Die Chronologie und der Kalender Carl Schmitt: Fritsch hat so ’ne Art Denkschrift hinterlassen. Das muss ich Ihnen zeigen, ich finde es sicher irgendwo. Krausnick erwähnt es, aber ich weiß nicht mehr, ob. . . Es ist auch sonst irgendwo.[37] Schade, all die Sachen. Ich müsste das besser
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vorbereitet haben. Ich wusste das nicht, dass da. . . Es ist auch zuviel. Auch durch den Umzug ist doch einiges durcheinandergekommen. Das war eine unheimliche Geschichte. Das ist gut, wenn man da Tagebücher führt, das ist wirklich schön. Wissen Sie, ich muss das auch Koselleck mal schreiben, der hat mir so interessante Sachen, Theorie der. . . Erstens die Chronologie, der Kalender.[38] Also ich kann Ihnen sagen, es gibt nur geschriebene Geschichte, und das hängt am Kalender. Ohne Kalender keine Geschichte. Und das sehe ich hier: die Sicherheit, die mir das gibt. Ich muss es Ihnen mal zeigen, wie das aussieht. – Wenn ich es finde. [Stöbert hinten herum, kommt.] Gucken Sie sich das mal an hier. Das ist also nun hier. Dieter Groh: In Stenografie. Carl Schmitt: Ich meine, das trägt so den Stempel. Auch, wo was ausgestrichen ist. Der Name ,Hitler‘ ist später nur ausgestrichen. Das war natürlich gefährlich, und ein großer Teil ist auch. . . habe ich auch in den Kamin geworfen, nach dem 30. Juni natürlich.[39] Aber grade das ist übriggeblieben. Und das ist aber nur eines von einem ganzen Haufen. Aber Tag für Tag. Dieter Groh: Das Bundesarchiv wird sich freuen. Carl Schmitt: Es gibt ein Musil-Archiv. Die haben mich vor vierzehn Tagen. . . Ein, wie heißt er, Dr. [Corino]. . . der wusste, dass ich mit Musil irgendwo ein Gespräch gehabt habe, hat er irgendwo erfahren, in der Korrespondenz von Franz Blei.[40] Und das konnte ich genau verifizieren. Ich muss es Ihnen mal zeigen. Wie schade, dass ich das. . . Ich habe Musil. . . Nun hab ich ihm geschrieben. Ich hab Musil gelesen, damals schon, wie ich noch in den Druckproben. . . diesen ,Mann ohne Eigenschaften‘. Ich konnte das so schön verifizieren. Und da stand dann also: „Abends kam Franz Blei und Musil, zum Abendessen eingeladen. Blei kam etwas früher. Ich trank zuviel Saarwein, er trank zuviel Slibowitz. Etwas später kam Musil mit Frau. Jeder sprach zuviel, also von sich, dann über den Roman. Die Frau war scheußlich.“ Das hab ich ihm aber nicht mitgeteilt. Aber Sie können es da lesen. Der Mommsen, der will das natürlich haben und sagt: „Wir haben Stenografen.“ Und sag ich: „Das kostet ja hunderttausend Mark, das Klartext zu machen. Wie wollen Sie das denn machen?“ Ist doch gar nicht denkbar. Wer soll denn das. . . auch diese[ ] Eigennamen und alles. Ich weiß nicht, ob Sie stenografieren können. Können Sie Stolze-Schrey, oder was ist das? [Auseinanderfalten.] Ach, lassen Sie doch mal sehen. Das ist doch interessant. Mein Vater war übrigens Vorsitzender. . . hat hier den Stenografenverein Plettenberg gegründet. [Liest.]
Kapitel 7: Die große Parallele und der Aufhalter
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Sehen Sie. Es ist also. . . Das ist aber ’ne neuere. Ich müsste mich anstrengen. Aber Sie sehen, ich kann das jetzt lesen. Das ist doch moderne Gabelsberger. Klaus Figge: Nein, das ist Einheitskurzschrift, Deutsche Einheitskurzschrift. Carl Schmitt: Da ist viel Stolze-Schrey drin.
Kapitel 7
Die große Parallele und der Aufhalter Carl Schmitt: Das ist wirklich etwas. . . So lebt auch Geschichte. Was heißt da ,Parallele‘, wenn man da schon mit methodischen Fragen kommen. . . Dieter Groh: Nein, das ist ja kein methodisches Problem. Zum Beispiel Marx und Engels, das wird mir immer deutlicher, die haben ja Zeit ihres Lebens immer wieder die große Parallele evoziert. Carl Schmitt: Ja. Es hat mich interessiert. . . Dieter Groh: Also, das wusste ich noch gar nicht, als ich meine Dissertation schrieb. Carl Schmitt: Kennen Sie eine Dissertation von einem Mann namens Christen oder so ähnlich? Über die große Parallele bei Herzen, bei dem Russen Herzen?[41] Dieter Groh: Ja, ja. Carl Schmitt: Ist eine schöne Dissertation in Münster, nicht wahr? Dieter Groh: Ich hab ja auch damals drauf hingewiesen, in meiner Arbeit, dass also praktisch hier der Herzen die große Parallele gegen Europa ausspielt, wogegen Marx und Engels sie für Europa ausspielen – und dadurch ausspielen können, dass sie sie
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überwinden, weil sie nicht konservative Geschichtsphilosophien haben, sondern progressive, sagen: „Wenn das Proletariat die Menschheit erlösen wird, ist die große Parallele keine Parallele mehr für uns.“[42] Das ist doch die entscheidende Umfunktionierung der großen Parallelen der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Carl Schmitt: Ja, wohin? Die Umschaltung in die Identität oder in das ganz Andere. Das kann man nämlich in solchen Fällen nie genau unterscheiden.[43] Dieter Groh: Ja, sowohl als auch. Und da bewährt sich eben ihre Dialektik. Carl Schmitt: Ja, da sind sie schon. . . Dieter Groh: Nein, nein. Das geht um die Beibehaltung dessen, was die industriell-kapitalistische Gesellschaft geschaffen hat. Insofern sind sie, sind sie. . . Carl Schmitt: Die hat nichts geschaffen. Die hat. . . Dieter Groh: Ja doch, sie hat Produktionsmittel zur Verfügung gestellt. Carl Schmitt: Klar, das hat auch. . . Dieter Groh: Ja, es kommt drauf an, sie richtig anzuwenden. Carl Schmitt: . . .das hat der Uraffe, der den Hammer erfunden hat aus Stein, mal auch getan. Dieter Groh: Ja, aber der Affe musste dann von morgens bis abends seiner Nahrung nachlaufen. Was wir vielleicht nicht mehr müssen. Carl Schmitt: Hätte vielleicht besser getan, wenn er seiner Nahrung nachgelaufen wär’ statt seinen Ideologien.
Kapitel 7: Die große Parallele und der Aufhalter
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Dieter Groh: Der hatte noch keine. Carl Schmitt: – Im Christentum, da wird’s unheimlich und gefährlich. Dieses Problem, Konstantin.[44] Denken Sie mal an 300 Jahre Christenverfolgung. Auf einmal tritt das in der Weltgeschichte nicht vorgesehene Ereignis ein: Der Kaiser wird Christ. [Lacht.] Und was geschieht? Und der Kaiser ist großzügig, die Bischöfe werden. . . Die vorher sich da verkrochen in den Katakomben, werden alle hohe Staatsbeamte mit einem kolossalen Gehalt. Sogar die Rabbiner werden. . . Ja, haben Sie schon mal sowas. . . Dieter Groh: Ja, man kann die Parallele aber wirklich. . . Carl Schmitt: Nein. Man muss nur staunen, dass der dumme Adolf das nicht. . . Wenn der so großzügig um sich geschmissen hätte. Warum, wenn er die Macht hatte, konnte er das ja! Was hat den gehindert? Na Gott, der war zu klein, aber so ’ne Type wie Konstantin.[45] Gucken Sie sich nur mal. . . Es ist ja unheimlich, der wusste ja nicht mehr ein und aus. Sie suchen einen Gott, der den Sieg garantiert. Das ist die Frage. Nachher stellt sich heraus, es kann auch anders kommen. Ich geb’ Ihnen einen Rat: Lesen Sie mal Augustinus. Da ist nämlich schon alles drin. Dieter Groh: Im Bezug auf die große Parallele? Carl Schmitt: Bis auf die große Parallele. Sehr richtig, sehr gut. Dieter, das ist genau richtig, bis auf die große Parallele. Sehen Sie mal, wie fängt Augustinus an, ,Civitas Dei‘? Asylrecht. Ich dachte, wie wir heute von dem Bischof Hengsbach sprachen, das möchten sie nochmal. Die möchten mit der großen Parallele mal wieder das machen, was sie damals mit Vandalen und Goten etc. gemacht haben und Franken und was ihnen da gelungen ist. Jetzt wittern. . . Sie setzen schon ein bisschen auf Mao. Kurzum, die brauchen den Katechon, die brauchen noch einen Aufhalter.[46] Auf einmal wird der Kaiser Christ. Man kann sich das gar nicht vorstellen, die kriechen aus den Katakomben. Es dauert keine fünf Jahre, da sind sie genauso oben. Und nun Augustinus. Also, machen Sie das doch mal, lesen Sie mal Augustinus, verblüfft einen ja immer von neuem, durch seine. . . Auch wie modern er ist: gerechter Krieg, Imperialismus, alles drin. Dann auf einmal, dann kommen nun die. . . Im Grunde hat er ja nur ein Thema. Die Heiden hatten die falschen Götter, deswegen sind sie besiegt worden. Auf einmal stellt sich heraus: Manchmal werden
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auch die Christen besiegt. Wie ist denn das? Ja, das ist also die Strafe Gottes, Geduld usw. Dieses alte Schema funktioniert schon da. Nun geht das also durch wieviel Kapitel? Ich weiß nicht, wie viele sind es. . . vierundzwanzig. Da ist ein Kapitel über die Wunder, die Wunder, die beweisen, dass das Christentum die Wahrheit ist. Wenn Sie das Kapitel wörtlich übersetzt heute im ,Spiegel‘ oder in der ,Welt am Sonntag‘ veröffentlichen, da werden Sie aber mal was erleben. Was das für Wunder sind. Ich kann Ihnen das Kapitel genau zeigen. Das sind Wunder, ungefähr so: Da war so ein Mann, der hatte eine scheußliche Fistel, alle Ärzte sagen, es ist unheilbar. Jahrelang trifft er nun die berühmtesten Ärzte aus der ganzen. . . Und auf einmal kommt ein frommer Mann und betet – weg ist die Fistel. Wunder eins. Wunder zwei: Da war ein Mann, der hatte enorm große Geschlechtsteile, die wurden immer größer, Elefantiasis. Also, es war entsetzlich. Auf einmal kommt er auf die Idee, sich taufen zu lassen. Wird getauft, steigt aus dem Taufbecken – weg ist die ganze Sch. . . Zwanzig solcher Wunder.[47] Sagen Sie mal, was ist das eigentlich? Das soll mir doch mal ein Theologe sagen. Das wird diskret verschwiegen. Das gehört dazu, das gehört absolut dazu. Und nun die einfache Frage: Wer garantiert mir den Sieg? Das Christentum hat nur eine Antwort, auf einmal kommen die [unverständlich] und dann beginnt das Problem der Erklärung, nicht nur des Endes. Warum kommt das Ende nicht? Das ganze ist doch Naherwartung des Endes. Die Welt geht unter. Morgen geht sie unter, sie ist korrupt. Das ist genau wie der anarchistische Revolutionär, der ja unten durch will und sagt: „Wann kommt denn nun das Reich der Freiheit, ist ja nix zu sehen vom Reich der Freiheit. Warum kommt das nicht?“ Das Schema, das nenne ich politische Theologie.[48] Das möchte sagen, das gedankliche Inventar der Antwort auf solche Fragen ist restlos entwickelt. Erstens: Wir können überhaupt nicht so genau wissen, was Gott weiß. Die Geschichte ist nicht so berechenbar wie ein Fahrplan oder wie eine Mondfinsternis oder sowas. Zweitens: Da sind noch einige, na ja, einige solche Sachen, Sünder, auch noch umgekehrt, einige Gerechte, die beten, die halten es auf.[49] Ich hab mir mal zu meiner eigenen Information eine Liste gemacht der sogenannten Aufhalter, vom ,Aufhalter‘ her.[50] Es ist erstaunlich, da ist alles, es ist vom Kaiser, vom römischen Kaiser angefangen bis zu den Stillen im Lande. Mal sind es die Stillen, die beten, die halten es auf. Man sollte meinen, die sollten sich freuen, wenn’s kommt, das Ende. Nein, sie halten auf, da muss man sich noch bei ihnen bedanken, sonst wär’ es ja schon da. [Schmunzelt.] Dieses ganze Durcheinander, auch die Widersprüche, die darin sind. Warum freut er sich nicht und sagt: Es kann nicht schnell genug kommen. „Bald komm ich“, heißt es am Schluss der Apokalypse.[51] Nee, nee, der muss noch. . . Da freuen sie sich doch, wenn da so ’ne kleine. . . Was ist das alles, sagen Sie. Aber solange ich in der Geschichte, in der Zeitgeschichte denke, wiederholt sich dieses Schema, auch bei den Marxisten. Unser Trotzki sagt: „Ja, der Sprung ins Reich der Freiheit. Das darf man sich nicht vorstellen wie ein paar Minuten, das kann eine ganze Epoche. . .“ Ist die Antwort von Trotzki.[52] Das ist auch die Antwort von Augustinus. Das ist aber doch ’ne alte Sache.
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Dieter Groh: Ja, das war schon die Antwort von Engels.[53] Carl Schmitt: So? Dieter Groh: Ja, ja. Aber ich meine, wenn die Sozialisten. . . Carl Schmitt: Haben Sie noch einen Schluck? Entschuldigen Sie, bitte. [Entkorken.] Aber das Ganze fängt doch mit Albert Schweitzer an. Albert Schweitzer hat zuerst. . .[54] Klaus Figge: Nein, mit Paulus. Carl Schmitt: Mit Paul. . . Na, auch die ganze Naherwartung. Dass man das ganze Neue Testament nur von der Naherwartung her verstehen kann. Klaus Figge: Nein. [Nachschenken.] Carl Schmitt: Wie? Dass man. . . Auch das Vaterunser ist doch von A bis Z eine Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Endes. Klaus Figge: Aber nicht das Neue Testament, sondern dass man einen Sprung sehen muss, zwischen der Naherwartung und dem Umschwenken auf die Fernerwartung. Carl Schmitt: Ja, und nun habe ich ja – wie soll ich sagen? – etwas, worauf ich mich kapriziert habe, das ist der Katechon, 2. Thessalonicher 2, 6.[55] Und da gibt es eine Spezialuntersuchung; ein Mann namens Strobel, wissen Sie, wo der geblieben ist? Der war in Tübingen und da hat der das einzige. . . Aber das ist ein langweiliges Buch.[56] Das Buch über den Katechon rein als historische. . . als Übersicht über die Vorstellung, das ist noch nicht geschrieben. Ja, ich bleibe dabei, Augustinus beantwortet. . . Der ist immer vorsichtig, mal schauen, was er sagt. Er sagt: „Ignoramus.“ („Ignorabimus“, hätte ich beinahe gesagt.) [Schmunzelt.] Wir wissen es nicht. Ihr wisset weder die Zeit noch die Stunde. Diese Sache. Und dann sagt Augustinus:
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„Es ist nicht absurd.“[57] Einige sagen, non absurde, es wär’ das römische Imperium, das wäre der Katechon – aber wir wissen es nicht. Dabei ist das allein. . . das ist die Frage, um die es sich handelt: Was ist es denn nun? Ich bin der Meinung: „ho katechon“. Es heißt ja, Thessalonicher 2, 6 ist es, glaube ich, einmal: „der Katechon“, ho katechon, und dann unmittelbar hinterher: „to katechon“. Also einmal maskulin und einmal neutrum. Das ist weiter nichts als: ,Ho katechon‘ ist der jeweils regierende Imperator, ,to katechon‘ ist das Imperium.[58] Und solange das Imperium da ist, so lange geht die Welt nicht unter.
Band 2: Was steht in der Verfassung? Kapitel 8
Das unausgesprochene Thema der Schrift Carl Schmitt: Oder sind Sie jetzt müde? Ich will Sie nicht. . . Sie sehen nicht ausgeschlafen aus. Das wollte ich hierzu sagen: Das Unausgesprochene, unausgesprochene Thematik ist bei mir das Verhältnis von Wort und Schrift oder Verhältnis, Gegensatz, Dialektik, Antithetik, Feindschaft usw. von Wort und Schrift. Ich würde mir also erlauben, jetzt einfach polemisch und herausfordernd zu sagen: Im Anfang war nicht das Wort, sondern die Schrift. Und der Glaube Luthers baut nicht auf das Wort, sondern die Schrift. „Wir bauen auf die Schrift“, sagten diese Böhmen damals, in dem Stück – wundervoll! –, dieser Tragödie (oder was das ist) ,Rudolf von Habsburg‘ von Grillparzer. Da kommen also diese protestantischen Böhmen zum Kaiser und sagen, so im Gespräch: „Was glaubt ihr denn eigentlich? Wir bauen auf die Schrift“, fasst sich der Mann an den Kopf: „Menschenskind, die bauen auf die Schrift!“[1] Auf das Wort bauen, ist schon eine ungeheuerliche Sache – ein Wort, das ich selber nichtmal gehört habe, ein Wort, das ein Mensch vor achtzehnhundert Jahren. . . Das habe ich ja auch nur schriftlich, ich habe ja nichts. Wenn man Tonbandaufnahmen gemacht hätte, dann hätte man wahrscheinlich auch nicht viel mehr. Also, ich sage absichtlich, um zu provozieren: Im Anfang war die Schrift. Im Anfang – war die Schrift – von aller Geschichtswissenschaft, Geschichtswissenschaft ist ohne Schrift nicht vorstellbar. Ich war bei Max Weber im Seminar, ich war ja im Dozentenseminar von Max Weber. Zu den vielen Dingen, die ich Max Weber verdanke, persönlich auch, war nur ein Jahr, aber das war sehr intensiv, die entscheidende Zeit, 1920 in München. . . Er hat ja die These aufgestellt zur Soziologie der Musik, dieses ungeheuerliche Phänomen der modernen Musik – das ist ein nur im okzidentalen Rationalismus mögliches und denkbares und vorstellbares Phänomen, was wir moderne Musik denken [richtig: nennen]. Die ist nicht denkbar ohne Noten-Schrift.[2] Die Mönche in St. Gallen, die die Notenschrift erfunden haben, haben überhaupt die Bedingung der Möglichkeit, sagen wir, von Mozart oder Beethoven und, wenn Sie wollen, Richard Wagner erst geschaffen. Wenn Sie mal eine moderne Partitur sehen, dann sehen Sie, was das heißt! Das imponiert mir mehr als jede Mathematik und jede Rechnung und alles, was da sonst als Wissenschaft gefeiert wird, als
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Band 2: Was steht in der Verfassung?
menschliche Gehirnleistung – eine moderne Partitur. Haben Sie mal eine Partitur von Wagner oder Richard Strauss gesehen? Richard Strauss, das ist überhaupt unwahrscheinlich. Der schrieb auch, wie er mir mal erzählt hat, er schrieb die Noten, die Partitur nicht in der Reihe horizontal, sondern von oben nach unten, also die Stimme, sagen wir mal, die Flöten, die Geigen usw., erst einen Ton, dann alle drunter, bis da unten zu den Bässen und den Trommeln usw.[3] Einzeln so nacheinander. Ich kann nur staunen. Lassen Sie sich das mal in irgendeinem Musikmuseum oder bei einem Musiker, den Sie kennen, zeigen, was das ist: eine Partitur. Ich habe mir, wie ich noch bei den Nazis mitmachte, in der Akademie für Deutsches Recht extra das Thema vorbehalten: ,Wer ist der Autor des Films?‘ – eine rein urheberrechtliche Frage, an der hingen sehr große Geldinteressen der Ufa und natürlich der Organisation der Musiker, alles das zusammenhängend. Wer ist der Autor eines Films? Der eine sagte: „Der Autor des Films ist der Maskenbildner. Wie säht ihr alle aus, wenn ich euch nicht zurechtmachte?“ Dann kam der Fotograf und sagte: „Der Autor des Films ist der Fotograf.“ Kam ’n Musiker, natürlich: „Musiker“, der Dichter, schließlich die Regisseure, sagt: „Der Regisseur ist der Autor des Films“, oder: „Der Drehbuchverfasser ist der Autor des Films.“ Und schließlich landete es [bei]: „Das Kollektiv ist der Autor des Films“, dieses Kollektiv. Diese Frage ist bis auf den heutigen Tag noch nicht geklärt. Es lohnt sich der Mühe, einfach positiv juristisch mal zu vergleichen, wie in den verschiedenen Regelungen des Urheberrechts am Film in den verschiedenen Ländern diese Frage geregelt wird. Schließlich kann man ja sagen, der Film hat überhaupt keinen Autor, aber irgendein Autor ist ja da. Es lässt sich ja gar nicht vermeiden, auch unabhängig. Die Frage wird natürlich akut durch die Geldfrage – jeder der Autor, das heißt also praktisch: Wer bekommt das Honorar oder das höchste Honorar bei der Verteilung? Schön. Das alles, vergessen Sie nicht, in dem Zusammenhang Schrift, das hängt an der Partitur. Infolgedessen habe ich mir damals gesagt, der Urheber des Films ist der Drehbuchverfasser. Warum? Wenn wir so weit sind in der Erfindung der Zeichen, wie die Musik gekommen ist bei der Erfindung der Notenschrift, dann kann ein intelligenter Drehbuchverfasser einen Film so vorherplanen oder wie Sie das nennen wollen, genauso wie heute noch der Text von Shakespeare aufgeführt wird – einfach, weil es aufgeschrieben ist. Oder, was noch viel fantastischer ist: Da sitzen also hundert Menschen und geigen und blasen und trommeln genauso, wie der taube Beethoven es aufgeschrieben hat. Und noch toller: Lesen Sie mal die Partitur der Meistersinger, da ist ja jedes Intervall mit. . . nicht nur komponiert, das heißt aufgeschrieben, jedes Wort von Beckmesser ist auf den Ton genau bestimmt. Das ist bisher das Höchste an Schrift, was ich mir vorstellen kann. Ich hoffe, dass Sie mich nicht missverstehen. Ich bin in dem Sinne gar kein Wagnerianer, aber diese Partitur der Meistersinger (und Tristan ist vielleicht noch mehr), ich will grade sagen im gesprochenen Wort: Beckmesser, fantastisch! „Ist das eure Schrift?“ Komponieren Sie mal, schreiben Sie auf: „Ist das eure Schrift“, wenn Beckmesser das da sagt.[4] Aha, kann ja komponieren. Fängt da an, da ist nichts zu machen, musst ja so singen. Und noch die
Kapitel 9: Warum haben Sie Jura studiert?
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Musik dazu und alles – es ist unvorstellbar. Das ist eine Partitur! Ich sage es Ihnen, damit Sie verstehen, was ich jetzt unter dem Problem Schrift verstehe, und dass ich immer wieder jeden frage, dem ich begegne, und wahrscheinlich fragen werde: Gibt es eine Schriftphilosophie? Hat sich wenigstens mal ein Philosoph hingesetzt und darüber nachgedacht, was das ist? Wort und Schrift, das wäre also das doch Zentralthema. Nun, das geschriebene Gesetz, ich will Sie nicht mit meinen fachlichen Problemen hier aufhalten, das geschriebene Gesetz, der ,agraphos nomos‘ und der geschriebene Nomos, und wie der Nomos sich ändert in dem Augenblick, wie er geschrieben wird – alles das gehört in dieses Thema Wort und Schrift; Wort und Schrift als, wie soll ich sagen, das universale und zentrale Thema dessen, was mich überhaupt bewegt.[5] Infolgedessen möchte ich aufhören mit einem Vers oder zwei kleinen Versen meines Freundes Konrad Weiß (ich muss sie erst mal suchen, einen Augenblick, hoffentlich finde ich sie so schnell). [Entfernt sich kurz.] Die Verse lauten. . . Müssen immer diese verschränkte, wenn Sie wollen, sehr altmodische Sprache von Konrad Weiß, die aber das Dichteste ist, was ich in der ganzen deutschen, mir bekannten Literatur kenne. . . Hier stimme ich überein mit Rudolf Borchardt übrigens, dass grade diese Art Sprachweise von Weiß unendlich klar ist, aber auf den ersten Blick, für unsere Art abgeschliffener und simplifizierter Syntax schwer verständlich oder fast unverständlich.[6] Es ist nicht unverständlich, hören Sie mal zu: „Ich tue, was ich will, und halte, was mich trifft, bis, was ich nicht will, tut mit mir ein Sinn wie Schrift.“ Nun, ich will ja nicht anfangen, zu interpretieren und exegieren. Darf ich es noch einmal wiederholen? „Ich tue, was ich will, und halte was mich trifft, bis was ich nicht will, tut mit mir ein Sinn wie Schrift.“[7] Der andere Vers lautet so: „Ich bleibe, wo ich bin, und klammere das Wort, bis mich verklammernd trägt ein Wort wie Samen fort.“[8] Und der Samen wird durch die Schrift weitergetragen, wenn ich das hinzufügen darf. Schluss. Kapitel 9
Warum haben Sie Jura studiert? Carl Schmitt: Abgesehen von meiner Praxis als Steuerzettelschreiber für die katholische Kirchengemeinde Plettenberg, im Auftrag meines Vaters, habe ich ja eigentlich mit juristischen Dingen nichts zu tun gehabt. Prozesse führen, das gab’s ja nicht. An-
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Band 2: Was steht in der Verfassung?
ständiger Mensch führt keine Prozesse, war übrigens auch die Meinung von Hindenburg, wenn ich das einschalten darf, das kannte er gar nicht, die Welt kannte er nicht. Mein Vater war Schöffe, da war ich schon Referendar, da war das schon wieder was anderes. Meine Mutter hat mal zufällig eine Aufforderung bekommen, als Zeugin in irgendeinem lächerlichen kleinen Prozess zu erscheinen – die dachte, sie müsste zum Schafott. Also, das war unser Verhältnis zur Justiz. Und so bin ich gar nicht auf die Idee gekommen. Das heißt, allmählich kam das, aber mein Interesse war doch im Grunde die Sprache, und waren vor allen Dingen Latein und Griechisch. Hatten wir sehr gute Lehrer und hervorragend auch im Griechischen. Also kurzum, wir haben Philoktek gelesen, da kann ich heute noch einige Chorlieder auswendig. Und infolgedessen schrieb ich oder antwortete ich auf die Frage, die man vor dem Abitur gestellt bekommt: „Was gedenken Sie zu studieren?“ antwortete ich: „Philologie“. Und so steht noch in meinem Abiturzeugnis: „Er verlässt die Schule mit den besten Wünschen und mit der Absicht, Philologie zu studieren.“ Da steht noch „Philologie“, das war im März 1907. Nun fuhr ich im März zu den französischen Verwandten, damals waren sie deutsche Staatsangehörige, sprachen aber Französisch, in Lothringen. Und da war also der Bruder meiner Mutter, und wie der hörte „Philologie“, der sagte: „Du bist ja verrückt. Das ist ja eine ganz kümmerliche Angelegenheit.“ Erzählte mir so, er war durch Grundstückspekulation. . . Er hatte ein sehr reiches, also rein französisches Bauernmädchen geheiratet, von den Bauern aus der Gegend, und dahin zog sich diese Lothringische Eisenindustrie, die Rombacher Hütte, und hat da für die Rombacher Hütte und andere große Unternehmen Grundstücke. . . und war also schwerreicher Mann geworden, Millionär, zwei Schlösser gekauft, und er sagte mir: „Ich geb’ dir einen guten Rat: Studier Jura!“[9] Nun hatte er einen Sohn, der war etwa zwei Jahre jünger als ich, wir waren sehr befreundet, und er kam immer nach Plettenberg in die Ferien, oder ich kam nach Lothringen zu ihm in die Ferien, und er sagte auch: „Mensch, dann studier wenigstens Nationalökonomie – aber Philologie, das kommt nicht in Frage.“ Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, ich habe eine merkwürdige Art Passivität. Dass ich in den Ruf gekommen bin, Dezisionist zu sein für meine Person, das ist mir eigentlich unverständlich. Ich glaube, man muss eine so große Entfernung von der Freude an der Entscheidung haben, wie ich sie habe, um eine Theorie des Dezisionismus überhaupt entwickeln zu können. Denn der typische Dezisionist, der also mit Begeisterung sich entscheidet, der wird nie eine Philosophie oder Theologie oder Theorie des Dezisionismus entwickeln. So habe ich mir eigentlich nichts dabei gedacht. Ich hab Ihnen vorhin schon gesagt, diese Gespräche mit diesen zwei Volksschullehrern, das alles hat mich nicht in dem Sinne beeindruckt: „Aha, jetzt musst du. . . Das ist was anderes, du musst dein Leben ändern oder du musst etwas beiseitewerfen, Vergangenheit bewältigen.“ Keine Spur, gar nichts. Ich kann mich an keine Entscheidung erinnern. Und so fuhr ich dann von Plettenberg ins erste Semester, Sommersemester 1907, nach Berlin. Warum nach Berlin? Weil das am billigsten war. Da wohnte ein Onkel
Kapitel 10: Ubi nihil vales, ibi nihil velis
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von mir, hoch oben im Norden von Berlin, der hatte eine kleine Druckerei, der kam aber auch von der Mosel, druckte da so Kirchenblättchen und solche Sachen, und da wohnte ich. Und dessen Schwester, also eine Schwester meines Vaters auch, war da Lehrerin. Die beiden Geschwister wohnten zusammen, hatten im vierten, fünften Stock in einer Mietskaserne in Berlin-Lichtenberg da ’ne kleine Wohnung von drei, vier Zimmern; da war noch ’ne Ecke für mich. Da wohnte ich.[10] Und so kam ich nach Berlin und ging nun. . . Da las ich, an dem und dem Tag Immatrikulation, in der Aula war das, glaube ich, oh nein, nicht in der Aula, [da] war da ein Riesenzimmer. Und sehe noch, wie ich die Treppe da raufging, in der Humboldt(damals natürlich Friedrich-Wilhelm[s]-)Universität, und da waren also Hunderte von Menschen, und da war für Philosophische Fakultät, für Juristische Fakultät usw. waren da so die verschiedenen Hürden aufgestellt, in die man sich dann. . . Und sehe heute noch da dieses Schild vor mir, da stand: Juristische Fakultät und Philosophische Fakul. . . Habe ’nen Moment überlegt, stand noch grade unter dem Eindruck, das was mir dieser Onkel André, wie er hieß, da unten in Rombach gesagt hatte, und ging: Juristische Fakultät. Und hörte dann erst Kohler und so, fand das auch ganz interessant.[11] Ich sah also da keine tiefsinnige Erwägung. Sie können alles analysieren, aber das wär’ ja ’ne Frage für sich. Ich will Ihnen zunächst mal das Phänomen, so wie ich dies jedem, auch vor fünfzig. . . oder damals erzählte, wenn man mich gefragt hätte: „Mensch, was tust du denn? Weißt du denn nicht? Wie kannst du denn Jura studieren? Wieviel Geld kriegst du denn im Monat von deinen Eltern?“ Ja, das waren 70 bis 80 Mark. „Du kannst doch nicht. . . Du gehörst ja gar nicht dahin.“ Ja Gott, an so ’ner Riesenuniversität. Wäre ich vielleicht an eine kleine Universität gekommen, wäre das eher aufgefallen, dann hätte ich was gemerkt, aber diese sozialen oder soziologischen. . . die waren mir absolut fremd. Und so lief ich dann einfach in die Hürde Juristische Fakultät – und blieb da, fand das wunderbar, weil das im ersten Semester gleich mit römischem Recht anfing. Nun, das war für mich ein Vergnügen, Latein usw., das war ungeheure Freude, Corpus Iuris – ich fand das erstaunlich interessant. Nun, so kam man dann herein. So ist’s buchstäblich gekommen. Wenn ich es Ihnen erzähle, dann werden Sie wahrscheinlich. . . Oder wenn das jemand hört, einer meiner Verfolger, kurzum, dann wird er sagen: „Welches Unheil wäre uns erspart geblieben, wenn dieser Mensch damals die andere Hürde gegangen wäre.“ Sehen Sie, so verläuft die Weltgeschichte. Da höre ich jetzt auf. Ich bin jetzt fertig damit. Kapitel 10
Ubi nihil vales, ibi nihil velis Carl Schmitt: Wenn Sie mich fragen nach ’nem Motto: Ich habe so viele Motti in meinem Leben liebgewonnen und auch so viele mir aufgeschrieben und mich an so vielen getröstet, aber eine dieser Formulierungen oder ein solches Motto verfolgt mich
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doch am längsten, na eigentlich schon nach meinen ersten philosophischen Regungen. Ich weiß nicht, wo ich es zuerst gelesen habe, aber spätestens seit dem 25. Lebensjahr. Das ist der Satz: „Ubi nihil vales, ibi nihil velis.“ Das ist ein auf die Stoa zurückgehender Satz, ich habe ihn bei Geulincx gefunden, bei diesem Okkasionalisten. Dessen Lieblingszitat war: „Ubi nihil vales, ibi nihil velis“.[12] Das heißt: Wo du nichts giltst, wo du nichts bedeutest, also wo du nichts zu sagen hast, da streng dich auch nicht an, etwas zu wollen. Schöner Vers, schönes Motto. Dieses wär’ auch ein netter Schluss gewesen für unser Gespräch: „Ubi nihil vales“. Ich habe sofort abgestellt, wenn ich merkte, hier hat es nicht viel Sinn, den Mund aufzutun. Und das ist sehr wichtig geworden für mich; das habe ich am spätesten begriffen. Noch meine Schrift über den römischen Katholizismus, die 1923 erschienen ist. . . Haben Sie sie mal gelesen? Das wird Sie als evangelischen Theologen interessieren. Emanuel Hirsch hat die erste, hat da erst laut gest[öhnt] und sah darin den Anfang eines neuen Zeitalters der katholischen Gegenreformation.[13] Ein anderer evangelischer Theologe hat mir erklärt, seine Verlobung, die schon gediehen war bis zum Termin am Standesamt und in der Kirche, für die Trauung, sei auseinandergegangen, weil seine Braut, die auch aus dem evangelischen Pfarrhaus stammte, bei ihm, diesem evangelischen Theologen, die Schrift über den römischen Katholizismus gesehen und einen Blick hineingeworfen hat. Eine evangelische Jugendbekannte hier, Emmi Achterrath, wie die von der Schrift hörte. . . Inzwischen war sie auch verheiratet mit einem Berliner Studienrat und sagte mir: „Ja Carl, bist du denn unter die Unfreien gegangen?!“[14] Diese Schrift ist noch der ungebrochenen Freude. . . hing allerdings zusammen mit einer Freundschaft, mit einer Irin, Kathleen Murray, die mir sogar ein Buch gewidmet hat.[15] Nein, diese Schrift ist noch ein Zeugnis des ganz Ungebrochenen, des ungebrochenen katholischen Impulses,[16] der mir selbstverständlich war, der so stark war, dass ein Mann wie Theodor Haecker zum Beispiel, ein typischer protestantischer Sektierer aus Schwaben. . . Ich glaube nicht, dass er zum Katholizismus übergetreten wäre, wenn wir nicht so lange darüber gesprochen [hätten]. Dabei hab ich nie Konvertiten gemacht, ich kann keine Konvertiten vertragen.[17] Ich hab jedem gesagt, die fragten mich. . . Aber es ist ein halbes Dutzend nennenswerter Leute, [die] haben darüber mit mir ernst gesprochen, wollten von mir irgendeine Bestätigung haben, ihres Übertritts, noch vor ungefähr zehn Jahren – aber damals in der Zeit, also denken Sie mal an Leute wie Erik Peterson, dann Theodor Haecker, um nur die zwei zu nennen. Da bin ich irgendwie, wenn Sie wollen, mitschuldig. Aber nicht, weil ich da Proselyten gemacht habe, im Gegenteil, ich hab denen immer gesagt. . . Damals bei Haecker noch nicht, aber schon bei Peterson fing das an, wie ich die Wirkung dieser Schrift von 1923 bemerkte, da habe ich wirklich mich mal sozusagen. . . da habe ich mein Herz auf die Waage gelegt.[18] Also, wie ich deren Auswirkung im Rahmen dieses Katholizismus sah, da kam ja doch ein ungeheuerlicher Schock, und da fiel mir auch wieder dieses Wort ein: „Ubi nihil vales, ibi nihil velis“, denn ein Laie hat nichts zu sagen in dieser zölibatären Bürokratie.
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Da sah ich auf einmal, was ich nicht für möglich hielt. Denken Sie mal, wenn Sie mit drei wirklich rührenden Großonkels als Pfarrern an der Mosel großgeworden sind, alle drei das Wunderbarste, was man sich so an Onkel und Großonkel vorstellen kann, habe ich überhaupt nicht das Problem Klerus, zölibatäre. . . Die hatten alle Haushälterinnen. Nun, das Problem der Haushälterin war damals noch nicht das Problem von heute und war damals viel einfacher als heute. Der eine von ihnen, natürlich nicht der Held aus dem Kulturkampf, sondern das schwarze Schaf, das also in die Schneifel versetzt wurde von Saarburg, wo der schöne Saarburger Wein wächst, denken Sie mal, da an die luxemburgische Grenze. . . Das wusste man in der Familie, da liefen ja, ich will nicht sagen einige, aber mindestens zwei Kinder herum, die nannten den ,Onkel‘ (berühmte Sache) [schmunzelt] und die beerbten den.[19] Die hatten alle Vermögen dort, die Steinleins. Nun können Sie sich denken, wie das auf meine Mutter wirkte, und bei der Gelegenheit. . . Aber das hat mich gar nicht berührt irgendwie, das habe ich gar nicht als ein Problem empfunden, Gott. Diese Seite der Sache, die schließlich dazu führt, dass ich es für alle Zeit, nicht für die Ewigkeit, aber wohl für alle Zeit verdorben habe mit diesem sehr wichtigen und einflussreichen Stand (es ist kein Vergnügen, den zum Gegner zu haben), das war dann die Ausgrabung eines Satzes von einem Juristen aus der Reformationszeit, 1600 etwa, Albericus Gentilis, ein Italiener (übrigens ein engerer Landsmann von Giordano Bruno), der ist zum Protestantismus übergetreten, musste dann fliehen und wurde Professor in Oxford und hatte einen berühmten Lehrstuhl. Wer heute darauf sitzt, ist heute noch stolz auf den Lehrstuhl Albericus Gentilis’. Und da steht der Satz: „Silete theologi in munere alieno.“[20] Das war die Frage des gerechten Krieges – im Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege, müssen Sie mal bedenken. Und da hat dieser Jurist gesagt, aus dem Stolz des Juristen heraus den Theologen vorgeworfen: „Silete theologi, das ist eine Aufgabe und ein Thema, das euch nichts angeht, der Krieg, und vor allen Dingen nicht der gerechte Krieg.“ Also, das ist dieses ,silete‘, das ist mir. . . Noch in Ebrach mal merkte ich das Gift, das ich dadurch, ohne es zu wollen, gegen mich produziert habe, dass ich diesen Satz ausgesprochen, diese Formel. Sowas verbreitet sich dann ja sehr schnell, das „Silete theologi“. Das war mir alles fremd. Und diese Erkenntnis ,Ubi nihil vales, ibi nihil velis‘, das war dann sozusagen die reflexionsmäßige Brücke zu der Distanzierung, zu der inneren Distanzierung von dieser Art zentralisierter zölibatärer Bürokratie. Die Formel ,zölibatäre Bürokratie‘ ist, entschuldigen Sie, von mir. Sie wär’ nicht entstanden ohne Max Weber.[21] Aber Max Weber hat ja merkwürdigerweise überhaupt kein. . . Er wusste nichts vom Katholizismus. Das war für ihn ein ästhetisches Phänomen. Er hat ja alle möglichen Religionsgesellschaften, alttestamentliches Judentum, Buddhismus, Brahmaismus – die Soziologie aller Religionen: Puritanismus, fabelhaft, Calvinismus usw. Warum? Das meinem Geschmack nach interessanteste und, sagen wir mal, auffälligste, aufdringlichste soziologische Phänomen, der römische Katholizismus, die ganze Entwicklung von der Katakombe bis zum Tridentinum – er hat das gar nicht perzipiert. Das war apropos ,Ubi nihil vales, ibi nihil velis‘.
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Jetzt sind wir aber ganz beim Interesse an der modernen Malerei. Das war also fanatisch, geradezu unerklärlich doch eigentlich. Ein Freund von mir aus Münster, Kluxen, war der erste Deutsche, der einen Picasso gekauft hat, war wirklich der erste.[22] Der hat den ganzen ,Sturm‘ von Herwarth Walden, ich weiß nicht, ob das für Sie noch ein Name ist, praktisch finanziert. Kluxen, auf dem Prinzipalmarkt in Münster ist ein großes Kaufhaus ,Kluxen‘, da stammt er her, war der einzige Sohn, hatte immer viel Geld. Und das war also eine Lebensfreundschaft von Untersekunda bis, wenn er noch lebt, bis heute. Manchmal kommt er, so alle paar Jahre noch. [Nun] ist er alt und überlegt, wie er sein Vermögen vor der Erbschaftssteuer rettet. Das sind so seine Probleme jetzt, aber man kann ihm ja. . . Genialer Junge. Er machte die genialsten Bierzeitungen, die ich je gesehen habe. Tatsächlich. Nun, an Bierzeitungen habe ich mich auch sehr lebhaft beteiligt, und hoffentlich entdeckt niemand die in irgendeiner Ecke, dann wird’s aber ganz schlimm, passen Sie mal auf! [Lachen im Hintergrund.] Dann wird’s aber ganz gefährlich. Und aus einer dieser Bierzeitungen, da war Kluxen weniger beteiligt als mein Freund Fritz Eisler, sind die ,Schattenrisse‘ nämlich hervorgegangen – das ist ’ne Bierzeitung. Und mein Freund Fritz Eisler, dessen Vater hatte einen Verlag, der gab die ,Deutschen Hotel-Nachrichten‘ heraus und eine Annoncenexpedition und kannte dadurch Druckereien. Und der fand da einen Drucker, der hat das gedruckt (ich weiß nicht, wer es bezahlt hat). So ist das komischerweise gedruckt worden, sind die ,Schattenrisse‘ entstanden. Da war ich aber schon Referendar. Die muss ich Ihnen heute Abend doch mal zeigen. Das ist das Dokument des Antisemitismus.[23] Das lasse ich mir nicht entgehen. Heute Abend, wenn wir den richtigen Wein haben, lese ich Ihnen mal einen vor. Vor allen Dingen einen aus Münster. – Ja, hören Sie jetzt auf mit dem Ding hier.
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Die Reichsgründungsrede 1933 Carl Schmitt: Jetzt wurde die Reichsgründungsrede gehalten, in der Handels-Hochschule. Ich saß ja auf dem Katheder von Hugo Preuß und Schücking an der Handels-Hochschule, schöner Lehrstuhl, und hatte dadurch automatisch die Ordinarien des öffentlichen Rechts an der Berliner Universität zu Todfeinden.[24] . . . Aber die zweite war am 18. Januar 1933, das war direkt nach dem Wahlerfolg in Lippe, und da waren sogar einige mokante Bemerkungen über den Wahlerfolg, weil wir, also einschließlich Schleicher, in unserer Konstruktion den Papen doch unterschätzt haben, obwohl François-Poncet mir selber gesagt hatte, also, der berühmte Ausspruch: „Fränzchen hat sich selbst entdeckt.“[25] Ich weiß nicht, ob der von Schleicher ist, ich glaube eher, dass er von François-Poncet ist als
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von Schleicher. Schleicher hat ihn propagiert. Für Schleicher ist er mir zu geist. . . zu französisch. Und das war die große Kunst von François-Poncet, den Leuten das, was sie weiterverbreiten sollten, zu injizieren. Und dann, nach diesem Vortrag über Reichsbund, Reich und Bund und Staat usw. (ist abgedruckt in meinen ,Positionen und Begriffen‘), da war übrigens François-Poncet anwesend, das war ja völlig verrückt, für die Handels-Hochschule ungeheuer. Denken Sie mal dran, da kommt der französische Botschafter. Die zischten vor Wut an der Universität, weil die sich gar nicht vorstellen konnten, dass. . . von Hugo Preuß her, Gott, dem gönnte man. . . Nun, Schücking, na ja, der war schon abgeschwommen nach Genf [richtig: Den Haag], der war schon gar nicht mehr in Deutschland.[26] Und nun kommt einer namens Schmitt und hat da diese Rede gehalten, entwickelt die Begriffe ,Bund‘ und ,Reich‘ und ,Staat‘.[27] Das war mir ja schon durch die Mitarbeit mit Schleicher gradezu aufgezwungen, das Thema in der damaligen Lage, aber sehr juristisch-begrifflich. Nachher, da war ein Philosoph, der dozierte auch in der Han[dels-Hochschule], Arthur Liebert, Herausgeber der ,Kant-Studien‘, der sagte: „Das ist ja ontologisch, was Sie da machen.“ Und da verbreitete sich also mit Windeseile ,ontologisch‘. Und jeder Praktiker sagte: „Ja, das ist ontologisch.“ Auf einmal, wie so etwas nicht ein Schimpfwort werden. . . aber das ist so eine komische Kleidung, die einem überworfen wird – auf einmal ist es ,ontologisch‘. Ein erfahrener Philosoph, der hätte das vielleicht je nach Situation als großes Kompliment empfunden. Aber unter positivistischen, juristischen Praktiker[n], die gar nicht genau wussten, was das war, war das eine höchst. . . Kapitel 12
Das Eidestrauma des Reichspräsidenten Carl Schmitt: Bin ja doch schließlich ungefähr so alt wie der alte Hindenburg. Der war 85, ich werde 84. Da ist so viel zu erzählen, auch infolge der Memoiren von Brüning. Brüning hat ja den alten Hindenburg geschildert, die Schilderung stimmt, im Wesentlichen.[28] Der war ein alter, gebrechlicher, ich habe ihn übrigens gar nicht persönlich gespr[ochen]. . . Er hat sich gar nicht um diese Sachen gekümmert, der alte Hindenburg. Ich war aber immer informiert, auch über Einzelheiten der Entwicklung, durch meinen Freund Marcks, und soweit Ott in Betracht [kam], vor allen Dingen auch durch Ott, besonders aber Marcks – und der alte Hindenburg mochte den Marcks gerne. Und Marcks hielt da also regelmäßig, ich weiß nicht, ob täglich, ich glaube um elf Uhr so Berichte als Pressechef von Schleicher. Da war ich immer, immer gut im Bilde. Man müsste mal überlegen, wo ich ansetze.
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Dieter Groh: Vielleicht als Zwischengeschichte die Sache mit der nächtlichen Vernehmung bei den Russen.[29] Carl Schmitt: Erinnern Sie mich, vielleicht später. Anni wird sich noch erinnern.[30] Es war ’ne unheimliche Geschichte. Nein, bleiben wir noch bei dem alten Hindenburg, um meinen Ausgangspunkt zu finden. Sehen Sie, Brüning erzählt das sehr richtig und ich hab nicht mit Hindenburg so zu tun gehabt wie Brüning, der ja als Reichskanzler. . . Das war ein alter, gebrechlicher Mann, aber alles, was ich von ihm gehört habe, und alles, was auch Brüning erzählt: Er wusste, wie alte Männer, wie ich jetzt (ich will mich nicht mit Leuten, die in der Geschichte eine Rolle gespielt haben, vergleichen), wie ein alter Mann sich einteilt, mit dem immer kleiner werdenden Rest seiner physischen und psychischen und intellektuellen Kräfte. Das kann jeder von Hause gesunde alte[ ] Mann erreichen, das macht jeder alte Konzerninhaber und jeder alte Bauer und jeder alte Geschäftsmann wahrscheinlich ebenso. Man teilt sich das ein. Der alte Clemenceau war nicht viel jünger als Hindenburg, als er in Versailles praktisch die ganze riesige Versailler Konferenz beherrschte. Der war so müde, der schlief ein bei den Sitzungen, hatte ein Ätherfläschchen bei sich, von Zeit zu Zeit wurde er wach, immer im richtigen Moment, und hat die ganze Sache beherrscht und hat diesen Wilson, der doch 30 Jahre jünger war oder wieviel und der die Weltmacht hinter sich hatte, buchstäblich um den Finger gewickelt. Das war der alte Clemenceau. Nicht nur während des Krieges hat er für Frankreich schließlich den Sieg gerettet, sondern nein: Während der riesigen Friedenskonferenz, dieser ungeheuerliche Apparat mit Amerikanern, Engländern, Franzosen usw., das alles hat der alte Clemenceau durchgesetzt. Das gibt es, und insofern war Hindenburg. . . Der alte Clemenceau schlief auch fortwährend ein. Er wusste sich das so einzuteilen. Oder der alte de Gaulle, der schließlich auch mit 80 Jahren. . . Ist noch erstaunlich, was er fertiggebracht hat. Insofern muss man das anders beurteilen. Dann die Abhängigkeit von seinem Sohn Hindenburg. Er war abhängig selbstverständlich. Jeder. Ich bin von meiner Wirtschafterin abhängig, das sind auch jüngere Leute. Im Alter wird man selbstverständlich von diesen Dingen abhängig, aber man weiß genau zu unterscheiden, wann etwas Wichtiges kommt und wo das alles plötzlich keine Rolle mehr spielt. Das traue ich Hindenburg zu, und wenn er noch so. . . Nun waren da verschiedene Dinge bei Hindenburg im Spiel. Will hier nicht die Geschichte der alten Männer. . . Wäre interessant, was alte Männer noch, gerade wenn die Entscheidung sich zuspitzt auf einen einzigen Punkt. . . Dann kann er schlafen und doch dabei sein. Das hört sich komisch an, wenn ein Alter das sagt. Der Fall Clemenceau ist ganz erstaunlich. Und dann glaubt man’s ihm, dem alten Clemenceau. Und Hindenburg, nun, das kann man als Intelligenz nicht mit Clemenceau vergleichen, aber irgendwie als ein Mann, dem eben gewisse Dinge am Herzen lagen und wichtig waren und sogar entscheidend waren – in der Hinsicht kann man in der Tat einen gewissen Vergleich ziehen.
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Was war nun Hindenburg wichtig? Nun war er alt, hatte sich wählen lassen, hatte sich wieder wählen lassen – zum zweiten Mal gewählt. Was war aber diesem Mann noch wichtig? Dieser Mann hatte, das weiß ich besonders aus Schilderungen von dem Major Marcks, Erich Marcks, dem Pressechef, der Mann hatte, ja, einige Wunden, einige Traumata, und vor allen Dingen hatte der ein alles bestimmendes Eidestrauma. Seine Kameraden, die er als Kameraden gelten ließ, auch auf gleicher Ebene, und vor allen Dingen Ludendorff, haben ihm öffentlich vorgeworfen, er habe dem Kaiser, dem obersten Kriegsherrn, einen Eid geschworen und diesen Eid gebrochen, indem er damals mit der republikanischen Regierung zusammenarbeitete usw. Das hat ihn furchtbar getroffen.[31] Darüber kam er nur in der Weise weg, dass er sagte: „Ja, ich fühle mich ja nur als Stellvertreter des Kaisers.“ Das hat nicht dieselbe Bedeutung wie etwa, wenn Brüning sagt: „Ich will die erbliche Monarchie wieder einführen.“[32] Da machen wir ein verfassungsänderndes Gesetz, machen erst den Kronprinz zum Regenten und überlegt sich das nach allen Seiten hin. Der dachte überhaupt nicht weiter, Hindenburg, als bis zu diesem Mann, der da in Doorn saß, dem Kaiser Wilhelm II., dem hat er einen Eid geschworen. Und da wirft man ihm nun vor, er hätte diesen Eid gebrochen. Damit wurde er nicht fertig. Und dann ließ er sich bereden, 1925, als Reichspräsident zu kandidieren, wurde gewählt und siehe da, wann war es, ich glaube am 5. Juni [richtig: 12. Mai] 1925, hat er vor versammeltem Reichstag den Eid geschworen: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.“ Also, er hat den religiösen Eid geschworen. Und das war die Sache. Er sagte ja auch immer, wenn Sie bei Brüning (Brüning hat die Stellen wörtlich zitiert) darauf achten, er sagt ja: „Ich habe einen Eid bei Gott geschworen. Ich habe meinem Kaiser einen Eid geschworen, den kann ich nicht brechen. Und wenn man mir sagt, ich hätte ihn gebrochen. . .“ Ich mein’, ich will ihn mal jetzt so interpretieren. Das hat er nicht gesagt, aber das hört man, wenn man weiß, um was es sich handelt, auch aus dem, was Brüning wörtlich erzählt. „Ich habe bei Gott einen Eid geschworen. Und den hab ich dem Kaiser geschworen.“[33] Nicht dem Kronprinzen, dem Kaiser. Was da mit Regentschaft. . . das landete gar nicht. Der Alte saß. . . Der lebte aber noch, der Kaiser, und das wurmte ihn und ließ sich nicht in Ordnung bringen. Der Kaiser in Doorn hatte abgedankt und bildete sich doch immer noch ein. . . Er konnte ja gar nicht. . . Und von diesen Illusionen, das ist ja das Traurige bei diesen abgedankten Monarchen, da ist ja, was denen auch noch vielleicht von ihrer Umgebung in den Kopf gesetzt wird, ich weiß es nicht. . . Wilhelm II. hat sich auch, als Hitler kam, eingebildet, der wär’ dafür da, ihn, den Wilhelm II., wieder auf ’n Thron zu setzen. Er sagte: „Der macht seine Sache sehr gut.“[34] Na ja, Gott, das sind diese Leute. Und er saß dann noch in Doorn, und der alte Hindenburg, der konnte den gar nicht fragen oder dergleichen. Ich weiß nicht, ob er den unter der Hand informiert hat, Hindenburg den Kaiser, bei seiner ersten Wahl ’25. Jedenfalls war das so, wenn Brüning sagte, Hindenburg fühlte sich als Stellvertreter des Kaisers, dann heißt das nicht, er wollte so schnell wie möglich und mit allen Mitteln die Monarchie wieder einführen – so weit dachte der gar
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nicht. Es war: Er hat einen Eid geschworen, und da wirft man ihm vor, er hätte diesen Eid gebrochen, auf diesen Mann da, ihm Treue geschworen, und damit ist er nicht fertig geworden. Nun lag es ihm nicht, sich, sagen wir, etwa juristische oder moraltheologische Gutachten erlegen zu lassen. So war er gar nicht, es wurmte in ihm, das saß in ihm. Und das war das eine Eidestrauma. Nun kam er auf einmal in die Situation, dass er noch einen Eid geschworen hatte, nämlich den Eid auf die Verfassung. Da hat er, das war glaube ich im Juni ’25 herum, vor versammeltem Reichstag: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen“ usw. Das war nun ein zweiter Eid – und den wollte er nicht brechen. Er wollte auch nichts tun, dass man ihm sagen konnte: „Du hast wieder einen Eid gebrochen.“ Das einzige, was ihn interessierte, war: „Hab der Verfassung einen Eid geschworen, auf die Verfassung, ich tue nichts, was gegen die Verfassung ist, was man als verfassungswidrig bezeichnen kann.“ Weitere juristische Fragen wären lächerlich gewesen angesichts der schon fast, na, ich möchte sagen, vorzeitlichen Einfachheit, aber Geradheit eines solchen Mannes. Ich hab mal mit Friedensburg, dem früheren Oberbürgermeister von Berlin, dem alten Ferdinand Friedensburg, darüber gesprochen, und wir waren uns nicht einig. Er meinte, man hätte die Anständigkeit von Hindenburg überschätzt und seine Intelligenz unterschätzt. Das hat er auch in einem Buch über die Weimarer Verfassung zum Ausdruck gebracht.[35] Ich weiß nicht, wie das ist; ich spreche nicht hier [von] Anständigkeit und sowas. Das war eine grade Sache bei ihm. Das war so einfach, und das wussten auch im Grunde alle, die mit ihm zu tun hatten, Otto Braun und wer das war, die Sozialdemokraten, die wussten, in dem Punkt kann man sich auf den Mann verlassen. Nun war das das zweite Eidestrauma. Nun ging die Sache gut; auch nach der Wiederwahl 1932, ja, da fing es nun schon wieder an. Die Wiederwahl verdankte er ja den Sozialdemokraten und Brüning. Brüning erzählt das in seinen Memoiren sehr ausführlich,[36] und ich glaube, dass der Teil von Brünings Memoiren auch sicher authentisch ist, sonst ist ja da vieles umstritten. Nun kommt also das dritte Trauma. Das ist der Prozess Preußen-Reich vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig.[37] Da bin ich nun tatsächlich informiert, da fängt es an, wo ich schon von einem denkbar guten Beobachtungsposten her die Sache beobachten konnte. Und dieser Prozess dauerte vom 20. Juli ’32. . . wurde ja noch am gleichen Tag der Staatsgerichtshof angerufen und einstweilige Verfügung beantragt etc.[38] Nun ging die Sache auf einmal auf die juristische Ebene über. Nun kommt ein vielleicht, Trauma ist zu viel gesagt, aber doch ein allergischer Punkt bei mir: nämlich die Erkenntnis eines langen Juristenlebens, nicht nur direkt von Prozessen her, sondern auch von den viel wichtigeren Dinge[n], die gemacht oder vermieden werden im Hinblick auf einen Prozess, so dass also die rein prozessualtribunale (wenn ich mal so sage) Öffentlichkeit nichts davon versteht, was alles geschieht, um einen Prozess zu vermeiden, was alles geschieht, um einen Prozess so zu führen, dass der entscheidende Punkt nicht in die Öffentlichkeit, in die ganze Diskussion und Dialektik und Sophistik und Schikanen eines Prozesses hineinger[ät].[39] Das ist Prozess-, na, wie wollen wir das nennen: Allergie. Die habe ich
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auch bekommen. Ich würde nicht leicht einen Prozess führen, aber ein Mann wie Hindenburg, der kannte diese Welt überhaupt nicht, der hat nie in seinem Leben einen Prozess geführt und wusste gar nicht, was das ist, und [es] interessierte ihn auch gar nicht. Es interessiert die Soldaten überhaupt nicht. Das Schlimme bei Schleicher war: Im Grunde interessierte ihn das auch nicht. Er hat mir tatsächlich mal gesagt, ich fragte ihn mal zufällig (ich konnte ja auch nicht einfach immer so zu Schleicher laufen, aber ich traf ihn mal bei einer Gelegenheit, und Ott war dabei, und dann fragte ich), ob er den Fall vorgesehen hätte, dass wir den Prozess verlieren, das war so, wann wird das gewesen sein, September, Oktober. Und dann lachte er so und sagte in seiner so etwas leutnantshaften Weise: „Dann gehört die ganze Gesellschaft an die Wand gestellt!“ oder sowas. Das nahm er gar nicht ernst. Ich habe mal mit François-Poncet später darüber gesprochen, der sagte, Schleicher war ein ungebildeter Mann. Das meinte er nicht so, wie es vielleicht im Deutschen klingt. Aber ich kann mir denken, vom Standpunkt eines derartig gebildeten Mannes, vom Standpunkt eines französischen Botschafters in Berlin, der Goethes ,Wahlverwandtschaften‘ vorbildlich ins Französische übersetzt hat, war Schleicher eine sehr einfache Kadetten- und Leutnantsfigur. Er wusste aber auch die guten Seiten von Schleicher zu schätzen. Er hat ihn ja nochmal getroffen, einige Male nach dem. . . Das ist ja auch Schleicher zum Unglück geworden.[40] Aber ich spreche ja von Hindenburg. Diese Einfachheit, dieses, ich habe mal in einer Glosse zu einem Aufsatz über die Abhandlung ,Legalität und Legitimität‘ gesagt: „dieses Unzeitige und fast Unzeitliche dieses alten Mannes.“[41] Das halte ich für eine sehr gute Formulierung, ich weiß nicht, ob sie von mir stammt oder von wem, aber ich habe sie behalten, und sie ist irgendwie mal in einem Gespräch entstanden. Der Mann war nicht nur unzeitgemäß, sondern der war schon so alt, dass er jenseits der Linie war, wenn Sie von Zeit in diesem Sinne sprechen, dieses Element, in dem wir uns bewegen. Jetzt ist also das dritte Trauma: der Prozess in Leipzig.[42] Ich wollte eben erzählen, wie wir nun nach Leipzig fuhren. Es ist übrigens ein Glück: Da habe ich Arnold Brecht, den juristischen Führer der Gegenseite, getroffen, und wir haben uns in der Bahn unterhalten, ich weiß nicht, wo das war, zwischen Leipzig und irgendeinem anderen. . . Arnold Brecht hat das im Band 2 seiner Erinnerungen, der ist 1967 erschienen, unter dem Titel ,Mit der Kraft des Geistes‘ (diesen Titel hat der Band 2) erzählt, richtig erzählt.[43] Das ist wahr, ich komme vielleicht nachher nochmal auf diese Mitteilung von Brecht zurück, denn dessen Zeugnis kann man ja nicht bestreiten in diesem Punkt. Und Brecht fuhr nach Leipzig, und wir fuhren auch nach Leipzig, und da hatte uns vorher. . . Später stieß noch Bilfinger. . . und Jacobi wohnte ja in Leipzig – wir waren zu dritt, Bilfinger, Jacobi und ich, das waren die drei juristischen Berater der Reichsregierung; der offizielle Vertreter der Reichsregierung war der Ministerialdirektor Gottheiner. Wir waren nur wissenschaftliche Berater, was dahinter steckt, muss ich nachher halt auch noch erzählen.[44] Ich erwähne den Brecht, weil mir etwas anderes zwi-
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schendurch einfiel. Ich wollte zunächst mal erzählen, wie wir nun da abfuhren, war alles [in] unendlichen Gesprächen überlegt: solche Haufen Akten, solche Haufen Material. Und da ließ uns Hindenburg sagen (wenigstens teilte uns das der Major Marcks mit, der Reichspressechef): „Blamieren Sie mich nicht vor den Amtsrichtern in Leipzig!“ Das war so alles, das war der Horizont, in dem er das bis dahin sah. Staatsgerichtshof – das kannte er ja überhaupt nicht. Das können Sie sich gar nicht vorstellen, wie fern und fremd ihm diese Welt war der Prozesse. Und was ich eben erwähnen wollte, ist meine eigene Allergie gegenüber Prozessen, weil ich eines weiß, was leider noch von keinem großen Rechtstheoretiker, auch nicht von Kelsen oder irgendeinem Rechtsphilosophen oder Rechtswissenschaftler, wie man die Leute nennen will, was bisher versäumt worden ist, mal richtig zum Allgemeinbewusstsein zu bringen: Wenn schon heute jeder Physiker (wenn er Heisenberg. . . ) weiß, dass das Erkenntnisinstrument das Objekt verändert – in der Naturwissenschaft! –, wie soll dann erst der Prozess (denken Sie sich mal dieses komplizierte Verfahren, und nun noch eines riesigen Staatsgerichtshofprozesses mit Dutzenden von Leuten, die da in allen möglichen Formen auftreten, als Ankläger, Verteidiger, Gutachter, Regierungsvertreter, Beobachter, Publikum im Hintergr[und] usw.), wie soll denn ein solches Erkenntnisinstrument, um die Wirklichkeit und die Wahrheit zu erkennen, nicht den Gegenstand verändern?![45] Wenn etwas den Gegenstand verändert, ist es der Prozess, das hat man auch in den Nürnberger Prozessen gesehen. Das ist doch das allererste, was ich mir sagen muss, vor allen Dingen selbstverständlich über hochpolitischen Dingen, wenn ich überhaupt mit diesen Mitteln der Erkenntnis und der Wahrheitsfindung auftrete. Dieses Gefühl des alten Hindenburg, das war im Grunde das Gefühl Millionen normaler Menschen, die einfach nicht gern mit dem Gericht zu tun haben. Mit dem Gericht hat man nicht gern zu tun. Die Zeiten kann man sich vielleicht heute nicht mehr vorstellen. Nun, ein Kommandierender General, was hat der überhaupt mit dieser Welt der Prozesse zu tun? Der hat bestenfalls, wenn er mal in der Provinz der Kommandierende General war, den Oberlandesgerichtspräsidenten seines Standorts kennengelernt. Und dann hat er seine Militärjuristen da, aber das waren ja schließlich seine Untergebenen. Und dann war er der Oberste Kriegsherr. Wie konnte der überhaupt die Welt der zivilen Gerichtsbarkeit und diese. . . Die kannte er nicht, und er hatte nichts damit zu tun. Bis dahin hatte er sie auch nicht gefürchtet. Nun, man kann nicht sagen, dass er furchtsam war, aber nachdem der Prozess zu Ende gegangen war. . . Hätten wir den Prozess hundertprozentig gewonnen, dann hätte er das für ganz selbstverständlich befunden, hätten wir ihn hundertprozentig verloren, hätte er gesagt: „Schlechte Berater.“ Nun hatten wir ihn ja, der Prozentsatz ist schwer auszurechnen, nach Artikel 48 Absatz 1, Reichsexekution, hatten wir ihn verloren. Ergebnis: Das Kabinett Braun blieb preußisches Kabinett und blieb die Vertretung im Reichsrat oder sonst. . . [Nach] Artikel 48 Absatz 2, Ausnahmezustand, Diktatur, haben wir den Prozess hundertprozentig gewonnen.[46] Die blieben alle im Amt, der Reichskommissar Papen usw. und die von Papen eingesetzten Beamten in der Zwischenzeit. Da
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waren ja ganze Revirements gemacht worden, vor allem in der Verwaltung, Regierungspräsidenten abgesetzt und so, neue. . . alles aber nur kommissarisch, das blieb aber unangetastet. Es war nun wirklich schwer zu sagen, wer. . . Jede Par. . . Wir hatten keine Presse, außer der ,Deutschen Zeitung‘ stand uns als Reichsregierung eigentlich keine Presse. . . Und die ,Tägliche Rundschau‘, das war mehr das Blatt von Schleicher selbst. Die ganze übrige Presse, die bürgerlich-liberale Presse, die Zentrumspresse, weil die Zentrumsminister, weil die demokratischen Minister, weil die sozialdemokratischen Minister, Severing, die am 20. Juli von Papen abgesetzt worden waren, waren natürlich alle uns feindlich gesinnt. Die schrien, sie hätten den Prozess gewonnen, weil ja die Regierung Braun als preußische Regierung anerkannt blieb. Diese salomonische Teilung des Kindes, die sich der Staatsgerichtshofspräsident in seiner juristischen Vorsicht und salomonischen Weisheit geleistet hat, die wirkte sich verheerend aus auf die weitere Situation.[47] Das haben sie alles vergessen. Das war nun der Geist. Da kamen nun neue Zerrereien. Niemand macht sich eine Vorstellung von dem Gezerr, das da entstand: Wer ist dafür zuständig, wer ist dafür zuständig? Die ganze Presse, wenn Sie die Presse in der Zeit von Ende Oktober fast bis zur Ernennung Hitlers lesen: immer neue Prozesse, neue Notverordnungen nach Artikel 48. Das ist übrigens auch in dem Buch von Arnold Brecht, im Band 2 seiner Erinnerungen 1967, sehr schön geschildert und exakt.[48] Damit können wir uns hier nicht aufhalten. Aber Sie müssen mir glauben, das war ein Wirrwarr, der wurde allmählich jedem zu viel, egal von welcher Seite. Nun, der alte Mann kannte sich überhaupt nicht mehr aus. Wenn Sie dem schon mit Absatz 1 und Absatz 2 kamen, hatte er zu viel. Und dem nun juristische Vorlesungen halten, war hoffnungslos. Aber, ja was heißt denn nun der Eid auf die Verfassung? Nun konnte er sich ’nen Kommentar von Anschütz kaufen.[49] Na, lesen Sie mal die damalige 14. Auflage, was da alles drinsteht, und lesen Sie das maßgebliche Handbuch des deutschen Staatsrechts von 1932, da stehen die zwei Bände immer noch in meiner Bibliothek vorn. Alle wichtigen Fragen der Präsidialregierung: Kann der Reichspräsident einen Minister, dem der Reichstag das Misstrauen ausgesprochen hat, nochmals ernennen oder kann er ihn wenigstens noch in der Geschäftsführung belassen usw., alles war streitig. Innerhalb des Handbuches sind Widersprüche der Herausgeber selbst, Richard Thoma (zwei Herausgeber Anschütz, Thoma), der teilt seinem Leser mit, in dem Abschnitt über Reichsregierung und Präsidialregierung, der Leser brauche sich nicht zu wundern, wenn er in einem andern Abschnitt des Handbuches die ganz gegenteilige Theorie über die Zulässigkeit von Auflösung etc. findet.[50] Das war nun die Verfassung. Was wollen Sie nun einem alten Mann sagen, der sagt: „Ich hab bei Gott einen feierlichen Eid auf die Verfassung. . .“ Vergessen Sie doch. . . Warum vergisst man sowas, warum? Ich spreche hier von meinen juristischen Kollegen, die müsste das doch interessieren. In dem Buch von Heller, das mir neulich mal in die Hände fiel (wie heißt es, da ist es gleich, kann es verifizieren), da macht Heller, der ja klug war, auch politisch klug, Hermann Heller. . .
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Dieter Groh: Der aber auf der Gegenseite stand? Carls Schmitt: Der stand auf der Gegenseite und hat da mächtig „Hört, hört!“ geschrien in dem Prozess, wenn ich was sagte. Also dieser Hermann Heller schrieb damals, 1925: „Das ist der Triumph der nationalen und das heißt demokratischen Legitimität über die dynastische“, nicht wahr, „Legitimität“. [51] Das war vollkommen richtig. Der Eid Hindenburgs – na, wenn er das gehört hätte, hätte der alte arme Hindenburg auch nicht mehr gewusst, wo er ist. Er hätte nur gesagt: „Hab dem Kaiser einen Eid geschworn, jetzt hab ich. . .“ So tief, das hätte ihn ja noch. . . Damit wäre er ja gar nicht fertiggeworden, der Mann. Und nun kommt er auf einmal in die Situation, dass von allen Seiten her ihm gedroht wird: „Wenn du das nicht tust, machen wir wieder einen Prozess.“ Der Mann musste ja verrückt werden. Wenn er sagte: „Was ist nun die Verfassung, zum Kuckuck?“ und dann fragte er natürlich erst mal den Meißner, seinen Staatssekretär Meißner, der hatte eine bestimmte Meinung. Das genügte dem Alten aber nicht, dann wurden andere gefragt (wie ich hörte, das konnte ich nicht kontrollieren). Da war ja ein Verfassungsministerium, da musste er ja den Reichsinnenminister fragen. Wer war das damals? Gayl war später. Wieder ein anderer? Na, den der, soviel ich weiß. . . Mit dem habe ich auch gar nichts zu tun gehabt in dem Prozess, ich habe mit dem Staatssekretär Zweigert, ausschließlich mit Zweigert über die Sache verhandelt. Hindenburg, dessen Gewährsmann, dem glaubte er einfach, war ein Joël, er war, glaube ich, Reichsminister der Justiz zweimal gewesen. Der war dann später wieder ins Ministerium zurückgekehrt. Mir wurde gesagt: „Wenn es Ihnen gelingt, Joël zu gewinnen, das glaubt der Alte, dann weiß er: Das ist die Verfassung, das hab ich beschworen, das tue ich.“ Aber sicher war man auch nicht. Kurzum, sitzt auf einmal ein einfacher 85-jähriger alter Soldat (de Gaulle ist mit 80 Jahren gerade gestorben) und steht nun vor dieser Frage, und das ist auch eine Seite der Sache, die eigentlich nur in einer Zuschrift von Brüning nach 1945 mal richtig hervorgehoben ist, die ich aber immer gewusst habe (aber niemand will sie einem abnehmen), und Marcks wusste es, und Ott wusste es auch. Ja, wen fragte er also in diesem Durcheinander? Worauf Brüning in einer leider zu wenig – auch von Bracher viel zu wenig – beachteten Zuschrift 1950 oder ’52, in irgendeiner Zeitschrift (man kann es leicht verifizieren auch bei Bracher und so), worauf Brüning hingewiesen hat, und eigentlich sonst niemand außer mir, in einer Glosse in meinen ,Verfassungsrechtlichen Aufsätzen‘ von 1958, wird natürlich auch allgemein ignoriert: Da sieht man eigentlich den unheimlichen und sehr bösartigen Instinkt von Hitler und der Presse damals.[52] Die bohrten in dieser Wunde. Die sagten: „Der hat seinen Eid auf die Verfassung ge[brochen]. Wenn er Hitler nicht ernennt, wir werden den Staatsgerichtshof anrufen. Das ist ein Verstoß gegen die parlamentarische Prinzip. . .“ Die schrien nur: „Wir werden Prozesse führen und Prozesse führen!“ Der Alte fragte immer: „Kön-
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nen sie denn das?“ Ja, da musste nun jeder sagen, ob das Meißner war oder ob das Joël war oder wer es war, der musste sagen: „Ja, das können sie immer, Prozesse führen. Wenn sie die Mehrheiten haben im Parlament, können sie auch eine Anklage machen, eine Präsidenten-Anklage machen wegen Verstoßes gegen die Verfassung. Das kann man.“ Die Antwort musste ja jeder Jurist geben, das steht ja in der Verfassung; habe die Ziffer des Artikels nicht im Kopf,[53] aber das ist ja gar nicht die juristische Frage, die er meinte. Aber ihn interessierte: „Kann man mir überhaupt einen Prozess machen?“ Wenn man antwortete „Ja“, dann fragte er schon nicht weiter: „Garantieren Sie mir, dass ich den Prozess gewinne?“ Kein Jurist garantiert Ihnen in einer solchen politischen Lage, ob er den Prozess gewinnt. Kurzum, ich möchte Ihnen die Situation klarmachen des alten Mannes. Das ist nicht Psychologie und Psychoanalyse, damit kommen Sie nicht weiter, sondern das ist ’ne echte, einfache, ganz klare menschliche, politische Situation eines solchen alten Generals, der will es richtig machen – aber kein Mensch sagt ihm, was richtig ist. Verstehen Sie? Ich darf mal eine kleine Digression hier mir erlauben: Heute morgen sprachen wir davon, dass ich viele Konvertiten erlebt habe, so bis vor einigen Jahren, und viele kamen zu mir. Ich bin kein Beichtvater und kein Seelsorger und will es auch nicht sein, ich hab denen meistens. . . Die meisten sagten aber: „Ja, in der katholischen Kirche weiß man doch, wo man dran ist. Bei der evangelischen Kirche, das ist ja ein Durcheinander, da weiß ja kein Mensch, also, Auferstehung Christi, ist das nun der Bultmann? Was ist denn nun da der wahre Glaube? In der katholischen Kirche weiß ich exakt, wo ich dran bin.“ Nun, ich habe damals schon aufgrund meiner eigenen Erfahrungen diesen Leuten geantwortet. Es leben noch welche, die sich daran erinnern. Wenn Sie mal so lange katholisch sind wie ich, dann werden Sie vielleicht nicht mehr so sprechen und sich nicht so darauf verlassen, dass Ihnen in jeder Situation einfach und klar gesagt wird: „Tue das, also tue ich es“, nicht wahr, wie der Hauptmann von Kafernaum.[54] Das ist ja das ewige Ideal dieser Art Anständigkeit eines Soldaten. Ich weiß, was ich zu tun habe, nämlich das, was mir befohlen wird. Das war die Situation dieses Alten, der geriet auf einmal in diese Lage. Aber, ja was soll er nun tun? Ich bitte doch all die Leute, die nun besser wissen wollen, was er hätte tun sollen und was er. . . Und die sagen „ein seniler Geistesschwacher“ und sowas. Nein, das war er nicht, der war gebrechlich, ein alter Mann. Aber die ungeheuere Einfachheit, die darin liegt, dass der Mann sagt: „Sagen Sie mir bitte, was ist zu. . . Was ist verfassungsmäßig?“
Band 3: Warum hast du mitgemacht? Kapitel 13
Legalität statt Legitimität Carl Schmitt: Was stand denn nun eigentlich in der Verfassung? Was hätten Sie dem alten Mann geantwortet? Was soll er denn nun eigentlich tun? Der Reichstag, wir sprechen ja jetzt allmählich von den letzten Wochen, der neu gewählte Reichstag hatte eine aus Kommunisten und Nationalsozialisten zusammengesetzte überwältigende Mehrheit. Ja, das war eine schöne Sache! Die fanden sich mal, mal lieferten sie sich blutige Straßenschlachten, je nachdem; machten einen gemeinsamen Verkehrsstreik, machten gemeinsame Amnestien. Es ist ja eigentlich unvorstellbar, nicht? Und in der Situation eine parlamentarische Regierung zu verlangen, das glaubt ja heute niemand mehr. Nun, der Papen hatte sich derartig abgewirtschaftet, das war ja nicht mehr zum Ansehen, trat schließlich zurück, und schließlich musste Schleicher da Anfang Dezember 1932 selber die Reichsregierung übernehmen.[1] Das habe ich übrigens mit Ott genau durchgesprochen. Es war ja billig, da Bedenken zu haben und vorzutragen und zu entwickeln, dass der Reichswehrminister, ein aktiver General, gleichzeitig Reichskanzler ist. Das war ja für alle normalen Begriffe von westlicher Demokratie eine gradezu horrende Sache! Ich fand grade noch einen Brief, den ich im Dezember an Ott geschrieben habe, [blättert] da fiel mir nachträglich noch etwas ein, anlässlich des Stellvertretergesetzes damals – das konnte ja gar nicht gutgehen.[2] Und vor allen Dingen die Sozialdemokratie, auf die sich Schleicher Hoffnungen machte und machen konnte, denn da hatte er sehr bedeutende Sympathien, auch bei Otto Braun. Otto Braun wollte ja diese ganze verwirrte Lage, die durch das Urteil des Staatsgerichtshofs entstanden war, benutzen, und Schleicher wollte sie auch benutzen, um eine Annäherung: Regierung Schleicher zu den Gewerkschaften, von den Gewerkschaften her zur Sozialdemokratie zu machen. Das kennen Sie aus der Verfassungsgeschichte, das ist nicht gelungen. Der andere Versuch einer Spaltung – die Nationalsozialistische Partei zu spalten durch Gewinnung von Strasser für eine Regierung – ist Schleicher auch nicht gelungen.[3] Das waren aber alles durchaus seriöse Ansätze, das darf man heute nicht vergessen. Ich besitze sogar noch einige Briefe von Franz Neumann. Ich weiß nicht, ob Ihnen
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das noch ein Name ist, der war damals Anwalt und Berater der Gewerkschaften in Berlin, war auch vorher in meinem Seminar gewesen an der Handels-Hochschule, und der war durchaus für eine solche Möglichkeit und für. . .[4] Die sind da außerordentlich weit entgegengekommen. Aber das spielte sich ja alles in einer so vergifteten Atmosphäre ab! Kurzum, der Alte fragt: „Was soll ich nun machen?“ Er hatte genug von Artikel 48, er wollte zum Parlamentarismus zurück. Was heißt denn Parlamentarismus? Das heißt Regierung einer Mehrheit, die eindeutig das Vertrauen des Reichstags hat. Die Mehrheit des Reichstags war eine aus Kommunisten und Nationalsozialisten zusammengesetzte, sich gegenseitig Straßenschlachten liefernde Mehrheit. Ja, also man denke sich doch nur einen Augenblick mal in diese Lage zurück – und da übernahm Schleicher die Regierung: die undankbarste Rolle, die jemals, glaube ich, einer übernommen hat, und nun auch noch ein General. [Ich] erinner’ mich noch des ausführlichen Gespräches mit Ott über die Sache. Wir fuhren zusammen in seinem Wagen nach Werder an der Havel und aßen da zu Mittag, damit wir nicht irgendwie abgehorcht wurden. Aber zu raten war da ja gar nicht viel, weil, das suchte ich ihm auch klar zu machen, so viele Gewerkschaften auch sympathisierten mit Schleicher, ehrlich, und wussten, er verdiente. . . er wollte etwas Vernünftiges im Vergleich zu Papen oder Hugenberg und diesen Leuten. Diese Sympathien nutzten Schleicher sehr wenig, weil eine rein doktrinäre oder ideologische Vorstellung sich im entscheidenden Augenblick durchsetzte, und zwar vor allem durch Breitscheid. Ich hatte einige Zeit vorher mal mit Breitscheid ein nächtliches Gespräch bei einer gemeinsamen Bekannten.[5] Ich muss sagen, bei allem Respekt, den man dem Mann schuldig ist: diese Verbissenheit! Er war ja in dem Sinne kein Proletarier, war typisch bürgerlicher Ideologe, und für ihn hörte überhaupt die Weltgeschichte auf, wenn schon der Wehrminister kein Zivilist, sondern ein General war. Das war schon ein Zeichen, dass hier überhaupt keine Büro. . . keine Demokratie und nichts ist. Nun soll dieser selbe General, der auch womöglich noch in Uniform erschien, er soll also noch Reichskanzler werden. Das brachten die nicht. Es gibt gewisse Dinge, die gehen einfach nicht. Aber das war die eine Seite der Sache. Die hoffnungslose Situation von Schleicher, die stellte sich allmählich heraus. Er war aber noch optimistisch, weil er Papen eigentlich. . . Die Wiederkehr Papens war seine Gefahr, die hielt er bis Mitte November einfach nicht für möglich. Die lachten einen einfach aus, wenn man hörte, der Papen war inzwischen am 4. Januar bei dem Baron Schröder, und das ist gefährlich. Im Anschluss an meinen Vortrag vom 18. Januar 1933 bei der Reichsgründungsfeier hat mich hinterher noch François-Poncet gewarnt, hat mich nochmal vor Papen gewarnt.[6] Er wusste besser Bescheid, aber Ott lachte einfach und sagte: „Der Mann ist doch derartig tot, dieser Papen, in welcher Form soll der überhaupt wieder auferstehen?“ Aber nun, Sie wissen ja, wie es gekommen ist. Wir wollen bei unserm Thema bleiben, dass der alte Hindenburg fragte: „Was steht denn eigentlich in der Verfassung hier, wen soll ich denn ernennen? Nennen sie mir einen (ich ernenne ihn sofort!), der eine Mehrheit
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hat, eine regierungsfähige Mehrheit.“ Dass die Mehrheit, eine aus Nationalsozialisten und Kommunisten zusammengesetzte Mehrheit, keine regierungsfähige Mehrheit ist, das glaubt ja wohl jeder, und ich wüsste niemand, der das bestritten hätte. Das brauchen wir hier nicht zu erörtern. Das war die Situation, vergessen Sie nicht, wir sprechen von dem Eidestrauma. Ich sage absichtlich Trauma, das soll nichts Psychoanalytisches sein, sondern das heißt einfach eine Wunde, eine Sache, über die man nicht redet, die einen aber zu einer bestimmten Art von Handeln zwingt, innerlich zwingt. Das war hier die Treue, wenn Sie das so nennen wollen, zur Verfassung. Braucht man gar nicht pathetisch sein – er tut nichts, was Anlass, Grund sein könnte, ihm eine Verfassungswidrigkeit vorzuwerfen. Nun nähere ich mich allmählich dem Punkt, auf den ich das ganze Gespräch führen will, und da möchte ich also bei dem Artikel 25 Absatz 2 der Reichsverfassung ansetzen. Es handelt sich natürlich um die Auflösung des Reichstags. Nun, aufgelöst ist der Reichstag schnell, aber was macht man dann? Nicht nur: ,Was kommt dann?‘, sondern: ,Was macht man?‘, ,wer löst auf?‘ usw. Ich selber hatte doch im Sommer 1932 schon in ,Legalität und Legitimität‘ ausdrücklich diese Theorie von den politischen Prämien auf dem legalen Machtbesitz aufgestellt und hatte darauf hingewiesen, im Hinblick auf die Situation ’32: Einen Nationalsozialisten oder einen Kommunisten zum Reichskanzler ernennen – das ist verfassungswidrig. Das stand in der ,Täglichen Rundschau‘, sowas wird ja nicht von den heutigen Zeithistorikern zitiert, ich kann’s Ihnen aber zeigen, ich hab die Nummer sogar noch. Und George Schwab zitiert es auch.[7] Ich will mich hier nicht beschweren, aber ich begreif ’ es nicht, wie so etwas verschwiegen und totgeschwiegen werden kann. Da steht aus-drücklich in einer Schlussbemerkung: Man soll sich überlegen, was man tut, wenn man an die politischen Prämien auf dem legalen Machtbesitz denkt, wenn man einen Nationalsozialisten oder einen Kommunisten zum Reichskanzler ernennt.[8] Was das heißt? Das heißt praktisch, ihm die Reichswehr und die Polizei in die Hand geben, und das heißt noch vieles andere, das ganz selbstverständlich, aber da handelt es sich ja vor allen Dingen um die Polizei. Das alles bekommt sofort ein anderes Bild, wenn Sie’s mit diesem Artikel 25 Absatz 2 der Reichsverfassung in Verbindung bringen. So weit. Die Leute dachten damals nicht weit, aber ganz nah haben sie auch nicht gedacht. Über den Punkt dachten sie immer hinweg. Nämlich: Sie dachten nicht daran, und das konnte man auch, ich hab’s gesagt, aber die hörten ja nicht, die mussten ja ununterbrochen verhandeln usw., dieses Problem der politischen Prämien auf dem legalen Machtbesitz bekommt seine eigentliche Bedeutung erst durch die Auflösung des Reichstages im Zusammenhang mit der Frage: „Wer hat während des Wahlkampfes für den neuen Reichstag die politischen Prämien auf dem legalen Machtbesitz in der Hand?“[9] Das ist die Frage: „Wer löst auf?“ Wer löst auf: der Reichspräsident – aber durch welchen Reichskanzler? Und die weitere Frage: „Wer bleibt während der 60 Tage, während des Wahlkampfes, wer hat da legal die Reichswehr und die Polizei und alles weitere in der Hand?“ Ich freue mich, dass ich das endlich mal so jemand sagen kann, es will ja niemand hören, aber es ist absolut entscheidend.
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Das war die Lage Schleichers. Und in dieser Lage gab es nur einen sicheren Punkt: Der Reichstag wird aufgelöst. So doll die Situation war, das war kein Kunststück, Reichstag auflösen, aber die Frage war: „Wer löst ihn auf?“, das heißt: Wer hat während der 60 Tage bis zur Neuwahl diese politische Macht in der Hand? Sehen Sie, in Artikel 25, ich muss das noch schnell wiederholen, das ist für Sie kein Wort, da steht der Reichstag wird also aufgelöst: „Der Termin für die Neuwahl muss binnen 60 Tagen“, das sind die 60 Tage, „gleichzeitig mit der Neuwahl gestellt werden.“[10] Das war bisher auch immer korrekt geschehen. Nun wollten die im Hinblick auf die turbulente Lage, auf die wirklich chaotische Lage im damaligen Deutschland, die wollten auflösen. Papen wollte auflösen; die Deutschnationalen, [das] war Hugenberg und viele andere, die riefen nach Auflösung unter Missachtung dieser Vorschrift des Artikel 25 – also ohne Bestimmung eines Termins für Neuwahlen. Sie sehen (ich muss Ihnen das leider auseinandersetzen) vielleicht nicht gleich, was das bedeutet für den Zusammenhang mit Eidestrauma. In diesem fürchterlichen Durcheinander, wo man schließlich auch nicht wusste, was steht denn in der Verfassung – der Fall war gar nicht vorgesehen einer derartigen Mehrheit von Nationalsozialisten und Kommunisten –, was steht für diesen Fall in der Verfassung? Da steht gar nichts in der Verfassung! Aber eine Sache stand drin: Man darf nicht auflösen, ohne für einen Zeitraum von 60 Tagen, binnen 60 Tagen, den Termin für die Neuwahl zu setzen. Und in aller Ungeniertheit forderte Papen und forderte Hugenberg Auflösung ohne termingerechte Bestimmung einer Neuwahl. In dieser Lage war die Situation so (daher meine Ausführungen von vorhin), dass der einfache Mann, der fragt: „Was steht in der Verfassung?“. . . Das alles: Was heißt heute parlamentar. . . alles war ja umstritten, alles, alles war unklar, auch die rein juristisch-verfassungsrechtliche Literatur – von allen Seiten. Eins stand aber fest. Jetzt kommt also das ganz Einfache. Der Termin, der Kalender stand fest. Was 60 Tage sind, was der Tag der Auflösung ist, das kann jeder, der einen Kalender an der Hand hat, sich ausrechnen; dass binnen zum soundsovielten März, wenn ich also, sagen wir, Ende Januar auflöse, dass dann so in der ersten Märzwoche, allerallerspätestens die Neuwahl stattfinden muss. Wenn ich diesen Termin nicht bestimme für die Neuwahl, verstoße ich klar gegen die Verfassung. Das können Sie dem einfachsten Mann klarmachen. Da brauchen Sie nur bis, Sie brauchen nichtmal bis 60 zählen zu können, Sie können ja am Kalender sehen, wieviel das ist. Dass ein Reichspräsident, der auflöst, ohne die Neuwahl zu bestimmen, den Termin für die Neuwahl binnen 60 Tagen zu bestimmen, dass der verfassungswidrig handelt, das sieht jeder ein. Das Interessante ist: In dem Punkt waren also der juristische Führer der Gegenseite in dem Prozess Preußen-Reich, Arnold Brecht, und ich einer Meinung. Ich hatte eine bestimmte Theorie der Auslegung des Artikel 48, die sehr weit ging; sie ging sehr weit, aber in einer anderen Hinsicht war die außerordentlich präzise. Das organisatorische Minimum des Reichstags, das durfte der Reichspräsident nicht antasten. Das steht schon in meinem Buch ,Die Diktatur‘, das stand schon in meinem Referat von 1924 auf dem ersten Staatsrechtslehrertag in Jena.[11] Ich habe immer
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ausdrücklich gesagt: Alles Mögliche darf er, Maßnahmen der ungeheuerlichsten Art, aber den Artikel 25 Absatz 2, das gehört zu diesem organisatorischen Minimum – er darf nicht den Reichstag auflösen, ohne eine Neuwahl zu bestimmen. Und jeder, den. . . Ich weiß nicht, wen er gefragt hat. Das wusste Meißner, das wussten sie alle, das wusste auch die Gegenseite, ich hab ja auch nie einen Zweifel gelassen. Das war eigentlich der einzige Punkt, der in diesem Durcheinander feststand. Und nun kommen die Leute und auch seine Freunde, Papen und so, sein Sohn Oskar, sagen: „Das ist Notstand, das ist Verfassungsnotstand.“ Tja, Verfassungsnotstand. Ich habe nie davon gesprochen; das war ’ne andere Ebene: Verfassungsnotstand.[12] Notstand, Not kennt kein Gebot. Er hatte seinen Eid auf die Verfassung geschworen. In der Verfassung stand es, keine Auflösung ohne Neuwahl binnen 60 Tagen. Wie gesagt, grade diese einfachen Kalenderbestimmungen, die in einer Verfassung stehen (man denkt, dazu brauche ich kein Jurist zu sein, um das zu verstehen), das werden dann auf einmal, wenn man die Fragen so stellt: nach der unbestreitbaren Legalität, die entscheidenden Fragen. Und das war hier die entscheidende Frage, und deren hat sich sofort Hitler bemächtigt. Und das ist erstaunlich, ich erinnere mich noch, dass er irgendwie schon Anfang Januar oder um Weihnachten herum zwei Bedingungen stellte. Er sagt, er nimmt die Reichskanzlerschaft nur an unter der Bedingung: erstens Neuwahl binnen 60 Tagen, zweitens Ermächtigungsgesetz. Hat er von Anfang an gesagt. Das ist Rückkehr zum Parlamentarismus. Auf einmal war er der Hüter der Verfassung.[13] Auf einmal waren die Rollen vertauscht, und jeder, der davon abweicht, der stieß auf diesen in dem Moment unüberwindlichen Punkt bei dem Alten, in dem Kopf des Alten. Da war also nichts dran zu ändern. Nun war doch, sollte man meinen, für Schleicher das auch einfach zu sagen: „Nun lösen wir auf und bestimmen wir einfach den Termin. Wir können ja später sehen, was wir machen. Wir wissen ja gar nicht, wie die Sache weiter läuft und was in 60 Tagen ist.“ Das tat er nicht. Das war ihm nicht. . .[14] Weiß ich nicht, mir lag nur. . . Ich habe an nichts anderes mehr gedacht als folgendes: Es handelt sich nur darum, dass Schleicher auflöst, und er hat gemeint, das hat er. Er hatte sich nämlich das damals, Anfang [Dezember], wie er die Kanzlerschaft übernahm, hat er das begriffen oder anscheinend. . .[15] Ich weiß es nicht, Ott versicherte es mir. Jedenfalls, die Kanzlerschaft hat er übernommen, Anfang Dezember ’32, mit der ausdrücklichen Bedingung: „Ich nehme das nur an, wenn Sie mir“, also der Reichspräsident, „die Auflö. . .“ also ihm die Auflösungsvollmacht geben. Ihm, Schleicher. Das war so gedacht: Der Reichstag wird aufgelöst, und für die 60 Tage bleibt Schleicher der geschäftsführende Reichskanzler. Das heißt, die Reichswehr und die Polizei wurde nicht in die Hände eines anderen gegeben.[16] Wenn man einen besseren gefunden hätte als Schleicher, hätte man ihn gern genommen, aber wer sollte das denn machen? Brüning wollte es nicht, der hätte es nicht getan, es war ja alles schon so verwirrt. Schleicher war allmählich bei allen unmöglich geworden. Kurzum, es spitzt sich auf einmal zu. Nun hatte Schleicher ein sonderbares Vertrauen auf das Wort des Alten, Hindenburg. Und der Alte hat ja
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noch, das kann man bei Bracher lesen, noch bis zum 26. spätestens gesagt: „Sie können sich darauf verlassen, den ernenne ich nicht.“[17] Da gibt es ja alle möglichen Äußerungen. Ob die vom Wortlaut stimmen. . . Aber der Sinn war der, Hitler [richtig: Hindenburg] hat jedem gesagt: „Sie können sich drauf verlassen, diesen Hitler ernenne ich nicht.“ Und darauf verließ sich zunächst Schleicher. Er meinte, das bedeutet, er – Hitler – hält sein Wort in dem Sinne, dass Schleicher, wenn’s zum Extrem kommt, die Auflösungs. . . Dieter Groh, Klaus Figge: Hindenburg, Hindenburg! Carl Schmitt: . . .Hindenburg hält sein Wort, dass Schleicher, wenn es zum extremen Fall, zur Auflösung wieder kommt (das ließ sich voraussehen, dass das unvermeidlich war), dass dann Schleicher auflöst, und in der Zeit des Wahlkampfes behalten sie das alles in der Hand. Und da ergab sich die Situation, dass Schleicher selber irre wurde durch das Geschrei von Notstand. Er hat aber, soviel ich weiß, das Wort ,Notstand‘ nicht gebraucht, er meinte nur, wenn ’se alle schreien, kann man doch keinen neuen Termin bestimmen. Er hat irgendwie in dem Punkt geschwankt, und nun wollte man ihn aber auch. . . Das ergibt sich. . .[18] Ich hab ihn in der ganzen Zeit nicht mehr, in diesen letzten Tagen gar nicht persönlich gesehen, und es war ja auch gar nichts zu machen. Ich erinnere mich nur, dass ich am 27. abends bei Marcks im Hause eingeladen war. Es sind da noch viele andere interessante Notizen in meinem Tagebuch [blättert], aber am 27. Januar ’33 abends war ich bei Schleicher [richtig: Marcks] zum Abendessen, meine Frau war krank und lag zu Bett, und ging dann zum Schleicher [richtig: Marcks], und da war noch ein Vetter von ihm, ein Verwandter von ihm, ein Konsul Aschmann und Frau, zum Abendessen. Ott war nicht dabei, und ich war eigentlich der einzige von dieser. . . Und Marcks war also tief deprimiert und sagte wörtlich: „Der Hindenburg-Mythos ist zu Ende, das ist ein schauerlicher Zustand, Schleicher muss zurücktreten oder ist schon zurückgetreten (offiziell war das noch gar nicht so weit, das wurde erst am 28. bekannt), und Papen oder Hitler kommt, der Alte ist verrückt geworden, eine lächerliche Mac-Mahon-Figur.“ Das sagte mir Marcks.[19] Ich konnte gar nicht ahnen. . . Bin ich da also tief deprimiert nach Hause gegangen, weil. . . Auch dieser Vergleich mit Mac Mahon ist so interessant. Ich sagte ihnen, glaube ich, schon, was Marcks für ein gebildeter Mann war und wie der mit ein paar solchen historischen Parallelen die Situation erfasste, das ist vollkommlich. Er sagt, der Mythos ist, wörtlich, der Hindenburg-Mythos ist zu Ende – also das ist ein Mac Mahon. Ich will hier nicht zu sehr, nun, was später kam und die einzelnen Tage. . . Man könnte eine sehr interessante Blütenlese machen aus den Versicherungen, die Hindenburg vorher gegeben hat, und selbst Bracher, den ich zu diesem Zweck nochmal durchgelesen habe, [blättert] der sagt immer von neuem, es ist schwer zu sagen, warum eigentlich die letzte Hemmung Hindenburgs gegen Hitler
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entfallen ist. Bis also kurz vorher hat er doch immer gesagt: „Den Mann ernenne ich nicht.“ Dann sagt er an einer Stelle: „Die jetzt folgende Schwenkung“, am 28., nämlich von der Wiederernennung Papens zur Ernennung Hitlers, „ist im einzelnen schwer zu analysieren.“ Sagt Bracher.[20] Das ist schwer zu analysieren von außen – die ist sehr einfach, wenn man sich nun die genaue Situation vorstellt: Schleicher zurückgetreten, das war ja furchtbar! Denn das hieß doch, es wird ein anderer Reichskanzler ernannt – entweder Papen allein (das war ja unmöglich, denn das war die alte Präsidiallösung, der Papen war ja so fürchterlich erledigt, es ist ja unvorstellbar, wie so ein Mann überhaupt noch da auf der Bühne erscheinen kann, aber egal) und [richtig: oder / oder Papen und] Hitler. Ja aber Papen war ja nichts, er hatte ja keine Partei hinter sich. Hinter Papen stand Hugenberg, und Hugenberg bestand darauf: kein Termin zur Neuwahl. Das neue Kabinett, das hat dann Papen zusammengestellt, wurde dann also für den 30. Januar, morgens 11 Uhr, in die Reichskanzlei bestellt und, wie gesagt, die bekannte Geschichte. Noch wie sie die Treppe heraufgingen um 11 Uhr, es wurde Viertel nach 11, da stritten die noch über die Frage: Termin für die Neuwahl oder nicht. Und da zeigt sich also die Überlegenheit Hitlers über diese ganze konservative Gesellschaft, nicht wahr. Da hat er gesagt: „Ich bestehe auf der Neuwahl, ich mache überhaupt nichts mit, wenn nicht der Termin gleichzeitig bestimmt wird mit der Auflösung.“ Und da ist Hugenberg im allerletzten Moment umgefallen, und, wie gesagt, dann konnte man das Kabinett bilden.[21] Aber überlegen Sie mal, ein Mann wie Hindenburg, der schließlich nur noch einen Punkt hatte: termingerechte verfassungsmäßige Bestimmung der Neuwahl – der konnte ja gar nicht anders, als den Hitler ernennen, weil die anderen gegen Neuwahlen waren. Die Verfassungswidrigkeit der Papen’ und Hugenberg’schen Position war so handgreiflich; mit Notstand konnten sie dem Alten nicht kommen. Ich muss immer wieder darauf zurückkommen: Der Mann war ein einfacher Mann, vielleicht aus der Steinzeit, das ist mir egal, aber diese Art Charakter muss man ihm lassen. Das habe ich auch gegenüber anderen, eben erwähntem Friedensburg betont: Wenn Sie unter Charakter eine gewisse einfache Geradheit verstehen, dann hatte er grade in diesem Punkt: Treue zur Verfassung, was man darunter verstehen konnte, hatte er Charakter. Und es blieb ihm buchstäblich. . . Die ließen ihm nichts übrig, diese Konservativen und alle anderen, die nach Notstand schrien, und zwar auch die heute noch. Es gibt heute noch. . . Da ist die Dissertation von Detlef Junker, der sagt, das wäre doch das einzig Vernünftige gewesen.[22] Das weiß ich nicht, ob das das einzig Vernünftige gewesen wär’, denn so war die Situation der Hitlerpartei auch nicht darüber. . . Das ist ja wieder ’ne andere Frage. Ich spreche ja nur davon, dass es keineswegs schwer zu sagen ist, wenn man die Sache aus der Nähe kannte, was Hitler [richtig: Hindenburg] getan hat und tun musste. Nun kommt ja noch weiter hinzu: der Brief des Prälaten Kaas vom 26. Dem Brief des Prälaten Kaas schlossen sich Briefe und Erklärungen und Proteste der Gewerkschaften, der freien Gewerkschaften an, dann der christlichen Gewerkschaften – alle verlangten eine parlamentarische Regierung, eine Regierung, eine regierungsfähige Mehrheit. Na,
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die hatten sie ja, und was anderes schreibt der Prälat Kaas in seinem offenen Brief auch [nicht]. . . Die Geschichte dieses offenen Briefes, die ist inzwischen auch sehr geklärt, der genaue Wortlaut steht jetzt fest. Morsey hat das. . .[23] Die Protokolle der Zentrumspartei sind also jetzt veröffentlicht. Und es steht vor allen Dingen eins fest, was ich bisher noch nicht so genau wusste, dass der Brief vom 26. Januar, den der Prälat Kaas an Hitler [richtig: Hindenburg] schrieb, an die Reichsregierung schrieb (das ging zunächst an Schleicher, an den Reichskanzler), dass der von Brüning persönlich an Hindenburg. . . nicht an Hindenburg, aber über Meißner an Hindenburg gegeben wurde. Das steht in den Protokollen, die Morsey (wenn es Sie interessiert, kann ich es Ihnen zeigen) veröffentlicht hat.[24] Ich weiß nicht, ob ich’s Ihnen schon erzählt habe; vor ein, zwei Jahren sind die glaube ich erst erschienen. Ich wusste das nicht. Woher Morsey das weiß, dass das noch am gleichen Tage geschah, das steht an einer. . . Also, am 26. war die Sitzung der Fraktion. Die Fraktion beschließt, billigt diesen Brief, und Brüning, das steht in dem Protokoll, übernimmt es, den Brief noch am gleichen Tage an den Reichspräsident. . . dass der noch am gleichen Tag beim Reichspräsidenten war. Damit war ja praktisch die Sache entschieden. Das wussten ’se, am 27. war die Sache schon aus, nicht erst am 28.[25] Das Nahe ist und Schwere ist das Wirkliche, das Nächste. Hier das Nächste war die Frage: Bleibt Schleicher Reichskanzler für die Zeit des Wahlkampfes, oder wird es ein anderer, und der andere konnte nur Hitler. . . Oder wird es Hitler? Und da ist das eingetreten, was ja glatt nach meiner Schrift ,Legalität und Legitimität‘ verfassungswidrig ist, dass der Führer einer Verfassungs-feindlichen Partei, auch einer damals noch ganz chaotischen verfassungsfeindlichen Partei. . . dass man dem die Macht in die Hand gibt für die Zeit des Wahlkampfes. Da regen sich die Leute darüber auf, dass Hitler selbst da nicht einmal die einfache Mehrheit bekommen hat; hat ja nur mit Hilfe der Harzburger Front die einfache Mehrheit bei der Neuwahl am 5. März ’33 bekommen. Ja, sehen Sie mal, da kann man sich vorstellen, was gewesen wäre, wenn das alles nicht. . . Vor allen Dingen muss man eins wissen: Entscheidend für die Masse der Wähler war ja doch der Reichstagsbrand. Egal wer den Reichstag angesteckt hat (ich sage da nicht meine Meinung hier, das gehört nicht hierhin), ganz gleichgültig, wer ihn angesteckt hat, ob die SA oder die Kommunisten oder der arme van der Lubbe allein, völlig gleichgültig – ich sage Ihnen mal: Denken Sie sich nur mal den Moment, das war ja Ende Februar, das war ja in der letzten Woche der Wahlkampfszeit! Und da kam diese ungeheuerliche Sache. Selbst wenn die SA ihn nicht angesteckt hat und Hitler gar nichts mit der Entstehung des Reichstagsbrandes zu tun hatte, das war immer seine Kunst, unerwartet auf einmal ein ungeheueres Geschrei zu machen und alles zu verblüffen. Der kam ihm wie gelegen, so gelegen, dass es natürlich nahe lag, er hätte ihn erfunden. Er selber, glaube ich nichtmal. Aber gleichgültig, man denke sich nur diese propagandistische Verwertung des Reichstagsbrandes, an der hing der ganze Ausgang der Wahl, und der hat dann so eben
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noch die einfache Mehrheit gebracht. Wenn derselbe Vorgang, der Reichstagsbrand, am 27. September. . . Wenn an dem Moment die Berliner Polizei und alles, was da weiter zu gehört, wenn so der Reichstag brennt, in der Hand Schleichers gewesen wär’, dann wär’ das völlig undenkbar gewesen, dass diese propagandistische Ausnutzung. . . [Pochen] egal, wer ihn in Brand gesteckt hätte. Also das ist eine[r] dieser Punkte, an denen Sie die politischen Prämien auf dem legalen Macht. . .[26] Ist aus? Kapitel 14
Die wichtigsten Begegnungen und Bücher Carl Schmitt: „Ich verlange die sofortige Beseitigung aller Missstände.“ [Gelächter.] Nicht, im dadaistischen Manifest: „Wir fordern die sofortige Beseitigung aller Missstände.“[27] Das versteh’ ich ja auch, wenn Ihnen sowas Spaß macht. Ich hab manchmal mit meiner Tochter Anima solche Verfassungen entworfen. Irgendwo fand ich noch Witz, Sie müssen sich mal von ihr erzählen lassen. Artikel 1: „Alle Menschen sind gleich.“ Artikel 2: [unverständlich, Gelächter]. Nein, das ist Spaß, das ist Dadaismus; das mach’ ich nicht mehr. Das mach’ ich nicht mehr. Da kann man sehr. . . Wer hat eigentlich die Formel erfunden: „das Leben zum Nulltarif“? Dieter Groh: Das kenne ich noch nicht. Carl Schmitt: Kannten Sie die schon? Wissen Sie, wo das steht? Die steht in einer Besprechung der Festschrift ,Epirrhosis‘ zu meinem achtzigsten Geburtstag, die Quaritsch im ,Staat‘. . . Ich gebe [sie] Ihnen, wenn Sie das interessiert. Dieter Groh: Die Quaritsch-Rezension kenne ich. Aber ich. . . Carl Schmitt: Da steht das drin, dann haben Sie sie nicht genau gelesen. Dieter Groh: Ich hab’s nicht bemerkt. Carl Schmitt: Ja, da stehn sehr gute Sachen drin. Der ist witzig, der Quaritsch, sehr witzig. Haben Sie sein Buch mal gesehen über Souveränität? Ja, da steht: „das Leben zum
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Nulltarif“.[28] Da stehen auch noch einige andere sehr schöne Sachen. Ich wollte Ihnen aber auch noch irgendwas. . . Das sind, na, dann sind es zwei. So. Ja, nun, eigentlich hatte ich schon drei zugesagt. Da müssen Sie sich also was Einfacheres und Billigeres wünschen. Ich weiß es nicht, ich bin schon froh, wenn wir. . . Klaus Figge: Welches haben Sie da? Carl Schmitt: Diese ,tria mirabilia‘, die wollen wir mal hinausschieben. Wenn sie mir einfallen, telegrafiere ich sie.[29] Klaus Figge: Ja, dann haben wir nur noch eins. Carl Schmitt: Und dann bliebe diese eine Sache, das ist so beruhigend für mich. Klaus Figge: Ich kann aber noch neue erfinden. Carl Schmitt: Ja, hören Sie mal, drei, kommt da nicht. . . Dieter Groh: Nee, wir haben im Moment nur eine. Klaus Figge: Sie haben ja zwei abgelehnt. Carl Schmitt: Einen Moment. Ja, eine ist der Erfüller, also das Versprechen der Erfüllung, nicht. Nummer zwei, das mit den Tria mirabilia, ist vertagt. Nummer drei. . . Dieter Groh: Nummer eins hatten Sie schon zugestanden, das ist die Fortsetzung. Klaus Figge: Die Fortsetzung, warum Sie da. . . Dieter Groh: Ermächtigungsgesetz und Frage des. . .
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Carl Schmitt: Ja, das muss ich sehn. Ja, das ist so viel jetzt. Klaus Figge: . . .beim Dritten Reich mitgemacht haben. Und bis zu welchem Zeitpunkt, von wann bis wann. Carl Schmitt: Ja ja, müsste sicher viel in meinen Tagebüchern. . . Ich biete Ihnen an. . . Wie gesagt, diese Daten, die Geschichte des Kalenders. Dieter Groh: Dann gehört aber doch an den Schluss dieser Geschichte: schwarzer Angriff, Schwarzes Korps, die Geschichte mit Görings Eingriff, dass Göring Ihnen das Leben gerettet hat. Carl Schmitt: Ja, das möchte ich jetzt nicht so s. . .[30] Das ist richtig, aber ob man das jetzt damit in Verbindung. . . Das kommt später. Das machen wir. Wollen mal sehen, wie sich das weiter. . . Ich weiß ja auch nicht, wie, in welcher Form Sie das. . . Steht das schon auf irgendeinem Programm, oder wie ist das? Klaus Figge: Ja, die Sendung läuft am ersten Sonntag im Februar. Carl Schmitt: Am ersten Sonntag im Februar. Das ist eine Stunde? Klaus Figge: Eine Stunde, von 18 bis 19 Uhr. Carl Schmitt: So viel Material haben Sie an sich. Klaus Figge: Ja, Material haben wir, aber. . . Carl Schmitt: Nee, ich hab mal eine kleine Ausarbeitung von zehn Seiten Maschinen ungefähr (wenn ich die finde, schicke ich sie Ihnen) gemacht über mein erstes Berliner Semester, wenn Sie das z. B. interessiert.[31] Das ist ausgearbeitet, können Sie vorlesen lassen oder selber vorlesen (das ist doch auch ’ne. . . ), wenn es nicht ausreichen sollte.
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Klaus Figge: Nee, das reicht schon, aber wir sollten das noch ein bisschen sortieren. Carl Schmitt: Ich weiß nicht, ob es interessant genug ist. Dieter Groh: Ja, wir möchten das auf. . . Das wäre ja auch wirklich. . . Carl Schmitt: Ich hab ja auch keine Ahnung mehr, wen was interessiert. Dieter Groh: Nee, das möchten wir schon gerne haben. Carl Schmitt: Nun gut, dann schicke ich’s Ihnen. Ich werde es nicht vermissen. Das ist mir dann auch eine Erleichterung. Da hab ich’s mal formuliert, das war mal so ein Anlauf. Ich hab gesehn, ich kann es nicht, aber es ist ein netter Anfang. Die ersten Eindrücke: Wilamowitz-Moellendorff, Vorlesung Cicero und sowas und das alles, „die alte Liebe zum Latein“ oder „die beständige“. Wie das auf mich wirkte. Und dann der Jurist Josef Kohler, und das war alles so komisch, wenn man aus der tiefsten Provinz in das damalige wilhelminische Berlin kam. Das war ja merkwürdig, wie man sich als junger Mensch zurechtfindet. Was wir da besprachen, gut dass Sie mich gefragt haben: „Warum haben Sie eigentlich Jura studiert?“ Es war genau, wie ich Ihnen erzählt habe. Nix anderes, keine. . . Wie sollte ich denn auch? Ich wusste auch gar nicht, was das eigentlich. . . Ich wollte Anwalt werden, aber ich wusste es nicht, so genau. Ich glaube auch nicht, dass die meisten so genau denken. Oder ist das heute anders? Das flutscht so einfach. Dieter Groh: Ich glaube, dass es so ist. Carl Schmitt: Es ist immer dasselbe. Sie werden es ja bei Ihrem Sohn sehen. [Rührgeräusche aus der Küche.] Dieter Groh: Nein, ich glaube, dass die Beschreibung, die Sie gegeben haben von Ihrer eigenen Situation, dass die für die Mehrheit auch zutrifft. Dass man nicht entscheidet. Das ist ja, glaube ich, ’ne utopische Annahme, sowohl vorwärts als auch rückwärts gewandt, dass man irgendwann Entscheidungen fällt, auch wenn man sich angeblich entscheidet, sich zu verheiraten oder so. Wenn man das rückwärtig macht. . .
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Carl Schmitt: Ja, so. Ja, ich meine, da gibt es Typen, die wissen schon, sie heiraten keine Frau, die weniger als so viele hunderttausend Mark hat – so gibt es Leute. Das habe ich mich immer. . . Auch unter Referendaren, da wusste jeder genau, was er heiratet, also ganz genau. Klaus Figge: Was würden Sie sagen, sind die drei wichtigsten Begegnungen? Carl Schmitt: Ich muss sagen, die wichtigste in meinem Leben ist die Begegnung, dann auf der andern Seite die väterliche Freundschaft mit dem späteren Justizminister am Zehnhoff. Das ist derartig entscheidend, auch für meine juristische. . . Da bin ich überhaupt erst zum Juristen geworden, vorher war das so. . . Ja, war auch interessant, Generalkommando. . . Nein, es ist am Zehnhoff.[32] Der bedeutet für mich, was für diesen Laski, den Harold Laski, da gibt es so einen. . . Wie heißt der berühmte Richter, ein ganz bekannter Name, Richter beim Supreme Court? Ach, sehen Sie, die einfachsten Namen! Das war auch so ein alter Junggeselle, dieser Richter, und hatte Freude an Unterhaltung mit dem jungen Laski.[33] Der ist aber leider kein Jurist geworden. Aber bei mir war das so: Ich war Referendar, kam da hin und das war unwahrscheinlich, also wenn ich das. . . Richtige große Sachen, nicht, Prozess an der Rota Romana: die Nichtigkeitserklärung der Klage der Herzogin Witwe von Croy. Ihre Ehe, die hatte sich da. . .[34] Das sind wirklich also interessante. . . Der alte am Zehnhoff hat sehr schön immer für mich gesorgt. Er wollte mich immer unterbringen an der Rota Romana. Die Rota Romana, das ist der zentrale Gerichtshof der römischen Kirche. Malen Sie sich mal aus, die vielen hundert Millionen Katholiken, alle Nichtigkeitsprozesse, Ehen, seit. . . die landen da. Und wenn man Anwalt an der Rota Romana ist, hatte man damals also allermindestens, sagen wir, hunderttausend Lire in Gold als Jahreseinkommen. Das war sehr viel Geld. Und da meinte er, das wär’ doch das Interessanteste. [Lacht.] Ein bisschen Italienisch hätte ich schnell gelernt. Nein, das muss ich wirklich sagen, das würde ich auch, wenn ich die andern beiden weiß. . . Man muss auch unterscheiden: Altersgenossen. Das ist ein großer Unterschied, nicht: Altersgenossen und Männer und Frauen, Sie sprechen nur von Männern, davon dass. . . Klaus Figge: Ich hab „Begegnungen“ gesagt. Carl Schmitt: Begegnungen, ja das ist schwer zu sagen. Da müsste ich ja eigentlich meine Frau nennen, nicht. Doch, die hat einen ungeheuren Einfluss durch diese, grade durch diese. . . Sie haben sie nicht mehr gekannt?
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Dieter Groh: Nein. Carl Schmitt: Das war doch das Entscheidende, muss ich sagen. Und dass die sich als Serbin da gehalten hat, das ist ja unwahrscheinlich – in Berlin! Malen Sie sich mal aus: unheimliche Geschichte. Oh, das sind zu viele. Ich möchte nicht sagen „stärkster Eindruck“, aber das war einfach die Prägung. Das ist. . . Wie kommt man in einen Beruf? Das ist schwer zu sagen. Wer hat sie denn in Ihrem Beruf geprägt? Nennen Sie mir mal einen. Dieter Groh: Ja, es sind einige Leute. Ein paar sind schon lange tot. Einer lebt noch. Carl Schmitt: Ja, ich will ja keine Indiskretion. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie schwer das ist. Mit den Jahren übersieht man das. Das gibt es, aber es sind zu viele, und später ist man dann schon so selbständig, nicht, dass diese. . . Popitz würde ich vielleicht doch an zweiter Stelle nennen.[35] Der alte am Zehnhoff, dann Popitz. An dritter. . . Zum Beispiel Ott und Marcks waren ganz entscheidend wichtig, aber da war ich schon der Ältere, und dann auch schon ein Berater und sowas, das ist. . . Dann kann man nicht mehr sagen, dass die einen geprägt hätten. Dieter Groh: Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Hugo Preuß gewesen? Carl Schmitt: Aber es geht ja auch nicht im Leben ohne Freundschaften. Das ist ganz entscheidend sogar. Da fällt mir übrigens etwas ein zu meinem Vater, das ist ja hier. . . Mein Vater war ja nun als Katholik. . . Man konnte hier nur was werden, also aufsteigen, sozial aufsteigen, das gab es, da waren viele Möglichkeiten in dieser industriellen Entwicklung nach allen Richtungen, für jeden, und [er] war ein ausgesprochen intelligenter und kluger Mann, aber hier in diesem Protestantischen konnten Sie es nur, wenn Sie entweder evangelisch waren oder Freimaurer. Und Freimaurer konnte man als Katholik nicht werden. Und nun gab es immer einige Leute, die wurden evangelisch – die wurden auch immer gleichzeitig Freimaurer. Wenn sie Freimaurer wurden, wurden sie evangelisch. Da war die katholische Kirche noch so streng, da gab es also keine Ausnahme, kein Pardon, nicht wahr. Und das wusste mein Vater und nahm das auch hin. Hat sich nicht weiter. . . Hätte nie. . . Das war unvorstellbar, dass man als Katholik. . . Das war einfach. . . Das war der große Verrat. Das gab’s einfach nicht, wie auch eigentlich heute noch in Frankreich oder in Spanien. Entweder Sie sind katholisch oder Sie sind Freimaurer. Es ist ja gar nicht die Alternative evangelisch / katholisch.
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Dieter Groh: Sie wollten uns aus den ,Schattenrissen‘ auch noch was vorlesen. Carl Schmitt: Ja, das tue ich auch. Das kann man nur abends machen. Einen einzigen kriegen Sie noch zu hören. Wie gesagt, es ist eine schöne Bierzeitung mit guten Dadaismen und wird Ihnen Spaß machen. Klaus Figge: Was würden Sie sagen, sind die drei wichtigsten Bücher, die Sie geschrieben haben? Carl Schmitt: Ja, das ist eine Frage, die kann man sehr. . . zur Antwort verführen. Ja, aber ich will. . . Darf ich mal unverbindlich so. . . ins Unreine antworten? Klaus Figge: Ja, sicher. Carl Schmitt: Da würde ich doch sagen – die wichtigsten oder die mir am besten gefallen? Dieter Groh: Ja, ich würde sagen: die wichtigsten. Klaus Figge: Die wichtigsten, die Sie für die wichtigsten halten. Carl Schmitt: Da würde ich doch sagen, hm, erstens: ,Der Nomos der Erde‘, zweitens (darf keins vergessen): ,Die Verfassungslehre‘, und drittens: ,Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes‘.[36] Dieter Groh: Ja ja, hätte ich auch gesagt. Carl Schmitt: Hätten Sie auch gesagt. Nicht den ,Begriff des Politischen‘? Dieter Groh: Ja, nee, das müsste man diskutieren, inwieweit der da drin ist schon.
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Klaus Figge: Wie war das, ,Der Leviathan‘, ,Nomos‘. . . ? Carl Schmitt: ,Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes‘. Also das eine: ,Nomos der Erde‘, 1950, ,Verfassungslehre‘, 1928, und ,Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes‘ mit dem Untertitel ,Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols‘. Das ist ein schönes Buch. Haben Sie es mal gelesen? Dieter Groh: Mhm. Warum ist es nicht wieder aufgelegt? Carl Schmitt: Ja, da stehen einige Bemerkungen über die Juden drin. Ich meine, Leo Strauss hat sie mir nicht verübelt, aber Gott. . .[37] Vor allen Dingen, da steht eine wichtige Bemerkung über Spinoza drin, über die haben sich einige aufgeregt. Nachher hat der (wie heißt der?) René König in Köln triumphierend gesagt: „Natürlich, das stimmt ja ganz genau.“[38] Klaus Figge: Wann ist der ,Leviathan‘ erschienen? Dieter Groh: ’38. Carl Schmitt: ’38. Also das ist ’28, ’38 und 1950. Dieses ,Nomos‘ ist doch ’ne schöne Zusammen. . . Dass das noch gelungen ist, dass das noch gelungen ist, das hätte ich nicht gedacht; im Allgemeinen: Gelingen. Das ist kein systematisches Buch. Wie würden Sie es als Historiker nennen? Dagegen die ,Verfassungslehre‘ ist ein systematisches Buch, da kommt aber nicht leicht ein System mit. Das ist ein Wurf, das gelingt wirklich nur einmal und gelingt nie, wie mir auch mein Freund Álvaro, der Álvaro d’Ors, der was davon versteht (sein Vater war ein sehr berühmter Schriftsteller), der gelingt nicht nach dem spätestens 45. Lebensjahr. Später gelingt das einfach nicht mehr; gelingen fabelhafte dicke Bücher, aber so der echte systematische Entwurf. Wie ist das bei den Philosophen? Dieter Groh: Ja, aber ,Der Nomos der Erde‘ ist ja auch ein systematisches Buch. Carl Schmitt: Nein, nein. Das ist zu viel historisch. Das ist nicht systematisch. Das ist diese Kombination von System und Geschichte. Das kann man nicht sagen. Das ist, wie
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soll ich sagen, eine These und ein Begriff: ,Nomos‘, nicht wahr, und historisches Material. Das geht dann einfach so vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ich muss mir aber auch einen Test erlauben. Das habe ich mir so angewöhnt: Alle möglichen Leute teste ich. [Entfaltet ein Blatt.] Dieses ist. . . (Müssen wir schon an den Tisch, Anni?) Hier, kommen Sie mal hierhin, beide. Wenn Sie nach Madrid kommen, müssen Sie nicht nur in den Prado gehen – das ist ja das tollste Museum der Welt, nicht wahr. Das ahnen Sie nicht, was alles im Prado ist. Klaus Figge: Doch, ich kenne das Prado. Carl Schmitt: Kennen Sie’s, waren Sie mal in Madrid? In der ,Contemporaneum Pintura‘? [richtig: Pintura contemporánea] Und kennen Sie dies Bild? Klaus Figge: Nein, nein, ich meine, ich kenne den Prado. Carl Schmitt: Das ist dieses Museum, und da ist ein Bild aus dem Jahr 1830, Romantik. Sieht man, wie international die Romantik war, in Madrid, nicht. Man meint, Spanien läge jenseits der Pyrenäen. Das sieht aus wie [unverständlich]. Da ist überhaupt kein Unterschied. Ich meine, die Einheit Europas ist doch einfach unwahrscheinlich. Der war nie außerhalb Madrids. Ja nun will ich gleich, vergessen wir es nicht. . . Aber bevor Sie weggehen, sollen Sie mir. . . (Sitzt Anni schon am Tisch?) Klaus Figge: Nee nee. Carl Schmitt: . . .sollen Sie mir sagen: Also, dies ist ein Dichter, ein romantischer Dichter, Zorrilla, und das ist der Maler Esquivel. Dieser Maler malt den, das ist die Akademie, das sind die Honoratioren usw. Der ist der Maler, und das ist der Gemalte. Der liest vor.[39] An wen erinnert Sie dieser Dichter, der da vorliest? Spontan so. Einen modernen oder älteren oder was Sie. . . Mit wem würden Sie den vergleichen? Dieter Groh: Puschkin. Carl Schmitt: Puschkin, herrlich! Neue Antwort, muss ich mir merken. Ich notier’ sie mir [nimmt ein Blatt ]. Puschkin. Gut. Jetzt noch Sie.
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Abb.: Antonio María Esquivel: Die zeitgenössischen Dichter. Eine Lesung Zorrillas im Atelier des Malers (1846). (Ausschnitt.) Quelle: Museum El Prado.
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Klaus Figge: Mich erinnert er ganz, nur die Haltung, ich nehm’ nur die Haltung von dem, wie der so da steht. Das ist irgendein Gemälde, auf dem Bismarck so steht. Carl Schmitt: Wie? Klaus Figge: An Bismarck. Carl Schmitt: An Bismarck? Ja, das verstehe ich nicht. Ja, Sie meinen da die Hand so. Klaus Figge: Nein. Die Fußhaltung, und es ist auch, glaube ich, eines der Gemälde von der Kaiserproklamation, wo der Bismarck steht und. . . Carl Schmitt: Liest vor? Ach ja, wie interessant. Ja, das ist nun, das ist irgendwie aus der Reihe. Dies bleibt ja. . . Antwort Puschkin, bleiben wir in der Reihe. Ich habe gesagt, der erinnert mich an Rilke, aber daran denken Sie gar nicht. Anni, wir machen mal wieder einen Test. Anni Stand: Immer dann, wenn wir essen wollen.
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Zum Positivismus ermächtigt Carl Schmitt: Ich versuche jetzt, die Frage zu beantworten [blättert]: „Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht?“ Eine sehr naheliegende Frage, die ich als Frage anerkenne, sonst würde ich sie nicht beantworten. Und das interessiert mich ja selber auch: Warum hab ich eigentlich mitgemacht? Wenn man sich das erst nach einem Jahr Mitmachen und dann nach zwei Jahren Mitmachen, dann schließlich nach zehn Jahren, und jetzt sind es ja dreißig Jahre, vierzig beinahe, selber fragt: „Warum hast du mitgemacht?“ Ich will mal versuchen, die Frage so zu beantworten, dass ich erst die Chronologie klarstelle. Es geht einfach nicht ohne Kalender. In gewissem Sinne ist es ja auch eine geschichtliche Frage – und Geschichte ohne Chronologie, das ist mir immer eine unsolide Sache gewesen. Fragen wir also zunächst mal nach den Daten.
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Und fangen wir an am 30. Januar ’31 [richtig: ’33]. Habe Ihnen glaube ich schon erzählt, dass ich am 27. Januar abends, Freitag abends, bei Marcks war, in seiner Wohnung, zum Abendessen und dass er da sagte: „Die Sache ist aus. Die letzte. . . der letzte deutsche Mythos“, er sagte „Mythos“, nachher wiederholte Popitz die Formulierung, kam auf dieselbe Sache und formuliert: „Die Legende. Die letzte deutsche Legende ist zu Ende.“ Mythos oder die Legende, wie Sie wollen, Hindenburg ist zu Ende, und Hitler ist ernannt. Nun, Schleicher verschwand dann sofort von der Bühne. Am Samstag, den 28. Januar, erschien in der ,Täglichen Rundschau‘ ein Aufsatz, der allen Zeithistorikern aufgefallen ist. Der geht aber auf Marcks zurück, er stand ja in täglichem Kontakt mit der ,Täglichen Rundschau‘. Und wenn Sie diesen Aufsatz heute lesen, ist das schon eine Provokation an Hindenburg. Es ist schon unter dem Gesichtspunkt der politischen Vorsicht und Klugheit betrachtet kein kluger Aufsatz mehr. Es ist ein richtiger Aufsatz, aber es spricht schon ein Affekt daraus, ein Affekt gegen Hindenburg.[40] Ich wollte das nur für etwaige Zeithistoriker, die das interessiert, hier aussprechen. Es ist ein Protest gegen das, was da geschieht. Das war aber schon am 27. abends fertig. Am 28. stand das also in den Zeitungen, und erst am 30., am 29., entschuldigen Sie, am 29., am Sonntag war das, wo alle möglichen Dinge passiert sein sollen (also auch darauf will ich nicht eingehen, ich halte die Version von Ott für richtig: Diese Militärs haben sich am 29. und nicht am Sonntag, den 30., vormittags getroffen).[41] Aber das sind Nebensachen. Ich wollte ja nur die Frage beantworten: „Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht?“ Oder ich will vielmehr das so machen, ich frage mich selbst: „Warum hast du eigentlich mitgemacht? Wie kam das?“ Am 29., sonntags, lese ich es erst in der ,Germania‘, glaube ich, den offenen Brief von Kaas – von dem wusste ich bis dahin nichts – und rief gleich meinen Freund Popitz an, und der war auch noch nicht im Bilde wie Marcks. Die Ernennung Hitlers ist ja erst am 30. mittags zustandegekommen und war, wie gesagt, bis zum letzten Moment nicht sicher. Und Popitz sagte, also nicht, sachlicher Freund: „Jetzt müssen Sie von der Bildfläche verschwinden.“[42] Tat ich gerne, von dem kleinen Stück Bildfläche, auf dem ich stand; das war ja auch praktisch keine große Öffentlichkeit. Das war auch nicht weiter wichtig. Ich war nur so empört über diese Unwahrheiten, die in dem offenen Schreiben von Kaas enthalten waren, und er meinte, ich müsste in irgendeiner Form, also durch ein Schreiben an Schleicher oder Meißner oder wer in Betracht käme, protestieren. Ich hab mir das überlegt und wollte erst überhaupt nicht antworten und sprach auch noch mit Marcks darüber, der sagte: „Das ist völlig egal, was Sie da machen.“ Ist ja auch wahr, politisch ganz uninteressant. Aber aus irgendeinem echten Affekt heraus habe ich einen Brief an Kaas entworfen und Abschriften davon an Papen, meine Freunde selbstverständlich und Bumke (das hat mich nachher noch besonders geärgert), also den Präsidenten des Staatsgerichtshofes, geschickt.[43] Das sind Details, sind auch nicht weiter wichtig – ich habe von niemand außer von Papen eine höfliche Antwort bekommen.[44] Man muss ihm das lassen, er war
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höflich in seinen Formen, Papen. Und dann eine offizielle amtliche, da war aber Hitler schon im Amt, von Lammers unterschrieben, der saß da in der Reichskanzlei. Von Kaas habe ich natürlich keine Antwort bekommen. Er war ja schon über die Berge nach Rom. Der war, glaube ich, in derselben Nacht noch im Schlafwagen, nach dem Ermächtigungsgesetz, nach Rom gefahren.[45] Dann ist er nochmal für ’nen Moment wiedergekommen. Kurzum, das ist (ich darf ja hier von mir persönlich sprechen, nachdem Sie das gefragt haben) dieses Schicksal oder dieser Abschnitt meiner Mitarbeit mit Schleicher. Und das Traurige, vielleicht zu traurig, um wirklich tragisch zu sein bis dahin, denn tragisch wurde für Schleicher die Sache erst ja am 30. Juni. Also das ist das Ende dieses Abschnittes. Nun erhebt sich die Frage eigentlich: „Was hast du dann gemacht?“ Ich hab ja ein exakt geführtes Tagebuch, kein romantisches und psychologisches, sondern ein rein chronologisch-kalendarisches Tagebuch, und das ist für mich eine sehr starke Stütze, namentlich jetzt im Alter. Es war aber auch schon immer eine Stütze. Wenn Dinge über mich behauptet wurden, konnte ich sie doch, soweit es sich um Daten und einige Fakten handelte, exakt, absolut zuverlässig (soweit es menschliche Zuverlässigkeit gibt) kontrollieren. Und so habe ich an der Hand dieses Tagebuches diese Zeit schnell noch einmal überflogen, was eine schwere Anstrengung für mich ist – es ist stenografiert, einiges ist mit Bleistift stenografiert, weil ich das jeden Abend machte, um exakt zu bleiben bei dem Kalender, bei dem Kalender und bei den Daten usw. Ich bin auch kein Samuel Pepys oder sowas.[46] Die Art Tagebuch ist es auch nicht. Es ist ein Tagebuch, dessen psychologische Erklärung wieder ein Problem für sich ist. Es gibt ja verschiedene Arten von Tagebüchern. Aber ich kann es vorzeigen, es ist als Dokument so einwandfrei, wie es nur irgendwie ein Dokument ist, wobei ich amtliche oder nichtamtliche Dokumente nicht unterscheide. Das gibt mir die Sicherheit, mit der ich hier antworten kann. Am 30. Juni also, am 30. Januar erfuhr ich diesen Brief von Kaas. Nun, dann passierten die Ereignisse. Ich sah mit Marcks zusammen noch da SA aufziehen, und Marcks zitierte den Vers: „Und Völker auch ergreifet die Todeslust“. Er konnte fabelhaft zitieren. Es war großartig, wie er zitieren konnte. Und ich bin glücklich, dass ich mit ihm befreundet war und noch einige wundervolle lange handschriftliche Briefe von ihm besitze, auch über Schriften von mir. Was soll man machen? Man geht nach Hause, ich hatte ja eigentlich gar nichts mehr zu tun jetzt und hatte aber eine Einladung des Rundfunks, die stammte noch aus der Zeit vor dem 30. Januar, zu einem Gespräch, das sollte am 2. Februar stattfinden. Ich lese hier die Notizen, die sind in der Eile gemacht. Sollten sie unrichtig sein, kann ich sie an der Hand des Tagebuches genau kontrollieren. Jedenfalls ein, zwei Tage nachher sollte ich einen Rundfunkvortrag, äh, Gespräch mit einem Mann namens Veit Roßkopf halten, der kam vom Bund Oberland, war ein großer Hölderlin-Schwärmer, später Konrad-Weiß-Spezialist und -Kenner, war dann später beim Rundfunk in München. Mit dem sprach ich über. . . ein Gespräch, ganz allgemein, über Recht und Verfassung. . . nee, Verfassung, so interessierte ihn das nicht – es war ein sehr allgemeines Gespräch. Für mich bestand die Schwierigkeit darin,
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diese Art von philosophisch-moralisch-juristischer Betrachtung so ne’ halbe oder Stunde durchzuhalten. Und Roßkopf war auch in dem Sinne kein Wissenschaftler, sondern ein Schwärmer, also Schwärmer für Hölderlin, später Schwärmer für Konrad Weiß. Das Gespräch bereitete ich vor, überlegte mir, was ich machen soll (die einzelnen Tage will ich Ihnen hier nicht vorführen). Das war meine Beschäftigung, und abends hatte ich meist Besuch. Am Abend des Gespräches kamen viele Bekannte, auch Ott war dabei, hörte sich das Gespräch an. Später kam noch Ernst Jünger. Und Ernst Niekisch rief nach dem Gespräch an und fand das Gespräch großartig.[47] Vielleicht ist es noch bei irgendwelchen Akten. Ich weiß nicht, ob der Rundfunk das aufbewahrt hat, es sollte mich freuen. Ich kann’s nicht mehr auswendig reproduzieren, vielleicht finden sich noch Notizen, aber das Gespräch hat stattgefunden, und sollte sich ein fleißiger zeithistorischer Forscher finden, den das interessiert, kann er der Sache ja mal ruhig nachgehen. Vielleicht ist da sogar noch Belastungsmaterial drin, wenn das ein Anreiz sein sollte, sich nun intensiver zu beschäftigen.[48] Ich wollte Ihnen nur diese Spur geben. Mehr kann ich ja nicht. Nun weiter. Also hinterher tranken wir Wein. Ich erinnere mich noch deutlich. Auch die Techniker, die kamen damals mit in mein Zimmer, und die diese Rundfunksache da also organisierten, die tranken mit. Es war eine sehr gemütliche Gesellschaft. Das war aber schon der 2. Februar. Da war also Hitler schon zum Reichskanzler ernannt, da war auch schon die Auflösung beschlossen und verkündet. Das war der Tag der Auflösung, glaube ich, 2. Februar, Hitlerrede, und, kurzum, die Sache rollte, nicht wahr, und zwar rollte in den Händen von Hitler. Das war genau das, was ich beurteilen konnte – unter dem Gesichtspunkt politische Prämien auf dem legalen Machtbesitz. 2. Februar. Nun ging das in diesen Tagen so weiter, viele Zusammenkünfte mit Marcks, mit Popitz vor allem. Popitz hatte eine Sache am Herzen, das war übrigens etwas, was ihn mit Schleicher innerlich verband: Preußen. Preußen muss bestehen bleiben, von Preußen aus muss die Einheit Deutschlands gemacht werden und bleiben. Der naturgegebene Gegenspieler waren natürlich hier die Bayern. Nun, auch da ergaben sich wieder interessante Sachen. Jedenfalls war Popitz sehr häufig da. Der gehörte ja schon zum Reichskabinett und sah dann Hitler im Reichskabinett und konnte interessant erzählen. Da habe ich sehr oft mit. . . Frau Popitz und meine Frau waren sehr gut befreundet, nah befreundet, und nun kamen die öfters zu uns in die Wohnung, und wir gingen zu ihnen. So füllte sich die Zeit aus vom Anfang Februar ’33, also die ersten Tage Hitler. Das ging dann so, ich erinnere mich noch deutlich, wie Popitz mich anrief und fragte, ob ich niemand kennte, ob man nicht noch jemand interessieren könnte für die Frage, es sei beabsichtigt, jetzt eine Exekution gegen Preußen zu machen. Ist offenbar in der Umgebung von Hitler die Idee aufgetaucht, nachdem man eine Exekution gemacht hatte, also am 20. Juli ’32, sollte man den Rest der Preußenregierung, den das Urteil des Staatsgerichtshofs übriggelassen hatte, ebenfalls im Wege einer Exekution absichtlich beseitigen, denn mit der Exekution hatte man verfassungsrechtlich Unrecht bekommen.[49] Es ist schwer, das so schnell verständ-
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lich zu machen, und das war so eine Art Rache, auch für das Urteil des Staatsgerichtshofs – wäre das gewesen. Der Gedanke ist mal aufgetaucht, aber Hitler war das ja völlig egal. Und Göring, Göring hatte schon eher Interesse an der Sache, weil der ja Reichskommissar für Preußen geworden war. Es war ja eine der ersten schweren Niederlagen von Papen, dass Papen nicht. . . Warum wurde denn Papen, warum blieb denn nicht Papen Stellvertreter da des Reiches in Preußen? Und wie haben die sofort gleich beim ersten Anhieb den Papen im hohen Bogen da rausgeschmissen! Was sich Papen selber dabei gedacht hat, weiß ich nicht.[50] Da rief mich Popitz an, das war seine Sorge, und die ganze Zeit „Preußen“, „Preußen“. Nun war er ja selber stellvertretender preußischer Finanzminister. Das wurde später also dann endgültig bestätigt. Und außerdem war er Mitglied des Reichskabinetts und in dieser Situation und Position nahm er Teil an den Kabinettsitzungen, die damals noch stattfanden und konnte Hitler aus der Nähe erleben. Hat mir da vieles erzählt, das gehört nicht in diesen Zusammenhang und würde uns für die Beantwortung meiner Frage: „Warum hast du mitgemacht?“ nur mittelbar interessieren. Aber es hat mich natürlich doch irgendwie beeinflusst, denn ich hatte ja keine Ahnung von Hitler. Hatte einmal. . . nicht einmal einen Vortrag, hab nie einen Vortrag von Hitler gehört vor dem 30., vor dem Tag, den ich gleich da erwähnen werde. Aber es war selbstverständlich, dass mich die Eindrücke von Popitz, die er mir vermittelte, ganz frisch und auch froh (Popitz hatte mal Tee getrunken mit ihm im Kaiserhof), dass das einen beeinflusst, denn die Figur Hitler war mir als Phänomen doch so fremd und kam von so weit her, dass ich menschlich und, sagen wir mal, von der Persönlichkeit und dem Charakter, wie Sie das nennen wollen, ich mir eigentlich keine rechte Vorstellung von dem Phänomen Hitler machen konnte. Für meine Reflexion hatte das bisher überhaupt keine Rolle gespielt. Ich kannte ja auch keinen einzigen, keinen einzigen Nazi – jedenfalls keinen prominenten. Nichts. Ich hab mich nie darum gekümmert und möchte auch sagen, in den ganzen Tagen bis Ende März habe ich nie mit einem, einem einzigen dieser Leute auch nur ein Wort gesprochen. Die liefen doch in Berlin in Massen herum. Die konnte man doch ohne. . . Die freuten sich doch! Ich bin einmal, wie die Prozesse noch schwebten und neue Prozesse bevorstanden, von dem Landtagspräsidenten Kube [richtig: Kerrl, oder: Fraktionsführer im Landtag Kube] gebeten worden, in einem Schreiben, ob ich nicht die Vertretung der NSDAP für den einen Prozess vor dem. . . (schwebte irgendein Prozess vor dem Staatsgerichtshof) übernehmen wollte. Und das habe ich glatt abgelehnt. Das war gar kein. . . Ich hab’s Ott mitgeteilt, und die Sache war in einer Sekunde erledigt. Habe ich höflich geantwortet, das könnte ich nicht, und damit war der Fall. . . Ist der einzige Kontakt, der überhaupt in diesen ganzen Wochen und Monaten stattgefunden hat. Ja, nun verging der Februar, vor allen Dingen für mich, abgesehen von diesen Gesprächen, die also alle aus weiter Ferne geführt wurden. Auch der Reichstagsbrand, ich erinnere mich noch, davon habe ich erst am folgenden Tag erfahren. Dann aber durch Mitteilungen von Popitz aus den Kabinettsitzungen und den Ver-
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handlungen mit Göring (Göring als Polizei usw. hat sich sofort eingeschaltet), und da habe ich dann einiges erfahren, was eigentlich unwichtig ist, auch für die Aufklärung der Frage, wer das nun eigentlich gemacht hat. Der ,Spiegel‘ hat mich mal gefragt, ob ich da etwas sagen könnte.[51] Ich weiß aber da nur mittelbar aus Erzählungen, Erinnerungen an Erzählungen von Popitz, und das ist ja praktisch keine echte Quelle, und es liegt mir auch. . . Ich teile es gerne mit, soweit es noch in meiner Erinnerung ist, aber in dem Sinne eine[r] exakten dokumentarischen Quelle kann man ja gar nicht von ,Quelle‘ reden. Diese Wochen hier zu erzählen, das würde uns aufhalten. Ich möchte aber nur betonen: Ich bin gerne bereit, über jeden Tag dieser Zeit (wir sprechen von der Zeit vom 30. Januar bis zum 24. März, bis zum Ermächtigungsgesetz, dazwischen, da liegt ja die Wahl vom 5. März und das alles), ich bin bereit, über jeden Tag Auskunft zu geben. Stimme habe ich nicht abgegeben am 5. März, auch ’ne Schande sondergleichen. Egal, aber was soll ich Ihnen antworten? Und hab mir nichtmal Gedanken gemacht. Wenn ich heute die Notizen nachlese, sage ich mir: „Was ist denn das überhaupt für eine Existenz!“ Da schreibt man über den Begriff des Politischen, da macht man in allernächster Nähe die interessantesten Dinge mit, macht sich Gedanken und findet so eine schöne Theorie von den politischen Prämien auf dem legalen Machtbesitz und führt auf einmal existenz. . . Ja, was ist das eigentlich? Ich war kein Eremit, wie Hugo Ball das geworden ist.[52] Ich interessierte mich auch für die Gespräche, die kamen ja immer, jeden Tag gelaufen; wusste ja keiner, um die schöne Redensart zu gebrauchen, wohin der Hase lief. Wusste ja praktisch kein Mensch. Und Hitler gab sich von der nettesten Seite. Alles war entzückt, Popitz jedenfalls beeindruckt und dachte: „Das ist ja. . .“ Ich erinnere mich, dass Popitz mir erzählte, bei einer Kabinettsitzung, da wartete man, Hitler stand da am Fenster und wartete, bis alle vollzählig versammelt waren. Hitler war in Kabinettsitzungen besonders nett und ging auf alles ein und hat mal Popitz in irgendeinem Moment, wie sie so zusammen waren, mit ans Fenster genommen und hat ihm gesagt, ja, er hätte Mitleid mit jeder Kreatur. Im Grunde wäre er Buddhist. Und wir waren alle beeindruckt irgendwie. So vergingen diese vier Wochen oder wieviel. . . Ja, es ist ja noch mehr. Der Februar, Reichstagsbrand, und [es] kam also das Ermächtigungsgesetz, nun, vom 24. März. Damit begann natürlich für mich als Juristen ’ne völlig neue Situation als Positivist. Möchte gerne wissen, was Kelsen, der ja überzeugter Positivist ist, was der gemacht hätte. Ich weiß es genau. Er hat sich ja sogar geäußert immer früher. Hat immer betont, in dem Augenblick wo diese, ich möchte sagen, wo dieser Würfel gefallen ist, gibt es für einen positivistischen Juristen, das heißt für einen wissenschaftlichen (das war für ihn identisch) Juristen überhaupt keine Frage.[53] Da kann er weggehen. Aber dass das, was dann geschieht, Recht ist im Sinne dessen, womit der Jurist sich zu beschäftigen hat wie der Mathematiker mit seinen Zahlen, darüber ist gar nicht zu diskutieren, sonst gibt’s keine Rechtswissenschaften. Und er hat auch ausdrücklich immer den Leuten gesagt, die sagten: „Ja, wenn nun die Demokratie bedroht ist, soll man sich da nicht mit Gewalt wehren?“
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Gesagt: „Das ist Ihre Sache, das ist keine juristische Frage mehr. Die kann kein wissenschaftlicher Jurist beantworten. Was die machen, ist positives Recht.“[54] Er hat ja sogar mal in einer Diskussion, auch gedruckt, mit Hold-Ferneck, da fragte ihn Hold-Ferneck: „Ja, wenn nun ein wildgewordener Gesetzgeber auf die Idee kommt, anzuordnen – hören Sie mal: Jeden Sonntag müssen zehn, oder ich weiß nicht wieviel, Menschen erschossen werden, aus irgendwelchem Grund, weil sie rote Haare haben oder sowas. Ist das Gesetz?!“ Da hat Kelsen seelenruhig geantwortet: „Ja hören Sie mal, ich bin doch kein Theologe oder kein juristisch. . . Das finde ich nicht schön, wenn sowas passiert. Aber dass das positives Recht ist [streng, klopft am Mikrofon] im Sinne des wissenschaftlichen Rechts, darüber ist für mich gar nicht zu diskutieren.“[55] Also, ich wollte Ihnen das nur sagen, was hier pos. . . Nun bin ich kein Positivist im Sinne von Kelsen. Aber es gibt andererseits [schmunzelt] auch kein anderes als positives Recht.[56] Da sehen Sie mal, diese Frage ist nicht so schnell zu beantworten. Und die steckt hinter der Frage der Legalität der Machtergreifung. Und das hängt alles mit diesem unheimlichen Problem des politischen Mehrwertes, wenn ich mal so sagen darf, der rein formal-legalen Macht und des Machtbesitzes zusammen. Denn das ist der Funktionsmodus, ob Sie das Bürokratie nennen, jeder modernen, also wissenschaftlich in diesem Sinn. . . Das ist das Wissenschaftliche in einem anderen Sinne von Wissenschaft, als ich es verstehe, bei Kelsen. Und das ist das Bewunderungswürdige an Kelsen, die Konsequenz, mit der er das heute noch sagt. Darüber ist nicht zu reden. Er selber hat ja die Konsequenz gezogen. Es ist einfach eine Lüge, wenn heute behauptet wird, ich hätte Kelsen von Köln vertrieben. Ich saß ja gar nicht auf seinem Lehrstuhl. Aber er ist sofort weggegangen und hat die Konsequenz gezogen. Einige versuchten, sich für ihn einzusetzen, auch in Köln noch, die Kölner Kollegen. Ich hatte gar nichts gegen Kelsen. Ich hab ihn sogar persönlich noch besucht, wie ich den Ruf nach Köln. . . Er war einverstanden, dass ich nach Köln kam auf den Lehrstuhl von Stier-Somlo. Das ist. . . Und das tut mir weh, wenn ein anständiger Mann wie Arnold Brecht in seinem Buch schreibt, ich hätte Kelsen von seinem Lehrstuhl verdrängt.[57] Fragen Sie doch mal Kelsen, ob ich ihn verdrängt habe! Der war weg! Der hatte einfach die Konsequenz gesucht. Ich hab ihn gar nicht mehr gesehn, wie ich nach Köln kam. Also, das ist, bitte mich richtig zu verstehen, man gerät ja immer so in die Geste des Menschen, der sich verteidigt. Das sind interessante juristisch (soweit es juristische Wissenschaft gibt), juristisch wissenschaftliche Fragen. Und da ist Kelsen ein echter Diskussionspartner. Also würde er sich niemals darauf einlassen, Fragen zu stellen: „Ja, Sie hätten das tun müssen, Sie hätten das tun müssen“ usw. Was ich hätte tun müssen als Jurist, habe ich auf meine Weise getan. Nach dem Ermächtigungsgesetz, aber nicht vorher. Und keinen Satz, auch keinen Kontakt gesucht. Überlegen Sie mal, was alles am 30., was alles. . . Nach dem 5. März ist auch Kiesinger zur Partei gegangen (wie ich festgestellt habe, sogar am Tag vor der Wahl vom 5. März). Ich habe überhaupt nicht, wahr-
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haftig nicht daran gedacht – bis diese für einen Juristen verfassungsgeschichtlich ungeheuerliche Ermächtigung gegeben wurde! Das ist der echte Rubikon! Das war übrigens die berühmte Redensart, rein geschichtlich. Unterhalten Sie sich mal mit Christian Meier darüber, was das bedeutet, der Rubikon.[58] Das bedeutet einfach dieses Problem der Legalität. Verstehen Sie? Bis dahin hat es Caesar verstanden, mit der Legalität zu arbeiten. Da kam auf einmal der springende Punkt: Indem er den Rubikon (das war die Grenze, da durfte er nicht mit seiner Armee einmarschieren). . . hat er genauso die Legalität verletzt, wie die Legalität verletzt worden wäre, wenn Hindenburg aufgelöst hätte, ohne fristgerecht den Termin für die Neuwahl zu bestimmen. Das ist alles Legalität. Ich verstehe nicht, wie ein Historiker solche Dinge nicht sehen kann und die Redensart vom Rubikon gebraucht, die wundervoll ist, echte römische Exaktheit, heißt, dass wenn ich über diesen Fluss gehe, das war genauso räumlich eine undiskutierbare Grenze. Wenn er mit seinem Heer über die Grenze geht, das kann der dümmste Feldwebel wissen, jetzt wird’s illegal [klopft am Mikrofon]. Und so konnte der letzte Feldwebel wissen und der letzte Musketier, der sagte: „Ich hab einen Eid auf die Weimarer Verfassung geschworen.“ Und wenn der da ,60 Tage‘ las: „Auflösung sechzig Tage“, dann wusste man Bescheid. – Das, das ist das Problem der Legalität. Namentlich in solchen revolutionären Zeiten. Und auch da spielt das [Problem] Legalität doch immer wieder hinein. Also, das ist der 24. März. Ich glaube, wir sind jetzt so weit. Oder wenn Sie noch Fragen stellen wollen. Sonst wird es zu. . . Wir sind ja erst beim 24. März. Ich muss nur zur Ergänzung noch sagen: Diese vier Wochen, dieser Februar, dieser 5. März usw. . . Es sind also Februar, vier Wochen etwa, dann 24. März, nochmal drei, so sieben bis acht Wochen kann ich hier Ihnen Tag für Tag belegen. Sie sehen nicht einen Schatten des Versuches eines Kontaktes. Wenn mir irgendwie was daran gelegen wäre, war doch ’n Kinderspiel für mich, mit den Leuten in Kontakt zu kommen in Berlin. Kurzum, ich. . . Es ist nicht. . . Ich hab einen Besuch. . . beinahe jeden Abend Gäste gehabt, denn (damit Sie die Situation verstehen) ich hatte ja einen Ruf nach Köln. Den hatte ich ja schon im Herbst 1932 angenommen und mit Adenauer persönlich (der war Vorsitzender des Kuratoriums in Köln) verhandelt, über mein Gehalt usw.[59] Ich lebe ja heute noch von der Pension, die ich aufgrund dieses Vertrages da bekomme. Also kurzum, meine Situation in den sieben bis acht Wochen vom 30. Januar bis zum Ermächtigungsgesetz ist jetzt klar. Damit Sie aber auch menschlich weiterverstehen: Wie hält denn das einer aus, die sieben, acht Wochen in einer solchen Lage? Klaus Figge: Band zu Ende. Das ist ein guter Anfang für das nächste. Carl Schmitt: Ah ja, wie hält das einer aus.
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Die schöne Pilgerfahrt nach Goethe Carl Schmitt: Das wär’ die Zeit vom 30. Januar bis zum 24. März, bis zum Ermächtigungsgesetz. Versetzen Sie sich mal in die Lage: Das ist eine lange Zeit, wenn man in einer derartigen Spannung lebt, schon Monate lang vorher gelebt hat, und nun noch in Berlin mit solchen Bekannten und deren Interessen, und nicht nur theoretisch-wissenschaftlichen, sondern auch persönlichen Interessen. Ich muss noch bemerken, dass Marcks seine Stelle als Reichspressechef sofort niedergelegt hat, als die Nachricht kam, dass Schleicher entlassen ist und Hitler ernannt, also sofort. Aber er hätte sie, unter uns gesagt, noch viel schneller [schmunzelt] niedergelegt, wenn Hugenberg. . . Der Hass gegen Hugenberg war unvorstellbar bei diesen beiden, bei Schleicher und Marcks und auch bei Ott. Das war dann schließlich doch der eigentliche Feind und das eigentliche Unheil für diese nächste Umgebung von Schleicher in dem Moment.[1] Ich muss aber etwas Privates noch erwähnen, nämlich: Ich hatte einen Ruf nach Köln, wie ich eben sagte, und meine arme Frau machte den Umzug von Berlin nach Köln mit einer großen Bibliothek. Meine Frau hatte ja auch ’ne sehr schwere Operation hinter sich, wir hatten ein Kind von zwei Jahren, meine Tochter ist im August ’31 geboren.[2] Es gehörte ja alles dazu. Sie fuhr dann nach Köln, suchte dort eine Wohnung, machte den Umzug usw. Ich, mit dieser Egozentrizität des Wissenschaftlers und Gelehrten, verstehe erst heute, was die arme Frau da auf sich genommen hat, wie diese Arbeit ist. Ich saß da in Berlin und führte hochinteressante Gespräche, und die machte nun den ganzen Umzug. Ich habe mehrere Umzüge so gemacht, von Bonn nach Berlin, in Berlin dreimal umgezogen, von Berlin nach Köln, von Köln nach Berlin; also im Laufe weniger Jahre sechs bis sieben Umzüge. Ich bin keine Sekunde in meiner Arbeit gestört worden. Das hat die gute Frau Schmitt also einfach gemacht. Und ich, in meinem Gelehrtendünkel, habe das nichtmal bemerkt, was das eigentlich bedeutet. Heute weiß ich es also. Schön, das war die Situation. Nun, ich wartete ab, bis ich in Köln eine Wohnung gefunden hatte. Da hatte sich in der Pfarriusstraße was gefunden, und dann ging der Umzug vor sich. Ich habe nichts gesehen. Ich begab mich auf eine höchst-
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interessante Reise, nämlich nach dem 5. März; also ununterbrochen fast tägliche Besuche, gegenseitige Besuche und Besprechungen, gemeinsames Mittagessen, Abendessen, Frühstück, oder bei Habel beim Wein mit Leuten wie Marcks und Popitz und Ott und deren Frauen. Das war die Zeit bis 24, was habe ich nun nach dem 24. gemacht? Ich habe Ihnen eben auseinanderzusetzen versucht, wie das auf einen Juristen wirkt; und habe versucht, mich in die Situation. . . zu fragen: Was hätte Kelsen gemacht (wenn man mal so heuristisch fragen darf) in meiner Situation? Denn Kelsen hat ja auch bei Verfassungen mitgemacht, österreichische Verfassung gemacht. Dann gerät man, das ist unvermeidlich. . . Wenn da plötzlich von rechts oder links ein Stoß gekommen wäre (wann war das: 1920, als Kelsen die österreichische Verfassung. . . ?), weiß ich auch nicht, was er gemacht hätte.[3] Ich war jedenfalls in dieser Situation des Juristen, der weiß, dass es der Nichtpositivist im Sinne Kelsen[s] ist; der aber weiß, dass es überhaupt kein, Sie können das nennen wie Sie wollen, Recht gibt ohne Positivismus – ,Positivismus‘ heißt hier geltendes Recht; und ,geltendes Recht‘ heißt irgendwie effektives Recht. Über die Effektivität in dem Sinne des Funktionierens der Bürokratie und der Armee, die ich hier auch in diesem [unverständlich], war gar keine Frage mehr. Das hatten ja die Konservativen mit ihrem Unverstand, und das hatte der verfassungstreue Hitler mit seinem Wunsch, endlich Schluss zu machen und zum ehrlichen Parlamentarismus zurückzukehren, das hatten sie erreicht.[4] Da hatten sie nun ihre regierungsfähige Mehrheit, die der Herr Prälat Kaas in diesem gegen mich gerichteten Drohbrief da an Hindenburg verlangt hat. Also, was soll ich machen? Der 24. März war da, das war die Lage. Was wurde aus mir nach dem 24. März? Nun, der 24. März, das war damals einige Zeit vor Ostern. Wann war Ostern im Jahre 1933 genau? Wir können es ja leicht feststellen. Ich fuhr erst mal nach Weimar mit meinem Freunde Popitz. Dort war eine Beamtentagung, dort trafen wir uns. Popitz, Jacobi hielt auch einen Vortrag da, an der Beamtentagung. Das waren aber alles sehr allgemeine Redensarten, na über Verfassung;[5] die Beamten wollten natürlich auch wissen, was los ist. Wie gesagt, wenn man weiß, was ,politische Prämien auf dem legalen Machtbesitz‘ ist, da weiß man, was so diese Hunderttausende von Beamten sich sagen, wenn plötzlich ein solcher legaler Regierungswechsel ist – und legal ist legal, da gibt es keine Allreden [wohl: Ausreden]. Der Bundeskanzler Willy Brandt hat also gegenüber irgendeinem Einwurf oder Bedenken, dass die gegenwärtige Mehrheit der Koalition von Sozialdemokratie und Freier Demokratischer Partei doch eine ganz knappe Mehrheit ist (ich weiß nicht, wieviel Stimmen), die vernünftige Antwort gegeben: „Mehrheit ist Mehrheit.“[6] Oder ist legal legal, denn da sind kleine Ungenauig. . . Inkorrektheiten vorgekommen, auch beim Ermächtigungsgesetz.[7] Die Legalität in dem Sinne der effektiven Durchsetzung und Durchsetzbarkeit dessen, was dieses Regime macht, das heißt, indem sich in summa, pauschal und global alles fügt: Die Steuerzahler zahlen weiter ihr Geld, die Eisenbahnen laufen weiter, die Polizei funktioniert weiter, die Armee weiß, wem sie zu gehorchen hat etc. Die Legalität in diesem Sinne ist
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unbestreitbar; nun, wenn man sich auf diesen positiven, positivistischen Standpunkt stellt. Ich gehe also, um bei den Daten zu bleiben, auf Reisen mit meinem Freunde Popitz. Da war eine Tagung in Weimar. Dort traf ich meinen alten Freund Jacobi, Frau Jacobi war da, ich glaube, Frau Popitz (ob die mit war, weiß ich nicht), es war so eine schöne, gemütliche Veranstaltung. Und die Reden, die man da hielt, die waren sehr allgemein, auch die von Popitz. Er hat eigentlich nichts gesagt, aber was sollte man in der Situation sagen? Die Beamten wollten aber genau wissen, was sie zu tun haben. Und was sie zu tun, das wussten sie ja, weil die Regierung legal war. Wie gesagt, irgendein sonderbares Gefühl hatte man. Aber nach dem Ermächtigungsgesetz, da war überhaupt kein Zweifel mehr, und so war dann diese Tagung in Weimar. Ich fuhr am 26. März mit Popitz nach Weimar, und wir hielten dort den Vortrag, besichtigten das Goethe-Haus.[8] Popitz war ein großer Goethe-Kenner und -Verehrer, eigentlich war das seine Religion. Ich hab mich bei ihm immer gewundert, dass ein Mensch mit dieser von der Antike her, der sogenannten klassischen Antike her gewonnenen Weltvorstellung und Geschichtsvorstellung auskommt. Popitz war doch in entsetzlichen Lagen! Ich hab bei ihm im Hause gewohnt, also ’44, viele nächtliche Gespräche, auch bei Bombenangriffen. Und bei seinem guten Rheinwein, da haben wir über alles gesprochen, was man in solchen Situationen erwägen kann.[9] Wobei er schon genau wusste, was los war, auch nach ’43. – Er ist ja auch gleich nach dem 20. Juli ’44 verhaftet worden. Und ist ja schon, wenn ich nicht irr’, im Oktober ’44 zum Tode verurteilt worden, war dann lange im Gefängnis und ist am 2. Februar ’45 hingerichtet worden. Wir haben ihm noch Zigaretten ins Gefängnis geschickt und ’n paar Plätzchen gebacken, die er mochte, und solche Sachen. Das war eine sehr nahe Freundschaft. Und man konnte mit ihm sprechen, weil er ein ungewöhnlich gebildeter Mensch war. Das war Goethe. Goethe. Es war diese sogenannte dritte Religion, von der auch Spranger, den er verehrte, sprach; und von der Troeltsch mal gesagt hat (schon lange vorher), im Grunde haben die gebildeten Deutschen nur diese Religion, diese Bildungsreligion, die er da hatte.[10] Ich habe mich gewundert, dass er damit auskam. Er kam in allem Ernst und in aller Ehrlichkeit – und musste man einfach respektieren – mit dem richtigen GoetheZitat aus. Er hat auch seinen Kindern noch. . .[11] Heinrich Popitz hat mir das gezeigt, die letzten Zettel, die er hinterlassen hat. Es geht schließlich auf diese Art von Goethe her bestimmter klassischer Bildung zurück. So besuchte ich mit ihm zusammen das Goethe-Haus, das nannte er die „Via Sacra der Deutschen“, die sind wir gegangen, und er wusste jede Einzelheit. Ich habe mir nach dem Muster des Stehpultes von Goethe dieses Pult machen lassen. Das hat noch das Finanzministerium, das in der Hand von Popitz war, ja bis zu seinem Ende. . . Das hatte ja einen fabelhaften Stab von alten Berliner Handwerkern, die für die Staatsoper arbeiteten – und die konnten noch im besten Stil (sowas Ähnliches gibt’s eigentlich nur in Paris am alten Kunsthandwerkertum). Und was die alles konnten! Die haben viele schöne Sachen gemacht. Einige Leuchter hängen noch da. Da in
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unserer Diele hängt ein schöner Leuchter noch, den hat einer für mich gemacht. Und auch in meinem Schlafzimmer ist noch. . . Wie der, der die Leuchter für die Staatsoper machte, wissen Sie, diese, die man an die Wand hängt mit einer Kerze. Dieses Stehpult, das Sie da sehen, ist also auch von einem solchen Handwerker von der Staatsoper gemacht worden. Und da war ja auch die Beziehung von Goethe [richtig: Popitz] und Gründgens gegeben, weil Popitz als preußischer Finanzminister auf den preußischen Finanzen saß.[12] Und das war noch eine sehr starke Machtposition, denn Preußen blieb ja bestehen. Will bei der Gelegenheit bemerken, dass diese Preußen unter Popitz immer noch ruhig die Kirchensteuer verwaltet haben, wie das dem Konkordat oder wie das der Überlieferung entsprach. Da hat sich auch bis zum letzten Moment nichts geändert, während in anderen Ländern schon längst die Partei die Konsequenzen aus dem Bruch gezogen hatte. Das war so diese Art Wirklichkeit, in der ich lebte: die Reise mit Popitz, und Jacobi war auch ein sehr gebildeter Mann. Das war also die schöne Pilgerfahrt nach Goethe. Ich habe lange Zeit gebraucht wegen meiner katholischen Herkunft, ehe ich überhaupt einen Kontakt mit Goethe hatte und daran glaubte. Aber da hab ich dann auch diese Pilgerfahrt gemacht, das einzige Mal in meinem Leben, die Via Sacra (um das nochmal zu wiederholen); alles besehen im Goethe-Haus, das Sterbezimmer mit der nötigen Andacht usw. Also, das war die Reise nach Weimar, könnte man lange drüber erzählen, mit Jacobi. Das war am 26. / 27. Am 29. März fuhr ich nach Jena, besuchte meinen Kollegen Koellreutter[13] und war da den ganzen Abend (er hatte eine entzückende Frau), verbrachte da so den Nachmittag und Abend. Der war ja in Freiburg gewesen, hatte sehr schönen Kaiserstühler und sowas und teilte mir mit, dass er der NSDAP beigetreten sei. Er war also ein sogenannter Märzgefallener. Es sind unter dem Eindruck des 30. Januar, der Ernennung Hitlers, viele Leute beigetreten. Müsste es mal genau feststellen, das wär’ interessant. Und da kam sogar mein Jugendfreund Josef Wüst. Der war da Schulrat in Frankfurt, ein Volksschullehrer (aber hat praktisch immer zusammengearbeitet mit dem Kultusminister Haenisch), und der kam dann zu mir extra von Frankfurt gefahren nach Berlin, in meine Flotowstraße, sagte: „Ja Carl, was soll man nun machen?“ Nach dem 30. Januar. Und ich hab ihm abgeraten beizutreten, weil er eigentlich. . . Er war eingeschriebener Sozial[demokrat]. Es lag mir nicht. Aber wie gesagt: Das Interessante, ich sprech’ ja nur von mir und erwähn’ das auch hier. . . Ich hab ihm das auch nicht etwa übelgenommen, so ist das gar nicht, sondern er hatte das gemacht. So wie Kiesinger, der ist ja sogar noch, glaube ich, unmittelbar vor der Wahl am 5. März beigetreten, mit Nummer 2.000.000 oder so. Und die Wahl am 5. März, wie die so ausfiel, dass da diese sogenannte Nationale Koalition (oder wie sie sich nannte) eindeutig eine, wenn auch knappe, Mehrheit hatte – die hat dann weiter ’nen Schub und das Ermächtigungsgesetz hat wieder einen Schub gebracht von Leuten, die sich zur Partei meldeten. Dazu gehöre ich nicht, um das einfach als Faktum. . . Bitte, ich halte hier keine apologetischen Reden, sondern ich möchte hier die Fakten feststellen. Ich bin also. . . hab auch nicht daran gedacht, Sie werden
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nicht einen Schatten von Versuch, sich mal in. . . Konnte doch über Popitz jeden. . . Die liefen doch alle hinter Popitz her, der saß doch auf den preußischen Finanzen – überlegen Sie mal, was das praktisch heißt! – und war der nächste Berater von Göring in all diesen Sachen. Und wenn so ein Moment kommt, dann kommt ja auch alles gelaufen und will den Kontakt herstellen und will den Kontakt. Es war also am vierundzwanzigs. . . das war der 29. in Jena, Koellreutter, das war also sehr nett, der zeigte mir dann auch Jena. Ich habe übrigens vergessen, dass ich am Morgen des 29. März noch in Weimar, bevor ich nach Jena fuhr, in der Gruft (da war aber Popitz schon weg), in der Weimarer Fürstengruft war, um die Gräber von Goethe und Schiller zu sehen, und hab da in meinem Tagebuch eine Notiz gemacht.[14] Wenn ich da unten. . . Ich weiß nicht, ob Sie es mal gesehen haben. Wenn ich an so ’ner Reihe von Fürsten etc., unten. . . [Lacht.] So ähnlich wie Lenchen Demuth am Grabe von Marx, ich weiß nicht, lag da unten zu Füßen, liegen diese beiden da zu Füßen der Fürsten oder der Herzöge von Sachsen-Weimar, und fand das doch eine merkwürdige Dichterehrung. Wenn das also die Realisierung des berühmten Verses von Schiller ist, dass „soll der Dichter mit dem König gehen, sie stehen beide auf der Menschheit Höhen!“[15] Nun, das waren meine Eindrücke von dem Besuch in der Weimarer Gruft. Schön. Und fuhr dann weiter nach München. Ich war nun auf dem Wege nach Rom. Ich bin öfters, es wurde allmählich regelmäßig. . . In der Karwoche, also wenn Ostern nahte, fuhr ich nach Rom und verbrachte die ganze Karwoche in Rom. So hab ich namentlich noch das Jahr ’32 da verbracht, mit Peterson zusammen – und wollte die Karwoche 1933 auch in Rom verbringen; und fuhr nun, weil es ja erst Ende März war, über Weimar, Jena, nach München, blieb in München. . . und kam in München an am 30. März 1933, vormittags. Traf zunächst meinen Freund Ludwig Feuchtwanger, er war der Geschäftsführer von ,Duncker & Humblot‘; das war natürlich mein Verleger, wir waren sehr befreundet. Wenn Feuchtwanger zum Beispiel nach Bonn kam, wohnte er bei uns im Hause. Er war der Bruder von Lion Feuchtwanger. Und er war ein sehr intelligenter, auch wissenschaftlich sehr interessierter Mann; und der war natürlich in großen Sorgen, und keiner wusste, was es gab. Nun, wie soll ich solche Leute trösten?[16] Unterdessen fuhr meine Frau zu der Familie Eisler, Georg Eisler, der Bruder meines gefallenen Freundes Fritz Eisler, und deren Mutter.[17] Alle Juden waren natürlich in größter Sorge. Die Vorsichtigen waren schon längst abgereist, einige schon nach dem 30. Januar, einige haben dann Selbstmord begangen, schon nach dem 30. Januar. Andere fuhren dann nach dem Ergebnis der Wahl, und nach dem Ermächtigungsgesetz fuhr wieder. . . Das ist alles interessant, das müsste man einfach statistisch mal aufnehmen, soweit das möglich ist, diese plötzlichen Bewegungen nach allen Richtungen, wie auch die Emigration, das habe ich ja gar nicht, wie soll ich sagen, von mir aus habe ich gar nichts, hat mich übrigens auch. . . Als Freund, für den ich mich einsetzen konnte und musste, kam ja nur Jacobi in Betracht, der mit mir in dem Prozess Vertreter des Reiches war. Ich weiß nicht, was Papen zu seinem Schutz getan hat.
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Ich hab ihm für diesen sehr gefährlichen Gauleiter Mutschmann eine Empfehlung geschrieben, ich finde wahrscheinlich noch den Durchschlag.[18] Was konnte man machen? Ich gehörte ja gar nicht dazu. Auch später, als ich dazu. . . Irgendeine Empfehlung von mir, kommt vielleicht noch gleich, das ist zweischneidige Sache. Jedenfalls war ich in München am 30. März, traf also meinen Freund Feuchtwanger, dann besuchte ich meinen alten Chef vom Generalkommando, Hauptmann Roth, der war damals (was war er?) preußischer Staatskommissar oder so, bayerischer.[19] Entschuldigen Sie, er war bayerischer Justizminister geworden, bei den Völkischen war der. Und der Roth organisierte gleich eine Zusammenkunft der alten Abteilung P vom Generalkommando, wo ich längere Zeit gewesen war und wo die Bekannten. . . Die kamen alle entweder aus der bayerischen Beamtenkarriere, das waren Brucheinser-Juristen, wie man sagt, und die waren alle Bezirksamtmänner. Einer war mir interessant nach meinen Ausnahmezustand-Erfahrungen, ich war ja auch in dem Referat für Kriegszustand, in dieser Abteilung P, da bin ich an das Thema Ausnahmezustand, Kriegszustand, Belagerungszustand gekommen und kenne es von innen her. Ich bin nicht etwa aus angeborener Bosheit auf das Thema Diktatur gekommen, aus Neigung, sondern ich habe mich einfach ein paar Jahre ganz praktisch damit beschäftigt und weiß, was Übergang der vollziehenden Gewalt ist, was das eigentlich heißt und solche Dinge.[20] Das gehört dazu. Ich hätte ein Buch wie ,Die Diktatur‘ oder ein Referat über Artikel 48 schon vierund[zwanzig]. . . in den ersten Jahren ja gar nicht halten können, mit diesen unglaublichen alltäglichen, praktischen Erfahrungen, mit den Dingen wie Ausnahmezustand, Kriegszustand (,Belagerungszustand‘ hieß es in Preußen, ,Kriegszustand‘ hieß es in Bayern, die hatten ein eigenes Kriegszustands[gesetz]) etc. . . .genau kennt. Also, diese alten Kameraden da vom Stellvertretenden Generalkommando in München, wir wollten uns abends treffen bei der Witwe Schmidt (die hatte so ’nen kleinen Laden und hatte guten Pfälzer Schoppenwein), wo wir früher auch hingingen. So war das gedacht für den Abend des neunundz. . . des 30. März, sind wir schon. Das hatte er schnell organisiert, und da freuten wir uns alle auf den Abend. Dann besuchte ich noch meinen alten Lehrer von Straßburg her, Calker, den Strafrechtler; der war da Honorarprofessor an der Universität München. Und dann besuchte ich aber den Mann von der Bayerischen Volkspartei, Konrad Beyerle, Mitschöpfer der Weimarer Verfassung. Und da war ich zum Tee, und er wollte mich festhalten, ich hatte mich aber mit den Leuten von der Abteilung P schon verabredet.[21] Ich wär’ auch noch ’nen Tag in München geblieben. Und Beyerle, der bat mich sofort, ihn doch bei Gö[ring]. . . Wie er hörte, dass ich in Berlin bin und so viele Leute kenne, meinte er. . . – Er wollte mitmachen, er wollte unter allen Umständen mitmachen und hat mir noch später, vielleicht Ende April, einen Brief geschrieben, den ich noch besitze, wo er auch nochmal darum bittet, ob ich nicht. . .[22] Er wollte einfach mitmachen. Konrad Beyerle. Ich bitte, mich nicht misszuverstehen. Ich erzähle hier nur Fakten, ich überlasse Ihnen die Bewertung und behalte mir die Bewertung vor. Aber ich bitte [zu] unter-
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scheiden, was ich so oft erlebt habe und jetzt wieder da mit der ,Historischen Zeitschrift‘ erlebt habe, dass ganz primitive Fakten einfach nicht nur entstellt, sondern entweder unterschlagen oder konstruiert werden, um einen Euphemismus für fantastische Erfindungen zu nennen.[23] Nein, das regt mich auf, wenn ich nur daran denke! Der Fall (wenn Sie das ,Fall‘ nennen wollen) Beyerle ist ’ne Sache für sich. Jeder war erstaunt bisher, der den Brief gesehen hat. Ich kann Ihnen den Brief zeigen, der liegt da hinten bei vielen andern Briefen, nicht wahr. Er wollte. . . Der war Bayerische Volkspartei! Es handelte sich doch um. . . Die Bayerische Volkspartei hatte ja auch dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, das war damals noch Zentrum! Was wollen Sie denn da machen? Nochmals, ich würde sofort aufhören, wenn Sie den Eindruck haben, ich will mich hier verteidigen. Ich will hier erst einmal unsere datenmäßige und faktenmäßige exakte Aufzählung zu Ende führen. War bei Beyerle also nachmittags zum Tee, geh’ in mein Hotel zurück, um mich ’nen Augenblick auszuruhen und dann zu der Verabredung hier mit den alten Kameraden da, darunter war vor allen Dingen einer, der mich interessierte, Schachinger, glaube ich, der war nämlich der Kommissar von Kahr gewesen, im November 1923 für den Ausnahmezustand da in Bayern. Das interessierte mich natürlich vom Thema her, Ausnahmezustand, und der hat da große Erfahrungen gemacht bei dem Putsch von Hitler. Und der kannte die Sache Hitler und die Niederschlagung des Putsches da an der Feldherrnhalle, vom November 1923, kannte der als der verwaltungsmäßige Dirigent des Ausnahmezustandes, den Kahr verhängt hatte, der später auch von Hitler am 30. Januar [richtig: Juni] umgebracht worden ist. Das war natürlich interessant für mich, auch was die dachten, war interessant. Na, da kommt oder da lag ein Telegramm im Hotel: Montag Nachmittag 5 Uhr Sitzung [blättert] im Staatsministerium. „Staatsministerium nachmittags um 5 Uhr.“[24] Das war ein Telegramm von Popitz, und da musste ich noch in der gleichen Nacht. . . Mit dem Schlafwagen bin ich dann von München nach Berlin zurückgefahren. Da war die Reise nach Rom und die ganze Weiterreise abgebrochen. Und kam dann am anderen Morgen um 8 Uhr in Berlin an, ruhte mich aus und ging am Nachmittag also in diese Sitzung. Und das war die erste Beratung (das war noch keine Beratung) mit Popitz, Neumann. Neumann war der Staatssekretär von Göring, die andern sind leicht zusammenzustellen, ist ja nicht wichtig. – Und das war die Beratung über das Reichsstatthaltergesetz. Das ist, ich möchte sagen, [klopft auf den Tisch] ich kann den Finger auf das Kalenderdatum. . . der Beginn der Mitarbeit, am Freitag, den 31., in München, (wann kam das?) am Morgen. Ja, in München war ich, glaube ich, ein oder zwei Tage. Ich kann das Datum feststellen, [blättert] ob es 1. April schon war, oder was es war. Ich will das nicht hier mit auffahren, aber wenn Sie Wert darauf legen, zeige ich Ihnen das Datum. Eigentlich tut’s mir leid, aber ich kann’s Ihnen sofort. . . ich kann es Ihnen ermitteln. Nachmittags, Montag [richtig: Samstag] Nachmittag um 5 Uhr, na, wo ich so versessen bin auf den Kalender, möchte ich es doch genau sagen: also Donnerstag mit Feuchtwanger, Freitag, den 31. [entziffernd] (das war Freitag, den 31., das Telegramm aus Berlin), ja, dann war das
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Samstag, Sonntag. Was haben wir denn da: Montag der 3. Nein, da war ich. . . Das muss schon am. . . Ja, 9 Uhr 30 bei Neumann, das war der Staatssekretär, der das vorbereitete usw. Ja, ich hätte so gerne. . . Einen Moment: Samstag, Sonntag.[25] Ja, also wenn Sie Wert darauf legen, erforsche ich es mal hier an der Hand des schwer zu lesenden, stenografischen Manuskript[s]. Mein Ehrgeiz, mein kalendaristischer Ehrgeiz, also, der ist ein bisschen frustriert. Ich hatte so gedacht, ich kann hier den Finger drauflegen und sagen. . . Ich gebe gerne exakte Antworten und vor allen Dingen und vernünftigerweise auf Fakten bezügliche Antworten und Kalenderdaten. Nun, Ihre Frage lautete ja: „Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht?“ und ich wollte sie in der Weise beantworten, dass ich im ersten Teil meiner Antwort Ihnen sagte: „Seit wann genau haben Sie da mitgemacht?“ Und Sie sehen also, das war an einem Montag, Montag war der 3. April, nach diesem Datum. Indem ich aber (Sie können das auch schon vorher. . .) dem Telegramm, das am Freitag, den 31., da abends ankam, vom Berliner. . . Ach so, dann bin ich erst ’nen Tag später. . . weil ich den Schlafwagen erst später bekommen habe, jetzt verstehe ich das. Also müsste ich sagen, indem ich – eigentlich ohne Bedenken, und ohne Reflexion, aber auch ohne jede Spur von Dezisionismus – dem Telegramm gefolgt bin, Telegramm von Popitz, Staatsministeriumssitzung. . . Also Montag, 5. [richtig: 3.], das ist der Punkt und das Kalenderdatum, an dem Sie angefangen haben mitzumachen. Damit habe ich, soweit es mir möglich war, den ersten Teil Ihrer Frage beantwortet. Das ist ja der wichtigste Teil. Da begann die Mitarbeit. Der Moment, in dem ich, also, beschloss, entschuldigen Sie, PG zu werden – der kommt erst viel später. Ich bin PG vom 1. Mai. Da bin ich in Köln, erst im letzten. . . das war Ende April, habe ich mich da angestellt, da war ’ne große Schlange, und hab mich da einfach eintragen lassen.[26] Das ist nun eine weitere Entwicklung. Ich weiß nicht, ob ich das noch alles erzählen soll, denn da war nun. . . [Blättert.] Ich müsste eigentlich wegen der Wichtigkeit noch ein Wort über das Reichsstatthaltergesetz sagen. Und damit ist der Beginn der Mitarbeit exakt bestimmt. Und dann könnte man ja eigentlich erst in die Erwägung eintreten: „Wie ist das gekommen?“ Wollen wir Pause machen? Kinder, sehen Sie, wie wenig man sagen kann?
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Mein erster Blick ins Dritte Reich Das Reichsstatthaltergesetz, sprechen wir schon? Von meiner Seite her, das war also die Seite Popitz, interessierte uns Preußen und die Erhaltung Preußens, das war ja sozusagen der erste Stein für den späteren Preußischen Staatsrat.[27] Also, das war sehr gut überlegt von allen Seiten her. Und die rein politische Möglichkeit, mit solchen Plänen überhaupt eine gewisse Aussicht auf Erfolg zu haben, die lag bei Göring; das war das persönliche Interesse Görings, Preußen in der Hand zu
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behalten, von uns aus gesehen. Hindenburg hatte sich jede, wie soll ich sagen, Befassung mit der Sache verbeten. Papen versuchte so, sich als Vizekanzler zu bewähren, der hatte praktisch gar keinen Spielraum in diesem System, in diesem Spiel um Reich und Preußen. Die Gauleiter hatten ihre Interessen, sich als Gaugrafen zu etablieren und zu festigen. Und das Ganze endete dann damit, dass (eigentlich sehr primitiv) in den Ländern der Parlamentarismus, der ja doch noch ’ne starke Sache war, der Länderparlamentarismus, beseitigt wurde. Das empfanden die Gauleiter als einen Fortschritt, für sich, von ihnen aus gesehen, und einen Weg zur Herstellung der Einheit des Reiches.[28] Und Göring hatte also die Genugtuung, dass Preußen keinen Reichsstatthalter hatte, sondern das machte der Führer persönlich. Der ließ sich das gefallen, dass das in dieses Gesetz geschrieben wurde, und Stellvertreter des Führers war Göring – nicht Reichsstatthalter. Was Göring machte, war direkt der Führer, so dass also auch die Partei sich da nicht mehr einschalten konnte. Das war die Konstruktion oder die Struktur, wenn Sie wollen, die man im Auge behalten muss. Ich hab das mit der Deutlichkeit eigentlich noch bei keinem Zeithistoriker gefunden, dass das der springende Punkt war. Solche springenden Punkte darf man auch nicht zu auffällig hervortreten lassen in Gesetzen. Aber ich empfehle Ihnen, den Text zu lesen, es ist ja nicht lang. Um es hier kurz zu machen, ich will Ihnen hier keinen juristischen Vortrag. . . Ich hab ja selber einen kleinen Kommentar geschrieben, da steht aber auch nicht viel drin.[29] Also das war das Reichsstatthaltergesetz. Das kam schnell zustande, wurde schnell unterschrieben, und wir, wenn ich mal so sagen darf, ich war ja bloß mit dabei, aber der Göring, der Staatssekretär Neumann und noch einige andere, ich sage Ihnen das, ich glaube auch. . . Es handelte sich darum, das schnell ins Reichsgesetzblatt zu bringen. Das geschah auch sehr schnell, ich glaube, 7. April oder sowas war die Sache fertig. Jeder fragte mich: „Fabelhaft, endlich ist die Einheit des Reiches hergestellt!“ usw. Später ist ja, erst Januar ’34, wieder ein Gesetz zur Herstellung der Einheit des Reiches. . .[30] Aber Göring saß unverändert bis zum letzten Tage auf seinem Preußen drauf, nicht wahr. Und unverändert blieb ein einziger preußischer Minister übrig, der Finanzminister, hochinteressant, und das war mein Freund Popitz, verstehen Sie? Das ist meine Situation, und eigentlich ergibt sich schon aus dieser Aufzählung, warum ich mitmachte. Das war ein bewährter Freund, seit Jahren, sehr naher Freund, Popitz. Und wenn der mir telegrafierte: „Montag Nachmittag nach Berlin kommen, Staatsministerium“, dann machte ich das einfach. Sie fragen: „Mitarbeit mit Hitler“ – das war auch Mitarbeit mit Hitler, aber es steht Ihnen anheim, das zu bewerten und zu beurteilen. Zunächst ist das mal ’ne Antwort: „Warum?“ haben Sie gefragt, „warum?“ Ja, so ist es gekommen, nicht wahr. Ich muss noch einiges weiteres sagen, was auch in diesem Zusammenhang von Interesse ist. Jetzt komme ich schon genau Ihrer Frage vielleicht, wenn ich sie richtig verstehe als Frage, näher. Das Gesetz ging also über die Bühne und wie alles, was damals passierte, war es ein glorreicher Erfolg; keiner wusste genau, was das war. [Schmunzelt.] Ich habe mich später oft gewundert, selbst bei Fachkollegen des
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öffentlichen Rechts; die hatten gar nicht gemerkt, dass Preußen gar keinen Reichsstatthalter hat. Mit diesem einfachen konstruktiven Kunstgriff, wenn ich mal so sagen darf, dass Preußen keinen Reichsstatthalter hat, hat sich Göring von der Partei unabhängig gemacht, indem er den direkten Kontakt hatte, indem er der Führer war in concreto, solange ihn nicht Hitler. . .[31] Also das, was die nun oder wie die das unter sich abmachten, das war eine Sache. Und Hitler hat das meiste, was geschah, zunächst mal laufenlassen und wartete ab, wie sich das entwickelte und schlug dann zu. Ist das bis dahin klar? Schön. Nun wissen Sie, seit wann ich mitgemacht habe und in welcher Sache, mit welchem Thema ich mitgemacht habe. Ich meine, das ist eine anständige Art, die Frage zu beantworten. Nur so kann man sie „warum“ beantworten, sonst müsste ich ja mit allgemein. . . „aus Liebe zum deutschen Vaterlande“, ich kann Ihnen ja alle möglichen Antworten geben. Ich will Ihnen aber mal eine exakte datenmäßige und faktenmäßige unterbaute Antwort geben. Jetzt war also das Reichsstatthalter. . . die Einheit des Reiches war hergestellt – glorreicher Erfolg. Am 7., am 6. April, abends, war da nun eine Tagung. Da sind einige sehr vorsichtige Notizen, die sind aber noch deutlich genug zu lesen. Aber man merkt schon, da wird auch die. . . mit Rücksicht. . . Also das wurde schon allzu interessant, was da kam, nämlich: Da war um 8 Uhr abends ein Empfang, den gab Papen. Und da waren eingeladen. . . Ich wurde mit eingeladen, war ’ne ganz große Ehre: ein Empfang, ja, in welchem Raume weiß ich nicht mehr, in einem dieser Palais, also, ob es das preußische. . . Ministerpräsident, wo Göring. . . Ich weiß es nicht, ich habe es. . . Man rennt da so durch diese Paläste und die Treppen da rauf, also kurzum: Da war ein Empfang in einem dieser großen. . . Es war aber nicht eigentlich ein Empfangsraum, es war also auch ein Raum mehr für einen Vortrag, in dem saßen hundert Menschen etwa, hundert bis hundertfünfzig Menschen, und der Führer sollte sprechen. Das war sozusagen eine Art Abschluss, nicht Feier, es war kein Empfang in dem Sinne, dass da Buffet und Trinken die Hauptsache war, sondern da saß man zunächst und hörte einen Vortrag – und zwar vom Führer persönlich. Acht Uhr. Und das war mein erster Blick ins Dritte Reich. Habe ich Ihnen das Foto gegeben? (Erinnern Sie mich gleich daran.) Also ein für mich und für die Beantwortung Ihrer Frage wichtiges Datum, das mir bei der Einsicht in mein Tagebuch eigentlich von neuem wieder in ganz neuer Gestalt in der Erinnerung aufgeht. Acht Uhr, acht ein Viertel, fing das so ungefähr an; und da saß also vom Generalstab, also vom Reichswehrministerium, und vom Admiralstab, Marineoffiziere, dann waren wir hier vom Innenministerium ein paar Leute, die beim Zustandekommen dabei waren (darunter rechnete man auch mich), und dann etwa hundert, würde ich sagen, achtzig bis hundert. . . Das war keine große, keine Massenversammlung. Ich sehe sie noch da sitzen, fabelhafte Generalstäbler da, auch jüngere, also Obersten und sowas, Einzelheiten weiß ich nicht mehr. Es ging alles sehr schnell, wir kamen etwas zu spät, ich bin in der Taxe hingefahren. Und ich saß da etwa in der dritten, vierten Reihe und einige Meter von dem
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Pult des Redners entfernt, also vom Führer. Da erschien also der Führer, und es war die erste Rede. Die Militärs saßen da mit einem eisernen Gesicht und wollten mal hören, was der sagt. Es war imposant, das zu sehen: Da saß nun die berühmte Wehrmacht und die preußische Armee, nun noch die Marine dabei, das ist ein etwas anderer Typ, aber egal. Es war in gewissem Sinne das genaue Gegenteil dieses Massenpublikums, an das Hitler gewöhnt war, und andererseits aber auch das genaue Gegenteil des kleinen Privatkreises, in dem Hitler alle Register ziehen konnte, bis zu Tränen in den Augen, bis zum Auf-die-Erde-Schmeißen vor Wut usw. Die saßen da, echter Generalstab so im besten Sinne des Wortes, und hörten sich das an. Steht auf, Hitler beginnt seine Rede, und es dauerte also mindestens zwanzig Minuten bis eine halbe Stunde, ehe man das Gefühl hatte, er ist in Fahrt, er ist in Schwung, wie er das so gewohnt war. Er fing an (er wusste das ja sehr genau) und hielt sich ja immer an sein Publikum – unheimlich der Kontakt, diese fast mediale Abhängigkeit vom Publikum, nicht wahr, und den Beifall, ,inneren‘ Applaus, möchte ich beinahe sagen. Sitzen eisern da, applaudieren auch nicht und hören sich das an, na ja, in dieser Art von Rationalität, Exaktheit usw. Und nach ungefähr zwanzig Minuten, halbe Stunde: Er landete einfach nicht, es sprang kein Funke, nichts. Da wurde er ganz sentimental und fing an zu reden: „Die Opfer, 400 Opfer“, dass die. . . Ich dachte mir innerlich: „Das ist nun die Revolution, 400 Opfer in den vierzehn Jahren.“ Es war nicht zu machen, auch diese andere, diese Tour zog nicht. Es war aber auch innerlich so leer, auch kein[ ], wie er sonst das konnte, Drohen mit irgendetwas; es war auch noch nicht der Ton, den er (wie ich nicht mehr selber gehört habe, aber oft mir habe erzählen lassen) später anschlug vor der Reichswehr: „Wenn mir die Reichswehr nicht mehr folgt, dann schieße ich mir eine Kugel vor den Kopf“, wie er das im Januar ’35 gesagt hat. Nein, es war eigentlich. . . Man kann sich kaum vorstellen, dass ein Vortrag, es war ja eigentlich mehr Rede, und Vortrag in dem Sinne konnte er ja gar nicht halten; aber dass eine Rede von Hitler mit dieser kühlen, durchaus nicht abweisenden, aber auch durchaus nicht einladenden Bereitwilligkeit entgegengenommen wurde. Ich glaube, das war auch für ihn der erste derartige Kontakt, ich weiß das ja nicht, aber ich sah das so. Die Frage ist ja nicht, was ich heute weiß, sondern ich habe mir zum Glück ein Stichwort aufgeschrieben für ein paar Bemerkungen zu Popitz und die Popitz mir gemacht hat. Popitz sagte: „Der Mann wird die soziale Schicht, die er braucht, nämlich die gebildete Bürgerschicht, in diesem Sinne die Gesellschaft, nicht so leicht gewinnen.“ Verstehen Sie? Das Wort ,Gesellschaft‘ fiel mir noch auf damals. Nun war Popitz ein sehr bewusster Bildungsbürger, verstehen Sie, er war auch kluger Mann und erfahrener Mann als Wissenschaftler usw. Es war genau das, das kann ich als Zeuge bestätigen: „Es wird ihm sehr schwer werden, die eigentliche bürgerliche Bildung“, Popitz war stolz darauf, zu dieser bürgerlichen Bildung zu gehören, war stolz darauf, dass Motz und Maaßen, die preußischen Finanz[männer], vor allem Maaßen, Bürgerliche waren, dass Miquel, der große Finanzmann, dass das Bürgerliche waren.[32] Er sagte, dass die Mutter von Bismarck eine Bür-
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gerliche war, sagte: „Der preußische Staat, zu dem gehört genau diese Bildung.“ Und es ist der preußische Staat, der eigentlich, wie soll ich sagen, in diesem Sinne diese Konstruktion trägt, die Struktur hält der ganzen Sache (um das einzufügen, zum Verständnis dieser kurzen Bemerkung von Popitz). Und ich fand das also sehr treffend und auch richtig, und [es] war für mich kein Grund, das abzulehnen. In dem Boot saß ich also jetzt sozusagen, diese Art Bildung machte da mit, das ist ja das Interessante. Das ist aber was ganz anderes als Universitätsprofessoren, das muss ich sagen. Ich bin ja schließlich nur ein Universitätsprofessor gewesen, aber wenn ein Mann wie Popitz das sagt! Aber sie machte mit, und mit ,Bildung‘, darunter verstehe ich auch nicht die Intellektuellen, vor allem die Linksintellektuellen – die waren ja alle emigriert![33] Das ist das Interessante, auch wenn ich an das Buch da über die Weimarer Kultur von dem Peter Gay und den Aufsatz von Carl Schorske denke.[34] Er sagte wörtlich: „die Gesellschaft, diese Schicht“, und das Wort ,bürgerlich‘ verstand er nicht im marxistischen Sinne, sondern das war für ihn etwas, wozu er gehörte, wozu er auch existenziell gehörte, Sie können ihn gar nicht anders definieren. Damit will ich ihn – bitte, mich nicht misszuverstehen – ich will ihn da nun nicht denunzieren: Der Mann hat mit Hilferding mit derselben Sachlichkeit gesprochen, die haben ihm alle dasselbe Vertrauen entgegengebracht, mehr Vertrauen wie wahrscheinlich manchem ihrer eigenen Parteigenossen, diesem Popitz. Man kann ja heute kaum ein Wort wie ,bürgerlich‘ aussprechen, ohne sich solchen Missverständnissen auszusetzen. Bitte missverstehen Sie mich nicht, wenn ich das sage! Also das war der Eindruck von Popitz. Ich beantworte immer noch die Frage: Warum haben Sie mitgemacht? Nun, bürgerliche Bildung, das war für mich ja ein ganz anderes Problem, wenn ich das sagen darf. Wir waren ja früher Outsider, wir Katholiken, während Popitz so mittendrin saß als Preuße und Protestant usw. Aber darum handelt es sich ja nicht hier, um die Gegensätze, sondern nur um die Situation in diesem Augenblick; das war ein wirklich fabelhaft wichtiger Moment, Reichsstatthaltergesetz. Und dieser Eindruck von dieser Rede Hitlers vor der Schicht, die auf einmal da saß. Wenn Sie das Wort ,Elite‘ nicht gebrauchen: Da saßen sie aber, ohne die kann man keinen Staat halten und aufrechthalten und ohne die kann man auch keinen modernen Krieg führen und auch keine moderne Finanz halten usw. usw. Es war eben ,der Staat‘ noch. Und dass dieser Staat auf die Gesellschaft angewiesen war, das wusste jeder intelligente Bürger, ob er Hegel gelesen hatte oder nicht.[35] Das war das alles, das steckte alles da in Preußen-Berlin in dem Moment. Er sagte, es wird ihm sehr schwer fallen. Aber er war, er wollte (war sehr loyal) mitmachen. . . Na, mein Eindruck, den ich da notiert habe: Sie haben halt doch den Unterschied der Herkunft, ich kam ja doch eben aus dem katholischen Westen, und Popitz war in Anhalt geboren, also von der Elbe. Meine Bemerkung, die hat ihn aber nicht weiter interessiert, da hielt er mich vielleicht auch nur für einen geistreichen Jungen. Meine Bemerkung war die: „Der kam mir vor wie der Stier, der in die Arena kommt.“[36] Ich hab ihn auch noch gefragt: „Haben Sie mal so eine richtige Corrida, einen richtigen Stierkampf gesehen?“ Hatte er natürlich nicht. Darf
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ich mir die Zwischenfrage erlauben: „Haben Sie mal einen gesehen? Haben Sie mal einen gesehen?“ Dieter Groh: Nur im Film. Carl Schmitt: Nein. Nun sind sie heute schon sehr modern, aber egal. Die Stiere werden ja, in den echten, großen Filmen [richtig: Arenen], in Madrid, Barcelona, wo die fabelhaften. . . Die Stiere werden ja wochenlang, also die allerbesten, die Stiere von der Weide, da bei Sevilla usw., kommen von der Weide direkt in dunkle. . . und werden damit. . . Sie sind alle im Dunkeln gewesen, kommen aus dem Dunkeln in eine Arena, wo ein Gebrüll ist, nicht wahr. Und dann: Haben Sie mal nahe genug gesehen den Blick des Stieres? So, da steht schon einer, da stehen schon die Matadores, die Picadores usw. Und da im Hintergrund. . . und der Toreador, der ihn also mit seinem roten Tuch und seinem fabelhaften Degen. . . Der Blick des Stieres in einem solchen Moment: Der weiß nicht, wo er ist, er weiß einfach, er sah – er musste es natürlich wissen (so viel Instinkt hat jedes Lebewesen, nicht wahr), es ist hier, es ist einfach, das war dieser Blick, wo alles ist, auch Bereitschaft, sich zu wehren, Bereitschaft, ihn zu töten – ist alles drin. Das war das. Ich habe Ihnen hier etwas mitgeteilt, ich weiß nicht, wie das später gegen mich verwertet wird. Ich wollte Ihnen die Antwort nicht schuldig bleiben, und auch nicht sentimental gemeint, sondern das ist, weil die Situation ja auch für mich (so weit gehöre ich ja doch schließlich, auch wenn ich aus dem katholischen Westen komme, zu dieser Art bürgerlicher Bildung). . .[37] Und durch die Weimarer Verfassung, das ist ein wichtiger Punkt in dem Zusammenhang, auch Brüning hat das nicht genug verstanden, ist ja der katholische Volksteil in seiner politischen Organisation der Zentrumspartei zur tragenden Mitte, buchstäblich tragenden Mitte der Weimarer Verfassung geworden. Es gab keine Weimarer Verfassung – die ist unvorstellbar! – ohne diese tragende Mitte, das heißt ohne nicht nur den Kompromiss zwischen bürgerlicher Gesellschaft und sozialistischer Gesellschaft, d. h. der Kompromiss, sagen wir mal, Sozialdemokraten mit den bürgerlichen Liberalen, sondern diese ganz anders geartete, damals doch noch rein konfessionelle politische Partei – katholisch sogar![38] Wenn sie auch später mal irgendeinen Evangelischen oder einen Juden da hineingenommen haben, aber mit einem Prälaten an der Spitze und Prälaten an der Spitze der Bayerischen Volkspartei und Prälaten an der Spitze des badischen Zentrums usw. Wenn ich auch daher komme, gehöre ich doch so viel auch zu dieser bürgerlichen Bildung, um Popitz zu verstehen und auch meine eigene Situation zu verstehen. Nun habe ich mir schnell notiert damals, um es nicht zu vergessen, und dann geht das weiter, dann arbeitet man weiter. . . Damit begann meine Mitarbeit, verstehen Sie? Auch nicht in einem tieferen Sinne, dann begann die Freude an der Arbeit. Das war nun hochinteressant, also ein Jurist, der nicht selber mal schwie-
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rige Gesetze gemacht hat. . . Dann fuhr ich nach Köln, da war ich ja gar nicht mehr in Berlin. Und dann ging das da weiter, und dann war ich schon ein ziemlich berühmter Mann und beim Reichsstatthaltergesetz dabei. Dann kommt nun der Teil der Sache, da kann man sich nicht mehr wehren vor Leuten, die zu einem kommen. Da kam also die Oberregierungsrätin Dünner vom Zentrum, die war suspendiert,[39] dann kamen die, und jeder wollte ’ne Empfehlung und jeder wollte das. Na ja, dann kommt dieser Zustand, und dann kamen auch anständige Leute und wollen mir ausführlich erzählen. Und was soll ich machen, ich muss meine Vorlesungen halten. Und dann kam also der Mann da in Köln, nicht der Gauleiter selbst, aber ein anderer.[40] Kurzum, damit beginnt die Sache. Ich habe so weit geantwortet, dass ich jetzt in dem chronologischen Überblick eigentlich nur noch zu erwähnen brauche. . . Das hatten die so taktvoll überlegt, das preußische Staatsratsgesetz, das habe ich auch noch mit Popitz überlegt.[41] Ich fuhr dann von Köln nach Berlin. Es war ja alles sehr schwierig, ich konnte von Köln aus diese Kontakte ja auf die Dauer nicht aufrechterhalten. Dann das preußische Staatsratsgesetz, das ist wohl vom Juli 1933, die erste Tagung war aber erst im September. Ersten Vortrag im preußischen Staatsrat habe ich auch gehalten.[42] Und da haben sie mir. . . Und wie es so weit war, bekam ich also ’n Telegramm von Berlin, dass ich auf Lebenszeit zum Preußischen Staatsrat ernannt werde, pünktlich am 11. Juli 1933, also an meinem 45. Geburtstag. Und inzwischen kamen Rufe von Leipzig, die Heidelberger wollten mich auch haben, in München war sogar der Vertrag auch fertig, musste man anstandshalber dahin fahren. So verging die Zeit, und erst im August hatte ich etwas Zeit, den Vortrag im Staatsrat. . . Das erste Gesetz, das wir gemacht haben, war das Preußische Gemeindegesetz, ich glaube vom Dezember 1933, war das fertig. An den beiden Gesetzen habe ich also mitgearbeitet: Reichsstatthaltergesetz, Preußisches Gemeindegesetz, ’33. Über beide Gesetze würde ich mich gerne mit Historikern und Fachleuten unterhalten.[43] Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich mich verteidigen – ein ganz anderes Problem, die Verteidigung. „Warum haben Sie also mitgemacht?“ So fing das an. Wie das weitergeht, da kann ich Ihnen nur mit einem schönen französischen Wort antworten (ich weiß nicht, von wem es stammt, aber es muss von einem sehr erfahrenen Mann. . .), an das ich immer denken musste, wenn ich das Wort ,Engagement‘ und ,engagiert‘ höre: „On s’engage, puis on voit.“ – „Man engagiert sich und dann erst sieht man, was los ist.“[44] Ohne Engagement weiß ich eigentlich nicht genug, um zu wissen, was die Situation ist. Also, ich habe mich engagiert in dem Moment, dann lief das weiter. Und das ist ja wieder ein neues Kapitel, denn sonst müsste ich Ihnen ja den ganzen weiteren Verlauf erzählen. Ich frage mich jetzt, [näher ans Mikrofon] wie weit ist damit die Frage beantwortet: „Warum haben Sie bei Hitler mitgearbeitet?“ Nun, darf ich noch ein paar Minuten zu der Frage etwas sagen? Es ist ’n Unterschied, ob Sie mich fragen: „Warum haben Sie bei Hitler mitgearbeitet?“ oder ob Sie fragen: „Wie ist das gekommen?“ Ich habe eigentlich die Frage beantwortet: „Wie ist das gekommen?“ und verstehe durchaus,
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ich will Sie da nicht etwa umgehen oder mit Sophistik da etwas anfangen. Haben wir noch Zeit? Eine Sekunde? Ich habe die Frage beantwortet: „Wie ist es gekommen?“ Und die Rechtfertigung der Frage, diese Art Beantwortung der Frage: „Warum haben Sie mitgemacht?“ mit der exakten faktenmäßigen und datenmäßigen Darlegung: „Wie ist es gekommen?“ – die Rechtfertigung dieser, wie soll ich sagen, Uminterpretation Ihrer Frage, die liegt in dem „On s’engage, puis on voit“. Erst muss man sich engagieren, ehe man überhaupt mitreden kann und etwas machen kann. Dazu möchte ich aber noch eine Sekunde wenigstens sagen. Ich will Sie nicht ärgern, aber wenn Sie noch einen Schritt weitergehen in Ihrer Richtung, statt die Frage zu stellen: „Wie ist es gekommen, dass Sie mitgearbeitet haben?“ Von dort zu der Frage, Ihrer Frage: „Warum haben Sie bei Hitler mitgemacht?“ – da ist nur noch ein ganz kleiner Schritt zu der andern Frage: „Warum haben Sie beschlossen, bei Hitler mitzuarbeiten?“ Ich habe nichts beschlossen. Hitler hat beschlossen. Und ich will Ihnen mal etwas sagen, zum Abschluss dieser Sache: Ich weiß nicht, ob Sie mal, rein literaturgeschichtlich, die Geschichte des spanischen PicaroRomans, der Schelmenroman. . . Ich meine, es gibt ja auch einen fabelhaften deutschen, ,Simplizissimus‘ sogar. Das rein literarisch-geschichtliche Kriterium des Picaro-Romans. Es gibt Liebesromane, es gibt Kriminalromane, es gibt Erziehungsromane, es gibt Bildungsromane, es gibt die interessanteste Form: den Picaro-, also den Schelmenroman. Aber ,Schelm‘ ist nicht gut übersetzt, es ist unübersetzbar: der ,pícaro‘. Das literarisch-stilistische Kriterium des Picaro-Romans ist die Formel: Der Picaro treibt sich herum, der macht mal das, mal das, und wenn er nicht weiter kann, heißt es immer – das ist die typische Formel, daran erkennt man ihn: „Ich beschloss. . . Schauspieler zu werden“, „ich beschloss, in die Kolonien zu gehen“, „ich beschloss, ein neues Leben zu führen“. Ich beschloss, ich beschloss, resolví usw.[45] So wie der Spitzbogen das Kriterium des gotischen Stils ist (das ist ganz einfach zu sagen), ist diese Wendung im Roman „Ich beschloss, dass. . .“[46]
Anmerkungen Band 1 Kapitel 1 [1] So führt Carl Schmitt seine Laufbahn als Staatsrechtler auch anderthalb Jahre früher im TV-Interview her: „Carl Schmitt: Das ist der Start, wenn ich einmal so sagen darf. Der erklärt sich zeitgeschichtlich und biografisch sehr einfach aus meiner Herkunft. Ich komme aus dem katholischen Volk der Mosel, der Eifel und bin groß geworden in dieser Tradition. Großereignis in der bescheidenen Familiengeschichte war der Kulturkampf und die Erinnerung an drei Brüder meines Großvaters, die in den Kulturkampf verwickelt waren. Und so erklärt sich aus dieser ja durch und durch katholischen, streng katholischen Herkunft der Ansatz, der Ansatz, der vor allen Dingen dadurch geweckt wurde, als nun der erste Weltkrieg verlorenging, 1918, als dann mit der Weimarer Verfassung und der Weimarer Republik plötzlich eine konfessionell katholische Partei die Partei der Mitte wurde und sich durchsetzte mit ihren kirchenpolitischen und kulturpolitischen Forderungen, die in der Weimarer Verfassung verankert wurden, und sich vor allen Dingen durchsetzte in der Beteiligung an der Regierung, namentlich in Preußen, wo eine sehr bewusste Personalpolitik gemacht wurde. Kurzum, das ist das private Schicksal, in dem ich stand.“ Rüdiger Altmann / Jens Litten, Ist der Parlamentarismus noch zu retten? Carl Schmitt und die Krise der Demokratie, Norddeutscher Rundfunk, gesendet am: 19. 06. 1970, 44! 44!! . Was Plettenberg, die Stadt zwischen Lenneund Ebbegebirge im Sauerland, für Carl Schmitt bedeutete, ist seiner Haushälterin Anni Stand zufolge „mit drei Worten gesagt: Ursprung, Atmosphäre, Asyl.“ Stadt Plettenberg (Hg.), Verortung des Politischen. Carl Schmitt in Plettenberg, bearb. v. Ingeborg Villinger, Hagen 1990, S. 59. Zum Sauerland allgemein s. Schmitts Aufsatz zum Themenheft des Magazins Merian 7, 9 (1954), S. 3 – 7: Welt großartigster Spannung, wieder abgedruckt in: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, hg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 513 – 517. S. a. Thomas Wirtz, Der Pendler Carl Schmitt. Zwischen Preußen und dem Sauerland, in: Patrick Bahners / Gerd Roellecke (Hg.), Preußische Stile. Ein Staat als Kunststück, Stuttgart 2001, S. 406 – 415. Zur Familie s. Reinhard Mehring, Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, S. 18 ff.; Piet Tommissen, Neue Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie Carl Schmitts, in: Schmittiana 5 (1996), S. 151 – 223, hier: S. 152 f.; Carl Schmitt, Jugendbriefe. Briefschaften an seine Schwester Auguste, hg. v. Ernst Hüsmert, Berlin 2000, S. 13 ff. [2] Ernst Hüsmert, der enge Freund und Herausgeber der frühen Tagebücher von Carl Schmitt, hat von seinem Vater, einst Lehrling in der Firma ,Graewe & Kaiser‘, erfahren, „daß Johann Schmitt der fähigste Angestellte in der Firma gewesen sei, der von jedermann um Rat gefragt wurde und gerne half, der aber als Katholik keine Chance hatte, Prokurist zu werden.“ Schmitt, Jugendbriefe, S. 16. Der Buchhalter lernte seine spätere Frau Louise (geb. Steinlein) kennen, als er während eines Stenografentags in Hontheim eine Verwandte besuchte. Die Geburt ihres ersten gemeinsamen Kindes wurde 1888 mit einem Ständchen in dem von Johann
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Schmitt mitgegründeten Gabelsberger Stenografenverein Plettenberg gefeiert, überliefert Hüsmert ebd., S. 15. [3] Die Mutter, erzogen von den Borromäerinnen im Kloster Stenay / Lothringen, schickte Carl ins Konvikt, um ihn zum Theologiestudium zu führen. Er sollte Priester oder Mönch werden. S. Mehring, Biographie, S. 21; Manfred Dahlheimer, Carl Schmitt und der deutsche Katholizismus 1888 – 1936, Paderborn 1998, S. 412. [4] Zur Auseinandersetzung mit David Friedrich Strauß s. den Abschnitt ,Der Romantiker als politischer Typus in der Auffassung des liberalen Bürgertums, exemplifiziert an D. F. Strauß’ Julian‘ in: Carl Schmitt-Dorotic, Politische Romantik, München / Leipzig 1919, S. 148 ff., hier: S. 148: „Durch einen Vergleich mit Julian und seinem mißglückten Versuch, im vierten christlichen Jahrhundert das Heidentum wiederherzustellen, sollte Friedrich Wilhelm IV. und seine antiliberale und antidemokratische Politik widerlegt werden. Das Christentum, das zur Zeit Julians gegenüber der traditionellen heidnischen Religion das Neue, Revolutionäre, der ,Genius der Zukunft‘ war, erscheint hier im 19. Jahrhundert selbst in der Rolle des historisch Alten, das sich gegen ein neues Leben zu restaurieren sucht.“ [5] Clemens Rießelmann wurde 1907 wegen Leberzirrhose frühpensioniert und starb am 25. Januar 1910 mit 57 Jahren. Peter Kandora, Ein preußischer Gymnasialprofessor in der Provinz Westfalen: Clemens Rießelmann, Lehrer von Carl Schmitt (1850 – 1910), Berlin 2005, S. 58 ff. [6] Ernst Sommer, Gesundheit, Muskelkraft, Formenschönheit durch klassische Leibesübung. Neue Wege zu obigen Leibesidealen, Elberfeld 1902; Muskelkraft und Formenschönheit: Anleitung zur systematischen Ausbildung des gesamten Körpers durch entsprechende Hantelübungen. Mit 53 Abb. und einer Reihe ergänzender Aufsätze über vernünftige Lebensweise, Berlin-Steglitz 1921, 4. Auflage 11 – 13 Tsd. (1. Auflage 1910.) Ernst Sommer / Johannes Unbehaun, Ideale Körperbildung durch die neue deutsche Gymnastik. System Sommer-Unbehaun, München 1913. Zur historischen Einordnung s. Bernd Wedemeyer-Kolwe, Der Neue Mensch. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, bes.: S. 322, 351 und 383 f. [7] Vom 26. September 1945 bis zum 10. Oktober 1946 war Carl Schmitt auf Veranlassung von Karl Loewenstein, dem ,Legal Adviser‘ der amerikanischen Militärregierung, im Interrogation Center am Wannsee, im Internierungslager Lichterfelde-Süd und im Civilian Detention Camp Wannsee interniert. Seine Bestrafung als Kriegsverbrecher scheiterte. Am 19. März 1947 wurde er in Berlin erneut verhaftet und als ,Possible Defendant‘ ins berühmte Nürnberger Justizgefängnis verbracht. Am 6. Mai wurde Schmitt ins Zeugenhaus überführt, am 21. Mai, eine Woche nach seinem letzten Gespräch mit dem stellvertretenden Chefankläger Robert Kempner, kehrte er nach Plettenberg zurück in den Brockhauser Weg 10. S. Helmut Quaritsch (Hg.), Carl Schmitt – Antworten in Nürnberg, Berlin 2000, S. 11 ff.; Mehring, Biographie, S. 438 ff. Das vorliegende Gespräch findet Am Steimel 7 in Plettenberg-Pasel statt, wo Schmitt seit September 1970 wohnte. [8] Zum „Augenblick, in dem Furcht und Mut, Schmerz und Freude, Lebens- und Todesgier sich verschmelzen zu einer Einheit, die Drieu ,la vie‘, das Leben selbst, nennt“, s. Günter Maschke, Die schöne Geste des Untergangs, in: Das bewaffnete Wort. Aufsätze aus den Jahren 1973 – 93, Wien / Leipzig 1993, S. 57 – 64, hier: S. 58. (Erstabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 12. 04. 80.) Ebd. findet sich mehr zu den Surrealistensalons als Gegenbild zum echten Leben im Roman ,Die Unzulänglichen‘ (frz. Originaltitel ,Gilles‘). Ein detailliertes Porträt des Schriftstellers bei Dominique Desanti, Drieu la Rochelle. Du dandy au nazi, Paris 1992. Zu Carl Schmitts Kontakten zur französischen intellektuellen Kol-
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laboration s. den Brief vom 2. November 1941 aus Berlin-Dahlem an Ernst Jünger (Ernst Jünger / Carl Schmitt, Briefe 1930 – 1983, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 135): „Vor einigen Tagen habe ich einige der Franzosen, die am Sonntag Abend nach unserer Fahrt im Deutschen Institut waren, hier in Berlin nochmals getroffen: Drieu la Rochelle, ferner [Robert] Brasillach, [Abel] Bonnard etc. Drieu la Rochelle war am vorigen Donnerstag einige Stunden allein in meiner Wohnung; er hatte großes Interesse für die Bilder von [Werner] Gilles, die er sich vor dem Besuch des Ateliers von Prof. Arno Breker besehen hat.“ [9] Carl Schmitts Tochter Anima Louise heiratete am 13. Dezember 1957 den Rechtshistoriker Alfonso Otero Varela. Sie bekamen vier Kinder: Beatriz (gen. Dusanka), Carlos, Jorge und Álvaro. [10] Während Carl Schmitt seine Bekanntschaften zu jüngeren Generationen im gesamten politischen Spektrum pflegte, klagte Meisterschüler Ernst Forsthoff über Entfremdung im akademischen Betrieb. Am 9. Januar 1966 schreibt Forsthoff an Schmitt: „Die Tatsache, dass wir seit zwanzig Jahren keinen Staat mehr haben, sondern demokratischen Nebel, hinter dem sich ein Rangierbahnhof der Interessen notdürftig verbirgt, ist bei der jetzigen Studentengeneration zur vollen Wirkung gekommen. Es ist geradezu unmöglich, ihr begreiflich zu machen, was ein Staat ist und welche Implikationen mit ihm gegeben sind. So kommt eine dumme Linksintellektualität zustande, mit der beim besten Willen nichts anzufangen ist.“ Briefwechsel Ernst Forsthoff / Carl Schmitt (1926 – 1974), hg. v. Dorothee Mußgnug, Reinhard Mußgnug und Angela Reinthal, Berlin 2007, S. 220. [11] „Die Vorstellung eines Fortschritts zum Beispiel, einer Besserung und Vervollkommnung, modern gesprochen einer Rationalisierung, wurde im 18. Jahrhundert herrschend, und zwar in einer Zeit humanitär-moralischen Glaubens. Fortschritt bedeutete infolgedessen vor allem Fortschritt in der Aufklärung, Fortschritt in Bildung, Selbstbeherrschung und Erziehung, moralische Vervollkommnung. In einer Zeit ökonomischen oder technischen Denkens wird der Fortschritt stillschweigend und selbstverständlich als ökonomischer oder technischer Fortschritt gedacht, und der humanitär-moralische Fortschritt erscheint, soweit er überhaupt noch interessiert, als Nebenprodukt des ökonomischen Fortschritts.“ Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929). Rede gehalten auf der Tagung des Europäischen Kulturbundes in Barcelona am 12. Oktober 1929, in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. 1923 – 1939, Hamburg 1940, S. 120 – 132, hier: S. 125. S. a. Die legale Weltrevolution. Politischer Mehrwert als Prämie auf juristische Legalität und Superlegalität, in: Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik. 1924 – 1978, hg. v. Günter Maschke, Berlin 2005, S. 919 – 968, hier: S. 923 ff. [12] „Ruhm gibt es nicht mehr, dafür aber um so mehr Ruhm-Verteilung und Ruhm. Verteilung mit täglich neuen und täglich desavouierten Sonderzuteilungen. Es gibt Nobelpreise aller Art. Wie infantil beglückt gibt sich der sonst so kritische André Gide, wenn er den Nobelpreis erhält; wie ein Schulknabe. Dann doch lieber noch Drieu la Rochelle.“ Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, hg. v. Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 58, Aufzeichnung vom 8. Dezember 1947. „Ich bin dankbar, daß ich Preußischer Staatsrat und nicht Nobelpreisträger geworden bin“. Überliefert durch Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989, S. 102, Fn. 224. [13] „Der Auffassung des Raumes als einer leeren Flächen- und Tiefendimension entsprach die in der Rechtswissenschaft bisher herrschende sogenannte ,Raumtheorie‘. [ . . . ] ,Der Staat ist nichts anderes als das auf einer bestimmten Fläche für das Recht organisierte Volk‘, lautet die Definition, die Fricker, der Begründer dieser Raumtheorie, aufgestellt hat
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und die dann durch Rosin, Laband, Jellinek, Otto Meyer, Anschütz herrschend geworden ist.“ Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, in: Staat, Großraum, Nomos, S. 269 – 371, hier: S. 316. Von Heisenberg, dem Träger des Nobelpreises für Physik 1932 „für die Begründung der Quantenmechanik“, sind in: Nachlass Carl Schmitt. Verzeichnis des Bestandes im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv, bearb. v. Dirk van Laak / Ingeborg Villinger, Siegburg 1993, S. 430, die beiden Bücher: Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes, Leipzig 1942 (mit Anmerkungen), und: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Sechs Vorträge, Leipzig 31942 (mit Widmung des Verfassers vom 22. 04. 1942), verzeichnet. Heisenberg wurde vom ,Deutschen Physiker‘ und Nobelpreisträger Johannes Stark 1937 im SS-Blatt ,Das Schwarze Korps‘ für den ,jüdischen Formalismus‘ seiner Theorie angegriffen, überstand die Angriffe und fand in den Fünfzigerjahren politisch Anschluss als Berater und Kritiker der Bundesregierung in Atomfragen.
Kapitel 2 [14] Mit einem Brief an Gunter d’Alquen, den Hauptschriftleiter des SS-Blattes ,Das Schwarze Korps‘ reagierte der preußische Ministerpräsident Hermann Göring am 21. Dezember 1936 auf die Artikel ,Eine peinliche Ehrenrettung‘ vom 3. Dezember und ,Es wird immer noch peinlicher!‘ vom 10. Dezember: „Ohne zu den gegen Schmitt erhobenen sachlichen Vorwürfen, die an sich nicht unberechtigt sein mögen, hier Stellung nehmen zu wollen, muß ich mit Nachdruck darauf hinweisen, daß es nicht angeht, Persönlichkeiten, von denen bekannt ist, daß sie durch mein Vertrauen in ein hohes öffentliches Amt berufen sind, durch Ihre Zeitung in dieser Weise herabgewürdigt werden. [sic] Wenn gegen einen Preußischen Staatsrat Vorwürfe zu erheben sind, so steht es jedermann frei, bei mir vorstellig zu werden. Gegebenfalls [sic] werde ich selbst alles Erforderliche veranlassen. Ich kann aber nicht dulden, daß gegen Mitglieder des Preußischen Staatsrats in der von Ihnen beliebten Weise vorgegangen wird. Unter diesen Umständen ersuche ich Sie zunächst, den Pressefeldzug gegen den Staatsrat Professor Dr. Carl Schmitt sofort einzustellen.“ Zit. nach der Abschrift Eike Hennigs aus der SD-Akte vom Institut für Zeitgeschichte, HStA, RW 579-145, mit dem handschriftlichen Zusatz von Schmitt: „Dazu DTV 694 Gründgens Seite 92“. Carl Schmitt empfiehlt Hans-Dietrich Sander am 18. September 1972 denselben Brief von Gustaf Gründgens an Kurt Grossmann in New York vom 17. April 1961 über die Kampagne des ,Völkischen Beobachters‘ gegen seine Person (Carl Schmitt / Hans-Dietrich Sander, Werkstatt-Discorsi. Briefwechsel 1967 – 1981, hg. v. Erik Lehnert / Günter Maschke, Schnellroda 2008, S. 230): „Als 1936 die Angriffe gegen mich eine besondere Schärfe annahmen, so daß ich glauben mußte, meine Stellung sei nicht mehr stark genug, irgend jemanden zu schützen, bin ich zu Freunden in die Schweiz gefahren und habe von dort wissen lassen, daß ich nicht mehr zurückkäme. In einem Telefonat nach Basel, dessen Zeugen meine Freunde waren, beschwor mich Göring, dem als Preußischen Ministerpräsidenten die Berliner Staatstheater unterstanden, zu einer Aussprache zurückzukommen und sicherte mir ehrenwörtlich freies Geleit zu. Der mich zu dieser Aussprache bestimmende Satz war: ,Wenn Sie so fortgehen, kann ich keinen Ihrer Schützlinge mehr halten.‘ Das zweistündige Gespräch, das ich dann hatte, wurde zunächst ergebnislos abgebrochen. Vier Stunden später wurde durch das Radio bekanntgegeben und mir ein Brief übersandt, der mir meine Ernennung zum Preußischen Staatsrat mitteilte. Als ich wütend zu Göring fuhr und ihn zur Rede stellte, warum er mich so in der Öffentlichkeit zum Hanswurst mache, antwortete er gelassen: ,Staatsräte können nur mit mei-
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ner persönlichen Einwilligung verhaftet werden‘.“ Gustaf Gründgens, Briefe, Ausätze, Reden, hg. v. Rolf Badenhausen u. Peter Gründgens-Gorski, München 1970, S. 92. [15] Carl Schmitt meint den „politischen Jargon“ des Dezisionismus. In einem ersten anonymen Artikel (s. o.) denunzierte wahrscheinlich Gunter d’Alquen persönlich Carl Schmitt auf S. 14 als jemanden, der „von 1918 bis 1932 den politischen Katholizismus in vielbeachteten Schriften unterstützte, um dann 1932 in der Aera Papen-Schleicher-Gayl dem reinen Staatsgedanken zu huldigen“. Eine Woche später deutete er in einem weiteren anonymen Artikel auf Seite 2 Schmitts ,Jargon‘ als politischen Katholizismus: „Jahre hindurch predigte Carl Schmitt das ,Entscheidungsdenken‘, auch hier lehnte er sich an ausländische katholische Vorgänger. Blieb aber auch dieses Entscheidungsdenken nicht nur intellektuelle Theorie? Für seine Person verzichtete Prof. Schmitt darauf, eine persönliche politische Entscheidung zu treffen. Seine Parole hieß: Abwarten! ,Warten, bis es wirklich soweit ist.‘ Und er wartete bis zum letzten Augenblick. Am 30. Januar 1933 war es soweit. Nachdem die Entscheidung gefallen war, konnte auch Prof. Schmitt ohne Gefahr für sich eine Entscheidung vollziehen. Schweigend und voller Verwunderung sahen die Kenner seiner Persönlichkeit und seines Werdeganges, wie er sich nun plötzlich zum Hüter der nationalsozialistischen Idee aufzuschwingen verstand. Jetzt war die politische Entscheidung gegen das Judentum gefallen. Auch Carl Schmitt erwies sich nun als Antisemit.“ Am 11. Dezember 1936 teilte AkademiePräsident Hans Frank dem Reichsführer SS Heinrich Himmler in einem Brief mit, er werde Schmitt zum 1. Januar 1937 aller Ämter (im Rechtswahrerbund und in der Akademie für Deutsches Recht) entheben. Somit hätte Schmitt unter einem Reichsjustizminister Frank in Zukunft auch nicht mehr zum Staatssekretär ernannt werden können. Zur Vorgeschichte s. Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995, S. 651 ff.; Mehring, Biographie, S. 358 ff. [16] Hier meint Carl Schmitt nicht die Umsturzpläne in den letzten Lebenstagen Schleichers (s. Irene Strenge, Kurt von Schleicher. Politik im Reichswehrministerium am Ende der Weimarer Republik, Berlin 2006, S. 223), sondern die letzten Tage vor der Machtergreifung: „[I]n den Nachmittagsstunden des 29. Januar“ kursierten Gerüchte, so notiert Karl Dietrich Bracher (Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Stuttgart / Düsseldorf 21957, S. 721), „Schleicher wolle eine bevorstehende nationalsozialistische Machtübernahme mit Gewalt verhindern, Hammerstein habe die Potsdamer Garnison alarmiert, und man werde den Reichspräsidenten nach Ostpreußen abschieben, um die freie Verfügung über die Reichswehr auch gegen den Willen ihres Oberbefehlshabers zu behalten. Dies entschied über Hindenburgs letzte Bedenken.“ In seinem Handexemplar (HStA, RW 265-24312) hat Carl Schmitt „Hindenburgs letzte Bedenken“ unterstrichen und am Seitenrand ein Fragezeichen notiert. S. a. Thilo Vogelsang, Kurt von Schleicher. Ein General als Politiker, Göttingen 1965, S. 99. [17] Es war Horst Michael, mit einer „Studie zur Geschichte Bismarcks und der Reichsgründung“ (1929) beim Historiographen des preußischen Staates Erich Marcks sen. promoviert, der Carl Schmitt bei einer Abendgesellschaft am 12. Februar 1931 mit Erich Marcks jun. bekannt gemacht hatte. Michael wirkte weiter „als Kontaktmann zwischen den Schleicher-Vertrauten im Reichswehrministerium und Carl Schmitt“, sowohl am Vorabend des ,Preußenschlags‘ unter Reichskanzler Papen als auch während der Staatsnotstandspläne unter Reichskanzler Schleicher (s. u.). S. Wolfram Pyta, Konstitutionelle Demokratie statt monarchischer Restauration. Die verfassungspolitische Konzeption Schleichers in der Weimarer Staatskrise, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47, 3 (1999), S. 417 – 441, hier: S. 423. Wann Schmitt zum ersten Mal dem Leiter der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministe-
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rium Eugen Ott begegnet ist, geht auch aus dem Tagebuch nicht hervor. Am 15. Dezember 1931 jedenfalls folgte Schmitt mit Ott und Michael einer Abendeinladung zu Erich Marcks jun., wo auch Kurt von Hammerstein anwesend war. Zu Erich Marcks sen. s. Jens Nordalm, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861 – 1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin 2003. [18] „Der Kampf im Westteil des Cotentin hatte zunächst nur örtlichen Charakter, dagegen faßten die Amerikaner ihre Kräfte im Raum von St.Lô und zwischen Vire und Taute zusammen. In der Nacht von 18. auf 19. Juli gelang es dem Gegner, die Trümmer von St.Lô durch Umfassung zu nehmen, wo auch das befehlführende LXXXIV. Korps seinen Gefechtsstand hatte. Der Kommandierende General, General der Artillerie Erich Marcks, der schon vom Rußlandfeldzug her eine Beinprothese trug, fiel hinter der vordersten Linie.“ Hans Speidel, Invasion 1944. Ein Beitrag zu Rommels und des Reiches Schicksal, Tübingen / Stuttgart 1949, S. 123. [19] „Das Ungebundne reizet und Völker auch | Ergreifft die Todeslust und kühne | Städte, nachdem sie versucht das Beste, || Von Jahr zu Jahr forttreibend das Werk, sie hat | Ein heilig Ende troffen“. Friedrich Hölderlin, Stimme des Volkes. Zweite Fassung, in: Sämtliche Werke. Vierter Band. Besorgt durch Norbert von Hellingrath. Gedichte 1800 – 1806, München / Leipzig 1916, S. 142. Laut Tagebuch 1930 – 34 hat Schmitt diesen Ausspruch nach einem abendlichen Gespräch mit Marcks am 13. Mai 1933 notiert. Die Datierung des Fackelzugs stiftete vor einigen Jahren Verwirrung: „Im Bericht über die Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach zur Edition der Tagebücher Carl Schmitts (F.A.Z. vom 15. März) wies Patrick Bahners auf die sich widersprechenden Aussagen der Referenten Christian Meier und Wolfgang Schuller zum 30. Januar 1933 hin – Schmitt habe nach dessen eigener Aussage den Fackelzug der SA-Männer gesehen, so Meier, während nach Schuller aufgrund der Tagebuchnotizen Schmitt erkrankt zu Hause gewesen sei. Die inzwischen vorliegenden Transkriptionen der Tagebucheintragungen belegen die Erkrankung, zwei Tage später könnte Carl Schmitt allerdings bei einem mitternächtlichen Gang von seiner Wohnung im Tiergartenviertel die die ganze Woche über feiernden SA-Männer gesehen haben, als er den Pressechef des gestürzten Reichskanzlers Schleicher begleitete.“ Gerd Giesler, Carl Schmitt und der 30. Januar 1933, Brief an die Herausgeber der FAZ v. 06. 06. 2006. [20] „Am 1. Dezember 1932 entsandte Minister von Schleicher den Chef der Wehrmachtsabteilung des Reichswehrministeriums nach Weimar, um Hitler zum Eintritt der Partei in ein etwaiges Kabinett von Schleicher aufzufordern. Hitler war auf der Reise nach Berlin zu einer vereinbarten Rücksprache mit dem Minister von seiner Umgebung veranlaßt worden, in Weimar Halt zu machen, und stellte sich dort für einen Unterhändler zur Verfügung, weil man nach dem kürzlichen ergebnislosen Empfang bei dem Reichspräsidenten besorgt war, daß eine zweite erfolglose Fahrt nach Berlin würde propagandistisch ausgeschlachtet werden können. Schleichers Angebot lautete auf die Vizekanzlerschaft für Hitler und eine der Parteistärke entsprechende Anzahl von Ministern, er forderte die Zusammenarbeit der Partei mit seiner etwaigen Kanzlerschaft, zu der er bereit wäre unter Beibehalt des Reichswehrministeriums, um mit dem stärksten legalen Machtmittel des Reiches in der Hand die letzte Möglichkeit zur Festigung der inneren und sozialen Ordnung auf dem Boden der Verfassung zu schaffen. Hitler lehnte in langatmigen Ausführungen die Unterordnung unter einen Kanzler ab, die ihn nach seinen Worten ,verhindern würde, seine eigenen Pläne durchzuführen‘, und warnte Schleicher vor einer aussichtslosen Kanzlerschaft. Der Unterhändler forderte hierauf wenigstens die Tolerierung durch die Partei und warnte vor einer Opposition, die im Fall des erneuten Zusammenwirkens mit den Kommunisten, wie es eben im gemein-
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samen Elektrizitätsstreik in Berlin geschehen war, auf die Maschinengewehre der Reichswehr stoßen werde. Hitler lehnte erregt erneut ab und bewegte sich in verschwommenen Regionen eines besessenen Sendungsglaubens.“ Eugen Ott, Ein Bild des Generals Kurt von Schleicher, in: Politische Studien 10, 110 (1959), S. 360 – 371, hier: S. 369 f. S. a. ders., „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung des Nationalsozialismus“ vor dem Rhein-Ruhr-Klub e.V. am 19. Mai 1965 in Düsseldorf, HStA, RW 265-21410, S. 11 f. Ott war ab 1. Juni 1933 als Beobachter beim japanischen Heer, ab 1. Februar 1934 als Militärattaché der deutschen Botschaft in Tokyo.
Kapitel 3 [21] Da Carl Schmitts Mutter Louise 1863 als uneheliches Kind auf die Welt kam, gilt als wahrscheinlich, dass nicht Franz Josef Anton Steinlein, seit 1865 der Ehemann ihrer Mutter, sondern dessen Bruder Nikolaus Steinlein (1821 – 1894) der leibliche Vater Louises war. S. Mehring, Biographie, S. 19, und Gregor Brand, Non ignobili stirpe procreatum. Carl Schmitt und seine Herkunft, in: Schmittiana 5, S. 225 – 298, hier: S. 292. [22] „In der Steinlein-Akte des Diözesanarchivs Trier machte man bezeichnenderweise keinen Unterschied zwischen den Brüdern und sammelte Standessachen und Beschwerden nur unter dem Namen Andreas Steinlein. Dabei geht es sowohl um letztlich unbewiesene Vorwürfe, während des Kulturkampfes als Staatspfarrer der königlich preußischen Regierung unter Missachtung der päpstlichen Entscheidung Versprechungen gemacht zu haben, als auch um massive Beschwerden benachbarter Geistlicher und Gemeindemitglieder über ein die katholische Kirche schädigendes Verhalten. Bezeichnend für den Ruf der Steinleins scheint der Umstand zu sein, dass in den Berichten über den antipreußischen Widerstand Trierer Priester keiner der Brüder erwähnt wird. Carl Schmitt muss durch seine Mutter von dem beschädigten Ansehen seiner Verwandten gewusst haben, denn sie wohnte nach klösterlicher Erziehung bis zu ihrer Heirat im Haushalt ihres Onkels Nikolaus in Hontheim.“ Ernst Hüsmert / Gerd Giesler, Carl Schmitt. Die Militärzeit 1915 bis 1919. Tagebuch Februar bis Dezember 1915. Aufsätze und Materialien, Berlin 2005, S. 2, mit weiteren Hinweisen. Durch die Maigesetze vom 11. und 12. Mai 1873 wurde die Geistlichkeit der staatlichen Bildung und Gerichtsbarkeit unterstellt. [23] Von Carl Schmitts Geburt bis zum Sommer 1901 wohnte die Familie in der Bahnhofstraße 28 im zweiten Stock der Schreinerei Budde zur Miete (s. Nr. 1 auf der interaktiven Karte der Plettenberger Erinnerungsorte: http:// www.carl-schmitt.de/erinnerungsorte.php). Warum Schmitt den Handwerker Budde als „Fabrikarbeiter“ bezeichnet, ist unklar. Im Brief vom 9. November 1911 an seine Schwester in Portugal äußert er sich ähnlich überheblich über den Schreinersohn: „[E]s ist mir immer etwas zum Lachen, daß Auguste Schmitt aus Plettenberg jetzt in Portugal wirkt. Ebenso wie es sonderbar ist, daß Karl Schmitt, der Freund von Ludwig Bode und Fritz Budde, Referendar in Düsseldorf ist und juristische Bücher schreibt.“ Hüsmert, Jugendbriefe, S. 104. S. a. die Selbstanklagen als „Prolet“ im Tagebuch der Militärzeit. [24] Eugen Richter vertrat seinen Wahlkreis Hagen-Schwelm von 1871 bis 1906 im Reichstag, als Parteiführer der ,Deutschen Fortschrittspartei‘, der ,Deutschen Freisinnigen Partei‘, dann der ,Freisinnigen Volkspartei‘. Ina Susanne Lorenz, Eugen Richter. Der entschiedene Liberalismus in wilhelminischer Zeit 1871 bis 1906, Husum 1980, S. 82 ff. Dem Führer der Fortschrittspartei setzt Carl Schmitt den Bischof entgegen, der am 20. August 1891 den ,Heiligen Rock‘, die einst von der Heiligen Helena überreichte Tunika Christi, nach 47 Jahren wieder für Pilger im Trierer Dom ausstellte. Die Erneuerung der Rockfahrt wurde
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seinerzeit als Zeichen für den Ultramontanismus angesehen. Heinrich Benecke, Bischof Dr. Korum und die Wunderwirkung des Heiligen Rocks zu Trier, Berlin 1891. Allgemein zu Korum, Trierer Bischof von 1881 bis zu seinem Tod 1921 s. Jakob Treitz, Michael Felix Korum, Bischof von Trier. 1840 – 1921. Ein Lebens- und Zeitbild, München 1925. [25] „Eine Vereinigung der katholischen Kirche mit der heutigen Form des kapitalistischen Industrialismus ist nicht möglich. Der Verbindung von Thron und Altar wird keine von Büro und Altar folgen, auch keine von Fabrik und Altar. Es kann unabsehbare Folgen haben, wenn der römisch-katholische Klerus Europas sich nicht mehr in der Hauptsache aus Bauernbevölkerung rekrutiert, sondern die Masse der Geistlichen Großstädter sind.“ Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923, S. 50 f. [26] „Wer die Tiefen des europäischen Gedankenganges von 1830 – 48 kennt, ist auf das meiste vorbereitet, was heute in der ganzen Welt laut wird. Das Trümmerfeld der Selbstzersetzung deutscher Theologie und idealistischer Philosophie hat sich seit 1848 in ein Kraftfeld theogonischer und kosmogonischer Ansätze verwandelt. Was heute explodiert, wurde vor 1848 präpariert. Das Feuer, das heute brennt, wurde damals gelegt. Es gibt gewisse Uran-Bergwerke der Geistesgeschichte. Dazu gehören die Vorsokratiker, einige Kirchenväter und auch einige Schriften aus der Zeit vor 1848.“ Carl Schmitt, Weisheit der Zelle, in: Ex Captivitate Salus. Erfahrungen aus der Zeit 1945 / 47, Köln 1950, S. 79 – 91, hier: S. 81. S. a. Dieter Groh, Junghegelianer und noch kein Ende, in: Der Staat 3, 1 (1964), S. 346 – 357; Wolfgang Eßbach, Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988. [27] Im „Entwurf eines ,Berichtes‘ an P. Erich Przywara“ nennt Carl Schmitt Bruno Bauer, den Anführer der Junghegelianer, „die aufschlußreichste Figur in dem langen Prozeß der Selbstzersetzung [des] deutschen Protestantismus und Idealismus“. Schmittiana 7 (2001), S. 215. Carl Schmitts Aufzeichnung vom 20. August 1948, Glossarium, S. 192, erhellt, warum gerade Bauer als Zeuge gegen die „neuen“ politischen Theologen wie Johann Baptist Metz aufgerufen wird: „Die ganze deutsche ,Kritik‘ tritt 1840 in ihr kritisches Stadium und schlägt um in einen blanken Positivismus. Bruno Bauer ist der Typus dieses Vorganges. Dieser Kritizismus ist im Kern das tiefe Gefühl des Betrogenseins. So entdeckt er überall Fälschungen; besonders im Johannes-Evangelium beim ,Vierten‘.“ Die Schlusssätze von Bruno Bauer, Russland und das Germanentum (Neudruck der Ausgabe Berlin 1853, Aalen 1972, S. 121), werden von Dieter Groh in seiner Dissertation: Russland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961, S. 269, zitiert: „Waren es die drei größten Wendepunkte der Geschichte, als Sokrates der Theokratie gegenüber seines Nicht-Wissens sich rühmte, als das Christenthum gegen das Kaiserthum die eigne Seele über Alles stellte, als Cartesius an Allem zu zweifeln gebot – waren diese Heroenthaten des Nichts die Schöpfungen neuer Welten, so wird der letzte, schwierigste Vorsatz, der noch übrigbleibt, der Vorsatz, Nichts zu wollen, Nichts vom Alten zu wollen, dem Menschen erst die volle Herrschaft und Meisterschaft über die Welt geben.“ Grohs Buch befindet sich mit der Widmung „Professor Carl Schmitt als kleines Zeichen meiner Dankbarkeit für die vielfältigen Anregungen, die ich von ihm empfangen habe. 4. September 1961“ im Nachlass Carl Schmitt, HStA, RW 265-27031. Am 7. September 1943 schreibt Schmitt an Ernst Jünger (Briefe 1930 – 1983, S. 169): „Sie müssen einmal Bruno Bauers ,Rußland und das Germanentum‘ lesen, aus dem Jahre 1853, dann werden Ihnen viele großen [sic] Zusammenhänge klar. Was Spengler in ,Preußen und Sozialismus‘ geschrieben hat, steht in einer viel älteren und tieferen Kontinuität, als Spengler, der etwas an Originalitätssucht litt, selber ahnte.“ S. a. Reinhard Mehring, Carl Schmitts Bruno Bauer: „Autor vor allem der ,Judenfrage‘“, in: Klaus-M. Kodalle / Tilman Reitz (Hg.), Bruno Bauer: Ein ,Partisan des Weltgeistes?‘, Würzburg im Erscheinen.
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Kapitel 4 [28] Robert Kempner, Hat Professor Carl Schmitt die Jugend vergiftet?, in: Das Dritte Reich im Kreuzverhör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Anklägers Robert M. W. Kempner, München / Esslingen 1969, S. 293 ff. S. a. ders., Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, Frankfurt 1983; Zum Tode von Prof. Carl Schmitt, in: Die Mahnung 32, 5 vom 1. Mai 1985, S. 4. [29] „Verhör von Professor Carl Schmitt. Dieses Dokument ist dem Buch ,DAS DRITTE REICH IM KREUZVERHÖR‘ (Verlag Bechtle, München, Paperback 16,80 DM) mit Erlaubnis des Verfassers Dr. Robert M. W. Kempner entnommen. Der Autor ist der frühere stellvertretende US-Hauptankläger in den Nürnberger Prozessen, jetzt Rechtsanwalt in Frankfurt, früher Gastprofessor an der Universität Erlangen und amerikanischen Universitäten. Sein neuestes Werk ,DAS DRITTE REICH IM KREUZVERHÖR‘ enthält seine Vernehmungen von ,Prominenten‘ des Dritten Reiches, die in diesen bisher unveröffentlichten Gesprächen nackt und bloß sich selbst – mit einigen Ausnahmen – in ihrer Feigheit und Verlogenheit präsentieren. Kempner stellt sie in seinen Vernehmungen vor den Durchleuchtungsschirm. Das Buch ist das beste Lehrbuch der Vernehmungstechnik, über die junge Juristen an den Universitäten kaum etwas lernen.“ Diskus vom 8. Februar 1971, S. 14 ff., hier: S. 14. Im Anschluss an die Vernehmung Schmitts wird das Buch in einer Anzeige des Verlags beworben, davor steht auf S. 11 ff. Ingeborg Maus’ Artikel ,Existierten zwei Nationalsozialismen?‘. Anni Stand überliefert (Carl Schmitt in Plettenberg, S. 52), dass Maus Schmitt „mehrfach besuchte, als sie ihre voluminöse Dissertation über Schmitt schrieb.“ Im Nachlass Carl Schmitt, S. 461, finden sich außer den beiden Fassungen von Maus’ Dissertation, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Eine politologische Untersuchung zur bürgerlichen Rechts- und Verfassungstheorie im organisierten Kapitalismus unter besonderer Berücksichtigung der Theorie Carl Schmitts, Frankfurt 1971, auch 17 Briefe von Maus aus den Jahren 1969 bis 1983 (S. 107) und acht Briefe von Schmitt an Maus aus den Jahren 1969 bis 1981 (S. 202). Wie Schmitt über Ingeborg Maus dachte, erfährt man in den Briefwechseln der Siebzigerjahre. [30] Quaritsch, Antworten in Nürnberg, mit Editionsgeschichte auf S. 137 ff. Offenbar behielt Kempner auch Schmitts Stellungnahmen, um sie später in seinen Memoiren zu verwenden. Nach den Ergebnissen des Herausgebers (S. 24 ff.) verhörte Kempner Schmitt im Anklagebereich ,Ministeries‘ nicht, wie von Kempner mitgeteilt, wegen Mitwirkung „an der Planung von Angriffskriegen, von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (S. 52), sondern um sich Gutachten für den Wilhelmstraßen-Prozess gegen das Auswärtige Amt und andere Ministerien, besonders gegen den Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers zu verschaffen. In diesem Sinne interpretiert Quaritsch, S. 36, die Einzelhaft: „Kempner glaubte, die Anklagedrohung und die Einsamkeit der unwirtlichen Nürnberger Zelle würden Schmitt zu einer Stellungnahme veranlassen, die er im WilhelmstraßenProzeß gegen die Staatssekretäre verwenden könnte.“ Aus den drei Verhören ergaben sich folgende vier schriftliche Stellungnahmen: 1. „Beantwortung der Frage: Wieweit haben Sie die theoretische Untermauerung der Hitlerschen Grossraumpolitik gefördert?“ (18. / 21. 04. 47.) 2. „Beantwortung des Vorwurfs: Sie haben an der Vorbereitung des Angriffskrieges und der damit verbundenen Straftaten an entscheidender Stelle mitgewirkt.“ (28. 04. 47.) 3. „Staatsrechtliche Bemerkungen zu der mir gestellten Frage: Die Stellung des Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei“. (28. / 29. 04. 47.) 4. „Beantwortung der mir gestellten Frage: ,Warum sind die deutschen Staatssekretäre Hitler gefolgt?‘“ (13. 05. 47.) Von Interesse für das vorliegende Gespräch ist besonders Carl Schmitts vierte Stellungnahme (S. 102 – 114, hier: S. 102): „Meine Antwort lautet: Die Staatssekretäre (und mit ihnen die Ministerialbüro-
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kratie und das Gros des höheren Beamtentums) sind Hitler gefolgt, weil sie sich ihm aufgrund eines rein funktionalistischen, für ihre Berufsschicht typischen Begriffes von Legalität unterworfen haben.“
Kapitel 5 [31] Dazu der Artikel: Marion Dönhoff wird 75 Jahre alt. Widersprüche aushalten, Spannungen leben. Gerd Bucerius und Theo Sommer sprachen mit Marion Gräfin Dönhoff über ihr Leben in zwei Welten, in: Die Zeit v. 30. 11. 1984: „Tüngel und der Redakteur Petwaidic fuhren immer nach Plettenberg zu Carl Schmitt. Ich habe gesagt, es ist ganz unnütz, mit dem Kerl zu reden. Der hatte auch in meiner Studentenzeit die Rolle des Bösewichts gespielt, als der Mann, der dem Führer die Legitimität verschaffte. Die rechtliche Legitimierung des Führerstaates. Ja. Wenn der aber bei uns schreiben sollte, so habe ich gesagt, will ich keinen Tag länger bleiben. Ich war im Urlaub in Irland, schlage die Zeitung auf und finde einen Artikel von Carl Schmitt ,Im Vorraum der Macht‘. Damals drohte die in ein sehr konservatives, beinahe radikal rechtes Lager zu geraten. Konservativ wäre nicht so schlimm gewesen. Aber diese alten Kerle, die diese ganze Sauerei zustande gebracht hatten, sollten bei uns schreiben!“ Chefredakteur Richard Tüngel, der den Teilabdruck von Carl Schmitts ,Gespräche über die Macht‘ in der ,Zeit‘ vom 29. Juli 1954 zu verantworten hatte, musste schließlich die Zeitung verlassen, woraufhin Dönhoff vom ,Observer‘ aus London zur ,Zeit‘ zurückkehrte. Zur Publikationsgeschichte s. das Nachwort des Herausgebers Gerd Giesler zu Carl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart 2008, S. 85 f. Zu einem Spottgedicht Carl Schmitts über die „Jräfin“ vom Juli 1962 überliefert Mohler: „Marion Gräfin Dönhoff: der Haß gegen sie wird bei C. S. zu einer Obsession, die nur verständlich ist aus den Hoffnungen, welche Schmitt in eine von Tüngel geführte nationalliberale ,Zeit‘ gesetzt hatte – er wollte wenigstens eine der großen Zeitungen nicht gegen sich haben.“ Armin Mohler (Hg.), Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler, Berlin 1995, S. 319, Anm. 389. Am 2. Juni 1955 berichtet Schmitt (ebd., S. 200): „Mit der ,Zeit‘ habe ich keine Verbindung mehr. Die Gräfin Dönhoff ist im August unter grossem Krach ausgeschieden und hat Tüngels Hinweis auf mein Macht-Gespräch als Vorwand benutzt; sie verschickt ,Material‘ gegen mich. Da werden Gräfinnen zu Hyänen.“ [32] „Als der bisherige Abwehrchef, Kapitän Patzig, sich am 31. Dezember [1934] bei Fritsch abmeldete, kam dieser auf die Verleumdungen durch die Gestapo zu sprechen, denen sie beide ausgesetzt seien. Ihm, Fritsch, schreibe man Putschabsichten zu; wenn dies nicht aufhöre, werde er sein Amt zur Verfügung stellen. Er werde noch heute bei Blomberg vorsprechen und die Kabinettsfrage aufwerfen. Denn – erklärte Fritsch bezeichnenderweise – solange er aktiver Offizier sei, komme ein Putsch für ihn nicht in Frage! Tags darauf, bei der Neujahrsgratulation der Reichswehr, betonte Hitler geflissentlich sein unbedingtes Vertrauen zu ihr. Am Nachmittag aber ging für Fritsch aus Äußerungen Görings ,klar‘ hervor, daß eine ,wilde Hetze im Gange‘ war, die sich vor allem gegen ihn selbst richtete. Himmler, so behauptet Fritsch wieder in seinem ,Rechenschaftsbericht‘, habe ihm für einen bestimmten Tag im Januar (offenbar den 13.) die Absicht eines Putsches unterstellt und damit auch bei Göring weitgehend Glauben gefunden. Als Verdachtsmoment spielte nach Fritschs Erinnerung ein ohne seine Veranlassung geplanter – Vortrag des Staatsrechtslehrers Carl Schmitt im Reichswehrministerium eine wichtige Rolle!“ Helmut Krausnick, Vorgeschichte und Beginn des militärischen Widerstandes gegen Hitler, in: Europäische Publikation e.V. (Hg.), Vollmacht des Gewissens, Bonn 1956, S. 175 – 380, hier: S. 250, im Nachlass Carl Schmitt, S. 410, mit Einlage. S. a. unten Kapitel 6.
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[33] Das ,Neue Deutschland‘ veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 17. Dezember 1966 auf der Titelseite unter der Schlagzeile ,Kiesingers brauner Berater‘ einen am Tag zuvor in der ,Frankfurter Rundschau‘ (S. 3) erschienenen Artikel von Volkmar Hoffmann: „,Wer ist eigentlich der Schutzpatron dieses Kabinetts?‘ fragte [der ehem. Bundesjustizminister und Bundesvorsitzende der FDP] Dehler harmlos. Einige Namen folgten. Darunter Karl Schmitt. Erstaunte Gesichter im Plenum. ,Nein, ich meine nicht Carlo Schmid‘, klärte Dehler die Unwissenden auf und ließ es dabei bewenden. Einer schien getroffen – oder war es eine Täuschung? – als der Name Karl Schmitt im Raume war: Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Ein Gerücht, ein streng gehütetes Bonner Geheimnis, war von Thomas Dehler angesprochen worden: Der Kronjurist des ,Dritten Reiches‘, Präsident der NS-Akademie für deutsches Recht, Professor Karl Schmitt, gilt als heimlicher staatsrechtlicher Berater des neuen Bundeskanzlers. Man hört, von Zeit zu Zeit sei der damalige Ministerpräsident von BadenWürttemberg mit jenem staatsrechtlichen Chefideologen der ersten Jahre des Naziregimes, der die böse Tagung ,Judentum in der Rechtswissenschaft‘ leitete, in Plettenberg im Sauerland in Klausur gegangen.“ Dazu Schmitts Klage vor Armin Mohler, Briefwechsel, S. 378, im Brief vom 24. Dezember 1966: „Inzwischen hat das ,Neue Deutschland‘ (via Frankfurter Rundschau) mein armes San Casciano entdeckt und mit Giftgas belegt“. Nach Angaben Ernst Hüsmerts (Carl Schmitt in Plettenberg, S. 38) fand das Gespräch mit Kiesinger statt auf Vermittlung des CDU-Bundestagsabgeordneten Peterheinrich Kirchhoff aus Werdohl, einer Nachbarstadt Plettenbergs. [34] Carl Schmitt, Historiographia in Nuce: Alexis de Tocqueville, in: Ex Captivitate Salus, S. 25 – 33, hier: S. 28, hält Tocqueville zugute, früher als alle anderen Amerika und Russland als Motoren der künftigen Weltentwicklung „zur Zentralisierung und Demokratisierung“ vorhergesehen zu haben. Doch hält er ihm zugleich vor, er habe zu keinem christlichen Geschichtsbild gefunden: „Ihm fehlte der heilsgeschichtliche Halt, der seine geschichtliche Idee von Europa vor der Verzweiflung bewahrte. Europa war ohne die Idee eines Kat-echon verloren. Tocqueville kannte keinen Kat-echon.“ Ebd., S. 31. S. a. Piet Tommissen, C.S.s Tocqueville-Notizen, in: Schmittiana 7, S. 105 – 107. Günter Rohrmoser, Der Hegelsche Staat ist tot, in: Schmittiana 6 (1998), S. 147 – 155, hier: S. 148 f., teilt mit: „Tocqueville spielte überhaupt in seinem Werk eine größere Rolle, als es bisher in der Interpretation sichtbar wurde, denn C.S. hatte ja die Absicht, ein größeres Werk über Tocqueville zu schreiben.“ [35] Luis Díez del Corral, El liberalismo doctrinario, Madrid 1945. (Doktrinärer Liberalismus. Guizot und sein Kreis, übers. v. Rainer Specht, Neuwied / Berlin 1964.) La desmitificación de la antigüedad clásica por los pensadores liberales, con especial referencia a Tocqueville, Madrid 1969; El pensamiento político de Tocqueville. Formación intelectual y ambiente histórico, Madrid 1989. Carl Schmitt empfiehlt ,El liberalismo doctrinario‘ am 12. Dezember 1949 mit lobenden Worten über den Verfasser („ein vornehmer und bedeutender Mann; er ist jetzt an der spanischen Botschaft in Paris“) Ernst Forsthoff. Briefwechsel Forsthoff / Schmitt, S. 62 f. [36] Ansgar Skriver und Manfred Rexin vom Westdeutschen Rundfunk führten mit Carl Schmitt ein Interview für die Sendung von Rexin, „Der Artikel 48“ – Notstand und Weimarer Demokratie, WDR 3, gesendet am: 02. 01. 1967, 21.00 – 22.00.
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Kapitel 6 [37] Friedrich Hossbach, Zwischen Wehrmacht und Hitler. 1934 – 1938, Wolfenbüttel / Hannover 1949, dokumentiert Fritschs Aufzeichnung vom 1. Februar 1938 aus dem Nachlass von Generaloberst Ludwig Beck auf S. 68 – 72, hier: S. 70 f. „Im Herbst 1934 setzte dann wieder eine verstärkte Hetze der Partei gegen meine Person ein. Sie wurde vor allem durch die Gestapo und verwandte Kreise betrieben. Es gelang ihnen, Göring weitgehend davon zu überzeugen, daß ich Putschabsichten hätte. Himmler wollte wissen, daß dieser Putsch am 10.(?) Januar 1935 oder einem anderen Tag im Januar 1935 zur Ausführung kommen würde. Aus diesem Grund lud Blomberg für den ersten fraglichen Tag, ich glaube den 10. 1. 1935, die Kommandierenden Generale und viele andere höhere Offiziere zu einem Bierabend in der Kaiser-Wilhelm-Akademie ein. Himmler hielt einen Vortrag. Dabei war das Belastende für meine Person gewesen, daß ich einen Professor, der übrigens auch Staatsrat war, ich glaube er hieß Schmidt, eingeladen hätte, er solle einen Vortrag über Staatsrecht an einem Donnerstag am Tirpitzufer halten. Göring behauptete, in dem Vortrag solle nachgewiesen werden, daß ein Putsch staatsrechtlich erlaubt sei. Das in Gegenwart des Ministers und zahlreicher Offiziere! Die Einladung war durch die 4. Abt. ergangen. Der Mann war und ist mir völlig unbekannt. Der Vortrag wurde abgesagt.“ S. a. Ernst Jüngers Leseempfehlung v. 14. 05. 1949, Briefwechsel, S. 237, und die Antwort von Schmitt v. 27. Mai, ebd., S. 239: „Wegen des Buches von Hossbach, auf das Sie mich aufmerksam machen, habe ich bei einem Bekannten in Göttingen angefragt, der Hossbach kennt. Bis jetzt kann ich mir nicht recht denken, um was es sich eigentlich handelt, denn ich habe weder direkt noch indirekt mit dem General v.Fritsch die geringsten Beziehungen oder Berührungen gehabt.“ [38] „Hinter dieser, von Vico vorbereiteten, scheinbar nur wissenschaftlichen Abtrennung [von Natur und Geschichte] meldet sich ganz entschieden die Entdeckung einer spezifisch geschichtlichen Zeit. Wenn man so will, handelt es sich um eine Verzeitlichung der Geschichte, die sich seitdem von der natural gebundenen Chronologie abhebt. Zwei naturale Zeitkategorien hatten bis in das achtzehnte Jahrhundert die Abfolge und die Berechnung historischer Ereignisse gewährleistet: der Umlauf der Gestirne und die natürliche Erbfolge der Herrscher und Dynastien. Kant aber, indem er jede Deutung der Geschichte aus astronomischen Fixdaten ablehnt und das Erbprinzip als widervernünftig verwirft, verzichtet damit auf die überkommene Chronologie als annalistischen, theologisch eingefärbten Leitfaden. Als ob sich nicht die Chronologie nach der Geschichte, sondern, umgekehrt, die Geschichte nach der Chronologie richten müsse. [Anm.: Kant, Anthropologie (1798), Ed. Weischedel, VI, 503.]“ Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 38 – 66, hier: S. 58. Der 1967 ersterschienene Aufsatz ist im Nachlass Carl Schmitt, S. 597, mit Anmerkungen verzeichnet. Gegenüber Eberhard Straub, Interview mit Carl Schmitt, 5 Tonbänder, 1981, unveröffentlicht, hier: Bd. 5, beruft sich Carl Schmitt auf Louis Claude de Saint-Martin: „Es gibt nur zwei Religionskriege in der ganzen Geschichte der Menschheit. Das ist der Religionskrieg, der durch das Jahr 70, die Zerstörung des Tempels, entschieden wurde. Und der zweite ist die Französische Revolution, die den neuen Kalender eingeführt hat. Das mit dem neuen Kalender ist eine tolle Geschichte. [ . . . ] Das ist für unsere Situation, wie soll ich sagen, folgenreicher als alles andere.“ Zum Themenkomplex s. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004; Karl Epting, Die politische Theologie LouisClaude de Saint-Martins, in: Hans Barion u. a. (Hg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Berlin 1968, S. 161 – 184.
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[39] Gemeint ist der 30. Juni 1934, in dessen Umkreis außer den Führern der SA auch Kurt von Schleicher, dessen Stellvertreter als Reichswehrminister Ferdinand von Bredow und der ehemalige bayerische Ministerpräsident und Generalstaatskommissar Gustav von Kahr getötet worden sind. Im Interview mit Eberhard Straub, Bd. 4, reiht sich Carl Schmitt ein: „Schleicher wurde erschossen mitsamt seiner Frau. [ . . . ] Der Kahr, den ich noch von München her kannte. Da wurde die große Abrechnung gemacht am 30. Juni. Da war ich ja fällig und stand auf der Abschussliste, da hat Göring mich gerettet.“ In der Deutschen Juristen-Zeitung 39, 15 (1934) vom 1. August 1934, Sp. 945 – 950, hier: Sp. 947, qualifizierte Schmitt, Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934, die „Führerhandlung“ als Vollzug eines völkischen ,nomos empsychos‘ oder ,nomos basileus‘ (Günter Meuter, Carl Schmitts „nomos basileus“ oder: Der Wille des Führes ist Gesetz. Über den Versuch, die konkrete Ordnung als Erlösung vom Übel des Positivismus zu denken, Neubiberg 2000): „In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. Es war nicht die Aktion eines republikanischen Diktators, der in einem rechtsleeren Raum, während das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollzogene Tatsachen schafft, damit dann, auf dem so geschaffenen Boden der neuen Tatsachen, die Fiktionen der lückenlosen Legalität wieder Platz greifen können. Das Richtertum des Führers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt.“ In Sp. 948 f. ergänzt Schmitt: „Außerhalb oder innerhalb des zeitlichen Bereiches der drei Tage fallende, mit der Führerhandlung in keinem Zusammenhang stehende, vom Führer nicht ermächtigte ,Sonderaktionen‘ sind um so schlimmeres Unrecht, je höher und reiner das Recht des Führers ist.“ [40] „Abends bei Jünger angerufen, aber nur die Frau war da. Abends schön gebadet, Franz Blei kam um 8 zum Abendessen, ich trank zuviel Saarwein, er zuviel Slibowitz. Etwas langweilig; dann kam Musil mit seiner scheußlichen Frau. Sprach zu viel über seinen Roman, [ . . .] Wiener Juden, ekelhaft. Begleitete sie zum Bahnhof Zoo, traurig zurück.“ Am 27. September 1971 erteilte Schmitt auf Anfrage dem Musil-Biografen und Literatur-Redakteur vom Hessischen Rundfunk Karl Corino die schriftliche Auskunft: „[M]eine persönliche und literarische Bekanntschaft mit Robert Musil ist mir durch Franz Blei vermittelt. Persönlich habe ich Musil nur einmal gesehen und gesprochen. Das war allerdings ein intensives Gespräch, das in einem für mich besonders pathognomischen Moment stattfand (nach einer aufregenden Tagung der Friedrich-List-Gesellschaft über die Beurteilung des damaligen Nationalsozialismus), am Sonntag, dem 14. Dezember 1930, abends 8 bis 1/2 12.“ Zit. nach dem Tagebuch 1930 – 34. Zur Freundschaft zwischen Schmitt und Blei s. Dahlheimer, Katholizismus, S. 545 ff., Mehring, Biographie, S. 94 ff., sowie das Tagebuch der Militärzeit mit Schmitts Veröffentlichungen beim Herausgeber Blei auf S. 430 ff. u. 472 f. S. a. Angela Reinthal (Hg.), Franz Blei. Briefe an Carl Schmitt. 1917 – 1933, Heidelberg 1995; Dietrich Harth (Hg.), Franz Blei. Mittler der Literaturen, Hamburg 1997; Franz Blei, Ein deutsches Gespräch, in: Neue Schweizer Rundschau Nr. 24 v. 01. 07. 1931, S. 63 – 78, mit den Geprächspartnern Schmitt, Blei und Veit Roßkopf (s. u.).
Kapitel 7 [41] Viktor Christen, Die große Parallele im Geschichtsdenken Alexander Herzens, Münster 1964. Am 31. Januar 1967 schreibt Carl Schmitt an Julien Freund (in: Schmittiana 4 (1994), S. 69): „C’est un thème et aussi un problème passionnant. Un jeune historien de Münster, Victor Christen a fait une thèse sur Die große Parallele im Geschichtsdenken Alexander Herzens (l’auteur russe de 1848), dans laquelle il traite comme réprésentants typiques
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de la grande parallèle: 1) Saint-Simon et l’école saint-simonienne; 2) Alexander Herzen; 3) Moses Heß; 4) Donoso Cortés; 5) Bruno Bauer“. [42] „Die ,große Parallele‘ mußte jetzt größere Verbindlichkeit erlangen, ,Le jugement dernier du vieux monde social‘ – so der Titel seiner [Moses Hess’] 1851 in Genf erschienenen Schrift – war unabweislich geworden. Dieses ,jugement dernier‘ hatte ja auch Herzen nach der Revolution von 1848 über das ,alte Europa‘ gesprochen, und so nimmt es nicht Wunder, daß sich Hess von Herzens Stimme ,Vom anderen Ufer‘ [ . . . ] am meisten angesprochen fühlte. Denn hier tauchte die beunruhigende Parallele wieder auf, beunruhigend deshalb, weil sie ein Russe gegen den Westen ausspielte.“ Groh, Russland, S. 258, dort mit Hervorhebungen, im folgenden S. 277: „Aus diesen wenigen Andeutungen ergibt sich bereits, daß Engels hier genau so wirksam wie Moses Hess gegen Herzen marxistische Kategorien ins Feld führt und daß nur diese es erlauben, die ,große Parallele‘ als für Europa nicht beunruhigend und als eine Erfindung der Panslavisten [ . . . ] abzuweisen.“ [43] Carl Schmitt zu Karl Löwiths ,Meaning in History‘ in seiner Abhandlung ,Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes‘ (1950): „Der erste Hinweis, den die Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches uns nahelegt, betrifft die große historische Parallele, in der sich das geschichtliche Selbstverständnis des letzten Jahrhunderts konzentriert. Indem dieses Jahrhundert seine eigene Zeit mit der Zeit der römischen Bürgerkriege und des ersten Christentums in eine geschichtliche Parallele brachte, machte es den merkwürdigen Versuch, durch Vergleichung mit einer ganz anderen, zweitausend Jahre zurückliegenden Zeit sich selbst geschichtlich zu begreifen. [ . . . ] Das kyklische Denken knüpft daran die Folgerung eines neuen Weltjahres, das progressistische Denken folgert die spiralförmige Steigerung einer vollkommeneren Zeit, das eschatologische aber die Erwartung des unmittelbaren Endes. Der Christ muß die Parallele zur Identität erheben, weil für ihn die Kern-Ereignisse des christlichen Aion, Ankunft, Kreuzestod und Auferstehung des Menschensohnes, in unveränderter Präsenz lebendig bleiben.“ Carl Schmitt, Drei Stufen historischer Sinngebung [von der Redaktion geänderter Titel], in: Universitas 5, 8 (1950), S. 927 – 931, hier: S. 928 f. [44] „Konstantin betrachtete sich selbst – auch ohne christliche Taufe – als einen Bischof und eine Art dreizehnten Apostel, und Eusebius hat ihn als den Bischof ton ekton (d. h. entweder derer, die draußen sind, also der Nicht-Christen; oder aber dessen, was draußen ist, also des politischen Bereichs) anerkannt. Die Typizität einer solchen Figur und alles dessen, was zu ihrer Situation gehört, einschließlich des Bischofs Eusebius selbst, ist eng begrenzt, infolgedessen auch die Vergleichbarkeit Konstantins des Großen zum Beispiel mit Hitler oder Stalin.“ Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970, S. 48 f. Das Kapitel ,Eusebius als der Prototyp politischer Theologie‘ ist wieder abgedruckt in: Gerhard Ruhbach (Hg.), Die Kirche angesichts der Konstantinischen Wende, Darmstadt 1976, S. 220 – 235. S. a. Johannes Straub, Kaiser Konstantin als ’!"#$%&"&$ '() ’!%'&$, ebd., S. 187 – 205. [45] Bei allem Größenunterschied sind Konstantin der Große und Adolf Hitler, vermutlich als ,Erneuerer‘ des Reiches, für Carl Schmitt vergleichbar, wenn auch nur „eng begrenzt“. Hier wird deutlich, warum ihn Erik Petersons ,Erledigung‘ der politischen Theologie so tief traf, dass er 35 Jahre später – zehn Jahre nach Petersons Tod – mit einer zweiten ,Politischen Theologie‘ das letzte Wort ergriff. Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum, Leipzig 1935, S. 81, überblendet den politischen Theologen Schmitt mit Eusebios von Kaisareia: „Die drei Begriffe: Imperium Romanum, Friede und Monotheismus sind also unauflöslich miteinander verknüpft. Aber ein viertes Moment tritt dann noch hinzu: die Monarchie des Römischen
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Kaisers. Der eine Monarch auf Erden – und das ist für Euseb nur Konstantin – korrespondiert dem einen göttlichen Monarchen im Himmel. Bei aller Bestimmtheit des Eusebius durch die antike Philosophie und Rhetorik kann man doch nicht verkennen, daß die Gesamtkonzeption, die Reich, Frieden, Monotheismus und Monarchie miteinander verknüpft, eine von Christen geschaffene Einheit darstellt.“ In seinem Handexemplar (HStA, RW 265-24565) notiert Schmitt an den Rand dieses Satzes: „umso besser!“ S. a. Peterson, Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie, in: Hochland 30, 2 (1933), S. 289 – 299, hier: S. 289, ausdrücklich bezogen auf Carl Schmitt: „Die politische Theologie ist, wie die politische Utopie, ein anscheinend mit innerer Notwendigkeit sich wieder einstellendes Faktum, von dem Theologen freilich stets mit Mißtrauen betrachtet und in seiner meist häretischen Artung erkannt, von den Politikern aber immer wieder mit neuer Zuversicht vorgetragen. Politische Theologie ist nicht erst ein Erzeugnis der Neuzeit. Nicht de Maistre oder Donoso Cortes, nicht Bossuet oder Rousseau sind die Schöpfer einer politischen Theologie gewesen, nein, schon die christliche Antike, d. h. das im Imperium Romanum lebende Christentum hat das Bedürfnis nach einer politischen Theologie empfunden.“ Der Text ist wieder abgedruckt in: Jacob Taubes (Hg.), Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München u. a. 1983, S. 174 – 180. In seiner Verteidigung des Eusebios bringt Schmitt, Politische Theologie II, S. 81, schließlich den Katechon gegen Peterson in Stellung, um den Vorwurf der Reichsideologie mit dem des Antijudaismus zu kontern. Zum Streit zwischen Schmitt und Erik Peterson um die Reichstheologie s. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 579 f.; Alfons Motschenbacher, Katechon oder Großinquisitor? Eine Studie zu Inhalt und Struktur der Politischen Theologie Carl Schmitts, Marburg 2000, S. 177 ff.; Ruth Groh, Arbeit an der Heillosigkeit der Welt. Zur politisch-theologischen Mythologie und Anthropologie Carl Schmitts, Frankfurt 1998, S. 157 ff.; „Der boshafte Schöpfer dieser Welt hat es so eingerichtet ( . . . )“. Carl Schmitts gnostischer Dualismus, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 115 (2004), S. 347 – 381, hier: S. 366 ff. [46] Der Bischof von Essen und Militärbischof der Bundeswehr Franz Hengsbach, mit dem Carl Schmitt vom Siedlinghauser Kreis um den katholischen Landarzt Franz Schranz her bekannt gewesen ist, war ein Kritiker der politischen Theologie der Befreiung. Am 16. Dezember 1971 machte er von sich reden, als er mit sieben Millionen DM Lösegeld den Aldi-Besitzer Theo Albrecht von dessen Entführern befreite. Mao als Katechon erhellt vor dem Hintergrund von Joachim Schickel, Gespräch über den Partisanen, in: Gespräche mit Carl Schmitt, Berlin 1993, S. 9 – 30, hier: S. 25 f.: „J.S.: Würden Sie folgendem zustimmen? Während der Kulturrevolution in China wurde die Partei, praktisch das Establishment der Partei, nämlich die Partei als institutionalisierte, regularisierte, enttotalisierte zerschlagen und völlig neu geformt. Ich möchte sagen, das ist ein Akt Mao Tse-Tungs als eines Partisanen; ein richtiger Partisanenakt. C.S.: Sehr gut, das ist so und nicht anders zu verstehen. Aber mich erinnern solche Vorgänge an die Geschichte des Christentums, das mit einer totalen Verneinung der damaligen Welt, des römischen Imperiums, und mit einer totalen Infragestellung der Welt begann und sich bald in Katakomben auf römischem Boden, unterirdisch und buchstäblich im Untergrund organisierte. [ . . . ] Und wie endet diese totale Verneinung? Mit Konstantin, Staatsreligion und schließlich mit dem unfehlbaren römischen Bischof als einer zentralen Organisation, wie sie zentralistisch vollkommener kaum auf der Welt vorhanden sein dürfte. . .“ Zum Gespräch s. Manfred Lauermann, Zwischen Carl Schmitt und Mao Zedong. Ad Joachim Schickel (1924 – 2002), in: Empresas Políticas 7, 10 / 11 (2008) (Festschrift für Günter Maschke), S. 261 – 268. In seiner Theorie des Partisanen, Berlin 1963, S. 62, lobt Carl Schmitt Mao als Vordenker einer nationalen Großraumtheorie, „der einen raumlosen, global-universalen, absoluten Weltfeind, den marxistischen Klassenfeind, mit
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einem territorial-begrenzbaren, wirklichen Feind der chinesisch-asiatischen Defensive gegen den kapitalistischen Kolonialismus in sich verbindet. Es ist der Gegensatz einer One World, einer politischen Einheit der Erde und ihrer Menschheit, gegen eine Mehrzahl von Großräumen, die in sich selbst und untereinander vernünftig ausbalanziert sind.“ [47] Aurelius Augustinus, De civitate dei 22, 8. Eine Theologie ohne Wunder entspricht für den Carl Schmitt der ,Politischen Theologie‘ einer Jurisprudenz ohne Ausnahmezustand: „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie.“ Zit. nach Carl Schmitt, Soziologie des Souveränitätsbegriffes und politische Theologie, in: Melchior Palyi (Hg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München / Leipzig 1923, S. 5 – 35, hier: S. 26. [48] 1920 bezeichnet „politische Theologie“ mit Bezug auf Max Webers Kritik der Rechtsphilosophie Rudolf Stammlers die „radikal spiritualistische Geschichtsphilosophie“ der „gegenrevolutionären Schriftsteller“ (Carl Schmitt, Soziologie des Souveränitätsbegriffes, S. 30). 1970 bezeichnet die Phrase weiter mit Bezug auf Weber eine begriffliche Umbesetzung „innerhalb des systematischen Denkens der beiden geschichtlich höchstentwickelten und höchstformierten Stellengefüge des ,occidentalen Rationalismus‘ [ . . . ], nämlich zwischen der katholischen Kirche mit ihrer ganzen juridischen Rationalität und dem [ . . . ] Staat des Jus publicum Europaeum.“ Ders., Politische Theologie II, S. 110. Die im vorliegenden Gespräch ausgesprochene Deutung seiner politischen Theologie scheint Schmitt erst nach Herausgabe von ,Politische Theologie II‘ zu elaborieren. So schreibt er Hans Blumenberg am 20. Oktober 1974 (Alexander Schmitz / Marcel Lepper (Hg.), Hans Blumenberg. Carl Schmitt. Briefwechsel 1971 – 1978 und weitere Materialien, Frankfurt 2007, S. 120): „Seit über 40 Jahren sammle ich Material zu dem Problem ,%*+,-./‘ bzw. ,%*+,-0/‘ (Thess. 2,2,6); ebensolange suche ich ein Menschenohr, das diese Frage – für mich die Kernfrage der (meiner) Politischen Theologie – hört und versteht.“ Allgemein s. Álvaro d’Ors, Politische Theologie – eine erneute Beleuchtung des Themas, in: Forum Katholische Theologie 24 (2008) (spanisch in: Revista de Estudios políticos 35, 205 (1976), S. 41 – 79), S. 88 – 122; Klaus-Michael Kodalle, Politik als Macht und Mythos. Carl Schmitts ,Politische Theologie‘, Stuttgart u. a. 1973; Michele Nicoletti, Transcendenza e potere. La teologia politica di Carl Schmitt, Brescia 1990; Jürgen Manemann, Carl Schmitt und die politische Theologie. Politischer Anti-Monotheismus, Münster 2002; Volker Neumann, Theologie als staatsrechtswissenschaftliches Argument: Hans Kelsen und Carl Schmitt, in: Der Staat 47, 2 (2008), S. 163 – 186. [49] Carl Schmitt legt dem oben zitierten Brief an Blumenberg als Anlage den Aufsatz über die ,Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes‘ (1950) bei, in dem er die Frage aufwirft, „ob eschatologischer Glaube und Geschichtsbewußtsein miteinander möglich sind. Die Frage wird fast immer verneint. [ . . . ] Trotzdem besteht die Möglichkeit einer Brücke. Wir haben dafür erstaunliche Beispiele in der Geschichte des mittelalterlichen Kaisertums. Die Brücke liegt in der Vorstellung einer Kraft, die das Ende aufhält und den Bösen niederhält. Das ist der Kat-echon der geheimnisvollen Paulus-Stelle des 2. ThessalonicherBriefes.“ Briefwechsel Blumenberg / Schmitt, S. 164; Schmitt, Drei Möglichkeiten, S. 929; s. a. Die Einheit der Welt, in: Frieden oder Pazifismus, S. 841 – 871. Blumenberg wird ihm am 7. August 1975 entgegnen: „Es dauert nicht mehr lange, und die Christen beten statt um das Kommen des Herrn für den Aufschub des Endes, um sich schließlich selbst als die Macht darzustellen, die das Römische Reich dadurch erhält, dass sie Gott ständig in den Arm fällt. Mit der Reichsmacht identisch geworden, ist es die schiere Konsequenz, dass sich in dieser Macht auch der und das ,katechon‘ darstellt. Aber all dies sind Formen nicht der Gleichzeitigkeit von Geschichte und Eschatologie, sondern der Umkehrung der eschatologischen Ver-
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heißung in die Verheißung des Aufschubs der Eschata.“ Briefwechsel, S. 131 f. Auf katholischen Widerspruch gegen seine optimistische Darstellung des Katechon stößt Schmitt beim Romanisten Álvaro d’Ors, Carl Schmitt in Compostela, in: Carl Schmitt / Álvaro d’Ors, Briefwechsel, hg. v. Montserrat Herrero, Berlin 2004, S. 297 – 315. [50] Im Nachlass Carl Schmitt befinden sich unter HStA, RW 265-20022 – 26, fünf Dossiers bzw. ein Dossier in fünf Mappen zum Katechon. Als Liste kann am ehesten Nr. 20023 – „Entwurf eines Vortrags über den Katechon“ – betrachtet werden. Darin behandelt Schmitt die „Ent-Arcanisierungen des Katechon“, aufgehängt an der „Frage: birgt 2 Thess 2, 6 ein Arcanum oder liegt sein Arcanum darin, dass es kein Arcanum birgt.“ Aufgelistet werden allerdings nicht die Katechonten, sondern die Interpreten des Katechon, erstens die Typologen: „1. heute – Neutralisierungen zu einem allgem historisch. wissenschaftlichen ,IdealTypus‘ so bei Hans Freyer (Dilthey, Max Weber) 2. rück-theol rein jüdische, die 1800 Jahre weg; (Strobel)“. Zweitens Calvin, einige Kirchenväter, das „Mittelalter (Adso) (Coroll. Nomos der Erde)“ und Martin Luther. Drittens die Ent-Arcanisierer und Periodiker der „HeilsGeschichte“: „1) ein einziger Äon“, „2) Joachimitische Periodisierung zu der Trinität“, „3) Bonaventura (u. a.)“. Bücher, die Schmitt im Dossier angibt, sind: Reinhold Niebuhr, Glaube und Geschichte (Faith and History). Eine Auseinandersetzung zwischen Christentum und modernen Geschichtsanschauungen, München 1951; Wilhelm Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit. Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins ,Bürgerschaft Gottes‘, Stuttgart / Köln 21951; in Kopie das Kapitel ,Rom und die Christen im ersten Jahrhundert‘, aus: Martin Dibelius, Botschaft und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Zum Urchristentum und zur hellenistischen Religionsgeschichte, Tübingen 1956, S. 177 – 228. Eine Auflistung und Klassifikation der Katechonten in Carl Schmitts veröffentlichten Schriften bei Felix Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon, Berlin 1996; Wolfgang Schuller, Dennoch die Schwerter halten. Der Katechon Carl Schmitts, in: Hubert Cancik u. a. (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion. Festschrift für Martin Hengel, Bd. 2, Tübingen 1996, S. 389 – 408. [51] „Es spricht, der solches bezeugt: Ja, ich komme bald. Amen, ja komm, Herr Jesu!“ Offenbarung 22, 20, zitiert nach Lutherbibel 1912. [52] „Wir haben in der Elementarschule des Marxismus gelernt, daß man von der kapitalistischen Gesellschaft zur sozialistischen nicht mit einem Sprung kommen kann, und niemand von uns hat in dieser mechanischen Art den berühmten Engelsschen ,Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit‘ interpretiert; niemand hat geglaubt, daß man von heute auf morgen die Gesellschaft ummodeln kann. Engels meinte damit eine große Epoche, die vom großen geschichtlichen Standpunkt aus einen wirklichen ,Sprung‘ bedeutet.“ L[eo] Trotzki, Die neue ökonomische Politik Sowjetrusslands und die Weltrevolution. Rede gehalten auf dem IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale am 14. November 1922 zu Moskau, Hamburg 1923, S. 8. Wie Carl Schmitt den marxistisch-säkularen Sprung ins Reich der Freiheit betrachtet, zeigt seine Metapher vom „Tod als Sprung ins Reich der Freiheit“ (Ex Captivitate Salus, S. 88). [53] „Die objektiven Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrole [sic] der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen [ . . . ]. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Nothwendigkeit in das Reich der Freiheit.“ Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe, Erste Abt.: Werke. Artikel. Entwürfe, Bd. 27 a, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1988, S. 469.
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[54] „Die ganze Geschichte des ,Christentums‘ bis auf den heutigen Tag, die innere, wirkliche Geschichte desselben, beruht auf der ,Parusieverzögerung‘: d. h. auf dem Nichteintreten der Parusie, dem Aufgeben der Eschatologie, der damit verbundenen fortschreitenden und sich auswirkenden Enteschatologisierung der Religion.“ Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Zweite, neu bearbeitete und vermehrte Auflage des Werkes ,Von Reimarus zu Wrede‘, Tübingen 1913, S. 407, im Anschluss an Bruno Bauers ,Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker‘. S. a. Schweitzer, Die Idee des Reiches Gottes im Verlaufe der Umbildung des eschatologischen Glaubens in den uneschatologischen, in: Schweizerische Theologische Umschau 23, 1 / 2 (1953), S. 2 – 20. [55] „6. Und was es noch aufhält (+1 κ*+,-0/), wisset ihr, daß er offenbart werde zu seiner Zeit. 7. Denn es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit (+23 4/056*3), nur daß, der es jetzt aufhält (7 κ*+,-./), muß hinweggetan werden; 8. und alsdann wird der Boshafte (7 8/0503) offenbart werden, welchen der Herr umbringen wird mit dem Geist seines Mundes und wird durch die Erscheinung seiner Zukunft ihm ein Ende machen“. 2. Thessalonicher 2, 6 – 8, zit. nach Lutherbibel 1912, gr. Text nach Nestle-Aland-Ausgabe. In seiner Aufzeichnung vom 19. Dezember 1947, Glossarium, S. 63, bekennt Carl Schmitt gegenüber Gerhard Günther seinen Glauben an den Katechon: „Zu κ*+,-./: ich glaube an den Katechon; er ist für mich die einzige Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden. Die paulinische Geheimlehre ist nicht mehr und ebenso viel geheim wie jede christliche Existenz. Wer nicht selber in concreto etwas vom κ*+,-./ weiß, kann die Stelle nicht deuten. [ . . . ] Man muß für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den κ*+,-./ nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden. Jeder große Kaiser des christlichen Mittelalters hat sich mit vollem Glauben und Bewußtsein für den Katechon gehalten, und er war es auch. Es ist gar nicht möglich, eine Geschichte des Mittelalters zu schreiben, ohne dieses zentrale Faktum zu sehen und zu verstehen. Es gibt zeitweise, vorübergehende, splitterhaft fragmentarische Inhaber dieser Aufgabe. Ich bin sicher, daß wir uns sogar über viele konkrete Namen bis auf den heutigen Tag verständigen können, sobald nur einmal der Begriff klar genug ist. Donoso Cortés ist theologisch daran gescheitert, daß ihm dieser Begriff unbekannt geblieben ist.“ Günther hatte im August 1932, kurz nach dem Preußenschlag (s. u.), auf den Dualismus zwischen Reich und Preußen mit dem reichsideologischen Buch: Das werdende Reich. Reichsgeschichte und Reichsreform, Hamburg 1932, geantwortet. 1970 legte er eine kommentierte Ausgabe von: Der Antichrist. Der staufische Ludus de Antichristo, Hamburg 1970, vor. Gerhard Günthers Bruder Albrecht Erich entschlüsselte dieses liturgische Spiel 1932 im katechontischen Reichsgedanken: „Es war von der höchsten geschichtlichen Bedeutung, daß das junge Christentum den unversöhnlichen Reichshaß der Juden nicht übernahm, sondern einen Weg zur bejahenden Anteilnahme an den Reichsgeschicken fand. Sonst wäre es ebensowenig wie das Judentum in die Reichsträgerschaft hineingewachsen.“ Albrecht Erich Günther, Der Ludus de Antichristo, ein christlicher Mythos vom Reich und dem deutschen Herrscheramte, in: Der fahrende Gesell 20 (1933), S. 67 – 75, hier: S. 68. In einem Brief teilt Schmitt seinem Übersetzer, dem Bankier und Philosophen Pierre Linn, mit (Aufzeichnung vom 11. 01. 48, Glossarium, S. 80): „Vous connaissez ma théorie du κ*+,-./, elle date de 1932.“ S. a. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 586 ff. Zum Komplex s. den Sammelband von Michele Nicoletti (Hg.), Il Katéchon (2Ts 2,6 – 7) e l’Anticristo. Teologia e politica di fronte al mistero dell’anomia, Brescia 2009. [56] August Strobel, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem auf Grund der spätjüdischen urchristlichen Geschichte von Habakuk 2,2 ff., Leiden / Köln 1961. Neuerdings: Paul Metzger, II Thess 2,1 – 12 im Horizont apokalyptischen Denkens, Berlin
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2005; Fritz W. Röcker, Belial und Katechon. Eine Untersuchung zu 2Thess 2,1 – 12 und 1Thess 4,13 – 5,11, Tübingen 2009. [57] Aurelius Augustinus, De civitate dei 20, 19: „Manche (so Chrysostomus, Hieronymus und andere) vertreten die Ansicht, der Ausspruch beziehe sich auf das römische Reich, und der Apostel Paulus habe es nur deshalb nicht ausdrücklich nennen wollen, um sich nicht der falschen Beschuldigung auszusetzen, als habe er dem römischen Reich, das doch als ewig galt, Schlimmes gewünscht; er hätte also mit den Worten: ,Denn schon ist das Geheimnis der Bosheit am Werk‘ auf Nero angespielt, dessen Taten bereits die des Antichrists zu sein schienen. [ . . . ] Aber diese Ansicht dünkt mich allzu absonderlich und abenteuerlich. Dagegen mag man die Worte: ,Es halte nur fest, wer jetzt festhält, bis er aus dem Wege geschafft ist‘ recht wohl [non absurde] auf das römische Reich beziehen, wie wenn es also hieße: ,Es herrsche nur, wer jetzt herrscht, bis er aus dem Wege geschafft wird‘, das ist beseitigt wird.“ Zit. nach Gerhard, Antichrist, S. 284 f.; Jaqcues Paul Migne (Hg.), Patrologia Latina, Bd. 41: Augustinus 7, Sp. 686. Dazu die Einschätzung Augustinus’ durch den späten Dieter Groh, Schöpfung im Widerspruch. Deutungen der Natur und des Menschen von der Genesis bis zur Reformation, Frankfurt 2003, S. 293: „Zwar spricht er in seinen Predigten angesichts des Falls von Rom 410 vom Altern und Zusammenstürzen der Welt: ,Perit mundus, senescit mundus, deficit mundus‘, aber er mißt solchen Erscheinungen angesichts des Dramas von Sünde und Gnade sowie der möglichen Erlösung des einzelnen durch Christus keine größere Bedeutung zu. In ,De civitate Dei‘ drückt er sein Erstaunen über die damals verbreiteten Exegesen von 2Thess 2,1 – 12 bezüglich des baldigen Kommens des Antichrist aus. Er referiert auch die Meinung, das Katechon beziehe sich auf das Römische Reich, ohne jedoch irgendeine Stellung zu beziehen.“ [58] „,Reich‘ bedeutet hier die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des gegenwärtigen Äon aufzuhalten vermag, eine Kraft, qui tenet, gemäß den Worten des Apostels Paulus im 2. Thessalonicherbrief, Kapitel 2. Dieser Reichsgedanke läßt sich durch viele Zitate aus den Kirchenvätern, durch Aussprüche germanischer Mönche aus der fränkischen und ottonischen Zeit – vor allem aus dem Kommentar des Haimo von Halberstadt zum 2. Thessalonicherbrief und aus dem Brief des Adso an die Königin Gerberga –, durch Äußerungen Ottos von Freising und andere Belege bis zum Ende des Mittelalters dokumentieren. Man darf hier sogar das Kennzeichen einer geschichtlichen Periode erblicken. Das Reich des christlichen Mittelalters dauert solange, wie der Gedanke des Kat-echon lebendig ist.“ Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 29. S. a. den Abschnitt ,Rom als Katechon‘ bei Groh, Schöpfung im Widerspruch, S. 106 ff., hier: S. 106 f.: „Carl Schmitt hat, auch im Einklang mit der damaligen Forschungsdiskussion, hervorgehoben, daß Tertullian der erste Kirchenvater gewesen sei, der das römische Kaiserreich mit dem im 2.Thessalonicherbrief (2,6 – 8) erwähnten Auf- und Niederhalter des Antichrist identifiziert hat. Angesichts der Christenverfolgungen, gegen die er 197 sein ,Apologeticum‘, seine Verteidigung des Christentums, schrieb, erinnerte er die Verfolger daran, daß die Christen nicht nur deshalb für den Kaiser beten, weil er die von Gott eingesetzte Obrigkeit ist, sondern noch aus einem anderen, heilsgeschichtlichen Grund“, um nämlich die Leiden am Ende der Welt hinauszuzögern.
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Band 2 Kapitel 8 [1] Franz Grillparzer, Ein Bruderzwist in Habsburg. Trauerspiel in fünf Aufzügen, Leipzig 1941, S. 61. „Abgeordneter: Wir baun auf festen Boden, auf die Schrift. Rudolf: Die Schrift? Rasch unterschreibend. Hier meine Unterschrift. Da ihr Den toten Zügen einer toten Hand Mehr traut als dem lebendig warmen Wort, Das, von dem Mund der Liebe fortgepflanzt, Empfangen wird vom liebedurstgen Ohr, Hier schwarz auf weiß. – Und nun noch Blut als Siegel. Blut ist das rote Wachs, das jede Lüge Zur Wahrheit stempelt; wenn von Volk zu Volk, Warum nicht auch von Fürst zu Untertan?“ Zum Thema der Schrift in Grillparzers Trauerspiel s. William C. Reeve, The federfuchser, penpusher from Lessing to Grillparzer. A study focused on Grillparzer’s ,Ein Bruderzwist in Habsburg‘, Montreal u. a. 1995. S. a. Hugo Ball, Die Folgen der Reformation, München / Leipzig 1924, S. 18: „Luther als rector magnificentissimus der philologischen Fakultät seines Volkes, und der Protestantismus eine Philologenbewegung – wird man sich entschließen, diesen Vorschlag anzunehmen? Luthers Glaube an das Geschriebene war unendlich. Schwarz auf weiß und sehr deutlich mußte die Meinung zu lesen sein. Den Papst verwarf er, weil er in der Bibel nicht vorkam. Die Mönche und Nonnen ebendeshalb. Die Fürsten aber, die Obrigkeit und den Krieg nicht, denn sie standen drin.“ [2] „Fragt man nach den spezifischen Bedingungen der okzidentalen Musikentwicklung, so gehört dahin vor allem andern die Erfindung unserer modernen Notenschrift. Eine Notenschrift unsrer Art ist für die Existenz einer solchen Musik, wie wir sie besitzen, von weit fundamentalerer Bedeutung als etwa die Art der Sprechschrift für den Bestand der sprachlichen Kunstgebilde“. Max Weber, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, München 1921, S. 64. Zum Schmitt umtreibenden „Unterschied zwischen wortgebundener und nichtwortgebundener also ersetzbarer und auf andere Texte übertragbarer Musik“ und Gesprächen darüber s. die Erinnerung Ernst Hüsmerts in: Carl Schmitt in Plettenberg, S. 46. Gegenüber Straub, Interview, Bd. 3, vergleicht sich Schmitt mit Hugo Riemann, dem Schöpfer der Phrasierungslehre: „Was dieser Riemann für die Musikgeschichte wurde [ . . . ], habe ich für die Verfassungslehre. . . Vorher gab es keine Verfassungslehre, es gab Staatslehre, Verwaltungslehre, Prozesslehre.“ S. a. Hugo Riemann, Studien zur Geschichte der Notenschrift, Leipzig 1878; Die Entwickelung unserer Notenschrift, Leipzig 1881; Musikalische Agogik und Dynamik, Hamburg 1884. An früherer Stelle des Interviews, Bd. 2, sagt Schmitt: „Wer nicht Musikgeschichte kennt, kann weder bei dem Problem der Sprache noch bei dem Problem der Schrift mitreden. [ . . . ] Das ist auch die wichtigste Arbeit von Max Weber: Soziologie der Musik. Da hatten wir im Seminar mit Max Weber. . . hatten wir einen Dozenten, der Professor [Adolf] Sandberger, der war sehr gut.“ [3] Richard Strauss war Gründer der ,Genossenschaft Deutscher Tonsetzer‘ und der ,Genossenschaft Deutscher Komponisten‘ und setzte sich sein Leben lang für Urheberrechte ein. S. Manuela Maria Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland, Berlin 2005, S. 594 ff. Von 1933 bis 1935 war er Präsident der (Joseph Goebbels’
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Reichskulturkammer unterstehenden) Reichsmusikkammer. In seiner vierten Stellungnahme gegenüber Robert Kempner erwähnt Carl Schmitt einen Besuch mit Strauss „in den Jahren 1937 / 38 in Angelegenheiten der Akademie für Deutsches Recht“ beim Akademiepräsidenten Hans Frank. Quaritsch, Antworten in Nürnberg, S. 69. S. a. den Brief an Ernst Jünger vom 28. März 1977, Briefe 1930 – 1983, S. 423: „Wie es sich mit dem Buchstaben-Schlagen auf der Schreibmaschine verhält, kann ich nicht mehr beurteilen. Das Klavier, auf dem ich gelegentlich noch gern musikhistorisch aufschlussreiche Fälle verifiziere, ist ein SchlagInstrument. Haben Sie einmal die geschriebene Partitur eines der bisher modernen komplizierten Musikstücke für grosses Orchester gesehen? Das müssten Sie sich einmal ansehn, von Richard Strauss zum Beispiel, oder von Richard Wagner. Da würden Ihnen die produktiven Einfälle nur so zufliegen.“ Zieht man die Parallele zwischen Partitur und Verfassung in Richtung Strauss und Schmitt, ergibt sich ein Parallelismus zwischen Programmmusik mit verschleiertem dichterischem Programm und Verfassungslehre mit verschleiertem politischem Programm. Zu den „Umschreibungen des Programms in den Partituren“ s. Walter Werbeck, Die Tondichtungen von Richard Strauss, Tutzing 1996, S. 215 ff. [4] „BECKM. (Das Blatt hervorziehend) Ist das eu-re Hand? | SACHS (blickt auf den Werktisch) Das Ge-dicht?. . .hier ließ ich’s. Steck-tet ihr’s ein? Ja, war es das? | BECKM. Ganz frisch noch die Schrift? ’s wär’ wohl gar ein bib-li-sches Lied? | SACHS Und die Tin-te noch naß! Der fehl-te | BECKM. Nun denn? Ihr fragt? | SACHS wohl, wer dar-auf riet’! Wie doch? Was noch? | BECKM. Daß ihr mit al-ler Bie-der-keit der ärg-ste al-ler Spitz-bu-ben seid! | SACHS Mag sein; doch hab’ ich noch nie ent- | SACHS -wandt, was ich auf frem-den Ti-schen fand: und daß man von euch nicht Üb-les denkt, be-hal-tet das Blatt, es sei euch ge- | BECKM. (In freudigem Schreck aufspringend) Herr Gott! – Ein Ge-dicht? Ein Ge-dicht von Sachs?. . . Doch halt, – daß kein neu-er | SACHS -schenkt. | BECKM. Schad’ mir er-wachs’! – Ihr habt’s wohl schon recht gut me-mo-riert? Ihr laßt mir das Blatt?“ | SACHS Seid mei-net-halb doch nur un – be-irrt!“ Zit. nach: Richard Wagner, Sämtliche Werke, Bd. 9, 3: Die Meistersinger von Nürnberg, 3. Aufzug, 3. Szene, Mainz 1987, S. 108 ff. Kein Wagnerianer ist Carl Schmitt im staatsphilosophischen Sinn: „Wo der gelehrte Arzt kein Mittel mehr weiß, da wenden wir uns endlich verzweifelnd wieder an – die Natur. Die Natur, und nur die Natur, kann auch die Entwirrung des großen Weltgeschickes allein vollbringen. Hat die Kultur, von dem Glauben des Christentums an die Verwerflichkeit der menschlichen Natur ausgehend, den Menschen verleugnet, so hat sie sich eben einen Feind erschaffen, der sie notwendig einst so weit vernichten muß, als der Mensch nicht in ihr Raum hat: denn dieser Feind ist eben die ewig und einzig lebende Natur.“ Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Sechste Auflage, Bd. 3, Leipzig o.J. [um 1940], S. 8 – 41, hier: S. 31; im Nachlass Carl Schmitt, S. 513, auch in Gustav Steinbömers (alias G. Hillards) Edition von 1935 mit Widmung des Hg. verzeichnet. Auf dem Gipfel der Kunstbegeisterung interpretiert Carl Schmitt, Richard Wagner und eine neue ,Lehre vom Wahn‘, in: Bayreuther Blätter 35 (1912), S. 239 – 241, hier: S. 241, Hans Sachs’ Wahnmonolog in den Meistersingern anhand einer Theorie der Fiktion: „Das einleitende Thema ist ein beispielloser Fall, wie der Eindruck einer philosophischen Erwägung, die ,aufgefasste Idee‘ in 4 Intervalle gefasst wird, wie ein Gedanke, die ihm notwendige künstlerische Gestalt annimmt und musikalischen Ausdruck findet. Die Voraussetzung dafür war, dass diese Erkenntnis die Stimmung ernster Resignation bei einem reifen Manne hervorruft. Es ist nicht gleichgültig, wer erklärt, dass alles Wahn sei. Die philosophische Richtigkeit eines solchen Satzes muss freilich unabhängig davon sein; für die künstlerische Darstellung kommt aber alles darauf an, wer ihn ausspricht. (Zu dem Zweck braucht man nur den Wahnmonolog für eine Sekunde neben das Raisonnement zu halten, das die Feldmarschallin im ,Rosenkavalier‘ über die Zeit anstellt.)“ S. a. Rein-
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hard Mehring, ,eine rein interne jüdische Angelegenheit‘. Carl Schmitts ,Wahndialog‘ mit Richard Wagner, in: Wagner-Spektrum 3 (2007), S. 107 – 133; ders., Biographie, S. 50 ff. [5] „Im Endergebnis aber führt die Forderung einer ,geschriebenen Verfassung‘ dahin, daß die Verfassung als ein Gesetz behandelt wird. Auch wenn sie im Wege der Vereinbarung zwischen Fürst und Volksvertretung zustandegekommen ist, soll sie doch nur im Wege der Gesetzgebung geändert werden können. Verfassung wird also = Gesetz, wenn auch Gesetz besonderer Art, und steht als lex scripta im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht. Nun brauchte dieser Satz: Verfassung = lex scripta noch nicht die Auflösung der einheitlichen Verfassung in eine Reihe von einzelnen Verfassungsgesetzen zu bedeuten. [ . . . ] Wenn der Begriff der geschriebenen Verfassung dazu führt, die Verfassung als Gesetz zu behandeln, so doch zunächst nur im Sinne eines absoluten Verfassungsbegriffes, d. h. als Einheit und als ein Ganzes.“ Carl Schmitt, Verfassungslehre, München / Leipzig 1928, S. 14. S. a. Rudolf Hirzel, Agraphos nomos, Leipzig 1903. „Die sog. formale Begriffsbestimmung: Verfassung im formalen Sinne = geschriebene Verfassung, besagt also heute weiter nichts als: Verfassung = eine Reihe geschriebener Verfassungsgesetze. Über dem Begriff des einzelnen Verfassungsgesetzes geht der Begriff der Verfassung verloren.“ Schmitt, Verfassungslehre, S. 16. Zur Verschiedenheit von Verfassung und Gesetz s. a. Schmitts harsche Zurechtweisung im Brief an Ernst Forsthoff vom 12. 08. 1963 (Briefwechsel, S. 194) und dessen Antwort vom 14. August (S. 194 f.): „Meine Auffassung ist: natürlich ist die Verfassung primär ein politisches und existenzielles Phänomen. Das klarzustellen, war 1928 wichtig und es bleibt auch für mich richtig. Nur reduziert sich in normalen Zeiten die Verfassungsanwendung auf die Verfassungsgesetzesanwendung.“ Gegenüber Straub, Interview, Bd. 5, dann triumphierend: „Meine These ist: Die Verfassung ist kein Gesetz – mehr und anderes als ein Gesetz. [ . . . ] Mein Freund und mein Schüler (darf ich sagen) Ernst Forsthoff, er sagt: [ . . . ] Die Verfassung von Bonn ist keine Verfassung in dem Sinne meines Verfassungsbegriffs, sondern ist ein Gesetz wie alle andern auch.“ Wenn man die angesprochene Feindschaft zwischen Wort und Schrift ernst nimmt, ergeben sich die ,Kommandogewalt‘ („das, was Preußen in seiner wahren Verfassung hielt“, Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934, S. 17) und der ,Name‘ (ders., Nomos – Nahme – Name, in: Staat, Großraum, Nomos, S. 573 – 591) als verbale Gegensätze zum Gesetz. In der Frühschrift: Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, Berlin 1912, S. 8 f., stellt Schmitt einleitend fest, „daß der Richter etwas anderes sein muß, als [wie bei Montesquieu] der Mund, der die Gesetzesworte ausspricht, als eine Subsumtionsmaschine, ein Gesetzesautomat oder wie man es immer genannt hat, wenn man einen verächtlichen Ausdruck dafür geben wollte.“ S. a. Friedrich Balke, Carl Schmitt und die Buribunken. Versuch über die Schriftmacht, in: Diagonal 8 (1997), S. 55 – 68. [6] „Gewiß, Sie und ich werden, wenn wir ein Buch des völlig unbekannten Konrad Weiß, etwa die ,Cumäische Sibylle‘ zur Hand nehmen, nach wenig Seiten gewahren, daß aus dem unberührtesten altdeutschen Deutschland noch einmal ein ,Gottverworrener Mund aus deutschem Samen‘, wie Immermann von Wolfram sagt – in Herzweh und Saitenspiel und Gottesfreundschaft und Weissagung aufbricht“. Rudolf Borchardt, Über das Recht des Dichters verkannt zu bleiben. Brief an Herrn Korrodi in Zürich, in: Handlungen und Abhandlungen, Berlin-Grunewald 1928, S. 209 – 215, hier: S. 210. Zur – durch Franz Blei vermittelten – Begegnung zwischen dem katholischen Dichter und dem preußischen Kulturkritiker s. Friedhelm Kemp, „Verkannte Dichter unter uns?“. Rudolf Borchardt und Konrad Weiss. Dokumente einer Begegnung 1921 – 1943, in: Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 2, 7 (2006), mit dem Briefwechsel, der sich durch Borchardts Essay entsponnen hat, auf S. 11 ff.;
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s. bes. den Brief von Weiß an Borchardt vom 14. Oktober 1932 über Theodor Haeckers Polemik gegen Rudolf Alexander Schröders Übersetzung des zweiten Gesangs von Vergils ,Aeneis‘ (S. 15): „Was ich gegen Haecker für Schröders spez. Fall sagen wollte, war hauptsächlich dies, daß die Sprache nicht im neutralen Absolutum ist, sondern der starken geschichtlichen Substanz bedarf, oder, – wenn ich eigene termini dafür verwenden darf, – daß die ,Proportion‘ der Sprache mit der ,Angulation‘ der Zeit verbunden ist. In diesem sekundären und darin größeren Geschehensgewichte bekommt und bekennt sie das Maß hinsichtlich der unausfüllbaren inneren Fülle. Der Mensch spricht nur am Rande, was die innere Zeitfülle sagt.“ [7] Diese Verse stehen bereits am Schluss von Carl Schmitts Apologie zu seinem kontroversen Büchlein ,Hamlet und Hekuba‘: Was habe ich getan? (1957), in: Schmittiana 5, S. 13 – 19. Einen Hinweis zur – rezeptionsgeschichtlichen – Interpretation gibt der Satz (S. 19): „Mein Büchlein über Hamlet ist nicht gezielt und kaum geplant. Es ist sogar, im Gedanken wie in seiner Schrift, ungewollt und nur getreu.“ Im Glossarium, S. 165, die Aufzeichnung vom 16. Juni 1948 zu einem Aufsatz von Konrad Weiß: „Dann sagt Konrad Weiß zu Theodor Haeckers Sätzen von der Sprache (die doch etwas anderes ist als das Wort und eher zur Neutralisierung neigt): ,Haeckers Denken gehört in die katholische Literaturbewegung; es ist nicht daraus entstanden, denn Haecker kam als Außenseiter; [ . . . ] aber nun ringt er (während sich die Bewegung vielfach [ . . . ] aus Unfruchtbarkeit in der kreatürlichen und geschichtlichen Erkenntnis von Wort zur Sprache, von der Besonderung zur Allgemeinheit, von der neutralisierten Lebensform dann zur politischen Konfession wendet) nun ringt er mit um eine eigentliche katholische Verschärfung.“ S. dazu Bernd Wacker (Hg.), Die eigentlich katholische Verschärfung. . . Konfession, Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts, München 1994; Ruth Groh, Heillosigkeit, S. 240; Wilhelm Kühlmann, Im Schatten des Leviathan (1933). Carl Schmitt und Konrad Weiß, in: ders. / Roman Luckscheiter (Hg.), Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur, Freiburg u. a. 2008, S. 257 – 305. [8] „Der Sonnenzeiger fällt vom Schattenbaum verschluckt | und dorrt im rauhen Schafte, bis die Wurzel zuckt: | Man spricht vom Brote nicht, wenn furchend so wie nu | der Mittag donnert, Horcher, was, ja was tatst du? | Ich tue, was ich will, und halte, was mich trifft, | bis was ich nicht will tut mit mir ein Sinn wie Schrift, | ich warte, wo ich bin und klammere das Wort, | bis mich das Wort verklammernd trägt wie Samen fort.“ Konrad Weiß, Largiris, in: Gedichte. Zweiter Teil: Nachgelassene Gedichte, München 1949, S. 228. Die Verse sind im Handexemplar im Nachlass Carl Schmitt (HStA, RW 265-28475) nicht hervorgehoben. Mit überdachtem Titel und unterstrichenen Versen findet sich auf S. 262 das Gedicht ,Ornament der Schrift‘: „Vor lauter Sinn der Dinge abergläubisch trifft | mich heute beim Betrachten meiner eignen Schrift | daß ich der Sucher nach dem unentwirrten Sinn | nur meines eignen Ichs Gefangner bin.“ S. a. Paul Bellebaum, Der Weg vom Bild zum Wort. Untersuchungen zur Lyrik von Konrad Weiß, Borchen 2009, bes. den Abschnitt „Die Heilsgeschichte als Bild des Wortes“, S. 88 ff.
Kapitel 9 [9] André Steinlein sen. aus Rosslingen in Lothringen, Louise Schmitts jüngerer Bruder, unterstützte Carl in der Folgezeit auch finanziell. Zu den gemeinsamen Ferien mit André Steinlein jun., später Notar, s. Schmitt, Jugendbriefe, mit Abb. auf S. 33. S. a. die Tagebücher sowie Mehring, Biographie, bes.: S. 196, zum Anteil von Andrés Zeugenaussage am Scheitern der Nichtigkeitserklärung von Schmitts erster Ehe.
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[10] Carl Schmitt wohnte in der Wartenbergstraße 57 bei „Onkel Philipp“, einem Bruder seines Vaters. S. Schmitt, Jugendbriefe. [11] S. u. Kapitel 14.
Kapitel 10 [12] Arnold Geulincx, Annotata, in: Sämtliche Schriften in fünf Bänden, hg. v. Herman Jean de Vleeschauwer, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, zuerst auf S. 164: „Ratio Ethica hîc omnibus hominibus fatis perspecta est: ubi nihil vales, ibi nihil velis“. Zu Carl Schmitts Auseinandersetzung mit den Okkasionalisten s. das Kapitel ,Die occasionalistische Struktur der Romantik‘ in: Politische Romantik, S. 106: „Während die großen Occasionalisten Geulincx und Malebranche sich auch in ihrem Privatleben als große Philosophen erwiesen, so daß man sie nur unter Entschuldigungen und unter Protesten gegen Mißverständnisse mit [Friedrich] Schlegel und [Adam] Müller vergleichen darf, während ihre Weisheit ,ubi nihil vales, ibi nihil velis‘ das Motto einer Satire auf diese Romantiker sein könnte, versuchten diese mit intellektualistischem Material ihren akkompagnierenden Affekt zu formen und mit philosophischen, literarischen, historischen und juristischen Argumenten zu konservieren.“ In seiner Aufzeichnung vom 29. Dezember 1947, Glossarium, S. 71, bezieht Schmitt das Motto auf Juan Donoso Cortés, der sich nach seinem ,Essay‘ vom Abbé Gaduel, Generalvikar von Orléans, die theologischen Fehlgriffe vorhalten lassen musste: „Ich soll über katholische Fragen als Laie, als Nicht-Theologe mitreden? Um belehrt zu werden, wie Donoso Cortés? Ubi nihil vales, ibi nihil velis. Ich, als Jurist, d. h. enttheologisierter Wissenschaftler ersten Grades? Armer Donoso!“ S. Anhang III, Materialien zur Donoso-Cortés-Affaire, in: Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus und andere Schriften aus den Jahren 1851 bis 1853, hg. v. Günter Maschke, Wien / Leipzig 32007, S. 392 ff. [13] Wohl überzeichnend für Emanuel Hirsch, Rezension von ,Römischer Katholizismus und politische Form‘, in: Theologische Literaturzeitung 49 (1924), Sp. 185 ff.: „[Carl Schmitt] führt der etwas abgestandenen staatsphilosophischen Diskussion neues Leben zu. Er zeigt zugleich, wie sich der katholische Geist rüstet auf die vielleicht nicht mehr ferne Zukunft, in der vom demokratischen Gedanken des 19. Jahrhunderts nichts mehr als ein mit jeder politischen Gestaltung verträgliches Formalprinzip ohne sachlichen Belang übrig geblieben sein wird.“ [14] Die ,Unfreien‘ sind die zum Katholizismus konvertierten Romantiker, Schmitts Vorgänger der Jurist und Stürmer-und-Dränger Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg. S. Johann Heinrich Voß, Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?, Frankfurt 1819. [15] Kathleen Murray, Taine und die englische Romantik, München / Leipzig 1924, S. III: „To Professor Dr. Carl Schmitt at Bonn am Rhein this little book is dedicated.“ Am 13. November 1923 schreibt Schmitt an Ludwig Feuchtwanger, den Direktor des Verlags Duncker & Humblot (Carl Schmitt / Ludwig Feuchtwanger, Briefwechsel 1918 – 1935, hg. v. Rolf Rieß, Berlin 2007, S. 42): „Falls Sie mit dem Druck des Buches von Murray über Taine beginnen, möchte ich jetzt schon eine Korrektur in der Widmung anbringen, nämlich ,little‘ in this little book is dedicated, wegzulassen. Es ist zu unmännlich.“ Zur Liebesbeziehung mit der Irin aus dem australischen Sydney und Schmitts Anteil an ihrer Dissertation bei Ernst Robert Curtius s. Reinhard Mehring, Überwindung des Ästhetizismus. Carl Schmitts selbstinquisitorische Romantikkritik, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 16 (2006), S. 125 – 147, hier: S. 138 ff.; Biographie, S. 131 ff. (mit Abb. Murrays auf S. 132) u. 150 ff.
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[16] Im TV-Gespräch mit Altmann und Litten, Parlamentarismus, hebt Schmitt hingegen die Skepsis hinter diesem Elogium hervor: „Carl Schmitt: In meiner Schrift über den römischen Katholizismus von 1923 steht eine etwas besorgte und traurige Bemerkung. Da steht: ,Der sehr repräsentativen Verbindung, dem Bündnis von Thron und Altar wird kein Bündnis von Büro oder Laboratorium und Altar folgen können.‘ Und von allen früher repräsentativen europäischen Einrichtungen – da nannte man immer die vier repräsentativen europäischen Einrichtungen, auf die Europa (Europa damals der Mittelpunkt der Welt, der Erde) so stolz war, das war also (womit soll ich anfangen?) erstens: der Vatikan, zweitens: das englische Oberhaus, drittens: die französische Akademie, viertens: der preußische Generalstab. Das waren die Repräsentativen, das war Europa für den damaligen Bürger, so um 1900 herum – da war damals, als ich meine Schrift 1923 veröffentlichte, eigentlich nur noch der Vatikan übriggeblieben. Und da steht dann diese traurige und melancholische Bemerkung: Da ist jetzt eigentlich nur ein Repräsentant übriggeblieben, die römische Kirche, nur ein letztes (wie soll ich sagen?), ein letztes Refugium dessen, was man im großen Sinne ,Repräsentation‘ nennen könnte. Und auch das ist schon so einsam, dass man sagen kann: ,Was repräsentiert denn die katholische Kirche eigentlich noch? – Nur noch die Repräsentation.‘ So kritisch war das schon.“ [17] Seine Einstellung zur Konversion teilt Carl Schmitt, Glossarium, S. 131 f., Aufzeichnung v. 20. 04. 1948, dem Völkerrechtler Helmut Rumpf in einem Antwortbrief mit: „Für mich ist der katholische Glaube die Religion meiner Väter. Ich bin Katholik nicht nur dem Bekenntnis, sondern auch der geschichtlichen Herkunft, wenn ich so sagen darf, der Rasse nach. Ich hätte noch hinzufügen können: deshalb ist es auch so leicht, gegen mich wie gegen alles, was ich sage, den antirömischen Affekt zu mobilisieren. Ich habe manchen Freund und Bekannten zum Katholizismus sich hinwenden und schließlich zu diesem übertreten gesehen, von Theodor Haecker (1916) angefangen bis zu Camp-Genossen des Jahres 1946. Oft war mir dabei zumute (namentlich wenn ich ohne Willen zu der praktischen Conclusion beigetragen hatte) wie einem Bruder, der einen verschollenen Freund und Bräutigam seiner Schwester wiedersieht. Deshalb ist es mir auch in anderen Fällen der Konversion unmöglich, zu einem solchen Vorgang andere als private Bemerkungen zu machen.“ Über Haecker im Besonderen s. Schmitt, Glossarium, S. 264, Aufzeichnung v. 20. 08. 1949: „Daß Theodor Haecker zum Katholizismus übertrat, ist nicht ohne mich als Hüter geschehen. Ich bin ein Hirte des Seins. Ich trage auch das Hirten-Schicksal.“ Zu Schmitts kurzer Freundschaft mit Haecker s. Dahlheimer, Katholizismus, S. 539 ff.; Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 163, Anm. 163 m. w. H., u. 395 ff. [18] Zu Erik Peterson ist der Streit zwischen dem ehemaligen Stefan-George-Jünger Edgar Salin und dem ehemaligen ,Deutschen Christen‘ Heinrich Oberheid aufschlussreich. In der Festschrift für Erwin von Beckerath schreibt Salin im Grußwort: „Der Freund, der Petersons Konversion in langen Diskussionen erleichterte, war der böse Dämon von Universität und Politik in diesen Jahren, war Carl Schmitt.“ Zit. nach Schmittiana 3 (1991), S. 163. Am 31. Oktober 1964 weist ihn Oberheid zurecht: „Im Zusammenhang mit der Konversion von Peterson behauptest Du, daß er den Schritt unter dem Einfluß von Schmitt getan hat. Das ist eine freie Erfindung von Dir. Wir, Schmitt, Peterson und ich, waren in jener Zeit wöchentlich viele Male zusammen. Natürlich sprachen wir dabei oft über Theologie. Peterson ließ seine Konversionsabsicht durchblicken. Schmitt und ich, die wir fest in und zu der Konfession stehen, in der wir geboren und getauft sind, haben ihm immer wieder abgeraten. Wir lieben beide keine Konvertiten. Schmitt hat das noch viel schärfer verurteilt als ich. Über die Gründe für seine Konversion hat Peterson hin und wieder mit mir gesprochen. Ich will das hier nicht ausführen. Pate gestanden hat bei der Konversion eine dunkle Figur jener Zeit, ein
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Journalist namens Gurian. Du sagst an dieser Stelle, daß der Katholik Schmitt in Wirklichkeit urheidnisch sei. Wie Du zu dieser Behauptung kommst, ist mir unerfindlich. Carl Schmitt selbst und seine katholischen Freunde, deren es noch viele gibt, haben ungeachtet seiner Kritik an der Kirche, die ja schließlich zum Glauben gehört, nie an seiner Katholizität gezweifelt. Als Lutherscher Theologe, der ich Schmitt und die katholische Kirche zu kennen glaube, kann ich nur bestätigen, daß dieser Mann ein echter homo catolicus ist.“ Ebd., S. 164 – 168, hier: S. 165. S. dazu Piet Tommissen, Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie (Periode: 1888 – 1933), in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 71 – 100, hier: S. 82. Zur Konversion Petersons s. Barbara Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg u. a. 1992, S. 834 f. Der Antwortbrief Schmitts auf Petersons Mitteilung der Konversion ist im Nachlass Carl Schmitt, HStA, RW 265-21012, erhalten. Darin heißt es: „Sie schreiben mit Andeutungen und Vorbehalten, zu denen ich gar nichts sagen kann, und wie unter einem Druck, was mir weh tut. So kann ich nur hoffen, dass Ihr Schritt zum Guten führt. Sie bald wiederzusehen und zu sprechen, darf ich nach Ihren Mitteilungen kaum erwarten. Das tut mir leid.“ S. a. Richard Faber, Lateinischer Faschismus. Über Carl Schmitt den Römer und Katholiken, Berlin 2001. [19] Gregor Brand (Carl Schmitt und seine Herkunft, S. 292) irrt, wenn er Schmitts Andeutung auf Kinder seines Onkels als Hinweis darauf nimmt, Nikolaus Steinlein sei „der wahre Vater“ von Louise Schmitt, geb. Steinlein. Das schwarze Schaf aus der Schneifel mit den freilaufenden Kindern ist an dieser Stelle nämlich Andreas Steinlein (s. o. Kapitel 3). [20] „Silete Theologi in munere alieno! ruft Gentilis aus, um die Theologen aus der Erörterung des Kriegsbegriffs herauszuhalten und einen nicht-diskriminierenden Kriegsbegriff zu retten (I, 12).“ (Albericus Gentilis, De iure belli libri III.) Schmitt, Nomos der Erde, S. 131. S. a. ebd., S. 92 u. 96; Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 70. Aufschlussreich die Aufzeichnung vom 27. Februar 1948 bei Schmitt, Glossarium, S. 106: „Um das Silete Theologi zu verstehen, muß man die große Disputation zwischen Las Casas und Sepulveda in Valladolid (1550) kennen. Sie steht im Vorhof des zwischenstaatlichen Völkerrechts, der von Sepulveda bis Bodinus reicht. [ . . . ] Dann sieht man: es war der erste große völkerrechtliche Disput zwischen einem Theologen und einem Nichttheologen. Der Theologe interessiert sich nicht für die außenpolitischen Folgen (und hat es deshalb leicht, radikale Gesinnungsethik zu treiben); er sieht nur die Beziehung Staat und Kirche, nicht Staat zu anderen Staaten (und redet deshalb an seinem juristischen Gegner vorbei); der Nichttheologe sieht die spezifisch staatlich-politische Seite und die direkte Machtausübung. Aufregender Kampf um direkte oder indirekte Macht.“ Zum Thema s. Lewis Hanke, All mankind is one, DeKalb 1974; Antonio-Enrique Pérez Lun˜o, La polémica sobre el Nuevo Mundo, Madrid 1992. Als Quelle s. Las Casas’ Edition: Aqui se contiene una disputa, o controversia: entre el Obispo don fray Bartholome de las Casas, o Casaus, obispo que fue de la ciudad Real de Chiapa, que es en las Indias, parte de la nueva Espan˜a, y el doctor Gines de Sepulveda Coronista del Emperador nuestro sen˜or: sobre que el doctor contendia: que las conquistas de las Indias contra los Indios eran licitas: y el obispo por el contrario defendio y affirmo aber sido y ser impossible no serlo: tiranicas, injustas y iniquas. [ . . . ], Sevilla 1552. [21] „Ich kann mir gut denken, daß ein protestantischer Angelsachse vor der ,päpstlichen Maschine‘ alle ihm zugänglichen Antipathien empfindet, wenn er sich klar macht, daß es einen ungeheuern hierarchischen Verwaltungsapparat gibt, der das religiöse Leben kontrollieren will und von Menschen dirigiert wird, die es prinzipiell ablehnen, eine Familie zu haben. Also eine zölibatäre Bürokratie. Das muß ihn erschrecken bei seiner Art Familiensinn und
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seiner Abneigung gegen jede bürokratische Kontrolle.“ Schmitt, Römischer Katholizismus, S. 8. Zu Webers Einfluss auf Schmitt s. Gary L. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991; Politische Theologie und politische Ökonomie – über Carl Schmitt und Max Weber, in: Complexio Oppositorum, S. 341 – 369. Allgemein Julien Freund, Sociologie de Max Weber, Paris 1966; Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970. Eine Fortschreibung von Webers berühmtem Diktum bei Carl Schmitt, Das Problem der Legalität, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 440 – 451, hier: S. 444: „Wenn ein Soziologe wie Max Weber sagt: ,Die Bürokratie ist unser Schicksal‘, so müssen wir hinzufügen: Die Legalität ist der Funktionsmodus dieser Bürokratie.“ [22] Über den „geistesgeschichtlichen Schlüsselbegriff des genialen Vollstreckers“ stellt Carl Schmitt in der Aufzeichnung vom 17. Mai 1948, Glossarium, S. 151, „Franz Kluxen (der mich in die durch und durch genialistische Geistigkeit des deutschen 19. Jahrhunderts, in R. Wagner und Otto Weininger, initiiert hat) und Hugo Ball, der unter dem deutschen Genialismus litt, ohne damit fertig zu werden“, gegenüber. Am 16. Januar 1910 schreibt Schmitt seiner Schwester, Jugendbriefe, S. 88: „Ich habe den ganzen Tag die Meistersinger gespielt (Kluxen hat mir einen schönen Klavierauszug geschenkt.)“ Franz Kluxen, der 1968 gestorben ist, kaufte 1913 in der Galerie Kahnweiler in Paris Pablo Picassos ,Nature morte au tableau‘: „The first private owner of Nature morte au tableau was the German collector, Franz Kluxen (1888 – 1968), described by John Richardson as ,one of the earliest and most serious buyers of Picasso in pre-1914 Germany‘ (A Life of Picasso, New York, 1996, vol. II, p. 468, no. 73). Inheriting a Münster department store from his father, Bernhard Kluxen, Franz Kluxen’s interests were focused instead on art collecting. A partial reconstruction of his large art collection indicates that he owned numerous works by Kandinsky, Macke, Marc, Chagall and Jawlensky amongst others (many of which were loaned to the exhibition Sammlung Kluxen; Gemälde und Aquarelle, Zeichnungen, held at Galerie der Sturm, Berlin in 1917) as well as over a dozen works by Picasso including Femme au chapeau noir (Zervos, vol. 2, no. 178) and Woman playing the Violin (Zervos, 2, no. 256).“ (http://www.christies.com/LotFinder/lot_ details.aspx?intObjectID=4807501). S. a. Carl Schmitt, Tagebücher 1912 – 1915, mit Kluxens Kurzbiografie auf S. 403 f. [23] Johannes Negelinus mox Doctor [d. i. Carl Schmitt / Fritz Eisler], Schattenrisse, 1913, Skiamacheten-Verlag (Auslieferung durch Otto Maier, G.M.B.H., Leipzig), kommentierter Nachdruck bei: Ingeborg Villinger, Carl Schmitts Kulturkritik der Moderne, Berlin 1995. Unter den zwölf Karikierten befindet sich Walther Rathenau. In der ,Systematischen Tabelle‘, einer Persiflage auf Arthur Moeller van den Brucks Reihe ,Die Deutschen‘ – dort: Verirrte, Führende, Verschwärmte, Entscheidende, Gestaltende, Scheiternde, Lachende Deutsche und, aus der Reihe, Goethe, s. Kommentar auf S. 73 –, fällt Rathenau als einziger in die Kategorie „E. Nicht-Deutsche“. Darüber stehen „A. Leidende Deutsche: Gottfried von Bouillon. Mein Bruder. Thomas Mann. B. Liebende Deutsche: Anatole France. Wilhelm Schäfer. Eberhardt Niegeburth. C. Grinsende Deutsche: Wilhelm Ostwald. Fritz Mauthner. Herbert Eulenberg. D. Tote Deutsche: Richard Dehmel.“ (Ebd. S. 14.) Zu Fritz Eisler s. die zweite ,Plettenberger Miniatur‘ von Reinhard Mehring, Die Hamburger Verlegerfamilie Eisler und Carl Schmitt, hg. v. Gerd Giesler / Ernst Hüsmert, Plettenberg 2009; Biographie, S. 29 ff.; Schmitt, Tagebücher, S. 401 f.
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Kapitel 11 [24] Carl Schmitt kam zum Sommersemester 1928 als Nachfolger Walther Schückings auf Hugo Preuß’ Lehrstuhl für Staatsrecht. Zur Berufung s. Christian Tilitzki, Carl Schmitt an der Handels-Hochschule Berlin 1928 – 1933, in: Schmittiana 4, S. 157 – 202; Mehring, Biographie, S. 226 ff. Zu den Vorzügen der Handels-Hochschule Berlin zählte neben einem hohen Gehalt „die unmittelbare Verbindung zu den Zentralen der staatspolitischen Entscheidungsmacht“. Ernst Rudolf Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Complexio Oppositorum, S. 33 – 50, hier: S. 36. „Er bedurfte dieses Zugangs, weil die Vertrautheit mit den Problemen und Notwendigkeiten des staatspolitischen Ernstfalls nur in der unmittelbaren Beziehung zu den Führungsschichten der zivilen und militärischen Exekutive zu gewinnen war.“ Schmitts Berliner Schüler Günther Krauss, Erinnerungen an Carl Schmitt. Teil 1: 1929 – 1931, in: Criticón 16, 95 (1986), S. 127 – 130, hier: S. 129, ergänzt: „Nun stand den Vorzügen Berlins freilich ein nicht unerheblicher Nachteil der Handelshochschule gegenüber: die dortigen Studenten waren nicht Juristen, sondern Volks- und Betriebswirte. Das bedeutete ein völlig verändertes Auditorium, bei dem man weit weniger voraussetzen konnte als bei noch unausgereiften Rechtsstudenten: keine Rechtsgeschichte, insbesondere kein römisches Recht, wahrscheinlich wenig Latein und noch weniger Griechisch, und was ist Recht ohne das alles?“ [25] Dazu der Redebeitrag von Ernst-Wolfgang Böckenförde in der ,Aussprache‘ zu Huber, Reichskrise, S. 67 f. (dort mit Hervorhebungen), zu Erinnerungen Carl Schmitts: „Damals hätte das Wahlergebnis in Lippe – die Wahl war einen Tag vorher, am 17. Januar – ihn und auch die Herren im Reichswehrministerium gar nicht beeindruckt. Sie seien sich sicher gewesen, daß Hindenburg den ,böhmischen Gefreiten‘ nicht zum Reichskanzler ernennen würde. Aber bei dem anschließenden Empfang hätte François Poncet, der französische Botschafter, gesagt, Herr Schmitt, ich würde gerne Ihren Optimismus teilen, aber ich glaube, Herr von Papen hat den Staatsmann in sich entdeckt. Dies sei für ihn, Carl Schmitt, Anlaß gewesen, sofort, noch am Abend, Major Ott davon zu unterrichten, weil er natürlich der Meinung war, François Poncet weiß dann etwas, das ihre Sicherheit bezüglich der Nichternennung Hitlers zum Reichskanzler in Frage stelle.“ Die „Konstruktion“, von der Schmitt spricht, sind höchstwahrscheinlich die Staatsnotstandspläne unter Reichskanzler Schleicher (s. u.). [26] Die von Matthias Erzberger gegen den Widerstand von Erich Kaufmann und Heinrich Triepel betriebene Berufung Walther Schückings an die Berliner Universität stoppte das Preußische Kultusministerium mit dem Ministerialerlass vom 3. Juli 1919, unterzeichnet von Kultusminister Konrad Haenisch und den Ordinarien der Berliner Juristenfakultät. S. Angela Klopsch, Die Geschichte der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Umbruch von Weimar, Berlin 2009, S. 175 ff. Schücking, Mitbegründer der ,Deutschen Liga für Völkerbund‘ und bis 1928 Reichstagsabgeordneter der DDP für den Wahlkreis Hessen-Nassau, ging 1930 als ständiger Richter an den Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag; dort blieb er bis zu seinem Tod 1935. Die Berufung von Hugo Preuß, Mitverfasser der Weimarer Reichsverfassung und Reichsinnenminister im Kabinett Scheidemann, scheiterte weniger an den Kollegen als am Kultusministerium (ebd., S. 181 ff.). An der Berliner Universität war er seit seiner Habilitation 1889 als Privatdozent tätig. Seine erste Reichsgründungsrede an der Handels-Hochschule hielt Carl Schmitt am 18. Januar 1930, zu Preuß’ 70. Geburtstag in erweiterter Form veröffentlicht: Carl Schmitt, Hugo Preuss. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930. Schmitt preist Preuß als politischen, antipositivistischen Verfassungsdenker und fasst seine Leistung für die Reichsverfassung zusammen (S. 18): „Die richtige Bezeichnung des neuen, in der Weimarer
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Verfassung zur Geltung kommenden Staatsgedankens sehe ich in der Formel vom innerpolitisch neutralen Staat.“ Attribut in Schmitts Porträt ist „der unabhängige Geist eines Mannes, dessen Leben und Werk den Zusammenhang von freier bürgerlicher Bildung und Staatsverfassung bewiesen hat. Die Geschichte des deutschen Bürgertums zeigt, daß der Zusammenhang nicht gelegentlich, sondern wesensmäßig ist, und das Schicksal der deutschen Intelligenz und Bildung wird deshalb mit dem Schicksal der Weimarer Verfassung untrennbar verbunden bleiben.“ Ebd., S. 25. Dieser Spruch sollte im ,Schwarzen Korps‘ (10. 12. 36, dort mit Hervorhebungen) gegen den Propheten gewendet werden: „Carl Schmitt teilte das vorausgesehene Schicksal der bürgerlichen Intelligenz leider nicht, als die Weimarer Verfassung durch die nationalsozialistische Revolution hinweggefegt wurde; im Gegenteil, im Jahre 1933 wurde er Professor des öffentlichen Rechts an der Universität Berlin.“ [27] Carl Schmitt hielt eine Rede über ,Bund und Reich als Probleme des öffentlichen Rechts‘: „Viele Gäste, Fr. Poncet und andere Gesandte, hielt eine schöne Rede über Reich und Bund, rhetorisch gut. Liebert sagte nachher: Ontologismus, Briefs: Metaphysik.“ Tagebuchaufzeichnung vom 18. Januar 1933. Über den Vortrag berichtete die ,Deutsche Allgemeine Zeitung‘ in der Ausgabe Nr. 30 vom 18. Januar 1933 (Groß-Berlin) auf der Titelseite: „In der Aula der Handels-Hochschule Berlin fand Mittwoch mittag eine Reichsgründungsfeier statt. Unter den Klängen der Ouvertüre zur Oper ,Iphigenie in Aulis‘ zogen die Chargierten, die Ehrenbürger, der Akademische Senat und die übrigen Mitglieder des Lehrkörpers ein. Die Festrede hielt [im Text abgesetzt] Professor Dr. Carl Schmitt über das Thema ,Bund und Reich als Probleme des öffentlichen Rechts‘. Er führte aus, daß es ein Zeichen und Beweis ungebrochenen Lebenswillens des deutschen Volkes sei, daß der Reichsgedanke heute mit unwiderstehlicher Kraft vordringe. Alle politischen Gestaltungen, die seit dem traurigen Ende des alten Deutschen Reiches 1806 versucht wurden, seien eigentümlicherweise durch einen Dualismus gekennzeichnet. Die erste Aufgabe des heute immer stärker werdenden Reichsgedankens liege in der Ueberwindung des Dualismus von Reich und Preußen, und zwar müsse die Ueberwindung vom Reich her geschehen. Außerdem aber sei es notwendig und an der Zeit, die Unbrauchbarkeit des bisherigen Bundesstaatsbegriffs zu erkennen. Zu einem Reich gehören starke bündische Elemente, aber diese dürften weder einen Staatenbund noch einen Bundesstaat ergeben, sondern eben ein Reich. Das Deutsche Reich enthalte den ganzen deutschen Staat und außerdem die Fülle der vielgestaltigen politischen Kräfte des ganzen deutschen Volkes.“ S. a. Hans-Georg Meier-Stein, Die Reichsidee 1918 – 1945. Das mittelalterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung, Aschau 1998, S. 424 ff.; Andreas Koenen, Visionen vom Reich. Das politisch-theologische Erbe der konservativen Revolution, in: Andreas Goebel u. a. (Hg.), Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995, S. 53 – 74, hier: S. 58 m. w. H. Anlässlich seiner Berufung nach Köln arbeitete Schmitt die Festrede um zu: Reich – Staat – Bund (1933). Antrittsvorlesung gehalten an der Kölner Universität am 20. Juni 1933, in: Positionen und Begriffe, S. 190 – 198. Die Schlusspassagen zum „Reichsstatthaltergesetz vom 7. April 1933“ (S. 197 f.) müssen einige Zeit nach der Reichsgründungsfeier eingefügt worden sein. Zur Antrittsvorlesung s. Tommissen, Bausteine.
Kapitel 12 [28] Heinrich Brüning, Memoiren. 1918 – 1934, Stuttgart 1970, S. 145 ff., 183, 321, 419 ff. u. 451 f. Brüning sah Hindenburg im Dezember 1929 wohlgemerkt „zum ersten Mal in meinem Leben [ . . . ] in der Nähe.“ (S. 148.) Noch deutlicher der von Brüning zitierte
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preußische Ministerpräsident Otto Braun, wenn er (Von Weimar zu Hitler, New York 21940, S. 417) von einer Aussprache mit Papen und Hindenburg vom 30. Oktober 1932 (fünf Tage nach der Entscheidung des Staatsgerichtshofs im Prozess Preußen contra Reich, s. u.) erzählt: „Ich hatte den Reichspräsidenten lange nicht gesehen. Bei dieser Unterredung, der letzten, die mich mit ihm zusammengeführt hat, machte Hindenburg einen erschütternd greisenhaften Eindruck, so daß meine Empörung über seine Verordnung zurückgedrängt wurde durch das Mitleid mit diesem alten Mann, der aus Pflichtgefühl die Bürde der Reichspräsidentschaft nochmals auf sich genommen hatte, und der nun von skrupellosen Menschen so infam mißbraucht wurde.“ [29] „Schlachtensee wurde Ende April von der sowjetischen Armee besetzt. Schon am 30. April wurde Schmitt durch einen sowjetischen Offizier vernommen, jedoch nicht wegen seiner Verstrickung in das NS-Regime, sondern wegen eines Studenten, der nach der Sperrstunde bei ihm gewesen war, von sowjetischen Soldaten aufgegriffen wurde und ihn als Zeugen angab. Von dieser Vernehmung sind mehrere Fassungen überliefert, die weniger über die Wahrheit aussagen als über die Fama, die ihn umgab.“ Paul Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Frankfurt 1993, S. 236. Gegenüber Reinhart Koselleck gab Schmitt an, Johannes R. Becher habe seine Freilassung veranlasst, überliefert Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 22002, S. 31. [30] Ein lebendiges Bild der Haushälterin und Sekretärin Anni Stand in Ingeborg Villingers Gespräch mit Anni Stand und Ernst Hüsmert, in: Carl Schmitt in Plettenberg, S. 42 – 61. Zu Beginn des Gesprächs erzählt Anni: „Als ich 1944 bei einem Bombenangriff auf Hildesheim meine Eltern verlor, nahmen mich Herr und Frau Schmitt in der Familie auf und ich war wie ein Kind in der Familie, ich sagte Papa zu ihm und ,Sie‘ und Mamiza zu seiner Frau. Das aber nur in der Familie und unter Freunden. Bei Besuchen Fremder ging es förmlicher zu.“ [31] Vgl. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 349 f., 447 f., 463 ff. [32] Am Nachmittag des 14. Januar 1932 traf Reichskanzler Brüning (Kabinett II), Memoiren, S. 512, Reichspräsident Hindenburg: „In der eine Dreiviertelstunde währenden Besprechung ergab es sich, daß der Reichspräsident sich eine Monarchie bzw. ihre Wiederherstellung nur denken konnte unter Zurückberufung Wilhelms II. und seiner Umgebung mit beratenden militärischen Führern unter Ausschluß aller übrigen Kreise des Volkes. Ich sagte dem Reichspräsidenten, er habe wohl noch nie ein Wort der Kritik an Wilhelm II. von mir gehört. Obwohl ich glaube, im Laufe von weiteren fünf Monaten den ganzen Versailler Vertrag tatsächlich erschüttert zu haben, um anschließend die Monarchie wieder einführen zu können, traue ich mir jedoch nicht die Kraft zu, gleichzeitig die Rückberufung Wilhelms II. auf den Thron durchsetzen zu können. Im Interesse der monarchischen Idee müsse die Familie Hohenzollern Opfer bringen. Ich stelle mir die Entwicklung so vor, daß der Reichspräsident nach Abschluß der außenpolitischen Verhandlungen und nachdem ich vorher dafür die Unterstützung einer Zweidrittelmehrheit im Reichstag gefunden hätte, seine Präsidentschaft in eine Regentschaft für einen der Söhne des Kronprinzen umwandle.“ [33] Am 13. September 1931 war Reichskanzler Brüning (Kabinett I) zum Vortrag beim Reichspräsidenten. Er erfuhr dort von Hindenburgs Vorstellung eines Kabinetts, das „in der Zusammensetzung hundertprozentig den Wünschen seiner ostpreußischen Freunde entsprach, mit mir als Anführer. Ich sagte, mir sei nichts lieber, als mit konservativen Männern zusammenzuarbeiten, die eine große Sacherfahrung und ein gutes politisches Urteil besäßen. Aber wenn ich in diesem Augenblick nicht die Verfassung brechen und ihn, den Reichspräsidenten,
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vor seiner Wiederwahl in eine geradezu unmögliche Situation, das Reich aber in einen chaotischen Zustand bringen wolle, so müsse ich auf die Notwendigkeit der Bildung parlamentarischer Mehrheiten und auf die Verfassung Rücksicht nehmen. Der Reichspräsident stutzte und horchte auf. Als ich meine Ausführungen beendet hatte, erklärte er: ,Ich habe vor meinem Gott einen Eid auf die Verfassung geschworen. Sie müssen mir helfen, daß ich den nie breche.‘ Ich war erschüttert von diesem Durchbruch seines, wie ich glaube, innersten Wesens und sagte ihm, das sei mein ganzes Ziel. Ich sei bis heute, ohne an die Verfassung zu rühren, in anderthalb Jahren so weit gekommen, daß ich die Machtbefugnisse des Parlamentes – mit Ausnahme des noch bestehenden Mißbrauchs der Anträge auf Entziehung des Vertrauens – auf den Stand der Bismarckschen Zeit zurückgeführt, aber gleichzeitig ihm, dem Staatsoberhaupt, eine größere, tatsächliche Machtfülle geschaffen habe, als sie der Kaiser früher je besaß.“ Die Stelle bei Brüning, Memoiren, S. 387, bezieht sich also schon auf den Verfassungseid. [34] „Im politischen Bewußtsein der überwiegenden Mehrheit der bürgerlichen Wähler des damaligen Deutschland (1928) deckte sich die Alternative Rechts-Links noch mit der präfaschistischen Alternative Monarchie-Republik. Die marxistischen Arbeitermassen dagegen skandierten in einem ihrer Sprechchöre: ,Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel.‘ Im September 1930 schließlich ließ der Durchbruch der nationalsozialistischen Bewegung das Problem der monarchischen Staatsform zu einer sekundären Angelegenheit werden, wobei Hitler es verstand, das Zwielicht ihrer sekundären Bedeutung zu erhalten und auszunützen. Selbst der in seinem holländischen Exil lebende Kaiser Wilhelm II. empfand eine gewisse Sympathie für den Nationalsozialismus und meinte eine zeitlang, Hitler mache ,seine Sache gut‘.“ Carl Schmitt, Die legale Weltrevolution, S. 929 f. S. a. John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund. 1900 – 1941, München 2008, S. 1302 ff. m.w.H. [35] „Die Geschichte hat erwiesen, wie viel von diesem Eindruck Täuschung war; hinter der scheinbaren Geradlinigkeit und Grobflächigkeit des Bildes bargen sich verschlungene Züge, die bei keineswegs geringem Verstand eine recht geschickte und zielbewußte Wahrnehmung der eigenen und der Standesinteressen gestatteten und sich hierbei von Rücksichten auf Treueverpflichtungen niemals beirren ließen.“ Ferdinand Friedensburg, Die Weimarer Republik, Berlin 1946, S. 366 f. Dieses Bild bekräftigt Pyta, Hindenburg, S. 727, allerdings weniger die von Friedensburg (der sich als Berliner Polizeivizepräsident im April 1925 gegen die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten stemmte) hervorgehobenen ständisch-reaktionären Züge als vielmehr die völkisch-nationalistischen. Hindenburg habe seinen Mythos in der national geeinten Volksgemeinschaft verwirklichen wollen, nicht in einer autoritären Präsidialdemokratie. Carl Schmitts Tagebuch hingegen zeige, „wie sehr Schleicher und Schmitt Hindenburgs Auffassung von Herrschaft mißverstanden“, als sie dessen Präsidialgewalt überspannten. Hindenburg sei vielmehr erleichtert gewesen, dank Hitlers „Zusammenfassung aller ,nationalen Kräfte‘ in einer Regierung“ der exzessiven Präsidialgewalt entsagen zu dürfen. Ebd., S. 797. [36] S. den Abschnitt ,Wahlkampf für Hindenburg‘ bei Brüning, Memoiren, S. 528 ff., hier: S. 533: „Die Sozialdemokraten hatten überall ihre Leute hundertprozentig an die Wahlurne bekommen für Hindenburg. Der Reichspräsident hatte im ersten Wahlgang mehr Stimmen erhalten als 1925 bei der endgültigen Wahl, nämlich 18 650 730. Jedoch fehlten 250 000 an der absoluten Mehrheit. Ich ging vormittags zum Reichspräsidenten, um ihm Mitteilung zu machen. Er war kühl und unfreundlich, obwohl seine Stimmenzahl gegen 1925 gewachsen war und dazu noch auf dem Höhepunkt der Krise. Er fand kein Wort des Dankes, sondern sagte nur: ,Die Partie ist remis.‘“ Für den zweiten Wahlgang zog Theodor Duesterberg
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(DNVP) seine Kandidatur zurück, so dass Hindenburg am 10. April 1932 mit 53,1% der Stimmen vor Adolf Hitler (36,7 %) wiedergewählt wurde. [37] Am 20. Juli 1932 ließ Reichskanzler Franz von Papen aufgrund einer zuvor schon erteilten Blankovollmacht Hindenburgs die nur noch geschäftsführende preußische Regierung ihres Amtes entheben und sich selbst zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellen. Anlass dazu gab ihm der ,Altonaer Blutsonntag‘ (17. 07.), eine Straßenschlacht zwischen kommunistischen und nationalsozialistischen Kampfverbänden, in die von einer überforderten Polizei auch die Anwohner der Stadt Altona hineingezogen wurden. Noch am Abend des 20. erhob die preußische Regierung Anklage beim Staatsgerichtshof, gefolgt von besonderen Erklärungen der Landtagsfraktionen von SPD und Zentrum, scheiterte jedoch am 25. mit ihrem Antrag auf einstweilige Verfügung, nach der sich der Reichskommissar jeder Dienstausübung zu enthalten habe. Angesichts des rechtsförmigen Widerstandes ließ die Reichsregierung, das ,Kabinett der Barone‘, schnell von ihren ursprünglichen Plänen einer restaurativen Reichsreform ab und bemühte sich, den Streit in verfassungsrechtliche Bahnen zu lenken. S. Gabriel Seiberth, Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess ,Preußen contra Reich‘ vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 2001, S. 9; Wolfram Pyta / Gabriel Seiberth, Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spiegel des Tagebuchs von Carl Schmitt, in: Der Staat 38, 3 (1999), S. 422 – 448. [38] Sowohl die Prozesstaktik als auch die Debatte um den politischen Sinn des Preußenschlags ist aufgehängt an einer Rundfunkansprache des Reichskanzlers Papen vom 20. Juli 1932, 19 Uhr: „Lassen Sie mich zum Verständnis der Lage kurz die politische Situation in Preußen und die Gründe für die getroffenen Maßnahmen schildern. Die Preußische Staatsregierung ist bereits am 19. Mai freiwillig zurückgetreten und führt seitdem nur die laufenden Geschäfte gemäß Artikel 59 der Preußischen Verfassung. Der neue Landtag war auf Grund der vom alten Landtag, und zwar von den Parteien der Weimarer Koalition, herbeigeführten Änderung der Geschäftsordnung nicht in der Lage, die Wahl eines Ministerpräsidenten vorzunehmen. Die auf diesen Vorgängen beruhende parlamentarische Basis des geschäftsführenden Kabinetts ist entscheidend von der taktischen Haltung der Kommunistischen Partei abhängig. Denn nach den Wahlen zum Preußischen Landtag entfallen 47 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die NSDAP. und DNVP., 37 Prozent auf alle übrigen Parteien und der Rest von 16 Prozent auf die Kommunisten. [ . . . ] Weil man sich in maßgebenden politischen Kreisen nicht dazu entschließen kann, die politische und moralische Gleichsetzung von Kommunisten und Nationalsozialisten aufzugeben, ist jene unnatürliche Frontenbildung entstanden, die die staatsfeindlichen Kräfte des Kommunismus in eine Einheitsfront gegen die aufstrebende Bewegung der NSDAP. einreiht. Die Reichsregierung ist frei von parteipolitischen Bindungen, sie ist aber nicht befreit von der sittlichen Pflicht, offen die Feststellung zu treffen, daß durch eine solche gleichberechtigte Einschaltung staatsfeindlicher Elemente in den politischen Kampf die Grundlagen des Staates aufs äußerste gefährdet werden. [ . . . ] Die Reichsregierung hat die Feststellung machen müssen, daß die Entwicklung der politischen Verhältnisse in Preußen einer Reihe von maßgebenden Persönlichkeiten die innere Unabhängigkeit genommen hat, alle erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der staatsfeindlichen Betätigung der KPD. zu treffen. Wenn beispielsweise hohe Funktionäre des preußischen Staates ihre Hand dazu bieten, Führern der Kommunistischen Partei die Verschleierung illegaler Terrorabsichten zu ermöglichen, wenn offen ein preußischer Polizeipräsident seine Parteigenossen auffordert, man möge die Kreise der Kommunisten nicht stören – dann wird die Autorität des Staates von oben her in einer Weise untergraben, die für die Sicherheit des Reiches unerträglich ist.“ Zit. nach dem Dokument im Anhang zu: Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof. Stenogrammbericht der Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof in Leip-
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zig vom 10. bis 14. und vom 17. Oktober 1932, Berlin 1933, S. 482 – 484. Kurz nach dem Prozess hob Ernst Rudolf Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtshof, Oldenburg 1932, S. 31 f., mit bismarckscher Spitze gegen SPD und Zentrum noch schärfer hervor, dass die Entscheidung über ein Parteiverbot allein in Händen der Reichsgewalt liege: „Wenn eine politische Partei für illegal erklärt wird, so ist damit ihr staatsfeindlicher Charakter festgestellt. Sie wird damit diffamiert. Eine solche Diffamierung, die in der Illegalitätserklärung liegt, muß in einem Staat einheitlich erfolgen, sonst hört er auf, politische Einheit zu sein, und zerfällt er in eine Vielheit heterogener Gebilde. Auch zu dem aus mehreren Staaten gebildeten Reich gehört ein Mindestmaß innerer Gleichartigkeit, die dadurch bewirkt wird, daß für das gesamte Reich der äußere wie der innere Feind der gleiche ist. Von dieser Einsicht aus ist es verständlich, daß der Reichskanzler v. Papen in seiner Rundfunkrede vom 20. Juli als Grund für das Vorgehen des Reiches die Diffamierung der nationalsozialistischen Bewegung in Preußen und die Verhandlungen preußischer Amtsstellen mit den Kommunisten betonte. Es war der große und die Einheit gefährdende Fehler der Regierung Brüning, daß sie die Bestimmung des Staatsfeindes den Ländern überließ, so daß in Preußen und Baden die Nationalsozialisten als illegal und staatsfeindlich behandelt wurden, während sie in anderen Ländern sogar den für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verantwortlichen Innenminister stellen konnten. Es muß zur inneren Auflösung des Reiches führen, wenn die Reichsgewalt es auf die Dauer versäumt, für eine einheitliche Bestimmung des inneren Staatsfeindes Sorge zu tragen. Schon im Bismarckreich war die Bestimmung des Staatsfeindes Sache des Reiches und nicht der Länder. Jesuitengesetz und Sozialistengesetz sind als Reichsgesetze erlassen worden.“ Ähnlich, aber früher: Friedrich Landeck [d. i. Huber], Verfassung und Legalität, in: Deutsches Volkstum 14, 15 (1932) vom September 1932, S. 733 – 737. S. a. Martin Jürgens, Staat und Reich bei Ernst Rudolf Huber. Sein Leben und Werk bis 1945 aus rechtsgeschichtlicher Sicht, Frankfurt 2005. [39] Im Prozess Preußen gegen Reich war dieser Punkt „die Vorbereitung einer den Dualismus Reich-Preußen beseitigenden Reformmaßnahme, die das frühere institutionelle Band zwischen der Reichs- und der preußischen Staatsleitung erneuern sollte [ . . . ]. Den Prozeßvertretern des Reichs war, auch aus prozeßtaktischen Gründen, daran gelegen, daß diese im Oktober 1932 inaktuellen Ziele des Reichseingreifens nicht zur Unzeit zu Kernfragen der gerichtlichen Auseinandersetzung oder gar der höchstrichterlichen Entscheidung wurden. [ . . . ] Das Kernproblem des Prozesses in der Sicht der Reichsvertreter war, ob sich für die Überführung der preußischen Regierungsmacht auf die Kommissare des Reichs eine Stütze aus der Kompetenz des Reichspräsidenten zur Reichsexekution werde ableiten lassen. Denn die in ihr enthaltenen Machtvollkommenheiten hatten einen weiteren Umfang als die in der präsidialen Diktaturgewalt bereitgehaltenen Eingriffsrechte.“ Huber, Reichskrise, S. 44, dort mit Hervorhebungen. Die wichtige Frage, ob der Übergang der preußischen Polizeigewalt auf das Reich Abs. 1 oder Abs. 2 des Art. 48 zuzuordnen sei, war im Prozess umstritten. S. a. Thomas Trumpp, Franz von Papen, der preußisch-deutsche Dualismus und die NSDAP in Preußen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des 20. Juli 1932, Marburg 1963; Henning Grund, ,Preußenschlag‘ und Staatsgerichtshof im Jahre 1932, Baden-Baden 1976. [40] Anlässlich einer Einladung bei Werner Sombart notiert Carl Schmitt am 2. Februar 1933 im Tagebuch den Ausspruch André François-Poncets über Kurt von Schleicher: „n’est pas un homme de culture.“ François-Poncet hat die ,Wahlverwandtschaften‘ nicht übersetzt, sondern seine Abschlussarbeit der Germanistik darüber verfasst: Les Affinités électives de Goethe. Essai de commentaire critique, Paris 1910; Goethes Wahlverwandtschaften. Versuch eines kritischen Kommentars, Mainz 1951. Zu François-Poncet und Schleicher s. Claus W. Schäfer, André François-Poncet als Botschafter in Berlin (1931 – 1938), München 2004,
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S. 142 ff.; zur Ermordung Schleichers s. François-Poncet, Als Botschafter in Berlin. 1931 – 1938, Mainz 1947, S. 186 ff., zu den Pressegerüchten über seine Beteiligung an der Verschwörung gegen Hitler bes.: S. 198. Zu den von Schmitt erwähnten Treffen s. Vogelsang, Schleicher, S. 102: „Gewichtiger [als der Verkehr mit Kurt von Hammerstein] und letzten Endes zum Verhängnis beitragend war allerdings sein Verkehr mit François-Poncet, mit dem er sich nachweislich zweimal, am 29. März und am 2. April (Ostermontag) 1934 getroffen hat, beim zweiten Male im Landhaus Regendanz’ in der Mark Brandenburg. Crüwell erklärte er bald darauf, die Begegnungen hätten generell, ,um Aufsehen zu vermeiden‘, an einem dritten Ort stattgefunden; man habe die ,allgemeine politische Lage eingehend‘ besprochen und er stehe sich mit dem Botschafter ,recht gut‘. Dennoch scheinen diese Beziehungen nicht unbeobachtet geblieben zu sein, und in ihnen hat man zweifellos einen der Gründe zu suchen, die zu den Vorgängen am 30. Juni 1934 geführt haben.“ S. a. den ,Spiegel‘ vom 2. März 1955 mit einem Titel zum ,Botschafter bei Boches und Deutschen‘. Im lesenswerten Artikel ,Ein Zeuge tritt ab‘ (S. 10 ff.) heißt es: „Im Dritten Reich sollte sich Poncets Ruf, die Ohren überall zu haben, bald als gefährlich erweisen. Nach der Röhm-Affäre 1934 spielte Hitler selbst öffentlich auf Verbindungen der erschossenen ,Verschwörer‘ Röhm und Schleicher zu einer fremden Macht an. Die Presse ließ deutlich durchblicken, daß damit der französische Botschafter gemeint sei. Und in der Tat hätte die von Röhm geplante Umbildung der Armee in eine Miliz für Frankreich militärisch und wirtschaftlich von entscheidender Bedeutung sein können.“ Zu Hitlers Einschätzung von Poncets diplomatischem Ohr s. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941 – 1942, hg. v. Percy Ernst Schramm, Stuttgart 1963, S. 428 (Nachlass Carl Schmitt, S. 474). [41] „Durch Alter und Jahre isoliert, wirkte dieser Träger einer neutralen Gewalt in den Spannungen massendemokratischer Methoden und angesichts der Möglichkeit eines jähen Umschlags wie ein unzeitiger und unzeitlicher Gegensatz. Er stand treu zu seinem Eid auf die Verfassung, aber was diese Verfassung eigentlich war, konnte er aus seinem eigenen Wesen heraus nicht wissen. So ließ er sich denn als korrekter Mann belehren, und die Belehrung ging schließlich dahin, daß der Gegenstand seines Eides und seiner Treue nur ein Durchgangsverfahren war, nur eine Tür, die sich dem Eintritt jedes Feindes zu öffnen hatte, sobald dieser als ,tragfähige Regierungskombination‘ auftrat und sich dadurch legal machte.“ Carl Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 263 – 350, hier: S. 350. [42] Am 21. Juli 1932 fragte die ,Deutsche Juristen-Zeitung‘ bei Carl Schmitt nach einem Aufsatz über das Vorgehen der Reichsregierung gegen das Land Preußen an. Schmitt bat sich Bedenkzeit aus, um mit Eugen Ott, dem Leiter der Wehrmachtsabteilung, Rücksprache zu halten. S. Pyta / Seiberth, Staatskrise im Spiegel, S. 435. Aus diesem Gespräch ergab sich seine Beraterschaft fürs Reich; der Aufsatz, erschienen am 1. August, dem Verfasser vier Tage zuvor ausgeliefert, ist somit erster Ausdruck von Schmitts Verteidigungsstrategie. In seinem Zentrum steht – anders als im Fokus des Prozesses (s. u.) – der Reichspräsident: „Im Konfliktfall spricht die Vermutung, solange das Reich besteht, immer noch für den zuständigerweise vorgehenden Reichspräsidenten. [ . . . ] Es ist kein Zweifel, daß der eigentliche Streitpunkt in der Sache die politische Bewertung von zwei Parteien, der nationalsozialistischen und der kommunistischen Partei, betrifft. Die amtliche Begründung zur V[erordnung] v. 20. Juli 1932 spricht das offen aus. [ . . . ] Es gehört zu den Gefahren eines pluralistischen Parteienstaates, daß alle staatlichen Machtmittel und alle Auslegungsmöglichkeiten von Verfassung und Gesetz zu taktischen Instrumenten der Parteien werden. Dann wird der Parteifeind für ,illegal‘ erklärt, um ihm die gleiche Chance zu nehmen. Damit ist die Grundlage jedes parlamentarischen Staatswesens zerstört und seine Verfassung, die allen Parteien die
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gleiche Chance gibt, untergraben. Andererseits wäre es aber natürlich ganz unmöglich, wirklich staatsfeindlichen Parteien die gleiche Chance zu geben und ihnen die legalen Möglichkeiten staatlicher Willensbildung als Waffen in die Hand zu liefern. Reich und Land wären verloren, wenn es in dieser Lage keine überparteiliche Instanz gäbe. Es ist Pflicht des Reichspräs. und der die Richtlinien der Politik des Reiches bestimmenden Reichsregierung, angesichts der innerpolitischen Lage in einem Lande wie Preußen nicht erst den Ausbruch des offenen Bürgerkrieges abzuwarten, sondern, wenn es nach pflichtgemäßem Ermessen nötig erscheint, mit den Mitteln des Art. 48 gegenüber dieser Zersetzung die Einheit des Reiches und den verfassungsmäßigen Bestand des Landes als Staat zu wahren. Der Streit betrifft also nicht den Kampf des Reiches gegen ein Land oder gegen die Länder, nicht den Gegensatz von Einheitsstaat und Bundesstaat, und die eigentlichen Partner des Streites sind nicht Reich gegen Preußen oder Reich gegen Länder, sondern Reich und Staat gegen Partei und Fraktion.“ Carl Schmitt, Die Verfassungsmäßigkeit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land Preußen, in: Deutsche Juristen-Zeitung 37, 15 (1932) v. 1. August 1932, Sp. 953 – 958, hier: Sp. 958. [43] „Ministerpräsident Braun gab mir den Auftrag, unter den Vertretern der preußischen Regierung die Führung zu übernehmen und in allen Zweifelsfragen und Meinungsverschiedenheiten nach meinem eigenen besten Urteil zu verfahren. Auf der Fahrt fanden wir uns mit Professor Carl Schmitt von der Gegenpartei im selben Abteil, der eine fotostatische Kopie meiner soeben in neuer Auflage erschienenen Kommentierung des Artikels 48 aus der Tasche zog und erklärte, er halte sie für die beste unter den vorhandenen. Im übrigen blieb die Unterhaltung einsilbig.“ Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen. Zweite Hälfte. 1927 – 1967, Stuttgart 1967, S. 223. S. a. Kapitel 23, S. 161 ff., in dem ,Hindenburgs schicksalsträchtige Kehrtwendung‘ nacherzählt wird. [44] Beim Treffen mit Eugen Ott und Staatssekretär Zweigert (s. o.) erhielt Schmitt vermutlich informell den Auftrag, die Prozessvertretung des Reiches aufzustellen. Am 25. Juli gab Reichskanzler Papen im Reichskabinett die Nominierung von Carl Schmitt, Erwin Jacobi und Carl Bilfinger zu Prozessvertretern bekannt. Die Keimzelle der Reichsvertretung im Prozess ist also die Staatsrechtslehrertagung 1924 in Jena, wo Bilfinger mit Gerhard Anschütz über den deutschen Föderalismus referierte, Jacobi mit Schmitt über die Diktatur des Reichspräsidenten. Jacobi wurde als Fachmann für Artikel 48 zur Vertretung hinzugezogen, Bilfinger als Fachmann für Fragen des Föderalismus. S. Pyta / Seiberth, Staatskrise im Spiegel, S. 435; Seiberth, Anwalt des Reiches, S. 97 ff. So ergab sich folgende virtuelle Arbeitsteilung in der Prozessvertretung: Art. 48 – Jacobi; Art. 48 Abs. 1 – Bilfinger; Art. 48 Abs. 2 – Schmitt. Am 26. Juli skizzierten Gayl und Schmitt die Klageerwiderung, am 27. wurde im Reichsministerium des Innern die erste große Sitzung abgehalten. Da man versäumt hatte, in der Verordnung deutlich zwischen Absatz 1 (Reichsexekution oder -intervention) und Absatz 2 (Diktaturgewalt) des Art. 48 WRV zu unterscheiden, bestand ein Zwang der Vertretung darin, die Unterschiede zwischen beiden Absätzen zu verwischen. Schmitt machte sich diesen Zwang zu eigen, indem er Abs. 1 aus der Machtfülle des Reichspräsidenten hervorgehen ließ und auf Abs. 2 zuschnitt. Zu Schmitts Argumentation vor dem Staatsgerichtshof s. die übersichtliche Analyse von Wolfgang Schuller, Carl Schmitt in Leipzig, in: Recht und Politik 44, 1 (2008), S. 35 – 43. In der Schlussrede Carl Schmitts (zit. nach Stenogrammbericht, S. 466 f.) ist die „Verstellung“ seiner Perspektive durch den Prozess deutlich zu hören: „Also die wichtigste Frage des Prozesses ist natürlich die nach dem Lande Preußen. Das Land Preußen ist nicht verschwunden, es besteht, es ist da, es hat auch eine Regierung, eine kommissarische, vom Reichspräsidenten auf Grund seiner verfassungsmäßigen Befugnis eingesetzte Landesregierung, die die Vertretungsbefugnis für das Land Preußen
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hat. Ist es eine verfassungsmäßig eingesetzte Landesregierung, so ist damit die Frage der Vertretungsbefugnis für das Land Preußen beantwortet. Es ist präzis juristisch, korrekt und einwandfrei, wenn Herr Kollege Jacobi zum Ausdruck gebracht hat: nur auf Grund einer aus prozeßtechnischen Gründen denkbaren und zulässigen Fiktion erscheinen hier trotzdem noch die amtsenthobenen Minister, Fiktion ihrer Vertretungsbefugnis ad hoc, für diesen Fall, und wogegen sich Herr Kollege Bilfinger wandte, meiner Meinung nach mit Recht, und ich teile auch den Affekt, der ihn dabei trug, das ist, daß man nun in den Schriftsätzen fortwährend versucht hat, daraus Schlüsse zur Hauptsache zu ziehen und zu sagen: Wenn Ihr gelten laßt, daß wir überhaupt hier Prozeß führen, erkennt Ihr an, daß wir die Vertretungsbefugnis haben, auch dem Reichsrat anzugehören, überhaupt alle mögliche andere Vertretungsbefugnis haben. Nur dagegen wandte sich Kollege Bilfinger. Die Frage ist einfach die: Ist diese kommissarische Landesregierung verfassungsmäßig auf Grund von Art. 48 vom Reichspräsidenten eingesetzt worden oder nicht? Ist sie es, so ist damit jede Vertretungsbefugnis [ . . . ] erledigt.“ Leicht redigiert wieder abgedruckt als: Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig (1932). Gehalten am 17. Oktober 1932 vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig als Vertreter der Reichsregierung in dem Prozeß, den die am 20. Juli 1932 amtsenthobene geschäftsführende Regierung Braun-Severing-Hirtsiefer und ihr sich anschließend die Landesfraktionen des Zentrums und der Sozialdemokratie sowie die Länder Bayern und Baden gegen die Reichsregierung geführt haben, in: Positionen und Begriffe, S. 204 – 210, hier: S. 206. [45] „Heute weiß jeder Physiker (was früher nur den guten Erkenntnistheoretikern klar war), daß das beobachtete Objekt sich eben durch die Beobachtung verändert. Wenn das nun schon für eine naturwissenschaftlich exakte Beobachtung gilt, wieviel mehr gilt es dann für die Art von Beobachtungen, denen ein Prozeßgericht den Sachverhalt eines Prozeßverfahrens unterwirft, durch Zeugenvernehmungen, Parteiaussagen, offene oder unausgesprochene Präsumtionen und durch die vorausgesetzten ,Grundlagen‘ des Prozesses, über die keine Diskussion erlaubt wird. Die Veränderung des Objektes, die Verstellungen der Perspektiven durch die Formen des Prozesses sind dann doch geradezu ungeheuerlich. In abnormen Zeiten und für abnorme Sachverhalte kann das Ergebnis immer nur eine Fälschung sein. Das wird am schlimmsten, wenn die Amnestie nicht rechtzeitig eintritt.“ Carl Schmitt, Glossarium, S. 56, Aufzeichnung vom 3. Dezember 1947. [46] Nach dem Urteil erteilte Erich Marcks dem Schmitt-Schüler Ernst Rudolf Huber die Aufgabe der „propagandistischen Nachbereitung des Prozesses“ (Pyta / Seiberth, Staatskrise im Spiegel, S. 447). Hubers Büchlein ,Reichsgewalt und Staatsgerichtshof‘ wurde von Schmitt – nicht zuletzt wegen der polemischen Begriffsbildung ,Parteienbundesstaat‘ – mit Neid und Anerkennung entgegengenommen und kann als unverhüllter Beitrag Schmitts zum Prozess verstanden werden, weil dessen Abneigung gegen justizförmige Politik darin deutlicher ausgesprochen wird, als es dem Prozessvertreter vor Gericht möglich war: „Im Leipziger Prozeß hat der Staatsgerichtshof anstatt des Reichspräsidenten und sogar gegen ihn die Rolle des ,Hüters der Verfassung‘ übernommen. Das ganz Erstaunliche und Außerordentliche dieses Vorgangs ist während des Prozesses nicht zu allgemeinem Bewußtsein gekommen, weil die Person des Reichspräsidenten nicht genannt werden durfte und die von ihm getroffenen Maßnahmen des 20. Juli so behandelt worden sind, als ob er an ihnen nicht beteiligt gewesen wäre. [ . . . ] Die Worte Bismarcks sind unvergessen, daß man dem Reiche das Grabgeläute anstimmen kann, wenn eine Reichsexekution gegen Preußen notwendig wird. Die Maßnahmen des 20. Juli 1932 jedoch waren in Wahrheit keine Exekution gegen Preußen, sondern eine Exekution der aus wirklich eigenwüchsigen preußischen Kräften gestalteten Reichsgewalt gegen den Parteienstaat um der Ehre und Einheit Preußens willen.“ Ebd., S. 72 f. Der Text der ,Entscheidung in der Hauptsache‘ in: Stenogrammbericht, S. 492 – 517.
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Von Bedeutung für das vorliegende Gespräch auch Hans Kelsen, Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932, in: Die Justiz 8, 2 / 3 (1932), S. 65 – 91, hier: S. 88 f.: „[S]ein wahrer, aber nicht ausgesprochener Sinn ist ja der: daß die Verordnung vom 20. Juli als ganze ,nichtig‘ und eine andere gültig ist, deren Inhalt der Staatsgerichtshof zwar in seinem Urteil angibt, die aber der Reichspräsident bisher nicht erlassen hat. [ . . . ] Das Ergebnis, zu dem eine juristische Kritik des Staatsgerichtshofurteils führt, ist somit wenig befriedigend. Aber es wäre ungerecht, dafür nur oder auch nur in erster Linie den Staatsgerichtshof verantwortlich zu machen. Die Wurzel des Übels liegt in der technischen Unzulänglichkeit der Weimarer Verfassung selbst.“ Hinweise zu weiteren Reaktionen bei Seiberth, Anwalt des Reiches, S. 183 ff. [47] „Reichsrat verloren. Wir waren sehr traurig. Bilfinger ist der Besiegte. Aßen bei Jacobi, vorher zu Bumke [ . . . ], er war freundlich und nett, mochte ihn gern, ich sagte ihm zum Schluß noch: Die echte Mutter erkennt man daran, daß sie keine Teilung des Kindes zuläßt.“ Tagebuchaufzeichnung vom 25. 10. 32. Löst man die Metapher auf, so erscheinen das Reich und das Land Preußen als Mütter der preußischen Staatsgewalt, der Staatsgerichtshof als Salomon. Carl Schmitt räumt vor dem Staatsgerichtshof gegenüber dem Reichsgerichtspräsidenten Erwin Bumke scheinbar ein, es handle sich um ein salomonisches, also vorausschauendes Urteil. Weil aber das Land Preußen, die echte Mutter der preußischen Staatsgewalt, ihr Kind nicht zu dessen eigenem Wohle aus den Händen gibt, ist das Urteil alles andere als salomonisch. Darin steckt zugleich, dass das Reich zwar nicht die echte Mutter der preußischen Staatsgewalt ist, sie in Person des Reichskommissars aber besser adoptiert hätte. [48] Brecht, Lebenserinnerungen, Aufzählungen auf S. 233 ff., bes.: S. 238 f., hier: S. 235 aus dem Kapitel ,Der Mythos von dem Versagen des Staatsgerichtshofs‘ mit der entgegengesetzten Stoßrichtung: „Bei gutem Willen hätten sich alle legitimen Zwecke der Reichsregierung ohne besondere Schwierigkeiten mit der ihr nach der Entscheidung zustehenden Machtfülle erreichen lassen. Statt aber die Entscheidung ehrlich auszuführen, benutzten Papen und [sein Stellvertreter als Reichskommissar Franz] Bracht alle nur denkbaren Schikanen, um ihre illegitimen politischen Absichten durchzuführen. Zu einer loyalen Ausführung der Entscheidung hätte es gehört, daß der Reichspräsident die Verordnung in neuer Fassung veröffentlichte und dabei die vom Staatsgerichtshof für unberechtigt erklärte Bezugnahme auf Artikel 48 Absatz 1 (Pflichtverletzung des Landes Preußen) und Ermächtigung des Reichskommissars zur Amtsenthebung der Minister wegließ und die vom Staatsgerichtshof aufgezählten übrigen Beschränkungen in den Wortlaut aufnahm. Das geschah aber nicht. Der Reichspräsident ließ den Text ruhig unverändert stehen.“ [49] Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin 141932, S. 267 ff. Dazu die Rezension der 3. und 4. Auflage von Carl Schmitt in: Juristische Wochenschrift 55, 19 (1926), S. 2270 – 2272, hier: S. 2272: „Den letzten Grund für die systematische Unklarheit eines mißverstandenen ,Positivismus‘ erblicke ich in folgendem: In jedem Staate muß es eine Instanz geben, die ausnahmsweise und mit souveräner Macht Handlungen vornimmt, welche aus dem normalen System der geregelten Zuständigkeiten herausfallen oder es durchbrechen. Es ist eine für die Weimarer Verfassung fundamentale Frage, wer solche Souveränitätsakte berechtigterweise vornehmen kann. Auf verschiedenen Wegen, oft unter Benutzung des Art. 48, oft wieder unter Benutzung des Art. 76 RVerf. hat man Souveränitätsakten eine verfassungsmäßige Grundlage gegeben. [ . . . ] Leider hat selbst der Kommentar von Anschütz eine so wichtige Angelegenheit, wie den Versuch einer systematischen und historisch gründlichen Auslegung des Art. 48 Abs. 2 mit einer summarischen Handbewegung verständnislos abgetan, ohne
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ihren theoretischen und praktischen, verfassungsrechtlichen Sinn zu beachten (S. 175). Ich fürchte aber, die deutsche Staatsrechtslehre verzichtet auf ihre eigentliche Aufgabe, wenn sie es für ,Positivismus‘ hält, in den leeren Geleisen des alten Staatsrechts zu bleiben und wie in jenen behaglichen Zeiten mit einer Art Kurzschluß des juristischen Denkens einfach den ,Gesetzgeber‘ als Deus ex machina erscheinen zu lassen. Die verfassungsmäßige Befugnis, Gesetze zu geben, muß von der Befugnis, Souveränitätsakte vorzunehmen, unterschieden werden. Der Satz: ,Gesetz ist Gesetz‘ enthält eine vielleicht noch gefährlichere Gedankenlosigkeit als die berühmte Gleichung ,Mark ist Mark‘.“ Zur Devise der Aufwertungsrechtsprechung s. Ignaz Jastrow, Mark ist Mark, in: Robert Kuczynski (Hg.), Deutschland und Frankreich. Ihre Wirtschaft und ihre Politik 1923 / 24, Berlin 1924, S. 41 – 45. [50] „Im Sinne der Reichsverfassung soll der Reichspräsident der Reichsregierung assistieren, darf er sie indes moderieren und insofern korrigieren. Er soll aber nicht versuchen, sie zu dirigieren und darf sie keinesfalls in Konfliktsabsicht konterkarieren. Will er im Falle einer Krisis sich vorübergehend gegen Reichstag und Reichsregierung erheben, so eröffnet ihm die Reichsverfassung hiefür den Weg des ,Appells an das Volk‘, d. h. des Reichskanzlerwechsels mit gleichzeitiger Reichstagsauflösung (s. oben Ziff. 1). Auflösung indes ,nur einmal aus dem gleichen Anlaß‘ (Art. 25). ,Einwirkungen‘ des Reichspräsidenten [ . . . ] sind selbstverständlich nicht ausgeschlossen, aber über ihren rechtmäßigen Sinn und ihr Maß läßt die Reichsverfassung im Zweifel. Es wäre verkehrt, dies zu verschweigen oder vertuschen zu wollen, daß auch in diesem Handbuch grundverschiedene Auffassungen über die Stellung des Reichspräsidenten zur Reichsregierung vorgetragen werden. Man wird bemerken, daß schon Heinrich Pohl im § 42 dieses Handbuchs aus Text und Geist der Reichsverfassung eine andere Nuance der rechtlichen Ordnung dieser Dinge herausliest, als sie hier von mir vertreten wird. In noch höherem Maße ist dies der Fall mit einigen Sätzen des nachfolgenden § 44, in denen Poetzsch-Heffter sich über das problematische Verhältnis äußert mit der Autorität, die ihm als den hervorragendsten Kenner der Praxis unserer höchsten Regierungssphären zukommt.“ Richard Thoma, § 43. Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 503 – 511, hier: S. 508 (mit Hervorhebungen). Carl Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Bd. 2, Tübingen 1932, S. 572 – 606. Im Zusammenhang mit vorliegendem Gespräch s. Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 50, über Thoma, Anschütz und Art. 76 WRV: Bei Richard Thoma sei „wenigstens noch das bürgerlich-rechtliche System selbst mit seinem Gesetzes- und seinem Freiheitsbegriff heilig, die liberale Wertneutralität wird als ein Wert angesehen und der politische Feind – Faschismus und Bolschewismus – offen genannt. Bei Anschütz dagegen geht die Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätssystems bis zur absoluten Neutralität gegen sich selbst und bietet den legalen Weg zur Beseitigung der Legalität selbst, sie geht also in ihrer Neutralität bis zum Selbstmord.“ Zu Thoma s. a. Schmitt, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff (1924), in: Positionen und Begriffe, S. 19 – 25, sowie den Briefwechsel zwischen Schmitt und Waldemar Gurian, im Erscheinen. [51] „Seit der Demokratisierung der zivilisierten Staatenwelt im Gefolge der französischen Revolution wird der nationale Gedanke zum Grundsatz der Staatsbildung. In früheren Jahrhunderten waren die Völker ohne viel Rücksicht auf ihre Kultureigenart dynastisch zusammengefaßt. Sie wurden von Geschlechtern beherrscht, deren Recht zur Herrschaft man auf Gottesfügung zurückführte. Das Gottesgnadentum wurde durch die Volkssouveränität, die dynastische Zusammenfassung durch die Nationalsouveränität im Bewußtsein der Völker abgelöst. Jede Nation sollte einen Staat, jeder Staat nur eine Nation bilden. Diesen Grundsatz der Staatsbildung verdankt [sic] u. a. das Deutsche Reich, Italien, die Balkanstaaten ihre Ent-
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stehung.“ Hermann Heller, Sozialismus und Nation, Berlin 1925, S. 80. Zu den Zwischenrufen von Heller, Prozessvertreter der SPD-Fraktion im preußischen Landtag, s. Andreas Kaiser, Preußen contra Reich. Hermann Heller als Prozeßgegner Carl Schmitts vor dem Staatsgerichtshof 1932, in: Christoph Müller / Ilse Staff (Hg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891 – 1933, Berlin 1984, S. 287 – 311, mit einer Zusammenfassung von Hellers Prozessstrategie auf S. 305. Eine Kostprobe findet sich in Schmitts Redebeitrag vom letzten Verhandlungstag im Stenogrammbericht, S. 468: „[E]ine der größten und schlimmsten Gefahren für unser bundesstaatliches System, für den Föderalismus und für die Selbständigkeit der Länder liegt doch gerade darin, daß über die Länder hinweggehende, straff organisierte und zentralisierte politische Parteien sich des Landes bemächtigen, ihre Agenten, ihre Bediensteten in eine Landesregierung hineinsetzen (Professor Heller: Das ist unerhört!) und so die Selbständigkeit des Landes gefährden. Von dieser Seite her, von den Parteien her kommt sogar eine ganz besondere Art von Gefahr fortwährender Funktionsstörungen, fortwährender Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und auch Nichterfüllung von Pflichten des Landes gegenüber dem Reich.“ S. a. Walter Pauly, Die Krise der Republik. Hermann Heller und Carl Schmitt, in: Klaus Dicke / Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Republik und Weltbürgerrecht, Weimar 1997, S. 311 – 334. [52] Heinrich Brüning, Wie Hitler die Macht eroberte. Ein Brief an Dr. Pechel, Herausgeber der Deutschen Rundschau 1947, in: Reden und Aufsätze eines deutschen Staatsmannes, hg. v. Wilhelm Vernekohl, Münster 1968, S. 223 – 269, hier: S. 249 f., nennt drei Irrtümer des Kabinetts Papen: die Auflösung des 1930 gewählten Reichstages, die Wiederzulassung von SA und SS – und den Preußenschlag: „Der Staatsgerichtshof war gezwungen, einen Teil der Verordnung für verfassungswidrig zu erklären, und setzte Hitler dadurch in den Stand, den Verteidiger der Verfassung gegen Mißbrauch durch den Reichspräsidenten und die Regierung zu posieren. Von Gregor Strasser erfuhr ich, daß unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom Juli 1932 die Nationalsozialisten beabsichtigten, einen Antrag gemäß Artikel 59 der Reichsverfassung auf eine Anklage des Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof und für die Absetzung Hindenburgs nach Artikel 43 einzubringen.“ Dazu Carl Schmitt in einer Glosse zu: Das Problem der Legalität, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 450: „Hitlers stärkstes Mittel, auf Hindenburg einzuwirken, bestand damals darin, mit neuen Prozessen vor dem Staatsgerichtshof zu drohen. Die Reichsregierung hatte im Oktober 1932 den Prozeß Preußen / Reich vor dem Staatsgerichtshof zwar mit Bezug auf Abs. 2 des Art. 48 (vorläufige Absetzung der preußischen Minister und Einsetzung von Reichskommissaren in Preußen als Diktaturmaßnahme) gewonnen, mit Bezug auf Abs. 1 (Reichsexekution und Vertretung Preußens im Reichsrat) jedoch verloren. Das in sich gespaltene Urteil eröffnete die Möglichkeit immer neuer, unabsehbarer Prozesse vor dem Staatsgerichtshof. Für einen Mann wie Hindenburg war der Gedanke, in das Geschrei und die Schikanen taktisch und propagandistisch aufgezogener Prozesse hineingezerrt zu werden, unerträglich.“ Zu Brünings Erfahrungen mit den Staatssekretären Erich Zweigert und Curt Joël im Zusammenhang mit Carl Schmitts Vorstellung vom Reichspräsidenten als dem ,Hüter der Verfassung‘ s. Herbert Hömig, Brüning. Kanzler in der Krise der Republik. Eine Weimarer Biographie, Paderborn u. a. 2000, S. 158 f. Zu den Folgen aus der Teilung der preußischen Staatsgewalt s. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 7: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart u. a. 1984, S. 1128 ff. [53] „Der Reichstag ist berechtigt, den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, daß sie schuldhafterweise die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt haben. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens hundert Mitgliedern des Reichstags unterzeich-
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net sein und bedarf der Zustimmung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Mehrheit. Das Nähere regelt das Reichsgesetz über den Staatsgerichtshof.“ Art. 59 WRV, zit. nach Horst Hildebrandt, Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn u. a. 4 1992, S. 83. [54] „Da aber Jesus einging zu Kapernaum, trat ein Hauptmann zu ihm, der bat ihn und sprach: HERR, mein Knecht liegt zu Hause und ist gichtbrüchig und hat große Qual. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: HERR, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehest; sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe unter mir Kriegsknechte; und wenn ich sage zu einem: Gehe hin! so geht er; und zum andern: Komm her! so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das! so tut er’s. Da das Jesus hörte, verwunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden!“ Matthäus 8, 5 – 10, zit. nach Lutherbibel 1912. „Der Herr hat auf Seiner Reise durch das Land gelehrt, Kranke geheilt, Wunder getan und kehrt nun nach Kapernaum zurück. Der Herr ist umgeben von einer großen Volksmenge, Anhängern, Zuhörern und Angehörigen aller Stände. Auf dem Marktplatz tritt Ihm eine hohe Gestalt entgegen, wie Luther sagt, der Hauptmann von Kapernaum. [ . . . ] Der Vorgang in Kapernaum zeigt den Soldaten in vorbildlicher Beziehung zum Herrn, und das kann uns alte Soldaten mit Freude und Stolz erfüllen. Auch Euch, meine Kriegskameraden, meine alten Garde-Grenadiere.“ Sonntagsandacht, gehalten von Seiner Majestät dem Kaiser und König am Sonntag Reminiscere, den 16. März 1930, dem Gedächtnistage für die Gefallenen im Weltkriege, vor der Hausgemeinde zu Haus Doorn, abgedruckt im Anhang zu den Erinnerungen des Hofpredigers Friedrich August Henn, Meine Erinnerungen an Wilhelm II. im Exil in Doorn (1966), Privatdruck, Frankfurt 2001.
Band 3 Kapitel 13 [1] „Als die Gafahr [sic] drohte, daß Reichskanzler von Papen, dessen Berufung meiner persönlichen Meinung nach ein Fehler gewesen ist, versuchte, sich mit dem Artikel 48 gegen den Nationalsozialismus und die Kommunisten am Ruder zu halten, habe ich mir [C.S. am Rand: mir] damals gesagt, eine solche Anwendung des Artikels 48 wäre höchst bedenklich, denn ihr Ziel wäre nicht eine gesunde Besserung, sondern das Aufrechterhalten eines kaum haltbaren Zustandes. Unter diesen Umständen wäre es notwendig zu prüfen, wie ein daraus folgender militärischer Ausnahmezustand sich abspielen wird. So kam es zu dem Kriegsspiel, das inzwischen auch in die Literatur übergegangen ist und in dem Werk von Papen ,Der Wahrheit eine Gasse‘ eine Rolle spielt.“ Eugen Ott, Vorgeschichte der Machtergreifung, HStA, RW 265-21410, S. 10. In seiner Rundfunkrede vom 15. Dezember 1932 versuchte Schleicher Bedenken gegen seine Kanzlerschaft zu zerstreuen, „weil der Wehrminister als Reichskanzler nach Militärdiktatur riecht, und weil die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, daß durch eine Verbindung dieser beiden Ämter die Wehrmacht zu stark in die Politik gezogen werden könnte. Nur die Überlegung, daß eine solche Maßnahme den Ernst der Situation so scharf kennzeichnen und auf gewisse Unruhestifter so abkühlend wirken würde, daß dadurch der tatsächliche Einsatz der Wehrmacht verhindert werden kann, hat mich zur Zurücksetzung meiner Bedenken veranlaßt.“ Zit. nach Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente
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zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4: Deutsche Verfassungsdokumente 1919 – 1933, Stuttgart u. a. 31991, S. 631 f. Eine kritische Erörterung des Übergangs von Papen zu Schleicher bei Eberhard Kolb / Wolfram Pyta, Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930 – 1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 155 – 181. S. a. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1160 f.; Reichskrise, S. 47. [2] Carl Schmitt schreibt Eugen Ott am 11. Dezember 1932, HStA, RW 265-13351: „Sehr verehrter Herr Oberstleutnant! Nur um mein verfassungsrechtliches Gewissen zu salvieren bitte ich noch diese Bemerkung machen zu dürfen: Wenn ich gestern Abend sagte, es sei gleichgültig, daß das Stellvertretungsgesetz zustande komme, so war das mit Bezug auf die augenblickliche Lage gemeint. Auf weitere Sicht gesehen ist dieses Gesetz etwas sehr Schlimmes. Es trifft nämlich die Institution des Reichspräsidenten in ihrem Kern. Es ist der erste, keineswegs unwesentliche Schritt zu seiner Entmilitarisierung. Diese ist ein von bestimmter Seite verfolgtes Ziel, zu dessen Werkzeug sich die Nazis ahnungslos hingeben.“ S. dazu Carl Schmitt, Die Stellvertretung des Reichspräsidenten (1933), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 351 – 358, hier: S. 351: „Während der Reichspräsident bisher im Falle seiner Verhinderung ,zunächst‘ durch den Reichskanzler vertreten wird und bei Verhinderung für ,voraussichtlich längere Zeit‘ die Vertretung von Fall zu Fall durch ein Reichsgesetz zu regeln ist, soll jetzt unterschiedslos im Falle jeder Verhinderung ohne weiteres der Präsident des Reichsgerichts den Reichspräsidenten vertreten und das gleiche für den Fall der vorzeitigen Erledigung der Präsidentschaft bis zur Durchführung der Neuwahl gelten.“ Damit entsprach eine verfassungsändernde Mehrheit im Reichstag am 9. Dezember 1932 einem Antrag der NSDAP. Im Kommentar von 1958, S. 357, merkt Schmitt an: „Das Reichsgesetz über die Stellvertretung des Reichspräsidenten ist aus dem Mißtrauen des damaligen Reichstags gegen den damaligen Reichskanzler, General von Schleicher, entstanden. In dem General von Schleicher – nicht etwa in Hitler – sah dieser Reichstag seinen Feind und die eigentliche Gefahr für die Weimarer Verfassung.“ Wie aus Schmitts Anmerkung zum HerrenchiemseeEntwurf des Grundgesetzes hervorgeht, hätte sich die Gefahr jenes Gesetzes im Falle einer Anklage des Präsidenten vor dem Staatsgerichtshof gezeigt. S. a. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1168 ff. [3] „Schleicher gab einleitend der Erwartung Ausdruck, daß die Wahl Gregor Straßers zum preußischen Ministerpräsidenten in naher Aussicht stehe und daß ihr die Ernennung Straßers zum Vizekanzler folgen werde; das werde die Kommissariatsregierung überflüssig machen. Da Hitler und Straßer in schärfstem Gegensatz stünden, werde die Spaltung der NSDAP folgen. Die ,national wertvollsten Elemente‘ der NSDAP würden auf Straßers Seite treten; der bei Hitler verbleibende Rest werde politisch einflußlos sein. Braun erwiderte, diese Entwicklung könne ihm nur recht sein. Das ,Schattendasein‘ als preußischer Ministerpräsident ohne Amtsfunktionen und ohne politischen Einfluß sei ihm unerträglich. Aber er halte Schleichers Voraussage für unrealistisch. Bei einer Parteispaltung verharre nach allen Erfahrungen ,das Gros dort, wo die Kasse, der Organisationsapparat und die Zeitungen bleiben‘. Das aber werde bei Hitler sein.“ Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1194, zum Gespräch zwischen Schleicher und Braun vom 8. Dezember 1933. (S. a. Braun, Von Weimar zu Hitler, S. 273 ff.) Zu Schleichers Querfront ebd., S. 1158 ff. S. a. Wolfram Pyta, Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis Januar 1933, in: ders. / Ludwig Richter (Hg.), Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 173 – 198; Heinrich Muth, Schleicher und die Gewerkschaften 1932. Ein Quellenproblem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981), S. 189 – 215.
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[4] „Sehr geehrter Herr Professor! Meinen aufrichtigsten Dank für die freundliche Uebersendung Ihres neuesten Buches ,Legalität und Legitimität‘, das ich mit größter Spannung bereits zweimal gelesen habe. Ich stimme in den kritischen Teilen des Buches restlos mit Ihnen überein. Auch ich stehe auf dem Standpunkt, daß die parlamentarische Demokratie nur solange funktionieren kann, wie die Durchführung des Prinzips der gleichen Chance möglich ist. Stellt sich heraus, daß dieser Grundsatz zur Gewinnung innerpolitischer Macht versagt, dann muß notwendig auch der parlamentarische Gesetzgebungsstaat handlungsunfähig werden. Ich werde es für die nächste Zeit als meine Aufgabe betrachten, diese Ihre Meinung auch ökonomisch und soziologisch zu fundieren. Stellt man sich nämlich auf den Standpunkt, daß der grundlegende politische Gegensatz in Deutschland der ökonomische Gegensatz ist, daß die entscheidende Freund / Feind-Gruppierung in Deutschland die Gruppierung Arbeit und Eigentum ist, so leuchtet ein, daß bei einer solchen politischen Gegensätzlichkeit parlamentarisch nicht mehr regiert werden kann. Denn entweder müssen, um den Grundsatz der gleichen Chance aufrecht zu erhalten, diese beiden großen gegensätzlichen Gruppen ein Kompromiß eingehen. Das haben sie ein Jahrzehnt hindurch getan mit dem ungeheuerlichen Mißerfolg, wie er sichtbar geworden ist. Schließen sie aber kein Kompromiß, so kann das Prinzip der gleichen Chance keinesfalls bedeuten, daß ein Tag sozialistisch, ein anderer Tag kapitalistisch regiert wird. Mit anderen Worten – will man nicht die eine, scheinbar zwischen den Klassen stehende Staatsgewalt durch irgendwelche verfassungsrechtliche Einkleidungen (Ständestaat, Oberhaus, Wahlrechtsänderung) stabilisieren, so bleibt für die beiden kämpfenden Gruppen nur das Streben nach politischer Alleinherrschaft übrig, mit dem festen Willen, auch bei Aenderung der parlamentarischen Situation diese ihre Herrschaft nicht abzugeben. Das aber bedeutet das Ende des parlamentarischen Systems.“ Brief von Franz Neumann an Carl Schmitt vom 7. September 1932, zit. nach HStA, RW 265-10358 / 1 f. Fehlerhaft ediert von: Rainer Erd (Hg.), Reform und Resignation. Gespräche über Franz L. Neumann, Frankfurt 1985, S. 79 f. S. a. Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung. Die Stellung der Gewerkschaften im Verfassungssystem, Berlin 1932; Volker Neumann, Entzauberung des Rechts? Franz Neumann und Carl Schmitt, in: Samuel Salzborn (Hg.), Kritische Theorie des Staates. Staat und Recht bei Franz L. Neumann, Baden-Baden 2009, S. 79 – 107; Kompromiss oder Entscheidung? Zur Rezeption der Theorie Carl Schmitts in den Weimarer Arbeiten von Franz L. Neumann, in: Joachim Perels (Hg.), Recht, Demokratie und Kapitalismus. Aktualität und Probleme der Theorie Franz L. Neumanns, Baden-Baden 1984, S. 65 – 78. [5] Laut Tagebuchaufzeichnung vom 11. Juli 1931 traf Carl Schmitt an seinem 43. Geburtstag bei seiner Freundin Margot von Quednow abends unter anderem Moritz Julius Bonn, Karl Wilhelm Haas: „[D]ann kam Breitscheid mit seiner Frau, scheußlich, ich hatte viel Wein getrunken, konnte Breitscheid nicht vertragen, er mich nicht, dumme Sache, widerlich dieser unsichere Kerl.“ Der Vorsitzende der SPD-Reichstagsfraktion Breitscheid lehnte den Vorschlag des Gewerkschaftsführers Theodor Leipart zur Zusammenarbeit mit dem ,Reaktionär‘ Schleicher ab. S. Friedrich-Karl von Plehwe, Reichskanzler Kurt von Schleicher. Weimars letzte Chance gegen Hitler, Esslingen 1983, S. 259. Entlastend Peter Pistorius, Rudolf Breitscheid 1874 – 1944. Ein biographischer Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte, Köln 1968, S. 236, 305 f. u. 336 f. Nach Heinrich August Winkler, Weimar 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 42005, S. 578, lag Breitscheids Widerwille an den Staatsnotstandsplänen Schleichers. [6] Siehe oben Kapitel 11. „Wenn Schröder Papen, dem Politiker ohne Amt und Auftrag, ein Gespräch mit Hitler nahelegte, das der ,Verständigung mit den Nationalsozialisten‘ [Zitat aus Papens Memoiren] den Weg bereiten sollte, dann konnte dies nur einen Sinn haben: jenseits von Schleicher eine neue Basis für eine Einbeziehung der NSDAP zu gewinnen. Dem ent-
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spricht auch die Tatsache, daß Papen Schleicher von seiner Vereinbarung nicht die geringste Mitteilung machte, Weihnachten auf seinem Gut im Saargebiet verbrachte und, als er am 28. Dezember auf Schröders telefonische Anfrage hin ein Gespräch mit Hitler in Schröders Kölner Wohnung vereinbarte, dies ebenso geheimhielt wie es verständlicherweise die Gesprächspartner taten. So kam es am 4. Januar zu jenem Treffen in Köln, das recht eigentlich zur Geburtsstunde des ,Dritten Reiches‘ geworden ist und dann nachträglich – in einem Akt ausgleichender Gerechtigkeit – Papen ,mehr Ungelegenheiten bereitet hat als sonst irgend etwas in meinem Leben‘.“ Bracher, Weimarer Republik, S. 690 f. S. a. Axel Kuhn, Die Unterredung zwischen Hitler und Papen im Hause des Barons v. Schröder. Eine methodisch-systematische Quellenanalyse, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 24 (1973), S. 709 – 722. [7] Ohne Zitat George Schwab, The Challenge of the Exception. An Introduction to the Political Ideas of Carl Schmitt between 1921 and 1936, Berlin 1970, S. 97. Zur Freundschaft mit Schwab s. die Briefwechsel mit Mohler und Sander, den umfangreichen Briefwechsel mit Schwab im Nachlass Carl Schmitt und Ernst Hüsmerts Erinnerung an Schwabs Besuche in: Carl Schmitt in Plettenberg, S. 54. Zuletzt zog Schmitt jene ,Stelle‘ aus ,Legalität und Legitimität‘ in seinem 1978 in der Zeitschrift ,Der Staat‘ ersterschienenen Aufsatz: Die legale Weltrevolution, S. 922, heran: „Ich habe versucht, die Problematik von Verfassung, verfassungsänderndem Gesetz und einfachem, ordentlichen Gesetz für die Auslegung der Weimarer Verfassung zu entwickeln. In deren damaliger kritischer Situation entstand die Schrift ,Legalität und Legitimität‘ von 1932. Dabei habe ich es für verfassungswidrig erklärt, in der chaotischen Situation des Herbstes und Winters 1932 / 33 einen Nationalsozialisten oder einen Kommunisten zum Reichskanzler zu ernennen und ihm die politischen Prämien auf den legalen Machtbesitz (wie z. B. die Befugnisse des Art. 48) auszuliefern. Die entscheidende Stelle (S. 61) lautet: ,Ich bin mit Hauriou der Meinung, daß jede Verfassung solche grundlegenden ,Prinzipien‘ kennt, daß sie zum grundsätzlich unveränderlichen ,Verfassungssystem‘ gehören, wie es Carl Bilfinger genannt hat, und daß es nicht der Sinn der Verfassungsbestimmungen über die Verfassungsrevision ist, ein Verfahren zur Beseitigung des Ordnungssystems zu eröffnen, das durch die Verfassung konstituiert werden sollte. Wenn eine Verfassung die Möglichkeit von Verfassungsrevisionen vorsieht, so will sie damit nicht etwa eine legale Methode zur Beseitigung ihrer eigenen Legalität, noch weniger das legitime Mittel zur Zerstörung ihrer Legitimität liefern.‘“ [8] „Unsere Nutzanwendung: Wer dem Nationalsozialismus am 31. Juli die Mehrheit verschafft, obwohl er nicht Nationalsozialist ist und in dieser Partei nur das kleinere Übel sieht, der handelt töricht. Er gibt dieser weltanschaulich und politisch noch gar nicht reifen Bewegung die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, das Staatskirchentum einzuführen, die Gewerkschaften aufzulösen usw. Er liefert Deutschland dieser Gruppe völlig aus. Deshalb: es war bisher unter Umständen gut, die Widerstandsbewegung Hitlers zu fördern, am 31. Juli ist es überaus gefährlich, weil die 51 Prozent der NSDAP eine ,politische Prämie‘ von unabsehbarer Tragweite geben.“ Carl Schmitt, Der Mißbrauch der Legalität, in: Tägliche Rundschau v. 19. 07. 1932, zit. nach: Briefwechsel Schmitt / Sander, S. 460. Zu Schmitts Bemerkung gegenüber Groh und Figge merkt Seiberth, Anwalt des Reiches, S. 94, wohlwollend an: „Man mag dem entnehmen, dass die Adnote in Übereinstimmung mit Schmitt erstellt worden war.“ Übelwollend Dirk Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001, S. 46. Die ,Tägliche Rundschau‘ war im Juli 1932 noch im Besitz des ,ChristlichSozialen Volksdienstes‘ (CSVD), befand sich aber schon in schleichender Übernahme durch den ,Tat‘-Kreis um Hans Zehrer. Am 1. September 1932 gelangte sie in den Besitz des Kreises und wurde zum offiziösen Organ Kurt von Schleichers. S. Joachim Pöhls, Tägliche
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Rundschau (1881 – 1933), in: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach 1972, S. 349 – 363, hier: S. 360 f. [9] „Die herrschende Partei verfügt über das ganze Übergewicht, das der bloße Besitz der legalen Machtmittel in einem von dieser Art Legalität beherrschten Staatswesen mit sich bringt. Die Mehrheit ist jetzt plötzlich nicht mehr Partei; sie ist der Staat selbst. Die Normierungen, in denen der Gesetzgebungsstaat sich und seine Gesetzesanwendung bindet, mögen noch so eng und begrenzt sein, beim Staat schlägt, wie Otto Mayer einmal sagt, ,das dahinter stehende Unbegrenzte immer durch‘. Infolgedessen bewirkt, über jede Normativität hinaus, der bloße Besitz der staatlichen Macht einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutretenden zusätzlichen politischen Mehrwert, eine über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit. Diese politische Prämie ist in ruhigen und normalen Zeiten relativ berechenbar, in abnormer Situation ganz unberechenbar und unabsehbar.“ Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München / Leipzig 1932, S. 35. Zum politischen Hintergrund des ökonomischen Mehrwerts im Denken Schmitts s. Anm. 5a des Herausgebers Günter Maschke in Schmitt, Die legale Weltrevolution, S. 940. Zu den ordentlichen, künstlichen und außerordentlichen Prämien s. Schmitts Glosse zu ,Legalität und Legitimität‘ in den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen, S. 348 f. S. a. den vorhergehenden Aufsatz von Otto Kirchheimer, Legalität und Legitimität, in: Die Gesellschaft 9 (1932), S. 8 – 26, hier: S. 25: „Die Chance jeder legalen Herrschaftsordnung besteht in der Möglichkeit, die Dialektik des geschichtlichen Geschehens sich reibungsloser einzuordnen, als eine legitime Herrschaftsordnung es vermag; denn dieser ist nur Dauer beschieden, solange es ihr gelingt, den politischen und sozialen Status einer bestimmten historischen Zeitspanne mit dem Anschein ewiger Gültigkeit zu umkleiden.“ Zur Situation s. Eike Hennig, Carl Schmitts „Legalität und Legitimität“: Die politische Dezision im Jahr 1932, in: Hans-Georg Flickinger (Hg.), Die Autonomie des Politischen, Weinheim 1990, S. 129 – 142. Schmitts Werk mit dem Gegensatzpaar aufschlüsselnd: Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964; Berlin 1992; Berlin 1995; Berlin 2002. [10] „Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt.“ Art. 25 Abs. 1 und 2 WRV, zit. nach: Die deutschen Verfassungen, S. 75 f. [11] „Zu dem unantastbaren Organisationsminimum des Art. 48 gehört endlich neben Reichspräsident und Reichsregierung der Reichstag und zwar ebenfalls so, wie er als verfassungsmäßiges Institut nach der Verfassung von 1919 besteht. Auch hier kann die politische Macht des Reichspräsidenten sehr groß werden, wenn sich die politischen Möglichkeiten des Art. 48 mit anderen verfassungsmäßigen Möglichkeiten verbinden. Das ist in einer für einen republikanischen Staatspräsidenten ganz ungewöhnlichen Weise der Fall, sobald der Reichstag nach Art. 25 R.V. aufgelöst ist. [ . . . ] Aber der Reichspräsident dürfte nicht unter Berufung auf Art. 48 verhindern, daß der neue Reichstag in der verfassungsmäßigen Frist gewählt wird und sich versammelt. Er darf die in Art. 25 Abs. 2 für Neuwahlen festgesetzte Frist von 60 Tagen nicht aufheben oder verlängern, er darf nicht im Verordnungswege in das verfassungsmäßige Wahlrecht eingreifen und seine Ausübung nicht durch Maßnahmen verhindern oder die in Art. 125 R.V. garantierte Wahlfreiheit beseitigen.“ Carl Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, in: Der deutsche Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten. Referate von Gerhard Anschütz, Karl Bilfinger, Carl Schmitt und Erwin Jacobi. Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Jena am 14. und 15. April 1924, Berlin / Leipzig 1924, S. 63 – 103, hier: S. 94 f., wieder abgedruckt in: ders., Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum
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proletarischen Klassenkampf. Zweite Auflage, mit einem Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung, München / Leipzig 1928, S. 213 – 259. [12] In seinem Referat von 1924 unterscheidet Carl Schmitt die Diktatur des Reichspräsidenten, S. 83, vom Staatsnotrecht: „Das Staatsnotrecht beruht darauf, daß außerhalb oder entgegen Verfassungsbestimmungen im extremen, unvorhergesehenen Fall irgendein staatliches Organ, welches die Kraft zum Handeln hat, vorgeht, um die Existenz des Staates zu retten und das nach Lage der Sache Erforderliche zu tun. [ . . . ] Zur Unterscheidung eines Staatsnotrechts von der Regelung des Art. 48 Abs. 2 sei nur hervorgehoben, daß diese Bestimmung schon deshalb kein Staatsnotrecht enthält, weil sie verfassungsmäßig als Zuständigkeit vorgesehen ist. Es wäre denkbar, daß in einem extremen Fall selbständig neben der Befugnis aus Art. 48 ein Staatsnotrecht geltend gemacht würde und je nach Lage der Sache die Reichsregierung für sich allein und nicht der Reichspräsident als Träger dieses Notrechts aufstände, ja, daß es sogar, etwa bei feindlicher Besetzung des größten Teils des Reiches oder angesichts eines Staatsstreiches, um die Verfassung zu retten, gegen einen Reichspräsidenten ausgeübt würde, vielleicht weil dieser sich weigert, den Ausnahmezustand zu verhängen.“ Schmitt entwickelt seine Lehre der Diktatur also im Gegensatz zu einem überverfassungsmäßigen Notrecht, wie es Johannes Heckel, Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand, in: Archiv des öffentlichen Rechts 22 (1932), S. 257 – 338, unter dem Begriff des ,Verfassungsnotstandes‘ – wiederum in Abgrenzung zu Artikel 48 WRV – behaupten wird. S. die Kritik von Lothar Veeck [d. i. E. R. Huber], Verfassungsnotstand, in: Deutsches Volkstum 14 (1932), S. 984: „Nur wenn sich erweisen sollte, daß diese Entscheidungsunfähigkeit des Volkes, die heute nur als akute Störung erscheint, eine dauernde Lähmung bedeutet, erhebt sich jenseits der juristischen Ueberlegungen, die die Grenzen des Handelns im Ausnahmezustand und im Verfassungsnotstand betreffen, die Frage nach der geschichtlichen Rechtfertigung eines Handelns, das den Boden der Verfassung verläßt, um das Reich zu erhalten.“ S. a. Ernst Rudolf Huber, Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Staatstheorie der Weimarer Zeit, in: Hans Schneider (Hg.), Im Dienst an Recht und Staat. Festschrift für Werner Weber, Berlin 1974, S. 31 – 52, hier: S. 39 ff. (wieder abgedruckt in: Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1975, S. 193 – 214); Dieter Grimm, Verfassungserfüllung – Verfassungsbewahrung – Verfassungsauflösung. Positionen der Staatsrechtslehre in der Staatskrise der Weimarer Republik, in: Winkler, Staatskrise 1930 – 1933, S. 183 – 199, hier: S. 190 ff.; Carl Schmitt, Verfassungsstaat und Staatsnotstand. Rundfunkvortrag Deutsche Welle. 4. November 1931, in: Schmittiana 8 (2002), S. 11 – 15, hier: S. 15, äußerte sich bereits unter Reichskanzler Brüning zum Thema: „Zwischen einer formalistisch verstandenen Legalität und einer der Gesinnung des Staatsstreiches entspringenden Illegalität gibt es ein sehr weites Gebiet richtiger Auslegung der Verfassung, das ihren Sinn und Geist auch gegenüber außerordentlichen Notlagen zur Geltung bringt.“ S. a. die Glosse zu ,Legalität und Legitimität‘ in Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 350: „An dem Gerede von Staatsnotstand habe ich mich nie beteiligt, weil ich wußte, daß damit die Legalität einer Verfassung nur ihren Feinden ausgeliefert wird und weil ich der Meinung war, daß die legalen Möglichkeiten, verbunden mit den Prämien auf dem legalen Machtbesitz, noch keineswegs erschöpft waren.“ [13] Dabei ist nach Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 158 f., nur einer „Hüter der Verfassung, nämlich der Reichspräsident. Sowohl das relativ Statische und Permanente (Wahl auf 7 Jahre, erschwerte Abberufungsmöglichkeit, Unabhängigkeit von den wechselnden Parlamentsmehrheiten) wie auch die Art seiner Befugnisse (die Zuständigkeiten nach Art. 45 f. RV., Reichstagsauflösung nach Art. 25 und Herbeiführung eines Volksentscheids nach Art. 73 RV., Gesetzes-Ausfertigung und -Verkündung nach Art. 70, Reichs-
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exekution und Schutz der Verfassung nach Art. 48) haben den Sinn, eine wegen ihres unmittelbaren Zusammenhanges mit dem staatlichen Ganzen parteipolitisch neutrale Stelle zu schaffen, die als solche der berufene Wahrer und Hüter des verfassungsmäßigen Zustandes und des verfassungsmäßigen Funktionierens der obersten Reichsinstanzen und für den Notfall mit wirksamen Befugnissen zu einem aktiven Schutz der Verfassung ausgerüstet ist. Ausdrücklich heißt es in dem Eid, den der Reichspräsident nach Art. 42 zu schwören hat, daß der Reichspräsident ,die Verfassung wahren‘ werde.“ S. dazu: Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt, Stuttgart 1957, S. 175 ff.; Jürgen Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts, Köln / Opladen 1958, S. 66 ff. Nach Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1149 ff., kündigte Hitler schon im ersten November-Gespräch mit Reichspräsident Hindenburg vom 19. November an, er wolle „von den für die Mehrheitsbildung erforderlichen Parteien ein zur Durchführung des gemeinsamen Programms geeignetes Ermächtigungsgesetz verlangen“, wurde aber von Hindenburg abgewiesen, der ihm kein parlamentarisches Mehrheitskabinett zugestehen wollte. S. a. Schmitts Äußerungen gegenüber Altmann und Litten, Parlamentarismus: „Carl Schmitt: Dass dieser Mann damals schon sagte: ,Ermächtigungsgesetz‘! Legalisierung ist das, nicht wahr. Das eine war also die Verfassungslegalität. Die Verfassungslegalität spitzte sich damals auf die Frage zu: Es musste aufgelöst werden, es ging nicht mehr so weiter. Der Reichstag hatte eine Mehrheit aus Kommunisten und Nationalsozialisten, die konnten alles sabotieren, haben die erstaunlichsten gemeinsamen Mehrheitsbeschlüsse gefasst usw. Kurzum, es musste aufgelöst werden. Das hieß praktisch, den Reichstag auflösen, ohne einen Termin für die Neuwahl zu bestimmen. Und das verlangte Hugenberg! Und das verlangten alle Konservativen! Und mit dieser Forderung haben sie den armen alten Hindenburg geradezu genötigt, Hitler zu ernennen, weil der plötzlich als der Hüter der Verfassung erschien.“ [14] Dazu die wohl von Otto Meißner angefertigte ,Niederschrift aus dem Büro des Reichspräsidenten über den Empfang des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten am 23. Januar 1933‘: „Am Montag, dem 23. Januar, vormittags 11.30 Uhr, empfing der Herr Reichspräsident auf Wunsch den Reichskanzler von Schleicher. Der Reichskanzler berichtete dem Herrn Reichspräsidenten über die politische Lage; der Reichstag werde voraussichtlich am 31. ds. Mts. zusammentreten. Die Reichsregierung müsse von diesem Reichstag ein Mißtrauensvotum und Aufhebung der Notverordnung erwarten. Er schlage deshalb vor, den Reichstag aufzulösen. Da aber eine Neuwahl des Reichstags die Lage nicht verändern würde, somit ein Notzustand des Staates geschaffen würde, bliebe wohl nicht anderes übrig, als die Neuwahl auf einige Monate hinauszuschieben. Der Reichspräsident erwiderte hierauf, daß er sich die Frage einer Auflösung des Reichstags noch überlegen wolle, dagegen die Hinausschiebung der Wahl über den in der Verfassung vorgesehenen Termin zurzeit nicht verantworten könne. Ein solcher Schritt würde ihm von allen Seiten als Verfassungsbruch ausgelegt werden; ehe man sich zu einem solchen Schritt entschließt, müsse durch Befragen der Parteiführer festgestellt werden, daß diese den Staatsnotstand anerkennen und den Vorwurf eines Verfassungsbruches nicht erheben würden.“ Karl Dietrich Erdmann (Hg.), Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett von Schleicher. 3. Dezember 1932 bis 30. Januar 1933, bearb. v. Anton Golecki, Boppard 1986, S. 284 f. S. a. Strenge, Schleicher, S. 212 ff. Zu Schleichers Bitte um eine Auflösungsorder vom 28. Dezember s. Winkler, Weimar 1918 – 1933, S. 584 f., bes. S. 585 zur Absage Hindenburgs: „Ich erkenne dankbar an, daß Sie versucht haben, die Nationalsozialisten für sich zu gewinnen und eine Reichstagsmehrheit zu schaffen. Es ist leider nicht gelungen, und es müssen daher nun andere Möglichkeiten gesucht werden.“
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[15] Am 4. Dezember 1932, einen Tag nach Schleichers Ernennung zum Reichskanzler, entwarf Carl Schmitt mit Horst Michael im Auftrag von Eugen Ott eine Proklamation des Reichspräsidenten, um den Reichstag an der Auflösung von Notverordnungen und am Misstrauensvotum zu hindern: „Ich kann es vor dem deutschen Volke nicht verantworten, dass die Ordnung seines öffentlichen Lebens noch länger dem Streit der Parteien schutzlos ausgeliefert bleibt. Durch meinen Eid bin ich verpflichtet, die Verfassung des Reiches zu wahren. Ich werde zu ihrem Schutze alle erforderlichen Massnahmen treffen. Eine nochmalige Auflösung des Reichstages mit Neuwahlen würde eine weitere Zerrüttung des inneren Friedens und schwere Störungen unseres Wirtschaftslebens nach sich ziehen. Daher sehe ich, solange es irgend möglich ist, davon ab. Der Reichstag kann seinen Willen, notwendige Massnahmen nicht zu verhindern und eine handlungsfähige Regierung nicht zu beseitigen, durch einen Vertagungsbeschluss bekunden, der es ermöglicht, die schweren Monate des kommenden Winters ohne gewaltsame Erschütterungen zu überwinden. Einen Reichstag aber, der seinen verfassungsmässigen Pflichten nicht nachkommt und ausserdem noch einer Reichsregierung, die bemüht ist, an seiner Stelle die notwendige Arbeit zu tun, in den Rücken fallen will, betrachte ich nicht mehr als eine Volksvertretung im Sinne der Reichsverfassung.“ Zit. nach Pyta, Konstitutionelle Demokratie, S. 432 f. Diese Proklamation folgt hinsichtlich Art. 54 WRV der Verfassungslehre Carl Schmitts, S. 345, derzufolge der obstruktive Misstrauensbeschluss einer negativen Reichstagsmehrheit die Reichsregierung nicht zum Rücktritt zwingt. Von Verfassungsnotstand ist hier also nicht die Rede, zumal Schmitt nicht den Reichspräsidenten als Träger des Notrechts betrachtete. Lutz Berthold, Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1999, mit einer Chronik und weiteren Dokumenten, zieht den Schluss (S. 66): „Daß Schleicher, so weit die Quellen hierüber Auskunft geben, anscheinend erst gar nicht den Versuch machte, Hindenburg von der Möglichkeit des von Schmitt vorgeschlagenen Alternativplans in Kenntnis zu setzen und zu überzeugen, gehört – quod erat demonstrandum – zu den verpaßten Chancen der Weimarer Republik.“ Dass dieser auch in der Wehrmachtsabteilung bevorzugte Weg abgeschnitten wurde, ist nach Pyta, Konstitutionelle Demokratie, S. 431, „in erster Linie dem Sträuben des Reichspräsidenten“ gegen eine Umbildung der Verfassung hin zur Präsidialdemokratie geschuldet. [16] In anderer Reihenfolge in der Erinnerung von Huber, Reichskrise, S. 47 f. (dort mit Hervorhebungen): „Nach dem Antritt der Kanzlerschaft suchte Schleicher zunächst mit seinem ,Querfront-Plan‘ einen anderen Weg als den des übergesetzlichen Notstands einzuschlagen. An diesen ersten Dezembertagen 1932 sprach ich mit Schmitt unter vier Augen gerade auch über das Querfront-Konzept des letzten Kanzlers der Republik. Auf Grund einer Ermächtigung durch den Schleicher nahestehenden preußischen Pressechef Erich Marcks, zu dem ich damals aus einem bestimmten Anlaß geladen war, nahm ich selber in einem bescheidenen Rahmen an diesem Versuch eines Brückenschlags über die verhärteten Fronten hinweg teil, so durch Begegnungen, die ich mit Adolf Reichwein und anderen Angehörigen der jugendbewegten Linken hatte. Schmitt dagegen äußerte sich in unseren Gesprächen eher zurückhaltend über Schleichers Vorhaben, das unter anderem die höchst schwierige Verständigung mit der Oppositionsgruppe Gregor Strassers, mit den Verbänden der bürgerlichen Rechten und Mitte wie mit den Christlichen und den Freien Gewerkschaften sowie mit dem ,Stahlhelm‘ und dem ,Reichsbanner‘ vorausgesetzt hätte. Nachdem Schleichers Plan gescheitert war, blieb auch dem letzten Kanzler der Republik Anfang Januar 1933 unter dem wachsenden Druck des November-Reichstags nichts übrig als der Rückgriff auf den Septemberplan: Erneute Auflösung des arbeitsunfähigen, nur in der Negation des Bestehenden einigen Reichstags; Verschiebung der Neuwahl auf unbestimmte Zeit; Regieren mittels des der parlamentarischen Kontrolle entrückten Notverordnungssystems; Überführung der Polizeigewalt
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der Länder unter die Oberhoheit des Reichs.“ S. a. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1163. Nach Vogelsang, Schleicher, S. 90, hatte sich Schleicher beim Antritt „in aller Form die Zusage“ geben lassen, als ,ultima ratio‘ die Vollmacht zur Auflösung des Reichstags „über die gesetzliche Frist hinaus“ zu erhalten. Dagegen sieht Pyta, Hindenburg, S. 769 f., Schleicher in schwacher Position zur Kanzlerschaft antreten. [17] „Hitlers Mißtrauen war durch die Verzögerung der Verhandlungen seit dem 22. Januar und durch den unveränderten Widerstand Hindenburgs neu geweckt worden. Scheinbar vergeblich bemühten sich Göring, Frick und Ribbentrop am 26. und 27. Januar, durch forcierte Verhandlungen mit den Deutschnationalen, in die auch Prinz Oskar v. Preußen eingeschaltet wurde, die Kluft zwischen Hitler und Hindenburg taktisch zu überbrücken. Hitler selbst lehnte weiterhin in Erinnerung an den 13. August 1932 ein Zusammentreffen mit Hindenburg ab, erklärte sich lediglich zu einem weiteren Gespräch mit Papen bereit und überließ im wesentlichen Göring die Verhandlungsführung. Als er dann erfuhr, daß von Hindenburg wie von deutschnationaler Seite seine Kanzlerschaft noch immer angefochten wurde, sagte er auch das Treffen mit Papen ab und drohte mit einer sofortigen Abreise: eine Panne in vorletzter Minute, die nur durch die energischen Einwände Görings und Ribbentrops verhindert werden konnte. So mußte sich am Abend des 27. Januar Ribbentrop allein um Papen bemühen, der eilends versicherte, ,daß die Hugenbergsche Sache nur eine untergeordnete Rolle spiele‘ und ,er sich jetzt voll und ganz zur Kanzlerschaft Hitlers bekenne‘. Die Entscheidung war damit praktisch gefallen: Papen hatte sich Hindenburgs Wunsch entzogen und jene Position aufgegeben, die am 13. August zu Hitlers Niederlage geführt hatte – die Chance nämlich, mit Hindenburg im letzten Augenblick doch noch gegen Hitler Front zu machen.“ Bracher, Weimarer Republik, S. 716 f. [18] Schleicher sprach sich in der Ministerbesprechung am 16. Januar 1933 für eine Auflösung des Reichstags unter Verschiebung von Neuwahlen aus, wurde aber am 23. Januar vom Reichspräsidenten abgewiesen (s. o.). Nach Einschätzung von Kolb / Pyta, Staatsnotstandsplanung, S. 177 ff., Pyta, Verfassungsumbau, S. 194 f., sah Schleicher nach dem Scheitern der Querfront nur noch die Möglichkeit des Staatsnotstandes, wohingegen Hindenburg eine Regierung der nationalen Einigung dem Ausbau des Präsidialsystems vorzog. Franz von Papen konnte demnach Oskar von Hindenburg und Otto Meißner, schließlich Paul von Hindenburg am 22. / 23. Januar für eine Kanzlerschaft Adolf Hitlers gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt war Carl Schmitt wohl nur noch durch Horst Michael in die ,Staatsnotstandsplanung‘ einbezogen. Dessen Vorlage „Wie bewahrt man eine arbeitsfähige Präsidialregierung vor der Obstruktion eines arbeitsunwilligen Reichstages mit dem Ziel, ,die Verfassung zu wahren‘ bezw. zu retten“ erhielt er mit Anlagen am 20. Januar. Darin spricht Michael eine Empfehlung im Sinne Schmitts aus: „Es gibt zwei Wege, wenn man Auflösung und Neuwahlen vermeiden will I. den schweren Weg, mit einem Maximum an Verfassungsverletzung, entweder Zwangsvertagung = Bruch mit Art. 24 [Selbstversammlungsrecht des Reichstags] oder Auflösung mit hinausgeschobenen Neuwahlen = Bruch mit Art. 25 Abs. 2 [s. o.]. II. der mildere Weg, der ein Minimum an Verfassungsverletzung darstellt: die authentische Auslegung des Art. 54 in der Richtung der naturgegebenen Entwicklung (Mißtrauensvotum gilt nur von seiten einer Mehrheit, die in der Lage ist, eine positive Vertrauensgrundlage herzustellen).“ Zit. nach Pyta, Konstitutionelle Demokratie, S. 433. [19] „Der Hindenburg-Mythos ist zu Ende. Scheußlicher Zustand. Schleicher tritt zurück, Papen oder Hitler kommen. Der alte Herr ist verrückt geworden. Mac Mahon.“ Tagebuchaufzeichnung vom 27. Januar 1933. Dazu die Erläuterung von Berthold, Staatsnotstandsplan, S. 73 f.: „Als Marschall Mac Mahon, von 1873 bis 1879 Präsident der französischen Repu-
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blik, die Kammer auflösen wollte, scheiterte er am Widerstand der Parteien. Die Folge dieses Vorgangs war, daß sowohl Mac Mahon wie auch seine Nachfolger von ihrem verfassungsmäßigen Recht der Parlamentsauflösung keinen Gebrauch mehr machten.“ Pyta, Verfassungsumbau, S. 197, macht darauf aufmerksam, dass schon Horst Michael in einer Denkschrift vom Januar Mac Mahon „als Exempel für einen fehlgeschlagenen Verfassungswandel“ herangezogen hatte. Im Tagebuch war Carl Schmitt bereits am 7. Dezember „völlig fertig mit Hindenburg“, womöglich weil sein ,Entwurf einer Proklamation des Reichspräsidenten‘ zurückgewiesen worden war. Vgl. Pyta / Seiberth, Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spiegel des Tagebuchs von Carl Schmitt – 2. Teil, in: Der Staat 38, 4 (1999), S. 594 – 610, hier: S. 608. [20] „Wie sehr sich Papen damit [s. Anm. 17] in Widerspruch zu Hindenburgs Intentionen setzte, beweist die Tatsache, daß noch an diesem Tage [27. 01. 33] Hammerstein, der aus der Sorge des Augenblicks heraus entgegen dem Brauch Bussche-Ippenburg bei seinem routinemäßigen Vortrag begleitete und Hindenburg seine Bedenken gegen ein Kabinett Hitler äußerte, die ungehaltene Antwort wurde: ,Sie werden mir doch nicht zutrauen, meine Herren, daß ich diesen österreichischen Gefreiten zum Reichskanzler berufe‘. [Zitat eines Artikels vom ehemaligen Chef des Heerespersonalamts Erich von dem Bussche-Ippenburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 05. 02. 1952] Noch also stand, wie auch Schleicher selbst bis zum 30. Januar glaubte, die Idee eines Kabinetts Papen an erster Stelle. Die jetzt folgende Schwenkung Hindenburgs ist im einzelnen schwer zu analysieren.“ Bracher, Weimarer Republik, S. 717 f. [21] „Als sich am 30. Januar 1933 zur festgesetzten Stunde die Mitglieder des neuen Kabinetts in meinem Arbeitszimmer versammelt hatten und ich sie beim Reichspräsidenten anmelden wollte, bat Hugenberg um einen kurzen Aufschub, da er vorher mit Hitler eine wichtige Frage klären müsse. Er verhandelte dann in einer Fensternische meines Arbeitszimmers mit Hitler und von Papen über die Frage der Reichstags-Auflösung und -Neuwahl, die er als überflüssig bezeichnete, nachdem vor zwei Monaten das Parlament neugewählt worden sei; die neue Regierung werde auch in diesem Reichstag eine Mehrheit finden. Erst nachdem Hitler ihm feierlich versichert hatte, daß er ohne Rücksicht auf den Ausgang der Neuwahl an der gegenwärtigen Zusammensetzung des Kabinetts festhalten werde und überhaupt nicht die Absicht hätte, sich von den derzeitigen Regierungsmitgliedern jemals wieder zu trennen, ließ sich Hugenberg von seiner anfänglich geäußerten Absicht, seine und seiner Partei Beteiligung an der Regierungsbildung von der Nichtauflösung des Reichstags abhängig zu machen, abbringen und erklärte, die Entscheidung über eine Auflösung des Reichstags dem Reichspräsidenten zu überlassen, dem sie nach der Reichsverfassung zustand.“ Otto Meißner, Staatssekretär unter Ebert – Hindenburg – Hitler, Hamburg 1950, S. 269 f. [22] „Um Hitlers Machtergreifung in letzter Minute verhindern zu helfen, hätte die Partei trotz Brünings Sturz das Präsidialsystem bis hin zum Verfassungsbruch unterstützen müssen. Schon eine wohlwollende Tolerierung dieser Pläne durch die Parteien vom Zentrum bis zur DNVP hätte dazu beigetragen, sowohl Hindenburgs Skrupel als auch die Befürchtungen der Reichswehr, im Konfliktsfall vom ganzen Volk isoliert zu sein, zu vermindern. Die Chancen, den Verfassungsbruch zu wagen, wären ebenso gestiegen wie die, ihn gegen Hitler durchzuhalten.“ Detlef Junker, Die Deutsche Zentrumspartei und Hitler 1932 / 33. Ein Beitrag zur Problematik des politischen Katholizismus in Deutschland, Stuttgart 1969, S. 71. [23] „Auf Grund einer Andeutung Ihrerseits gelegentlich unserer letzten Besprechung habe ich die von verschiedenen Seiten ins Feld geführten juristischen Konstruktionen zugunsten einer sog. notstandsrechtlichen Verschiebung des Wahltermins einer eingehenden Prüfung
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unterworfen und möchte nicht verfehlen, Ihnen von dem Ergebnis dieser Prüfung in aller Offenheit Kenntnis zu geben. So wie ich damals schon mit Nachdruck die das gesamte Staatsrecht relativierenden Grundtendenzen von Carl Schmitt und seinen Gefolgsmännern aussprach, so kann ich auch in diesem besonderen Falle nur eindringlichst vor dem Beschreiten des Weges warnen, dessen Rechtfertigung juristisch unmöglich ist. Die Hinausdatierung der Wahl wäre ein nicht zu leugnender Verfassungsbruch, mit all den Konsequenzen rechtlicher und politischer Natur, die sich daraus ergeben müßten. Wer die Geschichte der innenpolitischen Entwicklung seit dem Sturz des Kabinetts Brüning rückschauend prüft und sachlich wertet, wird zu dem Ergebnis kommen müssen, daß von einem echten Staatsnotstand gar nicht geredet werden kann, sondern höchstens von dem Notstand eines Regierungssystems, das durch die Begehung eigener und durch die Duldung oder gar Ermunterung fremder Fehler in die heutige schwierige Lage in steigendem Tempo hineingeglitten ist. Aus diesem Engpaß führt nicht der Verfassungsbruch hinaus, sondern nur die ernsthafte und planvolle Rückkehr zu Methoden, welche die in der Verfassung ruhenden Möglichkeiten zur Herbeiführung tragfähiger Regierungskombinationen zu sinngemäßer Auswirkung bringen.“ Der Vorsitzende der Deutschen Zentrumspartei Kaas an den Reichskanzler. 26. Januar 1933, zit. nach: Rudolf Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei, in: ders. / Erich Matthias (Hg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, S. 428 f. S. a. auch die Gegenüberstellung der „Bedingungen des Zentrums für die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz und Hitlers Antwort in seiner Regierungserklärung“, die Morsey auf S. 429 ff. vornimmt. An Mohler schreibt Schmitt am 13. Oktober 1960: „Toll ist das ,Ende der Parteien 1933‘ von Matthias-Morsey. Da lösen sich kostbare, unter dem Zwang zum Alibi produzierte Legenden der Versager von 1933 in schlechten Dunst auf. Der Prälat Kaas bleibt auf der Strecke.“ Mohler, Briefwechsel, S. 290. S. a. Heinrich Stemeseder, Der politische Mythus des Antichristen. Eine prinzipielle Untersuchung zum Widerstandsrecht und Carl Schmitt, Berlin 1997, S. 78. Ernst Rudolf Huber (Carl Schmitt in der Reichskrise, S. 49 f.) bringt den Brief Kaas’ hingegen mit Notstandsplanungen Schmitts in Verbindung: „Der von Kaas am 29. Januar in der ,Germania‘ und in der ,Kölnischen Volkszeitung‘ veröffentlichte Brief hat Schmitts damalige wahre Absicht, den Übergang der Staatsmacht an den Verfassungsfeind mit den äußersten verfügbaren Mitteln zu verhindern, für jedermann, der die Umstände kennt und auch Verschleiertes zu entziffern versteht, deutlich bekundet.“ [24] „Dr. Brüning warnt, die Frage eines möglichen Verfassungsbruchs zu diskutieren innerhalb der Partei. Die Zentrumspartei habe im Interesse ihrer Erhaltung die Aufgabe, die Grundlagen des Rechts- und Verfassungsstaates zu verteidigen. Dr. Kaas verliest ein von ihm an den Reichskanzler gerichtetes Schreiben, in dem er auf die Gefahren einer notstandsrechtlichen Verschiebung des Wahltermins hinweist. Auf Anregung Dr. Brünings, der die Fraktion zustimmt, wird dem Reichspräsidenten eine Abschrift dieses Schreibens zugestellt.“ Anmerkung am Ende des Satzes: „Das geschah noch am gleichen Tage.“ Rudolf Morsey (Bearb.), Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstands der Deutschen Zentrumspartei 1926 – 1933, Mainz 1969, S. 609 (dort mit Hervorhebungen). [25] Noch deutlicher im TV-Gespräch mit Altmann / Litten, Parlamentarismus: „Rüdiger Altmann: Aber die Entscheidung, Herr Professor, fiel doch wohl durch den berühmten, berüchtigten Brief des Prälaten Kaas. Carl Schmitt: Ja, da stand drin: ,Wir müssen zu verfassungsmäßigen parlamentarischen Zuständen zurückkehren.‘ Nach parlamentarischen Regeln muss die stärkste Partei den Kanzler bilden. Abweichungen davon sind verfassungswidrig. Und nun wusste man, was das bedeutete. Dieser Brief ist am 26. Januar in der Sitzung der Zentrumsfraktion von Kaas verlesen worden und (wie sich jetzt durch die Publikation der Protokolle herausstellt) noch am gleichen Tage von Brüning eben dem Reichskanzler zuge-
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stellt worden, und Hindenburg zugestellt worden. Das bedeutet praktisch, da wusste der Alte: ,Hallo, Kaas ist auch der Meinung, das ist verfassungsrechtlich (man wollte ja wieder parlamentarisch werden, das ist ja die Tragik der ganzen Sache), dass eine parlamentarische Regierung im verfassungsrechtlich korrekten Sinne, dass die nur durch Ernennung Hitlers möglich ist‘.“ Im Streit um die Deutung von Kaas’ Brief stoßen nach wie vor ein normativer und ein situativer Ansatz aufeinander: „Er wollte auf verfassungsmäßigem Weg zu Neuwahlen kommen und nicht, so hat es Carl Schmitt später suggeriert, die Regierung Hitler anstelle der Regierung Schleicher Neuwahlen durchführen lassen.“ Blasius, Staatsrat, S. 67. „Durch dieses Schreiben sowie einem Schreiben des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun wurde deutlich, daß Zentrum und SPD eventuell einer Präsidentenanklage von KPD und NSDAP das notwendige 2 / 3-Quorum verschaffen würden. Kaas wollte eine Rückkehr zu parlamentarischen Regierungsformen erzwingen, was in der konkreten Situation die Ernennung Hitlers bedeutete.“ Seiberth, Herausforderung, S. 160. [26] Auf den Reichstagsbrand vom 27. / 28. Februar 1933 und somit auf die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar, nach der die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124, 153 WRV außer Kraft gesetzt und die Befugnisse der Landesregierung auf die Reichsregierung umgeleitet wurden, spitzt Carl Schmitt sein Interview mit Rexin / Skriver, Artikel 48, zu: „Malen Sie sich nur mal aus, dass während dieser ganzen Wahlkampfzeit Schleicher die staatliche Macht ausgeübt hätte – einschließlich etwa der Befugnisse des Artikel 48, über Militär und Polizei verfügt hätte, dann wär’ das alles nicht möglich gewesen, was sich Hitler an Terror zu seinen Gunsten in der Wahlkampfzeit vor dem 4. März geleistet hat. Wenn der Reichstag gebrannt hätte und Schleicher wäre Inhaber der vollziehenden Gewalt gewesen am 27. Februar 1933, dann wär’ der Reichstagsbrand das geblieben, was er war, nämlich die Tat eines armen Irren, dieses van der Lubbe“.
Kapitel 14 [27] „Ich fordere die sofortige Beseitigung aller Übelstände.“ Kurt Schwitters, Die Merzbühne, in: Das literarische Werk, Bd. 5: Manifeste und kritische Prosa, Köln 1981, S. 41, von Carl Schmitt wohl verwechselt mit dem ebenfalls 1919 erschienenen Manifest ,Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland?‘. [28] Helmut Quaritsch, Rezension von ,Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt‘, in: Der Staat 10, 3 (1971), S. 403 – 408, hier: S. 405 f., bespricht dort den Festschriftbeitrag ,Revolution und Utopie – Die Gestaltung der Zukunft im Denken der russischen revolutionären Intelligenz‘ von Peter Scheibert: „Diese Darstellung erschien rechtzeitig; es wurden gerade in westdeutschen Hörsälen die alten Träume vom Leben zum Nulltarif repetiert. Gegenüber der heutigen Schlaraffia-Mentalität wirkt allerdings der von Sch. zitierte Trotzki ungemein sympathisch: ,Der Durchschnittsmensch wird sich zur Statur eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben. Und über diesen Höhen werden neue Gipfel aufsteigen‘ (1923).“ [29] René Descartes spricht in seinen ,Cogitationes Privatae‘ von drei Wundern (Œuvres de Descartes, Bd. 10, Paris 1908, S. 218): „Tria mirabilia fecit Dominus: res ex nihilo, liberum arbitrium, & Hominem Deum.“ Zur Schöpfung aus dem Nichts s. Dieter Groh, Schöpfung im Widerspruch, S. 90; s. a. die Fortsetzung bei: Groh, Göttliche Weltökonomie. Perspektiven der Wissenschaftlichen Revolution vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, Frankfurt 2010, S. 543 mit Bezug auf Descartes. [30] Siehe oben Kapitel 2.
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[31] „Ehrfürchtig betrat ich die Universität; ich dachte sie wäre der Tempel einer höheren Geistigkeit. Aber der Kult, den ich dort sah, war ganz wirr und konnte mich nicht zur Teilnahme bewegen. Seine Priester waren auf eine eigentümliche, widerspruchsvolle Weise Ichbezogen. Sie waren Ich-verpanzert und Ich-entfesselt zugleich. In dem innern Widerspruch ihrer verpanzerten Entfesselung verwandelte sich der Boden, auf dem sie standen und wurde zu einer Bühne, auf der sie sich produzierten. Das ganze Zeitalter war historienhaft und der Tempel erwies sich dementsprechend als ein Bühnenhaus. Es gab hier sehr viele grosse und bedeutende Gelehrte. . . Was ich sah und was mich besonders beeindruckte, waren die gerade in Blüte stehenden Berühmtheiten. . . Der eine war Josef Kohler, ein unermesslich vielseitiger, gelehrter Jurist. Er war der offene und grobe Vertreter des inklusiven Typus, inklusive im Sinne des eigenen Ich. Seine Einfälle entsprangen in großer Fülle, oft konfus, oft grossartig und originell. Aber er konnte nichts denken oder sagen, ohne sich dabei mit sich selbst zu beschäftigen, sich selbst zu erklären, sich selbst darzustellen und in alles was er dachte und sagte sein Ich einzubeschließen. . . Sprach er von dem Asylrecht der Bantu-Neger, so hörte man nur: Ich und das Asylrecht der Bantu-Neger. Er hielt das für stilvoll, weil er sich für einen großen Künstler hielt. . . Er sprach von seiner Faust-Natur und hatte einen Roman geschrieben, den ich mir begierig beschaffte. Auf der Titel- und Umschlagseite stand tatsächlich: ,Josef Kohler, eine Faust-Natur‘. [ . . . ] Ganz anders der zweite, Ulrich von WilamowitzMoellendorff, der berühmte klassische Philologe. Er hat mich erst fasziniert. Das würdevolle Gesicht, der aristokratische Habitus, die imposante Rhetorik, alles machte auf mich einen tiefen Eindruck. Ich war nicht durch Nietzsche gegen ihn voreingenommen und war hingerissen, als ich in einer der ersten Vorlesungen aus seinem Munde hörte, daß Ciceros Schrift ,de officiis‘ etwas Großes und kein Buch für Knaben sei. . . Das imponierte mir außerordentlich.“ Carl Schmitt in Plettenberg, S. 6 f. [32] In Eberhard Straubs Interview, Bd. 3, erzählt Carl Schmitt lebendig von seiner Stage bei am Zehnhoff: „Ich kann wirklich sagen, das ist einfach die perfekte hundertprozentige Ausbildung, aber orientiert nicht an Gerichtsentscheidungen, sondern am Prozess und an der Wirkung des Prozesses, der Auswirkung des Prozesses.“ Als Zentrums-Abgeordneter, der als Anwalt Sozialisten verteidigte, ähnelt am Zehnhoff dem Feindbild in Schmitts Vortrag: Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches, S. 14, „nämlich der zentrumskatholischen und der international-marxistischen Politik, in deren Kampf gegen Bismarcks preußisch-deutsches Reich.“ Zu Hugo am Zehnhoffs väterlicher Freundschaft mit Schmitt s. ders., Tagebücher 1912 – 1915, mit Kurzbiografie auf S. 405 ff. [33] ,The Great Dissenter‘ Oliver Wendell Holmes jr., 1902 von Theodore Roosevelt zum Richter am Supreme Court ernannt, hat die Lehre vom ,Judicial restraint‘ entwickelt, einen auf die Doktrin der ,Stare decisis‘ zurückgehenden Antidezisionismus, nach dem sich der Richter streng an die Entscheidungen der Präzedenzfälle zu halten habe. Zur Freundschaft mit Harold J. Laski s. Mark DeWolfe Howe (Hg.), Holmes-Laski Letters. The Correspondance of Mr. Justice Holmes and Harold J. Laski. 1916 – 1935, Cambridge, Mass. 1953; Jeffrey O’Connell / Thomas E. O’Connell, Friendships Across Ages. Johnson and Boswell; Holmes and Laski, Lexington 2007. Zu Laski s. Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Positionen und Begriffe, S. 133 – 145, hier: S. 135: „Gerade er ist auch deshalb philosophisch interessant, weil er, wenigstens der Absicht nach und scheinbar auch im Ergebnis, das pluralistische Weltbild der Philosophie von William James auf den Staat überträgt und aus der Auflösung der monistischen Einheit des Universums in ein Multiversum ein Argument entnimmt, um auch die politische Einheit des Staates pluralistisch aufzulösen. Insofern gehört seine Auffassung des Staates in die geistesgeschichtliche Reihe der Phänomene, die ich als ,politische Theologie‘ bezeichnet habe.“ In der Auseinandersetzung mit Laskis Theo-
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rie gelangte Schmitt vom ,Begriff des Politischen‘ als einer Sphäre menschlichen Lebens zum totalen oder existentiellen Begriff der zweiten Auflage. S. Thor von Waldstein, Der Beutewert des Staates, Graz 2008; Detlef Lehnert, Der Staat als Form der politischen Einheit, durch den Pluralismus in Frage gestellt, in: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 71 – 92. [34] Siehe die Tagebuchaufzeichnung vom 10. Februar 1914: „Nachmittags trank ich im Industrie wieder gemütlich Kaffee, schrieb Cari vom Geheimrat aus, bekam dort einen Fall von der Herzogin Croy vorgelegt; rannte aufgeregt zur Bibliothek des Landgerichts, glaubte etwas Entsprechendes gefunden zu haben. In größter Eile und Aufregung zurück.“ Schmitt, Tagebücher 1912 – 1915, S. 152. [35] „1929 erfuhr ich in Berlin durch Johannes Popitz eine weitere nicht nur für meinen Stand und meinen Beruf als Lehrer des öffentlichen Rechts, sondern für meine menschliche Bildung ebenso wesentliche Einführung in den preußischen Staat, preußische Verwaltung und preußischen Stil mit seiner typisch deutschen Spezifizierung, ohne deren Kenntnis meine Bildung und mein Wesen fragmentarisch geblieben wären“. Tischrede vom 10. Juli 1938. Zit. nach: Carl Schmitt, Eine Tischrede (1938), in: Schmittiana 5, S. 9 – 12, hier: S. 11. Im preußischen Widerstand gegen Adolf Hitler war Popitz als Verfasser eines ,Vorläufigen Staatsgrundgesetzes‘ (1943 nach Entwürfen aus den Jahren 1940 / 41) und eines ,Gesetzes über die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse im Staats- und Rechtsleben‘ (Sommer oder Herbst 1940) eine gestaltende Größe. Am 21. Juli 1944 wurde er verhaftet, am 3. Oktober zum Tode verurteilt und am 2. Februar 1945 hingerichtet. S. Gerhard Schulz, Über Johannes Popitz (1884 – 1945), in: Der Staat 24, 4 (1985), S. 485 – 551, hier: S. 492 ff.; Johannes Popitz, in: Rudolf Lill / Heinrich Oberreuter (Hg.), 20. Juli. Portraits des Widerstands, Düsseldorf / Wien 1984, S. 237 – 251. Dazu die Apostrophe in Schmitts Aufzeichnung vom 25. November 1947 (Glossarium, S. 51): „Sei mir nicht böse, lieber Popitz, ich bin in meine Heimat zurückgekehrt, Du mußtest mit Preußen und dem Staat zusammen sterben. Il n’y a plus de Prusse. Ich gehe aus der Geschichte in meine Substanz ein.“ S. a. die Aufzeichnung vom 2. Dezember des Jahres, ebd., S. 55 f.: „Der Geburtstag von Popitz; dieser preußische Beamte hatte etwas von Thomas Morus, den gleichfalls die humanistische Begabung für Freundschaft auszeichnete. Popitz hätte keine Utopie schreiben können, vielleicht aber hätte er sie erfinden können. [ . . . ] Was hat Popitz erfunden? Kein neues Genre, denn er war kein Literat. Aber er hat etwas von der humanistischen Heiligkeit des Thomas Morus; er drängte sich nicht zum Martyrium, gab nach, solange es ging, und blieb heiteren Gemütes, als der Tod unvermeidlich wurde.“ [36] Anders in den Angaben für die Festschrift zum sechzigsten Geburtstag Ernst Jüngers, im Brief vom 27. November 1954 an Armin Mohler, Briefwechsel, S. 183: „C. S. geb. 1888 in Plettenberg (Westfalen), studierte in Berlin, München und Strassburg, habilitierte sich 1916 in Strassburg, verlor infolge des Ausgangs des ersten Weltkrieges seine Dozentur; von 1921 – 1945 ordentlicher Professor des öffentlichen Rechts in Greifswald, Bonn, Köln und Berlin; 1933 Preussischer Staatsrat; verlor 1945 infolge des Ausgangs des zweiten Weltkrieges seinen Lehrstuhl und lebt seit 1947 in Plettenberg (Westfalen). Drei Hauptwerke: Die Diktatur 1921; Verfassungslehre 1928 (Neudruck 1954); Der Nomos der Erde 1950. Ich denke das genügt; die 3 Bücher können Sie streichen. Doch finde ich ihre Erwähnung nicht schlecht.“ [37] „Ein jüdischer Gelehrter, Leo Strauß, hat in einem 1930 erschienenen Buch [Die Religionskritik Spinozas] den theologisch-politischen Traktat Spinozas untersucht und die weitgehende Abhängigkeit Spinozas von Hobbes festgestellt. Er bemerkt dabei, daß Hobbes die Juden als die eigentlichen Urheber der aufrührerischen, staatszerstörenden Unterschei-
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dung von Religion und Politik ansieht. Das ist nur mit der Einschränkung richtig, daß Hobbes die typisch judenchristliche Aufspaltung der ursprünglichen politischen Einheit bekämpft. Die Unterscheidung der beiden Gewalten, der weltlichen und der geistlichen, war nach Hobbes den Heiden fremd, weil für sie die Religion ein Teil der Politik war; die Juden bewirkten die Einheit von der religiösen Seite her. Nur die römische Papstkirche und herrschsüchtige presbyterianische Kirchen oder Sekten leben von der staatszerstörenden Trennung geistlicher und weltlicher Gewalt. Aberglaube und Mißbrauch fremden, aus Angst und Traum entstehenden Geisterglaubens haben die ursprüngliche und natürliche heidnische Einheit von Politik und Religion zerstört. Der Kampf gegen das von der römischen Papstkirche erstrebte ,Reich der Finsternis‘, die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit, ist, wie Leo Strauß feststellt, der eigentliche Sinn der politischen Theorie des Hobbes. Das trifft zu.“ Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, S. 20 f. S. a. Carl Schmitt, Thomas Hobbes / Baruch Spinoza (1919), in: Schmittiana 7, S. 9 – 14; Politische Theorie und Romantik, in: Historische Zeitschrift 123 (1921), S. 377 – 397. Im Nachlass Carl Schmitt finden sich zwei Handexemplare von Leo Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied / Berlin 1965. Im Exemplar HStA, RW 265-22368, einem Geschenk des Ebracher Ferienseminars 1966, ist auf S. 36 rot unterstrichen: „Spinoza erst, nicht schon Hobbes, setzt Recht mit Macht gleich.“ Im Exemplar RW 265-24268 versucht Schmitt am Seitenrand, das Entstehungsdatum des Vorworts mit dem Erscheinungsdatum seines Aufsatzes: Die vollendete Reformation. Bemerkungen und Hinweise zu neuen LeviathanInterpretationen, in: Der Staat 4, 1 (1965), S. 51 – 69, in Einklang zu bringen. Im Nachlass, HStA, RW 265-29299, findet sich in Kopie auch die legendäre Vorrede von 1962 zur englischen Ausgabe von Leo Strauss, Spinoza’s Critique of Religion, New York 1965, S. 1 – 31, einsetzend mit: „This study on Spinoza’s Theologico-political Treatise was written during the years 1925 – 28 in Germany. The author was a young Jew born and raised in Germany who found himself in the grip of the theologico-political predicament. At the time Germany was a liberal democracy. [ . . . ] The Weimarer Republic was weak. It had a single moment of strength, if not of greatness: its strong reaction to the murder of the Jewish Minister of Foreign Affairs, Walter Rathenau, in 1922. On the whole it presented the sorry spectacle of justice without a sword or of justice unable to use the sword.“ Jacob Taubes ließ Carl Schmitt durch Hans-Dietrich Sander im Oktober 1977 mitteilen, dass er in einem Zeitschriften-Projekt im „ersten Heft einen schwer zugänglichen Aufsatz von Leo Strauss und die Spinoza-Interpretationen aus Ihrem ,Leviathan‘ wiederabdrucken möchte. Er bat mich, bei Ihnen vorzufühlen, was hiermit geschieht.“ Briefwechsel Schmitt / Sander, S. 412 f.; zur weiteren Entwicklung s. Thorsten Palzhoff / Martin Treml, Carl Schmitt – Jacob Taubes. Briefwechsel, München im Erscheinen. Im vorliegenden Gespräch bezieht sich Schmitt vermutlich auf die englischsprachige Ausgabe des Hobbes-Buchs, wenn er meint, Strauss habe ihm seine Bemerkungen über die Juden nicht übelgenommen. Ob er die Vorrede von 1962 im vorliegenden Gespräch schon kannte, ist unklar. Jedenfalls hatte er keine sichere Kenntnis darüber, dass Strauss seinen ,Leviathan‘ wohlmeinend gelesen habe. S. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und ,Der Begriff des Politischen‘. Zu einem Dialog unter Abwesenden, erweiterte Neuausgabe, Stuttgart / Weimar 1998, S. 70 f. S. a. Thomas Heerich / Manfred Lauermann, Der Gegensatz Hobbes-Spinoza bei Carl Schmitt (1938), in: Studia Spinozana 7 (1991), S. 97 – 160; Carlo Galli, Schmitt e Strauss interpreti di Spinoza, in: Riccardo Caporali u. a. (Hg.), Spinoza: individuo e moltitudine, Cesena 2007, S. 185 – 201; Jorge E. Dotti (Hg.), Carl Schmitt y Leo Strauss, Buenos Aires 2008; Marin Terpstra, Il problema della teologia politica e la illegitimità dei tempi moderni. Spinoza, Carl Schmitt e Leo Strauss nel contesto della teologia politica, in: Behemoth 41 (2007), S. 37 – 41.
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[38] „Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des ,Leviathan‘ fiel der Blick des ersten liberalen Juden auf die kaum sichtbare Bruchstelle [von innerem Glauben und äußerem Bekenntnis]. Er erkannte in ihr sofort die große Einbruchstelle des modernen Liberalismus, von der aus das ganze, von Hobbes aufgestellte und gemeinte Verhältnis von Äußerlich und Innerlich, Öffentlich und Privat, in sein Gegenteil verkehrt werden konnte. Spinoza hat die Umkehrung in dem berühmten Kapitel 19 seines 1670 erschienenen Tractatus theologico-politicus vollbracht.“ Schmitt, Leviathan, S. 86 f., im folgenden S. 88 f.: „Eine kleine, umschaltende Gedankenbewegung aus der jüdischen Existenz heraus, und in einfachster Folgerichtigkeit hat sich im Laufe von wenigen Jahren die entscheidende Wendung im Schicksal des Leviathan vollzogen.“ Dazu der liberale Soziologe René König: „Seit Spinoza haben jüdische Denker auf der Seite derer gestanden, die es unternahmen, ,die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘ und dem großen ,Leviathan‘ einen Ring durch die Nase zu ziehen, um ihn an der Leine zu führen. Sofern die Soziologie zu einem guten Teil daran mitgewirkt hat, finden wir aus dieser Lage heraus wiederum zahlreiche jüdische Sozialdenker, die an ihr teilnehmen aus einer inneren Berufung heraus, geschehe nun die Kritik des Staates im liberalen oder im sozialistischen Geiste.“ René König, Die Freiheit der Distanz. Der Beitrag des Judentums zur Soziologie, in: Der Monat 13, 155 (1961), S. 70 – 76, hier: S. 74, in Schmitts Nachlass, S. 595, mit vielen Anmerkungen verzeichnet. Auch zitiert vom Herausgeber Günter Maschke in der Neuauflage von Schmitts ,Leviathan‘, Köln-Lövenich 1982, S. 212; zur Geschichte dieser Edition s. Gerd Giesler, Günter Maschke in Plettenberg. Erinnerungen an die Jahre der Edition Maschke, in: Festschrift für Günter Maschke, S. 187 – 193. Schmitt über König in Mohler, Briefwechsel, S. 312; König über Schmitt in: René König, Zur Soziologie der zwanziger Jahre, in: Leonhard Reinisch (Hg.), Die Zeit ohne Eigenschaften. Eine Bilanz der zwanziger Jahre, Stuttgart 1961, S. 82 – 118, hier: S. 113. [39] Es handelt sich um das Gemälde ,Los poetas contemporáneos o Lectura de Zorrilla en el estudio del pintor‘ von 1846, auf dem der Sevillaner Maler Antonio María Esquivel den Dichter José Zorrilla stehend bei der Rezitation (vermutlich eines Dramas) vor den Geistesgrößen aus der Epoche Isabels II. zeigt. 1837 wurde Zorrilla berühmt, als er auf dem Begräbnis des Schriftstellers Mariano José de Larra, der sich aus Liebeskummer erschossen hatte, ein Gedicht auf den Verstorbenen vortrug. 1845 kehrte er aus Paris zurück, wo er als Autor des ,Don Juan Tenorio‘ (1844) persönlich die Größen der französischen Romantik kennengelernt hatte. Im Jahr des Gemäldes, 1846, begannen die Karlisten, die Anhänger des nach semi-salischer Erbfolge rechtmäßigen Thronprätendenten Carlos María Isidro de Borbón, ihren zweiten Krieg gegen den isabellinischen Staat. Während Juan Donoso Cortés etwa (anders als sein Bruder Pedro) auf Seiten der ,liberalen‘ und ,usurpatorischen‘ Dynastie stand, stand der Vater José Zorrillas auf Seiten der ,traditionalen‘ und ,legitimen‘. Aus seiner Entscheidung für die Gelehrtenrepublik Isabels II. erwuchs José Zorrilla ein Schuldgefühl gegenüber dem Vater, das er zunehmend in der Wahl traditioneller Stoffe abtrug.
Kapitel 15 [40] „General von Schleicher wird sich zum Reichspräsidenten begeben, um von ihnm [sic] die notwendigen Vollmachten zur Auflösung des Reichstags zu erbitten. Damit wird die Entscheidung direkt an den Reichspräsidenten herangetragen. Sollte der Reichspräsident dem Kanzler diese Vollmachten nicht geben, so wäre bereits am Sonnabend mit einer Gesamtdemission des Kabinetts Schleicher zu rechnen. Damit würde der Reichspräsident [ . . . ] die alleinige Gesamtverantwortung für die weitere Entwicklung in Deutschland zu tragen haben.“
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Anonym, Spiel mit der Präsidenten-Krise, in: Tägliche Rundschau Nr. 24 vom 28. Januar 1933, S. 1. [41] Unwahrscheinlich ist, dass sich Carl Schmitt hier auf Eugen Otts eidesstattliche Erklärung zur Machtergreifung (in: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, ZS 279) beruft. Womöglich meint er den Vortrag, den Eugen Ott im Mai 1960 im Deutschen Liberalen Club in Dahlem hielt: „Unter dem Thema ,Die letzten Tage der Weimarer Republik‘ beschäftigte sich Ott besonders mit der Rolle der Wehrmacht im Staat.“ Der Tagesspiegel Nr. 4477 vom 2. Juni 1960, S. 6. Ott gab in seinem Vortrag über die ,Vorgeschichte der Machtergreifung‘ im Rhein-Ruhr-Club von 1965 (HStA, RW 265-21410, S. 1) selbst eine Buchempfehlung: „Ich glaube, wenn man sich zu einem Werk rückhaltlos bekennen kann, ist es das Werk von Dr. Vogelsang vom Institut für Zeitgeschichte ,Reichswehr, Staat und NSDAP‘, das auch der Person des Generals von Schleicher soweit irgend möglich objektiv gerecht wird.“ Darin ist zum 29. Januar 1933 folgendes zu finden: „Weder der amtierende Reichskanzler, noch sein Staatssekretär Planck, noch die engeren Mitarbeiter erfuhren das Geringste über den Fortgang der Dinge. Umso mehr verhärtete sich bei ihnen die Vorstellung einer drohenden Regierung der deutschnationalen ,Reaktion‘, und Schleicher wie Hammerstein waren entschlossen, so gut es ging, dagegen zu wirken. Daß es sich indessen dabei um eine in allen Einzelheiten übereinstimmende Aktionsgemeinschaft gehandelt hat, muß bezweifelt werden. Am Nachmittag jedenfalls wurde der Name Schleichers, des sonst so vorsichtigen Taktikers, mit einem wenig verständlichen Vorstoß in Verbindung gebracht, mit einem unüberlegten Verzweiflungsschritt, der bereits durch die Wahl des ,Abgesandten‘ ausreichend als solcher gekennzeichnet ist. Männer der Umgebung des Generals, vielleicht sogar Schleicher selbst, scheinen im Laufe des Sonntags eine von diesem wohl gesuchte Verbindung mit Werner von Alvensleben eingegangen zu sein, um durch ihn die ,Beteiligten‘ wissen zu lassen, daß Schleicher ,die Ernennung Papens verhindern werde‘, dieses allerdings erst nach dessen offizieller Beauftragung. Hiermit stimmt eine Notiz bei Krosigk annähernd überein, die von dem Abendbesuch eines Verwandten am 29. berichtet: dieser habe erzählt, ,daß Schleicher und Hammerstein weiterhin der Ansicht seien, daß der alte Herr geistig nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte sei, und daß sie daher eine möglichst baldige Präsidentenkrise für nötig hielten‘.“ Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP. Beiträge zur deutschen Geschichte 1930 – 1932, Stuttgart 1962, S. 392 f. Dagegen Strenge, Schleicher, S. 219: „Am Sonntag, dem 29. Januar 1933, morgens, besprachen Schleicher und Hammerstein in den Chefräumen des Reichswehrministeriums die Lage. Bredow, v. d. Bussche, Ott, Planck und Marcks kamen dazu. Schleicher und Hammerstein äußerten, sie hielten Hindenburg für nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Sie hielten daher ,eine möglichst baldige Präsidentenkrise für nötig‘. Man müsse den Ausnahmezustand erklären, Hitler verhaften, sich dann mit der SPD verständigen. Denn deren Führer hätten doch Hitler am meisten zu fürchten. Man könne die Potsdamer Garnison alarmieren. Schleicher lehnte ab mit dem Argument, gegen Hindenburg werde man keine Garnison alarmieren können.“ [42] „[Ü]berlegte im Bett, daß der Reichskanzler mich gegen Kaas verteidigen müßte. Rief nochmals deshalb bei Marcks und Popitz an. Überlegte eine Antwort. Popitz meinte, man müsse mich ruhig opfern, wenn es zweckmäßig sei.“ Tagebuchaufzeichnung vom 29. Januar 1933. [43] „Hochgeehrter Herr Kollege, In Ihrem an den Herrn Reichskanzler gerichteten, am 29. Januar in der Tagespresse veröffentlichten Schreiben vom 26. Januar 1933 sprechen Sie im Zusammenhang einer Warnung vor Illegalität von den ,das gesamte Staatsrecht relativierenden Grundtendenzen von Carl Schmitt und seinen Gefolgsmännern‘. Da mir eine Antwort
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der Reichsregierung nicht bekannt ist, nehme ich in meiner eigenen Sache zu Ihrem Schreiben hiermit Stellung. Man wird in keiner meiner Veröffentlichungen und keiner authentischen mündlichen Äußerung einen Satz finden, der eine solche Herabminderung meiner staatsrechtlichen Lehren rechtfertigen könnte. Meine verfassungsrechtlichen Darlegungen sind sämtlich von dem Bestreben getragen, ohne Rücksicht auf die wechselnden Parteiinteressen den Sinn und die Konsequenz der deutschen Verfassung zur Geltung zu bringen und ihrer Herabwürdigung zu einem taktischen Instrument und Werkzeug entgegenzutreten. Ich relativiere nicht das Staatsrecht, sondern kämpfe gegen einen Staat und Verfassung zerstörenden Mißbrauch, gegen die Instrumentalisierung des Legalitätsbegriffes und gegen einen wertund wahrheitsneutralen Funktionalismus. Zu der Frage des Staatsnotstandsrechts habe ich mich, zum Unterschied von anderen Kollegen, bisher nur mit größter Zurückhaltung geäußert. [ . . . ] Abschrift dieses meines Schreibens übersende ich gleichzeitig den Adressaten Ihres Schreibens, also dem Herrn Reichspräsident und dem Herrn Reichskanzler, außerdem der Germania und der Kölnischen Volkszeitung, ferner dem früheren Reichskanzler Herrn von Papen, dem bisherigen Reichsinnenminister Herrn Dr. Bracht, dem Präsidenten des Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich, Herrn Dr. Bumke, sowie dem Vorsitzenden der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, Herrn Professor Dr. Sartorius in Tübingen.“ Zit. nach: Quaritsch, Complexio Oppositorum, S. 53 f. Im Interview für die Sendung von Ansgar Skriver, Hitlers Machtergreifung vor 40 Jahren im Gedächtnis von heute. Eine zeitgeschichtliche Befragung, WDR 2, gesendet am: 30. 01. 1973, 20.45 – 21.45, nennt Schmitt sein Motiv: „Der Brief an Kaas ergab sich daraus, wenn ich das zwischendurch sagen darf, dass ich von Kaas in einem offenen Brief vom 26. [ . . . ] beschuldigt wurde, den Verfassungsbruch oder einen Notstand vorzubereiten, also kurzum, die hugenbergisch-papensche Linie zu verfolgen, was nicht der Fall war. Ich war ja Berater und Freund von Schleicher.“ Dass Schmitt die Abschrift an Bumke „nachher noch besonders geärgert hat“, hat wohl keine politischen, sondern nur persönliche Gründe – legt die Tagebuchaufzeichnung vom 4. Februar 1933 nahe: „Müde und traurig, las die Veröffentlichung über den Leipziger Prozess, meine Rede lächerlich entstellt, fühlte mich blamiert. Fräulein Büttner Absage nach Leipzig diktiert. Ärgerte mich, dass ich Bumke eine Abschrift des Briefes an Kaas geschickt hatte.“ [44] „Sehr verehrter Herr Professor! Verbindlichsten Dank für Ihr gefälliges Schreiben vom 30. Januar, zu dessen Erledigung ich wegen meiner Überlastung mit Amtsgeschäften leider erst heute komme. Ich stehe Ihnen selbstverständlich zu einer Unterhaltung über die von Ihnen angeschnittene Frage gern zur Verfügung und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich am Donnerstag, den 16.d.M. falls Ihnen dieser Termin paßt, 12 Uhr mittags hier im Preußischen Staatsministerium mit Ihrem Besuch beehren würden. Mit verbindlichsten Empfehlungen bin ich in ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebenster“ Franz von Papen an Carl Schmitt, 13. Februar 1933, HStA, RW 579-504, dazu die Antwort Schmitts vom 14. Februar: „Hochverehrter Herr Reichskanzler! Für das gütige Schreiben vom 13. Februar danke ich vielmals. Der Einladung zu einer Besprechung Donnerstag, den 16. Februar 12 Uhr mittags folge ich mit besonderer Freude. In größter Verehrung und mit ausgezeichneter Hochachtung bleibe ich, Herr Reichskanzler, Ihr ergebenster Carl Schmitt“. [45] „Der Prälat Ludwig Kaas, damals der politische Führer der deutschen Katholiken, päpstlicher Protonator und Professor des Kirchenrechts, veröffentlichte Anfang 1933 in Bd. 3 der [ . . . ] Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht einen Aufsatz ,Der Konkordatstyp des faschistischen Italien‘. Er feiert Mussolini als einen ,Staatsmann von innerer Berufung‘, den die Gabe der Unterscheidung, das donum discretionis geleitet habe, so daß durch ihn – einen früheren Marxisten und Freidenker – jene Korrekturen der Geschichte eingetreten sind, ,die der Gläubige providentiell, jeder aber logisch nennen darf‘.“
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Schmitt, Politische Theologie II, S. 79. Wie Kaas mit Hitler und Papen das Reichskonkordat gegen die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz tauschte (um im April 1933 Deutschland für immer zu verlassen), erzählt Brüning, Memoiren, S. 655 ff. S. a. Rudolf Morsey, Der Untergang des politischen Katholizismus, Stuttgart / Zürich 1977, im Handexemplar HStA, RW 265-27484 vor allem S. 90 ff. mit Unterstreichungen und spitzfindigen Anmerkungen. Vorn im Buch steht die Bemerkung „Papen, der Ephialtes“, hinten „die Lehre: dass das Problem einer potestas indirecta mit einer christlich-paritätischen politischen Partei nicht gelöst wird, sondern im Gegenteil noch viel schwieriger wird, je indirekter solche potestas einwirkt, warnend oder [unleserlich: aggressiv?] ihre ,Wertanteile‘ kundgibt oder verschweigt“. S. a. den Literaturhinweis, den Schmitt im Separatum des Roßkopf-Interviews (s. u.) zum April 1933 gibt: Guenter Lewy, Neues Material zur Vorgeschichte des Reichskonkordats, in: Der Staat 12, 3 (1973), S. 542 – 551. Später s. Georg May, Ludwig Kaas, der Priester, der Politiker und der Gelehrte aus der Schule von Ulrich Stutz, Bd. 3, Amsterdam 1982, S. 408, der die Zentrumspartei vom Tauschgeschäft entlastet; Thomas Brechenmacher (Hg.), Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente, Paderborn u. a. 2007. [46] „Meine Abneigung gegen Tagebücher und Tagebuchschreiben ist zu groß. Die meisten Tagebuchschreiber kommen mir vor wie Kinder, die an ihren Fingern saugen und an allem saugen, was sie in die Finger bekommen. Doch gibt es auch herrliche Tagebücher wie die von Delacroix, und große Buchhalter des Absoluten, wie Léon Bloy. Aber die anderen, die belesenen und literarisch gebildeten Pepysse sind wirklich nur Säuglinge, auch wenn sie arge Selbstquäler sind und nicht, wie Samuel Pepys, Narzisse.“ Carl Schmitt, Glossarium, S. 96, Aufzeichnung vom 11. Februar 1948. Pepys verfasste seine geheime Tagebuchchronik über sich und die Restaurationsepoche in Sheltons Kurzschrift. Zu Schmitts Selbststilisierung als Tagebuchschreiber s. Timo Frasch, Zwischen Selbstinszenierung und Rezeption. Carl Schmitts Ort in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2006, S. 35 f. [47] „[G]ing traurig und aufgelöst nach Hause. Dort den Rundfunkvortrag vorbereitet. Die Techniker kamen, allmählich auch die Gäste Roßkopf, Frau Ott, Pallenberg, Ott, Gilles, wir aßen zu Abend. 10 vor 9 bis 10 nach 9 Gespräch mit Roßkopf an meinem Schreibtisch; es ging sehr nett. Hinterher fröhlich !Blatt beschädigt" Techniker kamen zu uns an den Tisch. Wir hörten noch das Gespräch von Adams und Jünger. Die beiden kamen nachher zu uns. Dann ein Aufruf von Adolf Hitler !Blatt beschädigt". Wir blieben bis 2 Uhr. Todmüde zu Bett. Jünger war sehr sympathisch. Niekisch rief an wegen unseres schönen Gesprächs.“ Tagebuchaufzeichnung vom 01. 02. 1933. Das gesendete Rundfunkgespräch ist abgedruckt: Carl Schmitt, Ein Rundfunkgespräch vom 1. Februar 1933, in: Eclectica 5, 2 (1975), S. 113 – 124. In seinem Separatum hat Schmitt über dem Titel vermerkt: „Hierzu gehört ein Hinweis auf den gleichzeitig in der Europäischen Revue 1. Feb. erschienenen Aufsatz Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (abgedruckt in Positionen und Begriffe 1939 in Verfrechtl. Aufsätze 1958)“. Wie auch im Rundfunkgespräch angesprochen, beharrt Schmitt in diesem Aufsatz auf der alten Frontstellung zwischen dem Parteienpluralismus und dem Reichspräsidenten; er schließt mit den Worten: „Hätte nicht die eine letzte Säule der Weimarer Verfassungsordnung, der Reichspräsident und seine aus vorpluralistischen Zeiten stammende Autorität, bisher standgehalten, so wäre wahrscheinlich das Chaos auch in aller Sichtbarkeit und in der äußerlichen Erscheinung bereits vorhanden und selbst der Schein der Ordnung verschwunden.“ Zit. nach: Positionen und Begriffe, S. 185 – 190. Dazu die Glosse in den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen, S. 365: „Dieser Aufsatz ist Anfang Februar in der Europäischen Revue 1933 erschienen, als Vorbereitung zu einer nochmaligen Auflösung des Reichstags, die als letzte Kraftprobe für die Regierung Schleicher gedacht war (oben S. 350). Infolge der Entlassung Schleichers und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Ja-
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nuar 1933 war der Zweck des Aufsatzes entfallen.“ Aus diesem Grund ist der Aufsatz in der Ausgabe ,Positionen und Begriffe‘ wohl auf die Zeit der Entstehung „Januar 1933“ zurückdatiert. [48] Belastungsmaterial im Gedankengang des vorliegenden Gesprächs liegt etwa in der Positionsbestimmung gegenüber dem Positivismus und der Reflexion über das Reich (S. 119): „Dieser Begriff eines Positivismus beruht auf eine [sic] Denkweise, die nur versteht was der Mensch schlecht gemacht hat. Positives Recht in diesem positivistischen Sinne ist gemachtes Recht, manchmal gut, manchmal schlecht gemachtes Recht, ganz unentbehrlich in der Kompliziertheit des heutigen sozialen Daseins, durchaus notwendig, um den staatlichen Apparat, den Behördenmechanismus der öffentlichen Verwaltung und Justiz in geregelter Funktion zu halten. Aber so vordringlich es auch sein mag, es ist eben nur der Vordergrund. Es ist keineswegs das letzte Wort, weder von Recht und Gerechtigkeit selbst, noch meiner Wissenschaft. Es hat seine Vernunft und Rationalität nicht in sich selbst, sondern nur abgeleitet aus einem Kern substanzhafter Gerechtigkeit. Es wird sinnlos und zerstörend, ein grauenerregendes Instrument des Parteien- und Interessentenkampfes, [sic] wenn es diese Beziehung zu einer inhaltlichen, substanziellen Gerechtigkeit verliert, wenn es zu einem wert- und wahrheitsneutralen Funktionalismus entartet. Am schlimmsten, wenn es seinen Zusammenhang mit der konkret wirklichen Existenz unseres Volkes verliert.“ Schmitt, Rundfunkgespräch, S. 114. Im Separatum ist „schlecht“ ausgestrichen, am Rand „selbst“ notiert und doppelt unterstrichen. Auf dem Vortitel hat Schmitt notiert und eingekreist: „toller Hör- oder Druckfehler S. 114 (statt selbst steht schlecht gemacht)“. Zum Gespräch s. Mehring, Biographie, S. 304 f. [49] Nach Brecht, Lebenserinnerungen, S. 280, „erließ Hindenburg am 6. Februar auf das gemeinsame Betreiben von Papen und Hugenberg und mit Zustimmung des ganzen Kabinetts eine neue Verordnung aus Artikel 48, und zwar wiederum nicht nur auf Grund des zweiten, sondern auch des ersten Absatzes (Pflichtverletzung), welche die preußischen Minister aller ihnen noch verbliebenen Rechte enthob und das Stimmrecht des Ministerpräsidenten in dem Dreimänner-Kollegium auf Papen als den soeben wiederernannten Reichskommissar für Preußen übertrug, Papen auch ausdrücklich zum Vertreter Preußens im Reichsrat bestellte. Bezeichnenderweise war es Papen, nicht Hitler, der diese Verordnung gegenzeichnete. Da der Staatsgerichtshof festgestellt hatte, daß Preußen seine Pflichten dem Reich gegenüber nicht verletzt hatte (Kapitel 30), behauptete die Begründung der neuen Verordnung kühn, die preußischen Minister hätten dies inzwischen nachträglich getan, und zwar durch ihr Verhalten gegenüber dem Urteil des Staatsgerichtshofs und dadurch, daß sie die Auflösung des preußischen Landtags verweigerten, obwohl Neuwahlen unbedingt erforderlich geworden seien, weil der Landtag sich schon fast ein Jahr lang unfähig gezeigt hatte, ein neues Kabinett zu bilden.“ Zum Text der Verordnung zum ,zweiten Preußenschlag‘ vom 6. Februar 1933 s. Huber, Dokumente, Bd. 4, S. 660. S. a. Joachim Lilla, Der Reichskommissar für das Land Preußen 1932 – 1933, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 19 (2009), S. 91 – 118; Dieter Deiseroth, Die Legalitäts-Legende. Vom Reichstagsbrand zum NS-Regime, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 53 (2008), S. 91 – 102. [50] Der Alternativentwurf des Reichsstatthaltergesetzes wurde verworfen, nach dem Papen als Stellvertreter des – in Personalunion mit dem Reichspräsidenten befindlichen – preußischen Staatspräsidenten Stellvertreter des Reiches in Preußen geworden wäre. S. Blasius, Preußischer Staatsrat, S. 79 f. Was sich Papen dabei nicht dachte, erfährt man im (von Blasius zitierten) Brief an Reichskanzler Hitler: „Mit der am heutigen Tage (7.IV.) vom Reichskabinett verabschiedeten Vorlage eines Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit
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dem Reich ist ein Gesetzgebungswerk begonnen, das für die staatspolitische Entwicklung des Deutschen Reiches von historischer Bedeutung sein wird. Der Schritt, den die mir seinerzeit unterstellte Reichsregierung am 20. Juli 1932 zur Beseitigung des Dualismus zwischen Reich und Preußen getan hat, erhält seine Krönung durch die nunmehrige neue enge gesetzliche Verflechtung der Interessen des Landes Preußen mit denen des Reichs. Sie, Herr Reichskanzler, werden, wie einst der Fürst Bismarck, nunmehr in der Lage sein, die Politik des größten der deutschen Länder in allen Punkten mit der des Reiches gleichzuschalten. Nachdem das neue Gesetz Ihnen die Möglichkeit gibt, den Preußischen Ministerpräsidenten zu ernennen, bitte ich Sie, dem Herrn Reichspräsidenten Mitteilung machen zu wollen, daß ich das Amt des Reichskommissars für das Land Preußen gehorsamst in seine Hände zurücklege.“ Herbert Michaelis, Das Dritte Reich. Die Zertrümmerung des Parteienstaates und die Grundlegung der Diktatur, Berlin 1964, S. 112. S. a. Franz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 331: „Mit der Wahl Görings und meinem Rücktritt als Reichskommissar nach der Berufung einer ordnungsmäßigen Regierung fiel naturgemäß auch die Bremse fort, die Görings Herrschaft über die preußische Polizei entgegenwirken sollte. Ich resignierte am 7. April, bevor der neue Landtag zusammentrat.“ Dazu Braun, Von Weimar zu Hitler, S. 440 ff., hier: S. 445: „Der am 5. März 1933 neu gewählte Landttag [sic] ist wohl auch noch am 22. März zusammengetreten und hat sich konstituiert; zur Wahl des Ministerpräsidenten ist er nicht gekommen. Erst nachdem auf Grund des vom Reichstag unter der Drohung der SA.-Revolver durchgesetzten Ermächtigungsgesetzes am 7. April ein Reichsstatthaltergesetz erlassen war und Hitler sich als Statthalter in Preußen bestellt hatte, ernannte er am 11. April Göring zum preußischen Ministerpräsidenten. Für den Reichskommissar von Papen galt: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen!“ Am 8. April 1933 machte sich Papen mit Ludwig Kaas, dem Unterhändler des Vatikan, auf nach Rom, um über das Reichskonkordat zu verhandeln. S. Joachim Petzold, Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis, Berlin 1995, S. 194. [51] „Der Spiegel schickte mir seine Reichstagsbrand-Nummern und fragte mich, ob mich das interessiert und ob ich mich dazu äussern wolle. Ich lege eine Abschrift meiner Antwort bei. Die Behauptung, ich hätte die Weimarer Verfassung zerstört, steht auf einer Stufe mit der Behauptung, Göring hätte den Reichstag in Brand gesteckt. Mir ist rätselhaft, wie Historiker, die mit solchen Behauptungen Ordinarien geworden sind, die Spiegel-Enthüllungen überleben können; aber die Macht der Lüge war nie so gross wie heute.“ Schmitt an Mohler, Brief vom 10. Dezember 1959, Briefwechsel, S. 266. Mohler hat auch Schmitts Abschrift des Briefs an den ,Spiegel‘ vom 19. November veröffentlicht (S. 267 f.): „Sehr geehrter Herr Kayser, Vielen Dank für Ihre Sendung vom 9. November! Daß ich an dem Thema Reichstagsbrand von 1933 und Ihrer Darstellung interessiert bin, versteht sich von selbst. Die Nummern des Spiegel, die Sie freundlicherweise beigefügt haben, hatte ich mir natürlich schon gekauft. [ . . . ] Auf die Frage allerdings, ob ich mich dazu äußern möchte, antworte ich: Nein. Heute haben andere Typen das große Wort, nicht die Betrachter der geschichtlichen Vergangenheit, sondern ihre Rückverfertiger, wie Herr Professor Bracher. Das ist die Lage. Hoffen wir, daß Sie, der Spiegel, stark und konsequent genug sind, um etwas daran zu ändern.“ Bereits Mohler überliefert in Anm. 319 auf S. 267, „daß C. S. seit den späten 40er Jahren a) öfters von Rudolf Augstein besucht oder zu Gutachten abgeholt wurde und b) damals auch öfter für die Rechtsabteilung des ,Spiegel‘ Gutachten erstellte.“ [52] „Es gibt den Unterschied von Priestern und Laien, Klerikern und Laien, er bleibt bestehen. Es gibt das allgemeine Priestertum; das ändert nichts daran, daß von der Wurzel her zwischen Priester und Laie ein existentieller Unterschied besteht. Und dieser kann durch keine persönliche Leistung des Laien aufgehoben werden. Der unwürdige Priester kann
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die Sakramente spenden, der vollkommen heilige Laie kann sie nicht spenden. Das war doch die Situation von Ball [ . . . ] als Asket. Und in diesem Problem Mönch / Priester – man kann das in der Sprache Max Webers und der Soziologie als persönliches Charisma und AmtsCharisma bezeichnen – in diesem existentiellen Konflikt stellt sich Hugo Ball mit ungeheurer Wucht, mit einer fast selbstmörderischen Wucht auf die Seite des Priesters.“ Carl Schmitt gegenüber Joachim Schickel, Gespräch über Hugo Ball, in: Gespräche mit Carl Schmitt, S. 31 – 59, hier: S. 52. Die Antwort auf Schmitts Frage: „Ja, was ist das eigentlich?“ liegt im Schlusswort des Gesprächs, S. 59, wo Schmitt an einen ihm selbst geltenden Spruch von Ball erinnert: „Genau auf ihn trifft es zu. Für jede ernsthafte weitere Beschäftigung mit Hugo Ball würde ich das als Motto, als Zeitsignal, oder wie Sie es nennen wollen, voranstellen. Es trifft auf ihn genauso zu wie auf mich wie auf jeden, der ehrlich durch die Zeit, eine derartig zerspaltene, widerspruchsvolle, zerrissene Zeit hindurchgegangen ist. Es ist das Motto für Hugo Ball: ,In der Gewissensform seiner Begabung erlebt er die Zeit.‘“ S. Hugo Ball, Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21, 2 (1924), S. 261 – 268, hier: S. 264: „In der Gewissensform seiner Begabung erlebt er die Zeit. Das gibt seinen Schriften ihre seltene Konsistenz; das gibt ihnen jene universale Geschlossenheit, in der sie sich präsentieren. Er verfolgt eine angeborene juristische Neigung, um nicht zu sagen seine formale Gesinnung, bis in den letzten bedingenden Grund, mit einer ungewöhnlichen Kraft der Dialektik und ebenso ungewöhnlicher Sprachgewalt. [ . . . ] Er möchte die Rechtsidee nicht nur erkennen, sondern womöglich sie repräsentieren, selbst sein. Das ist katholisch, eschatologisch gedacht.“ Zum geistesgeschichtlichen Verhältnis der beiden s. Briefwechsel Schmitt / Feuchtwanger. S. a Briefwechsel Schmitt / Sander; Ellen Kennedy, Carl Schmitt und Hugo Ball: Ein Beitrag zum Thema ,Politischer Expressionismus‘, in: Zeitschrift für Politik 35, 2 (1988), S. 143 – 162. [53] „Die Bedeutung der Grundnorm wird besonders klar, wenn eine Rechtsordnung nicht auf legalem Weg abgeändert, sondern auf revolutionärem Wege durch eine neue ersetzt wird; so wie sich ja das Wesen des Rechts und der dadurch konstituierten Gemeinschaft am deutlichsten enthüllt, wenn ihre Existenz in Frage steht. In einem bisher monarchischen Staat versucht eine Gruppe von Menschen, sich im Weg eines gewaltsamen Umsturzes an Stelle der legitimen Regierung zu setzen und die bisherige monarchische durch eine republikanische zu ersetzen. Gelingt ihr dies, das heißt: hört die alte Ordnung auf und beginnt die neue wirksam zu sein, indem das tatsächliche Verhalten der Menschen (für welche die Ordnung Geltung beansprucht) nicht mehr der alten, sondern – im großen und ganzen – der neuen Ordnung entspricht, dann operiert man mit dieser als mit einer Rechtsordnung, das heißt: man deutet die in ihrer Vollziehung gesetzten Akte als Rechtsakte und die sie verletzenden Tatbestände als Unrecht.“ Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig / Wien 1934, S. 67 f. S. a. ders., Was ist juristischer Positivismus?, in: Juristenzeitung 20 (1965), S. 465 – 469, hier: S. 468, sowie die Kritik des Rechtspositivismus durch Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 35 f. Zur Legalität bei Kelsen im Gegensatz zu Schmitt s. David Dyzenhaus, Legality and Legitimacy. Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller in Weimar, Oxford 1997, S. 149 ff.; eine Apologie des Rechtspositivismus bei Horst Dreier, Die drei gängigsten Irrtümer über die Weimarer Reichsverfassung, in: Merkur 63, 727 (2009), S. 1151 – 1156. [54] „[W]er für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten. Man muß seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt.“ Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: Blätter der Staatspartei 13, 3 / 4 (1932), S. 90 – 98, hier: S. 98. S. a. ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 21929 (1920), S. 100 f.: „Der Glaube an absolute Wahrheit
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und absolute Werte schafft die Voraussetzung für eine metaphysische und insbesondere religiös-mystische Weltanschauung. Die Negation dieser Voraussetzung aber, die Meinung, daß nur relative Wahrheiten, nur relative Werte der menschlichen Erkenntnis erreichbar sind, und sohin jede Wahrheit und jeder Wert – so wie der Mensch, der sie findet – allzeit bereit sein muß, abzutreten und anderen Platz zu machen, führt zur Weltanschauung des Kritizismus und des Positivismus, sofern man darunter jene Richtung der Philosophie und Wissenschaft versteht, die vom Positiven, das heißt vom Gegebenen, Erfaßbaren, von der wandelbaren und stets sich wandelnden Erfahrung ausgeht und sohin die Annahme eines dieser Erfahrung transzendierenden Absoluten ablehnt. Diesem Gegensatz der Weltanschauungen entspricht ein Gegensatz der Wertanschauungen, speziell der politischen Grundeinstellung. Der metaphysisch-absolutistischen Weltanschauung ist eine autokratische, der kritisch-relativistischen die demokratische Haltung zugeordnet.“ S. a. Antonino Scalone, Omogeneità politica e pluralismo conflittuale. Il concetto di democrazia in Carl Schmitt e Hans Kelsen, in: Giuseppe Duso (Hg.), Oltre la democrazia. Un itinerario attraverso i classici, Rom 2004, S. 241 – 269. Zum aktuellen Bezug s. Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, München 2009. [55] „,Für eine positivistische Betrachtung, die das Recht nicht im Naturrecht verabsolutiert, ist der Staat ein König Midas, dem alles, was er ergreift, zu Recht wird.‘ [ . . . ] Ich muß gestehen: Mein Herz stand still, als ich das las. Keinerlei Schranken sollen dem Zwang gezogen sein, wenn er nur nach einer Regel geübt wird. Also wäre es auch ,Recht‘, wenn heute in Frankreich oder in der Schweiz ein Machthaber den Menschen das Lesen und Schreiben verböte, oder verordnete, daß jeden Sonntag tausend Bürger geschlachtet werden? Ja nach Kelsen könnte den Staatsbürgern die Aufnahme von Nahrung und das Zeugen von Kindern untersagt werden.“ Alexander Hold-Ferneck, Der Staat als Übermensch. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Rechtslehre Kelsens, Jena 1926. „Ich gehe gar nicht auf die Frage ein, ob es nicht positive Rechtsnormen gibt, die die Bürger verpflichten, den Tod zu erleiden – das Kriegsrecht –, die Bürger oder doch gewisse Bürger zum Zölibat verpflichten – Kirchenrecht. Ich begnüge mich, angesichts dieser moralischen Qualifizierung meiner, richtiger der positivistischen Rechtstheorie für mich geltend zu machen, was H. – dem in seiner Schrift ,Der Staat als Übermensch‘, das ,Herz stillstand‘ (S. 55) angesichts der Konsequenzen meines Positivismus – in seiner Schrift ,Die Rechtswidrigkeit‘ – als Positivist – für sich geltend macht: daß ,das Recht von der Moral scharf zu scheiden‘ ist“. Hans Kelsen, Der Staat als Übermensch. Eine Erwiderung, Wien 1926, S. 6. S. a. Jürgen Busch / Kamila Staudigl-Ciechowicz, „Ein Kampf ums Recht“? Bruchlinien in Recht, Kultur und Tradition in der Kontroverse zwischen Kelsen und Hold-Ferneck an der Wiener Juristenfakultät, in: Szabolcs Hornyák u. a. (Hg.), Turning Points and Breaklines, München 2009, S. 110 – 138. [56] „Das Recht als Gesetz. § 211. Was an sich Recht ist, ist in seinem objektiven Dasein gesetzt, d. i. durch den Gedanken für das Bewußtsein bestimmt und als das, was Recht ist und gilt, bekannt, das Gesetz; und das Recht ist durch diese Bestimmung positives Recht überhaupt.“ Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Georg Lasson, Leipzig 1911, S. 169 f. S. a. Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, Berlin 1977. [57] Arnold Brecht, Lebenserinnerungen, S. 180, schreibt: „Neben ihm [Georg Gottheiner] vertraten die Reichsregierung drei Universitätsprofessoren: Carl Schmitt, der im folgenden Jahre der Nachfolger des abgesetzten Professors Kelsen auf dessen Kölner Lehrstuhl wurde, Erwin Jacobi und Carl Bilfinger.“ Deutlicher Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 144: „Kelsen war ein guter Kerl, der gern glauben
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wollte. Er gab die Zustimmung zu Schmitts Berufung. Das war Ende 1932. Kelsen hat mir den Vorgang damals gleich erzählt. Dann kam der 30. Januar 1933. Zu Beginn des Frühjahrssemesters erschien der neuberufene Nachfolger des nichtarischen Fritz Stier-Somlo am Rhein und forderte als erstes die sofortige Entlassung des Juden und Marxisten Hans Kelsen. Was auch geschah.“ S. a. Mehring, Biographie, S. 294 ff. Kelsen war bei Schmitts Ankunft in Köln bereits beurlaubt, er ging nach Genf ins Exil und wurde zum 1. Januar 1934 in den Ruhestand versetzt. Schmitt unterschrieb die Solidaritätserklärung nicht, mit der Hans Carl Nipperdey die Entlassung Kelsens verhindern wollte. S. Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, Köln 1988, S. 114 ff.; Bernd Rüthers, Universität im Umbruch. Hans Kelsen und Carl Schmitt in Köln 1933, in: Anwaltsblatt 10 (1990), S. 490 – 492. [58] Dazu die Entdeckung von Blasius, Staatsrat, S. 69 f.: „Auf dem Titelblatt des Nachlaßexemplars der Edition ,Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof‘ gibt es einen handschriftlichen Eintrag, der nach einem Schriftvergleich um 1970 erfolgt sein kann. Er lautet ,Temerataque jura relinquo (16 / 18 Oktober 1932) Leipzig, mit Walter Jellinek und Erwin Jacobi‘. [ . . . ] Temerataque jura relinquo – Schmitts altphilologische Kompetenz läßt es nicht zu, sich mit einer wörtlichen Übersetzung zu begnügen. Carl Schmitt zitiert hier aus dem Epos des nachklassischen römischen Dichters M. Annaeus Lucanus (39 – 65 n. Chr.) über den Bürgerkrieg, in den die Rivalität zwischen Caesar und Pompeius mündete. 49 v. Chr. überschritt Caesar den Rubikon, den Grenzfluß zwischen Gallien und Italien, um Pompeius die Waffe der gegen ihn gerichteten Senatsbeschlüsse aus der Hand zu schlagen. Lucanus schildert die Szene am ,angeschwollene[n] Rubicon‘: ,Als Caesar die Tiefe überwunden, das Gegenufer erreicht [ . . . ] hatte, sprach er: ,Hier sage ich mich vom Frieden, hier von geschändetem Recht los. Dir folge ich nach, Fortuna. Hinweg jetzt mit Verträgen! Ich habe dem Schicksalsruf vertraut, nun muß der Krieg als Richter dienen.‘ Im lateinischen Original heißen die Verszeilen, auf die sich Schmitt bezieht: ,›hic,‹ ait ›hic pacem temerataque jura relinquo; te, Fortuna, sequor. Procul hinc iam foedera sunto.‹‘ Carl Schmitt war ein Rechtsgelehrter mit beeindruckend weitem Bildungshorizont. In seinem Nachlaß befindet sich eine englische Übersetzung von Lucans ,Bürgerkrieg‘: ,Lucan, Pharsalia. Dramatic Episodes of Civil Wars. Translated by Robert Graves, Penguin Books 1956‘. Auch auf dem Titelblatt dieses Buches gibt es einen handschriftlichen Vermerk: ,defying the Roman Constitution, p. 32 (I v. 225)‘. Auf Seite 32 wird in freier Übersetzung Caesars Überschreiten des Rubikon beschrieben. Schmitt markierte diese Stelle und stellte Caesars Rede den handschriftlichen Eintrag voran ,temerataque jura‘, also die Textstelle aus Lucans Erstem Buch, Vers 225. Der Leipziger Prozeß war für Carl Schmitt, so läßt sich der Übertrag einer zentralen Textstelle des Lucanus auf die erste Seite der Preußen-Edition deuten, der Rubikon, den er überschritt; hier traf er eine Entscheidung von großer lebensgeschichtlicher Bedeutung.“ Gegenüber dem Titel hat Carl Schmitt im Nachlassexemplar einen Brief vom 16. August 1933 eingeklebt, in dem Arnold Brecht „seinen Gegner von damals“ um Hilfe bei der Rettung seiner „nationalen und berufsbeamtlichen Ehre“ bittet. Zum Rubikon s. Christian Meier, Caesar, Berlin 1982, S. 14: „Mit den Worten: ,Der Würfel soll geworfen werden‘ setzte er über den Rubicon, um nach rascher Fahrt noch vor Morgengrauen mit seinen Soldaten in Ariminum einzumarschieren. Der Ausspruch war ein Zitat aus einer Komödie des Menander. Die Version: ,Die Würfel sind gefallen‘ ist eine falsche Wiedergabe. Denn hier war nicht gewürfelt worden, sondern das Würfeln begann erst, das mit höchsten Einsätzen verbundene Spiel eines Krieges, in dem Fortuna ein gewichtiges Wort mitzusprechen hatte.“ Caesar bekämpfte Meier zufolge (S. 23) den Senat nicht, er nahm ihn nicht mehr wahr: „So standen sich in Caesar und seinen Gegnern offenbar zwei verschiedene Wirklichkeiten gegenüber; die alte, die plötzlich vom Ganzen zum Teil geworden, und eine neue, die aus ihr herausgetreten war und die sich ihr auch
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dann nur schwer wieder hätte einfügen können, falls der Krieg vermieden worden wäre. [ . . . ] Indem man hier das Gegeneinander zweier Wirklichkeiten feststellt, braucht man nicht darauf zu verzichten, Caesars Übergang über den Rubicon als ungeheuerliche Anmaßung eines Einzelnen gegenüber Rom und seinem gesamten Herrschaftsbereich zu verurteilen. Man braucht sich auch nicht zu scheuen, die Borniertheit zu charakterisieren, mit der die Gegner ihre Möglichkeiten überschätzten. Aber man wird die Eigenkräfte der Positionen, in die die Parteien gegeneinander geraten waren, nicht mehr übersehen.“ S. a. ders., Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar. Drei biographische Skizzen, Frankfurt 1980, S. 57 f. [59] S. Mehring, Biographie, S. 287 u. 295 f.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur: 1914 – 1945, München 1999, S. 283.
Band 4 Kapitel 16 [1] Nachdem DNVP, NSDAP und Zentrum am 20. Januar 1933 im Ältestenrat des Reichstags eine Verschiebung der Reichstagssitzung vom 24. auf den 31. Januar erwirkt hatten, entschloss sich die Reichstagsfraktion der DNVP am 21. Januar zu einer ,Kampfansage an die Regierung von Schleicher‘: „Ohne ein Wiederansteigen der nationalen Güterproduktion und damit der Arbeit und der Kaufkraft ist die Lage des Deutschen Volkes nicht zu verbessern. Aber dieser entscheidende Gesichtspunkt tritt weder in den Maßnahmen noch in den wirtschaftspolitischen Äußerungen der Reichsregierung hervor. Vielmehr wird eine Hinneigung zu sozialistisch-internationalen Gedankengängen immer deutlicher. Eine besondere Gefahr bedeutet es, wenn man Gegensätze zwischen Groß und Klein vor allem in der Landwirtschaft entstehen läßt und dadurch die Gefahr eines Bolschewismus auf dem flachen Lande hervorruft. Überall taucht der Verdacht auf, daß die jetzige Reichsregierung nichts Andres bedeuten werde, als die Liquidation des autoritären Gedankens, den der Herr Reichspräsident mit der Berufung des Kabinetts von Papen aufgestellt hatte, und die Zurückführung der deutschen Politik in das Fahrwasser, das dank dem Erstarken der nationalen Bewegung verlassen zu sein schien.“ Golecki, Kabinett von Schleicher, S. 282 f., aus dem Nachlass Hugenbergs. Vgl. Einlage Nr. 13 in Schmitts Nachlass-Dossier zum Thema (zitiert unter: Ott, Vorgeschichte): „Vor dem Kabinett erwähnt Schl. eine Regierung Papen – Hugenberg habe die ,Stimmung der breiten Massen in stärkster Weise gegen sich‘ und könne ,eine Staats- und eine Präsidentenkrise‘ auslösen. Eine Regierung Hitler würde solch eine Krise nicht auslösen.“ S. a. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 1237 f. [2] S. o. Kapitel 15. Im März 1929 erkrankte Duschka Schmitt (verheiratet seit dem 8. Februar 1926) schwer an der Lunge. Carl Schmitt suchte über Pfingsten in Plettenberg bereits ein Grab für sie. Im Kantonsspital von St. Gallen wurde Duschka dann über Wochen mehrmals erfolgreich operiert. „Am 20. August 1931, 7 1/4 morgens, wurde Anima Louise geboren. Die Unkosten für die Küche werden dadurch erhöht“, notierte Duschka nach Noack, Carl Schmitt, S. 132 f., ins Menü-Buch der Familie. Anfang August 1932 erhielt Schmitt den Ruf an die Universität zu Köln, am 6. Dezember wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. In Köln wohnte er nahe der Universität in der Pfarriusstraße 6 in Lindenthal. Am 1. September 1933 wurde Schmitt nach Berlin berufen, am 9. November trat er seine Professur an der Friedrich-Wilhelms-Universität an. Mehring, Biographie, S. 233 f., 296, 322, 331 f.; Christian
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Tilitzki, Carl Schmitt – Staatsrechtler in Berlin. Einblicke in seinen Wirkungskreis anhand der Fakultätsakten 1934 – 1944, in: Etappe 7 (1991), S. 62 – 117. [3] Indem Schmitt auf die österreichische Verfassung zu sprechen kommt, scheint er Annahmen zerstreuen zu wollen, anders als der Reichspräsident hätte ein Verfassungsgericht nach Kelsen die Ermächtigung der Nationalsozialisten verhindern können. Zur Kontroverse s. Christoph Schönberger, Die Verfassungsgerichtsbarkeit bei Carl Schmitt und Hans Kelsen: Gemeinsamkeiten und Schwachstellen, in: Olivier Beaud u. a. (Hg.), Der Weimarer Streit um den Hüter der Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit, Paris 2007, S. 177 – 195; Manfred Prisching, Hans Kelsen und Carl Schmitt – Zur Konfrontation zweier staatstheoretischer Modelle, in: Ota Weinberger / Werner Krawietz (Hg.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Kritiker, Wien 1988, S. 77 – 116; Pasquale Pasquino, Gardien de la Constitution ou justice constitutionnelle? Carl Schmitt et Hans Kelsen, in: Michel Troper / Lucien Jaume (Hg.), 1789 et l’invention de la Constitution, Brüssel 1994, S. 141 – 152; Dan Diner / Michael Stolleis (Hg.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, Gerlingen 1999, sowie die Neuausgabe: Hans Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein? Abhandlungen zur Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie, hg. v. Robert Chr. van Oyen, Tübingen 2008. [4] „Vom ersten Tage seiner Ernennung zum Reichskanzler an hat er es verstanden, die politischen Prämien auf seinen legalen Machtbesitz systematisch und mit wachsender Rücksichtslosigkeit auszunutzen. Seine Ernennung zum Reichskanzler war nur der erste Schritt in einer Eskalation aufeinanderfolgender legaler Revolutionen. Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 ließ er den Reichstag auflösen. Schon am 2. [richtig: 6.] Februar 1933 setzte er durch eine Notverordnung gemäß Art. 48 WRV dem unglaublichen Durcheinander ein Ende, das sich aus dem zweideutigen Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932 ergab – ohne daß die Hüter der Verfassung Protest einzulegen, ja, überhaupt nur ein Wort zu sagen gewagt hätten. Am 5. März erreichte Hitler für seine Partei dank legaler, paralegaler und anderer Wahlmanipulationen (wie etwa der propagandistischen Ausbeutung des Reichstagsbrandes) ein relativ günstiges, auf jeden Fall ausreichendes Wahlergebnis. Kaum drei Wochen später, am 24. März 1933, übertrug ihm der deutsche Reichstag mit verfassungsändernder Mehrheit eine erstaunliche Ermächtigung. Diese Ermächtigung war in Wirklichkeit die unabsehbare Befugnis, die Verfassung zu ändern. Es war eine zweite legale Revolution.“ Schmitt, Die Legale Weltrevolution, S. 930. Dagegen Carl Schmitt, 1 Jahr deutsche Politik, in: Westdeutscher Beobachter 9, 176 vom 23. Juli 1933, S. 1: „Die staatsmännische Ueberlegenheit des politischen Führers Adolf Hitler bewährte sich hier an der schwierigsten und gefährlichsten innerpolitischen Lage, an der Frage der Legalität. Sie ist in der Tat ein Prüfstein allerersten Ranges. Aus schlimmen Erfahrungen heraus ist in Frankreich das Wort entstanden, daß die ,Legalität tötet‘. Es gibt wirklich eine Art von Legalität, die den politischen Tod und den Selbstmord einer Regierung oder eines Volkes bedeutet. Das deutsche Volk hat in den letzten Jahrhunderten seiner Geschichte öfters ein krankhaftes Legalitätsbedürfnis gezeigt und sich für diese Todesart sehr anfällig erwiesen. So erklärt sich ein bei manchen Nationalsozialisten verbreitetes, gegenteiliges Extrem: eine grundsätzliche radikale Illegalität. Für sie hat schon Lenin das treffende Wort vom ,Radikalismus, der Kinderkrankheit der Revolution‘ gefunden.“ S. a. Carl Schmitt, Was ist legal? Rundfunkvortrag Deutsche Welle. 24. Februar 1932 (Fragment), in: Schmittiana 8, S. 22 – 24. Zur Legalitätsstrategie der Nationalsozialisten s. Günter Maschke, „La légalité tue“. Einige Bemerkungen, in: Dietrich Murswiek u. a. (Hg.), Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 193 – 211, hier: S. 197; Irene Strenge, Machtübernahme 1933 – Alles auf legalem Weg?, Berlin 2002.
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[5] Schmitt hielt in Weimar auf dem Lehrgang der ,Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung‘ den Vortrag ,Das Staatsnotrecht im modernen Verfassungsleben‘: „Das Springen über den Kreidestrich der Legalität bedeutet noch nicht das Chaos. Zwar kann es rechtswidrig sein; aber denkbar ist auch, daß die Legalität innerlich sinnlos geworden ist. Dann ist ihre Umwandlung geboten in substanzhafte Gerechtigkeit. Das ist das Wesentliche der nationalen Revolution von heute, im Gegensatz zur Revolution von 1918. Jetzt besteht die Aufgabe darin, wieder einen Normalzustand zu schaffen. Das Volk ist zu sich selbst zurückgekehrt, die Legitimität siegt über die Legalität, das Recht der Sache siegt über bloß legalistisches Gelten. – Der Sprung über die Grenze der Legalität hat zwar für den Juristen immer etwas Bedenkliches. Aber ein innerlich sinnlos gewordenes Rechtssystem bildet doch immer nur eine äußerliche Sicherheit. So bildet die Anwendung des Art. 48 RV. unter Umständen die formale Rechtsgrundlage für einen Mißbrauch aller legalen Möglichkeiten und führt zu einer Vergiftung des Rechtsbewußtseins, bildet aber keineswegs den Boden für Rechtssicherheit. Das Staatsnotrecht war noch vor 8 Wochen das empfindlichste und heikelste Thema. Erinnert sei an den Brief des Prälaten Kaas und an den Aufruf der SPD. Man sprach damals noch von übergesetzlichem und überverfassungsmäßigem Notstand. Inzwischen sind wir auf legalem Weg in die Sphäre der Überlegalität hineingetreten. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. 3. 1933 hat, was bisher als überlegal bezeichnet wurde, legal gemacht. Es bildet heute die Rechtsgrundlage des Staatslebens in weiterem Umfange als die Reichsverfassung.“ Reichsgerichtsrat Dr. Brodführer, Das Staatsnotrecht im modernen Verfassungsleben. Aus einem Vortrage, gehalten Ende März in Weimar von Prof. Carl Schmitt, in: Deutsche Richterzeitung 25, 8 / 9 (1933), S. 254 f., hier: S. 254. S. a. Günther Krauss, Legalität und Legitimität des Hitler-Regimes (1948), in: Schmittiana 6, S. 313 – 323, hier: S. 320; Gerhard Dannemann, Legale Revolution, Nationale Revolution. Die Staatsrechtslehre zum Umbruch von 1933, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, Heidelberg 1985, S. 3 – 22. [6] Nach den Bundestagswahlen am 28. September 1969 hatten SPD und FDP 18 Sitze mehr als die Union; am 21. Oktober 1969 wurde Willy Brandt mit zwei Stimmen Mehrheit („mit einer zweihundertprozentigen Mehrheit“, wie Brandt in Anspielung auf Adenauer anschließend bemerkte) zum Bundeskanzler gewählt. Mit dem Spruch „Mehrheit ist Mehrheit“ ist allerdings Herbert Wehner in die Geschichte eingegangen. ,Legal ist legal‘ ist eine Variation des rechtspositivistischen Grundsatzes ,Gesetz ist Gesetz‘, den Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung 1, 5 (1946), S. 105 – 108, für die Gefolgschaft der Juristen im Nationalsozialismus verantwortlich macht. Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Tübingen 1968, S. 97 f., stimmt zu, gibt aber dem rechtsphilosophischen Werterelativismus Radbruchs eine Mitschuld. [7] Am 21. März 1933 reichten die Fraktionen der NSDAP und der DNVP – auf Vorschlag von Wilhelm Frick – einen Antrag zur Änderung der Reichstagsgeschäftsordnung ein, um zu verhindern, dass die Opposition die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch Fernbleiben zum Scheitern bringe. Als anwesend galt demnach auch jeder Abgeordnete, der infolge von Abwesenheit „von der Teilnahme an den Verhandlungen ausgeschlossen“ worden war. Rudolf Morsey (Hg.), Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933. Quellen zur Geschichte und Interpretation des „Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“, Düsseldorf 1992. Carl Schmitt veröffentlichte in der Deutschen Juristen-Zeitung 38, 7 (1933) vom 1. April 1933, Sp. 455 – 458, hier: Sp. 456 f., den Kommentar ,Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich‘: „Das Gesetz beruht zunächst formal auf Art. 76 RVerf. Nach der herrschenden, insbes. von Anschütz vertretenen Auslegung des Art. 76 hat die Befugnis
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zur Verfassungsänderung überhaupt keine Grenzen. Auf das Problem der Grenzen des Art. 76 braucht deshalb hier nicht eingegangen zu werden. [ . . . ] Das neue Gesetz ist aber außerdem ein Ausdruck des Sieges der nationalen Revolution. Gegenüber dieser geschichtlichen Tatsache kommt der berühmte Satz des RG. (RGZ. [Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen] 100 S. 27), daß ,die Rechtmäßigkeit der Begründung kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt‘ ist, zu einer dem RG. damals, im Jahre 1920, vielleicht nicht ganz bewußt gewordenen Geltung. Wenn die Gerichte schon zugunsten der neuen Mächte des Zusammenbruchs vom November 1918 diesen Standpunkt einnahmen, muß der gleiche Gesichtspunkt erst recht und in weit höherem Maße zugunsten einer nationalen Revolution und der gegenwärtigen Staatsgewalt gelten. Eine dritte Grundlage findet der neue Rechtszustand im Staatsnotrecht.“ S. a. ders., Das gute Recht der deutschen Revolution, in: Westdeutscher Beobachter 8, 108 (1933) vom 8. Mai 1933, S. 1 f. Gerhard Anschütz stellte am 31. März 1933 ein Gesuch auf vorzeitige Emeritierung. Dazu Walter Pauly, Herausgeber von Anschütz’ Memoiren (Aus meinem Leben, Frankfurt 1993, S. XLI): „So strikt wie das eigene positivistische Wissenschaftsideal Anschütz verbot, Ansprüche seines Ethos direkt in verfassungsrechtliche Aussagen zu münzen, so verbot ihm nun sein Ethos, weiter Verfassungsrecht zu kommentieren und zu lehren.“ S. a. Florian Scriba, „Legale Revolution“? Zu den Grenzen verfassungsändernder Rechtssetzung und der Haltbarkeit eines umstrittenen Begriffs, Berlin 2008, S. 87 ff. [8] „Um 8 auf, um den Vortrag Popitz zu hören, der aber nicht interessant war; immerhin seine große Übersicht und Überlegenheit zum Thema. Nachher mit ihm im Goethe-Haus, eine Pilgerfahrt, war gerührt von dieser Art Reaktion, von seiner Feinheit und Zurückhaltung und Anständigkeit. Begleitete ihn zum Bahnhof, lernte auf dem Bahnsteig Goerdeler kennen, dann zurück.“ Carl Schmitt, Tagebuchaufzeichnung vom 28. März 1933. [9] Nachdem das Haus in der Kaiserswertherstraße 17 am 23. August 1943 von einer Luftmine getroffen worden war, der ausgebombte Carl Schmitt aber kein Urlaubssemester erhalten hatte, bot Johannes Popitz seinem Freund vorübergehend Unterkunft an. S. Mehring, Biographie, S. 414. Anscheinend machte Schmitt vom Angebot über ,viele Nächte‘ Gebrauch. [10] Die Debatte um den Vorrang humanistischer (Spranger) oder nationalistischer (Troeltsch) Bildungsziele für die preußische Jugend fand statt zwischen: Eduard Spranger, Das humanistische und das politische Bildungsideal im heutigen Deutschland, Berlin 1916, und Ernst Troeltsch, Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen, Berlin 1917. Spranger pochte auf das humanistische Erbe Preußens: „Alles in allem: die Reichsgründung von 1870 ist nicht durch politische Erziehung des Volkes im direkten Sinne vorbereitet worden, sondern durch Humanitätsbildung.“ (S. 15.) Dagegen bemühte sich Troeltsch um die Eindeutschung der humanistischen Bildung: „Goethe als Ganzes bedeutet nicht den antikischen, sondern den allumfassenden, auch den gothischen Menschen einbeziehenden, modernen Humanismus.“ (S. 31.) Den Begriff der ,Bildungsreligion‘ prägte Troeltsch 1906 auf dem Deutschen Historikertag in Stuttgart mit seinem Vortrag ,Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt‘: „Der wichtige und verwickelte historische Vorgang, von dem ich oben gesprochen habe, die innere Verschmelzung der individuellen Überzeugungsreligion mit wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit und Kritik, die Konstituierung des Protestantismus als einer mit der Wissenschaft und Philosophie verbündeten Bildungsreligion, erklärt sich von diesen Entwicklungen [von der altprotestantischen Dogmatik zur neuprotestantischen Innerlichkeit] aus. Es ist nicht bloß ein Überwältigtwerden der kirchlich schwächeren Religion durch eine fremde Macht, nicht bloß eine Selbstvergessenheit und Selbsttäuschung, wenn der Protestantismus nunmehr sich als ein Prinzip religiöser und wis-
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senschaftlich-philosophischer Wahrhaftigkeit zugleich fühlt.“ Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München / Berlin 31924, S. 99. Erhellend zur ,dritten Religion‘ sind die Ausführungen Carl Schmitts gegenüber Straub, Interview, Bd. 5: Der Nomos, das jüdische Gesetz, sei die erste Religion; das Charisma, die christliche Gnade die zweite; die dritte Religion sei der Mythos Goethe, der sich gegen das Christentum durch Neuheit legitimiere, wie sich das Christentum gegenüber dem Judentum durch Neuheit legitimiert habe. Diese dialektische Deutung der Trinität findet sich bei Spranger, ,Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit‘, in: Goethes Weltanschauung. Reden und Aufsätze, Leipzig 1946, S. 207 – 216. S. a. ders., Nemo contra Deum nisi Deus ipse, in: Goethe 11 (1950), S. 46 – 61. S. dazu das ,Nachwort: Zur heutigen Lage des Problems: Die Legitimität der Neuzeit‘, in: Schmitt, Politische Theologie II, S. 109 – 126, und den Brief von Hans Blumenberg an Carl Schmitt vom 7. August 1975, in: Briefwechsel Blumenberg / Schmitt, S. 130 – 137. [11] Ende 1944 hat Johannes Popitz im Gefängnis der Prinz-Albrecht-Straße eine Mémoire mit dem Titel ,Meine beiden Freunde: Goethe und Fontane‘ verfasst und mit der Widmung „Für meine Kinder“ versehen. Seine Tochter Cornelia Schulz-Popitz und sein Sohn Heinrich haben es in Erwin Beckerath u. a. (Hg.), 9)'#:(;&). Edgar Salin zum 70. Geburtstag, Tübingen 1962, S. 35 – 51, posthum veröffentlicht. Zunächst hebt Popitz die beiden Schriftsteller aus der Fülle seiner Leseerlebnisse heraus (S. 37): „Was ist es nun, das mich diese beiden, Goethe und Fontane, vor allem lieben und verehren läßt. Es genügt ja, da es sich um ein persönliches Verhältnis handelt, nicht, daß über Goethes überragende Stellung kein Zweifel besteht, und daß Fontane uns Norddeutschen, vor allem dem Preußen, ein eigener Besitz ist. Was ich ihnen danke, ist nicht nur Belehrung, Genuß und Unterhaltung, es ist etwas Köstliches: Trost. In allen schweren Stunden meines Lebens – und sie waren zahlreich –, wenn keine Lektüre die Aufmerksamkeit fesseln wollte, wenn die Gedanken von dem Traurigen, Erregenden, Bedrückenden sich nicht loslösen ließen, wenn sie ruhelos umherschweiften, hat einer der beiden mich freundlich bei der Hand genommen und mich mitgenommen in sein Reich, der eine in sein weltumfassendes, vielgegliedertes Kaiserreich, der andere in sein kleines wohlangebautes Fürstentum.“ [12] Gustaf Gründgens, Briefe, S. 340, schreibt am 4. April 1958 an Friedrich Luft zum Manuskript von dessen Monografie ,Gustaf Gründgens‘: „Etwas mißverständlich finde ich den Satz auf Seite 9, wo Sie von meiner Machtvollkommenheit und finanziellen Sorglosigkeit sprechen. Meine Macht war genauso groß, wie ich sie riskierte, wenn auch die Tatsache, daß ich mit Goebbels nichts zu tun hatte, mir alles sehr erleichterte. Und was die finanzielle Sorglosigkeit angeht: der Etat der Preußischen Staatstheater wurde von dem preußischen Finanzminister Popitz behandelt und vom Potsdamer Oberrechnungshof geprüft, und es war immer eine große Beruhigung für uns, daß wir nie in den fatalen Genuß von Sonderüberweisungen aus unkontrollierbaren Fonds kamen.“ S. a. Zur Person. Günter Gaus im Gespräch mit Gustaf Gründgens, ZDF, ausgestrahlt am: 10. 07. 1963: „Sie sagten, mein Chef sei Göring gewesen: das stimmt. Mein wirklicher Chef war der preußische Finanzminister Popitz. Ein lauterer, anständiger, korrekter Mann. Der seine Korrektheit, seine Anständigkeit, seine Lauterkeit am 20. Juli durch den Tod hat büßen müssen.“ [13] Zur Rivalität zwischen Schmitt und Otto Koellreutter um die Stellung als erster Staatsrechtslehrer im Nationalsozialismus s. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 500 ff. Im Zusammenhang des Gesprächs s. a. Koellreutter, Volk und Staat in der Verfassungskrise. Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Verfassungslehre Carl Schmitts. Vortrag, gehalten am 20. 12. 1932, Berlin 1933; Die nationale Revolution und die Reichsreform, Berlin 1933.
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[14] „Mit Vergnügen im Zimmer gelesen, im Auto zur Fürstengruft mit dem Grab Goethes, peinliche Sache. Der tolerante Bürger neben den Fürstengräbern.“ Carl Schmitt, Tagebuchaufzeichnung vom 29. März 1933. [15] „Du Chatel Sire! Es ist | Kein Geld in deinem Schatze mehr vorhanden. | Karl So schaffe welches! – Edle Sänger dürfen | Nicht ungeehrt von meinem Hofe ziehn. | Sie machen uns den dürren Zepter blühn, | Sie flechten den unsterblich grünen Zweig | Des Lebens in die unfruchtbare Krone, | Sie stellen herrschend sich den Herrschern gleich, | Aus leichten Wünschen bauen sie sich Throne, | Und nicht im Raume liegt ihr harmlos Reich; | Drum soll der Sänger mit dem König gehen, | Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen!“ Friedrich Schiller, Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie, in: Auswahl in fünf Bänden, Bd. 4: Die Jungfrau von Orleans. Die Braut von Messina. Wilhelm Tell. Demetrius, Stuttgart o. J., S. 5 – 148, hier: S. 25, Erster Aufzug, Zweiter Auftritt. Im Handexemplar (HStA, RW 265-28779) hat Carl Schmitt handschriftlich am Seitenrand notiert: „Drum!! in Palästen (nicht in Hütten, wie auf Tabor)“. Schmitt zeichnet in: Zwei Gräber, Ex Captivitate Salus, S. 35 – 53, hier: S. 38, ein Gegenbild zur Weimarer Fürstengruft: „Zwei deutsche Dichter haben hier [in Berlin] ihr Grab gefunden, und zwar so, daß diese beiden Gräber für unsere wahre, das ist unsere Leidensgeschichte mehr besagen als die Gräber in der Fürstengruft zu Weimar: das Grabe Kleists am Wannsee und das Grab Theodor Däublers auf dem Friedhof an der Heerstraße.“ Während Schmitt Däubler für eine sich selbst erlösende Menschheit stehen sieht, deutet er Kleists Selbstmord (S. 44) als einen Akt christlicher Verzweiflung am goetheschen Menschen: „Es war die Gewalttat eines deutschen Dichters, den der Humanismus der deutschen Klassiker und der Idealismus der deutschen Philosophie unerlöst gelassen hatten, weil beide ihm kein Sakrament und nicht einmal ein Zeichen geben konnten.“ Zur Fürstengruft als Topos in der Literatur s. den Beitrag von Sigrid Weigel im Sammelband zur Tagung: Grundordnungen. Wechselbeziehungen zwischen Geographie, Religion und Gesetz (18. – 20. 02. 2010). [16] „Der Mord an Christus war ein Ritualmord. Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht der Glaube daran, daß unser Äon durch einen Ritualmord eröffnet ist. Trost ist ein absurdes Wort, bis der Tröster kommt. [ . . . ] Anfang des Christentums: Apostelgeschichte Kapitel 7: Ihr habt den Erben ermordet.“ Carl Schmitt, Glossarium, S. 313, Aufzeichnung vom 28. Februar 1951. Hier lässt Schmitt den antijudaistischen Affekt als letzte Begründung für die Zurückhaltung bei der Unterstützung seiner jüdischen Bekannten aufscheinen. Er vertröstet „solche Leute“ auf die Rückkehr des Messias. Zu Schmitts Einstellung zum Judentum der Briefwechsel mit Ludwig Feuchtwanger, besonders den Brief an Feuchtwanger vom 1. August 1928 (S. 275 f.) mit Bezug auf Rudolf Kaullas Buch ,Der Liberalismus und die deutschen Juden. Das Judentum als konservatives Element‘ (1928): „Daß die Juden ,von Stamm‘ nicht liberal sind, glaube ich auch; aber ihre konkrete Situation unter den restlichen Völkern zwingt sie doch, die Ideen von 1789 für sakrosankt zu erklären. Jede Minderheit muß auf die Heiligkeit liberaler Prinzipien bestehen.“ Dass Schmitt in der Wendung vom Trösten auf Goethe-Verse anspielt („Trost ist ein absurdes Wort: | Wer nicht verzweiflen kann, der muß nicht leben“), gibt der Stelle im Gespräch eine weitere Dimension. [17] Der Besuch Duschka Schmitts bei Eislers ist im Tagebuch am 31. März 1933 festgehalten. Mehring, Verlegerfamilie Eisler, bes.: S. 11, 20 und Abb. 9 auf S. 14 (Dankesschreiben von Mutter Eisler an Familie Schmitt vom 14. 08. 33). [18] Als Martin Mutschmann, Gauleiter und Reichsstatthalter von Sachsen, nach Verabschiedung des ,Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ seine Entlassung forderte, bat Erwin Jacobi Schmitt telefonisch um Hilfe. Schmitt schrieb Jacobi am 18. Juli
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1933 mit Bezug auf den Prozess Preußen gegen Reich einen Brief zur freien Verwendung: „Sehr verehrter, lieber Herr Jacobi! Ich bin der Überzeugung, daß Ihre Tätigkeit in dem großen Prozeß Preußen-Reich von Juli bis Oktober 1932 Sie in hervorragendem Maße als Beamten bewährt hat. Das Deutsche Reich hat sich Ihrer in einem überaus schwierigen und gefährlichen Kampf um die Beseitigung einer marxistischen Regierung bedient, darin liegt für jede nationale deutsche Regierung eine Anerkennung Ihrer nationalen Zuverlässigkeit, die Sie meines Ermessens dem altbewährten Beamten gleichstellt. Ich bitte Sie, von diesem Schreiben jedem Ihnen Geeigneten Gebrauch zu machen.“ Zit. nach HStA, RW 265-13111 / 1, in der Abschrift (13111 / 2) steht: „geeignet scheinenden Gebrauch“. Auch zitiert von Martin Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884 – 1965), Tübingen 2008, S. 237. Otto überliefert ebd., S. 238, einen Brief Jacobis vom 15. September, in dem er Schmitt mitteilt: „Herr von Papen hat mir geschrieben, dass er sich bei Herrn M[utschmann] für mich verwandt habe.“ Den persönlichen Einsatz Papens bestätigte Jacobis Schüler Hans Thieme am 13. Oktober 1993 in einem Brief an Peter Landau, den Dekan der juristischen Fakultät an der Universität München. S. a. Steffen Held, Jüdische Hochschullehrer und Studierende an der Leipziger Juristenfakultät. Institution und Akteure von der Weimarer Republik bis in die frühe DDR, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, S. 207 – 244. [19] Zu Hauptmann Christian Roth, Leiter der Abteilung P im Stellvertretenden Generalkommando und 1920 / 21 für die DNVP bayerischer Justizminister unter dem Ministerpräsidenten Gustav von Kahr, s. Carl Schmitt, Militärzeit, bes.: S. 518 ff., sowie Mehring, Biographie, S. 78 ff. S. a. Peter Winter, Dr. Christian Roth (1873 – 1934). Biographie eines bayerischen Juristen und Politikers, Regensburg 1990. Das Stellvertretende Generalkommando war eine jener drei Kommandostellen, auf die im Krieg die vollziehende Gewalt in Bayern überging. [20] Dass seine Theorie der Diktatur auf persönlicher Erfahrung beruhe, beteuert Carl Schmitt schon im Prozess Preußen gegen Reich (Stenogrammbericht, S. 353): „Ich habe auch Erinnerungen an diesen Zustand detailliertester Art auf Grund einer vierjährigen Tätigkeit bei einem Generalkommando. Also der Übergang der vollziehenden Gewalt bedeutet nicht, daß der Kommandierende General oder Militärbefehlshaber Landesbeamter wurde. [ . . . ] Ich wollte nur sagen, daß, obwohl dies Reichsorgan erscheint, ihm eine Landesgewalt unterstellt wird und zwar seiner unmittelbaren Befehlsgewalt, ohne aufzuhören, Landesbeamter zu sein und Landesstaatsgewalt auszuüben.“ Vor Gericht entfaltet Schmitt ausführlich die verschiedenen Übergänge der vollziehenden Gewalt, allen voran den normalen (S. 320): „Also der normale Übergang der vollziehenden Gewalt bedeutet eine allgemeine Unterstellung der ganzen Landesexekutive unter diese diktatorische Reichsgewalt ohne Verwandlung der Landesstaatsgewalt in Reichsstaatsgewalt, ohne Verwandlung der einzelnen Behörde in eine Reichsbehörde.“ Anders qualifiziert Schmitt den Preußenschlag als Schaffung einer „Diktatur-Organisation als Reichsorganisation“ (S. 320 f.): „Die Vorstellung der Schaffung eines Ersatzorgans, das ist das eigentlich rechtliche, was dieser ganzen Konstruktion der Verordnung vom 20. Juli 1932 sozusagen zugrunde liegt.“ Was beim ,Übergang der vollziehenden Gewalt‘, einer Wendung aus dem preußischen ,Gesetz über den Belagerungszustand‘ (1851), unter Vollzug zu verstehen ist, erläutert Carl Schmitt, Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie. (1916), in: Staat, Großraum, Nomos, S. 3 – 23, hier: S. 19: „der Militärbefehlshaber vollzieht nicht ein Gesetz, soll aber doch Exekutivorgan bleiben und nicht etwa legislative Zuständigkeit erhalten. Die Schwierigkeit löst sich dadurch, daß Verwaltung etwas anderes ist als Vollzug bestimmter Gesetze und daß das Gesetz mit Rücksicht auf die Erreichung eines bestimmten Zweckes zurücktritt, um dem Militär die Wahl der Mittel zu
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überlassen.“ Gegenüber Altmann und Litten, Parlamentarismus, bezieht Schmitt das Thema ,Diktatur‘ (wegen der Abstammung des Diktators vom päpstlichen Legaten) auf seine katholische Herkunft und spricht von einer Distanzierung vom politischen Katholizismus, die sich bereits in der Rezeption des gleichnamigen Buches angekündigt habe: „Litten: Nun hat ja Ihre Arbeit ,Die Diktatur‘ schon in den Zwanzigerjahren großes Interesse erweckt. Wie erklären Sie sich das? Schmitt: Ja, das erklärt sich sehr einfach. Das hatte ein interessierteres Publikum. Ich will hier nicht bitter werden: Die Katholiken hatten kein Interesse an ihrer eigenen Problematik. Ich fand sofort mehr Freunde, Diskussionsfreunde und echte Diskussionspartner bei Kommunisten und bei denen, die sich für Marxismus und dergleichen interessierten, als bei Katholiken.“ [21] „Telephonierte für heute Abend die Abteilung P ab. Ruhte etwas aus. Kaufte Blumen für Frau Beyerle und Frau Calker, und fuhr in die Mittelstr. zu Beyerle. Trank dort Kaffee. Der Privatdozent Theodor Maunz war dabei und einige jüngere Leute; auch Frau Beyerle, die sehr hübsch ist. Beyerle lächelnd und selbstgefällig; er tat mir aber leid. Er ging mit mir zu Calker durch den Englischen Garten. [ . . . ] Sehr freundlich mit Calker gesprochen, der mich gern hat. Der Rechtsanwalt Frank II war Assistent bei ihm. Bis halb acht abends geblieben. Große Sympathie für Calker, Ekel vor Beyerle.“ Tagebuchaufzeichnung vom 31. März 1933. Zu Fritz van Calker s. Schmitt, Tagebücher 1912 – 1915, mit Kurzbiografie auf S. 393, sowie Mehring, Carl Schmitt, S. 27 ff. Über Calker spannt sich der biografische Bogen zu dessen bei Gericht unter „Frank II“ geführten Schüler Hans Frank jun. [22] „Verehrter Herr Kollege! Ich danke Ihnen verbindlich für die Ueberlassung eines Exemplares der Jur[isten-]Z[eitung] mit Ihrem Aufsatz zum Ermächtigungsgesetz. Ich stimme Ihnen in allem Wesentlichen zu. Von Ihnen habe ich allerdings gelernt, über das juristische Wie das politisch-soziologische Wozu zu stellen. Ihre beiden lieben Besuche bei mir behalte ich in bester Erinnerung. Ihrer verantwortungsvollen Arbeit wünsche ich Glück und Erfolg. Stets Ihr ergebenster KBeyerle“ HStA, RW 265-1327. Auf der Rückseite des Briefs ist mit vier dicken Klebestreifen die Todesanzeige befestigt: „Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß verschied unerwartet heute früh 4 Uhr an den Folgen eines schweren Leidens, versehen mit den hl. Sterbsakramenten, im Alter von 60 Jahren mein geliebter Mann, unser lieber Vater und Schwiegervater Herr Geheimer Hofrat Universitätsprofessor Dr. iur. Konrad Beyerle. Vizepräsident der Görresgesellschaft. Korrespondierendes Mitglied der preuß. Akademie der Wissenschaften. Ehrendoktor der Universität Mailand. [ . . . ] Beerdigung: Freitag, den 28. April 1933, nachmittags 3 Uhr im Nordfriedhof. Gottesdienst: Samstag, den 29. April 1933, vormittags 9 Uhr bei St. Ursula. Wir bitten von Beileidsbesuchen gütigst absehen zu wollen.“ Am 26. April 1933 war Beyerle bei der Notoperation einer Darmverschlingung im Schwabinger Krankenhaus an einer Herzlähmung gestorben. S. Thomas Hense, Konrad Beyerle. Sein Wirken für Wissenschaft und Politik in Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt 2002, S. 229. S. a. Beyerle, Föderalistische Reichspolitik, München 1924. Zu Beyerle und Schmitt s. Dahlheimer, Katholizismus, S. 116; Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 38 u. 247. [23] Schmitt meint Heinrich Muth, Carl Schmitt in der deutschen Innenpolitik des Sommers 1932, in: Historische Zeitung 1971, Beiheft 1, S. 75 – 147. Muth richtet einen Angriff auf Schmitts Ausgabe ,Verfassungsrechtliche Aufsätze‘: „die Selbst-Apologie Schmitts befaßt sich nur mit den Teilen seiner Schrift, die unter den Aspekten einer nach-nationalsozialistischen Gegenwart sich für eine solche Apologie eignen. Das gibt ihm die Möglichkeit, sehr großzügig darüber hinwegzugehen, daß er es selbst gewesen ist, der seinem Widerstand gegen den Verfassungsrelativismus der Positivisten durch den weiteren Inhalt seiner Schrift
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jeden Ernst genommen hat.“ (S. 103.) Seine Rekonstruktion lautet, S. 136: „Nach dem Hauptthema seiner Schrift über die Legalität konnte Carl Schmitt im Sommer 1932 kein Anhänger des Nationalsozialismus sein, die gleiche Schrift erweist sich jedoch als Hilfsaktion für die deutschnationalen und gouvernementalen Pläne. Schmitt, der landläufig als ,revolutionärer‘ Denker gilt – Mohler rechnet ihn uneingeschränkt zur ,konservativen Revolution‘ – erscheint hier als Verbündeter der Deutschnationalen, der zusammen mit seinen Schülern intensiv an der Vorbereitung einer Verfassungsrevision aus dem Geist des von ihm sonst so negativ beurteilten Konstitutionalismus des 19. Jh.s arbeitet.“ Schmitt ärgerte sich darüber, von Muth – wie schon vom Prälaten Kaas – als ,Mann Papens‘ dargestellt und darüber hinaus mit Walther Schotte, dem Chefideologen des ,Deutschen Herrenclubs‘ in Verbindung gebracht zu werden. S. den Brief vom 27. 11. 1971 an Ernst Forsthoff, Briefwechsel Fortshoff / Schmitt, S. 325. Der Ärger über Muth hat sich in den Siebzigern sicherlich in allen größeren Briefwechseln niedergeschlagen. S. a. Gabriel Seiberth, Legalität oder Legitimität? „Preußenschlag“ und Staatsnotstand als juristische Herausforderung für Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Schmittiana 7, S. 131 – 164, hier: S. 134. [24] „Ein Telegramm aus Berlin, ich werde nach Berlin zurückgeholt: morgen nachmittag 5 Uhr Sitzung im Staatsministerium. Sehr aufgeregt und stolz, aber doch bedauert, daß ich die schöne Ferienreise abbrechen muß.“ Tagebuchaufzeichnung vom 31. März 1933. Kurz nachdem Schmitt seinem Freund Peterson in Rom abgesagt hatte, veröffentlichte dieser seinen Aufsatz ,Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums‘, s. o. Band 1, Anmerkung 45. [25] Carl Schmitt, Tagebuch 1930 – 34, Samstag, 01. 04. 33: „Um vier auf, [ . . . ] zum Staatsministerium. Vorbesprechung mit Papen, Popitz und Neumann, sehr nett, aber bedrückt und passiv. Papen sehr sympathisch, kämpft um seine Existenz. Wir sprachen über die Statthalter des Reichs in den Ländern. Papen meint, das letzte Ziel sei die Reichsmonarchie.“ Sonntag, 02. 04. 33: „Schnell den Entwurf über die Einheit der Staatsführung in Reich und Ländern, mit Popitz und Neumann telephoniert. Nicht sehr fröhlich weil ich nicht glauben kann, daß die Nazis das verstehen.“ Montag, 03. 04. 33: „Um 9.30 Uhr bei Neumann, meinen Entwurf diktiert, auch die Bemerkungen dazu. [ . . . ] Zu Mittag gegessen, eine Stunde ausgeruht. Um vier Uhr holte Popitz mich ab, wir fuhren zum Reichsministerium des Innern. Wieder diese scheußliche Atmosphäre. Frick, Staatssekretär Pfundtner, Papen, Popitz, nachher kam Göring. Erst aussichtslos. Der Bürokrat Frick hatte Bedenken, schlechter Eindruck, feige und schurkisch. Göring dagegen schwungvoll. Schmiß die Sache in einigen Minuten: der Reichskanzler, nicht der Reichspräsident, ist Staatspräsident. Großartig. Wir waren berauscht.“ [26] „Müde und passiv aufgestanden, korrigierte das Manuskript des ,Begriffs des Politischen‘, dann etwas spazieren, zur Geschäftsstelle der NSDAP in Lindenthal, die aber nicht zuständig war. Nach dem Essen etwas geschlafen, um 4 mit Duschka zur Geschäftsstelle Braunsfeld, dort nach einigem Hin und Her aufgenommen, merkwürdiger Vorgang in seinem [ . . . ] Hin und Her. Sehr erleichtert ein Abzeichen gekauft, mit Duschka nach Hause gegangen, Duschka hat auch ihre Aufnahme beantragt.“ Carl Schmitt, Tagebuchaufzeichnung vom 27. April 1933.
Kapitel 17 [27] „Der preußische Ministerpräsident, als der Führer der preußischen Staatsgeschäfte, ernennt die Mitglieder und ist der Präsident des Staatsrates. Er beruft den Staatsrat ein und setzt die Tagesordnungen für die Sitzungen fest. Er selbst oder sein Vertreter [nämlich Johannes Popitz] eröffnet die Sitzungen und kann sie jederzeit ohne Rücksicht auf den Stand der
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Beratungen schließen. [ . . . ] Reich und Preußen, Staat und nationalsozialistische Bewegung, Regierung und Volk, treffen sich in der Einrichtung dieses neuen Staatsrates. Mit großer Entschiedenheit entwickeln sich neue Methoden politischer Willensbildung. Ihr Endziel ist die Einheit von Staat, Partei und Volk. Der neue Staatsrat ist ein großer Schritt zur Verwirklichung dieses nationalsozialistischen Gedankens der politischen Führung und ihrer unzerstörbaren Verbindung mit dem deutschen Volk und dem deutschen Staatsgedanken, dessen größter Ausdruck seit zwei Jahrhunderten der Preußische Staat gewesen ist.“ Carl Schmitt, Die Bedeutung des neuen Staatsrates, in: Westdeutscher Beobachter 9, 169 (1933) vom 16. Juli 1933, S. 1. S. a. Carl Schmitts Stellungnahme II gegenüber Robert Kempner (Quaritsch, Antworten in Nürnberg, S. 86): „Ich war seit der Gründung des preußischen Staatsrates (Juli 1933) Mitglied und hatte anfangs großes Interesse an dieser Institution. Ich sah hier, mit meinem Freunde Popitz, große Arbeitsmöglichkeiten und hoffte, dort könnte sich eine Stätte sachlicher Erörterung von Verwaltungsfragen und damit ein Gegengewicht gegen den Parteibetrieb bilden. Aber die Einrichtung litt von Anfang an an dem inneren Zwiespalt, der mit der problematischen Persönlichkeit Görings zusammenhing. Auf der einen Seite war der Staatsrat von Popitz und einigen anderen, darunter auch von mir, als Träger einer durch spezifische Sachlichkeit und Sachkunde qualifizierten Arbeit gedacht; auf der anderen Seite mußte er in den Händen Görings zu einem leeren Prunkstück werden.“ Johannes Popitz habe laut Edgar Salin, Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, Tübingen 1963, S. IX, „zwei Jahre lang die Hoffnung gehegt, er könne den preußischen Ministerpräsidenten zum Staatsmann erziehen“. Popitz war am 21. Dezember 1929 als Staatssekretär im Reichsfinanzministerium mit seinem Minister Rudolf Hilferding aus Protest gegen Einmischungen des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht in die Steuerpolitik zurückgetreten, kehrte dann nach dem Preußenschlag als Reichsminister ohne Portefeuille und kommissarischer Finanzminister in die Politik der Präsidialkabinette Papen und Schleicher zurück. Am 30. Januar 1933 verließ Popitz die Reichsregierung, erhielt aber umgehend die ,ständige Teilnahme‘ an den Sitzungen des Reichskabinetts zugestanden. Nach Hermann Görings Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten wurde Popitz zum preußischen Staats- und Finanzminister ernannt. S. Lutz-Arwed Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt. Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, München 1972, S. 11 ff. [28] „Der Preußenschlag vom 20. Juli 1932, der die Regierung Braun-Severing beseitigte, hatte zwar die Reichsregierung und die preußische Regierung in einer Hand vereinigt, aber die Verbindung von Reich und Preußen nicht dauernd zu halten vermocht. Erst der unter der politischen Führung Adolf Hitlers entstandene neue Staat der nationalen Revolution hat das jahrhundertealte Problem durch das Reichsstatthaltergesetz vom 7. April 1933 gelöst. Die Reichsstatthalter sind Unterführer des politischen Führers Adolf Hitler. Sie üben Landesgewalt im Namen des Reiches aus. Der Länderparlamentarismus, die schlimme Wurzel des Parteienbundesstaates, ist abgeschafft. Mit einem lapidaren Satz ist er ins Herz getroffen: ,Mißtrauensbeschlüsse des Landtags gegen Vorsitzenden und Mitglieder von Landesregierungen sind unzulässig.‘ Auch das scheint uns heute schon überholt. So gründlich hat diese Lösung des großen Problems den alten Gegensatz von Reich, Staat und Bund beseitigt. Sie ist kein bloßer glücklicher Handstreich, keine bloße Improvisation, sondern eine wohldurchdachte konstruktive Lösung, die nur im engsten Zusammenhang mit der Gesamtkonstruktion der neuen Einheit steht. Diese ruht auf drei Säulen: dem staatlichen Behördenapparat, der staatstragenden Parteiorganisation und einer ständischen Sozialordnung.“ Carl Schmitt, Reich – Staat – Bund, S. 197. Zur Mitwirkung Schmitts an der „Beseitung des Föderalismus“ zugunsten einer Hierarchie von Führern und Unterführern s. Fijalkowski, Führerstaat, S. 159 ff.
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[29] „Ein vorläufiges (erstes) Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31. März 1933 (RGBl. Teil I S. 153) hat die Volksvertretungen der Länder mit der politischen Gesamtleitung im Reiche in Übereinstimmung gebracht. Zur Sicherung einer einheitlichen Reichspolitik bedurfte es aber darüber hinaus noch einer weiteren Regelung der einheitlichen Staatsführung im Reich und in den Ländern. Das ist das Ziel des vorliegenden ,Zweiten Gesetzes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich‘ vom 7. April 1933 (RGBl. Teil I S. 173). Es wird heute allgemein als ,Reichsstatthaltergesetz‘ bezeichnet und soll auch hier so genannt werden. Doch darf man nicht übersehen, daß Preußen keinen Reichsstatthalter hat, sondern der Reichskanzler dort nur die Rechte eines solchen mit gewissen Besonderheiten ausübt (§ 5 des Gesetzes). [ . . . ] Der Grundzug der neuen Reichskonstruktion besteht darin, daß das Ziel einer starken Reichsgewalt in den Ländern mit dem anders gearteten, aber keineswegs widersprechenden Bestreben verknüpft wurde, Preußen als eine Art Hausmacht unmittelbar in der Hand des Reiches zu halten. Ein politischer Konflikt zwischen Reich und Ländern ist nicht mehr möglich. Dabei ist der Reichsstatthalter in Preußen und in den Ländern nicht unterschiedslos eingeführt worden, sondern in Preußen übt der Reichskanzler selbst die Befugnisse eines Reichsstatthalters aus (§ 5 Abs. 1), und während in den anderen Ländern grundsätzliche Unvereinbarkeit von Reichsstatthalterschaft und Mitgliedschaft in der Landesregierung besteht (§ 2), ist für Preußen die allgemeine Vereinbarkeit der Mitgliedschaft in der Reichs- und der Landesregierung ausdrücklich angeordnet (§ 5 Abs. 2).“ Carl Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz, Berlin 1933, S. 9. Zur verworfenen Alternative eines Reichskommissariats ebd., S. 19 f. [30] „Das Gesetz vom 30. Januar 1934 beantwortet zwei große Fragen. Zunächst wird das bisherige Verhältnis von Reich und Ländern erledigt und die im Laufe des vergangenen Jahres geschaffene Verfassungslage teils bestätigt, teils weitergeführt. Das Gesetz stellt außer Zweifel, daß es von heute an nur noch einen einzigen deutschen Staat, nur eine Staatsgewalt und eine Staatshoheit gibt. [ . . . ] Es ist natürlich eine Zweckmäßigkeitsfrage, wieweit man bei dieser Rechtslage überhaupt noch von Reichsstatthaltern sprechen kann, zumal ja auch die Hoheit der Länder, bei denen sie Statthalter sein sollen, entfallen ist. Jedenfalls zeigt sich angesichts dieser Neuregelung wiederum, wie wohlüberlegt die Konstruktion des Reichsstatthalter-Gesetzes vom 7. April 1933 war, nach welchem Preußen keinen Reichsstatthalter hat, sondern in Preußen der Reichskanzler unmittelbar oder durch den Preußischen Ministerpräsidenten die Befugnisse eines Reichsstatthalters wahrnimmt. Infolgedessen untersteht zwar die Preußische Landesregierung der Reichsregierung in der gleichen, eben dargelegten Weise wie jede andere Landesregierung, nicht aber ist der Preußische Ministerpräsident wie der Reichsstatthalter durch das neue Gesetz der Dienstaufsicht des Reichsministers des Innern unterworfen. [ . . . ] Manche Schriftgelehrten der vergangenen Epoche hatten eine Zeitlang geglaubt, dem Nationalsozialismus den fehlenden ,Geist‘ liefern und ihn über Sinn und Wesen des wahren Rechtsstaates und einer wahren Revolution belehren zu können. Sie werden jetzt vielleicht erkennen, daß der Nationalsozialismus auch auf verfassungsrechtlichem Gebiet seine eigenen Begriffe durchsetzt und aus eigener Kraft seine folgerichtige Entwicklung bestimmt. Nichts vermag das Vertrauen auf die Bewegung so zu stärken wie ein Blick auf die Verfassungsentwicklung des vergangenen Jahres und auf den Weg vom 30. Januar 1933 zum 30. Januar 1934. Ohne schnell geschriebene Verfassungsurkunden, ohne voreilige Verankerungen und doch in rascher und logischer Folge sind große Verfassungsgesetze Schlag auf Schlag ergangen. Schritt für Schritt ist der neue Verfassungsboden erreicht worden, und wir können sicher sein, daß die Neugestaltung Deutschlands im Jahre II des nationalsozialistischen Staates mit derselben methodischen Sicherheit weitergeführt wird.“ Carl Schmitt, Neuaufbau von Staat und Reich, in: Völkischer Beobachter (Ausgabe A) vom 1. Februar
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1934, S. 1 f., im Original mit Hervorhebungen. Text des Gesetzes über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934, in: Reichsgesetzblatt 1934, 1, S. 75. S. a. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 525. [31] In seinem Klassiker: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944, Anhang (1944), Köln / Frankfurt 1977, S. 559, spricht Franz Neumann dem preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring in der ,Polykratie‘ des Nationalsozialismus geringe Macht zu: „Preußen hat aufgehört als Staat zu existieren und ist in Provinzen aufgelöst. Es gibt nur noch ein preußisches Ministerium, das Finanzministerium, das die traurigen Überreste des preußischen Staatsbesitzes und des Bauamtes verwaltet. Zwar gibt es dem Namen nach einen preußischen Ministerpräsidenten, doch Göring, der auch diesen Posten innehat, besitzt weder ein Kabinett, noch hat er irgendwelche Funktionen.“ Dagegen sieht er ihn als „Bindeglied zwischen der Partei und den übrigen Trägern der herrschenden Klasse“ in einer ,ungeheuren‘ Machtstellung (ebd., S. 565): „Er ist einfaches Parteimitglied, jedoch der designierte Nachfolger Hitlers. Seine Macht beruht auf seinen Regierungsämtern wie auf den engen Beziehungen zu Militär und Industrie. Er ist Reichsmarschall – der einzige, den es gibt; er ist Hitlers Beauftragter für den Vierjahresplan und in dieser Eigenschaft nicht nur für die deutsche, sondern auch die europäische Wirtschaft zuständig; er ist Vorsitzender des Ministerrates für die Reichsverteidigung und damit zweithöchster Gesetzgeber nach Hitler; er ist Reichsminister für Luftfahrt und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe und nicht zuletzt auch noch Schirmherr des Göring-Konzerns.“ Zur Aufnahme der Mythen aus der Staatsphilosophie des Thomas Hobbes im Bezug auf den Nationalsozialismus s. Günter Maschke, Ein Gefangener der Dialektik von Leviathan und Behemoth. Diskussionen um Carl Schmitt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 158 vom 12. 07. 1983, S. 21; Samuel Salzborn, Leviathan und Behemoth. Staat und Mythos bei Thomas Hobbes und Carl Schmitt, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Carl Schmitts Hobbes-Interpretation in der Diskussion, Stuttgart 2009, S. 143 – 164. [32] „Es wird dem alten Staate so gern der Vorwurf gemacht, daß er seine leitenden Beamten nur aus einem engen, gesellschaftlichen und politisch eindeutigen Kreise von Bewerbern gewählt habe; nun, Miquel ist in seiner Jugend ein Revolutionär gewesen, er stand mit Karl Marx in Beziehungen, seine liberalen Anschauungen hat er in langer Oppositionsstellung in Landtag und Reichstag zur Schau getragen; und doch wurde er Finanzminister, Vizepräsident des Staatsministeriums (1897) und Ritter des Schwarzen Adlerordens –, so ganz verschlossen kann dem Tüchtigen also die freie Bahn auch damals nicht wohl gewesen sein.“ Johannes Popitz, Johannes Miquel – ein deutscher Staatsmann, in: Deutsche JuristenZeitung 33, 5 vom 1. März 1928, Sp. 337 – 341, hier: Sp. 337 f. S. a. Carl Schmitts Nachwort zu seiner Edition von Lorenz von Stein, einem weiteren Vorbild Johannes Popitz’, zit. nach der bibliophilen Neuauflage von Norbert Simon (Hg.), Lorenz von Stein. Zur preußischen Verfassungsfrage. Reprint. Erstveröffentlichung in: „Deutsche Vierteljahrs Schrift. Erstes Heft. 1852“ verlegt durch W. Keiper Berlin, 1940 besorgt und mit einem Nachwort versehen von Carl Schmitt mit handschriftlichen Randbemerkungen und Notizen von Joseph H. Kaiser, Berlin 2002, S. 61 – 70, hier: S. 62 f.: „Die Generation, für die das Jahr 1848 das große Jugenderlebnis war, und deren Aufstieg ein oder mehrere Jahrzehnte nach 1848 einsetzte – ich nenne nur drei untereinander sehr verschiedene, aber in dieser Aufstiegslinie des äußeren Erfolges ähnlich laufende Schicksale: Otto von Bismarck, Richard Wagner und Johannes Miquel – blieben, auch als ihre Träger längst und höchst arriviert waren, von dorther geprägt, während bereits die folgende Generation, der dieses Erlebnis fehlte, weder von der unterdrückten Problematik des Jahres 1848, noch von den daraus sich ergebenden Kompromissen etwas ahnte oder begriff und sich eben dadurch selbst erledigte.“ Im Kontext des vorliegen-
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den Gesprächs s. Dirk Blasius, Zeitdiagnosen. Carl Schmitt und Lorenz von Stein, in: Der Staat 43, 1 (2004), S. 23 – 34. [33] „Jahrzehntelang haben wir die deutschen Intellektuellen lärmen hören und gestikulieren sehen. Ihr Geschrei klingt uns noch in den Ohren. Es war Krampf und Mache, und auf jeden Fall mehr Affekt als Intellekt. Sprechen wir besser überhaupt nicht mehr von deutschen Intellektuellen. Das Wort ist zu sehr kompromittiert und war auch in der Sache von Anfang nichts wert. [ . . . ] Wir empfinden das heute mit Recht, weil wir den freischwebenden Intellektualismus und die Volksfremdheit des liberalen neunzehnten Jahrhunderts, aus dem das Wort und die Sache stammt, nicht nur gefühlsmäßig, sondern auch verstandesmäßig überwunden haben. Man weiß nichts von einem großen Menschen, wenn man nichts von seinem Volke weiß. Auch der einsamste deutsche Dichter, Hölderlin, war einsam, aber nicht volksfremd. Der schwäbische Tischlermeister, der den kranken Dichter vierzig Jahre behütete, stand ihm wesensmäßig näher als eine ganze Dichterakademie fremdrassiger Literaten, selbst wenn sie sein Schicksal schöngeistig benutzten oder zum Anlaß ihres psychologischen Betriebes nahmen. Es gibt deutsche Dichter, deutsche Künstler, deutsche Forscher und Gelehrte. Auf jene deutschen Intellektuellen aber wollen wir verzichten. Sie mögen sich in der Kriegspropaganda feindlicher Staaten nützlich machen und bei instinktlosen Regierungen ein Asyl finden. Aus Deutschland sind sie ausgespien für alle Zeiten.“ Carl Schmitt, Die deutschen Intellektuellen, in: Westdeutscher Beobachter 9, 126 (1933) vom 31. Mai 1933, S. 1 f., hier: S. 2. Dazu Thomas Blanke, Carl Schmitt – Ein intellektueller Antiintellektueller, in: Thomas Jung (Hg.), Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt 2009, S. 250 – 268. [34] Dazu der Brief Carl Schmitts an Hans-Dietrich Sander vom 1. September 1971, Briefwechsel Schmitt / Sander, S. 174 f.: „Mir lag daran, dass Sie das Buch von Peter Gay ,Weimar Culture‘ kennen lernen, das in dem von J. Habermas zitierten Passus (am Schluss seiner ,Profile‘) in der Besprechung Schorskes eine Rolle spielt.“ Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt 1971, schreibt in ,Die deutschen Mandarine (1971)‘, einem seiner ,Drei Traktate über die Wurzeln deutschen Ungeistes‘, S. 239 – 251, hier: S. 250 f.: „Ich lese in der New York Review of Books vom 7. Mai 1970: ,Confronting Germany as an alien entity and as an external threat, the American intellectual’s task was to explain why Germany was different. Today American interest in Weimar has an opposite premise: a sense of kinship. Caught in a crisis ourselves, we turn to Weimar because its tragic experience of dissolution – political, social, and cultural – seems to promise unterstanding [sic] of our own situation. It is not the abhorrent strangeness of Weimar society that strikes us now, but our affinity with it.‘ Ich wage über die Triftigkeit dieser Einschätzung nicht zu urteilen.“ Dazu der handschriftliche Rückverweis Carl Schmitts im Handexemplar (HStA, RW 265-27526) auf ebd., S. 21: „Was einmal spezifisch deutsche Konflikte waren, vergleichbar allenfalls mit denen Italiens, ist, trotz der neuen Spaltung der Nation, fast ganz verschwunden. Jene Konfliktspannungen, die einmal intellektuell produktiv gewesen, nämlich in Affektionen empfindsamer Sinne, in Stimulantien und geistige Provokationen umgesetzt worden sind, verlagern sich, im Zuge einer durchaus komfortablen Verschweizerung Europas, wie es scheint, nach Amerika – in den USA jedenfalls ist die Rede von einer kulturellen Europäisierung, sogar Germanisierung. Es wächst dort unter anderem ein kurioses Interesse an Fragestellungen und Traditionen, in denen wir philosophische Ansätze der 20er Jahre wiedererkennen können.“ Am Schluss des Handexemplars notiert Schmitt: „Wer hätte das gedacht dass der Dollar gleichgültig für wie lange Zeit schwächer wird als die DM Euer Gott, der Dollar, nicht so fest wie der kleine Provinzial-Gott DM?“ Carl E. Schorske rezensiert in seiner Sammelbesprechung: Weimar and the Intellectuals I, in: The New York Review of
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Books 14, 9 (1970) vom 07. 05. 1970, auch Peter Gay, Weimar Culture. The Outsider as Insider, London 1968. Den Titel dieses Buchs entschlüsselt das Bild vom Trojanischen Pferd auf S. 22, in dem die Nationalsozialisten in die bürgerliche Kultur gelangt seien: „Not content with inviting the Trojan horse into the city, the men of Weimar watched over its construction and solicitously sheltered its designers.“ [35] „160. Zusatz zu § 268. (Staatsgesinnung.) Ungebildete Menschen gefallen sich im Räsonnieren und Tadeln; denn Tadel finden ist leicht, schwer aber das Gute und die innere Notwendigkeit desselben zu kennen. Beginnende Bildung fängt immer mit dem Tadel an, vollendete aber sieht in jedem das Positive. [ . . . ] Das Zutrauen haben die Menschen, daß der Staat bestehen müsse und in ihm nur das besondere Interesse könne zustande kommen; aber die Gewohnheit macht das unsichtbar, worauf unsere ganze Existenz beruht. Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so fällt es ihm nicht ein, daß dieses anders sein könne; denn diese Gewohnheit der Sicherheit ist zur anderen Natur geworden, und man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung besonderer Institutionen sei. Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben.“ Hegel, Rechtsphilosophie, S. 352 f. Dazu s. Carl Schmitt, Drei Arten, S. 46 f.: „Aus einem verwesenden, aus dem Heiligen Römischen Reich ist Hegel in den preußischen Staat geflüchtet. Daher enthält seine Konstruktion des Staates so viele Elemente aus dem Begriff des Reiches, daß dieser Staat etwas ist, was von jedem beliebigen Staat einer ,Allgemeinen Staatslehre‘ zu sagen allerdings lächerlich wäre: ein Reich der objektiven Sittlichkeit und der Vernunft, das imstande ist, über der bürgerlichen Gesellschaft zu stehen und sie von oben in sich einzufügen. Darin, daß der Staat in dem Deutschland des 19. Jahrhunderts als ein Reich begriffen wird, zeigt sich die Verschiedenheit des deutschen Staatsbegriffes von dem eines westlich-liberalen Vernunftrechtes oder Positivismus. Dieser schwebt zwischen dem Dezisionismus der diktatorischen Staatskonstruktion des Hobbes und dem Normativismus des späteren vernunftrechtlichen Denkens, zwischen Diktatur und bürgerlichem Rechtsstaat. Der Staat Hegels dagegen ist nicht die bürgerliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung eines berechenbaren und erzwingbaren Gesetzesfunktionalismus. [ . . . ] Er ist die konkrete Ordnung der Ordnungen, die Institution der Institutionen.“ S. a. Jean-François Kervégan, Politik und Vernünftigkeit. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Carl Schmitt und Hegel, in: Der Staat 27, 3 (1988), S. 371 – 391; Hegel, Carl Schmitt. Lo político: entre especulación y positividad, Madrid 2009; Henning Ottmann, Hegel und Carl Schmitt, in: Zeitschrift für Politik 40, 3 (1993), S. 233 – 240. [36] „[U]m 1/4 8 im Taxi zu Popitz zum Presseempfang, sah Hitler und Goebbels. Sah beide genau. Große Aufregung. Hitler wie der gierige Stier in der Arena. Erschüttert von diesem Blick. Papen war freundlich. Sah noch einige Leute und ging gegen 10 Uhr weg. Lächerliche Sache.“ Carl Schmitt, Tagebuchaufzeichnung vom 6. April 1933. [37] Eine Apologie des Bildungsbürgertums findet sich bei Carl Schmitt, Antwortende Bemerkungen zu einem Rundfunkvortrag von Karl Mannheim, in: Ex Captivitate Salus, S. 13 – 24, hier: S. 18: „Zwar wurde die deutsche Bildungsschicht seit 1848 von Generation zu Generation schwächer und schließlich fast zermürbt. Dennoch ist sie auch in den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 keineswegs entseelt und vernichtet worden. Sie war voller Angst vor jedem Bürgerkrieg und zeigte wenig Begabung für Verschwörungen und Komplotte. So konnte sie leicht Beute einer verschworenen Gemeinschaft werden, eine leichte, aber schließlich doch auch nur oberflächliche Beute. Erobern kann nur derjenige, der seine Beute besser kennt als sie sich selbst.“ Bei der Maxime zur Hermeneutik der Räuber-Beute-Beziehung handelt es sich um ein Zitat aus Bruno Bauers Buch ,Die bürgerliche Revolution in Deutsch-
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land‘, auch zu finden bei Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen (1939), in: Positionen und Begriffe, S. 271 – 295, hier: S. 293: „Bruno Bauer hat mit dem kritischen Scharfblick eines am Geist des preußischen Staates verzweifelnden Hegelianers die Lage von 1848 / 49 treffend gekennzeichnet: ,Die Eroberung der aufgelösten Masse, ihre gewaltsame Unterwerfung und Umbildung durch das Heer ist unmöglich – das Heer in seiner alten Organisation ist nicht mehr erobernd, die Aristokratie seiner Führer keine vorschreitende geschichtliche Macht mehr, denn erobern kann nur derjenige, der seine Beute besser kennt als sie sich selbst und sie durch diese Überlegenheit der Bildung und der Kenntnis sich unterwirft.‘“ [38] „Mag sich der Katholik in den Grenzen des Erlaubten, in Betätigung der politischen Freiheitsrechte, um die Besserung und Änderung der Staatsverfassung auf gesetzlichem Wege bemühen. Daß eine volle Wiederherstellung des alten Verfassungszustandes unmöglich ist, wird immer weiteren Kreisen klar. Auch darauf, wie man sich überhaupt die Wiederherstellung der Monarchien, gleichgültig ob föderalistisch oder unitaristisch gedacht, vorstellen soll, versagen die Antworten. Teilnahme am Staatsstreich ist dem Katholiken verboten. Unfruchtbare Abstinenz und verantwortungslose Opposition entspricht ebensowenig katholischen Staatsgrundsätzen. Da die Verfassung von Weimar für den Katholiken tragbar ist, gilt es, positiv auf den breiten von ihr gewiesenen Wegen am Staate mitzuarbeiten und den Notbau von Weimar einer besseren und vielleicht deutscheren Vollendung, deren er in manchem fähig ist, entgegenzuführen. In keiner der vorangegangenen Verfassungen Deutschlands aber war die Geltung des Willens des katholischen Volksteiles so restlos zur Geltung gelangt wie in der Weimarer Verfassung.“ Konrad Beyerle, Die Katholiken und der Volksstaat von Weimar, in: Godehard Josef Ebers (Hg.), Katholische Staatslehre und volksdeutsche Politik, Freiburg 1929, S. 85 – 96, hier: S. 94 f. Zur Entstehungsgeschichte der WRV s. ders., Zehn Jahre Reichsverfassung, München 1929; zum kulturpolitischen Verfassungskompromiss zwischen Zentrumspartei und preußischem Reich s. Rudolf Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei 1917 – 1923, Düsseldorf 1966, S. 230 ff. [39] „Sehr verehrter Herr Professor, hier in der Ferienruhe komme ich erst dazu, Ihnen einen Gruß zu senden in Erinnerung an manche frohe u. hochinteressante Stunde in Ihrem gastlichen Hause. Wie mag es Ihnen gehen? Ich freue mich ja so, daß Ihnen jetzt all’ die Anerkennung und die Einflußsphäre gegeben ist, die Ihnen zukommt. Soweit es mir zugänglich ist, verfolge ich im Schrifttum Ihre Ausführungen. Leider ist in Koblenz nicht [?] alles so zur Hand, am pünktlichsten habe ich stets die D.Juristen-Zeitung. Wie sehr werden Sie mit Arbeit überlastet sein! Falls Sie eine ruhige u. vielseitige Sommerfrische brauchen, kann ich Ihnen das Münztal sehr empfehlen; es ist lieblich u. romantisch zugleich u. gibt jedem Geschmack u. allen Möglichkeiten Raum. Darf ich um Empfehlungen auch an Herrn Min. Popitz bitten und seine Gattin? Ihnen verbindliche Grüße Dr. Julia Dünner“. Postkarte aus dem Hotel Post in Schönmünzach vom 19. August 1934, HStA, RW 265-3046. Von Carl Schmitt war in der ,Deutschen Juristen-Zeitung‘, dem von ihm herausgegebenen „Organ der Reichsfachgruppe Hochschullehrer des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen“, zuletzt am 1. August 1934 ,Der Führer schützt das Recht‘ erschienen. Zur Ministerialrätin Dünner, die im Reichsarbeitsministerium Heinrich Brauns’ unter Ministerialdirektor Erwin Ritter mit Wohlfahrtspflege beschäftigt war, s. Helene Weber, Dr. Julia Dünner, in: Christliche Frau 48 (1959), S. 108 – 110. 1933 war Dünner ins Versorgungsamt nach Koblenz zwangsversetzt worden. [40] „Der Mann da“ ist Hans Frank, die Begegnung datiert auf den 21. Juli 1933. Vgl. Mehring, Biographie, S. 330, zu Frank auch S. 325 ff. Dazu Carl Schmitts Stellungnahme II (Quaritsch, Antworten in Nürnberg, S. 86): „Die Fachgruppe Hochschullehrer des NS-Juristenbundes, die ich von Ende 1933 bis 1936 geleitet habe, war ein Teil der von Frank gelei-
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teten Organisationen. Die Fachgruppe hatte mit ihren etwa 400 Mitgliedern [ . . . ] in einem auf Massenwirkung und Massenbeiträgen angelegten System keinen großen Einfluß. Ich selbst war als erst angemeldeter Parteianwärter von Mai 1933 in den Augen der alten Parteimitglieder und Fachgruppenleiter nicht vollgültig. Meine Stellung beruhte ganz und ausschließlich auf dem Interesse, das Frank oft sehr demonstrativ für mich persönlich zeigte. Die Umgebung in diesem Juristenbund war mir wesensfremd. Aber Frank, der große Sympathie für mich hatte, hielt mich und wußte mich auch noch 1935 durch die Errichtung eines wissenschaftlichen Amtes zu halten, obwohl sich meine Heterogenität kaum noch länger verkennen ließ. Ende Oktober 1936 habe ich meine Ämter niedergelegt. Frank machte jetzt keine Anstrengungen mehr, mich zu halten, weil Heydrich persönlich ihn vor mir gewarnt hatte. Die Stellung Franks war nicht stark genug, mich vor der SS zu schützen, selbst wenn er es gewollt hätte.“ [41] „Das preußische Gesetz über den Staatsrat ist ganz von dem Gedanken der politischen Staatsführung beherrscht und schafft den neuen Staatsrat als ein Hilfsorgan dieser Staatsführung. Der Ministerpräsident und die preußischen Minister sind kraft ihres Amtes Mitglieder des Staatsrates; kraft Ernennung durch den Ministerpräsidenten können bis zu 50 Personen als weitere Mitglieder hinzukommen. Der Ministerpräsident ernennt diese Staatsräte aus drei Gruppen, nämlich erstens aus den Staatssekretären, zweitens aus den Führern der SA und SS, sowie den für den preußischen Gebietsteil zuständigen Gauleitern der NSDAP und andern Parteistellen, und drittens aus Vertretern von Kirche, Wirtschaft, Arbeit, Wissenschaft und Kunst oder sonstigen um Staat und Volk verdienten Männern. Die Staatsräte der letzten, dritten Gruppe werden auf Lebenszeit ernannt; in den beiden andern Gruppen ist die Mitgliedschaft im Staatsrat von der Dauer des Amtes im Staat oder in der nationalsozialistischen Bewegung abhängig. Darin zeigt sich, daß der gegenwärtige Preußische Staatsrat die drei Organisationsreihen, aus denen sich der moderne Staat des 20. Jahrhunderts zusammensetzt – staatlicher Behördenapparat, staatstragende Partei und die übrige Sphäre des öffentlichen Lebens – in sich vereinigt. Dadurch stellt er den Kontakt zwischen Staat, Partei und Volk her, und er erhält den Charakter einer Repräsentation. Aber ganz anders als eine parlamentarische Volksvertretung des 19. Jahrhunderts.“ Schmitt, Bedeutung des neuen Staatsrats, im Original mit Hervorhebungen. Johannes Popitz, der Spiritus rector des preußischen Staatsrates, könnte entweder taktvoll überlegt haben, dem preußischen Ministerpräsidenten einen Staatsrat nach dem Bilde des 1817 geschaffenen königlichen Beratungsorgans zu errichten; oder aber Carl Schmitt an seinem 45. Geburtstag in eine repräsentative europäische Einrichtung zu berufen. Text des ,Gesetzes über den Staatsrat‘ vom 8. Juli 1933 in: Preußische Gesetzsammlung Nr. 46 vom 10. Juli 1933, S. 241 – 243. S. a. Ellen Kennedy, Constitutional Failure. Carl Schmitt in Weimar, Durham / London 2004, S. 13 ff. [42] Am 15. September 1933 wurde der preußische Staatsrat feierlich eröffnet. ,Der Festakt in der Neuen Aula‘ der Friedrich-Wilhelms-Universität ist in: Völkischer Beobachter Nr. 259 vom 16. September 1933, S. 2, lebhaft beschrieben: „Zur Einleitung der Feier spielte das Staatsopern-Orchester unter Leitung des Staatskapellmeisters Prof. Heger die Ouvertüre aus der Orchester-Suite in D-Dur von Johann Sebastian Bach. Dann erhob sich der Ministerpräsident und schritt zum Rednerpult. Die Münchener Blutfahne wurde ihm nachgetragen.“ In Abwesenheit des Reichskanzlers hielt Hermann Göring die ,Weiherede‘, zitiert ebd., S. 1 f.: „Die nationalsozialistische Staatsverfassung ist es, die in diesem Staatsrat zum Ausdruck kommt. Sie gilt heute nicht nur für Preußen, sie wird hinausstrahlen in das ganze Reich. Es ist der erste Versuch, zu beweisen und zu zeigen, daß dieses System der Arbeit das richtige ist, und deshalb dürfen wir vom Wendepunkt des Staatslebens sprechen, dürfen davon reden, daß hier der Grundstein der nationalsozialistischen Staatsverfassung in Preußen
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und damit auch im Reich gelegt wird, denn wir sehen letzten Endes die größte Bedeutung des heutigen Tages darin, daß mit der Konstituierung des neuen Staatsrats in Preußen der Grundstein zu einer wahrhaft nationalsozialistischen Staatsverfassung gelegt wird, daß insbesondere an die Stelle eines Staatsorgans, das auf dem durchaus undeutschen Boden des westlichen Parlamentarismus gewachsen war, ein Führergremium gesetzt wird, welches urgermanisch ist und damit ein rein nationalsozialistisches Denken und Fühlen in sich birgt.“ Diese Verheißung nahm Carl Schmitt in: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933, S. 35, auf: „Zu dem neuen, für den nationalsozialistischen Staat artbestimmenden Führergedanken gehört als natürliche Ergänzung die Einrichtung eines Führerrats. Dieser steht dem Führer mit Rat, Anregung und Gutachten zur Seite; er unterstützt und fördert ihn, hält ihn mit der Gefolgschaft und dem Volk in lebendiger Verbindung, aber er kann dem Führer keine Verantwortung abnehmen.“ Am 16. September hielt der preußische Staatsrat seine erste Plenarsitzung ab, Carl Schmitt referierte mit Josef Terboven, dem Gauleiter von Essen, im Auftrag von Ministerialdirektor Neumann über ,Staatsverwaltung und kommunale Selbstverwaltung im Reich‘, auf Grundlage der Denkschrift ,Vorschläge für eine Umgestaltung der preußischen Verwaltung‘ vom 10. August 1933. S. Blasius, Staatsrat, S. 104; Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 514. Das Referat ist nicht veröffentlicht. [43] Die Präambel des preußischen Gemeindeverfassungsgesetzes vom 15. Dezember 1933 wird zitiert nach: Preußische Gesetzsammlung Nr. 78 vom 18. Dezember 1933, S. 427 – 441, hier: S. 427: „Staatsmacht und Volksfreiheit miteinander zu versöhnen, ist die Aufgabe des dem Volke dienenden Staates. Der Reichsfreiherr vom Stein versuchte, die Lösung dieser Aufgabe einzuleiten, als er Bauern und Bürgern den Weg zu einer Selbstverwaltung erschloß, die den Gemeinsinn anregte, vom Eigennutz und von verwerflicher Nörgelei ablenkte und durch verantwortliche Mitarbeit zur Erkenntnis der Staatsnotwendigkeiten erzog. Als die Staatsmacht und echte Selbstverwaltung verfielen, weil die Freiheit in zügellose Eigensucht und Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Volksganzen ausartete, verwirklichte Adolf Hitler in der Organisation der NSDAP. wahre deutsche Freiheit, die in Manneszucht und Gefolgschaftstreue gegenüber dem allein verantwortlichen Führer der Eigensucht entsagt und dem Volksganzen dient.“ Um Schmitts Anteil am Text einzuschätzen, lässt sich die Broschüre Staat, Bewegung, Volk, S. 33 f., heranziehen, die auf S. 20 – „heute (1. Dezember 1933)“ – datiert ist: „Der äußerlich so starke Militär- und Beamtenstaat des deutschen 19. Jahrhunderts hat den schweren politischen Fehler begangen, in der kommunalen Selbstverwaltung ein anderes Gestaltungsprinzip aufkommen zu lassen als in der staatlichen ,Exekutive‘, das hieß damals: im Staate selbst. Daß die Gemeindevertretung aus Wahlen hervorging, hätte bei der Wesensverschiedenheit von Gemeinde und Staat an sich noch keine innerstaatliche Zwiespältigkeit zu begründen brauchen; doch wurde die gewählte Gemeindevertretung, eben weil sie gewählt war, als wahrer Träger und Repräsentant der Gemeinde aufgefaßt, womit für die Gemeinde ein dem monarchischen Staat widersprechendes Formprinzip anerkannt war. Die kommunale Selbstverwaltung wurde dadurch zu einer Einbruchstelle des liberal-demokratischen parlamentarischen Prinzips in einen monarchistisch-autoritären Beamtenstaat. Der Freiherr vom Stein ist schon im Jahre 1810 zu der Einsicht gekommen, daß er den ,Unterschied zwischen Verfassung und Verwaltung nicht scharf genug im Auge behalten‘ habe.“ S. dazu Hans von Kopczynski, Die Steinsche Städteordnung vom 19. 11. 1808 und das preußische Gemeindeverfassungsgesetz vom 15. 12. 1933 in ihrer grundsätzlichen Bedeutung, Marburg 1935. Zu Popitz’ Federführung und Schmitts Berichterstattung bei der Entstehung des Gesetzes s. Horst Mazerath, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart u. a. 1970, S. 117 ff. Zur Neuausrichtung der Selbstverwaltung am ,Führergedanken‘
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s. a. (vom 3. Oktober 1933) Carl Schmitt, Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts, in: Rudolf Schraut (Bearb.), Deutscher Juristentag 1933. 4. Reichstagung des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen e.V. Ansprachen und Fachvorträge, S. 242 – 252, hier: S. 247 f. [44] „Wir haben früher einige Aussprüche Lenins angeführt, aus denen ersichtlich ist, wie wenig Illusionen er – noch vor der Machtergreifung – in bezug auf das Tempo der Verwirklichung des Sozialismus gehabt hat. Folgende Sätze aus einem seiner letzten Aufsätze, nach der Periode der ,Kompromisse‘ geschrieben, zeigen aber ebenso deutlich, daß diese Voraussicht für ihn niemals ein Verschieben des revolutionären Handelns bedeutet hat. ,Napoleon schrieb: ,On s’engage et puis on voit.‘ In freier Übersetzung heißt das: ,Man muß zunächst einen ernsten Kampf aufnehmen, dann wird schon das weitere ersichtlich.‘ So haben wir auch zunächst einen ernsten Kampf im Oktober 1917 aufgenommen und dann wurden schon einige solcher Einzelheiten ersichtlich (vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte sind es zweifellos Einzelheiten), wie der Brester Frieden, oder die ,neue ökonomische Politik‘‘ usw. Die Leninsche Theorie und Taktik der Kompromisse ist also nur die sachlich-logische Folge aus der marxistischen, der dialektischen Geschichtserkenntnis, daß die Menschen zwar ihre Geschichte selbst machen, sie aber nicht unter selbstgewählten Umständen machen können.“ Georg Lukács, Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken, Wien 1924, S. 71. Wladimir I. Lenin, Über unsere Revolution II, in: Werke, Bd. 33, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1962, S. 466 f. S. a. Wolfgang Eßbach, Das Formproblem der Moderne bei Georg Lukács und Carl Schmitt, in: Göbel, Metamorphosen, S. 137 – 155. [45] „Zeitweilig waren spanische Schelmenromane ein bevorzugtes Thema, ausgelöst durch eine vom Minister Hans Frank (1900 – 1946) überlieferte Äußerung Adolf Hitlers (1889 – 1945): ,Mein Leben kommt mir vor wie ein Roman.‘ Frank war anscheinend der Ansicht gewesen, Hitler hätte den Roman als permanente Peripetie verstanden. Carl Schmitt war konkreter und behauptete, es könnte sich nur um den Schelmenroman handeln. Er begründete das mit dem Umstand, dass der Picaro genau wie Hitler stets dubioser Herkunft ist und sich dadurch auszeichnet, dass er ununterbrochen beschließt, irgendetwas zu werden. (Siehe Hitler, Mein Kampf: Ich beschloss, Politiker zu werden.) Günter Maschke wird sich in diesem Zusammenhang mit Vergnügen seiner Gespräche mit Carl Schmitt über Lazarillo de Tormes (eines anonymen Autors) und Quevedos (1580 – 1645) abenteuerlichen Buscón erinnern.“ Ernst Hüsmerts Geleitwort zu Thomas Murner, Der Schelmen Zunft, in: Festschrift für Günter Maschke, S. 335 – 367, hier: S. 335. Zur Entschlossenheit des Schelms s. Buch 3, Kapitel 4, in dem Guzmán de Alfarache beschließt, in Alcalá de Henares Theologie zu studieren, um Priester zu werden, dann aber zum zweiten Mal heiratet: „Die Purzelbäume der Zeiten zwingen uns ja zu allem und sogar dazu, nach Dingen zu greifen, welche uns und ihm ziemlich zuwider sind. Ich mußte tun, was ich vorher nicht dachte, und deshalb kann ich sagen, daß weder die Eigenliebe mich je Bedenken tragen noch die Furcht mich jemals Furcht empfinden ließ, zu irgend einem Mittel zu greifen, von dem ich profitieren konnte. Und wäre ich bei einer Sache geblieben, so glaube ich gewiß, ich hätte mir damit auf jenem Wege weiter geholfen; aber ich war cholerisch und vertrat meine Zeit immer damit, etwas anzufangen, ohne es zu Ende zu führen. Ich faßte den Entschluß, ein guter Mensch zu werden; nach zwei Schritten Weges wurde ich müde.“ Mateo Alemán, Das Leben des Guzmán von Alfarache, übertr. v. Rainer Specht, München 1964, S. 735. S. a. das Buch von Carl Schmitts Freund Enrique Tierno Galván, Sobre la novela picaresca y otros escritos, Madrid 1974, hier: S. 27, in dem der Schelm soziologisch als Aufsteiger in einer sozial mobilen Gesellschaft behandelt wird, der in einem biografischen Zirkel dort landet, wo er gestartet war.
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[46] „Spitzbogen hat es als Dekorationsmittel auch anderwärts, in der Antike und in Asien, gegeben; angeblich war auch das Spitzbogen-Kreuzgewölbe im Orient nicht unbekannt. Aber die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung und der Ueberwölbung beliebig geformter Räume und, vor allem, als konstruktives Prinzip großer Monumentalbauten und Grundlage eines die Skulptur und Malerei einbeziehenden Stils, wie sie das Mittelalter schuf, fehlen anderweitig.“ Max Weber, Vorbemerkung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 1 – 16, hier: S. 2 f. S. a. ders., Der Sinn der ,Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. 1913, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, bes. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 21951, S. 475 – 526, hier: S. 506: „Die Entstehung der Gotik war in allererster Linie das Resultat der technisch gelungenen Lösung eines an sich rein bautechnischen Problems der Ueberwölbung von Räumen bestimmter Art: die Frage nach dem technischen Optimum der Schaffung von Widerlagern für den Gewölbeschub eines Kreuzgewölbes, verbunden mit noch einigen hier nicht zu erörternden Einzelheiten. Ganz konkrete bauliche Probleme wurden gelöst.“
Wie ist es zum Gespräch mit Carl Schmitt gekommen? Nachwort von Dieter Groh Die Geschichte fängt schon viel früher an. In den Fünfzigerjahren saß ich in Ernst Forsthoffs Privatseminar in Heidelberg-Schlierbach. In der Nähe war der amerikanische Oberbefehlshaber in einer schönen Villa einquartiert. Gegenüber der evangelischen Kirche wohnte Forsthoff in einer alten Mühle, wo er abends seine Seminare abhielt. Dort gab es oft reichlich Wein, dem auch der Seminarleiter nicht abgeneigt war. Eines Abends zwischen elf und zwölf sagte Forsthoff ungefähr Folgendes: „Ich habe wieder so viel Honorar für Gutachten bekommen, was soll ich denn damit machen?“ Forsthoff hatte eine Idee, was man mit dem Geld machen könnte: „Wir machen ein Seminar, und ich finanziere es am Anfang.“ Auf unsere Frage, wen man denn dazu einladen könnte, meinte er, „es gibt dafür Leute wie Carl Schmitt. . . “. Jeder von uns, der bei Forsthoff saß, wusste natürlich, wer Carl Schmitt war, und hatte auch seine wichtigsten Bücher, die nicht eben billig waren, zuhause. Der ,Nomos der Erde‘ ist 1950 erschienen, 1952 habe ich Abitur gemacht, dann fing ich an, Jura zu studieren, später Geschichte, Slavistik und Philosophie. Auch meine Dissertation über ,Russland und das Selbstverständnis Europas‘, die 1961 erschienen ist, gründete auf Hegel und Schmitt. In einer Rezension meines Buches hat mich Peter Scheibert, Professor für Osteuropäische Geschichte in Marburg und damals einer der besten Russland-Spezialisten in Deutschland, zum „Linksschmittianer“ ernannt. Lange hatte ich nicht gewusst, ob ich das juristische Staatsexamen machen soll oder Geschichte zu Ende studieren. Es hat sich erst in dem Augenblick entschieden, als ich meine spätere Frau Ruth kennenlernte, im Hörsaal in Gadamers Vorlesung. Forsthoff wusste von meinen außerjuristischen Interessen. Als die Frage aufkam, wer das geplante Seminar organisieren solle, sagte er: „Es wäre ganz gut, wenn der Groh da mitmacht.“ Wenn ein Nicht-Jurist dabei wäre, kämen auch andere Nicht-Juristen ins Seminar. Seine Idee war es, mit guten Honoraren die besten Köpfe anzulocken. Als Studenten wussten wir natürlich damals nicht, wieviel man da bieten müsse; aber Forsthoff wusste es. Ich fragte ihn: „Herr Professor, an wen denken Sie denn?“ „Ja“, sagte er verschmitzt, „zum Beispiel an Carl Schmitt und Arnold Gehlen.“ Und da jeder von uns ihre Bücher zuhause stehen hatte, war das eine tolle Sache: Schmitt und Gehlen, noch dazu im Privatseminar! Hubert Schrade, der Kunsthistoriker aus Tübingen, sollte auch kommen. Er hatte als stell-
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vertretender Rektor die Reichsuniversität Straßburg mit aufgebaut, sich aber später vom Nationalsozialismus distanziert. Wir besorgten uns die Adressen der in Frage kommenden Dozenten und schrieben Einladungsbriefe, nachdem wir ein Thema gefunden hatten. Das erste und zweite Seminar habe ich 1958 und 1959 im Herbst in Ebrach organisiert, zusammen mit den Juristen Detlef Böckmann und Gerhard Henze, der später am Auswärtigen Amt tätig war. Die ersten Ebracher Seminare waren sehr persönlich ausgerichtet. Scheine wurden nicht vergeben, die ganze Organisation war eher informell. Als die Ebracher Seminare dann zu ,schmittianisch‘ wurden, mit Verehrung für den ,Herrn Professor Schmitt‘, habe ich mich sehr schnell abgeseilt. Es gab aber keinerlei Indoktrinierungsversuche, der Ton war völlig frei in Ebrach. Dirk van Laak sagt in seinem Buch ,Gespräche in der Sicherheit des Schweigens‘, hinter den Ebracher Seminaren habe die Idee gestanden, um Carl Schmitt eine Schar jüngerer Wissenschaftler zu sammeln, die seine Lehre weitergeben würden. Davon habe ich damals nichts gemerkt. Ihre Frage, wie ich denn zu Carl Schmitt gekommen sei, ist einfach zu beantworten: über Ebrach. Es lief dann langsam an. Wenn Schmitt in Heidelberg Forsthoff besuchte, erschien er natürlich auch bei uns. Wir waren ja die Leute, die das Seminar organisierten und die Briefe mit ihm wechselten. Er besuchte uns dann in unserer kleinen Altstadtwohnung am Schloßberg, 35 m2, darauf verteilten sich drei Zimmer, ein Flur und eine Küche von 4 m2 mit drei Öfen, die man jeden Morgen heizen musste. In den Sechzigerjahren habe ich Schmitt öfter in Plettenberg besucht, in „San Casciano im Sauerland“, wie er in Anspielung auf Machiavelli schrieb. Der Umgangston war locker, man vermied nach Möglichkeit die Anrede „Herr“, „Herr Professor“ war schon gar nicht die richtige Formel. Schmitt hatte sehr enge Beziehungen nicht nur zu Spanien, sondern auch zu Frankreich, wo die Formen lockerer sind. Als ich später dreieinhalb Jahre in Paris verbrachte, hatten wir auch zu französischen ,Schmittianern‘ Kontakt, vor allem zu Julien Freund, den ich im Elsass öfter besuchte. Meine Frau stammt aus Soest, 50 Kilometer von Plettenberg entfernt. Wenn wir dort waren, besuchte ich auf der Rückreise Carl Schmitt, mindestens zweimal im Jahr, manchmal zusammen mit meiner Frau. Als er erfuhr, dass sie aus Soest sei, sagte er: „Ach, da kommt ja das Pumpernickel her, das esse ich so gern.“ Und das war für sie Anlass, bei jedem unserer Besuche in Soest bei Haverland ein Pumpernickel zu kaufen und Schmitt zu schicken oder mitzubringen; da war er ganz glücklich. Die Firma Haverland existierte seit dem Dreißigjährigen Krieg. Pumpernickel ist ein reines Roggenbrot, sehr dunkel, fast schwarz, grobkörnig, das sehr lange und bei niedriger Temperatur gebacken wird. Auch Grimmelshausen schreibt ja in seinem ,Simplizissimus‘ vom „treugen Pumpernickel“ aus Soest, von dem die Kehle rauh wird und der Leib mager. Carl Schmitt ging mittags immer schlafen. Wenn ich in Plettenberg war, legte er mir meist zwei Ordner auf den Tisch und sagte: „Der alte Mann muss schlafen
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gehen. Groh, hier haben Sie etwas zu lesen.“ Im Ordner waren die ganzen Häupter der Studentenbewegung versammelt, die mit ihm korrespondierten. In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre entwickelte sich ja die Studentenbewegung. Bezugspunkte zu Schmitt waren die APO, die „außerparlamentarische Opposition“, und der Begriff der ,Entscheidung‘, die Entscheidung auch zum Straßenkampf; darin trafen sich Schmitt und die APO. So hat Schmitt auch die damaligen Maoisten kennengelernt. Ich erinnere mich noch heute, wie sie in Heidelberg demonstrierend durch die Hauptstraße zogen. Davon erzählte ich dann immer Schmitt. Das wollte er wissen, das war für ihn Nähe zum Straßenkampf. In Plettenberg hat mir Schmitt später einmal die Frage vorgelegt: „Groh, können Sie mir erklären, warum der Forsthoff diese Gutachten für Springer geschrieben hat?“ Schmitt war gegen Springer. Oben war die Pressemacht, und unten waren die Bataillone der linken Studenten, für die er eindeutig Sympathie empfand. Hätte er nach dem Tod Hans Zehrers, des Chefredakteurs der ,Welt‘, als Jurist eingegriffen, dann hätte er gegen Springer argumentiert, so mein Eindruck. Forsthoff arbeitete für Springer, und Schmitt arbeitete für Rudolf Augstein. Klaus Figge habe ich bei Gert Kalow kennengelernt, im Brückenturm der Alten Neckarbrücke in Heidelberg. Kalow feierte hier seine bekannten Feste, da waren Redakteure vom Hessischen und vom Westdeutschen Rundfunk dabei, auch Redakteure vom SWR aus Baden-Baden sowie Professoren aus Heidelberg und Mannheim. Dort bin ich auch 1957 an Fasching zum ersten Mal Reinhart Koselleck begegnet. Klaus Figge aus Baden-Baden schlief oft bei uns, er hatte einen Lehrauftrag hier an der Universität. Später hatte er in Konstanz einen Lehrauftrag über Geschichte in den Medien. Meist hat er mit einem Professor aus dem Historischen Seminar zusammengearbeitet, entweder mit mir oder mit einem Kollegen. Als Klaus Figge keine Lehraufträge mehr hatte, holte Rainer Wirtz aus dem Südwestfunk oder einem anderen Sender Journalisten für gemeinsame Veranstaltungen. Bei den Studenten rief das ein großes Echo hervor, weil sie im Medienseminar lernen konnten, sich adäquat auszudrücken. Die Sendung ,Zeitgenossen‘ haben Klaus Figge und ich im Winter 1971 / 72 aus der Taufe gehoben. Wir hatten die Idee, prominente Zeitgenossen darüber reden zu lassen, was für sie in der Zeitgeschichte wichtig war. Von vornherein war uns klar, dass wir die Sendung nicht zu stark strukturieren dürften. Sonst wären wir in unserem Interview mit Albert Speer sicher schon auf die Sache mit dem KZ-Mittelbau Dora gestoßen. Wir arbeiteten vorher das Konzept aus und überlegten uns die Fragen. Abends beim Wein oder im Garten sind wir dann darauf gekommen, Carl Schmitt über sein Verhältnis zum Nationalsozialismus zu befragen. Es war damals nicht schwierig, das Projekt beim Südwestfunk durchzusetzen. Widerstände haben wir nicht gespürt, dazu war Schmitt wohl auch zu unbekannt. Und wenn er einigen Leuten bekannt war, gab es höchstens ein Naserümpfen. Am Anfang war es schwer, etwas über Carl Schmitt zu bringen, eine Zeitlang war es schwer, etwas gegen Carl Schmitt zu bringen, und dann war es schwer, etwas für Carl Schmitt zu bringen. Heute ist es schwer, etwas ohne Schmitt zu bringen.
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Unser primäres Erkenntnisinteresse waren im Gespräch die Ereignisse des Jahres 1933. Wir wollten wissen, wie er sich damals verhalten hat und wie er mit den Nationalsozialisten Kontakte aufgenommen hatte. Das stand im Raum, das wollten wir herausbekommen. Als Historiker hatte ich für den zeitgeschichtlichen Aspekt mehr Interesse als für den psychologischen. Erst kurz zuvor hatte ich eine Hörfunksendung über die ,misslungene innere Reichsgründung‘ von Bismarck produziert. Auch persönliche Entscheidungen standen im Horizont der Zeitgeschichte, gerade in der Sendung ,Zeitgenossen‘. Klaus und ich sagten Carl Schmitt, wir kennten die Geschichte mit Schleicher. Uns war natürlich auch bekannt, dass er der Schützling von Göring war. Schmitt sagte uns: „Ja, kommt nach Plettenberg, dann können wir abends immer einen schönen Mosel trinken.“ Er öffnete uns ein Zeitfenster, dann kamen wir im Dezember 1971 und blieben ein paar Tage. Wir sprachen über die Fragen, Schmitt sagte uns, worüber er gern sprechen würde. Davon, bestimmte Abschnitte wegzulassen, war nicht die Rede. Ich staune heute noch darüber, wie genau doch Carl Schmitt auf unsere Wünsche eingegangen ist. Er ist nicht ausgewichen, soweit ich die Gesprächssituation von damals memoriere. Wir wollten etwas von ihm wissen, und er hat uns bereitwillig Auskunft gegeben. Er stand 1971 immer noch im Kreuzfeuer der politisch interessierten öffentlichen Meinung und hatte ein gewisses Interesse daran, sich wieder gut zu situieren. Es ist ihm ja auch gut gelungen, nimmt man die FAZ-Redakteure einmal als Beispiel. Selbstverständlich hat er unser Gespräch auch genutzt, um eine bestimmte Version seiner Geschichte zu erzählen. Dass er ,Der Führer schützt das Recht‘ 1934 geschrieben hat, um Hitler auf seine eigentliche Aufgabe aufmerksam zu machen, den Rechtsstaat zu schützen, das haben wir ihm nie abgenommen. Ich habe ihm auch gesagt, dass er es sich da zu leicht macht. Hitler war alles andere als ein Intellektueller. Wer war denn schon Carl Schmitt? Hannah Arendt hat es einmal richtig analysiert, sie hat ihn gut durchschaut: Schmitt hat seine Rolle weitgehend überschätzt, im Positiven wie im Negativen. Jeden Tag führten wir sechs bis acht Stunden lang Gespräche. Ihm hat es Spaß gemacht und uns auch, es hat sich gegenseitig übertragen – ein ideales Team. Abends aßen wir ein Schnitzel oder tranken mit dem alten Herrn einen Mosel. Er hatte gute Weine. Danach saßen wir stundenlang im Schneideraum, tagelang war ich in Baden-Baden. Am Ende konnte ich die Sonne kaum noch sehen. Was im Interview unerwähnt bleibt, sind die vielen Gespräche, die ich persönlich mit Schmitt geführt habe, wenn ich in Plettenberg war und wir im Wald spazieren gingen. Heute kann ich mir besser erklären, warum Carl Schmitt „bei Hitler mitgemacht“ hat. Ich habe viel gelernt aus Ruth Grohs Buch ,Arbeit an der Heillosigkeit der Welt‘, einer Studie zur politisch-theologischen Mythologie und Anthropologie Carl Schmitts. Der Begriff des Politischen gipfelte bei Schmitt in einer Apotheose der Entscheidung, als deren Verkörperung er sich den idealen ,Führer‘ vorstellte. Das Rätsel ist aber nicht gelöst, der Fragehorizont verschiebt sich weiter.
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Die Historiker wollen ja auch in zwanzig Jahren noch etwas zu tun haben. Das ,warum‘ unserer Frage auf das ,wie‘ zu verschieben, sein Engagement bei den Nationalsozialisten auf die Alltagsgeschichte herunterzuspielen, das hat Schmitt bei Augustinus gelernt. Es gibt keine große Entscheidung für den Nationalsozialismus, nur viele alltägliche kleine. Hinterher konstruiert er sich dann so in die Geschichte hinein: Wenn die Geschichte so verlaufen ist, dass der Nationalsozialismus gesiegt hat, bin ich einer seiner Bannerträger.
Namenverzeichnis Achterrath, Emmi (1889 – 1976) 56 Adenauer, Konrad (1876 – 1967) 93 Anschütz, Gerhard (1867 – 1948) 65 Aragon, Louis (1897 – 1982) 32 Augustinus von Hippo (354 – 430) 47 – 49
Eisler, Fritz (1887 – 1914) 58, 98 Eisler, Georg (1892 – 1983) 98 Eisler, Heinrich (1854 – 1924) 58 Engels, Friedrich (1820 – 1895) 45, 49 Esquivel, Antonio María (1806 – 1857) 84
Ball, Hugo (1886 – 1927) 91 Bauer, Bruno (1809 – 1882) 39 Beethoven, Ludwig van (1770 – 1827) 51 f. Beyerle, Konrad (1872 – 1933) 99 f. Bilfinger, Carl (1879 – 1958) 63 Bismarck, Otto von (1815 – 1898) 37, 39, 86, 104 Blei, Franz (1871 – 1942) 44 Borchardt, Rudolf (1877 – 1945) 53 Bracher, Karl Dietrich (geb. 1922) 35, 66, 73 f. Brandt, Willy (1913 – 1992) 95 Braun, Otto (1872 – 1955) 62, 64 f., 68 Brecht, Arnold (1884 – 1977) 63, 65, 71, 92 Breitscheid, Rudolf (1874 – 1944) 69 Brüning, Heinrich (1885 – 1970) 59 – 62, 66, 72, 75, 106 Bruno, Giordano (1548 – 1600) 57 Bultmann, Rudolf (1884 – 1976) 67 Bumke, Erwin (1874 – 1945) 87
Feuchtwanger, Lion (1884 – 1958) 98 Feuchtwanger, Ludwig (1885 – 1947) 98 – 100 François-Poncet, André (1887 – 1978) 58 f., 63, 69 Friedensburg, Ferdinand (1886 – 1972) 62, 74 Fritsch, Werner von (1880 – 1939) 41, 43
Caesar, Gaius Iulius (100 – 44 v.Chr.) 93 Calker, Fritz van (1864 – 1957) 99 Christen, Viktor 45 Clemenceau, Georges (1841 – 1929) 60 Corino, Karl (geb. 1942) 44 Croy, Kunigunde von (1864 – 1931) 80 Demuth, Helene (1820 – 1890) 98 Díez del Corral, Luis (1911 – 1998) 42 Dönhoff, Marion von (1909 – 2002) 41 Drieu la Rochelle, Pierre (1893 – 1945) 32 Dünner, Julia (1883 – 1959) 107
Gaulle, Charles de (1890 – 1970) 60, 66 Gay, Peter (geb. 1923) 105 Gayl, Wilhelm von (1879 – 1945) 66 Gentilis, Albericus (1552 – 1608) 57 Geulincx, Arnold (1624 – 1669) 56 Goethe, Johann Wolfgang (1749 – 1832) 63, 95 – 98 Göring, Hermann (1893 – 1946) 35, 78, 90 f., 98, 100 – 103 Gottheiner, Georg (1879 – 1956) 63 Grillparzer, Franz (1791 – 1872) 51 Gründgens, Gustaf (1899 – 1963) 97 Haecker, Theodor (1879 – 1945) 56 Haenisch, Konrad (1876 – 1925) 97 Heisenberg, Werner (1901 – 1976) 34, 64 Heller, Hermann (1891 – 1933) 65 f. Hengsbach, Franz (1910 – 1991) 47 Herbart, Johann Friedrich (1776 – 1841) 31 Herzen, Alexander (1812 – 1870) 45 Hilferding, Rudolf (1877 – 1941) 105 Hindenburg, Oskar von (1883 – 1960) 60, 72 Hindenburg, Paul von (1847 – 1934) 36, 54, 59 – 64, 66, 69, 72 – 75, 87, 93, 95, 102
Namenverzeichnis Hirsch, Emanuel (1888 – 1972) 56 Hitler, Adolf (1888 – 1945) 35 f., 44, 61, 65 f., 72 – 75, 86 – 91, 94 f., 97, 100 – 105, 107 f. Hobbes, Thomas (1588 – 1679) 82 f. Hoffmann, Volkmar 41 Hold-Ferneck, Alexander (1875 – 1955) 92 Hölderlin, Friedrich (1770 – 1843) 88 f. Hugenberg, Alfred (1865 – 1951) 69, 71, 74, 94 Jacobi, Erwin (1884 – 1965) 63, 95 – 98 Joël, Curt Walter (1865 – 1945) 66 f. Jünger, Ernst (1895 – 1998) 89 Junker, Detlef (geb. 1939) 74 Kaas, Ludwig (1881 – 1952) 74 f., 87 f., 95 Kahr, Gustav von (1862 – 1934) 100 Kelsen, Hans (1881 – 1973) 64, 91 f., 95 Kempner, Robert W. (1899 – 1993) 40 Kiesinger, Kurt Georg (1904 – 1988) 41 – 43, 92, 97 Kleist-Schmenzin, Ewald von (1890 – 1945) 37 Kluxen, Franz (1887 – 1968) 58 Koellreutter, Otto (1883 – 1972) 97 f. Kohler, Josef (1849 – 1919) 55, 79 König, René (1906 – 1992) 83 Konstantin I. (272? – 337) 47 Korum, Michael Felix (1840 – 1921) 38 f. Koselleck, Reinhart (1923 – 2006) 44 Krausnick, Helmut (1905 – 1990) 41, 43 Kube, Wilhelm (1887 – 1943) 90 Lammers, Hans Heinrich (1879 – 1962) 88 Laski, Harold J. (1893 – 1950) 80 Liebert, Arthur (1878 – 1946) 59 Lubbe, Marinus van der (1909 – 1934) 75 Ludendorff, Erich (1865 – 1937) 61 Luther, Martin (1483 – 1546) 51 Maaßen, Karl Georg (1769 – 1834) 104 Mac Mahon, Patrice de (1808 – 1893) 73 Mao Zedong (1893 – 1976) 47 Marcks, Erich (1891 – 1944) 36, 59, 61, 64, 66, 73, 81, 87 – 89, 94, 95 Marcks, Erich sen. (1861 – 1938) 36 Marx, Karl (1818 – 1883) 45, 98
197
Maus, Ingeborg (geb. 1937) 40 Mayer, Jacob-Peter (1903 – 1992) 42 Meier, Christian (geb. 1929) 93 Meißner, Otto (1880 – 1953) 66 f., 72, 75, 87 Miquel, Johannes (1828 – 1901) 104 Mommsen, Wolfgang A. (1907 – 1986) 44 Morsey, Rudolf (geb. 1927) 75 Motz, Friedrich (1775 – 1830) 104 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756 – 1791) 51 Murray, Kathleen (1898 – 1946) 56 Musil, Robert (1880 – 1942) 44 Mutschmann, Martin (1879 – 1947) 99 Neumann, Erich (1892 – 1951) 100 – 102 Neumann, Franz L. (1900 – 1954) 68 Niekisch, Ernst (1889 – 1967) 89 Ors, Álvaro d’ (1915 – 2004) 83 Ors, Eugenio d’ (1881 – 1954) 83 Ott, Eugen (1889 – 1977) 36, 59, 63, 66, 68 f., 72 f., 81, 87, 89 f., 94 f. Papen, Franz von (1879 – 1969) 58, 64 f., 68 f., 71 – 74, 87 f., 90, 98, 102 f. Paulus von Tarsus 49 Pepys, Samuel (1633 – 1703) 88 Peterson, Erik (1890 – 1960) 56, 98 Picasso, Pablo (1881 – 1973) 58 Popitz, Cornelia (1890 – 1936) 89, 95 Popitz, Heinrich (1925 – 2002) 96 Popitz, Johannes (1884 – 1945) 81, 87, 89 – 91, 95 – 98, 100 – 102, 104 – 107 Preuß, Hugo (1860 – 1925) 58 f., 81 Puschkin, Alexander (1799 – 1837) 84, 86 Quaritsch, Helmut (geb. 1930) 76 Richter, Eugen (1838 – 1906) 39 Rilke, Rainer Maria (1875 – 1926) 86 Rießelmann, Clemens (1850 – 1910) 30 Roßkopf, Veit (1898 – 1976) 88 f. Roth, Christian (1873 – 1934) 99 Schachinger, Hermann 100 Schiller, Friedrich (1759 – 1805) 98
198
Namenverzeichnis
Schleicher, Kurt von (1882 – 1934) 35 – 37, 58 f., 63, 65, 68 f., 71 – 76, 87 – 89, 94 Schmidt-Hannover, Otto (1888 – 1971) 37 Schmitt de Otero, Anima-Louise (1931 – 1983) 33, 76, 94 Schmitt, Duschka (1903 – 1950) 73, 80, 89, 94, 98 Schmitt, Johann (1853 – 1945) 29, 30, 31, 33, 37 – 39, 44, 49, 53 – 55, 81 Schmitt, Louise (1863 – 1943) 29, 31, 33, 37 f., 54, 57 Schmitt, Philipp (1860 – ?) 33, 55 Schorske, Carl E. (geb. 1915) 105 Schröder, Kurt von (1889 – 1966) 69 Schücking, Walther (1875 – 1935) 58 f. Schwab, George (geb. 1931) 70 Schweitzer, Albert (1875 – 1965) 49 Severing, Carl (1875 – 1952) 65 Shakespeare, William (1564 – 1616) 52 Skriver, Ansgar (1934 – 1997) 43 Sommer, Ernst (1876 – 1919) 31 Speidel, Hans (1897 – 1984) 36 Spinoza, Baruch (1632 – 1677) 83 Spranger, Eduard (1882 – 1963) 96 Stand, Anni (1915 – 1997) 60, 84, 86 Steinlein, André sen. 31, 33, 38, 54 f. Steinlein, André jun. (1891 – 1964) 31, 54 Steinlein, Andreas (1823 – 1897) 37 – 39, 57 Steinlein, Nikolaus (1821 – 1894) 37
Steinlein, Peter (1825 – 1892) 37 f., 57 Stier-Somlo, Fritz (1873 – 1932) 92 Strasser, Gregor (1892 – 1934) 68 Strauß, David Friedrich (1808 – 1874) 30 Strauss, Leo (1899 – 1973) 83 Strauss, Richard (1864 – 1949) 52 Strobel, August (1930 – 2006) 49 Thoma, Richard (1874 – 1957) 65 Tocqueville, Alexis de (1805 – 1859) 42 Troeltsch, Ernst (1865 – 1923) 96 Trotzki, Leo (1879 – 1940) 48 Tüngel, Richard (1893 – 1970) 41 Wagner, Richard (1813 – 1883) 51 f. Walden, Herwarth (1878 – 1941) 58 Weber, Max (1864 – 1920) 51, 57 Weiß, Konrad (1880 – 1940) 53, 88 f. Wendell Holmes jr., Oliver (1841 – 1935) 80 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (1848 – 1931) 79 Wilhelm II. von Preußen (1859 – 1941) 61, 66 Wilson, Woodrow (1856 – 1924) 60 Wüst, Josef (1878 – ?) 30, 97 Zehnhoff, Hugo am (1855 – 1930) 80 f. Zorrilla, José (1817 – 1893) 84 Zweigert, Erich (1879 – 1947) 66