Sämtliche Werke #2 : Romane 2
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Franziska zu Reventlow

Sämtliche Werke, Briefe und Tagebücher Band 2 Romane 2

Franziska zu Reventlow

Sämtliche Werke in fünf Bänden Herausgegeben von Michael Schardt

Igel Verlag Literatur

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut­ schen Nationalbibliografie', detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Ausgabe erscheint mit freundlicher Unterstützung der äEWE STIFTUNG Oldenburg. Verlag und Herausgeber danken herzlich für die großzügige Förderung.

Redaktion: Frauke Rüdebusch

1. Auflage 2004

Copyright © by Igel Verlag Literatur Uhlhomsweg 99 A 26129 Oldenburg Tel.: 0441-6640262 Fax: 0441-6640263 E-Mail: [email protected] Herstellung: Aalexx Druck Großburgwedel ISBN 3-89621-190-0 (Gesamtausgabe)

Franziska zu Reventlow

Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil

Der Geldkomplex Der Selbstmordverein Mit einem Nachwort herausgegeben von Andreas Thomasberger

e Igel Verlag Oldenburg

Inhalt Herrn Dames Aufzeichnungen 7 Der Geldkomplex 113 Der Selbstmordverein 189 Editorische Notiz 309 Nachwort 311

Herrn Dames Aufzeichnungen oder

Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil

Cover der Erstausgabe von 1913

1 Verehrter Freund und Gönner!

Sie wissen ja - Sie wissen genug darüber, wer >Wir< sind - womit wir uns unterhalten und mit welchem Inhalt wir die uns zugemessenen Er­ dentage zu erfüllen suchen. Sie wissen auch, wie wir das Dasein je nachdem als ernste und schwerwiegende Sache - als heiteren Zeitver­ treib, als absoluten Stumpfsinn oder auch als recht schlechten Scherz hinzunehmen, aufzufassen und zu gestalten pflegen. Sie waren es, der von jeher das richtige Verständnis für unseren Plural hatte - für die große Vereinfachung und anderseits die ungeheu­ re Bereicherung des Lebens, die wir ihm verdanken. Wie armselig, wie vereinzelt, wie prätentiös und peinlich unterstrichen steht das erzählen­ de oder erlebende >Ich< da - wie reich und stark dagegen das >Wirdocument humain< haben und sich zur Veröffentlichung eignen würden. Meinen Sie nicht auch, daß es dann vielleicht ein schöner Akt der Pietät wäre, dem

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anscheinend Frühverblichenen auf diese Weise einen Grabstein zu set­ zen? Wenn Sie es für geboten erachten, würden wir Sie bitten, einen Kommentar dazu zu schreiben - uns fehlt leider die nötige Sachkennt­ nis, und so haben wir uns auf einige bescheidene und mehr sachliche Anmerkungen beschränkt - aber vielleicht ist es auch überflüssig. Kurzum - ja, wirklich kurzum, denn wir lieben die Kürze auch dann noch, wenn wir ausführlich sein müssen, lieben sie um so mehr, wenn wir gerade ausführlich gewesen sind - wir legen diese Papiere und al­ les Weitere vertrauensvoll in Ihre Hände.

Dezember Langweilig - diese Wintertage ... Ich habe nach Hause geschrieben und ein paar offizielle Besuche gemacht. Man nahm mich überall liebenswürdig auf und stellte die ob­ ligaten Fragen - wo ich wohne, wie ich mir mein Leben einzurichten gedenke und was ich studiere. Der alte Hofrat schien es etwas bedenk­ lich zu finden, daß ich kein bestimmtes Studium ergreifen will und so wenig fixierte Interessen habe - ich solle mich vorsehen, nicht in schlechte Gesellschaft zu geraten. Das war sicher sehr wohlgemeint, aber es fallt mir auf die Nerven, wenn die Leute glauben, ich sei nur hier, um mir >die Homer abzulaufen< und mich nebenbei auf irgendei­ nen Beruf vorzubereiten. Es war eine Erholung, nachher Dr. Gerhard im Cafe zu treffen. Ich erzählte ihm von meinen Familienbesuchen, er räusperte sich ein paarmal und sah mich prüfend an. Dann meinte er, das mit dem Hör­ nerablaufen sei wohl eine veraltete studentische Schablone, aber es gä­ be neuerdings eine ganze Anzahl junger Leute, die sich >gärenshalber< hier aufhielten, und zu diesen würde wohl auch ich zu rechnen sein. Eine sonderbare Definition - >gärenshalber< -, aber der Doktor drückt sich gerne etwas gewunden aus ... das scheint überhaupt hier üblich zu sein. Wenn man darüber nachdenkt, hat er eigentlich nicht ganz unrecht. Vielleicht ist etwas Wahres daran - es kommt mir ganz plausibel vor, daß mein Stiefvater mich gärenshalber hergeschickt hat. Nur paßt es wohl gerade auf mich nicht recht. Ich habe keine Tendenzen zum Gä­

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ren und auch gar kein Verlangen danach - überhaupt nicht viel eigne Initiative - ich werde einfach zu irgend etwas verurteilt, und das ge­ schieht dann mit mir. Mein Stiefvater meint es sehr gut und hat viel Verständnis für meine Veranlagung; so pflege ich im großen und gan­ zen auch immer das zu tun, was er über mich verhängt. Verhängt - ja, das ist wohl das richtige Wort. Schon allein die äu­ ßeren Umstände bringen es mit sich, daß immer alles eine Art Ver­ hängnis für mich wird. Zum Beispiel in erster Linie mein Name und meine Väter. Meinen richtigen Vater habe ich kaum gekannt - er soll sehr unsympathisch gewesen sein - und nur den Namen von ihm be­ kommen. Mein Stiefvater hat einen normalen, unauffälligen Namen und war eigentlich die erste Liebe meiner Mutter. Sie hätte ihn ebenso gut gleich heiraten können, und alles wäre vermieden worden. Es wur­ de aber nicht vermieden, denn es war über mich verhängt, diesen Na­ men zu bekommen und mein Leben lang mit ihm herumzulaufen. Dame - Herr Dame - wie kann man Herr Dame heißen? so fragen die anderen, und so habe ich selbst gefragt, bis ich die Antwort fand: Ich bin eben dazu verurteilt, und der Name verurteilt mich weiter zu allem möglichen - zum Beispiel zu einer ganz bestimmten Art von Le­ bensführung - einem matten, neutralen Auftreten, das mich irgendwie motiviert. Dissonanzen kann ich nun einmal nicht vertragen, und das Matte, Neutrale liegt wohl auch in meiner Natur. Ich habe es nur all­ mählich noch mehr herausgearbeitet und richtig betonen gelernt. Über das alles habe ich mit Dr. Gerhard ausführlich gesprochen, er schien es auch zu verstehen, und es interessierte ihn. Der >Verurteilte< sei wohl ein Typus, meinte er, mit derselben Berechtigung, wie >der Verschwenden, >der Don Juander Abenteurer< und so weiter als feststehende Typen betrachtet würden. Dann hat er gesagt, jeder Mensch habe nun einmal seine Biographie, der er nachleben müsse. Es käme nur darauf an, das richtig zu verstehen - man müsse selbst füh­ len, was in die Biographie hineingehört und sich ihr anpaßt - alles an­ dere solle man ja beiseite lassen oder vermeiden. 7. Dezember Darüber habe ich dieser Tage viel nachgedacht. Heute hätte ich gerne wieder Dr. Gerhard getroffen und das neuliche Gespräch mit ihm fort­ gesetzt. Aber es saß diesmal eine ganze Gesellschaft mit am Tisch.

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Unangenehm, daß man beim Vorstellen nie die Namen versteht - das heißt, meinen haben sie natürlich alle verstanden - mein Verhängnis er ist so deutlich und bleibt haften, weil man sich über ihn wundert. Ich habe diese junge Frau beneidet, die neben Gerhard saß, weil man sie nur Susanna oder gnädige Frau anredete. Du lieber Gott, ich werde ja nicht einmal heiraten können, wenn ich gern wollte. Wie könnte man einem Mädchen zumuten, Frau Dame zu heißen? Und dann daneben zu sitzen, das mitanzuhören und selbst ... nein, diese Reihe von Unmöglichkeiten ist nicht auszudenken. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich dieser Susanna oder gnädigen Frau - wie ich sie natürlich anreden mußte - meine quälenden Vor­ stellungen anvertraute. Sie hat nicht einmal gelacht - sie hat schon et­ was gelacht, aber sie begriff auch die elende Tragik. Es kam später noch ein Herr an den Tisch, den man mir als Doktor Sendt vorstellte. Er ist Philosoph und macht einen äußerst intelligenten Eindruck. Mir schien auch, daß er eine gewisse Sympathie für mich fühlte. Man hat sich dann sehr lebhaft unterhalten. Ich konnte manchmal nicht recht folgen - Doktor Sendt merkte es jedesmal, zog dann die Augenbrauen in die Höhe, sah mich mit seinen scharfen hellblauen Augen an und erklärte mir in klarer, pointierter Ausdrucksweise, um was es sich handle. Ich möchte gerne mehr mit ihm verkehren; mir ist, als könnte ich viel von ihm lernen. Und eben das scheint mir hier eine zwingende Notwendigkeit. Zuletzt sprachen sie viel von einem literarischen Kreise, um den es etwas ganz Besonderes sein muß. Dabei entspannen sich starke Mei­ nungsverschiedenheiten. Bei diesem Gespräch hörte ich nur zu, ich mochte nicht immer wieder Fragen stellen, um so mehr, weil allerhand Persönliches berührt wurde und ich nicht gerne indiskret erscheinen wollte. Übrigens genierte ich mich auch etwas, weil der Dichter, der den

Mittelpunkt jenes Kreises bilden soll, mir ziemlich unbekannt war. Seinen Namen kannte ich wohl, aber von seinen Werken so gut wie nichts. Da war ein junger Mensch mit etwas zu langen Haaren, auffallend hohem Kragen und violetter Krawatte, die auf ungewöhnliche, aber

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immerhin ganz geschmackvolle Art geschlungen war. (Frau Susanna stieß den Philosophen an und raunte ihm zu, es sei wohl eine >kultliche< Krawatte - und der antwortete: Violett - natürlich ist das kultlich.) Dieser junge Mensch also sprach von jenem Dichter ausschließ­ lich als dem Meister. Ich hatte bisher nur gehört, daß man in Baj reuth so redet, und es befremdete mich ein wenig. Überhaupt redete er mit einem Pathos, das mir im Kaffeehaus nicht ganz angebracht schien und sicher auch jenen >Meister< unangenehm berühren würde, wenn er es zufällig einmal hörte - und war sichtlich verstimmt über einige Be­ merkungen der anderen Herren, besonders des Philosophen, der sich etwas ironisch über Heldenverehrung und Personenkultus äußerte. Merkwürdige Dinge kamen da zur Sprache - eine ältere Dame er­ zählte: man (anscheinend Mitglieder jenes Kreises) wäre bei einer Art Wahrsager - einem sogenannten Psychometer - gewesen, und es sei unbegreiflich, wie dieser Mann durch bloßes Befühlen von Gegenstän­ den den Charakter und das Schicksal ihrer Besitzer zu erkennen wisse -ja, bei Verstorbenen sogar die Todesart. »Es ist ganz ausgeschlossen«, so sagte sie, »daß er über irgend et­ was Persönliches im voraus orientiert sein konnte und ...« - »Aber Sie müssen doch zugeben, daß er manchmal versagt«, fiel der junge Mensch mit der violetten Krawatte ihr ins Wort, »in bezug auf den Meister hat er sich schwer geirrt. Und gerade das ist sehr interessant und bedeutungsvoll, denn es zeigt deutlich, daß er die Substanz des Meisters wohl fühlte, nicht aber beurteilen konnte ...« »Wieso?« fragte einer von den Herren, der nicht dabeigewesen war. Der junge Mensch maß ihn mit einem überlegenen Blick und wandte sich wieder an die Dame, die zuerst gesprochen hatte: »Sie ha­ ben es ja selbst gehört - er bezeichnete sie als unecht und theatralisch. Und weshalb - weil er eben nicht ahnte, um wen es sich hier handelt weil er sich die hier verwirklichte Größe aus seinem engen Gesichts­ kreis heraus nicht vorstellen konnte. So half er sich mit der These des Theatralischen darüber hinweg. Für uns nur wieder eine neue Bestäti­ gung, wie wenige der Erkenntnis des einzig und wahrhaft Großen wür­ dig sind.« Die Dame hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und hörte mit leuchtendem Blick zu: »Ja, ja, so ist’s, wir fühlten es ja auch alle aber wie klar und schön Sie es jetzt ausgelegt haben.«

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»Es ist so klar, daß es kaum noch einer Auslegung bedurfte - zu­ dem hatte der Meister den bewußten Ring erst seit einem Jahr getra­ gen, und seine Substanz war zweifellos noch mit fremden, früheren Substanzen gemischt - das mußte die Beurteilung bedeutend erschwe­ ren.« Darauf entstand eine Pause, und dann sagte die Dame sehr nach­ denklich: »Hören Sie, vielleicht liegt es noch einfacher - ich habe die­ sen Mann schon lange im Verdacht, daß er schwarze Magie treibt, und dann läge es wohl nahe, daß er alles wirklich Große und Schöne hassen - innerlich ablehnen muß. Und wiederum - daß der Meister nach jener Äußerung die Gesellschaft verließ, beweist doch stärker als alles ande­ re, daß er sich mit etwas Unlauterem in Berührung fühlte und sich dem entziehen mußte.« »Oh, ich glaube«, warf Sendt spöttisch ein, »auch wenn man ihm von völlig lauterer Seite derartige Dinge sagte, würde er sich zurück­ ziehen.« »Das soll wohl wieder eine von Ihren logischen Spitzfindigkeiten sein«, erwiderte die Dame gereizt, »aber die Sache trifft es nicht. Al­ lerdings hatte er sich mit vollem Recht zurückgezogen - aber diese Dinge sind überhaupt nicht wesenhaft und gehören nicht zur Mitte.« »Warum beschäftigt man sich denn immer wieder mit ihnen? Ich meine, vor kurzem noch gehört zu haben, daß die Beschränkung auf die weiße Magie nicht gebilligt wurde?« »Gegen die schwarze sind von jeher schwere Bedenken erhoben«, antwortete die Dame etwas strafend. »Besonders seit jener böse Magier die Substanz des Meisters so verkannte«, bemerkte Sendt, während er ihr in den Mantel half, denn sie hatte sich inzwischen erhoben, um zu gehen. »Allerdings«, murmelte sie vor sich hin, und es klang sehr über­ zeugt. Dann brach sie auf und mit ihr der größere Teil der Gesellschaft. Nur Doktor Sendt und Susanna blieben noch. Der Philosoph sah sie an, lächelte und sagte: »Mirobuk!« Ich hatte das Wort noch nie gehört, und was es bedeuten sollte, war mir nicht klar, aber Susanna lachte und sagte: »Achten Sie nur darauf - Herr ... Herr Dame, wenn Sendt Mirobuk sagt, so hat es meistens eine gewisse Berechtigung.«

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Ich faßte Mut und fragte, was denn um Gottes willen das mit der Magie bedeute, die Dame sprach ja wie ein erfahrener alter Hexenmei­ ster. Schwarze und weiße Magie - was versteht man überhaupt darun­ ter? Ich dachte, so etwas käme nur in Märchenbüchern oder im Mittelalter vor. - »O nein«, sagte mir Sendt, »die Dame huldigt nur wie viele andere dem Spiritismus, und Sie müssen wissen, daß dieser von seinen Anhängern als weiße Magie proklamiert wird, weil man sich nur an die guten und sympathischen Geister wendet und mit ihnen Beziehungen anknüpft. Die schwarze Magie aber beschäftigt sich gerne mit den Gei­ stern von Verbrechern und Bösewichtern, die sich noch nicht ganz von der Erde befreit haben. Sie besitzen deshalb auch noch irdische Kräfte und rächen sich gelegentlich an dem, der sie beherrscht. Und der Ma­ gier, von dem hier die Rede war, hat sich eben so schlecht benommen, daß man ihm alles mögliche zutraut und sich in Zukunft vor ihm hüten wird.« Ich war ihm recht dankbar für diese Aufklärung, nur kam es mir befremdlich vor - nein, befremdlich ist nicht das rechte Wort, aber je­ ner junge Mann und die Dame hatten eine so verwirrende Art, sich dunkel und geheimnisvoll auszudrücken und dabei, als ob von ganz realen Dingen die Rede sei, daß ich selbst etwas unsicher geworden war. Wie sie von dem Meister als von einem ganz übernatürlichen We­ sen sprachen - von seinem Ring und seiner >Substanz< - am Ende ist er auch ein Magier - ein Zauberer - ein Nekromant oder dergleichen. Ich war Susanna im Grunde recht dankbar, daß sie mich auslachte und sagte, es sei leicht zu merken, daß ich mich noch nicht lange hier auf­ halte.

2 8. Dezember Heute wollte ich nicht ins Cafe, aber ich ging doch hin und fand wieder eine ungünstige Konstellation vor; der Philosoph saß mit der lebhaften älteren Dame von neulich zusammen. Ich mochte nicht aufdringlich er­ scheinen, so setzte ich mich an den Nebentisch, den einzigen, der noch frei war, und las Zeitungen. Sie sprachen aber so laut, besonders die

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Dame, daß ich nicht umhinkonnte, zuzuhören, und hinter der Zeitung mein Notizbuch vomahm, denn es schien mir wieder sehr bemerkens­ wert, was sie da redeten. Die Dame erzählte von einem Professor Hof­ mann, dessen Name neulich schon verschiedentlich erwähnt wurde - er habe ihr gesagt, sie sähe ausgesprochen >kappadozisch< aus. Kappadozien kommt, soviel ich weiß, in der Bibel vor, aber ich be­ griff nicht recht, wieso jemand >kappadozisch< aussehen kann und warum sie das mit solcher Wärme erzählte. Woher will man denn wis­ sen, wie die Kappadozier ausgesehen haben? Der Philosoph lächelte auch. Nun kam einiges, was ich nicht recht verstand, und dann das, was ich mir notiert habe. »Nein, es sollten die Posaunen von Jericho sein - hören Sie nur: sie waren alle bei mir auf dem Atelier ...« »War er auch dabei?« fragte der Philosoph, und die Dame warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Aber ich bitte Sie, wenn Sie spotten wollen ...« »Nein, nein, ich dachte nur - aber bitte, fahren Sie fort.« »Also der Professor, seine Frau und einige von den jungen Dich­ tem. Einer von ihnen ging gleich an meinen Flügel, betrachtete ihn von allen Seiten und sagte irgend etwas. Dann fragte die Frau Professor ih­ ren Mann: >Wollen wir es jetzt sagen?BeludschistanWenn Fräulein H... mir ihren Verlust genau beziffert, soll alles ersetzt werdens« »Und dann?« fragte der Philosoph. »Das weiß ich selbst nicht mehr, es war ganz verschwommen. Aber sagen Sie selbst, liebster Doktor, ist es nicht wirklich seltsam? Meinen Sie nicht, daß es kosmische Bedeutung hat?« Damit brach das Gespräch ab, denn Gerhard kam, und die Dame ging bald darauf fort. Ich setzte mich zu ihnen und fragte Sendt, was denn das für eine rätselhafte Geschichte sei, ich hätte leider nicht ver­ meiden können, sie mitanzuhören. Und jetzt zweifelte ich nicht mehr daran, daß man hierzulande Zauberei treibt. »Haben Sie denn nicht gemerkt, daß die Dame mir einen Traum er­ zählte?« »Nein - daraufhin ich gar nicht gekommen.« »Lieber Dame«, sagte Gerhard, und es klang beinah wehmütig - er hat überhaupt immer etwas Schmerzliches im Ton -, »Sie machen Fortschritte. Schon können Sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Das geht uns allen hier wohl manchmal so - nicht wahr, eher philosophe?« »Traum oder nicht Traum«, antwortete der Philosoph nervös, »was sie mir da auftischte, war wieder einmal eine Wahnmochingerei, wie sie im Buch steht.« »Wahnmochingerei - was ist das?« »Nun, was Sie da eben mitangehört haben.« Doktor Gerhard wollte wissen, was für ein Traum es gewesen sei.

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»Natürlich ein kosmischer«, sagte der Philosoph, »sie hoffte es we­ nigstens und wollte von mir wissen, ob es stimmt. Sonst traut sie sich nicht, ihn bei Hofmanns zu erzählen.« Ich hätte gerne noch gewußt, was eine >Wahnmochingerei< ist und >kosmische Träume« Aber der Philosoph schien mir nicht gut aufge­ legt, und ich kann doch nicht immer fragen und fragen wie ein vieijähriges Kind.

3 14. Dezember Ein komischer Zufall, daß ich Heinz Kellermann hier treffe. Wir haben uns seit dem Gymnasium nicht mehr gesehen. Er behauptet zwar, es gebe nichts Zufälliges, sondern was wir Zufall nennen und als solchen empfinden, sei gerade das Gegenteil davon, nämlich ein durch innere Notwendigkeit bedingtes Geschehen. Man sei nur im allgemeinen zu blind, um diese inneren Notwendigkeiten zu sehen. Trotzdem schien er ebenso verwundert wie ich und fragte mit der gedehnten und erstaunten Betonung, die ich so gut an ihm kannte: »Wie kommst du denn hierher?« Ich konnte diese Frage nur zurückgeben, und dann sagte er etwas überlegen: Oh, man könne nur hier leben, und hier lerne man wirklich verstehen, was Leben überhaupt bedeute. Ich habe ihm erzählt, daß das auch mein sehnlichster Wunsch sei, und wie ich mich mit meiner Bio­ graphie herumquäle - na Gott ja - daß ich eben ein Verurteilter bin und nicht recht weiß, was ich mit mir und dem Leben anfangen soll. Daraufhin ist er gleich viel wärmer geworden und lud mich für den Abend in seine Wohnung ein - es kämen noch einige Freunde von ihm, auf die er mich sehr neugierig machte. Ich ging hin, und es war auch wirklich der Mühe wert. Aber ich werde jetzt wieder ein paar Tage daheim bleiben und mich sammeln. Es sind zu viel neue und verwirrende Eindrücke von allen Seiten. Wo­ hin ich komme und wen ich kennenleme - alles ist so seltsam, wie in einer ganz anderen Welt, und ich tappe noch so unsicher darin herum. - Ob das nun Zufall ist oder innere Notwendigkeit, daß ich hierher kam und gerade diese Menschen kennenlemte? Aber es lockt mich, ich

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kann dem allen nicht mehr entfliehen - ich bin wohl dazu verurteilt, und der Gedanke gibt mir meine innere Ruhe etwas wieder. Doktor Gerhard rät mir ja immer wieder, ich solle etwas schreiben - jeder Mensch habe einiges zu sagen und müsse, was er erlebt, in ir­ gendeiner Form nach außen hin gestalten. Wenn es auch nur wäre, um meinem Stiefvater Vergnügen zu machen, er hat ja schon immer ge­ meint, ich hätte ein gewisses Talent dazu. - Und er ist gewiß aufrich­ tig, denn er hält sonst nicht übermäßig viel von meiner Begabung. Ich weiß nicht recht - einstweilen mache ich mir Aufzeichnungen und Notizen, besonders wenn ich mit dem Philosophen zusammen bin.

Da war der Abend mit Heinz Kellermann und seinen Freunden. Der ei­ ne mit dem scharfen Gesicht sah fast wie ein Indianer aus. Als ich das sagte, wurde Heinz ganz ärgerlich und behauptete, er sei doch blond, dunkelblond wenigstens und ein absolut germanischer Typus. Es gab eine förmliche Diskussion darüber, aus der ich entnahm, daß sie die blonden Menschen mehr ästimieren als die dunklen, und daß das ir­ gendeine Bedeutung hat. Es war auch ein junges Mädchen dabei - eine Malerin -, das übri­ gens ausgesprochen schwarzes Haar hatte; aber ich wagte keine Be­ merkung darüber, denn mir schien, daß sie der Unterhaltung etwas de­ primiert zuhörte, und ich muß gestehen, ich freute mich zum erstenmal darüber, daß ich blond bin. Im ganzen hatte ich aber wieder das Gefühl, nicht recht mitzukön­ nen. Ich weiß nicht, ob man diese Ausdrucksweise eigentlich >geschraubt< nennen kann, aber sie kommt einem manchmal so vor, und man muß sich erst daran gewöhnen. Was meinen sie zum Beispiel damit: man müsse einen Menschen erst >erlebenenormWahnmochingereiWahnmoching< wohnte. Ich fragte wieso und hielt es für einen Witz - »ich wohne in der K...Straße«. Darüber brachen sie alle in Ge­ lächter aus und fanden es enorm, daß ich nicht wüßte, was >Wahnmoching< sei. Man erklärte mir, daß der ganze Stadtteil von dem großen Tor an so heiße. Wie sollte ich das wissen, ich habe mich gar nicht darum ge­ kümmert, wie der Stadtteil heißt, in dem ich wohne. In Berlin weiß man es, aber hier doch nicht. Ich begriff wirklich nicht, was daran

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>enorm< sein sollte. Ja, sagten sie, das sei es ja eben - Ich wäre in allem so unbewußt. Sonst bin ich wirklich ein geduldiger Mensch, aber ich hatte all­ mählich den Eindruck, als ob man mich mystifizieren wollte, und sag­ te, den Ausdruck >Wahnmochingerei< hätte ich schon gehört. Der Pro­ fessor wurde stutzig und fragte, von wem denn? »Von Doktor Sendt, dem Philosophen.« »Ah - Sie kennen Doktor Sendt?« es klang beinah, als ob ihn das verstimmte. Aber dann wurde er wieder sehr herzlich und lud mich ein, ihn zu besuchen und zu seinem Jour zu kommen. den 18... Nachts um ein Uhr den Philosophen auf der Straße getroffen - wir ge­ hen noch lange auf und ab, ich erzähle ihm von dem Abend bei Heinz und bitte um einige Aufklärungen. Warum es >enorm< ist, wenn man Spiritus in Kupferschalen ver­ brennt und jemand die Hände darüberhält - ich kann immer noch nicht vergessen, wie grünlich das ganze Mädchen aussah - warum geraten sie darüber in solches Entzücken? oder wenn man von einem heidni­ schen Brauch spricht? »Junger Mann«, sagte Sendt, »enorm ist einfach ein Superlativ, der Superlativ aller Superlative. Sie werden überhaupt mit der Zeit bemer­ ken, daß man unter echten Wahnmochingem einen ganz besonderen Jargon redet, und Sie müssen lernen, diesen Jargon zu beherrschen, sonst kommen Sie nicht mit. Man sagt beispielsweise nicht, ein Ding, eine Sache, eine Frau sei schön, reizend, anmutig - sondern sie ist fa­ belhaft, unglaublich - enorm. Das heißt - enorm wird mehr in übertra­ gener Bedeutung angewandt und bedeutet, den höchsten Grad der Vollendung. Speziell in dem Kreise, dem Ihr Freund Heinz angehört.« »Schon wieder ein Kreis?« frage ich. »Ja, aber die Kreise berühren sich, dieser besteht nur aus wenigen und dreht sich etwas anders. Man beschäftigt sich dort damit, den Spu­ ren des alten Heidentums nachzugehen - daher die Freude über Ihre harmlose Bemerkung. Und das grünliche Mädchen hatte wohl irgend­ eine symbolische Bedeutung.« Der Philosoph hielt plötzlich inne - hinter uns klangen rasche Schritte, und es kamen ein paar Herren an uns vorbei. Zwei von ihnen

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waren indifferent aussehende junge Leute - der dritte, der zwischen ih­ nen ging, ein knapp mittelgroßer Mann mit niedrigem schwarzem Hut und einem dunklen Mantel, den er wie eine Art Toga umgeschlagen hatte - man konnte ihn auf den ersten Blick fast für einen Geistlichen halten. Er schien über irgend etwas sehr erregt und sprach eifrig auf seine Begleiter ein, in einem ganz eigentümlichen, monoton singenden Tonfall. Gerade als sie uns überholten, hörten wir ihn sagen: »Ja - bis vor drei Jahren konnte man sie noch für zwei Mark auf jeder Dult fin­ den, aber jetzt haben die Juden alle aufgekauft, und unter zehn Mark sind überhaupt keine mehr zu haben.« Gegen Ende des Satzes ging seine Stimme allmählich mehr in die Höhe, und zum Schluß kam ein kurzes, schrilles Auflachen. Als er uns sah, machte er eine halbe Wendung seitwärts und grüßte den Philoso­ phen. Deutlich sah ich in diesem Moment sein breites, glattrasiertes Gesicht mit auffallend hellen, leuchtenden Augen, das aber trotzdem etwas absolut Unbewegliches, beinah Starres hatte. Beim Grüßen ver­ zog er den Mund zu einem äußerst konventionellen Lächeln, in der nächsten Sekunde aber nahm er wieder einen steinernen und völlig ablehnenden Ausdruck an und ging rasch mit kurzen, eiligen Schritten seines Weges. Der Philosoph schien sich an dieser Begegnung und der aufgefan­ genen Bemerkung ungemein zu freuen: »Lupus in fabula«, sagte er, »Sie haben wirklich Glück, Herr Dame; dieser Herr, der mich eben grüßte, ist - nun, man könnte ihn wohl den geistigen Vater des Wahnmochinger Heidentums nennen - nein, nein - das ist in diesem Falle nicht richtig - er würde es sehr Übelnehmen, wenn man ihn als Vater von irgend etwas bezeichnen wollte - denn gerade er ist der Hauptver­ fechter des matriarchalischen Prinzips.« »Liebster Philosoph«, bat ich, »nun wird es mir schon wieder zu hoch.« Übrigens dachte ich mir gleich, daß jener Herr ein gewisser Delius sein müßte, von dem Heinz mir viel erzählte. Ja, es stimmte, und ich fand, es sei wirklich wieder ein sonderbares Spiel des Zufalls, daß wir ihm gerade bei diesem Gespräch begegneten, aber Sendt sagte, man träfe ihn sehr oft um diese Stunde, er liebe die Nacht und alles Dunkle.

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»Dieser Delius - nun, er ist wohl eine sonderbare Erscheinung«, fuhr er dann fort, »die heutige Zeit, auf die wir alle mehr oder minder angewiesen sind, gilt ihm nichts, er ignoriert sie oder begegnet ihr we­ nigstens nur rein konventionell - etwa so, wie er mich vorhin grüßte. Sein eigentliches Leben spielt sich in längst versunkenen Daseinsfor­ men ab, mit denen er sich und andere identifiziert. Passen Sie einmal gut auf, Herr Dame - wissen Sie ungefähr, was man sich unter Seelen­ substanzen vorzustellen hat?« Ich sagte, daß ich es mir wohl vorstellen könnte - es war ja neulich im Cafe schon davon die Rede. »Schön - also Delius denkt sich nun diese Seelensubstanzen von den ältesten Zeiten her wie Gesteinschichten übereinander gelagert, etwa zuunterst die der alten Ägypter, Babylonier, Perser - dann die der Griechen, Römer, Germanen und so weiter. Man nennt das biotische Schichten. Seit der Völkerwanderung, meint er nun, habe sich alles verschoben, die Substanzen sind durcheinandergemischt und dadurch verdorben worden. Infolgedessen wirken bei den jetzigen Menschen lauter verschiedene Elemente gegeneinander, und es kommt nichts Gutes dabei heraus. Nur bei wenigen (und das sind natürlich die Aus­ erlesenen) hat sich eine oder die andere Substanz in überwiegendem Maße erhalten - zum Beispiel bei ihm selbst die römische - er fühlt und empfindet durchaus als antiker Römer und würde Sie höchst be­ fremdet anschauen, wenn Sie ihm sagten, er lebe doch im zwanzigsten Jahrhundert und sei in der Pfalz geboren. Denn seine Substanz ist eben römisch. Bei Heinz Kellermann und dessen Freunden dagegen herrscht die altgermanische vor, daher auch die stark betonte Vorliebe für Blonde und Langschädel.« »Aber lieber Doktor, sagen Sie mir nur noch das eine: was hat das alles damit zu tun, daß dieser Stadtteil Wahnmoching heißt?« »Herr Dame - denn Sie heißen ja wirklich so«, sagte der Philosoph, und ich konnte es ihm in diesem Augenblick nicht Übelnehmen »Wahnmoching heißt wohl ein Stadtteil, eben dieser Stadtteil, aber das ist nur ein zufälliger Umstand. Er könnte auch anders heißen oder um­ getauft werden, Wahnmoching würde dennoch Wahnmoching bleiben. Wahnmoching im bildlichen Sinne geht weit über den Rahmen eines Stadtteils hinaus. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Ni­ veau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Ver­

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such, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu ge­ winnen - Wahnmoching ist noch vieles, vieles andere, und das werden Sie erst allmählich begreifen lernen. Aber für heute sei es des Guten genug, sonst möchte noch die aufgehende Sonne uns hier im Zwiege­ spräch überraschen.« Damit trennten wir uns.

4 20... Mir fehlte etwas der Mut, zu diesem Jour zu gehen, aber Doktor Ger­ hard nahm mich mit. Ziemlich viele Leute, die sich in mehreren Räu­ men verteilten, die Frau des Hauses an einem gemütlichen Eckplatz hinter der Teemaschine, um die herum eine Anzahl junger Leute und Damen. Als wir eintraten, schwieg alles ein paar Minuten lang - ich merkte später, daß es jedesmal so war, wenn jemand Neues kam. Ger­ hard stellte mich vor und fugte statt meiner hinzu: »Gnädige Frau, mein junger Freund heißt nämlich so.« Frau Hofmann empfing mich sehr liebenswürdig - ihr Mann habe ihr schon von mir erzählt. Dann wandte sie sich an die anderen: »Den­ ken Sie nur, Herr Dame wußte bis vor kurzem nicht, daß er in Wahn­ moching wohnte.« Man betrachtete mich, wie mir schien, mit verwundertem Wohlge­ fallen, und ich war durch diese Bemerkung gewissermaßen eingeführt. Ich langweilte mich etwas, denn da ich niemand kannte, mußte ich vorläufig auf meinem Platz bleiben und Tee trinken. Gerhard machte vor einem jungen Mädchen halt - neben ihr auf einem Tischchen stand ein grüner Frosch aus Porzellan oder Majolika - und sagte etwas weh­ mütig: »Gnädiges Fräulein - Sie sollten eigentlich immer einen grünen Frosch neben sich sitzen haben.« Dann ging er weiter von einer Gruppe zur anderen und sagte wahr­ scheinlich ähnliche Dinge, denn wo er hinkam, wurde es gleich etwas belebter. Ich beneidete ihn im stillen um diese Gabe, denn ich konnte mich nicht recht in die Konversation hineinfinden.

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Es war die Rede von Menschen im allgemeinen, von ihrem Wesen und worauf es dabei ankäme. Der Professor sagte etwas überstürzt und definitiv: »Auf die Geste kommt es an.« Die jungen Herren, es waren zwei oder drei, nickten bedeutungsvoll zustimmend, und die ältere Dame aus dem Cafe - die kappadozische -, die ich gleich wiederer­ kannt hatte, sagte lebhaft: »Ich hätte gedacht - in erster Linie auf die Echtheit des Empfindens.« »Empfinden ist immer echt«, bemerkte Hofmann wieder sehr defi­ nitiv, so daß man nicht anders konnte als ihm beistimmen. Aber Ger­ hard, der jetzt wieder neben dem Tisch stand und ein Bild betrachtete, warf milde ein: »Nun, das kann man doch nicht so ohne weiteres hin­ stellen, es gibt wohl auch leere und bedeutungslose Gesten, die durch das Empfinden nicht gerechtfertigt werden. Und ich meine, man darf nicht so schlechthin von der Geste sprechen.« Worauf die Frau des Hauses förmlich triumphierend meinte: »Nun, worauf es ankommt, ist eben der Stil.« »Gewiß, aber nicht jeder«, kor­ rigierte ihr Mann und sah etwas beleidigt aus. »Die Geste ist überhaupt die geistleibliche Urform alles Lebens, und der Rhythmus der Geste ist der Stil.« Die anderen hörten ganz begeistert zu, und die Kappadozische äu­ ßerte: »Das haben Sie wieder ganz wunderbar gesagt.« Gerhard räusperte sich ein paarmal, als ob er nicht ganz einverstan­ den wäre, dann brach er auf, und ich schloß mich ihm an. Zum Herrn des Hauses sagte er noch: »Lieber Professor, ich hoffe, mein junger Freund wird noch öfter Gelegenheit finden, mit Ihnen zusammenzu­ kommen.« Der Professor schüttelte mir wiederholt die Hand und sah mich ganz zerstreut an. Als wir hinausgingen, sagte er halblaut zu Gerhard: »Ihr Freund ist ein wundervoller Mensch.« Warum wohl - ich hatte den ganzen Abend kaum zehn Worte ge­ sagt und das meiste, was sie sprachen, nicht verstanden, zudem, wie Gerhard mir nachher sagte, einen schweren Fauxpas begangen, indem ich der Frau Professor sagte: ich sei sehr begierig, den Meister kennenzulemen. So etwas dürfe man nicht tun - es wäre eine Art Gottesläste­ rung. Er pflege sich im dritten Zimmer aufzuhalten, und nur, wer wür­ dig befunden sei, würde ihm vorgestellt; zum Beispiel jener verklärte

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Jüngling, der vorhin leise mit der Hausfrau sprach und dann plötzlich verschwand. Das gehöre eben auch zur >GesteLeben< gesprochen, und immer so, als ob es durchaus nichts Selbstverständliches sei, sondern gerade das Gegenteil. Aber gerade darin liegt wohl etwas, was reizt und anzieht - ich möchte ja selbst endlich einmal dahinterkommen, was es eigentlich mit dem Leben auf sich hat - ob es etwas ganz Selbstverständliches oder etwas ungeheuer Kompliziertes ist. Heinz zum Beispiel tut ja, als ob er hier in diesem sonderbaren Stadtteil den Stein der Weisen gefunden hätte. Und mir ist, seit ich hier bin, zumut, als ob ich nur in Rätseln sprechen höre und mich zwischen lauter Rätseln bewege. Ich fühle mich ziemlich unglücklich, und in meinem Kopf ist es wirr und dunkel. Anmerkung Hier sind mehrere Seiten herausgerissen, und statt dessen findet sich eine Anzahl fast unleserlicher Zettel mit Bleistiftnotizen. Dann folgt quer über die Seiten hingeschrieben ein Eintrag von Frauen­ hand: - ich habe dieses Heft - Ihr Tagebuch, wie es scheint, offen auf dem Tisch gefunden und war so indiskret, etwas darin zu lesen. - Ja, Sie sind entschieden ein >wundervoller Mensche Chamotte hat mich hereingelassen - sicher hat er es auch gelesen, denn er ist beunruhigt um Sie und beklagt sich, daß Sie in der letzten Zeit so sonderbar wären. Ich habe es auch gemerkt und fange an, es zu begreifen. Aber - du wirst mit deinem Singen - doch nicht zum Him­ mel dringen. Gehen Sie deshalb lieber nicht wieder zum Jour, sondern kommen Sie morgen mit mir auf die Elenden-Kirchweih. (Das ist ein Fest.) Tout-Wahnmoching wird sicher auch dort sein. Halt - ich kann mich im Moment nicht besinnen, ob Sie einen Schnurrbart haben - ich glaube, nein, er paßt entschieden nicht zu Ihrer Biographie. Aber wenn ja, so lassen Sie ihn vorher beseitigen - er geht nicht zum Kostüm.

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Also 7 Uhr abends im Eckhaus (Chamotte weiß den Weg). Dreimal klingeln. Susanna Ach, diese Frau - es ist wirklich nicht ganz diskret, in meinen Sachen zu stöbern, wenn ich nicht zu Hause bin, und mir da mitten hineinzu­ schreiben. Ich bin so ordentlich, daß es an Pedanterie grenzt, und so etwas stört mich. Ich habe Chamotte zur Rede gestellt - Chamotte ist mein kleiner Diener. Susanna hat ihn so getauft, weil sie seinen Namen nicht behal­ ten konnte und fand, er sähe aus, als ob er Chamotte hieße. Er fühlte sich dadurch geehrt, er schwärmt für Susanna und verteidigt sie - na, es ist eine Schande - aber er macht mir alles nach, und wenn mir etwas nicht paßt, behauptet er einfach, er wäre dazu verurteilt gewesen, es so zu machen. Aber der Bengel ist erst sechzehn Jahre alt und wird dabei nie unverschämt. Und mir tut es manchmal wohl, so eine Art zweites Ich zu haben, das intelligent und bescheiden auf das erste reagiert und das man hinausschicken kann, wenn man will. Chamotte spricht jetzt auch von >unserer< Biographie und findet, wir müssen unbedingt zu dem Fest gehen, ich soll ihn als meinen Skla­ ven mitnehmen - das hat Susanna ihm heute früh in den Kopf gesetzt.

5 10.Januar Ich werde wohl doch anfangen, einen Roman zu schreiben. Als erstes Kapitel könnte ich gleich den gestrigen Abend nehmen. Der junge Mann im Pelzmantel ist Herr Dame. Etwas müde und nachdenklich geht er durch die Straßen. Chamotte, sein Diener, folgt ihm, mit Maskenkostümen beladen. Er ist verurteilt, heute abend auf ein Fest zu gehen - eine Frau hat ihn dazu verurteilt. Große Schneeflocken fallen vom Himmel - der heimliche Traum seines Lebens ist, nur einmal der Frau zu begegnen, die ihn - ach Gott, wie soll man das sagen - die ihn mit Liebe und zur Liebe verurteilt gütig und doch ... Nein, das geht nicht, das muß noch anders gesagt werden.

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Sie kommen in eine Nebenstraße, an der Ecke steht ein altes Haus mit großem grünem Tor und einer altmodischen Glocke. Chamotte zieht die Glocke - dreimal denn nur auf dieses Zeichen wird man eingelassen. Man geht durch einen Laubengang und über einen gepfla­ sterten Hof - wieder eine Tür und wieder dasselbe Glockenzeichen. Die Tür wird von innen aufgerissen. Der Herr im Pelzmantel fahrt zu­ rück, Chamotte schreit laut auf, vor ihnen im Schein einer trüben La­ terne steht ein Henkersknecht aus dem Mittelalter - oder Gott weiß woher. Er trägt ein eisernes Schuppenhemd, eine verrostete Sturmhau­ be, unter der die Augen unheimlich hervorblicken, im Ledergürtel steckt ein langes, handbreites Dolchmesser, baumelt geraubtes Altarge­ rät. Quer über die Stim läuft eine blutrote Narbe. Die unheimliche Gestalt verbeugt sich in tiefem Emst: »von Orlonsky.« - »Dame - Dame - ja, ich heiße so.« »Freut mich sehr, Susanna wartet schon.« Der Henker mit seiner Laterne geht voran, durch einen dunklen Flur, eine Treppe hinauf, in einen großen hellerleuchteten Raum, eine Art Küche, wie man sie in Bauernhäusern findet. In der einen Ecke ist der Herd, in der anderen ein gewaltiger Tisch mit ledergepolsterten Bänken und Stühlen - an den Wänden altes Kupferzeug und Fayence­ geschirr, ein ganzes Museum. Susanna steht am Tisch in einem weißen Gewand und schminkt ei­ nen untersetzten jungen Herrn, der mit runden schwarzen Augen ge­ fühlvoll zu ihr aufblickt. Ein zweiter, mit dem Zwicker auf der Nase, hält die Lampe, spricht und gestikuliert aufs lebhafteste. Dazwischen läuft ein fünf- bis sechsjähriges Kind herum. Begrüßung - Vorstellung - der Fremde, in dieser Umgebung wieder völlig Fremde, küßt ihr die Hand. Der Henker stürzt an den Herd und rührt in einem Gericht, das anzubrennen droht - Chamotte reißt Augen und Mund auf und steht wie verzückt. »Wir haben Eile, Eile«, sagt Susanna - »Haben Sie Ihr Kostüm? Chamotte, mach das Paket auf - und Ihr Schnurrbart?« Sie sieht mir ins Gesicht... Anmerkung Herr Dame geht manchmal unvermittelt in die erste Person über aber falls er seinen Roman wirklich jemals geschrieben hätte, wür­ de er es sicher korrigiert haben.

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»Ach Susanna, ich habe nie einen Schnurrbart getragen.« Der Herr mit dem Zwicker fixiert erst mich und dann Susanna. Damit ist die Frage vorläufig erledigt. »Also rasch, ziehen Sie sich an, Herr Dame.« »Hier?« Ich sehe mich hilflos um. »Aber Susja«, ruft der Henker schockiert vom Herd herüber, »ist zum erstenmal hier Herr - Herr - Dame -« (Susja - das klang so hübsch und ermahnend - ich fasse Sympathie für den Henker.) »Ach, Willy, wir tun ihn in Ihr Schlafzimmer ...«, sagt sie zu dem mit runden Augen und schiebt mich in einen anstoßenden Raum. Auch dort ist Licht, und von einem Diwan fahrt erschrocken ein Mädchen mit offenen blonden Haaren empor. »Was machen Sie denn, Susanna?« schreit Willy, und sie schiebt mich rasch noch ein Zimmer weiter. »Ich wußte wirklich nicht, daß du hier bist, Maria«, sagte sie dann zu der Blonden, Erschrockenen. »Oh, ich war so müde, und Willy sagte, ich könne hier etwas schla­ fen - ich bin schon seit fünf Uhr da.« »Kind, dann eil dich jetzt und hilf diesem jungen Mann hier, wenn er mit seinem Kostüm nicht zurechtkommt. Ach so«, sie stellte uns durch die halboffene Tür einander vor. »Chamotte kann mir ja helfen.« »Chamotte?« fragt die Blonde dazwischen, »um Gottes willen, wer ist das?« »Nein, Chamotte, den müssen wir jetzt herrichten, ich weiß noch gar nicht, was wir ihm anziehen.« Und fort war sie. Herr Dame bemüht sich, der Situation gerecht zu werden, zu der er sich verurteilt sieht, er unterhält sich mit dem jungen Mädchen von ne­ benan, läßt sich dann auch von ihr helfen, denn er kann durchaus nicht mit seinem Kostüm zurechtkommen. Sie tut es mit großem Emst - sie scheint noch halb verschlafen und etwas melancholisch. Dann möchte er sich etwas über die verschiedenen Persönlichkei­ ten orientieren. Der Henkersknecht ist von polnischem Adel und ohne ausgesprochenen Beruf - der mit dem Zwicker ein strebsamer Schrift­

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Steller, namens Adrian, und der dritte ist Willy - man nennt ihn nie­ mals anders. »Wir haben alle so langweilige Nachnamen«, fugte sie hinzu, »und es ist auch bequemer, sie einfach zu kassieren.« »Wollte Gott«, sagte Herr Dame mit einem tiefen Seufzer, »wollte Gott, man könnte seinen Nachnamen für alle Zeiten kassieren ...« »Ich habe Ihren vorhin gar nicht verstanden.« »Ich heiße Dame, gnädiges Fräulein - hören Sie, wie das klingt.« »Dame?« »Ja, Dame - Herr Dame - stellen Sie sich vor, wenn ich nun einmal die Frau finden würde ...« Sie hat sich auf dem Sofa niedergelassen, von dem sie vorhin so er­ schrocken emporfuhr - er setzt sich neben sie. In ihren Augen liegt so viel wirkliche Güte; er spricht von seiner Biographie, sagt ihr, daß er ein Verurteilter ist - sie hört zu und scheint tief nachzudenken, die blonden Haare fallen ihr ins Gesicht. Nebenan wird es immer lauter. »Dame!« ruft Susanna und schaut zur Tür herein. »Herr Dame, bitte, kommen Sie.« Er zuckt zusammen. »Ach, Susanna ...« Sie gehen in die Küche hinüber - da steht Chamotte auf einem Tisch, nur mit einer roten Badehose bekleidet, und der Henker ist da­ mit beschäftigt, ihn von oben bis unten schwarz anzustreichen. Nur das eine Bein ist noch weiß, der arme Junge bietet einen merkwürdigen Anblick und wird etwas verlegen, als er seinen Gebieter sieht. »Wenn ihm nur die Farbe nicht schadet«, meint Susanna mütterlich besorgt, »wir haben ihm ein anderes Kostüm vorgeschlagen, aber er wollte durchaus ein richtiger Sklave sein.« »Das ist meine Biographie«, bemerkt Chamotte bescheiden. »Oh Chamotte, du bist zum Wahnmochinger geboren«, sagt Su­ sanna. »Adrian, Sie schauen ihn so verzückt an, als ob Sie ein Gedicht machen wollten - vielleicht das Gedicht, das Ihnen endlich den Eintritt zum Tempel verschafft.« Adrian, der Herr mit dem Zwicker, der sich in eine Toga hüllt und trotzdem aussieht, als ob er eigentlich in den Frack gehörte - lächelt arrogant und beginnt sofort in feierlich getragenem Ton zu improvisie­ ren:

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Der schwarze Sklave, der den Becher trug, Empfing die Farbe aus des Henkers Hand; Er hieß Chamotte-----Das Weitere habe ich nicht behalten - man erzählte mir, daß Adrian an einem Gedichtband arbeitet und danach strebt, unter die Auserwählten des Hofmannschen Kreises aufgenommen zu werden. Aber bisher habe er sich seine Chancen immer wieder durch irgendeine Unvorsichtigkeit verdorben. Ich fand ihn sehr liebenswürdig - munter und gesprächig. Und er hat wohl auch Herz. Auf dem Wege zum Fest saß ich mit ihm und Ma­ ria im Fiaker. Sie dachte noch über meinen Namen nach, und wir spra­ chen darüber. Ich sagte, daß ich Chamotte beneide - wie fröhlich und selbstverständlich kann einer durch die Welt gehen, wenn er so gerufen wird; er tut sich leicht mit seiner Biographie. Chamotte, das klingt so, als ob ihm die reifen Früchte von selbst aus den Bäumen herabfallen müßten - und obendrein ist es nicht einmal sein wirklicher Name. Adrian nahm den Zwicker ab und sann nach, dann schlug er vor, mich >Monsieur Dame< zu nennen. Er selbst wolle den Anfang ma­ chen, und es würde sich dann gewiß rasch einbürgem. - Wir schüttel­ ten uns herzlich die Hände. An dem Abend allerdings nützte es nicht viel, denn wir gerieten unter lauter Bekannte, und die kappadozische Dame, die sich meiner vom Jour her erinnerte, fing gleich an zu fragen. Ich machte ihr rasch einige Komplimente über ihr kappadozisches Aussehen, und dann ließ sie mich gar nicht mehr los - ob ich das auch fände - und wie ich dar­ aufkäme - es sei wirklich wunderbar. Ach Gott, was geht mich die kappadozische Dame an - ich möchte meinen Roman schreiben, und es ist doch nicht so einfach, wie ich dachte. Das bunte Treiben im Eckhaus - der Kreis - die Enormen aber mir fehlt einstweilen noch der Faden, die durchgehende Hand­ lung, oder wie man das nennt. Und ob es angeht, einen ganzen Roman so zu schreiben, wie ich das erste Kapitel angefangen habe - ich fürchte, es gibt ein zu rasches Tempo. Man müßte wohl für jede Grup­ pe einen besonderen Stil anwenden. Darüber werde ich Doktor Ger­ hard oder Adrian noch zu Rate ziehen. Und vieles wird mir der Philo­ soph erklären müssen.

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Das Fest an sich wäre wohl besonders schwierig zu schildern, denn für mich war es ein unbeschreibliches Durcheinander von Menschen, Ko­ stümen, Musik, Lärm, einzelnen Vorfällen, Gesprächen und so weiter. Ich bin auch kein Kamevalsmensch, wie man hier sagt. Ich trinke we­ nig, tanze nicht und bin froh, wenn man mich möglichst in Ruhe läßt. Durch die kappadozische Dame kam ich an den Hofmannschen Tisch. Ab und zu erschien Susanna und setzte sich neben mich. Das war mir ein Trost - ich hätte mich sonst wieder recht ratlos gefühlt. Ich dachte, man würde sich gemessen und weihevoll benehmen, und es machte mich stutzig, daß der Professor als Teufel verkleidet war und in wilden Sprüngen tanzte. Gott, das ist wohl begreiflich, ich hatte noch nie einen Professor in rotem Trikot gesehen. Eine Anzahl Jünglinge bildete einen Kreis um ihn - ich glaube, es wurde ein Walzer gespielt, aber niemand kümmerte sich darum, sie sprangen auf ihre eigene Wei­ se, und die kappadozische Dame war ganz entzückt und sagte, das sei dionysisch. Adrian teilte ihre Begeisterung und erklärte, er würde nächstens auf seinem Atelier eine Satansmesse veranstalten, ob ich nicht kommen wollte. Ich meinte etwas kleinlaut, daß ich noch nicht genug von Magie verstände ... »Oh, ich kann Ihnen ein Buch darüber leihen ... Ja - übrigens weiß ich doch nicht recht, ob eine Satansmesse das Richtige wäre, aber eine Orgie - eine panerotische Orgie. Was meinen Sie dazu, gnädiges Fräulein?« Susanna trat mich so energisch auf den Fuß, daß ich unwillkürlich stöhnte - ich hatte nur Sandalen an. Und Adrian wandte sich rasch nach mir um: »Sie scheinen das nicht recht zu billigen, Monsieur Da­ me - aber warum nicht? Sind wir nicht ebenso berechtigt, Orgien zu feiern, wie die alten Römer und Griechen? Ich dachte, gerade Sie mit Ihrem jungen Sklaven müßten Sinn dafür haben.« Dabei warf er mir einen verständnisvollen Blick zu, über dessen Bedeutung ich mir nicht recht klar war. (Chamotte stand den ganzen Abend hinter mir oder Su­ sanna und bediente uns.) Wieder trat Susanna mich auf den Fuß und sagte: »Der Meister ist auch da - sehen Sie, dort geht er mit einem seiner Adoranten; daß er auf ein Fest geht, ist ein Ereignis.« Sie hatte leise gesprochen, aber Frau Hofmann mußte es doch auf­ gefangen haben, denn sie sagte lächelnd: »Liebe Susanna, Sie irren

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sich - er ist nicht hier. Der Herr, den Sie meinen, hat nur seine Maske gemacht - aber wirklich täuschend, nicht wahr?« »Frau Professor«, antwortete Susanna, und ich bewunderte ihren Mut, »ich bin beim Theater gewesen und gehe jede Wette ein, daß es keine Maske ist...« »Ach, was ist Theater?« beharrte Frau Hofmann immer noch lä­ chelnd, aber wie Märtyrer unter Foltern lächeln, »ich kann Sie versi­ chern, daß er es nicht ist.« Der so Umstrittene befand sich ziemlich in unserer Nähe, und ich mußte Susanna recht geben - das konnte keine Maske sein. Und es lag etwas in seiner Erscheinung, was mir großen Eindruck machte. »Warum will man denn nicht zugeben, daß er es ist?« fragte ich nachher, als wir eine Weile allein saßen. »Weil gewöhnliche Sterbliche nicht wissen dürfen, daß er wirklich vorhanden ist.« Der Professor kam mit einer Dame, zog sie auf einen Stuhl nieder und sagte bewundernd: »Ist sie nicht unglaublich schön?« Susanna flüsterte ihm ins Ohr: »Um Gottes willen - sie ist furcht­ bar.« Er erschrak, betrachtete sie von der Seite und fragte leise zurück: »Wirklich?« Das wiederholte sich noch ein paarmal im Laufe des Abends - er brachte immer neue Wesen und wollte, daß man sie schön fände. (Manchmal waren sie auch ganz nett.) Später mischte ich mich in das Gewühl, ich traf Willy, der nach Maria suchte. Schließlich sahen wir sie mit Heinz und seinen Freunden. »Ja, dann ist es umsonst«, sagte Willy betrübt. »Die Enormen ge­ ben sie nicht her - sehen Sie, der dort ist Hallwig, er ist entschieden ein ungewöhnlicher Mensch; ich möchte ihn schon lange kennenlemen, aber er hält sich vollständig zurück und verkehrt nicht mit belanglosen Leuten, wie ich und Sie es sind - nehmen Sie es nicht übel, Herr Dame ...« »O gewiß nicht, und Maria?« »Maria ist eben >enorm< - sie ist heidnisch, und Götter wohnen in ihrer Brust. Damit haben sie ganz recht, und wir finden es ja auch, aber man kann sich nicht darüber verständigen. Maria liebt die Enormen, und sie liebt uns - sie liebt überhaupt alles, aber man sieht es nicht

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gerne, daß sie so universell ist, und vor allem ihr Verkehr im Eckhaus - wir ziehen sie herunter, wir sind Schmarotzer und Vampire an ihrer Seele.« Er war ganz traurig. Ich betrachtete den genannten Hallwig genauer - ich hatte ja auch schon gemerkt, daß Heinz es vermeidet, mich mit ihm bekannt zu machen. (Woher wissen sie denn so genau, daß ich >belanglos< bin?) - Ein auffallend schöner Mensch, und Maria scheint ihn sehr zu lieben. Vielleicht war sie deshalb heute abend im Eckhaus so melancholisch und verstand mich so gut. »Und wer ist der kleine Brünette, der so zärtlich den Arm um sie legt?« »Das ist Konstantin, der Sonnenknabe, er ist auch enorm, und des­ halb darf er alles - er darf sogar Maria lieben. Bei ihm ist es eben das Enorme, daß er alle Frauen liebt, auch wenn er sie eigentlich gar nicht mag - dann läßt er sich wenigstens lieben - die Mädchen sind alle hinter ihm her. Sehen Sie, lieber Dame, ich habe gar nichts gegen die Enormen, ich verehre sie sogar aus der Feme, und ziemlich hoff­ nungslos - denn sie schätzen meine Rasse nicht - sie lassen nur blonde Langschädel gelten, und ich sehe so äthiopisch aus - aber wenn sie die Mädchen gegen uns beeinflussen ...« Ich sagte ihm, daß ich das wieder nicht verstände: »Überall sind mysteriöse Gemeinschaften, man hört von Satansmessen, Orgien, Ma­ gie und Heidentum sprechen wie von ganz alltäglichen Dingen, dann wird wieder getanzt und Tee getrunken, aber selbst beim Tee gibt es Geheimnisse und verschlossene Türen, hinter denen vielleicht ein Ma­ gier sein Wesen treibt.« »Ja, so ist es wohl«, seufzte Willy, »und es gab eine Zeit, wo auch ich gerne Zauberlehrling werden wollte, man hatte mich schon halb und halb akzeptiert. - Aber schauen Sie einmal dorthin!« Wir sahen, wie Orlonsky, der Henker, Maria mit Gewalt zum Tan­ zen fortzog - den Sonnenknaben schob er einfach beiseite, und der schien es auch gar nicht Übelzunehmen. Aber der Henker war sichtlich gereizt, und als dann beim Tanzen irgendein junger Mensch aus der Menge Maria ansprach, ließ er sie stehen und warf ihn buchstäblich an die Wand, fuhr dabei mit der Hand in sein eigenes Dolchmesser, das offen am Gürtel hing, und verletzte sich ziemlich erheblich. Nun gab es erregte Auseinandersetzungen - dieser Orlonsky scheint ein rabiater

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Herr zu sein. Plötzlich stand auch der Indianer daneben - Orlonsky und er maßen sich nur mit den Blicken, dann folgte Maria dem Indianer, und Susanna beschwichtigte Orlonsky mit Zärtlichkeit. Man sah sie nachher beständig zusammen. Am Hofmannschen Tisch wurde noch viel über diese Szene gesprochen. Es lag sicher wieder eine mysteriöse Bedeutung darin, die ich nicht durchschauen konnte. Adrian wollte den Henker zu seiner Orgie einladen, und die kappadozische Dame fragte: »Haben Sie gesehen, wie seltsam er sich benahm«, sie meinte den In­ dianer. »Nein - wieso?« »Er sagte kein Wort, aber er erbleichte, als er Blut fließen sah - Sie wissen doch, Blut...« Nun wurde es mir zuviel, ich stand auf und irrte verlassen durch die festliche Menge. Wie eine unaussprechliche Erleichterung empfand ich es, als der Philosoph neben mir auftauchte. »Wie geht es Ihnen, Herr Dame? Wozu hat man Sie heute verur­ teilt?« »Ich furchte zum Wahnsinn, eher philosophe, ich weiß nicht, was in diesem rätselhaften Stadtteil aus mir werden soll, und doch läßt es mir keine Ruhe, dahinterzukommen.« »Mirobuk!« sagte er gütig, »kommen Sie doch morgen nachmittag etwas zu mir.«

Ja, ich frage ganz im Emst, ob es nicht ein bedenkliches Symptom für meinen inneren Zustand ist, daß das bloße Wort - Mirobuk - so beru­ higend auf mich wirkt - wie eine Zauberformel, die den Bann zu lösen vermag; denn es ist wohl eine Art Bann, der mich hier immer wieder umfängt. Ich weiß nicht, was Mirobuk bedeutet, wo er es her hat, und was es eigentlich heißen soll, ich will es auch gar nicht wissen, es ist nur die Art, wie er es anwendet - man ahnt gleichsam, daß hinter den verworrensten Widersprüchen doch noch irgendwo Klarheit zu finden sein könnte.

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6 14.Januar Heute - gestern - vorgestern - ich muß mich erst wieder besinnen, wie die Tage sich folgten. Mittwoch war das Fest, und am Donnerstag nach Tisch machte ich mich noch ziemlich schläfrig auf den Weg, um der freundlichen Einla­ dung des Philosophen zu folgen. Unterwegs fiel mir ein, daß bei Hof­ manns Jour war und ich wohl auch dorthin gehen müsse. Frau Hof­ mann hatte mir gesagt, es werde heute wahrscheinlich Delius kommen, und ich sollte ja nicht versäumen, ihn persönlich kennenzulemen. Er sei eine der bedeutendsten Erscheinungen des heutigen Deutschlands ich glaube sogar, sie sagte >Germaniensheidnische Blutleuchte< in vielen Individuen gleichzeitig. So war in den acht­ ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts große heidnische Blutleuchte. Delius fand seine Weltanschauung - Nietzsche schrieb den Zarathustra - in der damaligen Jugend gärte es - König Ludwig II. versuchte seine phantastischen Ideen auszuleben ...« »Oder heuer im Karneval«, warf Maria dazwischen, »Monsieur Dame läßt sich zu einem Wahnmochinger Fest verurteilen, und Cha­ motte empfindet sich als Sklave, weil man ihn schwarz angestrichen hat.« »Maria, unterbrechen Sie mich nicht«, sagte der Philosoph, »hören Sie lieber gut zu. Es würde Ihnen gar nicht schaden, wenn Sie auch et­ was von diesen Geschichten begreifen lernten.« »Ach Gott, ich vergesse es ja doch gleich wieder«, antwortete sie resigniert und zündete sich eine neue Zigarette an. »Also - eben Ihr Freund Hallwig lehrt, daß nicht wir handeln, dichten, träumen und so weiter, sondern die Ursubstanzen in uns. Über die Rangordnung der historischen Substanzen dürften er und Delius wohl etwas uneinig sein, da dieser die römische, jener die germanische für sich gepachtet hat. Immerhin gelten beide für kosmisch, die semiti­ schen dagegen immer für molochitisch - Herr Dame, sehen Sie mich nicht so verzweifelt an, und brechen Sie nicht immer Ihren Bleistift ab, mit etwas gutem Willen werden Sie schon dahinterkommen. Also

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kosmisch - kosmisch ist das Prinzip, welches das wahre unmittelbare Leben aufbaut und in jedem Wesen, das überhaupt an ihm Teil hat, das gleiche ist. Notabene: den Begriff kosmisch braucht man gewöhnlich nur im Gegensatz zum chaotischen. Erst indem man ihn statt auf das Gebilde auf die bildende Kraft anwandte, bekam er die Wahnmochinger Nuance. Kosmisch werden deshalb solche Erlebnisse genannt, die deutlich aus diesem Prinzip stammen - auch Träume werden dazu gerechnet und spielen eine große Rolle. Delius oder Hallwig pflegen darüber zu entscheiden, ob ein Traum oder Erlebnis kosmische Bedeutung hat die Damen beim Jour irren sich häufig über diesen Punkt und begehen dann Mißgriffe, welche den Professor Hofmann nervös machen. Denn auch er erfreut sich in diesen Fragen einer gewissen Autorität.« »Ich danke Ihnen, eher philosophe - die Nebel fangen an sich zu lichten - aber was heißt molochitisch?« »Moloch, Herr Dame, wie Sie vielleicht wissen, war ein unange­ nehmer Götze, der sich von kleinen Kindern nährte, mithin also das Lebendige, Hoffnungsvolle verschlang. Molochitisch bedeutet daher in gutem Wahnmochinger Jargon alles Lebensfeindliche, Lebenvemichtende - kurz und gut, das Gegenteil von kosmisch. Man wandte nun in unserem Stadtteil mit Vorliebe diesen Gegensatz auf die Rassensub­ stanzen an und gelangte zu dem Resultat: die Arier repräsentieren das aufbauende, kosmische Prinzip, die Semiten dagegen das zersetzende, negativ-molochitische. Zu merken ist hierbei noch, daß eben die Sub­ stanzen sich im Laufe der Zeiten nicht rein erhalten haben und vielfach vermischt sind. Luther zum Beispiel, den man im allgemeinen für einen Germanen halten dürfte, wandte sich gegen die heidnischen Reste im Katholizis­ mus - verneinte sie und bewirkte ihre Zersetzung, folglich war er mo­ lochitisch - folglich war er nach Delius ein Jude.« »Sehen Sie, das finde ich einfach entzückend«, meinte Maria, »aber ich weiß schon, unser Philosoph schätzt solche Wahnmochingereien nicht.« »Liebes Kind, die Sache hat eben auch ihre tragische Seite - denn in Wahnmoching wird vor allem jede Vernunft und Klarheit in den Bann getan, weil sie ihnen für verderblich und molochitisch gilt. Und das erlaube ich mir für bedenklich zu halten.«

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Er gähnte, und Maria fragte teilnehmend, ob er müde sei, dann wollten wir doch lieber von etwas anderem reden. Mir schien, sie hatte selbst genug davon und fing an, sich zu langweilen. »Nun ja - was meinen Sie etwa zum Hetärentum?« fragte Sendt, und sie wurde ganz böse - es schien irgendeine Anzüglichkeit zu sein. »Aber ich bitte Sie - die matriarchale Zeit ist sicher von ungemei­ ner Wichtigkeit, wie Delius sagen würde. Waren Sie dabei, Dame, wie Frau Hofmann neulich proklamierte, wir gingen zweifellos wieder matriarchalen Zeiten entgegen? Man sprach nämlich von einem Mädchen, das unberechtigterweise ein Baby bekommen hatte, und irgendjemand nahm Anstoß daran - ich glaube, es war an dem Festabend.« Ich sah zufällig Maria an und bemerkte, daß Sie ganz rot geworden war. Warum nur? Nein, die erwähnte Äußerung hatte ich nicht gehört oder jedenfalls nicht verstanden. »Aber darüber müssen Sie Bescheid wissen«, nahm Sendt wieder das Wort, »sonst wird man Sie niemals für voll nehmen. Merken Sie sich überhaupt, daß alle mit der Vorsilbe Ur beginnenden Worte hier­ zulande einen bedeutungsvollen Klang haben: Urzeit - Umacht - Ur­ kräfte - Urschauer - und so weiter. Des Ferneren: den Unterschied zwischen kosmisch und molochitisch hat man auch auf die matriar­ chale und patriarchale Weltanschauung übertragen (vergessen Sie nie, daß >man< stets Wahnmoching bedeutet, denn an allen anderen Orten der zivilisierten Welt pflegt man diese Sachen nur vom wissenschaftli­ chen oder historischen Standpunkt und ohne starke innere Beteiligung zu beurteilen). Notieren Sie sich also bitte folgendes: in der matriar­ chalischen Urzeit folgte die Frau nur dem kosmischen Drange, wenn sie sich - pardon - mit einem Manne einließ. Nach Bachofen - das ist ein bekannter Gelehrter, lieber Dame, und wenn Sie sich dauernd in unserem Stadtteil niederlassen wollen, müssen Sie ihn lesen - nach Bachofen ist der Hetärismus die früheste Lebensform - in Wahn­ moching gilt sie natürlich für die enormste. Dem Hetärismus entspricht die Anbetung der blind gebärenden Erde, sie wird in seinen chthonischen Kulten verehrt - wenn Sie Ihr Griechisch noch nicht vergessen haben, werden Sie vielleicht wissen, daß Chthon der dunkle Schoß der Erde bedeutet.« »Nein, nun hören Sie auf - das ist wirklich nicht mehr zum Aus­ halten«, rief Maria ganz verzweifelt.

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»Gemach, gemach«, antwortete Sendt mit Ruhe, »haben Sie mich nicht selbst dazu verurteilt, Herrn Dame zu belehren, damit er ruhig schlafen kann? Und war er nicht heute zum erstenmal auf einem Wahnmochinger Jour mit kosmischen Gesprächen?« »Zum zweitenmal«, bemerkte ich, »aber damals sprach man nur über die Geste, und ich entsinne mich jetzt, daß sie ebenfalls als Ur­ form des Lebens bezeichnet wurde.« Der Philosoph lobte mich und sagte: übrigens, wenn dort von der Geste gesprochen würde, so meine man immer nur die Geste des Mei­ sters oder vielleicht noch die seiner verehrenden Anhänger. »Er tut sich leicht«, meinte Maria, »seine Geste ist einfach das dritte Zimmer«, und Sendt erklärte, sie habe ausnahmsweise etwas Richtiges gesagt. Sie war sehr stolz darauf und versprach, sich noch ein wenig zu gedulden. »Wo waren wir stehengeblieben?« fragte der Philosoph und warf einen Blick in mein Notizbuch - »ah, richtig - Chthon, der dunkle Schoß der Erde. - Das ältere Heidentum neigte dazu, sich die schöpfe­ rische Urkraft blind gebärend vorzustellen - Wahnmoching schließt sich ihm an, der Hetärismus gilt ihm als das Höchste, Urschauer, die noch durch keine molochitisch rationalen Hemmungen geschwächt sind. Die spätere Zeit erkannte das Licht der Vernunft als göttlich an und dachte sich das schöpferische Prinzip als männlich und zeugend. Man nennt sie deshalb die patriarchale, und Wahnmoching schätzt sie ziem­ lich gering ein. Es wird Ihnen deshalb ohne weiteres einleuchten, daß man das Dionysische stark betont, gerade jetzt im Fasching haben Sie öfters Gelegenheit, das zu beobachten.« Ja, es war mir schon aufgefallen, daß die kappadozische Dame Hofmanns Tanzweise für dionysisch erklärte. »Sehr richtig«, bemerkte Sendt, »Apollo ist bekanntlich der Gott des Lichtes, der Vernunft - Dionysos der des Rausches und des Blutes. Auch in Wahnmoching hat man nicht umsonst seinen Nietzsche gele­ sen, aber es genügt hier zu wissen, daß es ehrenhafter ist, mit dem Dionysos auf vertrautem Fuß zu stehen.« Mir wurde jetzt auch klar, weshalb die Kappadozische bei der Sze­ ne zwischen den beiden Männern und Maria so bedeutsam sagte: »Sie

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wissen doch - Blut.« Damals war es mir völlig unverständlich geblie­ ben. Die beiden brachen in ein freudiges Gelächter aus, als ich es ihnen jetzt erzählte. Dann wollte ich gerne noch wissen, wie man es nun in diesen Krei­ sen mit der Magie hält. An jenem Nachmittag im Cafe war ich ja noch so ganz unerfahren, und das Thema scheint doch hier und da wieder aufzutauchen. »Nein, dieses Gebiet liegt Wahnmoching eigentlich fern«, meinte der Philosoph, »man beschäftigt sich wohl gelegentlich in seinen Mu­ ßestunden damit, und die kappadozische Dame verwechselt es manch­ mal mit kosmischen Dingen. Hofmann ist seit dem bedenklichen Fauxpas jenes Psychometers ganz davon zurückgekommen, und Adri­ an ...« Er lächelte ein wenig ironisch. »Was haben Sie nun wieder gegen Adrian?« fragte Maria, »ich kann ihn sehr gut leiden.« »Oh, ich auch«, erwiderte Sendt, »und ich wollte ihn gerade in ei­ ner poetischen Anwandlung mit einem Schmetterling - nein, falsch mit einer Biene vergleichen, die aus allen Blumen den Honig herauszu­ finden weiß und das Gift wohlweislich darin läßt. Für jemanden, der sich hier in und zwischen den verschiedenen Kreisen bewegt, ist das eine sehr glückliche Eigenschaft. Was? Immer noch eine Frage, lieber Dame? Aber es sei die letzte, die ich als vielgeplagter Philosoph Ihnen heute noch beantworte - die Uhr ist zwei.« »Ja, sicher die letzte - was nun diese vielgenannten Kreise vonein­ ander unterscheidet, und was ihnen gemeinsam ist, das möchte ich ger­ ne noch wissen.« »Leicht gefragt - und nicht so leicht zu beantworten. Sie werden es mit der Zeit schon selbst herausfühlen. Ich kann es Ihnen zu dieser vorgerückten Stunde nur noch flüchtig andeuten. Etwa so: alle die so­ genannten mystischen Entdeckungen, die Substanzangelegenheiten, kosmischen Dinge und so weiter sind in erster Linie Sache des Hallwig-Delius-Kreises, und der Hofmannsche partizipiert daran - man >kann< es eben auch und findet es fabelhaft, tut auch noch allerlei Bei­ werk dazu, das bei den anderen nicht immer Anklang findet. Und die Hauptdifferenz könnte man etwa so formulieren: dort bei Hallwig und Delius sucht man die alten Götter und alten Kulte wieder­

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zufinden - hier, nämlich bei Hofmanns, braucht man keine alten Göt­ ter, denn man hat einen neuen, der allen Ansprüchen genügt, Mirobuk! - und jetzt...« »Gehen wir nach Hause«, sagte Maria, die schon ganz teilnahmslos dasaß. »Ob wir wohl noch ein Auto finden?« »Und wo gedenken Sie heute zu schlafen?« fragte der Philosoph besorgt, »Ihre Wohnung liegt ja wohl am Ende der Welt.« »O nein, ich gehe ins Eckhaus ...« Sendt sah sie prüfend an und sagte noch einmal Mirobuk, aber in etwas anderer Tonart.

Nachtrag'. Etwas Wichtiges habe ich vergessen - der Philosoph sagte mir, daß alle diese Dinge in Wahnmoching eigentlich als Geheimnis behandelt werden. Deshalb wende man wohl auch die vielen merkwür­ digen Ausdrücke an, die eben nicht jeder versteht.

8 7. Februar Am späteren Nachmittag im Eckhaus. Unten im Hof spielt das Kind, das ich hier schon neulich gesehen habe. Susanna empfängt mich wie­ der in der großen Küche. Was ich inzwischen gemacht habe? »Nun - versucht, mir über verschiedene Eindrücke klarzuwerden, und mich mit dem Philosophen unterhalten.« »Jetzt im Karneval?« sie schüttelt den Kopf, »warum sind Sie nicht lieber mit uns zur Redoute gegangen, und heute ist draußen auf dem Lande ein Fest, man fahrt mit Schlitten hinaus.« Sie seufzt etwas Orlonsky erscheint - schon wieder im Henkerkostüm - oder hat er es inzwischen gar nicht abgelegt - er fragt nach Willy: »In seinem Zim­ mer - er liest Maria Märchen vor.« Wir gehen hinüber, Konstantin, der Sonnenknabe, ist auch da. Maria liegt matt auf dem Diwan, sie sind alle schon im Kostüm für heute abend, alle etwas bleich und übernächtig, und Willy liest ihnen ein Gedicht aus des Knaben Wunderhom vor: Maria, wo bist du zur Stunde gewesen? Maria, mein einziges Kind? -

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Ich bin bei meiner Großmutter gewesen, Ach weh, Frau Mutter, wie weh! Ich kannte das Gedicht - die Großmutter hat ihr Schlangen zu essen gegeben, und sie stirbt daran. »Pfui, warum lesen Sie ihr das vor?« sagte Konstantin vorwurfs­ voll. »Weil es so auf sie paßt.« »Auf mich?« fragte Maria ganz abwesend, und alle lachen. Sie scheint gar nicht zu wissen, wovon die Rede ist. »Und das schwarzbraune Hündlein, das auch von den Schlangen frißt und in tausend Stücke zerspringt - das werden Sie wohl sein, Konstantin«, meinte Willy etwas unliebenswürdig. Konstantin lächelte nur, er ist wirklich ein hübscher Kerl, und ich begreife, daß die Mäd­ chen hinter ihm her sind. Dann Orlonsky: »Katerunterhaltung ist das ...«, er versorgt uns mit schwarzem Kaffee, und sein eisernes Schuppenhemd klirrt, wenn er sich bewegt, »bleiben Sie bei uns, Ma­ ria, wir geben Ihnen nicht Schlangen zu essen, bis Sie kaputt sind.« »Nein, bei euch ist es zu friedlich - ich muß wohl immer etwas ha­ ben, was mich zugrunde richtet. Und ich kann ja doch nicht los von ihm...« »Aber er denkt nicht daran, dich zugrunde zu richten«, sagt Kon­ stantin. »Nein, er nicht - aber ich muß immer gerade das tun, was er nicht leiden kann, er haßt den Karneval und sagt, es sei ein unechter Rausch. Aber für mich ist es ein wirklicher - ich bin nur glücklich, wenn jeden Abend ein Fest ist. Und jetzt will er aufs Land gehen, weil er das nicht mehr mitansehen kann, es wäre lebensfeindlich, sich so zuzurichten wie ich! Also was soll ich tun? - was meinen Sie dazu, Monsieur Da­ me?« »Was soll ich meinen? - ich tue immer nur das, wozu ich verurteilt werde.« »Sie Glücklicher - weißt du, Susanna«, sie denkt nach, »ich will doch lieber zu euch ziehen.« »Und Konstantin?« »Oh, Platz genug«, sagte Orlonsky, und es folgte eine Art häusli­ cher Beratung zwischen ihm und Susanna. Ich gehöre nicht zu den Neugierigen. Die Zusammenstellung dieses Hauswesens ist mir immer

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noch dunkel. Wem das Eckhaus gehört, wer ständig darin wohnt und wer vorübergehend ... und das Kind ...

Heinz hält mich für einen harmlosen, unbedeutenden Menschen - das hat mir der Sonnenknabe wiedererzählt - und für gänzlich ungefährlich in bezug auf Frauen, man könne jedes junge Mädchen unbesorgt mit mir auf Reisen schicken. Ich weiß nicht, ob man das kann. In den Kreisen, wo ich aufge­ wachsen bin, ist es nicht üblich, und ich hatte bisher auch noch nie das Verlangen, junge Mädchen mit auf Reisen zu nehmen. Also, was sollen solche Bemerkungen? Die Frau, die ich suche - die steht auf einem ganz anderen Blatt - und wenn ich sie einmal finde ... Dieser Konstantin ist wohl das indiskreteste Wesen, das man sich vorstellen kann, er erzählt alles wieder, was er sieht, hört, miterlebt, und es hat den Anschein, als ob seine Freunde ihn alles hören, sehen und miterleben lassen. Susanna behauptet, sie merkten es gar nicht oder fänden es enorm, daß er gar nicht begriffe, was Diskretion sei. Man bewundere nur die Anmut und heidnische Schamlosigkeit, mit der er seine oder andere Erlebnisse zum besten gebe. Nun, ich will gerne einräumen, daß der Junge viel Charme hat, ich mag ihn recht gerne. Aber trotzdem berührt es mich nicht gerade ange­ nehm, wenn er mir mit strahlender Miene erzählt, daß andere Leute mich für einen Dummkopf halten. Ich wurde sogar etwas ärgerlich und sagte, daß Heinzens böse Zunge mir schon von der Schulzeit her be­ kannt sei - worauf er ebenso strahlend bemerkte, ja, ihm auch, denn Heinz sei sein Vetter, und sie ständen sich sehr nahe. Eigentlich kann es mir ja ziemlich gleichgültig sein - für einen be­ deutenden Menschen halte ich mich wirklich selber nicht, aber ich ver­ stehe und begreife vielleicht doch mehr, als Heinz annimmt. Sonst würde der Philosoph sich wohl auch schwerlich so viel Mühe mit mir geben - er selbst steht den Dingen ja sehr skeptisch gegenüber, aber ich habe mehr und mehr das Gefühl, daß es sich hier um große Ideen und tiefe Lebenserkenntnis handelt. Es sind unter diesen Menschen zweifellos einige ungewöhnliche Intelligenzen, und sie wollen das Le­ ben auf eine ganz neue und schönere Art gestalten. Und wenn ihnen das gelänge, wäre es immerhin etwas Großes - ich würde mich auch,

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soweit es in meiner Kraft steht, gerne daran beteiligen. Ich liebe wohl das Konventionelle in allen äußeren Dingen und möchte nicht gerne darauf verzichten, aber wer weiß, ob nicht doch ein Fond von Heiden­ tum in mir steckt. Zum mindesten scheint mir, ich bin jetzt doch auf dem Wege, in das geistige Leben dieses Vororts einzudringen und sei­ nen inneren Zusammenhängen näherzukommen. Die letzte Woche bin ich ganz im Eckhaus geblieben. Susanna ver­ urteilte mich dazu; sie meinte, ich müsse etwas aufgeheitert und von meinen Grübeleien abgelenkt werden. Es war wieder ein ganzes Romankapitel, aber ich weiß es noch nicht anzufugen. Man kann doch nicht jedes Kapitel mit einem Kamevalsfest beginnen lassen - das kommt mir unkünstlerisch vor. Wollte man sich genau an die Wirklichkeit halten, so scheint allerdings bei den Eckhausleuten ein jedes nicht nur mit einem Fest anzufangen, son­ dern auch damit zu enden. Wie sie das aushalten, ist mir ein Rätsel; ich war schon nach zwei Tagen ganz gebrochen und kam ins Lazarett, wie sie das nennen. Dies alte Haus ist merkwürdig und geräumig gebaut. Oben die gro­ ße Küche ist zugleich der gemeinsame Salon, daneben liegen Willys Zimmer, und im Seitenflügel wohnt Susanna mit dem rätselhaften Kind - es sieht niemand von den dreien ähnlich, aber es muß doch ir­ gendwie zu ihnen gehören. Unten im Parterre hat Orlonsky sein Reich, und neben dem großen Flur, durch den man hereinkommt, gibt es noch eine Reihe von halbdunklen Zimmern, wo die Gäste untergebracht werden. Orlonsky hat es dort mit vielen Diwanen, Polstern und ande­ ren Lagerstätten etwas phantastisch, aber sehr gemütlich hergerichtet, das Ganze gleicht etwas einer Herberge, wo die müden Freunde des Hauses sich ausruhen und erholen können. Mit dem Ausruhen war es allerdings manchmal nicht weit her, aber ich bin jetzt schon daran ge­ wöhnt, mich über nichts mehr zu wundem. Als ich das erstemal dort schlief, wurde mitten in der Nacht das Fenster von außen geöffnet, und jemand rief ein paarmal leise: Maria dann stieg er hinein. Es war eine Mondnacht, und ich sah einen jungen Mann in Frack und Zylinder vor mir stehen, seinen Mantel trug er über dem Arm. Ich hielt es für angemessen, ihm zu sagen, Maria sei nicht hier. »Entschuldigen Sie, mit wem habe ich das Vergnügen?«

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»Dame - ich heiße Dame.« Darauf stellte er sich ebenfalls vor und sagte, es freue ihn unge­ mein, mich kennenzulemen - er hätte Maria zum bal-pare abholen wollen - schade - aber vielleicht käme ich mit? Es sei eben erst Mit­ ternacht vorbei und immer noch Zeit genug. Ich nahm alle meine Wi­ derstandskraft zusammen und erklärte ihm, ich wäre wirklich zu müde. »Müde? Oh, das geht vorbei, sowie man dort ist.« »Aber ich war die vorigen zwei Nächte aus.« »Und da wollen Sie wirklich schlafen?« Er stand regungslos da, vor meinem Bett, wie eine schmale, schwarze Silhouette, und schien ganz in Erstaunen versunken. »Wissen Sie, wo Maria heute ist?« fragte er dann. »Mit Herrn Konstantin auf dem Atelierfest.« »Oh - gewiß wieder so eine bacchantische Wahnmochingerei«, sagte er bedauernd, »da kann ich im Frack nicht hingehen. Im Frack kann man nicht dionysisch taumeln - sehen Sie, Herr Dame, deshalb paßt das auch nicht in unsere Zeit. Was hab’ ich davon, wenn ich abends dionysisch herumrase, mir wie ein Halbgott vorkomme und am nächsten Morgen doch wieder mit der Trambahn in mein Büro fahren muß - ich bin nämlich Rechtspraktikant - ich weiß nicht, wie die Leute sich damit arrangieren. Es wird deshalb auch nie etwas Rechtes daraus. - Sie erlauben«, er stellte vorsichtig seinen Zylinder auf den Tisch und rückte sich einen Stuhl an mein Bett. Ich könne ihm doch nicht ganz beistimmen, sagte ich nun - im Ge­ genteil, was man hier unter dem Begriff Wahnmoching zusammenfas­ se, habe mich wohl zuerst befremdet, aber jetzt hätte ich doch das Ge­ fühl, daß sich mir hier allmählich eine neue und wunderbare Welt er­ schließe. Und ich fühlte eine große Bewunderung für diese geistig her­ vorragenden Menschen. »Pardon, wen finden Sie geistig hervorragend?« »Ich kenne die Herren leider erst ziemlich flüchtig - aber ich habe schon viel von ihnen gehört, und zum Beispiel Maria ...« »Ja, da haben wir’s - Maria und soundso viel andere. Da laufen die dummen Mädel hin und lassen sich erzählen, daß das Hetärentum bei den Alten etwas Fabelhaftes gewesen sei. Und nun wollen sie auch Hetären sein. Da war eine - unter uns gesagt, sie stand mir eine Zeitlang sehr nahe -, aber eines schönen Tages erklärte sie mir, sie habe

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eingesehen, daß sie nicht einem Manne angehören könne, sondern sie müsse sich frei verschenken - an viele. Es war nichts dabei zu machen - sie hat sich dann auch verschenkt und verschenkt und ist elend dabei hereingefallen. Denn glauben Sie mir nur, was ein rechter Wahnmochinger ist, der sieht nicht ein, daß es für die meisten Mädel eben doch ein Unglück bedeutet. Er bewundert sie höchstens, daß sie nun ein Schicksal haben und es irgendwie tragen; aber was nützt ihnen das?« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Bei Maria liegt es et­ was anders, sie hat von Natur keine Prinzipien. Und deshalb wird sie dort auch so verehrt. Sie sagt, es sei so schön gewesen - sonst habe sie immer nur Vorwürfe über ihren Lebenswandel hören müssen, und alle hätten versucht, sie auf andere Wege zu bringen. Aber als sie dann un­ ter diese Leute kam, machte man ihr Gott weiß was für Elogen und fand alles herrlich. Sie hatte damals gerade das Kind bekommen, und die Welt zog sich etwas von ihr zurück.« »Maria hat ein Kind?« fragte ich, wohl etwas ungeschickt, denn ich hatte ja keine Ahnung davon gehabt. »Das wissen Sie nicht - oh, sie macht übrigens gar kein Geheimnis daraus«, er wurde etwas nachdenklich. »Gott, ich weiß ja kaum, wer Sie eigentlich sind, aber ich nehme an, daß Sie dem Hause hier nahe­ stehen«, darauf gähnte er: »Hören Sie, Herr Dame, wir sind wahr­ scheinlich beide ziemlich müde. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich dort auf dem Diwan schlafe.« Nein, natürlich hatte ich nichts dagegen - seine frische, unbeküm­ merte Art war mir ganz sympathisch. Er zog nur seinen Frack aus und hängte ihn über die Stuhllehne, dann warf er sich auf den Diwan. »Wissen Sie - ich habe schon manchmal hier geschlafen, wenn ich meine Schlüssel vergessen oder mich verspätet hatte. Ein oder das an­ dere Fenster ist immer offen, und die Eckhäusler wundem sich nie, wenn sie morgens irgendeinen Bekannten vorfinden - besonders im Karneval -, es ist wirklich ein gastfreies Haus.« Ich konnte noch lange nicht einschlafen, der Mond schien gerade ins Fenster, und der schwarze Frack hing so gespenstisch über der Stuhllehne, daß ich jeden Augenblick emporfuhr und meinte, es stände jemand vor mir. Ich dachte noch über Maria nach - es ist so viel Ver­ hängnis um sie -, da tobt sie nun heute nacht mit dem Sonnenknaben

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und den Enormen, vielleicht liebt sie auch den Mann, der dort drüben schläft. Und morgen liegt sie selbst wieder hier auf dem Diwan, und wir unterhalten uns müde über unsere Biographien. Wir verstehen uns, wie nur zwei Verurteilte sich verstehen können - eine andere Liebe ist nicht zwischen uns. Hallwig nennt so etwas den Eros der Feme, hat Maria mir gesagt. Früher hätte ich das überhaupt nicht verstanden und mir nichts darunter vorstellen können.

Als ich aufwachte, war der Frack fort und sein Besitzer verschwunden. Susanna stand am Tisch und betrachtete sinnend ein Paar weiße Glace­ handschuhe, die er anscheinend vergessen hatte. Dann lächelte sie mich an: »Lieber Dame, kommen Sie doch mit zum Frühstück hinauf, wir haben ein paar Leute mitgebracht.« Es ist sieben Uhr morgens. Sie sind eben erst heimgekommen - die ganze Küche voll kostümierter Gestalten. Ich weiß nicht, ob ich wache oder träume. Man sitzt bei Lampenlicht um den Frühstückstisch, die Mädchen haben Kränze auf dem Kopf, sehen blaß und glücklich aus. Susanna legt die weißen Handschuhe vor Maria hin: »Gilt das mir, oder gilt es dir?« Sie flüstern zusammen, dann fragt Susanna: »Sie - Monsieur Da­ me, wie hat er denn ausgesehen?« Ich versuche ihn zu beschreiben: »Schlank - mittelgroß - das Ge­ sicht hab’ ich nicht deutlich sehen können, dazu war das Zimmer zu dunkel. Aber ich besinne mich, daß er Maria abholen wollte.« »Oh, dann war es Georg«, sagt Susanna, »die Handschuhe sind deine, Maria...« Die beiden sehen sich an, lächeln - dies Lächeln, dieser Blick ist absolut heidnisch - bei Susanna vielleicht noch mehr. Hinter ihrem Lä­ cheln ist nie ein Schmerz oder eine Zerrissenheit - Susanna kann selbst aus meinem Herzen alle Nebel und alles Dunkel hinweglächeln, wenn sie mich ansieht wie an diesem Morgen. Ich kann nicht anders, ich muß ihnen beiden die Hände küssen. Da sitzt ein Herr am Tisch, der ein Monokel trägt und alles auf­ merksam beobachtet. Er ist ein Jugendbekannter von Susanna, den sie heute nacht beim Fest zufällig wiedergetroffen hat. Er steht in Berlin bei der Garde, wie sie mir nachher erzählte.

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»Na, weißt du, Susi, das ist wirklich eine originelle Bude - und da wohnst du?« »Freilich wohne ich hier«, antwortete sie gleichmütig. »Ja - sag mal...« Willy erscheint aus dem Nebenzimmer, er ist in Zivil, denn er war heute nicht mit - sieht sich mit seinen runden Augen etwas erstaunt um, begrüßt alle, setzt sich an den Tisch. »Ach, Susanna, gibt es schon Frühstück?« sagt er weich und sehn­ süchtig. »Ja, bitte, mahlen Sie den Kaffee, wir warten nur noch auf Onsky.« Willy beginnt Kaffee zu mahlen, Maria zupft ihn an den Haaren und erzählt ihm von dem Feste. Der Jugendbekannte betrachtet ihn et­ was erstaunt und wirft einen fragenden Blick auf die Herrin des Hau­ ses. »Das ist Willy«, erklärte sie, »der wohnt da drüben neben der Kü­ che, und Orl - Gott sei Dank, da kommt er endlich.« Orlonsky kommt die Treppe herauf, alles an ihm ist wieder ras­ selndes Eisen, und er ist böse. »Ah - Maria - wo ist denn der Sonnenbengel? Schon untergegan­ gen am frühen Morgen?« »Onsky, wir verhungern«, sagt Susanna, »ihr könnt euch nachher zanken.« Orlonsky und der Gardeleutnant stellen sich einander aufs förm­ lichste vor, sie verbeugen sich und schlagen die Absätze zusammen: »Sehr angenehm.« »Freut mich sehr.« Die anderen betrachten das wie eine seltene Schaunummer. Dann begibt sich Orlonsky an den Herd - er ist ein sonderbarer Kauz, und ich habe ihn sehr schätzen gelernt, ein wenig rauh und kurz angebunden, aber Gentleman durch und durch. Er treibt alle Sportar­ ten, die es überhaupt gibt, mit Vollendung und kocht vorzüglich - die Frauen läßt er überhaupt nicht an den Herd und behauptet, sie verstän­ den nichts davon. Man pflegt deshalb andächtig mit den Mahlzeiten zu warten, bis er kommt. Er bereitete uns denn auch an diesem Morgen ein ausgezeichnetes englisches Frühstück. Susannas Jugendfreund be­ obachtet ihn stumm, dann läßt er sein Monokel fallen und beugt sich zu Susanna hinüber: »Großartig, das ist ja das reinste Familienleben -

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dein Onkel in Berlin erzählte mir - ja sag mal - Susi, und was tust denn du hier eigentlich?« »Aber das siehst du doch - ich führe ihnen den Haushalt«, sagte sie lässig und zufrieden. Ich dachte, sie würden alle etwas ruhebedürftig sein, aber nach dem Frühstück wurden sie wieder sehr lebendig und berieten, was nun mit diesem angebrochenen Tag zu beginnen sei. Orlonsky ordnete schließ­ lich an, wir sollten alle aufs Land fahren. Er nahm den Leutnant mit auf den Speicher, und sie forderten eine Anzahl Rodelschlitten und Schneeschuhe zutage. Ich schickte Chamotte in meine Wohnung und ließ ihn holen, was ich an Sportgarderobe besitze - einiges fand sich auch im Eckhaus vor. Orlonsky musterte erst die vorhandenen Klei­ dungsstücke, dann jeden seiner Gäste mit Kennerblicken, und unter seinem Kommando wurde eine Art militärische Einkleidung vorge­ nommen. Wir fuhren aufs Land, alle in der heitersten Stimmung, selbst im Waggon fingen sie noch wieder an, einen Konter zu tanzen, aber der Schaffner verbot es. Es war ein wundervoller, weißer Wintertag, wir trieben uns viele Stunden im Schnee herum. Susanna hatte mich zum Partner genom­ men, und ich fühlte mich stillglücklich, ich, der Müde, Verurteilte, un­ ter diesen Unermüdlichen. Sie verlangen ja nicht, daß ich mich per­ sönlich stark betätige, und ich störe sie nicht, ich lasse mich so gerne mitziehen. Maria war an dem Tag stürmisch und voller Leben, mit Willy zusammen sauste sie leidenschaftlich die Abhänge hinunter einmal stürzen sie und der Schlitten geht entzwei. Orlonsky macht ihr Vorwürfe, es ist immer etwas Krieg zwischen den beiden, und er hält beim Sport auf Ordnung. Sie lacht nur und sagt: »Oh, meinetwegen soll alles zerbrechen - alles, nicht nur der Schlitten, auf dem ich fah­ re.« Und Susanna war schläfrig, ihre Bewegungen hatten etwas Mattes - sie meinte, die Welt sei für sie heute in lauter Schleier gewickelt. Wenn Orlonsky in ihre Nähe kam, drückte sie ihm die Hand. Er sah sie an - seine Augen sind scharf und graublau - wie von Stahl. »Onsky, ich bin sehr glücklich - das Leben ist so schön«, sagte sie. Als wir einmal aus der Bahn geraten, will sie, daß wir da im Schnee sitzen bleiben, warum soll man sich so anstrengen? Wir bleiben

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sitzen und sehen den anderen zu. Ein paarmal nennt sie mich du - man ist im Karneval so gewöhnt, alle zu duzen. Wir sprechen nicht viel, sie lehnt sich ein wenig an mich und schläft hier und da einen Moment ein. Dann geht die Sonne unter, und wir fahren in die Stadt zurück. Ma­ ria will noch nicht nach Hause, und der Leutnant, den man etwas über­ sehen und fast vergessen hat, lädt uns ein, in der Bar zu soupieren. Alle werden noch einmal wieder ganz wach und sehr munter, und wir kommen erst gegen drei oder vier Uhr ins Eckhaus zurück. Susanna berief sich mit plötzlicher Energie auf ihre Stellung als Hausfrau und setzte für morgen einen allgemeinen Schlaftag an. Wer bliebe und wo er bliebe, sei ihr einerlei - jeder möge sehen, wie er unterkomme. Chamotte solle mit dem Kinde spazierengehen und es beaufsichtigen, dazwischen könne er hier und da leise - um Gottes willen recht leise durch die verschiedenen Zimmer gehen und Erfrischungen verabrei­ chen. Am späteren Abend würde wohl irgendwie eine richtige Mahl­ zeit oben in der Küche zustande kommen - dabei warf sie einen fra­ genden Blick auf Orlonsky, aber der zuckte ablehnend die Schultern, und Susanna fugte hinzu, schlimmstenfalls würde sie selbst für alles sorgen. Ich hatte ja die vorige Nacht, wenn auch nicht ungestört, geschla­ fen und wachte gegen Mittag von einem leichten Geräusch auf. Es war Chamotte, der auf den Zehenspitzen herumschlich. Herr Willy ließe fragen, ob er zu mir herunterkommen könnte, er sei auch schon wach, und da er zwei Gäste beherbergte, fühlte er sich etwas beengt. Ich klei­ dete mich an und legte mich dann wieder aufs Bett, Willy kam in ei­ nem gelbseidenen Kimono: »Ich weiß nicht, wem er gehört«, seufzte er, »man zieht jetzt immer an, was man gerade findet. Es ist alles so anstrengend - der Leutnant ist schon fortgegangen, um seine Tante von der Bahn zu holen, Susanna hat ihm ihren roten Rodelsweater und Reithosen von Onsky gegeben - denn er wollte durchaus nicht in sei­ nem Biedermeierfrack an die Bahn gehen. Wir drei hier im Hause kommen jetzt manchmal in Verlegenheit, weil wir immer unsere Gäste zum Fortgehen ausstaffieren müssen. Ein junges Mädchen mußten wir neulich zwei Tage dabehalten, weil sie als Page zu uns kam und nichts vorhanden war, was ihr paßte.«

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Chamotte machte derweil Ordnung im Zimmer, heizte den großen Ofen ein und brachte uns Kaffee. Dann lagen wir da, rauchten Ziga­ retten, und es war sehr gemütlich. Die Tür zu beiden Nebenzimmern stand offen, in dem einen schlief Orlonsky, in dem anderen Maria, und wir sprachen halblaut, um sie nicht zu stören. Ich fragte, ob Susanna denn schon auf sei, da sie den Leutnant ko­ stümiert hatte, sie war doch gestern am allermüdesten und schien es mit dem Schlaftag sehr emst zu meinen. »Oh, Susanna macht’s wie die Sonne, sie geht in Wirklichkeit nicht unter - sie geht nur um die Erde herum und scheint dann über irgend­ welchen anderen Ländern. Beim Schlaftag kommt es ihr nur darauf an, daß jeder in seinem Zimmer bleibt - sie gibt dann Gastrollen, besucht eine Niederlassung nach der anderen und schläft da, wo sie gerade ist, noch ein paar Stunden weiter.« Chamotte ist mit dem Kind ausgegangen, das ganze Haus liegt in tie­ fem Schweigen. Die Türglocke hat man vorsorglich abgestellt. Maria ist inzwischen einmal aufgewacht und hat gefragt, wer denn hier ne­ benan sei. Wir haben ihr Kaffee hineingebracht und ein wenig geplau­ dert, dann ist sie wieder eingeschlafen - die weißen Glacehandschuhe, die Susanna ihr heute morgen gegeben, liegen auf dem Tischchen am Bett. Allmählich wird es Nachmittag, und Susanna erscheint mit Tee und Brötchen. Ihr Lächeln ist heute etwas resigniert: »Onsky hat Migräne«, sagte sie, »und steht nicht auf. Da werden wir wohl heute und morgen fasten müssen. Ich glaube, es ist am besten, wenn wir nachher unsere Kostüme wieder anziehen und heute abend auf den Gauklerball gehen. Die anderen wollen wir gar nicht erst wecken, das Weitere wird sich hier dann schon irgendwie entwickeln«, sie seufzte ein bißchen, »ach Gott, es ist wirklich keine Kleinigkeit, wenn die Verantwortung für so vieler Leute Wohlergehen auf einem ruht.«

Ermattet legt sie sich auf die Polster in die Nähe des Ofens, schließt die Augen und scheint in eine Art Halbschlaf zu versinken. Willy und ich sprechen mit gedämpfter Stimme weiter - hier und da ermuntert Su­ sanna sich ein wenig, beteiligt sich am Gespräch oder langt nach ihrer Teetasse. Unvermerkt geraten wir wieder auf die heidnischen Ideen

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und ihre Verwirklichung in unserer heutigen Welt. Ich erzähle von meiner nächtlichen Unterhaltung mit dem Herrn im Frack. »Ach, der Georg«, sagt Willy, »er möchte sie immer noch gerne heiraten, und ich nenne ihn den standhaften Zinnsoldaten. Maria ärgert sich darüber, aber sie hat immer einen oder den anderen Zinnsoldaten, als Gegengewicht oder zur Erholung von ihrer heidnischen Betäti­ gung.« Ein Wort gab das andere, und ich erkundigte mich mit größtmögli­ cher Diskretion, ob es etwa Marias Kind sei, das hier im Hause wohne. Susanna hatte gerade einen wachen Moment und richtete sich halb auf. »Aber ich bitte Sie - das ist doch meins.« »Ihres ...?« »Ja, natürlich - wußten Sie das nicht?« »Woher sollte ich das wissen, das Kind ist einfach da, und man hat niemals davon gesprochen, wem es gehört.« »Marias Kind - ja, Maria ist ein komplizierter Fall«, erläuterte Willy dann weiter. »Sie müssen wissen - in Heidenkreisen hatte man schon lange die Frage aufgeworfen, wie es mit der Vereinigung von Mutterschaft und Hetärentum stände - beides natürlich in möglichster Vollendung gedacht -, aber die Beobachtung an lebenden Objekten war immer ziemlich ungünstig ausgefallen. Die Mädchen, die als Hetä­ ren in Betracht kamen, hatten eben keine Kinder und waren froh, daß sie keine hatten. Andere wünschten sich wohl Kinder, strebten dann aber nach Heirat und gaben das Hetärentum auf. Nun tauchte Maria hier in aller Fröhlichkeit mit ihrem Lebenswandel und einem Baby auf. Durch ihr bloßes Dasein, in dem sie unbewußt, aber mit königlicher Selbstverständlichkeit - so sagt man dort - ihren heidnischen Instink­ ten nachgelebt hatte, stellte sie das gelöste Problem: Mutter und Hetäre dar und wurde sehr gefeiert.« »Ja, Ähnliches hat mir der Herr von gestern nacht - der Zinnsoldat, wie Sie ihn nannten - schon erzählt.« »Ach der«, meinte Willy wegwerfend, »der versteht schon gar nichts davon und hat keine Ahnung von Marias eigentlichem Wesen. Die Zinnsoldaten sind eine schwache Seite von ihr - ich glaube über­ haupt von den meisten Frauen, aber sie sind ihnen nicht abzugewöh­ nen«, er warf einen wehen Blick auf Susanna, und sie lächelte halb im Schlaf.

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»Also Maria...« »Ja, Maria wurde fortan als Paradigma hingestellt, als lebendes Symbol für heidnische Möglichkeiten. Es haben dann noch ein oder zwei andere Mädchen Kinder bekommen - offizielle Kinder, die nicht geheimgehalten wurden, aber sie machten nicht mehr soviel Eindruck. Und Maria beklagt sich bitter darüber, daß man sie von nichtheidni­ scher Seite gewissermaßen dafür zur Verantwortung zieht und die Sa­ che so hinstellt, als mache sie Propaganda für liederliches Leben und illegitime Kinder.« Susanna setzte sich auf und gähnte: »Mein Gott, redet ihr schon wieder von illegitimen Kindern? Ich hätte gar nicht gedacht, daß Herr Dame sich so dafür interessiert.« Ich machte noch die Bemerkung, es wundere mich, daß Susanna in den Heidenkreisen nicht ebensoviel Bewunderung errege wie ihre Freundin. Sie kennen sie ja doch alle - sie verkehrt mit ihnen - ihre ganze Art zu leben und das Kind. »Oh, mein Kind gilt nicht für voll, und niemand schaut mich drum an«, sagte sie darauf beinah entschuldigend, »ich hatte es doch schon, als die Hetärenfrage aufkam - außerdem war ich einmal verheiratet, und das ist eben nicht dasselbe.«

9 10. Februar Ich habe heute wieder durchgelesen, was ich zuletzt aufgeschrieben, und ich fühle Sehnsucht nach den Tagen im Eckhaus. Wie eine Reihe stets wechselnder Bilder gleiten sie noch einmal an mir vorüber - bunt, bewegt, geräuschvoll und dann wieder müde und verträumt in schläfri­ gem Halbdunkel - wie jener Wintemachmittag, wo alle schliefen und wir drei in dem großen Zimmer um den Ofen lagerten. Bis dann Cha­ motte mit dem kleinen Mädel heimkam, das ich mit ganz neuem Inter­ esse betrachtete - ich kann wohl sagen, daß ich es zum erstenmal >erlebteTagebuchplaudem< und tut es auch nicht, aber Adrian kann es. Trotzdem ist er auch der Ansicht, daß hier große Dinge in der Luft liegen, und jeder, der ir­ gendwelches Streben in sich fühle, müsse sich solchen Bewegungen unbedingt anschließen.

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»Ich bitte Sie, Monsieur Dame, wir haben wieder gelernt, diony­ sisch zu empfinden - wer hätte das vor zehn oder zwanzig Jahren für möglich gehalten? Bei dem Fest neulich - haben Sie gesehen, wie der Professor raste, wie der Taumel ihn blendete, so daß er in den schein­ bar häßlichsten Frauen wunderbare Schönheit erblickte? Er hat so viel Eros, daß ihm jede Lebensäußerung, jede Form, in der das Leben sich darstellt, etwas Vollendetes bedeutet. So wurde zum Beispiel einmal von jemand gesagt, er sei sehr unschön, ja geradezu garstig. Hofmann besann sich einen Augenblick und sagte dann: Ja, gewiß, er ist wun­ dervoll garstig. - Von Ihnen ist er übrigens ganz entzückt, er sagte mir, es wäre ganz unglaublich, wie blasiert und gelangweilt Sie manchmal aussehen könnten.« (Ich empfand das nicht gerade als Kompliment, aber es war entschieden so gemeint.) »Und die Frauen«, fuhr Adrian mit einem süffisanten Lächeln fort, »unsere Frauen wollen wieder Hetären sein - es ist gar nicht zu sagen, welche Umgestaltung das gesellige Leben dadurch noch erfahren wird. In erster Linie natürlich auf erotischem Gebiet, aber selbstverständlich bezieht sich das nicht nur auf die Frauen - die Beschränkung der Ero­ tik auf das eine oder andere Geschlecht ist ja überhaupt eine unerhörte Einseitigkeit. Der vollkommene Mensch muß alle Möglichkeiten in sich tragen und jeder Blüte des Lebens ihr Aroma abzugewinnen wis­ sen. Ich meinesteils empfinde durchaus bisexuell.« Dabei nahm er für einen Augenblick seinen Zwicker ab, rieb ihn mit dem Taschentuch blank und sah mich mit seinen kurzsichtigen Augen triumphierend an. »Apropos, Monsieur Dame, was macht denn Ihr kleiner Sklave?« »Oh - er hält mir meine Wohnung sehr gut in Stand«, antwortete ich ablenkend, mir war dieses Thema unsympathisch, und ich fühle durchaus keinen Ehrgeiz, für vorurteilsfrei zu gelten, wo ich es nicht bin. Wir wurden unterbrochen, auf der Treppe hörte man lachen und sprechen, es klopfte, und dann erschienen Professor Hofmann und Su­ sanna. Sie sagte, kaum daß man sich begrüßt hatte: »Adrian, ich bitte Sie - haben Sie nicht ein dämonisches Briefpapier - ich muß an je­ mand schreiben.« Damit zog sie ihn ans Fenster und erzählte ihm eine Geschichte, über die beide sehr lachten.

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Hofmann schüttelte mir indessen lebhaft die Hand und war äußerst liebenswürdig. Er war gekommen, um Adrian zu einem Fest in seinem Hause einzuladen - die anderen traten wieder zu uns, und es wurde al­ lerhand darüber geredet. Hofmann gefiel mir an diesem Morgen sehr gut, besser als je zuvor; er war heiter und gesprächig und freute sich wie ein Kind auf diese Sache. Delius hatte die Grundideen angegeben, und es sollte ein richtiges antikes Fest werden. »Bacchanal?« fragte Adrian eifrig. »Nun, Fest oder Bacchanal - ein Bacchanal ist ein Fest, und ein Fest kann wohl ein Bacchanal sein«, erwiderte Hofmann mit großer Zungenfertigkeit und wandte sich galant an Susanna: »Ich hoffe, an Bacchantinnen wird es nicht fehlen.« »Und an Bacchanten auch nicht«, warf Adrian ein und frohlockte hinter seinem Zwicker. Hofmann warf den Kopf etwas zurück und sah über das ganze Zimmer hinweg aus dem Fenster. Ich kenne diese Geste jetzt schon, wenn ihm etwas nicht recht ist. Dann zog er Adrian bei­ seite, und sie begannen ein halblautes Gespräch, das aber manchmal ziemlich vernehmlich wurde. So hörte ich, wie Adrian sagte: »Ich sehe absolut nicht ein, warum ich das nicht verwenden soll - nur das Wort ganz einfach, Blutleuchte ist das und das ...« Worauf Hofmann sehr erregt antwortete: »Aber wenn ich Ihnen doch sage, daß es nicht geht. Ich bitte Sie, man hat sich doch geschwo­ ren, ganz richtig geschworen, daß auf den Verrat von kosmischen Ge­ heimnissen der Tod steht.« Und Adrian: »Ja, dann allerdings - aber das finde ich wirklich fa­ belhaft.« Dann sahen beide zu uns herüber und flüsterten ganz leise. Susanna achtete nicht weiter darauf, während mich ein unbehagli­ ches Gefühl beschlich: ich dachte an den Philosophen und beschloß, ihn zu warnen. Er pflegt so unbefangen über all diese Dinge zu reden, und vielleicht könnte ihm das übel ausgelegt werden. Inzwischen war es Mittag geworden, wir nahmen Abschied und gingen alle drei zusammen fort. Adrian stürzte noch rasch an den Schreibtisch und brachte Susanna das gewünschte Briefpapier, es war kohlschwarz, ich hatte noch nie ein solches gesehen. »Wenn Sie es ganz richtig machen wollen, müssen Sie mit Blut darauf schreiben«, bemerkte er - aber sie meinte: »Oh, rote Tinte tut’s wohl auch.«

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Gegen Abend hoffte ich endlich einmal wieder Susanna allein zu fin­ den - wenigstens annähernd allein. Ich war melancholisch und dachte, sie sollte mich etwas froher machen, vielleicht ist sie wieder so glück­ lich verschlafen und duzt mich. Oder verurteilt mich zur Redoute - ich sitze tadellos in der Loge, langweile mich und warte, bis sie nicht mehr tanzen kann. Dann kommt sie zu mir. Aber ich finde sie nicht allein - alle sind in der Küche um den gro­ ßen Tisch versammelt. Die Hausbewohner - dazu Maria, Konstantin und Delius, den ich noch nie im Eckhaus getroffen - er aber erinnert sich meiner und ist sehr entgegenkommend, sehr Weltmann. Man hält Kostümberatung für das »kosmische Fest< - als dieser Ausdruck fällt (ich glaube, es war Willy, der ihn brauchte), blickte De­ lius sich erstaunt um und sagte mit seinem merkwürdigen Auflachen: »Nun, ob das Fest ein kosmisches sein wird, wird man erst nachher be­ urteilen können. Der Herr Professor denkt es sich vielleicht doch zu einfach, kosmische Feste zu feiern, und man kann nicht alles auf ein­ mal wollen. - Es soll übrigens auch ein Umzug des Cäsars stattfinden, bei dem der Dionysos selbst erscheint.« »Ja, der Professor sieht als Dionysos sehr schön aus«, sagte Kon­ stantin. »So - wo hat er sich denn schon als solcher gezeigt?« fragte Delius mißbilligend. »Oh, er hat das Kostüm gestern anprobiert und ging den ganzen Abend in seiner Wohnung darin herum.« »Wissen Sie vielleicht, wer noch dabei war?« »Irgendein Besuch - ich glaube, ein Privatdozent aus Berlin.« »So - so«, Delius schien etwas verstimmt, aber nun wurde Maria ungeduldig: »So laßt doch endlich den Professor - er macht es ja doch niemand recht, ob er nun seine Gäste im Frack oder als Dionysos emp­ fangt. Aber unsere Kostüme - Delius? - Wir wollen nämlich als Hermaphroditen kommen - Susanna und Adrian haben sich’s ausge­ dacht - die beiden, Konstantin und ich ...« Delius horchte auf: »Nun, im alten Rom hat es wohl schwerlich Umzüge gegeben, an denen Hermaphroditen teilnahmen, eher noch in Hellas und auf den Inseln - bei den Festen der großen Mutter.«

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»Gott, wir leben doch in Wahnmoching, und da geht alles«, suchte Susanna zu vermitteln, aber er hörte gar nicht darauf, sondern fragte: »Und wie haben Sie sich das Kostüm gedacht?« Maria stieß Konstantin an, und er sagte zögernd: »Ja, wir dachten, mit schwarzen Trikots. Maria behauptet, sie hat auf etruskischen Vasen so etwas gesehen - schwarze Beine mit weißen Bändern umwunden, und das gefällt ihr so.« »Schwarze Trikots?« sagte Delius ganz entsetzt und dachte dann eine Welle mit steinernem Gesicht nach. Er mochte wohl im Geiste durch das alte Rom wandern. »Ja, es wurden wohl bei Triumphzügen gefangene Äthiopier mitgefiihrt, aber die waren ganz schwarz, und ob es Hermaphroditen wa­ ren ...« »Wir sind ja auch keine wirklichen«, meinte Konstantin. Und Su­ sanna: »Wir wollen nur etwas Verwirrung anrichten ...« »Schweig doch!« sagte Maria und warf ihr einen zornigen Blick zu. Aber Delius überhörte sichtlich alle Nebenbemerkungen und machte nun allerhand Vorschläge: ein kurzes weißes Obergewand und Kränze auf dem Kopf - nicht Efeu, sondern rotes Weinlaub, und durch die Kränze sei ein weißes Band zu schlingen - an dem herabfallenden En­ de müsse ein symbolischer Tautropfen befestigt sein - aus Glas natür­ lich. Er vertiefte sich in Einzelheiten: wie weit die Ärmel sein müßten und so weiter, und gab die Adresse eines Schneiders an, der diese Din­ ge ausgezeichnet verstehe. Nur zu den schwarzen Trikots schüttelte er nach wie vor den Kopf, aber Maria ließ sie sich nicht ausreden. »Gedenken Sie auch als Hermaphrodit zu kommen, Herr Dame?« wandte er sich dann an mich. Nein, ich war noch völlig unschlüssig, was ich wählen sollte. Er maß mich mit prüfendem Blick und fragte, ob ich musikalisch sei. »O ja, ich spiele Klavier ...« »Das ist sehr schade - Sie würden sich sonst wohl zum Flöten­ spieler eignen - aber es müßte dann schon eine phrygische Doppelflöte sein. Sie werden wohl auch wieder Ihren jungen Sklaven mitbringen, und ich glaube nicht, daß die Flötenspieler Sklaven mit sich führten.«

Delius ging - in der Tür blieb er noch einmal stehen und fragte, ob Konstantin ihn begleiten wollte.

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»O nein, ich bleibe hier«, sagte Konstantin, »Sie gehen wohl zu Heinz?« »Ja, ich will Ihren Vetter abholen - wir haben einen Nachtspazier­ gang zu den Hünengräbern verabredet. Es ist sehr möglich, daß wir dort zur Nachtzeit kosmische Urschauer erleben.« Das alles sagte er mit dieser unbeweglichen Sachlichkeit, die ihm eigen ist, und fugte dann ganz unerwartet mit einem jähen Auflachen im höchsten Diskant hinzu: »... wenn nur um Gottes willen der Mond nicht dazwischen­ kommt.« Dann war er verschwunden, wir sahen uns an; ich glaube, uns war ei­ nen Moment ganz spukhaft zumut, selbst der allzeit mokante Sonnen­ knabe war verstummt. Man hatte das Gefühl: was ist das? ist er ein Mensch wie wir anderen - lebt er wirklich zwischen uns hier auf der Welt - in einer modernen, europäischen Stadt? - oder spielt sein Da­ sein sich in ganz anderen, unwahrscheinlichen Regionen ab? Und wie­ derum: ist er fremd und unwahrscheinlich - oder sind wir es? Ich suchte diese Empfindung in Worten auszudrücken. Susanna nahm freundlich meine Hand, als wollte sie mir den Puls fühlen, und sagte beschwichtigend: »Lieber Dame, Sie wissen doch, in welchem Stadtteil wir leben, und daß hier vieles unwahrscheinlich ist - aber ei­ gentlich geht es mir ebenso wie Ihnen ...« Orlonsky, der schweigend in einer Ecke saß und ein verrostetes al­ tes Schwert blank rieb, fiel ihr ins Wort: »Nun fangt ihr ja glücklich alle an, verrückt zu werden - gratuliere.« »Onsky, das verstehst du nicht - du bist ja selbst aus dem Mittelal­ ter und willst es bloß nicht zugeben. Es ist hier schon viel dummes Zeug - aber Delius ist echt, es gibt ihn wirklich ... ich weiß nicht, wie man das sagen soll.« »Seine Substanz ist echt«, korrigierte Konstantin ein wenig überle­ gen. »Echter wie deine«, sagte Maria. »Bei Hallwig wurde neulich von dir gesprochen, man zweifelt an dir - ich fürchte beinah, dein Stem ist im Sinken.« »Ich weiß«, gab er plötzlich deprimiert zu, »aber ich ahne nicht, was ich eigentlich getan habe.«

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Susanna achtete nicht darauf, was sie sprachen, und fuhr in ihrem Gedankengang fort: »Nein - Delius imponiert mir - es tut sich einem da irgend etwas auf, wenn er so selbstverständlich die sonderbarsten Sachen sagt. Es kommt gar nicht darauf an, ob er von seinem Schnei­ der spricht oder von Urschauem. Und man meint, er spricht mit uns, aber er denkt nicht daran - er schaut einen an, aber er ist gar nicht da, und wir auch nicht. Daß wir zum Beispiel Frauen sind, merkt er über­ haupt nicht - das ist sehr sonderbar, aber er gefällt mir so.« »Susja, du hast nicht ausgeschlafen.« »Nein, das habe ich auch nicht, mir ist ganz überirdisch zumut, und er gefallt mir wirklich.« »Aber keine Chancen, wenn du nicht römischer Sklave bist«, sagte Orlonsky aus seiner Ecke. »Ach schweig doch - so war es nicht gemeint.« »Ja, Delius - und Hallwig«, fing nun auch Maria an, »es sind doch nur die beiden. Die anderen laufen so mit.« Konstantin: »Das sagst du nur, weil du Hallwig liebst.« »Er ist der einzige Mensch, bei dem man das Gefühl hat, er könnte fliegen. Die anderen probieren es nur. Wenn er so über Sachen redet, wird man ganz glücklich und möchte ...« »Du hast recht, Maria - du hast recht«, sagte Susanna mit einer Stimme, als ob sie im Traum spräche. Sie war die letzten zwei Nächte aus gewesen. Aber Orlonsky stieß einen polnischen Fluch aus, stellte sein Schwert mit vielem Getöse in die Ecke und fing an, einen Niggertanz zu tanzen. Das ist so seine Art, der Unterhaltung ein Ende zu machen, wenn sie ihm nicht gefallt.

Nachtrag. Kosmische Urschauer: Die Urzeit war noch dunkel - der Kultus des Mondes entspricht der späteren Periode des geläuterten Mutterrechts. Deshalb werden unverfälschte Urschauer durch den Mond beeinträchtigt. (So etwa hat es mir der Philosoph erklärt.)

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11 16... Alles ist liegengeblieben während der letzten Woche - meine Auf­ zeichnungen, meine literarischen Pläne und wohl selbst meine Gedan­ ken. Man lebte nur in den Vorbereitungen für das große Fest, und ich lebte mit. Wir gingen zu dem von Delius bezeichneten Schneider, fanden ihn nach langem Suchen in einer entlegenen Straße und fanden ihn recht merkwürdig. Er kenne Delius schon seit Jahren, erzählte er uns, und habe öfters für ihn gearbeitet - ein sehr gelehrter Herr, der Herr Delius. Und die Art, wie er dann die Kostümfrage eingehend erörterte, über den Schnitt antiker Gewänder sprach und mit ernster, nachdenklicher Miene die Maße nahm, erweckte den Eindruck, als ob auch auf ihn et­ was von dem Geist des Altertums übergegangen sei. Wir gingen Trikots kaufen und suchten zahllose Geschäfte durch, bis wir rotes Weinlaub für die Kränze und symbolische Tautropfen aus Glas fanden. Ich hatte die Idee des Flötenbläsers aufgegriffen, Kon­ stantin wußte mir ein sonderbares Instrument zu verschaffen, das zur Not eine phrygische Hirtenflöte darstellen konnte, und ich saß viele Stunden allein zu Hause, um mich darauf einzuüben. Dazwischen mußte ich wieder Chamotte trösten, daß ich ihn diesmal wohl nicht gut mitnehmen könnte. Einen Abend waren wir bei Hofmanns und halfen ein wenig bei den Zurüstungen. Dabei ging es heiter und lebendig her, es wurden keine dunklen Gespräche geführt, und beide waren von einer wirklich herzlichen, zwanglosen Liebenswürdigkeit, so daß ich mich recht wohl fühlte. (Das dritte Zimmer stand an diesem Tage offen, aber es war niemand darin.) Die Mädchen sprachen halb im Scherz davon, wie ich mich mit dem Flötenblasen abmühe, man neckte mich damit und fand es sehr anerkennenswert. Bei diesem Gespräch sah der Professor mich zum erstenmal richtig an, und ich hatte einen Moment das Gefühl, als verstände er vielleicht etwas von dem, was in mir lebt, anstatt wie bis­ her mich einfach mit dem Vermerk abzutun, ich sei ein wundervoller Mensch.

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Dann war schließlich der Tag herangekommen - ich saß noch bis zur Dämmerung zu Hause am Fenster und blies auf meiner Flöte. Da­ bei kam eine ganz verträumte Stimmung über mich, ich meinte wirk­ lich, ein Hirt zu sein, der eine antike Landschaft mit seinem Spiel er­ füllte, vielleicht auch ein geliebtes Mädchen dadurch herbeizulocken suchte. Aber es kam kein Mädchen, es kam nur Chamotte, um zum Aufbruch zu mahnen - und ich war wieder Herr Dame, der ein griechi­ sches Kostüm trug und den man dazu verurteilte, heute abend die Sy­ rinx zu blasen. Und ich blieb auch bei dem Fest Herr Dame. Als Anblick und Stimmung war es schon etwas Wunderbares, ja, ich kann wohl sagen: als wir zu früher Morgenstunde das gastliche Haus verließen, waren auch meine Empfindungen bis zu einem Zu­ stand inneren Taumels gesteigert, der noch heute nicht ganz erloschen ist. Und doch - und doch - ich wollte, ich wäre in der Lage zu be­ haupten, man müsse seine Feder in heidnisches Blut tauchen, um Wahnmochinger Bacchanale zu schildern, und wenn ich mein Buch schreibe, werde ich es wohl auch so ausdrücken. Ich denke nach - dort drüben am Sofa liegen noch mein Kostüm und die Hirtenflöte - und nun will mir wiederum scheinen, als über­ triebe ich nach der anderen Seite. Es lag doch viel heidnischer Glanz und Schimmer über dieser Nacht - bei einigen war es vielleicht nur allgemeine frohe Feststimmung - Maria, Susanna sind sicher bei jeder Redoute ebenso bacchantisch aufgelegt - bei anderen wohl auch eine tiefe Entrücktheit aus der heutigen Welt. So Delius, der als römische Matrone in schwarzen Gewändern erschienen war; auf dem Kopf trug er einen schwarzen Schleier und in der Hand einen metallenen Trian­ gel, dem er mit einem Stäbchen melodische Töne entlockte. Und auch bei dem Professor, der den indischen Dionysos darstellte, in purpurro­ tem Gewand mit Weinlaubkranz und einem langen goldenen Stab. Beim Tanzen raste er wild daher, und seine Augen rollten, mir fiel auf, daß er eigentlich ein schöner Mann ist mit seiner mächtigen Gestalt und dem dunklen Bart. Er schien auch vielen Frauen gut zu gefallen, und er sah sie alle mit verzückten Blicken an und fand sie alle namen­ los schön. An Rauschfahigkeit fehlte es ihm sicher nicht, und er lebte ganz in seiner Rolle, wenn man es so nennen darf - außer bei einer kleinen Szene. Maria verfiel in einem animierten Moment darauf, an

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seinem ungeheuren goldenen Stab emporzuklettem - er schaute sie froh entgeistert an, hielt ihr den Stab hin, und der Stab brach in der Mitte durch. Schade, aber in diesem Moment versagte sein heidnisches Empfinden, und er wurde ärgerlich. Nach meinem Gefühl dürfte Dio­ nysos sich nicht ärgern, wenn Bacchantinnen oder Hermaphroditen et­ was entzweibrechen. Aber außer mir hat es wohl niemand bemerkt. Den Meister sah ich zum erstenmal aus der Nähe, als Cäsar in wei­ ßer Toga und mit einem goldenen Kranz um die Stirn - er mischte sich ungezwungen unter die Menge, und es gab ihn wirklich. Dabei behält er doch immer eine gewisse Feme, und seine Geste schien mir schön und würdig. Das Fest begann mit einem feierlichen Umzug: voran schritt eine Bacchantin, die ein ehernes Becken schlug, dann kam Dionysos mit seinem goldenen Stab, ihm folgten der Cäsar - er trug eine Art kugel­ förmigen, durchbrochenen Krug, in dem ein Licht brannte - und die in Schwarz gehüllte Matrone, daneben und dazwischen bekränzte Knaben mit Weinbechem. Wer in antikem Gewände war, folgte, die übrigen blieben zur Seite stehen. Denn viele waren auch anders kostümiert Renaissance, alte Germanen oder orientalisch. Der arme Georg, Marias Rechtspraktikant, der durch die Eckhäusler eingeladen war, hatte den Charakter des Festes entschieden nicht begriffen, er war als Pierrot ge­ kommen, und es war ihm dann sehr unbehaglich. Willy, dem er sein Leid klagte, sagte, er müsse eben versuchen, sich wie der Narr in ei­ nem Shakespearschen Drama aufzufassen. Er empfand wohl die Bos­ heit nicht, die darin lag, und fühlte sich getröstet. Der Umzug ergab tatsächlich ein ungemein wirkungsvolles Bild und durch den eigenartigen Gesang, der dabei angestimmt wurde, eine fast beklommen weihevolle Stimmung. Selbst Georg in seinem Pier­ rotanzug war ganz davon angetan und stand wie erstarrt in einer Fen­ sternische. Es waren nur ein paar Verse, die liturgisch, das heißt in dumpfnasalem Ton gesungen wurden, wobei man alle Silben gleich­ mäßig betonte und ins Unendliche ausdehnte. Sie lauteten: Wir sind gewohnt, Wo es auch thront, Hinzubeten, es lohnt. Wie unser Ruhm zum Höchsten prangt Dieses Fest anzuführen,

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Die Helden des Altertums Ermangeln des Ruhms, Wo und wie er auch prangt, Wenn sie das Goldene Vlies erlangt Wir die Kabiren-----Zwei-, dreimal wurde dieser Gesang wiederholt, während der Umzug sich durch sämtliche Räume bewegte. Adrian saß am Flügel und spielte eine Art dumpfe, getragene Begleitung. Dann löste sich alles in bewegtes Durcheinander, Tanz und die sonst üblichen festlichen Betätigungen auf. Ich sehe in der Erinnerung ein buntes Gemisch von einzelnen Bildern und Eindrücken, die ich wohl festhalten möchte, ehe sie sich verwischen. Der Professor - Dio­ nysos - in einem Kreise von Damen - er redet in Versen, wohl eine halbe Stunde lang, man bewundert ihn, und mit Recht, denn es war wirklich eine Leistung. Die Kappadozische schmachtet ein wenig und ist ganz Bewunderung - sie hatte ein eigentümliches Kostüm an mit großen Metallplatten an den Ohren (vermutlich kappadozisch). Dann sehe ich Delius, die römische Matrone, in der Hand einen Teller mit zierlichen Butterbrötchen, die er versunken in den Mund schiebt. Er ist heute ganz in seiner wahren Welt. Seine Mutter (er lebt mit seiner Mutter zusammen und soll sie sehr verehren) irrt zwischen den Gästen umher und sucht ihn: Wo ist mein Sohn - haben Sie meinen Sohn nicht gesehen? Endlich entdeckt sie ihn, aber er wendet sich ab und will sie nicht anerkennen. Ganz betroffen flüchtet sie zur Frau des Hauses, die sie lächelnd beruhigt. Ich entdecke Sendt, der alleine in heiterer philosophischer Ruhe hinter einem Glase Wein sitzt und die kleine Szene ebenfalls beobach­ tet hat. Halb betäubt lasse ich mich neben ihm nieder. »Trinken Sie, junger Mann«, sagt er, »wie bekommt Ihnen denn das Flötenblasen - es machte mir aufrichtiges Vergnügen, Sie neben dem Dionysos einherschreiten zu sehen. Solange die Maskerade Mas­ kerade bleibt...« »Ach, lieber Doktor, wenn Sie nur Philosoph bleiben. - Ich bin wirklich freudig überrascht, Sie hier zu treffen.« »Oh, warum nicht; ich amüsiere mich ausgezeichnet, und es gibt wirklich allerhand zu sehen - zum Beispiel Delius -, können Sie sich wohl denken, weshalb er seine Mutter nicht erkennen wollte?«

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Ich meinte, er wollte wohl nicht aus der Stimmung herausgerissen werden, und als römische Matrone ... Sendt lächelte. »Die Matrone gilt vielleicht nur für Outsider. - Ich habe munkeln hören, daß er den Eingeweihten die große Urmutter darstellt - obwohl diese von Rechts wegen unsichtbar ist. Deshalb trägt er wohl auch den schwarzen Schleier auf dem Haupt. Sie begreifen, daß es nun wirklich stillos wäre, sich mit seiner Mama zu unterhalten, wenn man sich selbst als Urmutter empfindet.« Ich versank in tiefes Staunen - Maria kam angestürzt und warf sich in einen Sessel: »Da sitzt ihr wieder und redet, statt zu tanzen. - Hören Sie, Sendt, der Sie alles wissen, warum ist der Dionysos so rot? - Ich dachte immer, er wäre nackt und nur mit Weinlaub.« »Zügeln Sie Ihre schlimmen Phantasien, Maria! Der indische Dio­ nysos, den Sie heute in unserem Professor verkörpert sehen, wird im langen wallenden Gewände dargestellt. Und für Sie, lieber Dame - der Kult der großen Mutter kam aus Asien, deshalb mag wohl auch der in­ dische als der Ur-Dionysos gelten.« »Wie langweilig«, sagte Maria, »jetzt gibt’s schon wieder einen Umzug, und ich wollte gerade mit Georg tanzen.« Wir sahen in der Tat, daß man sich wieder zum Zuge ordnete; von allen Seiten strömten die Bacchanten, Jünglinge und Hermaphroditen mit erhitzten Gesichtem herbei. Dionysos schwang einen laubumkränzten Stab, den seine Frau ihm statt des zerbrochenen goldenen hergerichtet hatte. Nur Delius blieb ruhig an seinem Platz stehen, Adri­ an lief an ihm vorbei und fragte, ob er sich denn nicht beteilige, aber er antwortete gemessen: »O nein, es handelt sich diesmal nur um einen Privatumzug des Cäsar.« Man fühlte, daß alle in erhöhter Stimmung waren, denn es ging lauter und lebendiger zu als am Anfang, bis der Cäsar sich in Bewe­ gung setzte und wieder der eintönige dumpfe Gesang erscholl. Wir, die Kabiren... »Was sind Kabiren?« fragte Maria leise. »Thrakische Urgötter«, sagte Sendt und schenkte sich ein neues Glas ein. Die Helden des Altertums Ermangeln des Ruhms ...

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Und nun wollte ich wieder wissen, warum. »Ich dachte gerade, sie wä­ ren enorm?« »Die Kabiren sind eben noch enormer«, erwiderte der Philosoph. »Übrigens sind die Verse aus dem Faust.« Und Maria ganz enttäuscht: »Aus dem Faust? - Ich meine, von Hofmann - sie sehen ihm so ähnlich.« »Nein, nun hört auf, Kinder!« sagte der Philosoph. »Ihr fragt mich zu Tode! Lieber wollen wir nächstens wieder ein theoretisches Souper veranstalten - Je me sauve«, und damit verläßt er uns, um einer schö­ nen Griechin die Cour zu machen. Ich tanze mit Maria, mit einer Unbekannten, dann treibe ich mich herum und suche nach Susanna, die ich noch kaum gesehen habe. Die vier Hermaphroditen, deren Kostüm bis ins kleinste Detail überein­ stimmt, sind durchaus verwirrend. Darin hat Susanna wohl recht ge­ habt. Ich denke, sie ist es, die vor mir steht, und lege sanft den Arm um sie - es ist Konstantin - er dreht sich um und schaut mich an wie ein schönes Mädchen: »Nein - dort in der Fensterbank sitzt sie«, sagt er. Die Lampen blenden, ich sehe nur ein paar schlanke schwarze Bei­ ne, ein weißes Obergewand, den roten Kranz, ich trete näher heran Schnurrbart - Zwicker - es ist Adrian. Er unterhält sich gerade mit ei­ nem Franzosen, klärt ihn über die Bedeutung des Festes auf und weist auf eine Gruppe von Knaben und Bacchantinnen hin, unter denen es stürmisch und zärtlich zugeht. Ich höre Adrian sagen: »Mais c'est une orgie — vraiment, c'est une orgie - un bacchanal!« »Oui, oui, oui - parfaitement«, erwiderte der Franzose. Hoffnungslos wand ich mich weiter durch die menschenvollen Räume, aber nun begegnete mir die wirkliche Susanna und zog mich mit: »Ein neuer Zinnsoldat«, sagt sie, »er ist sehr nett, kommen Sie nur mit.« Ja, er war wirklich recht nett - ein blonder Gutsbesitzer, der sich stilvoll in ein großes Pantherfell gewickelt hatte. - Wir etablierten uns in einer stillen Ecke, Susanna schmiegte sich an das Pantherfell und ließ mir ihre linke Hand. Sie weiß, daß ich mich dann schon etwas glücklicher fühle. So saßen wir, schwätzten, ruhten uns aus und betrachteten das fest­ liche Getriebe. Willy und Orlonsky tauchten manchmal auf, grollten etwas, weil sie nicht tanzen wollte, blieben eine Weile oder verzogen

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sich wieder. Heinz kam vorbei - dann sein Freund, der Indianer; ich er­ fuhr jetzt endlich von Susanna, daß er Petersen heißt und aus einer nordischen Heidegegend stammt - deshalb wird er auch trotz seiner dunklen Haare als blonder Germane eingeschätzt. An diesem Abend trug er ein orientalisches Kostüm und einen langen falschen Bart. Ich rief ihn an, da ich ihn doch kannte, aber er zuckte die Achseln und antwortete mit einem unverständlichen Gemurmel, was wohl bedeuten sollte, daß er nicht für mich zu sprechen sei. »Er ist ein orientalischer Priester«, erklärte Susanna, »und es gehört dazu, daß er uns nicht kennt. - Überhaupt zu seinem Stil; er gilt gerne für verschlossen und herrisch.« Es war schon spät; in der Mitte des Zimmers begann jetzt ein weibliches Wesen, anscheinend eine Mänade, die fast nur in rote Schleier gehüllt war und Homer auf dem Kopf trug, Solo zu tanzen alles schob sich zur Seite, um zuzuschauen. Delius in seinem schwar­ zen Gewände schritt um die Tanzende herum und ließ leise seinen Tri­ angel ertönen. Ich erkannte die schwarze Malerin, die ich bei Heinz ge­ sehen. »Das ist die >Murraerdhaftes Weib< modelliert - es ist nur ein Kopf, der nicht recht aus dem Stein heraus will. Er sollte eigentlich die Urzeit heißen, aber irgend et­ was stimmte nicht, und er taufte es dann die >MurraMurra< tanzte und bog sich in verzückter Gelenkigkeit vor­ wärts - rückwärts, man hatte manchmal Angst, sie könnte ohne weite­ res durchbrechen. Alle Zuschauer waren völlig hingerissen, nur der Mann im Pantherfell machte ziemlich laut eine abfällige Bemerkung, und der Indianer - nein, diesmal war er ja Priester - warf ihm einen furchtbaren Blick zu. Die kappadozische Dame sah interessiert zu uns herüber, sie hoffte wohl, es würde wieder Blut fließen. Aber nun er­ griff der Priester einen Gong und trat selbst in die Arena. Mit dröhnen­ den Schlägen und düsterer Miene schritt er auf die Tänzerin zu, um sie hemm, und feuerte sie zu immer wilderen Sprüngen an. Sie erntete un­

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geheuren Beifall, ihre roten Schleier flogen auf und nieder, ich fühlte mich schließlich wie hypnotisiert, ich sah und empfand nichts mehr als rote Schleier - rote Schleier, hörte nichts mehr als die dröhnenden Gongschläge. Vielleicht war das wirklich der dionysische Rauschzu­ stand, den dieses Fest ja herbeiführen sollte. Der Professor kam an den Tisch, und ich teilte ihm meine Empfindungen mit; er schien hocher­ freut und sah mich voller Sympathie an. Dann zog eine Bacchantin ihn fort; der Panther gürtete sein Fell und mischte sich ebenfalls in das Gewühl. Susanna hatte bisher wohlig in unser beider Armen geruht; nun, da der andere gegangen war, konzentrierte sie sich auf mich. Ich war sehr glücklich und auch wieder melancholisch, denn ich wagte endlich die Frage, zu der ich mich schon lange verurteilt fühlte: »Ach Susanna - kann ich Ihnen denn niemals mehr sein als ein Zinnsoldat?« Und sie antwortete nur: »Das ist schwer zu wissen.« Der Panther kam zurück und mit ihm der Philosoph; die beiden wa­ ren anscheinend schon bekannt und unterhielten sich eifrig miteinan­ der. Immer noch tanzte die >Murraletzte, äußerste, ungeheure Dingec (So sagt man hier.) Seit dem Hofmannschen Abend hat sich rein persönlich alles mehr zu­ sammengeschlossen, als wolle man dem Rest dieses Karnevals - der noch eine Woche dauert - durch stärkere Gemeinsamkeit eine bedeut­ same Note aufprägen. Und ich hörte sagen, der Kreis sei bestrebt, möglichst viele kosmische Elemente um sich zu sammeln - ja, im Zentrum von Wahnmoching hoffe man auf das Zustandekommen einer neuen heidnischen Blutleuchte, die natürlich für die Zauberhoffnungen sehr wesentlich ist und alles ungemein erleichtern würde. (Die letzte ist

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gewesen, als Hofmann, Delius und Hallwig sich kennenlemten und der Meister sein erstes Buch schrieb - in demselben Jahr hat Maria ihr Ba­ by bekommen, deshalb legt man auch so viel Wert auf die Erhaltung ihrer heidnischen Substanz.) So trifft sich abends alles bei den letzten Festen oder Redouten, und Wahnmochings bacchantisches Toben reißt manchmal auch die Menge mit fort. Und in den müden Tagesstunden findet man sich im Cafe oder bei Hofmanns und im Eckhaus zusam­ men. Der Professor entdeckt unermüdlich wundervolle Menschen und fabelhafte Frauen, die sich zu Mänaden eignen und, wenn er es ihnen sagt, auch sofort zu rasen beginnen. Maria beunruhigt sich um Hallwig, der all dieses Treiben meidet, aber ihre Zinnsoldaten haben gute Tage. Susanna liebt den Mann im Pantherfell - und ich selbst folge ihr nur noch als verurteilter Schatten, der erst viel Blut trinken müßte, um zum Leben zu erwachen. In dieser wilden Zeit gibt man mir ja auch manchmal Blut zu trinken und dann - schweig still, mein Herz.

13 Aschermittwoch, den 24. Februar Nur das Datum habe ich hier aufgeschrieben, und seitdem sind schon wieder mehrere Tage vergangen. Aschermittwoch - ein trübseliges Datum, aber wohl nur für den, der seine Besinnung schon wiedergefunden hat. Uns allen war sie völlig abhanden gekommen, es herrschte nur eine still glückselige Aufgelöstheit, und immer noch tönten uns Nachklänge der verbrausten Feste in die Ohren. Wir kamen die letzten drei Tage nur flüchtig und besuchsweise heim - ins Eckhaus, denn in dieser Zeit war das Eckhaus unser aller Heimat. Wir wußten längst nicht mehr, wer eigentlich zu uns gehörte und wer ein Fremder war - ob man sich als Freund gegenüberstand oder als Todfeind - und wer sich liebte, haßte oder völlig gleichgültig war. Und wenn es wirklich das Ziel dieses Stadtteils ist, daß alle Indivi­ dualität aufhört, jedes Einzelleben sich an eine Allgemeinheit verliert so konnte es wohl für erreicht gelten.

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Als ich Sendt diese Wahrnehmung mitteilte, lächelte er ein wenig und sagte: »Lassen Sie nur alle erst einmal ausschlafen, dann wollen wir weiter darüber reden.« Das war in der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch, als die letzten Lokale geschlossen wurden und es hieß, der Karneval sei nun zu Ende. Die meisten gingen denn auch nach Hause - wir nicht, wir standen im Schnee auf der Straße und wollten glücklich bleiben. Dann lud uns jemand, den wir nicht kannten, zum Frühstück ein, das Frühstück ging in ein Souper, das Souper in ein Gelage mit Tanz über, dann wurde al­ les undeutlich, immer undeutlicher. Man war nicht mehr im Kostüm, war wieder in seiner gewöhnlichen Kleidung und fand sich eines Nachmittags um den Teetisch im Eckhaus versammelt. Die verschie­ denen fremden Gesichter waren verschwunden, und der engere ver­ traute Kreis war wieder unter sich. Nur Susanna fehlte noch - aber man spricht nicht darüber. Orlonsky prüft seine Bergstiefel, jongliert mit den Tellern und tanzt einen scharrenden Niggertanz - lauter Anzei­ chen, daß er mit irgend etwas nicht einverstanden ist. 28. Februar Ein paar leere, verschlafene Tage - es ist, als wäre ganz Wahnmoching aus dem bacchantischen Taumel in einen tiefen, todähnlichen Schlaf versunken und das Leben selbst in Stillstand geraten. So bin ich viel zu Hause geblieben, nur hier und da ein wenig spa­ zierengegangen - dann wieder habe ich in meinen Papieren geblättert und versucht, an meinen Roman zu denken - wann werde ich endlich die innere Sammlung finden, um ernstlich ans Werk zu gehen? - Ein­ mal suchte ich auch den Philosophen auf, aber er war nicht da - dann ging ich am Eckhaus vorbei - sämtliche Läden geschlossen und die Glocken abgestellt, wo sind sie alle? 3. März Gestern, als ich mittags nach Hause kam, fand ich einen Zettel von Su­ sanna auf meinem Schreibtisch: »Es gibt mich wieder - kommen Sie bald - S.« Chamotte sitzt in seiner Kammer am Fenster und bläst die Hirtenflöte. Ich hab’ sie ihm geschenkt, weil er so viel Freude daran hatte.

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Auch Chamotte ist melancholisch - er macht immer meine Stim­ mungen mit. Nachmittags gehe ich hinüber und finde Susanna und Maria allein, unten in dem großen Zimmer am Ofen. Sie scheinen beide ein wenig gedrückt, draußen ist ein trübes, graues Wetter. »Wie gut, daß Sie kommen«, sagt Maria, »es ist heute so unheim­ lich - wir sind eben erst aufgestanden - und das ganze Haus ist leer wir haben keine Ahnung, wo die anderen alle sind.« Chamotte wird fortgeschickt, um Sekt zu holen, und sie ermunter­ ten sich ein wenig. »Warum sind Sie denn heute so deprimiert?« »Ich weiß nicht, es hat eigentlich gar keinen Sinn ...«, sagt Susan­ na. »Doch«, fällt Maria ihr ins Wort, »alle sind böse auf uns - ach, bitte noch ein Glas, es ist wirklich ein Trost, daß Sie gekommen sind.« »Wenn ich Ihnen nur etwas helfen könnte!« »Das können Sie nicht - er sagt, meine Seele sei am Erlöschen Hallwig natürlich - was wollen Sie dabei machen? Und nur wegen dem Karneval.« »Wie falsch«, sagt Susanna, »nie hat man so viel Seele wie im Karneval.« »Verschwendet sie aber an unwürdige Subjekte und unechte Räu­ sche«, belehrte Maria. »Ja, was nennt man denn eigentlich echt?« »Ach, ich glaube, nur was einem selber Spaß macht - und ihm liegt es nun einmal nicht, sich zu amüsieren - aber wir können es nicht las­ sen.« »Nein, das können wir nicht.« Pause. - Es klingelt. »Das wird Georg sein, ach, Susanna, schick ihn fort, ich kann ihn heute nicht sehen.« Als Susanna zurückkommt, frage ich nach dem Panther - es war eine Ideenverbindung, die sich mir unwillkürlich aufdrängte. »Du lieber Gott, das ist es ja gerade - denken Sie nur, er ist nun auch unter die Enormen gegangen, und sie haben ihn als >zugehörig< akzeptiert, das ist eine Vorstufe«, es klingt wirklich tiefer Schmerz aus ihrer Stimme, »ich hoffte ja so, er wäre belanglos. Aber sie haben ent­

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deckt, es sei irgendeine Substanz ungewöhnlich stark in ihm; wie heißt es doch, Maria?« »Wikingersubstanz - das solltest du doch eigentlich wissen ...« »Ach, wozu? Aber es gefallt ihnen - und nun geht’s natürlich auch über mich her. Und Onsky ist aus Zom über den Panther ins Gebirge Willy ist wieder böse, weil er fort ist, und haßt deshalb den Panther mit, er kann es nicht ausstehen, wenn unser häuslicher Friede wegen anderer Männer gestört wird. - Sie sehen, es geht uns wirklich schlecht.« Ja, das sah ich wohl ein. Maria warf neues Holz in den Ofen, und nun saßen wir alle drei und starrten betrübt in die Flammen. Dann klingelte es wieder, und sie fuhren nervös zusammen. Cha­ motte steckte den Kopf in die Tür und fragte, ob Herr Konstantin emp­ fangen würde. »Ja, er soll nur kommen«, sagte Maria, »der arme Junge wird wohl auch nicht in rosiger Laune sein - zwischen ihm und dem Indianer hat es einen Krach gegeben, von allen Seiten ziehen sich Unwetter zu­ sammen. Und gerade jetzt, wo man noch so müde ist.« Konstantin kam und mit ihm Willy, der Susanna die Hand küßte und sich versöhnlich zeigte. Ja, und Konstantin schien wirklich nicht bei rosiger Laune, er war ganz verstört und warf sich, ohne zu spre­ chen, auf eines der Polster nieder. »Hast du Hallwig gesprochen?« fragte Maria nach einer Weile. »Nein, nur Petersen - er kam heute in meine Wohnung und kün­ digte mir die Freundschaft.« »Warum hast du auch mit der Murra gebuhlt?« »Gott, nur so - ich mag sie ja eigentlich gar nicht, und das hab’ ich ihm auch gesagt. Aber es schien ihn nur noch mehr zu reizen. Er hat ein förmliches Protokoll aufgenommen und wird es wohl Hallwig un­ terbreiten.« »Und glaubst du, daß er deshalb ...« »Ach, ich weiß nichts«, seufzte der Sonnenknabe, »manchmal mag ich überhaupt nicht mehr. - Früher konnte ich tun, was ich wollte wenn ich log oder klatschte und ihre Mädchen in mich verliebt waren, fanden sie es nur enorm, und jetzt wird mir alles das plötzlich vorge­ worfen.«

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»Ist Eifersucht nicht eigentlich unheidnisch?« fragte Susanna nach­ denklich. »Ja, gewiß, nur bei Petersen nicht - bei ihm gehört sie zur Geste, und seine Gesten werden immer respektiert. Aber ich habe diesmal wirklich nicht daran gedacht.« »Und vor allem, daß es gerade die Murra war«, sagte Maria, »sein Modell - du hättest dich gerade so gut an der Urzeit selbst vergreifen können.« »So wird es mir wohl auch ausgelegt werden - du sollst sehen, sie werden mich jetzt für molochitisch erklären.« »Und meine Seele ist am Erlöschen«, murmelte Maria vor sich hin wie eine Lektion. »Ach, Maria«, sagt Willy sentimental, aber sie hört nicht darauf, sie sieht nur wie erstarrt in die Flammen: »Aber gerade jetzt - und ge­ rade uns beiden...« Ich vermute, daß sie dabei an die Zauberhoffnungen dachte, von denen wohl ganz Wahnmoching erfüllt ist, und die, wie man weiß, eine stren­ ge Scheidung der Substanzen erfordern. Daß es ihr ungerecht und bitter erscheint, wenn man eben jetzt den Sonnenknaben verwirft und an ih­ rem Wert zweifelt ... Es will mir ja auch nicht recht in den Kopf, daß da persönliche Konflikte eine solche Rolle spielen können. Aber ich sehe wohl nicht tief genug, um zu verstehen, warum die Zinnsoldaten ihre Seele auslöschen und warum es molochitisch war, daß Konstantin mit des Indianers Weib buhlte. Tags darauf sprach ich auch noch mit Willy darüber. Immer von neuem versuche ich, mir ein Bild von diesem Hallwig zu machen, und stets zerrinnt es wieder an Unbegreiflichkeiten. Wie ein zürnender Gott scheint er über Wahnmoching zu walten, aber immer aus der Feme, immer in Nebel gehüllt. Und ich, der Belanglose, bin vielleicht verurteilt, ihn niemals kennenzulemen - wenn nicht der Zufall oder eine innere Notwendigkeit es so fügt. Aus eigener Initiative werde ich wohl niemals den ersten Schritt wagen - gerade jetzt, wo selbst die Nächsten sich nicht trauen, seine Zauberkreise zu stören, und ganz Wahnmoching in ahnungsvol­ lem Abwarten verharrt, wer auserwählt und wer verworfen wird.

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Ich fühle heimliche Eifersucht auf den Panther, er ist so groß, blond und gewaltig - das ist wohl die Wikingersubstanz, durch die er Susannas Herz gewonnen und sich bei den Enormen die Zugehörigkeit er­ worben hat. Heut morgen war er da, sie sprachen lange zusammen in Susannas Zimmer - in der Küche saßen derweil Konstantin und Maria mit Hof­ mann, sie klagten ihm ihr Leid, und er schien sehr nachdenklich. Ich flüchtete mich zu Willy, denn ich war überall im Wege. Auch unsere Unterhaltung drehte sich um Hallwig und die Zauberei. Es ist, wo zwei oder drei Wahnmochinger beisammen sind, von nichts ande­ rem mehr die Rede. Willy gehört zu den Ungläubigen, er bezweifelt, daß etwas dabei zustande kommt, und hält die ganze Hoffnung für ziemlich illusorisch. Ja, wenn Delius sich daran beteiligte, meinte er, dann könnten vielleicht wunderbare Dinge geschehen, aber der hält nichts vom Zau­ bern. »Warum denn nicht?« »Ich weiß nicht - vielleicht findet er es überflüssig -, und ob Hall­ wig und der Professor allein damit reüssieren ...?« Ich genierte mich, schon wieder zu fragen: warum nicht? aber ich tat es doch. »Ja, das ist nicht so einfach zu erklären - Hallwig hat ja gewiß ei­ nige Anlagen zum Zaubern. Sie sehen selbst, was für eine starke Sug­ gestion er auf andere ausübt. Aber es scheitert immer wieder daran, daß er sich mit seiner Umgebung brouilliert. Er sucht möglichst viele kosmische Substanzen um sich zu sammeln - kreiert Sonnenknaben, Hetären und Priesterinnen - dann wirft er wieder alles um, wie bei ei­ nem Schachbrett die Figuren, und sagt, es sei doch nichts gewesen. Schließlich wird nur noch er selbst übrigbleiben.« »Und der Professor?« »Der macht es gerade umgekehrt und bejaht, was nur zu bejahen ist. Er wird vielleicht in einem Atem bejahen, daß Maria und Konstan­ tin doch enorm sind und daß Hallwig in allem, was er tut, recht hat. Wir alle lieben ihn ja gerade deshalb - es ist eine wirklich liebenswür­ dige Eigenschaft, aber in diesem Falle kann sie ihm verhängnisvoll werden.« »Wieso?«

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»Ach, Sie fragen so viel, und ich hab’ noch nicht einmal gefrüh­ stückt. Seit Orlonsky fort ist und die Wahnmochingerei auch unser friedliches Eckhaus verheert, ist es wirklich recht zum Verzweifeln.« Wir riefen mit vereinten Kräften nach Chamotte. »Am Ende sitzt er auch irgendwo und spricht über Hallwig«, meinte Willy, »oder er sucht sich über seine Substanz klarzuwerden.« Nein, er saß unten im Flur und spielte die Flöte. Susanna hatte ihn als Türhüter angestellt, um etwaige lästige Besuche femzuhalten. Er brachte uns dann Kaffee, und es wurde gemütlicher. »Wissen Sie, lieber Freund und Dame«, sagte Willy, »Sie sind etwas zu spät gekommen. Die große Wahnmochinger Bewegung hat sich schon überlebt - noch ehe sie eigentlich das Licht der Welt erblickt hat.« »Und ich dachte, es sollte gerade erst anfangen«, entgegnete ich trü­ be. »Ja, Sie haben, wie mancher andere, das Ende mit dem Anfang verwechselt. Wir alten Eingeborenen können uns darüber nicht täu­ schen - wir haben auch alle gefühlt, daß dieser berauschte Karneval nur ein Versuch war, wieder zusammenzufugen, was sich innerlich zu zerspalten droht. Sie haben ja selbst gesehen, daß Hallwig nicht daran teilnahm. Das ist ein schlimmes Symptom. Und auch Delius soll ge­ murrt haben, daß man dem Cäsar Ehren erwies, die nur Göttern zu­ kommen. Aber noch hofft man auf Zeichen und Wunder, und alles wird davon abhängen ...« Während der letzten Worte war Susanna ins Zimmer getreten; un­ ten fiel die Haustür dröhnend ins Schloß, der Panther schien sich ent­ fernt zu haben. »Hört auf, hört um Gottes willen auf«, sagte sie, »wir werden ja allmählich noch alle verrückt. Hofmann ist ganz aufgeregt fortgegan­ gen, Konstantin hat sich aus Verzweiflung schlafen gelegt, Chamotte bläst unentwegt die Flöte, und Maria sitzt in der Küche und weint.« »Außerdem ist es bald zwei Uhr nachmittags, und wir sitzen hier beim ersten Frühstück«, bemerkte Willy strafend, »wenn Maria in der Küche weint, werden wir wohl schwerlich zu einem Mittagessen kommen.« Ich schlage vor, wir sollten in die Stadt gehen und nachher den Philosophen besuchen.

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»Und an Orlonsky telegraphieren, daß er wiederkommt«, sagte Willy energisch, »es ist Zeit, daß wir wieder eine geordnete Existenz anfangen.« Und Susanna erklärte sich einverstanden.

14 Eine Woche später im Eckhaus Wenn Willy recht hätte - wenn ich zu spät gekommen bin - ich kom­ me ja immer zu spät oder zur unrechten Zeit, bei den Frauen, bei allem möglichen. Es ist kein besonders freundlicher Stern, der über meiner Biogra­ phie waltet, das weiß ich längst, und doch erscheint es mir unfaßlich, daß die Götter Wahnmochings Untergang beschlossen haben, nur da­ mit sich meine Biographie vollendet - nur damit ich auch dieses Mal zu spät komme, gerade da, wo mein größtes Erleben - Miterleben sich erfüllen sollte. Aber auch Willy sagt ja, daß man noch auf Zeichen und Wunder hofft. Das Zeichen und Wunder eben steht bei Hallwig - ach, ich wieder­ hole mich beständig und verwirre mich immer mehr, obwohl all mein Streben nur nach Klarheit geht. Ich bin hier geblieben, ich bleibe vielleicht noch lange hier, denn Susanna und Maria haben mich darum gebeten. So hause ich hier unten in dem großen Gastzimmer, und meine Biographie verwächst immer inniger mit der des Eckhauses. Meine Gegenwart sei ihnen so tröstlich, sagten die Mädchen. Gera­ de die matte, neutrale Note, die mir eigen ist, und daß mir trotzdem immer das Herz weh tut. Das haben sie gern, und ich selbst weiß mir wohl nichts Besseres, als um diese Frauen zu sein, die mich milde zu meinem eigentlichen Wesen verurteilen. Orlonsky ist zurückgekommen, das Interieur wiederhergestellt, nur geht das Leben etwas stiller als vorher - Besuche kommen und gehen wir selbst kommen und gehen, aber die laute Freude und sorglose Un­ ruhe scheint etwas gedämpft. Und draußen weht Frühlingswind.

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10. März Mit Maria bei Hofmann. Es war kein Jour, und wir trafen nur zwei Gä­ ste dort. Aber diese zwei sind in unserem Stadtteil eine seltene und auf­ fallende Erscheinung - eine junge Polin mit flammend rotem Haar und bleichem, fanatischem Gesicht, sie nennt sich Jadwiga, und ihr Be­ gleiter ist ein Rabbi von der deutschen Ostgrenze. Wir haben sie im Karneval kennengelemt, ich glaube, es war die Kappadozische, die sie entdeckt und in Wahnmoching lanciert hat. Wieso und warum die bei­ den in das Faschingstreiben gerieten, ist bisher unklar geblieben, denn eigentlich sind sie nur unterwegs, um für den Zionismus Propaganda zu machen. Darüber wurde auch an diesem Nachmittag viel gespro­ chen, und es war nicht uninteressant, wie Jadwiga von dem Elend der israelitischen Bevölkerung in ihrer Heimat erzählte. Sie saß auf einem Schemel zu Füßen der Hausfrau und sprach im­ mer weiter von ihrer Kindheit; was sie erzählte, waren zum Teil selt­ same, phantastische Erlebnisse, und unleugbar ging ein gewisser Charme von ihr aus, der die Zuhörer mehr oder minder gefangennahm (der Rabbi lehnte derweil finster und schweigend an der Wand). So schilderte sie einen alten, moosbewachsenen Ziehbrunnen und wie sie als Kind immer in diese runde, grüne Tiefe hineingesehen und dabei förmliche Visionen gehabt habe. Und noch vieles andere - aber bei der Geschichte vom Ziehbrunnen sprang der Professor auf, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten und fragte ganz erregt: »Wissen Sie, daß Brunnen kosmische, dionysische Erlebnisse sind?« »Ich wußte es nicht«, antwortete sie, und ihr blasses Gesicht strahlte vor Freude. Aber nun kam Delius aus dem Nebenzimmer, er hatte dort schweigend gesessen und in einem Buch geblättert - wir wußten gar nicht, daß er da war. »Gewiß«, sagte er, »gewiß, Herr Professor, aber es kommt vor al­ lem darauf an, wer sie erlebt.« Gleich darauf verabschiedete er sich, warf noch einen kalten Blick auf den Rabbi und ging. Es war keine Szene, nicht einmal ein Wortwechsel; es war gar nichts, und doch hatte man das Gefühl, es sei etwas vorgefallen, und gab sich alle Mühe, das peinliche Gefühl wieder zu verwischen. »Ach, Barmherzigkeit«, sagte Willy, als wir ihm davon erzählten, »ist der Rabbi immer noch da? Bei mir ist er auch schon einmal gewe­ sen, um mich für Zion zu gewinnen, aber es lockt mich nicht - das

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Eckhaus ist viel sympathischer. Und die Jadwiga ist mir ein Schrecken - sie sieht zum Beispiel immer einen schwarzen Hund, wenn jemand irgendwie abtrünnig wird, solche Leute sind ungemütlich.«

16. März

Ein aufregendes Erlebnis ... Ich sitze mit Susanna allein in der Küche, vor uns eine Flasche Cherry Brandy, den sie besonders liebt. Es ist sehr spät, die andern schlafen schon. Wir nehmen hier und da ein Gläschen, wir sind etwas sentimental und sprechen von unserem Leben, ich von der Frau, die ich so gerne finden möchte, sie von dem Panther, den sie gefunden hat und der ihr viel Herzeleid bereitet. - Die anderen sind immer noch unzu­ frieden und eifersüchtig, und er selbst, der Panther, hat eben seine Wi­ kingersubstanz völlig in Hallwigs Dienste gestellt. So hängt nun auch ihr Liebesglück von diesem Beherrscher aller geheimnisvollen Dinge ab. Sie kommt auch hier und da mit den Enormen zusammen, aber ihre Substanz ist noch nicht festgestellt. »Und wenn ich nun als minder­ wertig befunden werde«, sagte sie, »dann ist es vorbei, dann darf er mich nicht mehr«, und wehmütig erinnern wir uns an den Abend, wo neben seinem bunten Fell sich unsere Hände fanden. Aber man soll wohl auch kein buntes Fell an die Wand malen, denn während wir noch so sprachen, ertönte unten ein rasendes Klingeln dreimal - sechsmal - neunmal - wir hörten Chamottes Stimme an der Haustür, gleich darauf wurde aufgemacht, und Konstantin kam die Treppe herauf, in äußerst derangiertem Zustand, ohne Hut, ohne Rock und Weste, ja selbst ohne Kragen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu Atem kam und uns Aufklärung geben konnte. Er hatte nach Hause gehen wollen, und zwar wie gewöhnlich über die kosmische Wiese (so nennt man eine ausgedehnte Grasfläche an der Grenze von Wahn­ moching). Aber kaum daß er die Wiese betreten hatte, rief ihn jemand beim Namen, er erkannte den Panther und blieb stehen, da er nichts Böses ahnte. Der Panther aber sprach kein Wort weiter, sondern suchte sich seiner zu bemächtigen, und gleichzeitig glaubte er Petersen, die Murra und sogar Hallwig zu bemerken, die sich abwartend in einiger Entfernung hielten. Der arme Junge, es fehlte ihm sicher nicht an Mut, aber er sagte, es habe ihn plötzlich ein Grauen erfaßt, daß irgend etwas Entsetzliches mit ihm vorgenommen werden sollte, und so versuchte er

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statt aller Gegenwehr sich loszuwinden, wobei er ein Kleidungsstück nach dem anderen einbüßte, denn der Panther packte stets von neuem wieder zu. Schließlich gelang es aber doch, und er war so gerannt, daß der andere ihn nicht einzuholen vermochte, sondern grollend umkehrte. Wir gaben ihm Cherry Brandy zu trinken, und er erholte sich all­ mählich. Die anderen waren durch seine geräuschvolle Ankunft auf­ geweckt worden und kamen frierend in ihren Nachtgewändem herbei. Die allgemeine Aufregung war groß, und man wußte sich das Vorge­ fallene nicht recht zu erklären. Konstantin erzählte, Petersen hätte ihm bei ihrer letzten Unterredung befohlen, sich aus dem Weichbild Wahnmochings zu entfernen, aber er habe sich geweigert, und viel­ leicht wollte man ihn jetzt mit Gewalt dazu zwingen - warum aber dann die Gegenwart der anderen - der Murra? Maria war völlig konsterniert und dachte angestrengt nach, der sonst so skeptische Willy meinte mit einem leichten Schauder, es gäbe wohl auch heidnische Ritualmorde, vielleicht sollte Konstantin ange­ sichts der Murra geschlachtet werden, um sie, die sich im Karneval mit ihm vergangen, zu entsühnen - oder man brauche Blut von Sonnen­ knaben zu Zauberzwecken. Die späte Nachtstunde trug dazu bei, daß uns sehr unheimlich zu­ mut war. Es fror uns, Orlonsky machte ein großes Feuer im Herd an und stärkte uns mit Kaffee. Dann legte er einen geladenen Revolver auf den Tisch und erklärte, gegen etwaige Überfälle sei man gewapp­ net - im übrigen halte er jene Leute nur für verrückt. Mir fiel der Morgen bei Adrian ein - und daß der Professor damals sagte, auf den Verrat kosmischer Geheimnisse stehe der Tod. Die anderen wollten es nicht glauben, aber Susanna bestätigte, daß sie es ebenfalls gehört hätte. Konstantin wurde blaß: »Habe ich denn kosmische Geheimnisse verraten?« sagte er und sah Maria fragend an. Die zuckte die Achseln: »Das weiß man ja nie.«

Wir saßen um den Tisch, tranken unseren Kaffee, zwischen den Tassen lag der Revolver, und niemand dachte mehr an Schlafengehen. Als es dann wirklich noch einmal draußen läutete, griff Orlonsky nach der Waffe, aber Susanna hielt ihn zurück. Sie ging selbst ins Ne­ benzimmer und verhandelte vom Fenster aus mit dem Panther, der draußen stand und Konstantins Herausgabe verlangte.

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Er sei nicht hier - was er denn von ihm wolle. »Das ist meine Sache«, antwortete der Panther lakonisch und dro­ hend. Dann verlangte er ihr Wort darauf, daß Konstantin wirklich nicht im Hause wäre. Wir horchten gespannt und bewunderten im stillen, wie standhaft sie log und ihn auch schließlich zum Fortgehen zu bewegen wußte. »Er glaubt mir alles«, sagte sie nachher, »nur nicht, daß ich lügen kann.« Willy suchte sie zu beruhigen, daß das Ehrenwort einer Frau immer illusorisch wäre, aber Susanna saß stumm und bleich in einer Ecke und sprach keine Silbe mehr.

15 19. März Maria hat Petersen und Hallwig aufgesucht. Über den Vorgang auf der kosmischen Wiese bewahren sie hartnäckiges Schweigen. Nur hat man ihr nahegelegt, daß sie jeden ferneren Verkehr mit dem Sonnenknaben zu meiden habe, sonst würde sie demselben Schicksal verfallen, denn unter den Trägem kosmischer Substanzen, die allein an allem Kom­ menden teilnehmen würden, müsse unbedingte Solidarität herrschen. Maria ist ein Bild der inneren Zerrissenheit. »Ich pfeife auf die Substanzen«, sagt sie gequält (und das ist die furchtbarste Lästerung, die man hier aussprechen kann), »aber einen Bruch mit Hallwig überlebe ich nicht.« »Dann brich mit mir«, schlägt Konstantin wehmütig vor, und statt der Antwort fällt sie ihm um den Hals: »Ach Unsinn, wie sollten wir das wohl machen? Aber was soll jetzt aus dir werden?« »Vorläufig können wir ihn hier noch verstecken«, meint Susanna, »nur auf die Länge wird es schwerlich gehen.« Marias Zorn wendet sich jetzt gegen die Freundin; sie wirft ihr vor, daß sie nur ihren Panther behalten wollte, auch wenn er seinen Blut­ durst an ihren besten Freunden zu stillen suchte. Susanna gibt das zu, hält es aber für berechtigt, weil sie ihn liebte - Maria wollte doch auch weder von Konstantin noch von Hallwig lassen. Kurz, es ist kein Aus­

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weg zu finden, wer wen aufgeben soll und was überhaupt dadurch er­ reicht würde. Trotzdem wir alle geschwiegen haben, ist der Sturz des Sonnenknaben und der nächtliche Überfall schon in ganz Wahnmoching bekannt und hat allgemeine Beunruhigung hervorgerufen. Unwillkürlich drängt sich wohl allen die Frage auf, ob nicht noch weitere unvorhergesehene Ge­ schehnisse eintreten, weitere Opfer gefordert werden können - und ob es dann immer so glücklich abläuft wie in diesem Fall.

23. März War es Vorahnung, daß ich diese Worte hier niederschrieb, oder be­ ginnt schon unsere erregte Phantasie ihr Spiel mit uns zu treiben? Schon eine ganze Weile hat keiner von uns den Philosophen gesehen, obgleich ich ihn in seiner Wohnung und im Cafe verschiedentlich auf­ zufinden suchte. Er pflegt sich auch sonst hier und da im Eckhaus se­ hen zu lassen. Ich machte mir schon allerhand Gedanken darüber - sollte er mich meiden, weil ich zuviel frage? Aber das war kaum anzunehmen, denn seine Langmut ist groß, und er hatte uns ja aus freiem Antrieb noch ein theoretisches Souper in Aussicht gestellt. Da kam nun gestern Adrian ins Eckhaus und berichtete, der Philo­ soph sei allem Anschein nach wirklich verschwunden. Er hätte ihn vor zirka zehn Tagen - in ein langes Cape gehüllt, das er sonst niemals trägt - in der Richtung auf die Stadt zugehen sehen, und Sendt ging ganz gegen seine Gewohnheit so rasch, daß man ihn unmöglich einho­ len konnte. Aber seitdem habe ihn niemand mehr erblickt. »Wer weiß«, sagte Adrian achselzuckend, »wer weiß, ob da nicht schon magische Einwirkungen im Spiel sind; das lange Cape war gar zu auffallend, und der Philosoph ist ihnen immer etwas unbequem ge­ wesen. Wir wissen ja doch alle nicht, wann es anfangen soll. Der Pro­ fessor tut in letzter Zeit ganz besonders geheimnisvoll und will selbst die harmlosesten Fragen nicht mehr beantworten. Er ist öfters mit Hallwig zusammen - vielleicht können sie es schon ...«, er brach ab und räusperte sich bedeutungsvoll, »übrigens, Monsieur Dame - es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulemen, und ich hoffte, wir würden noch häufig zusammenkommen, aber so, wie die Sache liegt«, wieder

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machte er eine Pause und fuhr dann sehr lebhaft fort, »nein - ich habe eingesehen, daß Wahnmoching doch nicht der rechte Boden für mich ist - wahrscheinlich auch für Sie nicht und für niemanden, der noch ir­ gendwelchen Wert auf seine Individualität legt. Sie wissen doch, daß ich einen Band Gedichte herausgeben wollte - ja? Nun, eben in diesem Gedichtband behandle ich verschiedene Dinge, von denen hier in unse­ rem Vorort viel die Rede ist; jeder weiß von ihnen, alle sprechen dar­ über. Ich lese also neulich dem Professor daraus vor, zufällig ist auch jener Herr mit der Wikingersubstanz zugegen, der den armen Sonnen­ jungen - wie heißt er doch gleich?« »Ich weiß es auch nicht - Sie meinen wohl den Panther?« »Ja, richtig, eben, dieser Panther war dabei, sagte kein Wort und schien sogar Gefallen daran zu finden. Aber ein paar Tage später erfah­ re ich, daß man mich beschuldigt, schwerwiegende Geheimnisse pro­ faniert zu haben. Was sagen Sie dazu?« Ich fand es sehr bedauerlich. »Bedauerlich? - ja, das ist das rechte Wort. Glauben Sie mir nur, Monsieur Dame, es haben wohl wenige so schöne, ja verwegene Hoff­ nungen auf die Bewegung unseres Stadtteils gesetzt wie gerade ich. Mit Freuden wäre ich bereit gewesen, meine Persönlichkeit und mein Talent in ihren Dienst zu stellen, aber in meinem Schaffen, in meiner künstlerischen Individualität will ich unbehelligt bleiben und sie nicht derartigen Verdächtigungen preisgegeben sehen. Zudem fühle ich gar keine Neigung, mich ebenfalls einem Renkontre auf der kosmischen Wiese auszusetzen.« Er wollte dann noch Susanna adieu sagen, und wir ließen sie rufen. Sie war sehr betroffen und äußerte ihr Bedauern. »Ja, teure Susanna, wenn Sie es nicht besser verstehen, Ihre Raub­ tiere zu zähmen.« »Glauben Sie, daß auch Sendts Verschwinden mit ihm zusammen­ hängt?« fragte sie schuldbewußt; es bedrückte sie sichtlich, daß hier schon wieder der Panther im Spiel war. »Gott weiß, vielleicht war es nur sein abgeschiedener Geist, der, in ein Cape gehüllt, davoneilte, und seine Gebeine bleichen auf der kos­ mischen Wiese.«

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Susanna lächelte ungläubig und sagte mit einem Seufzer: »Ach, ich mag bald überhaupt nichts mehr davon hören, hoffentlich gibt es nun endlich wieder Ruhe.« »Glauben Sie nur das nicht«, erwiderte Adrian leicht mysteriös, »es sollen selbst im inneren Kreise Mißhelligkeiten herrschen. Delius ist seit dem Fest sehr verstimmt - wegen der Lampengeschichte -« »Lampengeschichte?« »Aber ich bitte Sie - Sie waren doch selbst dabei, als der erste Um­ zug beginnen sollte. Delius hatte eine kleine antike Lampe in der Hand.« »Richtig, ja, und Frau Hofmann beschwor ihn, sie wegzustellen, weil sie tropfte.« »Das war eben nur ein Vorwand, der Cäsar sollte der einzige sein, der ein Licht trug. Jedenfalls faßte Delius es so auf; ich hörte selbst, wie er leidenschaftlich ausrief: >Nein - nein, ich lasse sie mir nicht fortnehmenDenken Sie nur, die Lampe haben sie mir nehmen wollen - es scheint, daß in diesem Hause niemand außer dem Cäsar ein Licht tra­ gen darf.< Wie ich Delius kenne, wird er das nicht so bald wieder ver­ gessen - aber, Gott sei Dank, mich berührt das alles jetzt nicht weiter, ich gehe nach Berlin. Hoffentlich sehen wir uns dort bei Gelegenheit einmal wieder.« Damit verabschiedete er sich und eilte froh einer neuen Zukunft entgegen. Wir aber blieben deprimiert zurück.

28. März Wir fühlen uns ungemütlich ... Kein Philosoph mehr, kein Adrian, kein Sonnenknabe - denn auch der hat es vorgezogen, Wahnmoching vorläufig zu verlassen. Und wir haben mancherlei peinliche Situationen zu überstehen. Der Panther hat eine förmliche Haussuchung abgehalten, da er Konstantin hier vermutete. Maria gab sich keine Mühe, ihren Unwillen zu verber­ gen, und hetzte die beiden männlichen Hausbewohner gegen ihn auf, so daß es vorher, nachher und währenddem zu sehr unangenehmen Er­ örterungen kam und Susanna einen schweren Stand hatte. Am gleichen Tage besuchte uns Hofmann mit der Jadwiga, und ei­ ne halbe Stunde darauf stellte sich auch Delius ein. Dies Zusammen­

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treffen war beiden Teilen anscheinend nicht willkommen. Die Polin ist sehr gesprächig, sie erzählte wieder viel aus ihrem früheren Leben, und Delius verfolgte alles, was sie sagte, mit der Aufmerksamkeit eines Detektivs. Wenigstens kam es uns so vor, und der Professor war äu­ ßerst nervös. Willy versuchte manchmal eine scherzhafte Ablenkung und fragte unter anderem, ob sie wieder den schwarzen Hund im Traum gesehen habe. »Ja, sehr oft«, antwortete sie ernsthaft, worauf Delius sich erkun­ digte, was es denn mit dem schwarzen Hund auf sich habe. Jadwiga erklärte ihm, sein Erscheinen bedeute Abtrünnigkeit, Unheil und Ver­ wirrung - auch wenn jemand von ihren näheren Bekannten sich selbst untreu werde, pflege er sich einzustellen. »Oh, das ist ja sehr interessant«, äußerte Delius, »wissen Sie denn auch jedesmal, auf wen der Traum sich beziehen soll, Fräulein Jadwi­ ga?« Er sah sie dabei höflich, aber mit steinernem Blick an, sie wandte ihm ihr bleiches Gesicht mit den brennenden Augen zu und erwiderte langsam: »Nein, Herr Delius, das stellt sich meistens erst später her­ aus.« Hofmann sah, während diese Worte fielen, über alle Anwesenden hinweg zum Fenster hinaus, und Susanna meinte versöhnlich: »Ach, das ist doch einfach ein Aberglaube.« »Aberglaube - was ist das?« fuhr nun der Professor auf. »Ich denke, Herr Professor, im allgemeinen bedeutet es wohl einen Gegensatz zum wahren Glauben - aber manchmal hat auch der Aber­ glaube seine Berechtigung.« Hofmann entgegnete gereizt, daß ihm darüber nichts bekannt sei, und die Stimmung wurde so frostig, daß wir alle froh waren, als sie aufbrachen. Delius blieb noch etwas länger und fragte, ob wir bemerkt hätten, daß der Professor neuerdings eine gelbe Krawatte trage. Das habe er früher nie getan, »und es ist eine sehr bedenkliche Farbe«. Maria war an diesem Tage ungewöhnlich reizbar. »Was gehen mich seine Kra­ watten an«, sagte sie, »meinetwegen soll er sie Jadwigas schwarzem Hund umbinden.« Delius sah sie erstaunt an und äußerte in tiefem Emst: »Damit haben Sie wohl das Richtige getroffen - aber es bleibt

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noch abzuwarten, ob es ihm gelingen würde, den schwarzen Hund auch zu erdrosseln.« Ich habe keine Ahnung, was er damit meinte. Und der Philosoph ist nicht da.

April Ich ging im Stadtgarten spazieren und begegnete der kappadozischen Dame. Sie war allein, und ich konnte nicht umhin, mich ihr anzu­ schließen. Anfangs war es mir nicht ganz recht, denn ich wollte unge­ stört meinen Gedanken nachhängen, aber dann tat es mir ganz wohl, aus meinen Grübeleien herausgerissen zu werden, und sie war sehr ge­ sprächig, war voller Mut und Zuversicht. Warum ich mich nicht öfter bei Hofmanns sehen lasse, ob ich denn gar nicht wisse, was dort vorgehe? Die Jadwiga - ja, dieses wunderba­ re Wesen, wäre ohne Zweifel dazu bestimmt, außerordentliche Dinge zu vollbringen. Und freudestrahlend erzählte sie mir, die Zeit, der man so lange schon entgegengehe, wäre nunmehr nahe herangekommen ganz nahe; und zwar sei es Hofmann, der die Möglichkeit zu einer neuen Blutleuchte entdeckt habe - eine Möglichkeit, an die bisher niemand gedacht. »Im Karneval?« fragte ich. »Nein, im Zionismus - aber, Herr Dame«, setzte sie fast erschrokken hinzu, »ich bitte Sie, hierüber strengstes Stillschweigen zu bewah­ ren.« Des weiteren erfuhr ich, daß selbst Hallwig noch nicht darum wis­ se. Er ist zur Zeit verreist, um mit einem Kapitalisten über die Grün­ dung der Heidenkolonie zu unterhandeln, der Panther begleitet ihn. (Sollte Susanna deshalb gestern so verweint ausgesehen haben?) Erst bei seiner Rückkehr gedenke man ihn damit zu überraschen, und dann stehe nichts mehr im Wege, daß alles, selbst das Unerhörteste, sich er­ fülle. Sie dachte wohl, daß mich auch ihr persönliches Leben interessiere, denn sie vertraute mir an, auch für sich selbst erhoffe sie neue geheim­ nisvolle Kräfte und mache zu diesem Behuf eine innere Läuterung durch. Mit Magie - ja, früher habe sie sich wohl mit Magie beschäftigt,

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aber sie habe längst erkannt, daß es ein Irrweg sei, vor dem man nicht genug warnen könne. Ja, das wäre es wohl, meinte ich, da ich nichts anderes zu sagen wußte, und nun sah sie mich prüfend an: »Wissen Sie, Herr Dame, daß Sie eigentlich ein sehr interessanter Mensch sind und daß man hier viel von Ihnen spricht? Man vermutet auch allerhand Wesenseigentümlich­ keiten bei Ihnen, die wohl zu Ihrer Aufnahme in den internen Kreis fuhren können, und soweit es in meinen Kräften steht, will ich mich gerne für Sie verwenden.« Und schließlich gab sie mir noch den Rat, meinen Verkehr im Eck­ haus etwas mehr einzuschränken. Die Mädchen dort nähmen es ja doch nicht ernst mit dem Heidentum, sondern es diene ihnen nur als Vor­ wand, sich in schrankenloser Weise zu vergnügen. Maria - und sie schüttelte bedenklich den Kopf - Maria, die einem Hallwig hätte nahe sein dürfen, die sich aber trotzdem immer mit zweifelhaften Elementen umgebe und dadurch seine Kreise störe ... Ach, was sollen mir alle diese Ratschläge? Adrian empfahl mir drin­ gend, so bald wie möglich Wahnmoching zu verlassen; und nun wieder die Kappadozische mit ihrer Warnung vor dem Eckhaus. - Was man guten Rat nennt, geht wohl immer nur darauf hinaus zu lassen, was man durchaus nicht lassen kann, oder zu tun, wozu man nicht imstande ist, überhaupt den eigentlichen Sinn aus dem Leben wegzunehmen und seinen besten Inhalt zu streichen.

8. April Die Jadwiga hat Maria ganz besonders in ihr Herz geschlossen. Heute schickte sie ihr einen Blumenstrauß, und dabei stand geschrieben: Die Heimatlose einer Heimatlosen! - aber Maria wurde darüber so zornig, wie ich sie noch nie gesehen hatte: »Was geht mich ihre Heimatlosig­ keit an - und sie meine? Ich soll sie nur bei Hallwig lancieren, aber so fängt man mich nicht!« Gleich darauf wird sie wieder weich gestimmt, sieht uns der Reihe nach an: »Wie kommt sie überhaupt darauf? Bin ich etwa heimatlos? Ich habe doch euch alle und kann immer hier schlafen, wenn ich will.« »Ja, bleib bei uns, Maria«, bittet Willy. »Oh, schweig nur, du bist ein Vampir«, sagt Hallwig.

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Willy zieht sich gekränkt zurück, und die anderen überhäufen sie mit Vorwürfen. Das arme Mädchen - sie ist in einem beständigen Auf­ ruhr, und man sollte nicht hart gegen sie sein.

Die Mitteilungen der kappadozischen Dame lasten schwer auf mir; ich hätte so gerne mit ihnen davon gesprochen, aber ich habe ihr Diskre­ tion gelobt, und es widerstrebt mir, sie zu brechen. Bald genug werden sie es ja auch so erfahren.

24. April Ich war vierzehn Tage verreist, um mit meinem Stiefvater zusammen­ zutreffen. Nun gehe ich wieder durch die wohlbekannten Straßen, und mir ist zumut wie in einem schweren Traum. Die Bäume fangen an, grün zu werden, aber es kommt mir so zwecklos - beinah möchte ich sagen, taktlos - vor, daß draußen in der Natur sich alles auf ein neues Leben vorbereitet, während wir Menschen, insbesondere wir Wahnmochinger, durch sinnlose Verhängnisse darum gebracht werden. Zwischen Hallwig und dem Professor ist es zum Bruch gekommen - zu einem endgültigen und furchtbaren Bruch. Was für eine Welt ist dadurch in Trümmer gegangen, noch ehe sie erstanden war! Und wie widersinnig das klingt; aber nicht widersinniger, als es tatsächlich ist. Wer vermöchte auch jetzt noch in unserem Stadtteil Sinn und Wider­ sinn voneinander zu unterscheiden? Man weiß auch nicht mehr, was Tatsache, was Vermutung ist, denn alles ist Geheimnis, und alle spre­ chen darüber. Es heißt, Hofmann sei durch jene beiden - den Rabbi und die Jad­ wiga - so verblendet worden, daß er ungemein starke kosmische Sub­ stanzen in ihnen zu entdecken glaubte und (wie mir ja damals schon die Kappadozische sagte) im Zionismus die Möglichkeit einer großen Blutleuchte, die ja so sehr herbeigesehnt wurde. Der Rabbi hat nun, nachdem er sich eine Zeitlang in Wahnmoching aufgehalten, gemeint, das sei ebensowohl möglich, als daß Luther ein Jude wäre. War Luther ein Jude, so mußte er eben vorwiegend jahwistisch-molochitische Sub­ stanzen in sich beherbergen. (Jahwistisch ist wohl noch eine stärkere Nuance für semitisch - ich habe diesen Ausdruck zum erstenmal ge­ hört.) Und nun hat er eine Theorie aufgestellt, nach welcher die Juden

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unbedingt auch kosmische Kräfte besitzen müssen, und behauptet, daß sie zu retten wären, wenn man ihnen zur Blutleuchte verhelfe. Dazu aber sei die Konzentrierung und Ansiedlung des ganzen Volkes in Pa­ lästina, also an seinem Ausgangspunkt, notwendig. Als nun Hallwig bei seiner Rückkehr von alledem erfuhr, war er durchaus nicht einverstanden, sondern beschuldigte Hofmann, daß er durch Anwendung der kosmischen Geheimnisse die Sache der Juden und des Zionismus unterstützen wolle und somit das Heidentum Wahnmochings an den jahwistischen Moloch in eigner Person verraten und ausgeliefert habe. Ja, er könne gar nichts anderes damit beabsich­ tigen, als auf eigene Hand gewissermaßen eine Filiale des angestrebten kosmischen Reiches zu gründen - nein, keine Filiale, sondern ein di­ rektes Gegenreich - und sich zum Oberpriester desselben zu machen. Ob wenigstens hierin Hallwig nicht doch zu weit gegangen ist? Es ist wohl kaum anzunehmen, daß Hofmann das wirklich wünscht, wo er doch eine angesehene und auskömmliche Stelle an der hiesigen Uni­ versität innehat - eher noch, daß der schlaue Rabbi ihm seine eigenen ehrgeizigen Pläne untergeschoben hat. Wie dem auch sei, Tatsache, unumstößliche Tatsache ist, daß der Professor schuldig befunden wird, an jenen letzten, äußersten, unge­ heuren Dingen Verrat geübt zu haben, daß jede Brücke zwischen bei­ den Kreisen abgebrochen wurde und Hallwig erklärt hat, die Konse­ quenzen daraus würden sich schon von selber ergeben.

16 Furchtbare Worte, Briefe und Blicke sollen zwischen den beiden ge­ wechselt worden sein. Aber darüber sind natürlich keine Einzelheiten bekannt, sondern es dringen nur vage Gerüchte an die Öffentlichkeit, auch über Delius’ letzten Besuch im Hause Hofmann - kurz darauf ha­ be er in einem zeremoniellen Handschreiben jede weitere Beziehung für gelöst erklärt. Das Schreiben war in altrömischen Lettern auf Per­ gament gemalt und mit einer purpurnen Schnur umwunden, an welcher ein umfangreiches Wachssiegel hing. Überreicht wurde es durch einen Soldaten, den Delius sich in Ermangelung eines römischen Söldners aus der städtischen Kaserne geholt hatte. Es heißt auch, der Vorfall mit

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der Lampe sei noch einmal zur Sprache gekommen, die Frau Professor sei zwar bei ihrer Behauptung geblieben, daß sie nur die Ölflecken ge­ fürchtet habe, Delius aber fasse die Sache nach wie vor von kosmi­ schen Gesichtspunkten aus auf. Ich hörte denn auch sagen, abgesehen von allem anderen wäre die Art, wie dort der Meister geehrt wird, schon lange ein Punkt gewesen, über den man sich nicht einigen konnte. Hallwig und Delius wollten nur Götter und Mysterien so geehrt wissen, nicht aber einen sterblichen Dichter, selbst wenn er noch so würdig sei, bei Festen oder kultischen Handlungen voranzuschreiten - es dürfe sich dennoch keiner vermes­ sen, in Wahnmoching der Erste sein zu wollen. Und auch das soll Hofmann heimlich angestrebt haben, wenn auch nicht für sich, sondern eben für den Meister. Wer recht, wer unrecht hat, was in diesem Labyrinth von Konflik­ ten billig oder unbillig ist - wer wollte das ergründen? Man hat ja auch, wie mir der Philosoph einmal sagte, in Wahnmoching von jeher das Licht der Vernunft verschmäht und ein mystisches Dunkel vorge­ zogen. Die Beunruhigung der Gemüter ist aufs höchste gestiegen. Bleich und verstört sieht man den Professor umhergehen, verängstigt, aber immer noch mit dem fanatischen Blick die Jadwiga, finster den Rabbi und wehklagend die Kappadozierin. Hallwig selbst bleibt wie immer un­ sichtbar, aber ich begegnete verschiedentlich Delius auf dem Wege nach seiner Wohnung, die jenseits der kosmischen Wiese liegt. Er hüllte sich dicht in seinen Mantel, der immer mehr einer Toga gleicht, und ging verschlossen seiner Wege, als ob er zu einer Verschwörung eilte. Man sagt, daß die beiden jetzt eine letzte und endgültige Auslese träfen, denn das Kapital für die heidnische Kolonie stehe ihnen tat­ sächlich zur Verfügung. Delius habe eine Liste der in Betracht kom­ menden Teilnehmer aufgesetzt, aber Hallwig fast alle Namen wieder gestrichen. Denn seit der Zionismus hereingespielt hat, ist er sehr miß­ trauisch und hält fast alle für Juden - selbst Heinz, weil dieser sich ge­ gen die Behandlung des Sonnenknaben, als seines Vetters, aufgelehnt hat.

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Und auch Maria ist nun gerichtet. Man stellte sie noch einmal vor die Wahl, mit allen zu brechen, die ihre einst gepriesene heidnische Seele gefährden - seien es gewesene Sonnenknaben, Verräter mit zionisti­ schen Tendenzen oder nur friedfertige Vampire (der Vampir steht noch eine Stufe tiefer als der Molochitische, denn ihm fehlt die zersetzende Kraft, dafür nährt er sich von den enormen Substanzen anderer. So gilt zum Beispiel Willy für einen Vampir, warum weiß niemand, und er selbst spricht nicht gern darüber. Deshalb ist auch das ganze Eckhaus mit einbezogen). Wir waren alle beisammen, als das Schreiben, welches diese Be­ dingungen enthielt, abgegeben wurde; wir saßen dabei, während Maria es las und Susanna über ihre Schulter mit hineinsah, denn der Panther hatte es abgefaßt. Man hat ihm das Ressort der Katastrophen und Brü­ che übertragen. Aber Maria hatte ihren großen Moment, sie sagte: nein, das könne sie nicht. Dann hatten wir ihretwegen noch schwere Stunden zu überstehen. Sie entschloß sich am Abend, noch einmal zu Hallwig zu gehen und ihn zur Rede zu stellen. So kalt und offiziell durch einen Brief von fremder Hand wollte sie nicht mit diesem Teil ihres Lebens abschlie­ ßen. Äußerlich war sie sehr ruhig, trotzdem fühlte man, daß eine fürchtbare Spannung in ihr war, und Chamotte erzählte uns später, sie habe vor dem Fortgehen einen von Orlonskys spanischen Dolchen von der Wand genommen und zu sich gesteckt. Gegen Mitternacht kam sie zurück, warf den Dolch auf den Tisch und sagte: »Nein - es ist nichts daraus geworden, es war die ganze Zeit jemand im Nebenzimmer. Und überhaupt - man stellt sich das doch anders vor.« Mehr erfuhren wir nicht über diese letzte Unterredung. Daß wir das alles so selbstverständlich und ohne besondere Verwendung hinnah­ men - bei den unheimlichen Gerüchten, die seit der Affäre Konstantin und seit den letzten Ereignissen umgehen, haben selbst die nüchtern­ sten Köpfe sich gewöhnt, nichts mehr für unmöglich oder untunlich zu halten. So kam dieser Tage Hofmann zu mir, wir machten einen längeren Spaziergang, und er sprach auch über dieses Thema. Ich wunderte

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mich erst darüber, aber er sagte, man halte mich für durchaus vertrau­ enswürdig - er selbst habe von Anfang an dieses Gefühl gehabt. Und seine Mitteilungen - nun, er vermutet, und mit ihm seine nächsten Freunde, daß von Hallwigs Seite Entsetzliches gegen ihn ge­ plant war: man werde ihn vielleicht auf mysteriöse Weise verschwin­ den lassen, seinen Geist verwirren oder ihn ums Leben bringen. »Aber lieber Professor, das ist doch nicht so einfach«, wandte ich ein. Er sah mich von der Seite an: »Einfacher vielleicht, als Sie glau­ ben, Herr Dame - wissen Sie, daß jener Petersen kürzlich geäußert ha­ ben soll, er wisse siebenundzwanzig Arten, wie man einen Menschen unbemerkt aus der Welt schaffen könne? Und denken Sie nur an den Fall Konstantin: sicher wurde auch dabei ähnliches beabsichtigt. Es gibt heidnische Ritualmorde, die vor allem an Verrätern vollzogen werden - und man hält mich ja dort für einen Verräter - mich«, lachte er bitter auf, »mich, der für unsere Sache freudig sein rötestes Herzblut hingegeben hätte!« »Davon sind wir alle überzeugt«, sagte ich tröstend. »Wer - wir?« »Nun, ich, die Mädchen im Eckhaus und ...« Hofmann sah mich warm an: »Ich danke Ihnen - es sind wunder­ volle Frauen, die beiden.« Dann zeigte er mir seinen Spazierstock - einen schönen Stock mit silbernem Griff und eingelegten Topasen. »Sehen Sie, lieber Dame, ich kann Ihnen nicht sagen warum, aber ein erfahrener Freund hat mir dringend angeraten, mich dieses Stockes zu entledigen - es spielt da eine symbolische Bedeutung mit. Ich habe ihn eigens deshalb heute mitgenommen, raten Sie mir nun, wie ich ihn beseitigen soll, aber so, daß er nicht wieder aufgefunden wird.« Wir gingen gerade hinter dem Stadtgarten an einem schmalen Flüßchen entlang, und ich schlug vor, ihn ins Wasser zu werfen. Das leuchtete ihm auch ein, wir blieben stehen, Hofmann schwang den Stock ein paarmal um sich selbst, schleuderte ihn dann aber, wie uns beiden schien, zu weit, denn wir sahen ihn nicht fallen und mußten an­ nehmen, daß er jenseits des schmalen Flusses in einem der drüben ge­ legenen Privatgärten gelandet sei. Bestürzt sahen wir uns an: »Das ist ein böses Omen«, stammelte Hofmann; er war einen Moment ganz außer Fassung.

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Ich erbot mich, in der Villa drüben anzufragen, aber er sagte, nein, auf keinen Fall, er wolle ihn nicht noch einmal in Händen haben. Noch schlimmer sei es allerdings, wenn er in den Besitz von jemandem ge­ lange, der ihm übelwolle. Dieser Gedanke schien ihm sehr viel Sorge zu machen. In beklommener Stimmung traten wir den Heimweg an, und ein diesmal wirklich rätselhafter Zufall wollte es, daß wir dicht bei Hof­ manns Wohnung Petersen begegneten. Er ging auf der anderen Seite der Straße, warf einen scharfen Blick herüber und ging ohne zu grüßen weiter. Hofmann hatte ihn glücklicherweise nicht gesehen, aber ich kann nicht leugnen, daß ich mir meine Gedanken darüber machte, und diese Gedanken waren düsterer Natur. Es liegt nicht in meiner Art, irgend etwas leicht zu nehmen, aber jetzt habe ich manchmal ein Gefühl, als ob alle diese Dinge doch noch viel ernster und furchtbarer seien, als ich bisher ahnte. Ich bin auch nicht feige, aber Petersens Blick ging mir durch Mark und Bein. Er wird jetzt wohl denken, daß ich ganz auf Hofmanns Seite stehe. Und wenn ich es täte, wenn ich ihm wie an diesem Morgen mit Rat und Tat beistehe - wird man dann nicht auch mich mit in sein Schicksal ver­ wickeln? Und noch andere bange Fragen bestürmen mich - ich habe viel persönliche Sympathie für ihn. Ob er wirklich Verrat geübt hat, weiß ich nicht zu beurteilen, und dennoch möchte ich nicht zu denen gehö­ ren, die in dieser vielleicht noch für spätere Jahrhunderte bedeutsamen Angelegenheit eine zweifelhafte Rolle spielen. Selbst wenn meine eigenen Hoffnungen bei diesen letzten Kata­ strophen wohl mit untergegangen sind ... Ja - das Kapital für die Heidenkolonie soll jetzt da sein. Aber wo sind die Heiden? Allgemein wird die Vermutung laut, daß zuletzt nur Hallwig und Delius übrigbleiben und den Rest ihres Lebens an einsa­ men Altären vertrauern werden. Im Mai... Mein Roman - ich fürchte, er wird nie geschrieben werden. Es be­ dürfte wohl einer geübteren Hand als der meinen, um aus dem, was ich hier erlebte und erleben sah, eine nur halbwegs zusammenhängende Handlung zu gestalten. Und selbst, wenn ich es könnte - es kommt mir

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vor, als ob der Leser sich um den Höhepunkt der Handlung, den er doch dazu mit gutem Recht erwartet, betrogen fühlen würde. Denn ebendieser Höhepunkt ist nie gekommen - es war alles schon vorher zu Ende. Der Höhepunkt würde fehlen, und die letzten Kapitel würden ihn schmerzlich anmuten. Ich weiß ja selbst noch nicht, wie ich sie über­ stehen soll.

Alle gehen fort - auch die Eckhausbewohner gedenken, Wahnmoching auf unbestimmte Zeit zu verlassen. Sie luden mich aufs herzlichste ein, mitzukommen, aber ich fühle nicht mehr die Kraft dazu. Ich weiß jetzt auch, daß Susanna mich niemals lieben wird - ihr Herz wird immer irgendeinem anderen gehören. Jetzt blutet es noch um den Panther, der sie schnöde verlassen hat; aber als ich seiner neu­ lich Erwähnung tat, fand sie ihr altes frohes Lächeln wieder, das ich so sehr an ihr liebte, und sagte zuversichtlich: »Oh, der kommt schon wieder.« Sendt ist wieder da, unversehrt, wohlbehalten, und mit dem heite­ ren Lächeln des Weisen stand er plötzlich vor uns. Wir saßen gerade im Garten des Eckhauses um die Maibowle, die Orlonsky mit kundiger Hand bereitet. Wir feiern alle Tage Abschied, denn keiner weiß, wann er wirklich abreisen wird, und jeder Tag kann der letzte sein. Orlonsky stellte wie jeden Abend die Bedingung, daß von den Wahnmochinger Ereignissen nicht mehr geredet würde, aber kaum hatten wir die ersten Gläser getrunken, so sprachen wir von nichts an­ derem. Maria sah leidend aus, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. »Und doch«, sagte sie, »und doch - ich werde mich niemals damit abfinden, daß alles das vorbei ist.« Susanna faßte schwesterlich ihre Hand: »Wenn wir wieder hier sind, wohnst du ganz bei uns.« »Ja - und dann?« »Oh - einfach vergessen«, sagt Susanna, »man hat uns übel mitge­ spielt, und es wird besser sein, wir halten uns in Zukunft nur noch an Zinnsoldaten.«

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In diesem Moment wurde die Glocke gezogen. Wir fuhren in die Höhe - sollte der Panther - sollte unser letzter Abend - sollte ... Aber es war der Philosoph, und er begriff nicht gleich, weshalb man ihn umringte, begrüßte und mit Fragen überhäufte wie einen Tot­ geglaubten. Es stellte sich dann heraus, daß er nur eine Frühlingsreise gemacht und nicht mehr die Zeit gefunden hatte, sich zu verabschie­ den. 10. Mai... Ich habe mich entschlossen, eine weite Auslandsfahrt anzutreten. Was sollte mich hier jetzt noch zurückhalten? Im Gegenteil - manchmal be­ schleicht mich eine Ahnung, als ob auch meiner irgendein grauenvolles Schicksal harrt, wenn ich bleibe. Ich war noch oft mit Hofmann zu­ sammen, und wenn ich an den Blick denke, den Petersen mir damals zuwarf... Es heißt wohl, daß niemand seinem Geschick zu entrinnen vermag, aber man kann es doch wenigstens versuchen. Chamotte schicke ich in seine Heimat zurück - ich will ganz allein sein und nichts aus der Vergangenheit mit hinübemehmen. Er weinte bittere Tränen, als ich ihm das mitteilte. »Sei ein Mann, Chamotte, und denke an deine Zukunft«, sagte ich, und mir war elend zumut. Könnte ich auch mir dasselbe zurufen, oder täte es ein anderer - aber in beiden Fällen wäre es ja doch nur grotesk und überflüssig. Und meine Zukunft? - Ich habe keine Zukunft, ich habe nur eine Biographie, und verurteilt, wie ich kam, gehe ich von dannen; wozu? - das wissen nur die Götter. In wenigen Tagen ist alles bereit. Susanna und ihre beiden Gefährten sind schon fort. Auch Maria wird nicht lange mehr bleiben. Sie hat in den letzten Tagen ein Faible für mich gefaßt, aber wir wissen beide, daß es jetzt zu spät ist. Manchmal kommt sie zu mir herauf, dann sitzt sie auf einer von den halbvollen Bücherkisten und erzählt von alledem, was sie nicht vergessen kann. Und wir sprechen von den vielen frohen und unfrohen Stunden, die uns gemeinsam beschieden waren. Heute abend denke ich abzufahren. Und gestern ...

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Sendt kam noch, um mir Lebewohl zu sagen. Er war sehr in Eile und wollte sich nicht erst niederlassen. Wir schüttelten uns herzlich die Hand, und er wünschte mir alles Gute. An der Tür wandte er sich noch einmal um und sagte: »Übrigens, wissen Sie, was ich eben im Cafe hörte - man hat Hofmann heute vormittag ins Krankenhaus gebracht, er soll auf der Treppe ausgeglitten sein und sich mit einem scharfen spanischen Dolch, den er in der Tasche trug, ziemlich schwer verletzt haben. - Aber, liebe Maria, deshalb brauchen Sie doch nicht so zu er­ schrecken, es ist, soviel ich weiß, nicht lebensgefährlich.« Maria hatte sich von ihrer Bücherkiste erhoben und sah ihn ganz entsetzt an. »Der Dolch«, sagte sie dann mit stockender Stimme, »den Dolch hab’ ich ihm doch zum Abschied geschenkt - es war derselbe, den ich damals mitnahm, um Hallwig ...« Ich verstand wohl, was sie meinte, und Sendt schien es auch zu ah­ nen, denn er zog die Augenbrauen in die Höhe und sah nachdenklich drein. Ein leises Grauen faßte mich, und unwillkürlich sprach ich aus, was mir - und vielleicht auch den anderen - in diesem Augenblick durch den Sinn fuhr: »Um Gottes willen - sollte Hallwig am Ende doch schon der Zauberei mächtig sein ...« »Mirobuk!« sagte der Philosoph und lächelte eigentümlich. Und ehe wir uns noch recht besonnen hatten, war er gegangen.

Der Geldkomplex Roman

Meinen Gläubigem zugeeignet

Cover der Erstausgabe von 1916

1 Meine liebe Maria! Aus einem eindringlichen Brief von B..., der mir durch das Kon­ sulat nachgeschickt wurde, sehe ich, daß man sich um meinen Verbleib beunruhigt. Es nahm sich vielleicht nicht gerade freundschaftlich aus, daß ich so spurlos verschollen bin und auf nichts mehr antwortete (hab noch nachträglich vielen Dank für Deine verschiedenen Briefe) - aber glau­ be mir, es geschah zum Teil aus zarter Rücksicht. Erwarte nur ja nicht, daß die hiermit wieder eröffnete Korrespondenz von allzu erfreulichen Tatsachen handeln wird. B... meint, und Ihr anderen am Ende auch, ich hätte längst die be­ rühmte Erbschaft angetreten und damit das Weite gesucht. Nein, das stimmt nicht, der alte Herr ist ja noch nicht einmal tot. Aber jedenfalls kann es nicht lange mehr dauern, und das ist einer von den Gründen, weshalb ich hier bin - bitte, erschrick nicht - in einer Nervenheilan­ stalt, oder sagen wir lieber Sanatorium, das klingt immerhin noch et­ was milder. Sanatorium - ich seh’ Dich und mit Dir alle die anderen verständ­ nislos den Kopf schütteln. Ich bin auch nicht nervenkrank, nicht einmal besonders nervös, ich habe nur einen »Geldkomplex«. Ich hoffe zu Gott, Du weißt, was ein Komplex in diesem, nämlich im pathologischen, Sinne bedeutet? Etwa so: verdrängte, nicht ausge­ lebte Gefühle, Triebe und dergleichen, die sich, ich glaube, im Unter­ bewußtsein zusammenballen und einem seelische Beschwerden verur­ sachen. Es handelt sich da um irgendeine neue Nervenheilmethode, die man Psychoanalyse nennt. Erfunden hat sie der bekannte Professor Freud in Wien - dies nur, damit Du verstehst, weshalb ihre Anhänger >Freudianer< heißen. Man möchte sonst glauben, es bedeutet irgend et­ was besonders Lustiges oder gar Zweifelhaftes. Aber es gibt eine Menge Leute, die Dir das besser auseinanderset­ zen können als ich, und ich rate Dir, Dich lieber an diese zu wenden. Ich selbst hatte auch bisher von diesen Geschichten keine Ahnung und

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würde mich absolut nicht dafür interessieren - wenn nicht ein >Freudianer< meinen Geldkomplex entdeckt hätte. Es gibt gewiß nichts Faderes, als seine eigene Leidensgeschichte zu erzählen, und ich erzähle im ganzen lieber Freudengeschichten. Die Nervenheilanstalt hat aber sicher in Euren Augen etwas so Blamables, daß ich mich doch rechtfertigen und Dir den trüben Hergang näher er­ zählen möchte. Du mußt halt Nachsicht haben, wenn ich dabei etwas weitschweifig und manchmal konfus werde. Liebe Maria, wir haben uns letztes Jahr wenig gesehen, da Du meist fort warst, aber Du weißt, daß mein Dasein schon vorher nur noch eine einzige wirtschaftliche Krisis war. Wie oft habt Ihr in Eurer Verblendung meinen Optimismus und meine Todesverachtung bewun­ dert - mit Unrecht, denn gerade das ist mein Verderben gewesen. Ich habe die Sache mit dem Geld niemals emst genug genommen, ließ es so hingehen und dachte, es würde schon einmal anders werden. Kurz, um mich im Freudianeijargon auszudrücken - ich habe es entschieden ins Unterbewußtsein verdrängt, und das hat es sich nicht gefallen las­ sen. Bitte, haltet mich nicht für ernstlich gestört, aber ich bin tatsäch­ lich dahin gekommen, es - das Geld - als ein persönliches Wesen auf­ zufassen, zu dem man eine ausgesprochene und in meinem Falle qual­ volle Beziehung hat. Mit Ehrfurcht und Entgegenkommen könnte man es vielleicht gewinnen, mit Haß und Verachtung unschädlich machen, aber durch liebevolle Indolenz verdirbt man’s sich vollständig mit ihm. Und das muß ich getan haben, ich ließ es kommen und gehen, wie es gerade kam und ging - ach, der verfluchte Optimismus, den Ihr so nett gefunden habt. Als ich dann merkte, daß es anfrng, sich immer feindli­ cher gegen mich zu stellen, habe ich es gelockt, bin ihm nachgelaufen; aber es war schon zu spät - es wollte nicht mehr. Also - die wirtschaftliche Krisis erreichte einen nie geahnten Hö­ hepunkt. Du hast ja oft genug bei mir gewohnt, Maria, und kennst das aus eigener Anschauung - die Wohnung ist gekündigt, jedes men­ schenwürdige Einrichtungsstück gepfändet oder schon auf Nimmer­ wiedersehen abgeholt - es klingelt beständig, aber man macht nicht mehr auf - jedes Poststück, das ins Haus kommt, beginnt >Im Namen des Königs ...< usw. Trotzdem tauchen immer neue Leute auf, die Geld wollen, Geld, Geld und noch einmal Geld. Die ganze Atmosphäre be­ kommt etwas Überhitztes, Widernatürliches, schwirrt von abnormen

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Anforderungen. Es ist einfach nichts da, und doch hört, sieht, liest und erfahrt man nichts anderes mehr, als daß jeder >sein Geld< haben will. Du hast dann manchmal behauptet, es ginge bei mir wie in den Le­ sebuchgeschichten, wo fromme Leute eine Kirche oder dergleichen nützliche Dinge bauen wollen, ohne jegliches Kapital, aber mit uner­ schütterlichem Gottvertrauen. Schon wollen sie verzweifeln, richten aber gläubig den Blick gen Himmel - sieh, da klingelt es, und ein anonymer Wohltäter schickt eine unwahrscheinliche Summe. Das war einmal - das war manches Mal - aber eben bei jener letz­ ten Krisis war keine Rede davon. Die Wohltäter waren ausgestorben, verschwunden, verreist, erzürnt oder nicht mehr zu haben. Ich hatte auch das blinde Gottvertrauen nicht mehr und fühlte, daß die Kluft, die sich zwischen ihm - dem Geld - und mir aufgetan hatte, nicht mehr zu überbrücken war. Es begann sich an mir zu rächen, und das Infame an dieser Rache war, daß es mich nicht nur mied, sondern eben durch sei­ ne völlige Abwesenheit alle meine Gedanken und Gefühle ausschließ­ lich erfüllte, mich vollständig in Anspruch nahm und sich nicht mehr ins Unterbewußtsein verdrängen ließ. Es gibt Momente, wo Leute anfangen zu beten. Und es gab einen Moment, wo ich anfing zu rechnen, blind und inbrünstig zu rechnen. Ich rechnete beim Aufwachen und beim Einschlafen, rechnete, wo ich ging und stand, rechnete all die Summen, die ich brauchte, in meinem früheren Leben gebraucht hätte und späterhin brauchen würde, zu­ sammen und wieder auseinander, kalkulierte alle vorhandenen und nicht vorhandenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in der Gegen­ wart, Zukunft und Vergangenheit. Mein ganzes Leben zog wieder an mir vorüber bis in die kleinste pekuniäre Einzelheit, ich sah ein, daß ich niemals genug Geld gehabt hatte und voraussichtlich nie genug haben würde - alle verdrängten Begehrlichkeiten, alle gescheiterten Luxusträume wachten wieder auf, alles, was ich jemals hätte tun oder kaufen mögen und nicht getan oder gekauft hatte, gaukelte mahnend vor meinem inneren Auge, und so ging es fort bis ins Endlose ... Daß man in dieser Verfassung nicht sehr umgänglich ist, kannst Du Dir denken. Ich fühlte denn auch, daß die Bekannten kein besonderes Vergnügen mehr an meinem Verkehr hatten. Sie fanden mich langwei­ lig, präokkupiert und zitterten vor Geldansinnen. Darin hatten sie auch

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vollkommen recht, denn war ich mit Menschen zusammen, so tat ich im stillen nichts anderes, als sie taxieren und geeignete Momente ab­ warten, um sie zu einer Anleihe, einer Schiebung oder Unterschrift zu verlocken ... Ich möchte nicht gar zu ausführlich werden, um Deinet- wie um meiner selbst willen. Denn wenn ich näher darauf eingehe, bekomme ich heute noch Rechenanfälle. Es kam dann schließlich ein Tag - so etwa Anfang oder Mitte Mai -, wo ich morgens vor die Stadt hinaus ging, um auf andere Ge­ danken zu kommen. Aber es nützte gar nichts - gleich auf dem Wege begegnete mir ein Hotelwagen, ich las stumpfsinnig die Aufschrift: >Zu den vier JahreszeitenFreudianerAusgesogenen und Betrogenem hallen nur manchmal noch auf Umwegen zu mir herüber. Einige haben ihre Forderungen dem Verein >Kreditreform< übergeben, und dieser schlug mir vor, mich güt­ lich mit ihnen zu einigen, sonst käme mein Name auf eine schwarze Liste, die an achtzigtausend Kaufleute versandt würde. Es war das ein­ zige Schreiben dieser Art, das mich wirklich sympathisch berührte, und ich möchte jenen menschenfreundlichen Verein dafür segnen. Es ist wohltuend zu denken, wie Schulden sich einfach dadurch erledigen, daß man auf eine Liste kommt und daß man mit jenen achtzigtausend Kaufleuten gar nichts zu tun hat, sie zum mindesten nicht auch noch Geld von mir beanspruchen. Kurz nach Empfang dieses Schreibens hatte ich einen Traum: ich war in einer Wüste, und die achtzigtausend Kaufleute kamen als Karawane auf mich zu, umringten mich, boten mir mit mildem Lächeln alles mögliche an und wollten mir ein Kamel zum Reiten geben. Bis dahin war der Traum sehr schön, aber dann be­ merkte ich plötzlich, daß das Kamel ein Menschengesicht hatte, und zwar sah es aus wie mein letzter Hausherr in M... Darüber erschrak ich so, daß ich ganz verstört aufwachte. Du mußt wissen, daß die Freudianer sich im Interesse der Patienten auch mit Traumdeutung befassen. Dies war jedenfalls ein richtiger

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Komplextraum, und ich habe ihn mir deshalb notiert, um für Baumann Material zu sammeln. Womit soll ich ihn sonst beschäftigen? Vorläufig behandelt mich der Professor nach der hier üblichen Methode mit Tageseinteilung, Ruhestunden, Bädern, Wickeln und der­ gleichen mittelalterlichen Foltern. Es ist zum Gottserbarmen, und ich möchte wissen, ob die Leute ihre Seelenschocks oder Depressionen wirklich dadurch loswerden. Auf mich wirkt es gerade umgekehrt, ich fange jetzt erst an, nervös zu werden.

3 Aus lauter Verzweiflung habe ich angefangen, Bekanntschaften zu ma­ chen. Man erzählt sich seine Leiden, räsoniert über die Behandlung, vergleicht die jedem zugemessene Anzahl von Bädern und Packungen, kurz, man fachsimpelt auf Tod und Leben. Ich komme mir zwar immer noch sehr dilettantisch vor. Angstzustände, nervöse Herzgeschichten, Idiosynkrasien, Neurosen und Psychosen, die in diesem Milieu zum guten Ton gehören, sind mir bisher böhmische Dörfer gewesen, aber ich lerne doch allmählich, mich sachverständig darüber zu unterhalten. Wir haben da einen achtzehnjährigen Pastorensohn, der sich zum Atheismus durchgekämpft und darüber eine Psychose bekommen hat. Nun gibt es einen entlegenen Teil des Gartens mit einem kleinen Holz­ pavillon, und in dem Pavillon steht - ich weiß nicht, warum - eine Spieluhr. Ebendort geht der jugendliche Atheist ganze Nachmittage im glühendsten Sonnenschein tiefsinnig und barhäuptig auf und ab. Je­ desmal, wenn er zum Pavillon zurückkommt, zieht er die Spieluhr wieder auf. Ich habe ihm ein paarmal schweigend zugesehen und ihm dann klarzumachen versucht, daß diese Betätigung unmöglich heilsam auf seine Nerven wirken könne. Er sollte lieber mit mir ins Dorf hin­ untergehen und ein Glas Wein trinken - hier oben sind geistige Ge­ tränke verpönt. Wir gingen also Wein trinken, unterhielten uns über Religion, verständnislose Eltern, Vorrechte der Jugend und andere ein­ schlägige Fragen, und es wurde ihm entschieden etwas besser. Darüber versäumten wir irgendwelche abendlichen Duschen, und der Professor bemerkte am nächsten Morgen etwas ironisch, meine Menschenscheu scheine sich ja auffallend zu bessern. Trotzdem setzen wir unsere Spa­

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ziergänge fort, und ich sehe, daß es dem Jungen gut anschlägt. Dann ist da ein blonder Landwirt, der behauptet, er sei schon von Jugend auf Melancholiker - in lichten Momenten schwärmt er von einer Reise um die Welt, die ihn vielleicht auf frohere Gedanken bringen könne, unter anderem möchte er gerne die kalifornische Schweinezucht aus eigener Anschauung kennenlemen. Ferner eine dicke Baumeisterswitwe, die nervenkrank geworden ist, weil ihr Mann Bankerott gemacht und sich dann erschossen hat. Sie hat uns die Geschichte gewiß schon fünf-, sechsmal mit allen Details vorgetragen, und man hat aufrichtiges Mit­ gefühl. Mehr als alles andere, mehr als Tod und Bankerott ist es ihr nachgegangen, daß in einer Zeitung gesagt wurde, ihr Mann sei ein unverbesserlicher Baulöwe< gewesen und habe sich damit zugrunde gerichtet. Über diese Beschimpfung kann sie absolut nicht wegkom­ men. Ja und so weiter. Du siehst, es ist keine besonders lustige Umge­ bung - aber wenn man so dazwischen sitzt, gibt sie einem doch aller­ hand zu denken. Nach meinem Gefühl wären fast alle Psychosen in erster Linie mit Geld zu heilen. Hätte der rebellische Pfarrerssohn Geld, so brauchte er weder zu seiner Familie zurück noch eine neue Weltanschauung, son­ dern würde sich nach Herzenslust amüsieren und, da schon ein Glas Wein und ein bißchen Geschwätz ihn aufleben läßt, bald geheilt sein. Der Landmann könnte um die Welt reisen und über den Wundem der kalifornischen Schweinezucht seinen Trübsinn vergessen. Auch die Witwe möchte sich sicher über den unverbesserlichen Baulöwen trö­ sten, wenn er ihr ein anständiges Vermögen hinterlassen hätte. Aber das sieht wohl kein Nervenarzt ein, und es nützt ja auch nichts, wenn er es einsähe. Man kann nicht von ihm verlangen, daß er seine Patienten auch noch finanziert. Mein Tischnachbar, der Privatdozent Lukas, ist Gott sei Dank nur überarbeitet. Ich unterhalte mich gern mit ihm, nur ist er mir zu sehr Reformmann und hat extravagante Ideen über die Erwerbsfähigkeit der Frau - er ist Nationalökonom. Gegenüber sitzt eine Medizinstudentin, die ihm natürlich sekundiert, ihr Steckenpferd ist das weibliche Gehirn, das trotz irgendwelcher Unterschiede ebenso brauchbar sein soll wie das männliche. Über dieses Gehirn wären wir neulich beinah hart an­ einandergekommen. Das verblendete Mädchen trat aufs lebhafteste da­

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für ein, daß möglichst viele Frauen sich den wissenschaftlichen Beru­ fen zuwenden sollten und dabei bessere Chancen hätten als in anderen. Dr. Lukas hielt das Erwerbsleben für noch geeigneter, und ich meinte aus tiefster Überzeugung, daß wir überhaupt zu keiner ernstlichen Tä­ tigkeit taugten, nicht einmal zum Schneidern und Kochen, denn jeder Schneider oder Koch macht es immer noch besser. Und die sogenannte geistige Arbeit ist vollends ruinös und schrecklich. (Ich war den Tag gerade schlechter Laune, und es tat mir wohl, meinen Empfindungen freien Lauf zu lassen, um so mehr, wenn ich jemanden damit ärgern konnte.) Die Medizinerin setzte ihren Zwicker auf und sah mich fast erschrocken an: »Aber Sie sind doch selbst Schriftstellerin ...« Ach Barmherzigkeit, wie kommt sie zu dieser Kenntnis? Du weißt ja, Maria, ich kann das nun einmal nicht vertragen und habe gegen das bloße Wort eine förmliche Idiosynkrasie. So fuhr ich denn auch dies­ mal auf wie von sechs Taranteln gestochen und sagte: Nein, ich sei gar nichts. Aber ich müsse hier und da Geld verdienen, und dann schriebe ich eben, weil ich nichts anderes gelernt hätte. Gerade wie die Ar­ beitslosen im Winter Schnee schaufeln - sie sollte nur einen davon fra­ gen, ob er sich mit dieser Tätigkeit identifizieren und sein Leben lang mit »Ah, Sie sind Schneeschaufler« angeödet werden möchte. Das verstand sie nicht und sagte etwas von der Befriedigung, die alles geistige Schaffen gewähre. »Nein, die kenne ich nicht, aber ich habe manchmal davon gehört«, wagte ich hier zu bemerken, »was mich selbst in solchen Fällen auf­ rechterhält, ist ausschließlich der Gedanke an das Honorar.« Daraufhin ließ sie mich, nicht aber das weibliche Gehirn fallen und behauptete, immerhin müsse doch auch meines so organisiert sein, daß ich etwas damit leisten könne. »Aber ganz im Gegenteil, es leidet un­ endlich darunter. Es gibt doch so etwas wie Gehirnwindungen, und ich fühle tatsächlich bei jeder geistigen Anstrengung, wie mein Gehirn sich darunter windet. Nein - ich glaube unbedingt an den Schwachsinn des Weibes, und zwar aus eigener schmerzlicher Erfahrung. Seien wir nur ehrlich, liebes Fräulein Doktor«, fügte ich versöhnlich hinzu, »wenn unsere Gehirne wirklich so viel taugten, wären wir doch alle beide nicht hier.« Das aber nahm sie sehr übel und beteuerte, ihr Nervenleiden beruhe nur auf erblicher Belastung.

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4 Du - ich fange an, wieder an Wunder zu glauben. Lach nur nicht, man findet ja im Lauf der Zeit manchen alten Glauben wieder, zum Beispiel den an ein zweites Leben, in dem man entweder Geld haben oder kei­ nes mehr brauchen wird. Ja, ich könnte mich sogar mit dem Tod aus­ söhnen, der mir früher so unsympathisch war - denn, selbst wenn nichts anderes mehr käme, so wird’s doch wenigstens keine Gläubiger und keine Rechnungen mehr geben. Wie gut, daß man nicht fromm ist, sonst würde ich mir vorstellen, die ewige Verdammnis bestände darin, daß sie einem auch dorthin nachfolgen. Also, Eure Gebete sind sichtlich erhört worden, laß Dir nur erzäh­ len. Vorgestern ging ich wieder einmal mit dem Atheisten und der Baulöwenwitwe, die sich uns manchmal anschließt, ins Dorf hinunter. Wir haben aus lauter Verzweiflung angefangen, dort nachmittags Ke­ gel zu schieben. Alle drei fühlten wir uns etwas unglücklich und jam­ merten rechtschaffen über unser elendes Dasein und über unsere Ner­ ven. Als wir dann zwischen dem Kegeln eine Erholungspause machten, sah ich im Wirtsgarten einen Herren sitzen, der mir merkwürdig be­ kannt vorkam. Ja nun, es war tatsächlich Henry - wir hatten uns jahre­ lang nicht gesehen, und ich war sehr überrascht, ihn so unverändert wiederzufinden. Damals, als er nach drüben ging, dachten alle, er wür­ de Karriere machen, als Millionär mit Bauch und Berlocken wieder­ kommen und uns alle finanzieren. Als er dann nie mehr schrieb, gab man ihn wehmütig auf. Aber er ist wieder da, ist immer noch derselbe, gründet immer noch, es geht auch immer noch schief, und dann hat er gleich wieder eine neue und fabelhafte Chance an der Hand. Sein Erstaunen, mich hier mit den beiden beim Kegelschieben zu finden, war ebenso groß wie meines und wuchs noch, als ich ihm er­ zählte, daß wir droben in das Sanatorium gehörten. Wohl oder übel mußte ich dann die anderen an den Tisch holen. Es ging auch ganz gut, die Witwe schloß ihn gleich ins Herz und erzählte von ihrem Baulö­ wen. Henry überlegte sofort, wie man die Gläubiger überlisten und das verkrachte Vermögen retten könne. Später gingen die anderen voran, um ihre Abendbehandlung nicht zu versäumen, ich blieb noch eine Weile und ließ mir erzählen. Er ist hergekommen, um Terrains für eine Fabrik anzukaufen, und will noch eine Weile bleiben, weil ihm der Ort

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gefällt und er dringend etwas Erholung braucht. Im Laufe des Ge­ sprächs fiel mir auf, daß er sich doch verändert hat, er ist schweigsa­ mer geworden, und manchmal schaut er so merkwürdig vor sich hin in die Luft, und sein Blick wird ganz starr. »Woran denkst du denn, Henry?« »Ich rechne.« »Immer?« »Immer.« »Dann hast du auch einen Geldkomplex.« »Was hab’ ich?« - er wußte nur von Häuserkomplexen, Baukom­ plexen, Terrainkomplexen. Ich erklärte es ihm, so gut ich konnte, und fürchtete beinahe, er möchte es Übelnehmen, aber er stürzte sich förm­ lich darauf wie auf eine neue Spekulation. Vielleicht berührte es ihn auch wie ein heimatlicher Klang, eben weil er beständig mit seinen Häuser-, Bau- usw. Komplexen zu tun hat. Aber dieser Mann hat viel mehr Illusionsfähigkeit als ich, er fand die Möglichkeit einer Heilung durch Analyse ganz einleuchtend und will meinen Freudianer unbe­ dingt kennenlemen, sobald er kommt. Das ist mir ganz recht, so kann ich mich vielleicht um die Behandlung drücken, zu der ich schon längst keine Lust mehr habe. An dem Abend verspätete ich mich arg, und der Professor machte mir einen richtigen Krach. Er hat von unseren Ausflügen Wind be­ kommen, warf mir vor, daß ich den Atheisten zum Weintrinken ver­ fuhrt habe, auch die Witwe sei heute abend ganz außer Rand und Band, und meine eigene Behandlung lasse ich überhaupt völlig außer acht. Ach, mir wäre bald die Geduld gerissen, und ich war nahe daran, in offene Rebellion auszubrechen, zu sagen, daß mir ja absolut nichts fehle und man mich um Gottes willen in Ruhe lassen solle. Es ist wirklich hart genug, sich auf Schlaflosigkeit und dergleichen behan­ deln zu lassen, wenn man einen so gesunden Schlaf hat wie ich, und überhaupt... Aber seit der letzten wirtschaftlichen Krisis bin ich völlig charak­ terlos geworden, ich habe nicht mehr den Mut, den Ast abzusägen, auf dem ich sitze ... das wohlbekannte Gefühl, wenn er plötzlich kracht und man drunten liegt ... nein, das kann ich nicht mehr. Jedesmal, wenn ich aufbegehren möchte, sehe ich wieder wie in einer Vision den Professor als Gläubiger vor mir und werde sanft wie ein Lamm.

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Die Kegelausflüge haben wir also aufgeben müssen, dafür habe ich Henry bewogen, als Neurastheniker ebenfalls in das Sanatorium zu ziehen. Er findet sich ganz gut hinein, und man macht sich gegenseitig das Leben so angenehm wie möglich. Jetzt im Sommer ist es überhaupt erträglicher, man hat den großen Speisesaal mit der deprimierenden langen Tafel verlassen und nimmt die Mahlzeiten auf der Terrasse an einzelnen Tischen. Henry, Doktor Lukas, der Knabe Gottfried und ich haben einen Tisch am oberen Ende, wo man alles übersehen kann und doch etwas für sich ist. Die Witwe wollte sich anschließen, aber es war zum Glück kein Platz mehr. So gastiert sie nur bei uns, und damit sie nicht allzu störend wird, erziehen wir sie zu unserer Anschauungswei­ se. Kurz, wir haben hier mitten in dieser fremden Welt eine Art eigenes Milieu gegründet. Du kannst Dir denken, daß Henry und ich uns viel zu erzählen ha­ ben und endlos von alten Zeiten reden. Wir rechneten aus, wie lange wir uns jetzt schon kennen. Es sind ungefähr acht Jahre, und die Be­ kanntschaft begann mit einer sehr schönen, sehr langen und sehr kost­ spieligen Reise, von der wir ohne einen Heller zurückkehrten. Er gab dann seine bisherige wissenschaftliche Tätigkeit auf und verlegte sich auf Unternehmungen. Der erste Anlaß dazu war ein Exfreund, dem er ein beträchtliches Kapital ins Geschäft gesteckt hatte und der es nicht wieder herausrücken wollte. Der Exfreund wurde verklagt, gepfändet, jedoch umsonst. Er hatte vorgesorgt und alles rechtzeitig seiner Tante zediert. Aber er hatte irgendeine vielversprechende Erfindung gemacht, das Patent auf diese Erfindung konnte er wohl nicht gut der Tante ze­ dieren, und Henry ließ es beschlagnahmen. Damals lernten wir, seine näheren Bekannten, ihn bewundern; er hatte uns vorher wohl allerlei Pläne entwickelt, aber wir verstanden wenig von solchen Dingen und hielten sie deshalb für phantastisch. Ich sehe ihn noch, wie er dann ei­ nes Tages plötzlich auf den Tisch schlug und sagte: »Jetzt hab’ ich’s.« Acht Tage später hatte er auf die Erfindung des Exfreundes eine GmbH gegründet, hatte ein elegantes Büro mit zahllosen Plänen, Grundrissen und Gipsmodellen und telephonierte den ganzen Tag. Wenn ich mich recht erinnere, handelte es sich um einen feuersicheren Kinemasaal, brach aber doch einmal Feuer aus, so würde wenigstens keine Panik entstehen, weil er in einer halben Minute geräumt werden konnte. Wie die Geschichte ausging, bringe ich nicht mehr zusammen,

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und es tut auch nichts zur Sache. Jedenfalls begann er damit seine Laufbahn als Gründer. Übrigens hat Henry ebenso wie ich einen rät­ selhaften Unstern in finanziellen Dingen gehabt, er konnte wohl auch nicht die richtige persönliche Beziehung zum Geld finden. Mich hat es dann schließlich emstgenommen, ihn foppte es auf unqualifizierbare Weise. Böse Zungen behaupten heute noch, es sei bei all seinen Unter­ nehmungen nie etwas herausgekommen, aber das kennt man ja und soll kein Gewicht darauf legen. Einerlei, er blieb unbeugsam, fragte man ihn, wie steht es denn mit der oder jener Geschichte? so hieß es: schlecht, gerade im entscheidenden Moment kam etwas dazwischen, aber ich habe jetzt eine neue Sache an der Hand, und wenn die nicht einschlägt, soll mich der Teufel holen. Manchmal verschwand er auch für eine Weile, und man hatte Angst, er sei verkracht, aber er war nur rasch in Südamerika oder sonstwo gewesen, um irgendein Unterneh­ men >in die Wege zu leitenc Dann tauchte er wieder auf und mit ihm ein neues Büro, ein imponierendes Türschild, das wieder eine neue GmbH verkündete, Modelle, Telephongespräche und Aktionäre. Du siehst, Maria, er ist auch diesmal wiedergekommen und hat sich drunten in unserem Städtchen ein Büro eingerichtet, wo er täglich ein paar Stunden mit seinen Aktionären telephoniert. Wir schwelgen in alten Erinnerungen: ... wie ich einmal Geld hatte ... wie du einmal Geld hattest... oder: als es mir damals ernstlich an den Hals ging ... Unsere Schicksale hatten immer eine gewisse Ähnlichkeit mitein­ ander, so mußte es wohl auch kommen, daß wir uns hier im Sanatori­ um mit unseren beiderseitigen Geldkomplexen wiederfanden und doch beide nach altem Brauch auf eine günstige Lösung warten ... ich auf meine Erbschaft, er auf einen großen Coup, der seiner Meinung nach dieses Mal nicht fehlschlagen kann. Beklag Dich, bitte, nicht wieder über meine Briefe, Maria. Aber ich interessiere mich momentan so grenzenlos für meine eigene Existenz, daß nichts anderes übrigbleibt. Auch darin verhext einen die ewige Geldfrage, möchtest Du’s nur nie an Dir selbst erfahren. Alle schönen Eigenschaften des Herzens, alles Eingehen auf andere geht dabei zum Henker...

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5 Ich furchte, wir haben den armen Privatdozenten angesteckt. Anfangs pflegte er nur friedlich von wirtschaftlichen Fragen zu sprechen, wäh­ rend er sich jetzt auf das lebhafteste für Gründungen und Spekulatio­ nen, kurz, für alle direkten und indirekten Geldfragen interessiert. An unserem Tisch ist von nichts anderem mehr die Rede, die Neurosen und Psychosen haben alle Anziehungskraft verloren. Selbst Gottfried denkt nicht mehr über seine Weltanschauung nach, sondern hört an­ dächtig zu. Ich glaube, der Verkehr mit uns wird ihn noch völlig hei­ len. Heut saß ich längere Zeit mit Doktor Lukas allein. Wir gaben uns alle Mühe, zur Abwechslung einmal ein anderes Thema anzuschlagen ... die Hitze ... die Persönlichkeit des Professors ... wie schön es sein müßte, jetzt für ein paar Wochen an die Nordsee zu fahren ... und wur­ den dabei aber immer einsilbiger und langweiliger. Dann kam die Witwe einen Augenblick heran und stimmte ihr gewohntes Klagelied an. Tag und Nacht habe ihr verstorbener Mann gearbeitet, bis er ein kleines Vermögen auf der Bank liegen hatte, und all das sauer ver­ diente Geld sei nun in der Konkursmasse - mein Gott, mein Gott! Die gute Dame ist etwas ermüdend, aber ihre Neurose besteht nun einmal in dem beständigen Repetieren ihrer Leidensgeschichte, und als Mitpatient muß man Geduld haben. »Eigentlich hat sie ja auch recht«, sagte Lukas, als sie wieder fort war. »Nein, sie ist vollständig auf dem Holzweg, weil sie an dem Geld gerade das Sauerverdiente so schätzt und hervorhebt. Es ist ein wider­ wärtiger Ausdruck und ein widerwärtiger Begriff. Es kann auch auf sauerverdientem Geld kein Segen ruhen, es muß uns hassen, weil wir es an den Haaren herbeigezogen haben, wo es vielleicht gar nicht hin­ wollte, und wir müssen es hassen, weil wir uns dafür geschunden ha­ ben und im Gedanken an diese Schinderei noch voller Ressentiments sind. Es rächt sich auch immer, denn entweder warten schon andere Leute darauf, oder man gibt es in der ersten Reaktion für sinnlose Din­ ge aus.« »Der Baulöwe hatte es aber anscheinend doch auf die Bank gelegt, um sich später einmal gute Tage zu machen ...«

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»Um so schlimmer, dann wird es gar noch zum >sauer Erspartem, was die Leute bekanntlich immer auf tragische Weise einbüßen. Ich begreife auch, daß das Geld sich solche Bezeichnungen nicht gefallen läßt. Sauer erspart... sagen Sie es sich nur ein paarmal vor, womöglich mit knarrender Stimme.« Er tat es und mußte mir recht geben: »Wie Krähen im Herbst«, sagte er. Inzwischen war Henry unbemerkt durch die Gartentür hereinge­ kommen und stand mit einemmal hinter uns. »Was macht Ihr denn da?« sagte er aufrichtig erschrocken, »mein Gott, Herr Doktor, jetzt hat es Sie auch schon ... Kommen Sie lieber mit hinunter in mein Büro, ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Im Büro war ein Arbeiter damit beschäftigt, eine große Holzkiste aufzubrechen, und wir waren sehr neugierig auf den Inhalt. Henry er­ zählte uns derweil ausführlich die Geschichte der südafrikanischen Goldminen, um derenthalben er damals fortging. Man hatte ihm die Leitung des ganzen Unternehmens übertragen, aber wie gewöhnlich, wenn alles einmal glattgehen konnte, machte das Geld eine förmliche Verschwörung gegen ihn. Er hatte einfach keines, konnte das aber den Aktionären nicht gut unter die Nase reiben, und die Abreise verzögerte sich, verschob sich bis ins Aschgraue. Wiederum regten sich die bösen Zungen und behaupteten, er sei monatelang mit einem falschen Bart herumgegangen, um zu verbergen, daß er immer noch da war. Ich weiß auch nicht mehr, hat es ein halbes oder ein ganzes Jahr gedauert, bis er endlich an seiner Geschäftsstelle anlangte. Von dort aus hatte inzwi­ schen ein Herr Alramseder aus Nürnberg, der an der Sache beteiligt war, gegen ihn intrigiert, und Henry erfuhr gleich bei seiner Ankunft, daß die Gesellschaft ihn schon lange seiner Stellung enthoben und eben jenen Herrn Alramseder zu seinem Nachfolger gemacht hatte. Dieser liebenswürdige Mann mit dem heimatlichen Namen hatte einen ausgesprochenen Tropenkoller und schickte ihm ohne weiteres einen Trupp von sechzehn Kaffem entgegen, die ihn verhaften sollten. Die Witwe hörte in größter Spannung zu und fragte fast atemlos: »Ja ... und was taten Sie da?« »Zuerst photographierte ich die Kaffem«, sagte Henry schlicht und ohne Pose. »Photographierten die Kaffem? ...«

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»Ja, um Beweismaterial gegen den Alramseder in der Hand zu ha­ ben.« - Pause. Tatsächlich ist es ihm dann auch gelungen, ich weiß nicht, ob die Photographie der sechzehn Kaffem dabei ausschlaggebend wirkte - die leitende Stellung wieder an sich zu bringen und zu behaupten. Die Witwe war ganz begeistert und ist jetzt überzeugt, daß es Henry ge­ lingt, mit ihren Gläubigem fertig zu werden und das Andenken des un­ verbesserlichen Baulöwen reinzuwaschen. Inzwischen war die Kiste endlich aufgebrochen, und Henry hob ei­ ne sonderbare, unförmliche Gipsgeschichte heraus, die das Minenter­ rain darstellte. Quer durch geht ein blau angestrichener Fluß. Er er­ klärte uns die geographische Lage und daß die Goldlager sich unter dem Flußbett befänden. »Und wie bekommt man das Gold da heraus?« fragten wir. »Das ist ganz einfach«, antwortete er und hob ohne weiteres den blau angestrichenen Fluß heraus, mit einer so überzeugenden Geste, daß wir einen Moment das Gefühl hatten, wenn es darauf ankäme, würde er es auch in Wirklichkeit so machen. Nun, er hat es uns dann ausdrücklich erklärt, wie es gemacht wird, aber ich habe weder aufgepaßt, noch möchte es von besonderem Inter­ esse für Dich sein. Schließlich kann einen Gold doch nur lebhaft inter­ essieren, wenn es schon wirklich Zwanzigmarkstücke sind und sie ei­ nem gehören.

6 So, nun habe ich endlich einmal eine Sensation zu verkündigen, die Sensation ... der alte Herr ist sanft entschlafen, wie mir gestern ein Te­ legramm meines Miterben meldete. Ich war ihm dankbar, daß er sich so taktvoll ausdrückte, und gebe mir alle Mühe, dem Entschlafenen gegenüber ebenfalls taktvoll zu empfinden. In dem Moment, wo je­ mand tot ist, wird einem das ja auch immer relativ leicht. Also erwartet jetzt, bitte, kein ordinäres Freudengeheul von mir, mir ist vielmehr zu­ mut, als ob ich vorläufig sehr viel Haltung bewahren müßte. Erstens wissen wir über das Testament und vor allem über den Be­ sitzstand des Verstorbenen noch nichts Genaueres, und da er Ausländer

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war, kann sich das alles noch etwas hinziehen. Zweitens habe ich den Glauben an das Geld, an alles Geld verloren und kann ihn nicht von heute auf morgen wiederfinden. Bis es nicht tatsächlich vor mir auf dem Tisch liegt ... und wer weiß, ob es mich jetzt für hinlänglich ge­ läutert hält, um sich wirklich auf meinen Tisch zu legen. Wie oft habe ich erlebt, daß es schon auf dem Wege zu mir war und unter irgendei­ nem fadenscheinigen Vorwand wieder umkehrte. Selbst dadurch, daß es einem gehört, hat man es noch nicht... so halte ich es für geboten, es vorläufig möglichst zu ignorieren und um keinen Preis kopfscheu zu machen. Bitte, verhaltet auch Ihr Euch in diesem Sinne, sprecht nicht davon, freut Euch nicht, schlagt keinen Lärm und gratuliert mir nicht. ... Nein, diese Botschaft an sich kann mich noch nicht von meinem Geldkomplex erlösen, es kommt nur allmählich wieder ein Gefühl von Daseinsberechtigung über mich, das ich mittlerweile ganz verloren hatte. Laß Dir sagen, liebe Maria, es sind nur zwei Dinge, die einem dies Gefühl geben ... Geld und Liebe. Soll es ganz richtig sein, so sind es beide zusammen, aber wann ist wohl das Leben einmal ganz richtig? Und fehlt eines von den beiden, so kann man sich immerhin mit dem anderen trösten. Fehlen aber beide, wie jetzt, wie hier ... nun, alles in allem ist es doch ein etwas trüber Aufenthalt. Mit Geld könnte ich fort­ gehen, aber es ist keines da; mit Liebe könnte ich hierbleiben, aber es fehlt jedes geeignete Objekt. Der Atheist ist mir zu jung, Lukas zu se­ riös, und mit Henry bin ich allmählich zu gut befreundet. In den Arzt verliebt man sich nur, wenn man hysterisch ist, und unser würdiger Professor eignet sich wenig dazu. ... Ich fahre erst heute fort. Der Miterbe war hier, man hat sich ernst und korrekt die Hand geschüttelt und doch ein wenig wie zwei Überle­ bende nach einem Schiffbruch, die nun nähere Bekanntschaft mitein­ ander machen. Man widmete dem Verstorbenen einige geziemende Worte, und das war wirklich anständig, denn er hat bei seinen Lebzei­ ten wenig Sympathie für uns an den Tag gelegt und unser beider Trei­ ben, soweit es ihm bekannt wurde, meistens gemißbilligt. Aber wir wa­ ren jetzt einig, ihm das nicht mehr nachzutragen. Dann war vom Be­ gräbnis die Rede. Der alte Herr will in seiner Familiengruft beigesetzt werden, und das ist ungemein schwierig, weil wir, die beiden einzigen Nachkommen, im Moment nicht über die Mittel verfügen, ihn dorthin

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zu geleiten. Diese Frage bleibt also noch ungelöst. Dagegen wird mor­ gen am Sterbeort eine Einsegnung stattfinden. Ich sollte durchaus mit­ fahren, habe mich aber geweigert. Nie in meinem Leben habe ich sol­ che Sachen mitgemacht, ich habe einen pathologischen Horror davor. Gott weiß, ob der Alte sich nicht auch darüber ärgern würde. Ich habe Angst davor, ihn noch nachträglich zu verstimmen und üble Folgen über mein Haupt heraufzubeschwören. Allmählich kamen wir dann auch auf die Erbschaft selbst zu spre­ chen. Er hat das Testament vor einigen Jahren selbst eingesehen, und nach dem, was er sagt, käme eine Summe in Betracht, die uns beiden das Herz höher schlagen läßt. Nun machte aber der alte Herr vor an­ derthalb Jahren - nachdem er unglücklicherweise von unserem Kon­ trakt erfahren (vermutlich durch seinen schnöden Advokaten, der ihn gemacht hat und den wir nicht zahlen konnten), eine verdächtige Reise in seine Heimat, um >seine Angelegenheiten zu Ordnern. Der Miterbe, der eigentlich Bescheid wissen müßte, behauptet zwar, nach dem dor­ tigen Gesetz könne man ihn als den einzigen direkten Nachkommen, falls er nur verheiratet sei, nicht verkürzen. So hat man sich darüber wieder beruhigt. Natürlich muß er sich gründlich um die Sache be­ kümmern, meint aber, in wenigen Monaten könne alles erledigt sein. Monate - Maria - in Monaten kann alles mögliche passieren, man kann krank werden, sterben, verunglücken oder den Verstand verlieren. In Monaten hat das Geld alle Muße, die ausgefallensten Schikanen zu ersinnen. Monate sind eine schreckliche Zeit, wenn man sie mit War­ ten zubringt. Ich male mir alle schlimmen Möglichkeiten aus, das ist immer das beste, um ihnen vorzubeugen. Ängstigt man sich zum Bei­ spiel, es sei jemand ertrunken oder abgestürzt, so kommt er sicher heil zurück, erwartet man ihn aber unbefangen zum Abendessen, so wird er womöglich vom Blitz erschlagen. Du siehst, ich habe mein System vollständig geändert und wehre mich ebenso verzweifelt gegen jeden Optimismus, wie ich ihm früher huldigte. Und doch, wenn ich morgens aufwache und mich noch nicht genügend beherrsche, denke ich mit scheuer Verliebtheit an dies ferne Geld, das, so Gott will, über kurz oder lang zu mir in Beziehung treten wird.

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Natürlich habe ich nur den männlichen Tischgenossen davon er­ zählt, vor der Witwe hatte ich Angst, sie möchte mich an ihr Herz zie­ hen, Tränen vergießen und wieder von ihrem Baulöwen anfangen. Henry nahm es mit derselben Seelenruhe auf wie die sechzehn Kaf­ fem des Herrn Alramseder, und der gottlose Pfarrerssohn meinte, sein Vater würde in solchem Falle sicher sagen: was hülfe es dem Men­ schen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele. »Oder, was kann der Mensch geben, daß er seine Seele wieder lö­ se«, vollendete Lukas. »Ach, wie gerne wollte ich Schaden an meiner Seele nehmen, wenn ich Reichtümer damit gewinnen könnte.« »Und ich bin fest überzeugt«, sagte Henry, »daß man mit Geld sei­ ne Seele ohne weiteres wieder auslösen könnte.« Gottfried lächelte fröhlich, seine neue Weltanschauung befestigt sich immer mehr. Henry hat nämlich vor, ihn in Afrika bei den Gold­ minen unterzubringen, so braucht er nicht mehr unter das väterliche Dach zurückzukehren und könnte seine Psychose ruhig aufgeben. Doktor Lukas aber wollte ganz genau wissen, wie mir jetzt zumut sei. Er ist etwas enttäuscht, denn er hat es sich wohl so vorgestellt, wie in den Zeitungsgeschichten von Flickschustern, die das große Los ge­ winnen und dann vor freudigem Schrecken die Treppe hinunterfallen oder vom Schlag gerührt werden. Und wie ich mir nun die Zukunft denke? Ich denke nach ... die Zukunft ist noch nicht da, und die Vergan­ genheit wirkt noch zu stark in mir nach. Mir ist, als sei ich mein halbes Leben Jongleur in einem Zirkus gewesen, wollten die Kugeln nicht mehr richtig fliegen, so warf man mit Flaschen, Tellern oder Messern. Wollte es mit den Händen nicht mehr gehen, so stellte man sich auf den Kopf und jonglierte mit den Füßen weiter. Dabei immer die ver­ dammte Unsicherheit, ob man Herr der Situation bleiben wird oder nicht, bis dann eines schönen Tages die Dinge wirklich streikten, Ku­ geln, Flaschen, Teller, Messer herunterrasselten und die Zuschauer mich auspfiffen - unter den Zuschauern stellte ich mir meine Gläubi­ ger vor, die bei der Vorführung durchaus auf ihre Kosten kommen wollten.

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Nein, ich wollte lieber gar nicht über das Geld reden, ehe es da ist. Aber Lukas ließ nicht locker. Wie alle Privatdozenten hat er natürlich ein kleines Vermögen, von dem er bescheiden und sicher leben kann. Der Umgang mit uns hat nun zwar in letzter Zeit seine Begriffe etwas verwirrt, aber manchmal wird er wieder rückfällig und ist nun geradezu besorgt, ob ich mich zu der veränderten Sachlage richtig einstellen werde. So macht er alle möglichen Pläne, wie ich das Geld am besten anlegen solle. »Anlegen?« ... »In Goldshares«, rät Henry, »in wenigen Jahren gibt es vermutlich enorme Dividenden.« »Ja, um Gottes willen, Sie Phantast... wenn Sie Ihren Fluß heraus­ gehoben haben?« ... »Und dem Alramseder einmal definitiv auf den Kopf spucken kann ... denn damit steht und fällt die ganze Sache«, sagte Henry ernst. Der Privatdozent rang die Hände: »Nein, ich bitte Sie, machen Sie mir die gnädige Frau nur nicht wieder vollends ...« »Sprechen Sie ruhig aus«, sagte ich melancholisch, »es hat jetzt wirklich keine Gefahr mit mir. Wenn das Geld nur erst da ist, werde ich sicher wieder ganz normal.« »So normal, daß Sie vernünftig damit umgehen? Sagen wir, zum Beispiel, das Kapital nicht angreifen, falls Sie mit den Zinsen aus­ kommen können ... und daß Sie sich nicht auf Spekulationen einlassen, die davon abhängen, ob Ihr Freund Henry dem Herrn Alramseder oder sonst jemandem auf den Kopf spuckt?« »Sie, Lukas, haben heute wieder einen schrecklichen Rückfall in Ihre nationalökonomischen Komplexe. Leute, die von ihren Zinsen le­ ben, sind viel anomaler. Denken Sie nur, plötzlich sterben zu müssen, was jedem passieren kann, und das ganze Kapital liegt noch da, mit dem man sich unendliches Pläsier hätte verschaffen können. Mir würde dieser Gedanke alle Seelenruhe nehmen. Man sollte vielleicht taxieren, wie lange man ungefähr noch zu leben wünscht, und danach die Sum­ me einteilen. Bedenken Sie doch auch meinen Geldkomplex, wie soll ich den jemals loswerden, wenn ich mir nicht eine ausgiebige Revan­ che für alle bisher erlittene pekuniäre Unbill leisten darf?«

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»Bitte, hören Sie auf«, bat Lukas, »ich möchte sonst noch Ihrer ei­ genen Auffassung vom weiblichen Gehirn beistimmen und Sie vom wirtschaftlichen Standpunkt aus völlig aufgeben ...« »Vor allem ist das Geld ja wirklich noch nicht da«, bemerkte Hen­ ry mit unerschütterlicher Miene. »Erlauben Sie mir wenigstens noch die Frage, wie der Herr ... nun, Ihr Herr Miterbe darüber denkt ... seinen Namen haben Sie uns übri­ gens immer noch vorenthalten.« »Er trägt denselben Namen wie ich auch, da wir miteinander ver­ heiratet sind...« Hätte ich nur lieber geschwiegen, aber es fuhr mir so heraus, und nun mußte ich natürlich eine Flut von Aufklärungen geben. Worauf der arme Lukas so angegriffen war, daß er sich für den Rest des Abends zurückzog. Du weißt, ich rede nicht gem von dieser Heirat, wenn es nicht un­ bedingt notwendig ist, weil es mich gar so langweilt, immer wieder den Zusammenhang erläutern zu müssen. Wir leben nicht zusammen, wir kennen uns kaum, wir sind keine Ehe, sondern nur ein Kontrakt, und unser einziges gemeinsames Interesse ist eben diese Erbschaft. Manche begreifen das nicht, andere nehmen Ärgernis daran, und ich selber ver­ gesse inzwischen manchmal vollständig, daß ich eigentlich verheiratet bin. Der Professor erwartet einen neuen Patienten - es ist ein russischer Fürst, und wir sind sehr gespannt auf ihn. Russischer Fürst klingt so angenehm nach Geld und Spleen.

7 Nein, ich weiß immer noch nichts Näheres. Die Testamentseröffnung soll erst nächste Woche stattfinden. Inzwischen hat der Miterbe wenig­ stens Mittel und Wege gefunden, um selbst hinzufahren und gleichzei­ tig die sterblichen Überreste des alten Herren zu überfuhren. Einst­ weilen war er immer noch im Bahnhof deponiert. Henry hielt das für sehr bedenklich, weil es immerhin einen Anstrich von Rücksichtslo­ sigkeit hatte, aber es war beim besten Willen nicht zu ändern.

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Daß Ihr die Sache äußerst spannend findet, begreife ich, kann aber Eure Empfindungen nicht teilen. Ich lasse mich grundsätzlich auf keine Spannung mehr ein, sie schadet mir und beeinflußt die Dinge immer nur ungünstig. Es war eine glückliche Fügung, daß ich hierherkam. Ich muß die Segnungen dieses Aufenthalts immer mehr anerkennen und kann nur sagen, ein Sanatorium ist doch der einzige geeignete Ort, um auf Erb­ schaften zu warten. Von der Kur habe ich mich ziemlich emanzipiert, es war nicht mehr zum Aushalten. So habe ich dem Professor ausein­ andergesetzt, meine Schlaflosigkeit hätte sich in das Gegenteil verkehrt und ich litte jetzt vielmehr an einer veritablen Schlafsucht ... damit er mich nur mit seinen Wickeln und Duschen verschont. Außerdem möchte er mir etwas mehr Bewegungsfreiheit gewähren, denn ich hätte einen verwickelten Erbschaftsprozeß und müsse deshalb öfter in die Stadt, um mit einem Anwalt zu beraten. Er gab schließlich nach, aber seine Sympathie für mich, die wohl nie sehr heftig war, nimmt immer mehr ab. Ich glaube sogar, er möchte mich fort haben, denn er machte ziemlich brutale Anspielungen, ob ich nicht zur Nachkur noch in ein Seebad gehen wollte. Henry meint, er hielte mich am Ende für eine Schwindlerin ... Es ist schon möglich, denn daß meine Nerven völlig intakt sind, hat er längst durchschaut, vielleicht auch, daß es mit mei­ nen Geldverhältnissen nicht der Fall ist. Der Freudianer hat ihn ja da­ mals brieflich darauf vorbereitet, daß ich erst am Ende meines Aufent­ halts zahlen würde ... Erbschaftsprozesse und dergleichen klingt immer etwas nach Schwindel, kein Mensch glaubt an Erbschaften, die noch in der Luft hängen, kurz, er wird in meiner Vorstellung immer mehr zum Gläubiger, und das ist ungemütlich. Vielleicht ist es auch ein Fehler, daß ich nie die Rechnung beanstande, sie wird einem jede Woche ins Zimmer gelegt, und ich sehe, daß andere Patienten, die regelmäßig zahlen, jeden Augenblick Krakeel machen. Das ist eine Gewohnheit aus schlechten Zeiten. Ist man selbst überzeugt, daß man doch nicht wird zahlen können, so kommt es nicht in Betracht, wie hoch die Rechnung wird. Ich kann ihm also sein Mißtrauen nicht Übelnehmen ... wie oft war man schon in ähnlicher Lage und brannte dann irgendwie durch, das mag in Sanatorien ebenso oft vorkommen wie in Hotels. Um wenigstens etwas glaubhafter dazustehen, habe ich mir einen Rechtsanwalt von ihm empfehlen lassen und bin auch wirklich hinge­

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gangen. Was er für mich tun soll, ist vorläufig noch ganz unklar, aber ich bereite ihn darauf vor, daß es eventuell etwas zu tun geben wird, und befrage ihn um tausend Dinge, die ich entweder schon weiß oder gar nicht zu wissen brauche. Im Anschluß daran kann man sich wenig­ stens etwas herumtreiben, ins Cafe gehen und dergleichen längst ent­ behrte Freuden genießen. Mittlerweile ist auch der schon erwähnte russische Fürst hier auf­ getaucht, das heißt, zur allgemeinen Enttäuschung ist er kein Fürst, sondern nur Großgrundbesitzer und heißt Balailoff. Den erhofften Spleen aber hat er im höchsten Maße, und so kommt es auf eins heraus. Wir haben ihn gleich in unseren Kreis gezogen und sind durchaus zu­ frieden mit ihm. Der Spleen zerfallt in zwei Teile, einmal will er sich den Alkohol abgewöhnen lassen, zweitens hat er eine Braut mit und will hier heiraten. Dieser Balailoff ist eine gute Ablenkung, denn er erzählt beständig von seinen Angelegenheiten, und wenigstens in seiner Gegenwart müs­ sen wir unsere Geldgespräche suspendieren, schon weil er augen­ scheinlich über schwindelhafte Mittel verfugt und unsere Komplexe nicht verstehen würde. Statt dessen drehen wir uns mit um seine Hei­ ratsangelegenheiten und seinen Alkoholismus. Mit der Braut dagegen haben wir vergebens versucht, uns in Fühlung zu setzen. Sie bewohnt einen Extrapavillon, zieht sich sehr zurück und weiß uns nicht zu schätzen. Es macht den Eindruck, als ob sie ihn zu dieser Entziehungs­ kur veranlaßt hätte und beständig mit dem Professor komplottiert. Er selbst schimpft bei jeder Gelegenheit darüber, daß er hier so überwacht wird, und für die Momente, wo er es nicht mehr aushalten kann, hat er sich schon eine Art Weinkeller in Henrys Büro eingerichtet. Die beiden haben sich nämlich in einem großen Spekulationsobjekt gefunden. Balailoff hat, wie so viele Russen, auf irgendwelche Weise sein An­ recht auf einen Platz verwirkt, kann deshalb nicht mehr nach Rußland zurück und möchte seine dortigen Ländereien verkaufen. Da, wie er erzählt, ergiebige Petroleumquellen in der Gegend sind, riet Henry ihm, statt dessen eine Aktiengesellschaft zu gründen, und er ist Feuer und Flamme dafür. Sie sitzen beständig im Büro, machen Kostenan­ schläge und rechnen. Kommen sie dabei zu einem Resultat, das sie be­ sonders begeistert, so wird es auf Balailoffs Verlangen >begossenErotik< Erhebliches geleistet habe, konnte ich nun wirklich beim besten Willen nicht behaupten ... im Ge­ genteil, es wäre mir und meinen Finanzen sicher besser gewesen, ich hätte es mehr getan. Die Sache stimmte also nicht, und wir konnten uns nicht recht einigen. Ich mußte ihm dann einiges über meinen Lebens­ gang sagen, was ihn wiederum enttäuschte, denn er konnte mir durch­ aus nichts Anomales, Psychotisches, Neurotisches und wie das alles heißen mag, nachweisen. Wieder mein altes Pech, daß ich zu unkom­ pliziert bin, es wird einem in so manchen Kreisen und Lebenslagen übelgenommen, besonders wenn man erst Hoffnungen auf das Gegen­ teil erweckte. Was für eine Rolle das Geld in meiner Kindheit und ersten Jugend gespielt hätte? ... Auf diese Zeit sollen die meisten >Komplexbildungen< zurückgehen. Gar keine, absolut gar keine ... Du weißt, es gibt interessante Kinder, die stehlen oder schwindeln, ohne es nötig zu ha­ ben, zum Beispiel Scheine entwenden und in Gold umwechseln, um damit zu spielen, aber ich fand nichts Derartiges in meinen Erinnerun­ gen. Wir hielten es als Kinder für überflüssig und armeleutehaft, sich um Geldfragen zu bekümmern, und sahen verächtlich auf andere herab,

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die gegenseitig das Vermögen ihrer Eltern taxierten und darüber Be­ scheid wußten. Und späterhin war es eigentlich dasselbe: Geldnot? ... Das kann doch nicht Emst sein ... und selbst welches herbeischaffen müssen? Ein schlechter Scherz, zu dem man gute Miene macht, solan­ ge es nicht überhand nimmt... »Und mit starken Unlustgefühlen verknüpft?« schaltete der Doktor ein. »Allerdings!« Gut, er kam allmählich auf die Spur. Es war eben umgekehrt, als wie er anfänglich gemeint hatte. Das Geld selbst war verdrängt wor­ den, nicht die anderen Dinge, und ich war also doch etwas anomal. Gott sei Dank, ich hab’ so gern, wenn die anderen mit mir zufrieden sind. Man stellte also einen Geldkomplex in absoluter Reinkultur fest, mit Erotik hatte er gar nichts zu tun. Dann ging es ungefähr so weiter, daß in den meisten Fällen durch nervöse, in meinem durch akute finan­ zielle Erkrankung die einst verdrängten Dinge plötzlich bewußt und nun >überbetont< werden ... (siehe wirtschaftliche Krisis). Mir wurde ganz elend dabei, all diese Erinnerungen wieder aufzuwühlen, aber es half nichts - die Vorgänge, die den Komplex bewirkt haben, müssen reproduziert, das heißt, noch einmal bewußt erlebt werden, damit der Arzt sie einem dann ausreden kann. Dann fing ich meinerseits an zu fragen. »Wenn nun die Erbsache doch noch schiefginge - man kann ja nie wissen -, wie soll ich mich dann mit dem Professor auseinandersetzen? Glauben Sie, daß er sich als Gläubiger...« »Aha, da haben wir die für den Komplex charakteristischen Angst­ vorstellungen«, sagte Baumann befriedigt. »Ja, und die habe ich auch in bezug auf Sie ...« »Auf mich?« »Natürlich ... Sie haben doch hier gewissermaßen die Verantwor­ tung für mich übernommen, und offen gesagt, mich plagt der Gedanke, daß Sie damit hereinfallen könnten, wenn ...« Er hat sich dann ausführlich nach der Erbschaft und ihren näheren Umständen erkundigt, und man vertiefte sich so in dieses Thema, daß es zu spät wurde, um mit der Behandlung fortzufahren.

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Aber unerbittlich nimmt er mich jeden Tag eine Weile vor ... Es ist ein Kreuz, und ich muß doch tun, als nütze es etwas. Die Heilung soll nämlich dadurch geschehen, daß man dem Patienten eine andere Ein­ stellung gibt. Bei mir gibt es nur zwei Möglichkeiten, und man braucht eigentlich keinen Psychiater, um das einzusehen. Nämlich entweder müßte man die durch Faulheit, Bequemlichkeit usw. verdrängte Ener­ gie wieder mobil machen und auf irgendeine zweckmäßige Weise zu Geld kommen, oder aber sich darauf einstellen, es unwichtig zu finden und entbehren zu können ... Das ist natürlich nur ein unvollkommen wiedergegebener Extrakt, im Munde des Arztes klingt es ganz schön, ausführlich, umständlich und einleuchtend. Aber was soll man damit anfangen, das alles kann ich mir ebensogut selbst vorerzählen und än­ dere doch nichts damit. Lieber schwätze ich über andere Sachen mit ihm und hetze ihn und Henry möglichst aufeinander. Henry kann es viel besser als ich, er nimmt es mit ähnlichem Emst wie seine Spekulationen. Ich habe das Gefühl, daß er nach allen Seiten hin erwägt, wie man ein zerrüttetes Nervensystem sanieren, etwas Neues darauf gründen oder einen un­ haltbaren inneren Zustand liquidieren könnte. Genug und übergenug davon. Ich fürchte, sonst entdeckt Ihr gar noch Eure eigenen Komplexe und wollt immer mehr darüber wissen. Und ich bin doch schließlich nicht im Sanatorium, um über die Qualen, die ich hier ausstehen muß, auch noch Abhandlungen zu schreiben.

9 Wieder ein Telegramm des Miterben. Der Anwalt habe sich geirrt, es könne sich doch wohl höchstens um dreihunderttausend handeln. Seine Berichte sind neuerdings ein wenig konfus und bestehen zu­ meist in telegraphischen Vermutungen. Gott weiß, ob sie das Testa­ ment nun wirklich gefunden haben, und ob es überhaupt wahr ist, daß man es nicht gleich fand. Uns kommt das etwas merkwürdig vor, aber die Sache spielt sich in so weiter Feme ab, daß man unmöglich näheren Einblick gewinnen kann. Eröffnet kann es jedenfalls noch nicht sein, sonst müßte er doch Genaueres wissen.

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Lukas findet das sehr beunruhigend, er traut dem Miterben, wie allen anderen, die damit zu tun haben, nicht recht, und bot mir sogar eine Leihsumme an, um selbst hinzufahren. Nein, ich danke, ich werde mich hüten, das Geld durch meine per­ sönliche Einmischung noch rebellischer zu machen. Wie man sieht, haben schon hunderttausend rebelliert, eben die hunderttausend, die nach Lukas’ Aufstellung zu meiner freien Verfügung bleiben sollten. Er fand das schon vollkommen wahnsinnig. »Jetzt müssen Sie aber unbedingt das Ganze auf Zinsen legen«, er­ klärte er beinah zornig, »und die Reise nach Siam streichen.« »Warte erst einmal ab, wie die Petroleumgeschichte sich gestaltet«, warf Henry ein. »Ist die Gegend wirklich so ergiebig, wie wir anneh­ men, so werden die Aktien in kurzem horrend in die Höhe gehen, und alles wird sich darum reißen. Jedenfalls muß man sich rechtzeitig eine gute Anzahl sichern, sobald die Gesellschaft konstituiert ist.« Lukas warf einen Blick gen Himmel. Das ist ihm schon ganz zur Gewohnheit geworden, sobald er Henry reden hört. »Wollen Sie sich nicht bald einmal von Doktor Baumann analysie­ ren lassen, lieber Henry?« fragte er. »Oh, wir haben schon damit angefangen.« »Findest du, es nützt etwas?« fragte ich beklommen. Gerade als er sich darüber auslassen wollte, kam Baumann selbst, und Lukas wandte sich sofort an ihn. »Ich bin, wie Sie wissen, nur Laie«, sagte er, »die Psychiatrie ist ein Gebiet, das mir völlig fern liegt. Gelingt es Ihnen aber, diese beiden Herrschaften zur Vernunft zu bringen, so gehöre ich von Stund’ an zu Ihren fanatischen Anhängern und mache enorme Propaganda für Sie.« (Lukas ist dort, wo er doziert, eine einflußreiche Persönlichkeit und hat glänzende Beziehungen. Baumann brennt darauf, Karriere zu machen und selbst eine Anstalt zu übernehmen, wo nach seiner Methode wun­ derbare Heilungen gemacht werden.) Er, Baumann, lächelte so geschickt, daß keiner der Beteiligten sich verletzt fühlen konnte, Henry aber meinte: »Besser, Sie lassen sich erst einmal von mir gründen, ich habe da von einer verkrachten Alumini­ umgesellschaft einige Terrains an der Hand, die sich ungemein billig stellen würden, und die Aktionäre haben wir bald beisammen. Balailoff geht zum Beispiel todsicher mit, sobald die Petroleumsache gedeichselt

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ist ...« Sein Blick nahm allmählich jene sonderbare Starrheit an, die ihm manchmal eigen ist ... er rechnete ... machte Überschläge ... erlag seinem Komplex. Und Baumann meinte, es sei der geeignete Moment für eine analytische Seance, worauf wir anderen uns diskret entfernten. Das ist schon wieder ein paar Tage her. Henry ist gestern nach Rußland gefahren, um das Petroleumgebiet in Augenschein zu nehmen. Balailoffs Sekretär begleitet ihn als Dolmetscher. Balailoff hat nämlich ein Gefolge bei sich, das aus eben diesem Sekretär, zwei Dienern und einem alten russischen Popen, seinem früheren Erzieher, besteht. Die­ ser letztere wird hier ebenfalls saniert, ob auch wegen Alkoholismus, haben wir noch nicht feststellen können. Er ist ein friedlicher, würde­ voller Herr, der fast nie aus seinem Zimmer herauskommt und außer Russisch keine lebende Sprache spricht. Lukas und die Ärzte reden la­ teinisch mit ihm, und ich suche manchmal in meiner Erinnerung aus den Grammatikstunden meiner Brüder oder aus der Religionsstunde, um ihm etwas Liebenswürdiges zu sagen. Aber es stimmt meistens nicht recht. Gottfried wurde letzten Mittwoch aus der Kur entlassen, um nach Hause zu fahren. Statt dessen hat er sich in der Stadt versteckt gehalten und jetzt heimlich mit Henry die Petroleumfahrt angetreten ... er war überglücklich. Seine Eltern haben schon dreimal telegraphiert, und kein Mensch begreift, wo er geblieben ist. Dummerweise bekam ich nun gerade eine Depesche aus Finnland. »Endlich aufgefunden. Er­ öffnung noch durch Formalitäten verzögert...« Der Professor bat mich dringend zu gestehen, daß das Telegramm mit dem vermißten Jungen zusammenhinge. Ich beteuerte mit gutem Gewissen: Nein. Er glaubte mir nicht, und nur, um ihn zu beruhigen, gab ich es ihm schließlich zu lesen. Dadurch wurde die Sache nun noch schlimmer, er war jetzt voll­ kommen überzeugt, daß es sich um Gottfried handle, daß man eben ihn in Finnland aufgefunden - er Selbstmord begangen habe oder verun­ glückt sei und - > Eröffnung durch Formalitäten verzögert - seziert werden solle. In seiner erhitzten Medizinerphantasie schien ihm das vollkommen klar ... Aber die Unterschrift - der Miterbe trägt als mein Gatte bekanntlich denselben Namen wie ich - und das Rätsel, wieso ich diese Nachricht an mich selbst aus Finnland telegraphiere, konnte er denn doch nicht kleinkriegen, und ich verfiel darüber in ein solches Gelächter, daß er immer zorniger wurde ... Schon vor Wochen hätte ich

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ihm von einem Erbschaftsprozeß erzählt, und nun sollte das Testament noch nicht einmal eröffnet sein? ... Und mit diesem Herrn verheiratet... bisher hätte ich mich doch immer als geschiedene Frau ausgegeben und könne nun wirklich nicht verlangen, daß man mir noch ein einzi­ ges Wort glaube. Es war eine recht nette Szene, und mir blieb schließ­ lich nichts übrig, als zu gestehen, daß ich wüßte, wo der Junge sich aufhielte, und daß er es seinen Eltern demnächst selbst mitteilen wolle. Der Professor war zuletzt sprachlos und schickte mir später einen Brief aufs Zimmer. In dem Brief schlug er mir vor, ich möchte mich doch lieber in ein anderes Sanatorium begeben, falls ich es überhaupt noch für nötig halte. Nun, Baumann hat die Sache dann mit vieler Mühe wieder ins Ge­ leise gebracht, und ich war ihm sehr dankbar. Wo hätte ich auch hin­ gehen sollen? Ich bleibe also da und gebe mich, nachdem der Sturm ausgetobt hat, einer wohlverdienten Ruhe hin. Es herrscht hier jetzt eine gewaltige Sommerhitze. Da keiner von uns etwas zu tun hat, sitzen wir fast den ganzen Tag auf der Terrasse. Morgens ist man noch halbwegs munter, liest Zeitungen oder unterhält sich. Nachher liegt alles wie tot in den Klappstühlen umher und hält sich gegenseitig für mehr oder minder vertrottelt. So behauptet Lukas, es mache ihn schon nervös, wenn unten auf dem See Dampfschiffe vorbeifahren oder Möwen flattern. Er empfindet das als eine unerhörte Kraftvergeudung. An ganz besonders schwülen Tagen verständigt man sich nur durch Pantomimen oder in der Hitzsprache - das heißt, man läßt alle irgendwie entbehrlichen Worte und Silben weg oder markiert sie nur. Das geistige Niveau ist dabei etwas gesunken. Unsere Hauptunter­ haltung besteht darin, die anderen Patienten zu beobachten und sich über sie zu mokieren, wofem sie auch nur den geringsten Anlaß dazu bieten. So empfanden wir es als wahres Glück, als letzthin ein neuer Patient auftauchte, der allerhand Eigentümlichkeiten hat. Er zieht sich selbst bei der unerhörtesten Gluthitze immer schwarz an, hat außerdem schwarze Haare, schwarzen Bart und kohlschwarze Augen ... die ersten Male, wenn er plötzlich die weiße Steintreppe herauf kam, wirkte er wie der leibhaftige Gottseibeiuns. Aber in dem Moment, wo er an sei­ nem Platz saß und seine Mahlzeit serviert bekam, fiel uns sein wirklich verblüffend intelligenzloser Ausdruck auf. Wir meinten einstimmig,

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noch nie gesehen zu haben, daß jemand Gegenstände oder Personen so überaus dumm anschauen könne wie dieser Herr mit dem dämonischen Exterieur den servierenden Diener oder auch seinen Teller und die Apollinarisflasche. Außerdem hat er die Gewohnheit, ehe er anfängt zu sprechen, immer erst ein paarmal langsam und bedächtig mit den Kinnladen zu klappen. Kurz, er macht uns inniges Vergnügen. Wir ha­ ben ihn den schwarzen Idioten genannt und genießen es mit wahrer Andacht, wenn er mit seinem leeren, stupiden Blick zu uns herüber­ schaut ... er scheint sich sehr für uns zu interessieren und möchte sicher gerne nähere Bekanntschaft mit uns machen. Ja, so gehen die Tage hin, und wir ersehnen Henrys Rückkehr, denn Balailoff macht uns viel zu schaffen. Wie ich Dir schon erzählte, will er heiraten und bildet sich ein, das sei hier an der italienischen Grenze leichter zu bewerkstelligen als anderswo. Ich fürchte, er irrt sich darin, denn sie sind beide Ausländer, und zwar in so hohem Maß, daß es fast unmöglich scheint, mit den Papieren jemals ins reine zu kommen. Vor allem hat er keinen Paß, und es besteht nur eine schwa­ che Möglichkeit, durch persönliche Verbindungen und in absehbarer Zeit wieder einen zu erwirken. Die Braut ist angeblich in einem Hotel auf Spitzbergen geboren und weiß nicht, wo ihre Eltern beheimatet wa­ ren. Man bemüht sich also immer noch vergeblich, ihre Staatsangehö­ rigkeit festzustellen. Da er nun kein Wort Italienisch versteht und im Verkehr mit Behörden ungemein reizbar ist, appelliert er beständig an uns. Tag für Tag müssen wir die Angelegenheit von A bis Z mit ihm durchnehmen, auf neue Mittel und Wege sinnen, Briefe oder Gesuche aufsetzen und was sonst noch dazugehört. Ich versuchte vergebens, ihn auf meinen Rechtsbeistand abzuschieben, der das alles sicher besser machen könnte. Mit eben diesem Rechtsbeistand ist es allmählich auch eine dumme Situation. Um für ein paar Stunden aus der Anstalt zu ent­ rinnen, muß ich ihn zwei- oder dreimal in der Woche aufsuchen und überflüssige Fragen an ihn richten ... er hält mich sicher schon für die größte Gans auf Gottes Erdboden. Balailoff aber hat einen ausgespro­ chenen Anwaltskomplex, behauptet, alle Advokaten seien Gauner und Schurken und arbeiteten nur in ihre eigene Tasche. Er scheint reizende Erfahrungen mit ihnen gemacht zu haben ... vielleicht liegt es auch an den russischen Zuständen.

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Man hat es nicht leicht auf der Welt, liebe Maria, und mit diesem Stoßseufzer will ich für heute abbrechen.

10 Teufel... der alte Herr hat uns aufs Pflichtteil gesetzt! Auf den Gedanken war überhaupt noch keiner von uns gekommen, aber ich sehe, auch Erben gehört zu den Sachen, die man erst lernen muß. Das Telegramm kam, als wir gerade einmütig auf der Terrasse sa­ ßen ... Henry ist auch wieder da. Ich behaupte ja glücklicherweise bei schlechten Nachrichten meine Haltung immer besser als bei guten, und es ist draußen so heiß, daß man sich nicht auf Emotionen einlassen kann. Immerhin fühlte ich mich doch unangenehm berührt und gab die Depesche gleich an Lukas weiter. Der sprang trotz aller Hitze auf und ging wie ein zorniger Löwe hin und her. Ja, er war beinahe gereizt gegen mich, weil seine Rat­ schläge mit dem festgelegten Kapital jetzt definitiv vereitelt sind und ich nicht umhinkonnte, wenigstens über diesen Umstand ein wenig zu triumphieren. Dann aber war er schamlos genug zu sagen, in diesem Falle müsse ich mir unbedingt eine Leibrente kaufen, um doch wenig­ stens irgendwie gesichert zu sein. »Pfui nein ... das bloße Wort ...« - Baumann lächelte - »Sie wis­ sen, lieber Doktor, ich leide überhaupt an Wortidiosynkrasien ... Leib­ rente klingt mir nach Leibweh, Leibbinde, Kamillentee, alten Tanten ... es hat etwas durchaus Degradierendes.« »Diese Wortidiosynkrasie fügt sich dem Geldkomplex vollkommen ein. Vermutlich fühlten Sie sich als Kind degradiert und eingeengt, wenn man Sie mit einer Leibbinde und Kamillentee, womöglich noch unter Obhut einer alten Tante, ins Bett steckte ... Aus dieser Erinnerung heraus machen Sie nun eine Ideenassoziation mit dem Wort Leibrente, um das eingeengte Dasein, was eine solche bieten würde, abzulehnen.« »Sie fangen an mich zu überzeugen.« »Und ich fühle immer weniger Veranlassung, für Ihre Lehre Pro­ paganda zu machen«, warf Lukas wütend hin. »Ich spreche als Psychiater und nicht als Moralist.«

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»Tue ich das etwa?« Und sie gerieten sich ein wenig in die Haare, weil keiner Moralist sein wollte. Henry hatte seine stille Freude daran und meinte, als sie ausgetobt hatten, es sei doch unvorsichtig gewesen, den alten Herrn so lange im Bahnhof stehenzulassen. Ich mußte dem widersprechen, denn das Te­ stament hat er jedenfalls schon vorher gemacht, und ein posthumer Fluch, wenn er auch noch so kräftig war, konnte nichts mehr daran än­ dern. Und nachdem man diese Schändlichkeit erfahren hat, lag wirk­ lich kein Grund zu übertriebener Rücksichtnahme mehr vor. All unser Takt ist verschwendet gewesen. Sodann erwogen wir ohne jede innere Überzeugung, ob das Testa­ ment am Ende gefälscht, unterschoben oder irgend etwas Ähnliches sein könnte. Und alle rieten, es doch auf jeden Fall anzufechten. Dann könnte ich wenigstens meinen Rechtsbeistand beschäftigen. Ich will es mir immerhin überlegen. Balailoff hatte, da lebhaft durcheinander geredet wurde, nur die Hälfte, und auch die falsch verstanden. Er meinte entschieden, es handle sich um ein besonders frohes Ereignis, und schlug vor, es zu begießen. Folglich brach man auf, begab sich ins Büro und begoß dort gleich alles miteinander, das Pflichtteil, Henrys Erfolge in Rußland und die Zukunft im allgemeinen. Das Petroleumuntemehmen hat er inzwi­ schen tatsächlich in die Wege geleitet und sagte mir im Vertrauen, es sei eine der besten Sachen, die er jemals an der Hand gehabt habe, wenn sie so ausschlüge, wie man mit gutem Recht annehmen könne. Ganze Berge von Zeichnungen und Schriftstücken hat er mitgebracht, die sie nun mit Enthusiasmus zusammen durchsehen und bereden. Da­ für hat er den Sekretär als Aufseher dortgelassen, womit Balailoff nicht ganz einverstanden war, und Gottfried ist dageblieben, um wiederum den Sekretär zu beaufsichtigen. Das Büro hat allmählich etwas Heimatliches bekommen, das uns allen wohltut, einige gemütliche Stühle, der Goldfluß auf seinem schwarzen Postament, auf der einen Seite des ungeheuren Schreibti­ sches die Gläser und Flaschen, die man zum >Begießen< braucht, an der anderen Henry und Balailoff vor ihren Papieren ... In unsere gedämpfte Unterhaltung fallen Bruchstücke der ihren hinein, wie: Dividenden ausschütten ... Gewinn- und Verlustkonto ... Reservefonds ...

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Baumann examiniert mich ein wenig über die Wirkung dieser letz­ ten Nachricht. Ich möchte ihm so gerne interessantes Material darüber liefern, kann aber nur sagen, daß es mich zu meiner eigenen Verwun­ derung ziemlich kalt läßt. Viel oder wenig, ich will nur endlich einmal Geld sehen, momentanes Geld, das wirklich da ist. Vielleicht bin ich mit dem Pflichtteil sogar besser dran, weil es für ein Existenzpro­ gramm eben doch wieder nicht langt und das Rechnen und Kopfzer­ brechen ganz zwecklos sein würde. Andererseits bestätigt sich wieder einmal meine Ahnung, daß es, das Geld, nichts mehr mit mir zu tun haben will. Die Tatsachen reden deutlich genug ... von einer Art Kapital ist es erst um ein Viertel zu­ rückgegangen, dann aufs Pflichtteil. Was kann nun noch kommen? Vielleicht verwandelt es sich aus Rubeln in Kopeken und aus Kopeken in Sand und Steine. »Und vielleicht gelänge es Ihnen dann eher, aus Sand und Steinen eine wirtschaftliche Basis zu schaffen«, sagte Lukas niederträchtig, »denn es möchte das umgekehrte Wunder bewirkt werden, daß Ihr Wille endlich einmal wach würde. Denken Sie nur einmal an die unge­ heure Anzahl von Mädchen und Frauen, die mitten im Berufsleben ste­ hen und sich ihr Brot selbst verdienen, anstatt darüber zu philosophie­ ren, daß und warum sie kein Vermögen haben.« »Der Beruf der Frau ist in erster Linie Gattin und Mutter«, erklärte ich nicht ohne Pathos, »und dem bin ich nach besten Kräften nachge­ kommen. Ich bin mm schon zum zweitenmal verheiratet und habe ein Kind aus erster Ehe. Es ist vorläufig bei Bekannten untergebracht, bis meine Geldverhältnisse sich wieder etwas gelichtet haben. Aber alles das wollen Sie natürlich nicht als soziale Leistung anerkennen, sondern denken lieber darüber nach, wie Sie mir zu irgendeiner entsetzlichen Stellung im Berufsleben verhelfen könnten. Ich habe den größten Re­ spekt vor jenen Mädchen und Frauen, die sich selbst durchbringen, wenngleich ich es für eine bedauerliche Verirrung der Vorsehung hal­ te, daß sie dazu gezwungen sind. Sie sind überhaupt der ungerechteste Mensch, der mir jemals begegnet ist, sonst müßten Sie doch zugeben, daß ich das wirtschaftliche Problem auf meine Weise auch gelöst habe ... Ich hatte nie ein festes Einkommen, nie einen bestimmten Beruf, sondern nur vorübergehende Tätigkeiten, bei denen nicht viel heraus­ kam, und doch habe ich eine ganze Reihe von Jahren >existiertkonstelliert< ist. »Ja, Sie bringen mir sicher Unglück mit Ihrem ewigen Disponieren. Wer weiß, ob Sie mir nicht die ursprüngliche Summe nur dadurch wegdisponiert haben. Ich möchte Sie beinah dafür verantwortlich ma­ chen.« Er fühlte sich doch wohl etwas schuldbewußt und murmelte nur etwas Unwilliges vor sich hin. Am Schreibtisch zwischen Henry und Balailoff wurden ungeheure Zahlen hin- und hergerollt - es hat beinah etwas Weihevolles, dem zu­ zuhören.

11 Ich furchte, eine gute Weile wird man sich noch in Geduld fassen müs­ sen. Wie man mir schreibt, kann der Nachlaß erst allmählich liquidiert werden, und es sind noch unendliche Formalitäten zu erfüllen. Was für Formalitäten und wer sie zu erfüllen hat, kümmert mich wenig, man muß es halt abwarten. Auch hier geschehen allerhand Dinge, mit denen wir nicht ganz einverstanden sind, aber zum Teil sind wir wohl selbst schuld daran. Balailoff kam neulich an einem ungewöhnlich heißen Vormittag auf die Terrasse und forderte uns auf, ihn nach N. zu begleiten. Das ist ein Bergnest hier in der Nähe, wo die Trauung stattfinden soll. In der Stadt wäre es viel einfacher gewesen, aber das war ihm nicht einzure­ den. Es mache dort zuviel Aufsehen, schon weil er im Sanatorium wohne - kurz, es ist ein Komplex von ihm. Nun war er wieder einmal seiner Papiere wegen zum dortigen Bürgermeister befohlen ... wir kannten diese Expeditionen schon und fürchteten sie wie den Tod. Da nun auch unsere Sprachkenntnisse sehr schwach sind, mußten wir stets alle vier mit, um uns zu ergänzen. (NB. Der Professor hat es längst aufgegeben, unseren Freiheitsdrang zu hemmen, und läßt uns gehen,

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wohin wir wollen. So habe ich auch dem Rechtsanwalt meine Voll­ macht unter nichtigen Vorwänden wieder entzogen.) Um das Bergnest zu erreichen, muß man eine gute Stunde steigen, eine weitere pflegt zu vergehen, bis man den Bürgermeister in seinen Weinbergen aufgestöbert hat und er endlich mit der Sichel in der Hand erscheint, dann noch eine halbe, bis seine Frau den Schlüssel zur Amtsstube gefunden hat. Nun erst beginnt die Unterhandlung, die sehr viel Witz und Geistesgegenwart erfordert ... Das schriftliche Material ist in allen möglichen Sprachen abgefaßt ... Bis man sich nun einigt, was wohl ungefähr darin stehen mag, was es bedeutet, und an welche Behörden oder Konsulate wieder zu schreiben ist, vergeht abermals beträchtliche Zeit. Die Braut weigert sich mitzugehen und würde auch gar nichts nutzen, da sie in Lissabon aufgewachsen ist und nur Portu­ giesisch kann. Es ist also jedesmal ein Martyrium. Ein paarmal haben wir es murrend über uns ergehen lassen, aber bei dieser Temperatur streikten wir einfach. Henry, der sonst ein Mann der Tat ist, sah Ba­ lailoff nur vorwurfsvoll an, deutete mit einer großen Geste auf die Sonne und sagte: »Sie steht wirklich schon zu hoch.« Dann sank er matt in seinen Sessel zurück. Baumann sah von einem zum anderen und äußerte: er müsse als Mediziner auch sagen, es ginge einfach nicht. Balailoff war außer sich: die Sache litte keinen Aufschub. Wir wurden schließlich gereizt, und so ging es eine Weile hin und her. Da erhob sich plötzlich der sogenannte schwarze Idiot, der an einem Ne­ bentisch Zeitungen las, beständig zu uns herübersah und schon eine ganze Weile vorbereitend mit den Kinnladen geklappt hatte, kam her­ an, stellte sich vor und erbot sich aufs höflichste, Balailoff zu beglei­ ten. Er habe sowieso dort zu tun - was sicher gelogen war - spreche sowohl Russisch wie Italienisch und hoffe ihm dienen zu können. Sie wurden wahrhaftig einig, was wir Balailoff etwas übelnahmen und er uns ebenfalls, denn er verabschiedete sich ziemlich ungnädig und zog mit dem Schwarzen ab. Erst spät am Nachmittag kamen sie zurück. Der schwarze Idiot, der schon lange nach unserer Bekanntschaft strebte, schien sehr beglückt, daß das Eis nun endlich gebrochen sei, während wir es unverschämt fanden, daß er es für gebrochen hielt. Er kam ohne weiteres an den Tisch und wollte ein Gespräch anfangen, aber Henry wies abermals auf die Sonne und sagte ablehnend: »Später, wenn sie untergegangen

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ist...« Darauf sah er uns der Reihe nach verständnislos an, und es hätte sicher eine peinliche Szene gegeben, wenn Balailoff ihn nicht mit sich fortgenommen hätte. Wir waren uns eigentlich keiner Schuld bewußt. Man hatte Übermenschliches von uns verlangt, und wir hatten uns ge­ weigert. Deshalb begriffen wir nicht recht, warum Balailoff uns grollte, aber er tat es. Den ganzen Abend ließ er sich nicht mehr blicken, und das gemütliche Einvernehmen ist seitdem erheblich gestört. Denk Dir nur unseren Schrecken ... ein paar Tage später stellt Balailoff uns die­ sen Typ als seinen Privatsekretär vor, und seitdem belästigt er uns in den kühleren Stunden - in den heißen hat er doch nicht den Mut dazu mit seiner Gesellschaft. Statt an seinem früheren Platz, wo wir aus si­ cherer Entfernung unser Vergnügen an ihm hatten, sitzt er mit an unse­ rem Tisch, schaut entgeistert von einem zum anderen, findet alles, was wir reden, äußerst interessant und klappt mit den Kinnladen, wenn er selbst etwas sagen will. Das wäre noch das wenigste, obwohl wir sehr darunter leiden - aber wir befurchten vor allem, daß er seinen neuen Chef auch in geschäftlichen Dingen beeinflussen wird, da er in allem und allem so ungeheuer sachverständig ist - neuerdings sogar in bezug auf Petroleum - und sich in alles - auch in Petroleumfragen - hinein­ zumischen sucht. Henry und er sind schon verschiedene Male heftig darüber aneinandergekommen. Überhaupt, er spielt einfach die Rolle des Intriganten im Theaterstück und Balailoff die des gutmütigen, aber schwachen Fürsten, der sich immer gerade von den verkehrten Leuten beeinflussen läßt. Was der Mann eigentlich ist und was er sonst auf dieser Welt zu schaffen hat, ahnen wir nicht, ebensowenig, weshalb er sich hier sanie­ ren läßt. Vielleicht will er sich nur seinen Schwachsinn und das Klap­ pen mit den Kinnladen abgewöhnen lassen. Baumann beobachtet ihn angestrengt, kann aber auch nichts her­ ausbringen. Sein wissenschaftlicher Eifer hat sonst zu meiner Erleich­ terung ziemlich nachgelassen - ich habe ihn auch gebeten, mich eine Zeitlang zu schonen. Der Geldkomplex plagt mich nicht mehr so, seit wieder Geld in der Luft ist - leider immer noch in der Luft. Ich habe mich wenigstens zu einer wohltuenden Apathie durchgerungen, und das beständige Wiederaufwühlen könnte höchstens einen Rückfall ver­ ursachen. Und Henry - Henry rechnet neuerdings mit solcher Intensi­ tät, daß nichts mehr mit ihm anzufangen ist.

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Ich habe ganz vergessen, Dir für Deinen Brief zu danken. Ja, gewiß, man muß die Feste feiern, wie sie fallen. Ein schlechter Trost, aber es soll ja eigentlich auch keiner sein. Nach Siam werde ich unter diesen Umständen wohl kaum fahren, geschweige denn Euch alle mitnehmen, aber vielleicht nach Monte Carlo. Man muß doch irgendeine Methode finden, um das Pflichtteil auf seine vorigen Dimensionen zurückzufuh­ ren. Ich habe auch Henry vorgeschlagen, daß er mitkommen soll. Er findet, es sei besser, damit zu warten, bis alle Stränge reißen. Ich dage­ gen meine, es ist besser, solange noch etwas da ist. In bezug auf Balailoff sind wir sehr beunruhigt. Er war schon meh­ rere Tage nicht im Büro, kam aber trotzdem abends stark angeheitert nach Hause. Es liegt auf der Hand, daß er mit dem Schwarzen gekneipt hat und sich dann von ihm um den Finger wickeln läßt. Du mußt wissen, für Henry hängt viel, vielleicht alles davon ab, daß Balailoff hier bleibt, bis das Petroleumuntemehmen endgültig or­ ganisiert ist. Leute wie Balailoff sind auf die Entfernung nicht sehr zu­ verlässig. Baumann und Lukas sind ebenfalls als Aktionäre vorge­ merkt, und wer weiß, ob ich mich nicht auch noch beteilige. Es liegt also im allgemeinen Interesse, ihn so lange wie möglich hier festzu­ halten. Die Braut aber strebt nur danach, bald fortzukommen, weil ihr der Aufenthalt hier odios ist - vor allem in unserer Gesellschaft. Wir haben deshalb immer möglichst darauf gesehen, daß die Heirat nicht überstürzt wird, haben ihn immer wieder veranlaßt, sich abwartend zu verhalten und die Behörden nicht nervös zu machen. Zum Teil geschah es übrigens aus rein freundschaftlichem Gefühl, denn diese Ehe fällt ja sicher todunglücklich aus. Der angenehme Privatsekretär aber faßt es ganz anders auf - und an, er tut, was er kann, um die Heirat zu beschleunigen. Auch das spricht deutlich für sein Idiotentum, denn normalerweise ist doch an­ zunehmen, daß sein Posten damit abläuft. Nun ist er kürzlich auf die unselige Idee gekommen, das Paar solle sich hier naturalisieren lassen, denn damit sei die leidige Frage der Staatsangehörigkeit aufs einfach­ ste erledigt. Lukas, welcher auf diesem Gebiet einige Erfahrung be­ sitzt, meinte, man müsse doch auch in diesem Fall seine Nationalität nachweisen.

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Der Idiot aber lächelte etwas pfiffiger als sonst und behauptete: Gott bewahre, man brauche nur eine schriftliche Erklärung abzugeben. Er wisse auch, wie die hiesigen Beamten zu behandeln seien, und wür­ de sich schon mit ihnen einigen. Dann hat er sich ein Pferd gemietet, reitet kreuz und quer im Lande herum, verhandelt mit Behörden und besticht angeblich Beamte. Oder er sitzt mit Balailoff zusammen, setzt Briefe und Eingaben auf, in die wir nicht mehr eingeweiht werden. Auch die Braut kommt jetzt öfters mit auf die Terrasse, und man sucht sich an sie zu gewöhnen. Balailoff strahlt im Gedanken an das nähergerückte Ziel, und der Idiot versucht manchmal Geschichten aus seiner entbehrungsreichen Jugend zu erzählen - findet bei uns aber wenig Anklang damit. Dann verstummt er wieder und starrt entgeistert seinen Teller oder seine neue Gebieterin an, die ihn ziemlich huldvoll behandelt.

12 Schon Anfang August... Gott, wie lange bin ich schon hier. Bald kann ich mir überhaupt keine andere Daseinsform mehr vorstellen und wer­ de dermaleinst gar nicht wissen, wie ich mich wieder daran gewöhnen soll. Ebensowenig aber kann ich mir ein Bild davon machen, wie lange das hier noch so fortgehen wird. Immer wieder muß ich Baumann vor­ schieben, damit er von Zeit zu Zeit den Professor beruhigt. Der hat ihm neulich wieder einmal sein Herz ausgeschüttet und gesagt, es ginge einfach nicht, daß man ihm das Sanatorium so auf den Kopf stellt. Wir wären doch alle keine richtigen Patienten: Henry käme nur zu den Mahlzeiten wie ein Tourist, Balailoff betränke sich fortwährend, trotz seiner Abstinenzkur, und es liege auf der Hand, daß wir ihm dabei Vorschub leisteten - ich habe ihm von Anfang an einen fragwürdigen Eindruck gemacht, zum Beispiel die Geschichte mit Gottfried ... kurz, er ist sehr besorgt, daß wir seine Anstalt diskreditieren. Bei jedem von uns liegt aber irgendein Grund vor, weshalb er ihn eben doch dabehal­ ten möchte. An Henrys Terrainspekulationen ist er stark interessiert, Balailoff bringt ihm mit den vielen Zimmern, die er innehat, mit Extra­ pavillons und Gefolge ein Bombengeld ein, und bei mir muß er eben warten, bis Geld da ist. Nur Lukas sei durch und durch ein Ehrenmann,

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hat er gesagt, und es sei geradezu unbegreiflich, daß er ausschließlich mit uns verkehre. Baumann ist nun auf den guten Gedanken gekommen, ihm zu ra­ ten, er solle die ganze Gesellschaft etwas mehr von den normalen Pati­ enten isolieren. So hat man uns in einem entlegenen Teil des Gebäudes untergebracht, was sehr viel für sich hat. Gegen den Idioten hat Bau­ mann auf unsere Bitte, aber vergeblich, zu intrigieren versucht. Er hat infolge seines vertrottelten, aber äußerst gesitteten Benehmens einen ganz besonderen Stein im Brett, und der Professor erklärte ihn, im Ge­ gensatz zu uns anderen, ebenfalls für einen Ehrenmann. Es ist aber we­ nigstens erreicht worden, daß er sein bisheriges Zimmer behalten hat und nicht mit in den Separatflügel gekommen ist. Er steht sich zu gut mit dem Professor und hätte beständig spioniert. Statt dessen habe ich jetzt Balailoffs friedlichen alten Priester als Nachbarn. Unser Flügel hat einen Ausgang, durch den man über einen wenig frequentierten Seitenhof auf die Straße gelangt. Es ist eine große Wohltat, nicht mehr wie Pensionszöglinge aufjpassen zu müssen, ob man kontrolliert wird. Es haben sich im Lauf der Zeit allerhand Pri­ vatinteressen ergeben, die bisher nur unter großen Schwierigkeiten ver­ folgt werden konnten, jetzt aber um so eifriger gepflegt werden. Bau­ mann ist uns gewissermaßen als ärztlicher Aufseher gesetzt worden. Da er nun selbst eine kleine Freundin in der Stadt hat, läßt er mit sich reden. Henry und ich haben ebenfalls einige Bekannte unter den Schauspielern des Sommertheaters (etwas anderes gibt’s hier nicht). Man ist natürlich sehr vorsichtig, hält auf den Ruf der Anstalt und auf den eigenen, und ich finde, man sollte das anerkennen, anstatt uns, wie es leider von verschiedenen Seiten geschieht, schief anzusehen. Schade, daß Du nicht auch hier bist ... das heißt - verzeih mir die­ sen Egoismus und begreife ihn - es hat so viel für sich, die einzige Frau in einem Kreise zu sein, daß ich doch nicht gerne teilen möchte. Bitte, mißverstehe das nicht. Die vorhin erwähnten Privatinteressen bringen es mit sich, daß unser Familienleben intakt bleibt, und eben dadurch ergibt sich eine sympathische Atmosphäre, die einen Stich in alles mögliche hat. Lukas ist sozusagen stiller Teilhaber, er ist noch nicht lange und sehr glücklich verheiratet und steht auch in dieser Be­ ziehung auf demselben Standpunkt wie mit der wirtschaftlichen Basis. Dabei läßt er, wenn nicht mit sich reden, so doch mit sich zanken, denn

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es ist klar, daß weder Henrys noch meine >Privatinteressen< Gnade vor seinen Augen finden. Meines ... ja siehst Du, Maria, die hiesigen Mög­ lichkeiten beschränken sich eben auf die Mitglieder des kleinen Thea­ ters, das nur für ein paar Monate hier gastiert - und ich muß beschämt gestehen, daß es sich um einen Tenor handelt. Seine Stimme reicht kaum hin, um ihn zu rechtfertigen, und seine Mitteilungen geschehen manchmal auf wild marmoriertem, manchmal auf azurblauem Briefpa­ pier mit eingepreßtem weißem Schwan. Das mag schlimm sein, aber ich kann mir nicht helfen, es hat für mich etwas Ergreifendes, und im übrigen ist er wirklich, was man einen lieben Kerl nennt. Seine Manie­ ren sind zum Ärger der anderen, die ihn nicht billigen, völlig einwand­ frei ... er weiß eben von der Bühne her, wie man sich unter Leuten von Welt zu benehmen hat, denn bei dem Mangel an Personal spielt er auch die Lebemänner in modernen Stücken. Henry, der sich mit der jugend­ lichen Heroine in gleicher Verdammnis befindet, hat immer noch das nötige Verständnis dafür, aber die Blicke unseres Privatdozenten, wenn >er< persönlich auftritt oder wieder eines seiner Schwanenbilletts mor­ gens neben meinem Teller liegt, sind unbeschreiblich. Ich gebe gerne und willig zu, daß es eine Verirrung ist, aber das reizt nur noch mehr. Ja, er greift in blindem Eifer zu den stärksten Mitteln, um mich davon abzubringen, und meinte neulich: als Jugendtorheit könne so etwas ja noch hingehen, aber für eine Frau, die - Verlegenheitspause - über dieses Stadium doch allmählich hinaus sein dürfte ... Ich konnte darauf nur erwidern, man sei nun einmal nicht mehr jung, und tausendmal wichtiger sei es, die dritte, vierte, fünfte und so weiter Jugend auszukosten, als die erste und zweite. Er war etwas ent­ waffnet und genierte sich nachträglich, daß er umsonst und ohne jeden Erfolg eine Taktlosigkeit gesagt hatte. Natürlich hat auch Lukas den üblichen Alterskomplex ... von einer bestimmten Grenze an soll man vorsorgen, Leibrenten kaufen und ste­ tiger in seinen Neigungen werden. Ich halte das für einen Irrtum und sehe gerade den einzigen Vorzug des Älterwerdens darin, daß die Zu­ kunft einen weniger interessiert und der Moment immer wichtiger wird. Solange mir noch Tenöre von Sommertheatem himmelblaue Billetts schreiben, sehe ich nicht ein, warum ich darauf verzichten soll. Dabei habe ich es ganz gern, wenn mir jemand Moral predigt, mich är­ gert und ich ihn wieder ärgern kann.

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Mehr Verständnis hat der alte russische Priester - ich kollidierte neulich in einem etwas ungeschickten Moment mit ihm auf dem Korri­ dor. Nachher saß er im Mondschein auf seinem Balkon ... als ich dann auf den meinen hinauskam und wir unseren gewohnten Gruß aus­ tauschten, war ich doch etwas verlegen und suchte nach einem erlö­ senden Wort (wir haben uns inzwischen etwas besser verständigen ge­ lernt), aber mir fiel nichts anderes ein als pater peccavi. Er lächelte milde, anscheinend erfreut und antwortete: Te absolvo ... und noch ir­ gend etwas, was ich nicht verstand. Ach Gott, Maria, ich muß doch immer wieder darauf zurückkom­ men ... und wenn es auch langweilig wird zum die Wände hinauflaufen ... wie könnte das Leben schön sein ohne die Geldfrage. Und wie ist es möglich, daß Menschen mit Geld jemals wirklich unglücklich sind? Schau, ein gewisser Grad von Komfort, einige nette Leute und et­ was Durcheinander - eine dumme Liebesgeschichte ohne höhere An­ sprüche - Mondschein und ein wohlwollender alter Priester - und ich wäre schon wieder imstande, für das Dasein zu schwärmen, wenn nicht immer die Geldgedanken wie eine schwarze Wand hinter allem stän­ den. Ob nun das Pflichtteil endlich einmal tatsächlich in meine Hände gelangt oder nicht, früher oder später wird doch einmal der Moment kommen, wo ich wieder rechnen oder darüber nachdenken muß und der Komplex mich von neuem umnachtet... Ich tue ja mein Bestes, um das Jetzt als Ferienzeit aufzufassen, wie man als Kind die großen Sommerferien festlich beging. Sie schienen endlos, und doch wurde man die Gespenster nicht ganz los - Lehrer, Schulstunden und Strafarbeiten, und wußte ganz genau: davor war die Hölle, und dahinter lauerte auch wieder die Hölle - wie könnte man es nur anfangen, darum herumzukommen. Nein, das gibt’s eben nicht, einmal wird man doch wieder in die Schule müssen und wieder nach­ sitzen, weil man die Rechenaufgaben nicht in den Kopf kriegen kann. Es kommt mir jetzt recht symbolisch vor, daß ich früher wegen jeder, aber auch jeder Rechenaufgabe nachsitzen mußte. War sie einmal richtig, so hatte ich entweder abgeschrieben, und dann gab es erst recht Strafe, oder es beruhte auf einem Zufall, an den niemand glauben wollte. Wie das den Charakter verdirbt ... man kann sich schließlich nur damit trösten, daß auch der Lehrer infolge seiner eigenen Infamie um seinen freien Nachmittag kommt. Und später ... was hatte ich von

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Haus aus für einen sympathischen Charakter, und wie sehr hat er unter den Geldkamalitäten gelitten. Es gibt gewiß keine Gemeinheit, die ich nicht mit Vergnügen beginge, wenn sie sich rentierte, aber es gibt zu wenig Gelegenheit ... die wirklich rentablen Gemeinheiten kommen immer nur in Romanen vor. Wenigstens die sich mir bisher boten, wa­ ren nicht der Mühe wert. Ich hätte beispielsweise einmal jemandem mit zwanzigtausend Mark durchbrennen können, und die drei Tage, wo ich sie in Obhut hatte, waren qualvoll genug. Aber wie weit wäre ich damit gekommen, über kurz oder lang hätte ich doch wieder umkehren müs­ sen. Wären es hunderttausend gewesen, so hätte ich eher die morali­ sche Kraft dazu gefunden. Ich will mich lieber nicht weiter in diesen Gegenstand vertiefen. Henry gab uns gestern ein kleines Souper, man war etwas zu lustig, und ich habe heute ein wenig Katzenjammer. Dann fallen einem alle möglichen trüben Dinge wieder ein. Lieber hör’ ich auf...

13 Schlimme Nachrichten, Maria. Meine neulichen Abendbetrachtungen waren Vorahnung. Wie ich dieses zweite Gesicht verwünsche, aber ich habe es nun einmal. Also zuerst, was mich selbst betrifft. Ich weiß nicht, ob ich Dir er­ zählte, daß der Miterbe schon einmal verheiratet war. Daß er mit dieser ersten Frau denselben Kontrakt auf Erbteilung gemacht hat wie mit mir, wußte ich allerdings nicht. Sie hat sich dann schlecht bewährt, und er ließ sich von ihr scheiden. Jetzt aber, nach dem Tode des alten Herrn, ist sie wieder aus der Versenkung aufgetaucht, will ihre An­ sprüche geltend machen und droht durch ihren Anwalt die Erbschaft mit Beschlag belegen zu lassen. Im besten Falle gibt es also wieder ei­ ne Verzögerung, im minder günstigen - aber ich ziehe es vor, diesen Gedanken vorläufig noch zu verdrängen. Lukas ist jetzt ganz kleinlaut und meint, daß wirklich von Seiten des Schicksals rätselhafte Dinge gegen mich vorliegen müssen. Er, der Miterbe, gedenkt nächstens zurückzukommen und will mich dann hier aufsuchen. Einstweilen hat er immer noch Formalitäten zu erfüllen.

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Wenn das alles wäre, aber auch um die Petroleumsache sind wir immer in schweren Sorgen. Balailoff gerät mehr unter den Einfluß des schwarzen Idioten (der sich übrigens in letzter Zeit lauter weiße Anzü­ ge angeschafft hat - wir waren schon unschlüssig, ob man ihn nicht umtaufen müsse) und sprach schon davon, ihn auf eine Inspektionsrei­ se nach Rußland zu schicken, da letzthin ungünstige Berichte von dort einliefen. Es hieß, das Gebiet sei doch nicht so ergiebig, wie man an­ fangs angenommen und so weiter. Henry behauptet auf Grund seiner gewiß vielfältigen Erfahrungen, das passiere bei jedem derartigen Un­ ternehmen und man brauche einstweilen kein Gewicht darauf zu legen. Das Konsortium pflege einmal dieses und einmal jenes Gerücht auszu­ sprengen, um Stimmung zu machen oder - was weiß ich - ich konnte seinen Auseinandersetzungen nicht recht folgen, und Balailoff versteht es sicher noch weniger als ich. Der Idiot aber will jetzt plötzlich auch über Petroleumgewinnung besser Bescheid wissen als alle anderen, nachdem er vorher nur in Heiratspapieren kompetent war. Bei jedem anderen Gespräch verstummte er und klappte ratlos mit den Kinnladen. Einstweilen ist er hier noch unentbehrlich, denn die Heiratsangele­ genheit scheint trotz all seiner Bemühungen nicht vom Fleck zu rükken. Balailoff ist manchmal sehr nervös und klagt darüber, daß die Be­ amtenbestechung unwahrscheinliche Summen verschlinge. Wir anderen trauen dem schwarzen Kerl nicht über den Weg. Bei Tisch setzt er sich nach wie vor zu uns, ist auf keine Weise loszuwer­ den, sondern sitzt da, starrt uns an und erzählt, wenn man ihn über­ haupt zu Wort kommen läßt, von seinem angeblich bewegten Leben. Anfangs brachte man ihn rasch zum Schweigen, aber wir lassen ihn jetzt manchmal gewähren, um gelegentlich eine Handhabe gegen ihn zu gewinnen. Bis jetzt haben wir aber nur festgestellt, daß er unerhört lügt und höchstens in Balailoffs Gegenwart seine Erzählungen etwas glaubhafter hält. Von uns nimmt er wohl an, daß wir alles glauben, da wir immer schweigend zuhören und nie den leisesten Zweifel äußern.

... Es scheint beinah, daß wir unserem Ziel näher kommen und eine wichtige Entdeckung gemacht haben, mittels derer wir ihn vielleicht stürzen können. Neulich abends waren wir alle in Henrys Zimmer der Pavillon der Braut liegt nahe an unserem Separatflügel, und man hört sie allabendlich Klavier spielen, war aber so daran gewöhnt, daß

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man nicht weiter darauf achtete. Balailoff ist um diese Zeit nie vorhan­ den, sondern treibt sich allein in der Stadt herum. An diesem Abend nun unterhielten wir uns ganz friedlich. Henry hatte Wein aus dem Büro herauf geschafft, und Baumann, der einen ziemlichen Schwips hatte, sagte auf einmal nachdenklich: »Hört nur, das ist wirklich merkwürdig ... sie spielt ja vierhändig.« Wir schwiegen und hatten so unsere Gedanken dabei, während Baumanns Freundin ihn im tiefen Emst zu überzeugen versuchte, daß es unmöglich sei, al­ lein vierhändig zu spielen. Natürlich wollten wir in ihrer Gegenwart unseren Verdacht nicht äußern, aber als sie fort war, machten wir das Licht aus und warteten gespannt am Fenster, bis das Klavierspiel ver­ stummte. Kurz nachher sahen wir denn auch den Privatsekretär vor­ sichtig durch den Garten schleichen. Aber was nun? Darüber wurde lang hin und her beraten. Man kann die beiden doch nicht einfach verklatschen ... es ist schließlich ihre Privatsache. Andererseits ist Balailoff, wenn er sich auch neuerdings schlecht benimmt, sozusagen unser Freund, während wir die Braut nicht ausstehen können und den Idioten los sein möchten. Sollte einer von den Männern den Ahnungslosen aufklären, was da vor sich geht... es nimmt sich eventuell doch schlecht aus, und die beiden würden zweifellos leugnen. Gott weiß, ob sie nicht auch wirklich nur zusam­ men Klavier spielen. Und doch, meinte Henry, wäre es beinahe Chri­ stenpflicht, ihn aufmerksam zu machen, denn wenn der Idiot ihm mit seiner Braut Hörner aufsetzt, wird er ihm auch mit dem Petroleum Hörner aufsetzen, sobald es ihm gelingt, seine Pfoten da hinein zu be­ kommen ... und die ganze Geschichte geht für uns zum Teufel. Zunächst haben wir also nur versucht, den Schwarzen aufs Glatteis zu führen. Ich fragte ihn gleich am nächsten Morgen in aller Harmlo­ sigkeit, ob es bei starker musikalischer Begabung möglich sei, alleine vierhändig zu spielen. Balailoff schlug ein schallendes Gelächter an ... er ahnt also nichts von den nächtlichen Konzerten ... die Braut ver­ färbte sich ... sie hat jedenfalls ein schlechtes Gewissen. Der Idiot aber behielt seine Fassung und hielt mir einen längeren Vortrag über Kla­ viertechnik sowie über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Es war ein ausgesprochener Mißgriff, denn nun sind sie gewarnt und spielen nicht mehr zusammen.

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Darauf versuchten Henry und Baumann - der Privatdozent gab sich nicht dazu her - der Braut auf Tod und Leben die Cour zu machen, um den Idioten auszustechen. Sie reagierte in keiner Weise, und man er­ reichte nur, daß Balailoff noch verstimmter auf uns ist. Nun haben wir noch einen Plan im Hinterhalt... wir wunderten uns nämlich schon lange darüber, daß weder Balailoff noch die Braut auf den Gedanken gekommen sind, die Ehe in England zu schließen. Er selbst weiß am Ende gar nichts von dieser segensreichen Einrichtung ... bei einem Russen mit Spleen wäre das gar nicht so unmöglich, und sein Faktotum wird sich hüten, ihn auf den Gedanken zu bringen, da die Angelegenheit dadurch zu einem rascheren Abschluß käme. Das liegt selbstverständlich nicht in seinem Interesse. Uns selbst geht es, offen gesagt, ebenso. Wir konnten uns nie be­ sonders für die Heirat erwärmen und hofften immer, daß sie noch möglichst hinausgezogen würde, bis das Petroleum ... Denn daran sind wir alle aufs lebhafteste interessiert und wollen mit >hineingehenHerm IdiotenMiterben< einzufuhren?« - »Keine Ah­ nung, wie ich das machen soll. Daß wir verheiratet sind, glaubt ja doch niemand. Wir nennen uns Sie, und ich weiß von seinem Leben so we­ nig wie er von meinem. Es möchte sich doch sonderbar ausnehmen, wenn wir uns bei jeder Gelegenheit erst gegenseitig darüber aufklären müssen.« »Führen Sie ihn als Ihren Vetter ein.« Ich fand den Vorschlag ganz gut, aber Henry war übler Laune und warf mir vor, ich wollte immer nur Films veranstalten, und diese ganze Heirat sei schon Film genug. Sehr mit Unrecht, denn was kann ich da­ für? Du weißt ja ungefähr, wie die Sache war ... Er wollte heiraten, weil er fürchtete, sonst enterbt zu werden, und setzte die Hälfte seines Erbes als Preis dafür aus. Ich saß gerade in Paris und wußte nicht recht, was ich tun sollte, als gemeinsame Bekannte mir den Fall unterbreite­ ten und ziemlich hohe Ziffern dabei spielen ließen. Lebhaft erinnere ich mich, wie man in einem kleinen Montmartre-Cafe saß und beriet: soll sie es tun? ... soll sie es nicht tun? ... Ich selbst wurde eigentlich

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kaum um meine Ansicht gefragt. Aber ich gab dann schriftlich mein Jawort und fuhr dorthin, wo mein zukünftiger Eheherr sich aufhielt. Man hatte ihn mir als degenerierten Baron geschildert, und auch das lockte mich. Aber er sah aus wie ein Seeräuber in Zivil, und seine Degeneriertheit bestand nur darin, daß er trank. Die Familie verhielt sich etwas skeptisch und wollte vor allem wissen, ob ich Vermögen hätte. Nein, aber später eines zu erwarten, was ja im Falle unserer Heirat auch der Wahrheit entsprach ... Alles Weitere entwickelte sich dann merkwürdig günstig, die unwahrscheinlichsten Umstände kamen mir zu Hilfe, so daß ich kurze Zeit hindurch selbst in den Augen seines Vaters - eben des alten Herrn, der jetzt das Zeitliche gesegnet hat - mit Glück die Rolle des guten Engels spielte. An diesen Glanzpunkt mei­ ner Laufbahn denke ich immer noch mit Wehmut zurück und muß mir selbst alle Anerkennung zubilligen, denn weder andere noch ich hätten das jemals für möglich gehalten. Es dauerte denn auch nicht lange eben, bis es gar zu auffallend wurde, daß wir keinen gemeinsamen Haushalt gründeten, daß unsere beiderseitigen Niederlassungen sich vielmehr an entgegengesetzten Endpunkten des In- oder Auslandes be­ fanden und, falls es gelegentlich in Frage kam, keiner über den Aufent­ halt oder die Schicksale des anderen auf dem laufenden war. Schließ­ lich kam dann auch noch die Geschichte mit dem Kontrakt auf... Das alles mußte ich Lukas noch einmal eingehend schildern, wie auch die Persönlichkeit meines Gatten und Miterben. Wir einigten uns dann dahin, ihn doch lieber in der Stadt wohnen zu lassen. Der Profes­ sor hat sicher vorläufig genug von Alkoholikern, und soweit ich diesen kenne, ist er von ungemein aufrichtigem Charakter und wäre nicht im­ stande, den Wunsch nach einer Entziehungs- oder anderen Kur auch nur vorzutäuschen.

17 Habe ich wirklich einen ganzen Monat nicht geschrieben? Was soll ich denn auch schreiben - immer wieder dasselbe: es ist noch nicht da, ich warte. Tröste Dich damit, daß ich meine sämtlichen Korrespondenzen schon lange so gut wie abgebrochen habe. Niemand wußte mehr den Ton anzuschlagen, den ich vertragen konnte. Die einen wollten mich

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mit dieser Erbschaft, die niemals kommt, aufziehen und schienen zu meinen, daß das Ganze nur ein Witz sei. Andere gratulierten mir zu dem unverdienten Glück, das mir so mühelos in den Schoß gefallen wäre. Wenn ich nur das nicht mehr hören soll. Es begreift wohl nie­ mand, was für eine ungeheuerliche Leistung dieses Warten bedeutet, und niemand hat auch nur eine Ahnung, was für Leiden ein Geldkom­ plex mit sich bringt. Seit etwa zwei Wochen beginnt es allmählich zu tagen. Es hat we­ nigstens den Anschein - ich will mich lieber noch vorsichtig ausdrükken. Der Miterbe ist wohlbehalten hier eingetroffen - ich betone das >wohlbehaltenTeufelskerls< zu bewundern. Um ihn nicht zu kränken, stimme ich aus vollem Herzen bei - solange er ihn nicht ins Sanatorium bringt. Der Hotelbesitzer ist ebenfalls Feuer und Flamme für das Tier wie für sei­ nen Herrn, weil er auf diese Weise sämtliche Zimmer neu hergerichtet bekommt. Man weiß natürlich in der Stadt, daß wir verheiratet sind und daß große finanzielle Ereignisse uns umwittem. Da hier sonst we­ nig Sensationelles passiert, sind wir mythische Persönlichkeiten und ungeheuer populär. Allzu oft lasse ich mich zwar nicht blicken, aber es kommt doch manchmal vor, daß ich an der Seite meines Gemahls mich dem erstaunten Volk zeige. Mit den anderen habe ich ihn nicht erst bekannt gemacht, er paßt nicht zu ihnen und ist ausgesprochen menschenscheu. Er ist überhaupt sehr merkwürdig und spricht wenig. Was andere sagen, pflegt er zu überhören und reagiert nur selten darauf. Will ich also etwas von ihm wissen - er zitiert mich manchmal zu einer wichtigen Besprechung -, so heißt es ruhig dasitzen und abwarten, bis er davon anfängt. Er läßt Wein bringen, die Musikanten warten immer schon an der nächsten Straßenecke, bis man sie herbeiwinkt. Dann stehen sie auf der Piazza vor dem Hotel und spielen, er wirft ihnen Geld zu und läßt ihnen zu trinken geben. Ich spende ihnen hier und da ein huldvolles Lächeln und warte darauf, daß er mit der Besprechung beginnen wird. Irgendwann kommt denn auch der Moment, wo er sich daran erinnert und mit der Hand unter seine Lederjacke fährt - er hat einen merkwürdigen Klei­ dungskomplex, denn ich habe ihn noch nie in einem anderen Kostüm gesehen als: Schaftstiefel, Kniehosen und lederne Jacke - er sucht eine

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Zeitlang, fordert ein arg zerknittertes Schreiben oder Aktenstück zuta­ ge und teilt mir das Wissenswerte daraus mit. Das Wissenswerte ist immer nur eine neue Verzögerung oder Schwierigkeit. Ich äußere meine Besorgnis, daß immer noch und immer noch ... Er hört kaum darauf hin und sagt mit gewaltiger Stimme: »Ich verstehe den Krempel ja auch nicht ... ich verstehe überhaupt nichts von Geld­ geschichten ... aber seien Sie nur ruhig, gnädige Frau, es wird schon alles gut werden.« Dann vertieft er sich wieder in die Vorzüge seiner Hunde, fragt mich, ob die Leute gut spielen, zeigt mir einen neuen Revolver, den er für besser hält als den vorigen, trinkt ein Glas nach dem anderen, und man hat den Eindruck, als ob er sich recht glücklich fühle. Selten, selten gelingt es mir, ihn etwas redseliger zu machen - ich bin jetzt auch selbst so >konstelliertes< da ist. Eher können wir ihm doch nicht helfen, und es würde uns nur unnötig das Herz zerrei­ ßen zu wissen, daß es ihm schlecht geht. Früher war es immer Lukas, der den Kopf schüttelte und Blicke gen Himmel warf, jetzt schüttelt auch Baumann. Er hält uns allmählich für schwere Fälle, vor denen die Wissenschaft, wie er sich ausdrückt, einstweilen haltmachen muß. Das heißt, er hat es aufgegeben, uns in dem gegenwärtigen Stadium weiter zu behandeln, und wir sind todfroh darüber. Von Komplexen, Analyse und vor allem Geld darf nach still­ schweigendem Einkommen überhaupt nicht mehr gesprochen werden. Seitdem herrscht eine präokkupierte Grabesstille an unserer Tafelrun­ de, und es gibt nichts mehr, worüber wir uns unterhalten könnten.

Soll ich nun abschicken oder nicht? Warten bis - nein, ich bringe es nicht mehr über die Lippen und nicht mehr aus der Feder, dieses fürchterliche >bis< - und wenn ich darauf warte, dauert es vielleicht noch länger.

18 Es ist da, Maria - das heißt noch nicht ganz, aber so gut wie. Letzten Mittwoch fing es an. Der Miterbe war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden oder ließ sich verleugnen. Man brachte nur in Erfahrung, daß er den ganzen Tag mit Auto und Hunden unterwegs war, in den verschiedensten Ort­ schaften der Umgegend Teufelskerle um sich versammelte und bewir­ tete und abends bei seiner Rückkehr nicht mehr vernehmungsfähig sei. Wir schlossen darauf mit gutem Grund, daß das Pflichtteil näherge­ rückt oder etwas Verhängnisvolles damit passiert sein müsse. Denn er pflegt sowohl freudige wie trübe Erregungen auf diese Weise auszule­

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ben, und man muß solche Zustände vorübergehen lassen, ehe man sich wieder ins Einvernehmen mit ihm setzt. Schließlich erschien er dann eines Morgens in eigener Person hier oben, was noch nie vorgekommen war. Den Wolfshund hatte er an der Leine, aber der riß sich los, rannte verschiedene Patienten fast über den Haufen und verursachte eine Panik. Der Professor kam aus seinem Sprechzimmer, um zu sehen, was da vorginge. Mein Gatte war außer sich vor Entzücken über das Temperament seines Hundes, drohte ihm zum Scherz mit dem Revolver und fragte ein Mal über das andere, ob er nicht ein Teufelskerl sei. Der Professor aber meinte wohl, daß dieser Ehrentitel sich auf ihn beziehe, und hielt den Miterben für einen tobsüchtigen neuen Patien­ ten, den ich ihm zufuhren wollte. Mit dem Professor gibt es eben im­ mer Mißverständnisse, und ich hatte viele Mühe, ihm bei dem Höllen­ spektakel den Zusammenhang zwischen mir, dem Mann und dem Hund begreiflich zu machen. Die Zomesader auf seiner Stirn schwoll immer mehr an, ich glaube, er war nahe daran, selber einen Tobsuchts­ anfall zu bekommen, was für das Sanatorium gewiß keine gute Rekla­ me wäre. Als dieser Zwischenfall erledigt war, kam das Geschäftliche an die Reihe. Der rauhe Gatte durchsuchte sämtliche Innentaschen seiner Le­ derjacke und forderte schließlich ein imposantes Dokument zutage, den Depositenschein der finnischen Bank, die uns das Pflichtteil abzuliefem hat. Es besteht einstweilen noch nicht in barem Geld, sondern in Eisenbahnobligationen. Wir beratschlagten eine Weile, gingen dann in die Stadt hinunter zur Bank und gaben Auftrag, die Papiere sofort telegraphisch zu ver­ kaufen. Dann machten wir eine größere Spazierfahrt mit sämtlichen Hunden. Die anderen hatte ich den ganzen Tag nicht gesehen und konnte ih­ nen erst beim Abendessen Bericht erstatten. Lukas legte Messer und Gabel hin, als ich auf unsere Aktion bei der Bank zu sprechen kam, und vergaß alle Höflichkeit. »Ja, haben Sie denn ganz den Verstand verloren? Telegraphisch und en bloc verkaufen?« »Wir können wirklich nicht mehr warten«, wendete ich kleinlaut ein.

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»Das muß wieder rückgängig gemacht werden. Was sind es denn für Papiere?« Ich nannte sie ihm, stolz darauf, daß ich es wußte und mir keine Blöße zu geben brauchte. Er jammerte, daß es einen Stein erbarmen könnte, und wir sind alle ganz hingerissen vor Mitgefühl. - Man hätte die Obligationen her­ schicken sollen, sie deponieren, nach und nach verkaufen - und was weiß ich, ich verstehe nichts von solchen Sachen. Wer von uns denn auf diese glorreiche Idee gekommen sei? »Alle beide - wir haben uns überlegt, wie es am schnellsten gin­ ge.« »Anstatt erst irgendeinen vernünftigen Menschen um Rat zu fra­ gen ...« »Nein, jetzt tun Sie mir Unrecht. Ich habe mich durchaus sachver­ ständig benommen und den Bankdirektor gefragt, ob es nicht besser sei, vorläufig nur einige von den Papieren zu verkaufen. Aber er riet mir zu, es gleich en bloc zu machen.« Achselzucken, Schweigen. »Ist das nicht der große Blonde, den wir öfters im Cafe sahen und der immer so unglücklich aussieht?« fragte Henry. »Ja, er ist entschieden Melancholiker. Als ich erwähnte, es eile, weil ich auf Reisen gehen wollte, sagte er ganz ergriffen: >Gott, wer doch auch reisen könnte - weit fort reisen.< - >Kommen Sie mites< da ist, dreht sich alles, was ich empfinde, doch wieder aus­ schließlich um Geld, wenn auch diesmal in positivem Sinn, aber es dreht sich. Dreht sich um greifbar vorhandene Banknoten, Goldstücke, Schecks, Kreditbriefe, Möglichkeiten, Einkäufe und so weiter. >Es< ist immer noch zu persönlich, es erfüllt mich noch zu sehr, ich muß immerfort daran denken. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich eine Nacht nicht schlafen können, weil es wirklich da war. Baumann sagt... aber ich habe noch verschiedenes nachzuholen. Am Tage, nachdem der Depositenschein präsentiert wurde und wir der Bank unsere Order erteilten, haben wir denn auch Henrys Korre­ spondenz eröffnet. Es ergab sich daraus unter anderem, daß Herr Alramseder definitiv unschädlich gemacht worden ist, indem seine eige­ nen Kaffem ihn gelyncht haben, ferner, daß Gottfried einsam und ver­ zweifelt das Petroleumgebiet beaufsichtigt, ohne jede Nachricht von Balailoff, und auf unser Einschreiten hofft und schließlich, daß Henry eine Geschäftsreise nach Spanien zu machen hat, die sich mit einer gemeinsamen Vergnügungsfahrt sehr gut verbinden ließe. Gottfried haben wir dann gleich telegraphisch ausgelöst und mitge­ nommen, da er sehr erholungsbedürftig war, und Baumann hat sich an­ geschlossen, weil, wie er behauptet, die Weiterentwicklung unserer Komplexe ihn lebhaft interessiert. Der Miterbe ist dort geblieben, sein Hotelwirt und er können sich nicht mehr voneinander trennen. Übrigens war das Geld noch nicht wirklich angekommen, als wir abfuhren, aber die Bank gab Vorschuß. Wir hatten die Schiffsbilletts schon bestellt und wollten nicht länger warten. Dummerweise verfehl­ ten wir das Schiff trotzdem, da es jeder Tradition zuwider fahrplanmä­ ßig abgefahren war, und auf der Bahnlinie Genua-Marseille wurde ge­ streikt, man konnte auch damit nicht weiterkommen ... Das Pflichtteil rebelliert also immer noch. Wie oft hat man eine Reise unterlassen, weil man sie sich nicht leisten konnte. Jetzt konnten wir uns einen Ex­ trazug nehmen, aber die Bahnlinie streikte. Kein Mensch wird mir ein­

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reden, daß es wirklich die Eisenbahner sind, die ihre Arbeit niederle­ gen. Die anderen schlugen vor, sich angenehm in Genua zu etablieren und abzuwarten, aber ich bin außerstande, noch auf irgend etwas zu warten, und halte es für besser, die Dinge zu überlisten, wenn sie einen schikanieren wollen. So haben wir uns, da vorläufig kein anderes Schiff in der gewünschten Richtung fuhr, auf einem kleinen spanischen Frachtdampfer einquartiert und hoffen, daß wenigstens dieser irgend­ wann in See stechen wird. Unterwegs kann man dann vielleicht wieder wechseln oder in die Bahn steigen. Es sollen noch zwanzig Kühe ein­ geschifft werden, und das hat seine Schwierigkeiten, räumliche und bü­ rokratische - wir sind darüber noch nicht ganz im Bilde. Einstweilen steht nur soviel fest, daß die Abfahrt spät abends oder in aller Herr­ gottsfrühe vor sich gehen soll, und der >Steward< riet uns dringend, deshalb schon auf dem Schiff zu wohnen. Auf Passagiere, die nicht zur Stelle seien, könne man unmöglich warten, nachdem man schon so lange auf die Kühe gewartet habe. Die Kabinen, wie das ganze übrige Fahrzeug, sind nichts weniger als komfortabel, und man muß die ersehnten Luxusgefühle vorläufig noch verdrängen, wenigstens für die Nacht. Bei Tag gehen wir natür­ lich an Land, erholen uns, schlemmen und kaufen. Unausstehlich ist Baumann, er will immer dabei sein, analysiert je­ de Ausgabe und die Art, wie sie gemacht wird. Ich möchte ihn ans En­ de der Welt schicken, aber es geht nicht, schließlich verdanke ich doch nur ihm, daß ich so lange im Sanatorium bleiben konnte. Ich habe viel zu tun. Unter anderem muß Gottfried angezogen wer­ den, er sah so aus, daß wir uns selbst auf dem Schiff mit ihm genierten. Eben sind die Kühe angekommen, sie werden jetzt verladen, und abends fahren wir ab. Von unterwegs Weiteres.

20 Die anderen schimpfen wie wahnsinnig, daß ich sie zu dieser Fahrt verlockt habe. Es hat gleich ein heilloser Sturm eingesetzt, und sie lie­ gen alle todkrank in ihren Kabinen. Der >StewardEs< hat natürlich alles vorausgewußt. Wie ich diesem Ereignis gegenüberstehe, wirst Du fragen. Aber das weiß ich selbst noch nicht recht. Es hat mich wohl über­ rascht, und ich wollte lieber, es wäre nicht geschehen. Ich habe vorläu­ fig gar keine Lust, darüber nachzudenken. Es wirkte gerade in diesem Moment so absolut kinematographisch, und Du weißt ja, wenn das Le­ ben filmt, ist man immer noch ganz lustig. Wir sind auch einstweilen noch so von der Finanzstimmung in Monte erfüllt, daß sich selbst über die ersten dunklen Stunden ein festlicher Schimmer legte. Lukas empfing mich natürlich mit tragischer Miene und einigen vorwurfsvollen Bemerkungen über unseren letzten Aufenthalt. Es stört ihn, daß wir dort jeuten und jubilierten, während hier die letzte Chance

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einer sicheren Zukunft in die Brüche ging. Und der alte Zank beginnt von neuem: »Es hätte ja doch nicht gereicht.« »Es hätte gereicht, wenn Sie eine Leibrente ...« »Nein, wenn du sofort Goldshares ...«, unterbricht Henry. »Ja, natürlich, und Sie dem Herrn Alramseder ...« »Ist nicht mehr nötig, denn Alramseder hat ausgejobbert«, bemerkt Henry feierlich, und endlich kann ich wieder zu Wort kommen, um ei­ nen vernichtenden Trumpf auszuspielen: »Hätten Sie, Lukas, nur tele­ graphiert, anstatt einen Brief zu schreiben, aus dem niemand klug wer­ den konnte ... so wäre der ganze Schaden überhaupt wieder gutge­ macht. Es ist einzig und allein Ihre Schuld, daß ich heute wieder ohne wirtschaftliche Basis dastehe...« »Stimmt«, sagt Henry, und Lukas ist einen Augenblick sprachlos. »Meine Schuld?« »Allerdings, denn drei Tage vorher hatten wir schwindelhafte Summen gewonnen und hätten wir damals aufgehört...« »Oder wären dageblieben, um weiterzuspielen«, ergänzt Henry, und Lukas erklärt auf das bestimmteste, er würde morgen abfahren, es sei ihm unmöglich, noch länger unter einem Dach mit uns zu bleiben und mit anzuhören, was wir alles getan >hättenHund< sei eines natürlichen Todes gestorben. Somit hat man die Verfolgung des Mörders wieder eingestellt, und der Hotelbesitzer mag erleichtert aufgeatmet haben. Dann ist er zornerfüllt abgereist, wohin, weiß man nicht. Wir haben uns wortkarg, aber doch herzlich voneinander verabschiedet, und Gott allein weiß, ob unsere Wege sich in diesem Leben noch einmal kreu­ zen oder ob wir uns scheiden lassen. Er weiß vielleicht auch, wie sich nun die Dinge weiterentwickeln werden. Ich selbst habe keine Ahnung.

25 Für Deinen Brief und Deine Teilnahme herzlichsten Dank. Nur keine übertriebene Sorge - ich befinde mich im ganzen recht wohl. Unser Dasein steht hier natürlich im Zeichen des Bankerotts, und auch das hat seinen Charme. Henry ist ebenfalls schwer betroffen, denn seine Terraingesellschaft ist im Zusammenhang mit der Bank vollständig aufgeflogen. Er rechnet viel, ist aber voller Zuversicht, daß sich gerade auf diesen Zu­ sammenbruch hin ganz neue Gründungsperspektiven eröffnen. Auf jeden Fall bleiben wir hier. Wir fühlen uns allmählich immer mehr mit diesem Ort verwachsen ... Unter der Bevölkerung herrscht eine trübe und erregte Stimmung, jeder Tag bringt neue Hiobsposten von verkrachten Unternehmungen, schurkischen Aufsichtsräten, die durchgebrannt sind oder sich noch rasch erschossen haben, ruinierten Aktionären und dergleichen mehr. Man fraternisiert mit anderen Mitverkrachten und ist beständig von Leuten umringt, die über Hypotheken, Bodenwerte, Aktien, gestohlene Depositen, sichere und unsichere Papiere reden. Die ganze Atmosphäre

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hat eine kapitalistische Note bekommen, die ungemein wohltuend ist. Unsere Popularität ist ins Ungeheure gestiegen, wir gelten zum minde­ sten für Millionäre, weil wir unsere Verluste mit Würde tragen, und haben schrankenlosen Kredit. So läßt sich’s ganz gut leben. Lukas ist nicht mehr da. Und Baumann hofft immer noch, mich einmal weiteranalysieren zu können, aber ich glaube, es ist nicht mehr nötig. Denn mein Geldkomplex ... Ich gehöre jetzt selbst zu den Gläubigem - der verkrachten Bank natürlich - und das gibt dem Geld gegenüber einen ganz anderen Ge­ sichtspunkt. Wer weiß, ob es mich nicht doch noch respektieren lernt, wie es eben nur Gläubiger respektiert, und auf ebenso unwahrscheinli­ che Weise wiederkehrt, wie es sich verabschiedet hat. Leb wohl, ich will mit Gottfried zum Schneider. Es schadet mei­ nem Ansehen, daß er immer und immer noch ohne Überzieher herum­

läuft. Und um vier Uhr muß ich zu einer Gläubigerversammlung.

Der Selbstmordverein

Cover des Erstdrucks in den Gesammelten Werken von 1925

Die Geschichte fing damit an, daß der junge Baron Henning bei einem Künstlerball eine Dame kennenlemte, die sich Lucy nannte und durch­ aus rätselhaft blieb. Sie war mit einem schwedischen Herrn gekommen und später wieder mit ihm verschwunden - man wußte von beiden nichts Näheres. Lucy war nicht eigentlich schön, aber, wie von allen Sachverstän­ digen festgestellt wurde, ungemein reizvoll, mit einem weißen, sanften Gesicht und einem Mund, der eher zu frechen und pikanten Zügen ge­ paßt hätte. Er war auffallend rot und die Oberlippe kurz, so daß die Zähne stets ein wenig herausfordernd zum Vorschein kamen. Eben in diesen Gegensatz verliebte sich Henning, aber nachdem er einmal mit ihr getanzt hatte, gelang es ihm nicht, ihr mehr nahezukommen und die Bekanntschaft, wie er es gewünscht hätte, festzulegen, so daß eine Fortsetzung folgen konnte. Er wurde sich nicht einmal klar, in welche Sphäre sie einzureihen sei, - vielleicht in die zweifelhafte, es konnte aber auch ein junges Mädchen oder eine verheiratete Frau sein, die im Rahmen des zwanglosen Festes über die Stränge schlug. Der Schwede behandelte sie korrekt und anscheinend mit Hoch­ achtung, sie zeigte auch einwandfreie Manieren, tanzte aber wie toll, völlig hingerissen, man hätte beinah sagen können, disparat, und gegen Schluß des Balles, als die Stimmung den üblichen Höhepunkt vor Schluß und Aufbruch erreichte, schwang Lucy, die Fremde und Unde­ finierbare, sich mit Hilfe ihres Kavaliers auf den Tisch, an dessen Ende Henning mit seiner Gesellschaft saß, und tanzte einen raschen wirbeln­ den Tanz, sprang leichtfüßig wieder herunter und war dann endgültig verschwunden. Henning war schon müde und saß da in einer Art von Betäubung, er sah nur die leichten, wirbelnden Füße in den zierlichsten Schuhen und durchsichtigsten Strümpfen, die man sich denken konnte, die schwarze, funkelnde Seide ihres Kleides, das sich raschelnd drehte, und sah von unten herauf in das schon erwähnte sanfte Gesicht mit den dunklen Augen und dem impertinenten Mund. Dann stand er noch eine Weile vor dem Hotel, während die Gäste sich allmählich verliefen und die Autos nach allen Seiten davonstoben,

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und ging schließlich nach Hause, um bis zum nächsten Nachmittag zu schlafen. Er wohnte damals mit seinem Freund, dem Doktor Burmann, zu­ sammen, der das Fest nicht mitgemacht hatte, denn er war ein vielbe­ schäftigter Arzt und noch spät abends zu einem Kranken gerufen wor­ den. Mit einigen Stoßseufzern über den ewigen Zwang seiner Be­ rufspflichten warf er sich in den Sessel, als man sich gegen fünf Uhr zum Tee zusammenfand, und hörte dann nachdenklich Hennings Be­ richt an. Der lag lang hingestreckt in seinem Schaukelstuhl, den er je­ dem anderen Möbel vorzog, ein wenig übemächtigt und so nervös, daß er jedesmal zusammenfuhr, wenn es draußen klingelte. Das aber ge­ schah des öfteren, denn die beiden Junggesellen machten sozusagen ein Haus. Außer den Konsultationsräumen im Parterre hatten sie eine umfangreiche Etage inne und sahen gerne ihre Bekannten bei sich. Die damit verbundenen Äußerlichkeiten wickelten sich in guter Ordnung und ziemlich unmerkbar ab, eine tüchtige Wirtschafterin, die fast nie zum Vorschein kam, sorgte für den Haushalt, und die sichtbare Bedie­ nung lag dem alten Diener Josias ob, den Henning sich von daheim mitgebracht hatte, und der mit seinem weißen Haar und Bart aussah wie ein greiser König, der seine Krone verloren hat. Und schließlich gab es noch Frau Käthe, Burmanns platonische Freundin, wie sie selbst sich gerne nennen hörte, da sie gleichen Wert auf ihre Bewegungsfrei­ heit wie auf ihren guten Ruf legte. Sie hatten sich schon als Kinder ge­ kannt und pflegten seitdem eine Art geschwisterlicher Beziehung. So ging sie unbekümmert aus und ein, sah ein wenig nach dem Rechten und spielte gelegentlich, wenn man Gäste einlud, die Hausfrau, oder wenn der Doktor schwierige Patienten hatte, auch die Empfangsdame. Im übrigen war sie früh Witwe geworden und hatte keine Lust, sich wieder zu verheiraten. Sie kam denn auch heute, fiel mitten in das Gespräch der beiden Freunde hinein und erklärte in ihrer heiteren, energischen Art, sie mer­ ke wohl, daß sie störe, aber es fiele ihr nicht ein, wieder fortzugehn, im Gegenteil, man müsse ihr helfen, diesen trostlosen Regensonntag tot­ zuschlagen. Damit hatte sie auch schon ihren Pelz mitten ins Zimmer über einen Stuhl geworfen, sich einen bequemen Sessel dicht an den Ofen geschoben und verlangte Tee, einen guten, heißen Tee mit Arrak. Der alte Josias, der sie tief und stumm verehrte, beschleunigte seine

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feierlichen Bewegungen, bis alles Nötige am Platze war, rollte den Teetisch herbei, schenkte ein und verschwand. -------»So, jetzt geht es mir schon besser«, sagte Frau Käthe, »und jetzt soll es meinetwegen weiterregnen, aber zu Hause - mir war heute zumut wie einer richtigen einsamen Witwe, die eigentlich in die Kirche gehen sollte und nachher Wohltätigkeitsbesuche macht.« »Äh, und statt dessen kamen Sie zu uns - zu den Armen im Geist, mit der gütigen Absicht, uns etwas aufzuhellen.« »Er tut uns unrecht«, sagte Burmann, »denn grade heute können wir dir etwas Besonderes bieten, Käthe. Wir haben ein neues Thema.« Henning machte eine ablehnende Handbewegung, aber der andere fuhr unerbittlich fort. »Ein ganz neues Thema, wenn es auch das ewig alte Lied ist...« »O wie langweilig«, meinte Frau Käthe, »also Liebe. Hat sich wie­ der einmal einer von euch verliebt? Das ist doch nichts Neues.« »Freilich etwas Neues und ganz Ungewöhnliches, denn Henning ist seit gestern nacht in ein Phantom verliebt und wird, wie ich ihn kenne, nun diesem Phantom nachjagen, wie er bisher wirklichen und realen Frauen nachlief.« »Wetten, daß sie es auf mich abgesehen hat?« sagte Henning. »Als sie anfing zu tanzen, hat sie mir einen Blick zugeworfen, und als sie aufhörte, eine Bewegung mit der Hand------ « »Aber dann verschwand sie.« »Ich werd’ sie schon wiederfinden ... Wenn ich nur wüßte, was sie mit dem verdammten Schweden zu tun hat.« »Nun, vermutlich hat sie eine Liaison mit ihm.« Henning stöhnte, und Frau Käthe begann nun, viele Fragen zu tun. Sie wollte alles ganz genau wissen und wurde geradezu ärgerlich über die Unterbrechung, als es draußen klingelte, zwei-, dreimal rasch hin­ tereinander. Dann steckte der alte Diener den Kopf in die Tür: »Fräulein Nini«, meldete er vorsichtig und sah seinen Herrn fragend an. »Wegschicken, Josias, ich bin heute durchaus nicht zu sprechen.« Und während das geräuschlos und taktvoll ausgeführt wurde, stöhnte er wiederum ein wenig: »O Gott... wie bin ich all diese Ninis und Lulus müde — Sonntag nachmittag - Dämmerung - Langeweile - pardon, ich nehme an, daß ihr beiden nicht hier wäret - und dann so ein

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herziges Gesichterl mit einem großen Hut oder einem winzigen Hut. Und das setzt sich dann ans Klavier und will mich aufheitem und singt seine Couplets, ein rührsames Volkslied oder je nach dem Niveau auch etwas anderes und will soupieren ...« »Du bist heute absolut wie der Lebemann in einem mittelmäßigen Salonstück«, sagte Burmann. »Schau ihn nur an, Käthe, wie er dasitzt, den Kopf etwas hintenüber, die Haltung müde, die Augen vor lauter Blasiertheit nur noch zwei schwarze Ritzen und - fort mit den Ninis und Lulus - zum Teufel!« »So hör doch endlich einmal auf, von mir zu reden.« »Ja, laß ihn in Ruhe, mir gefallt er heute viel besser als sonst«, und Frau Käthe rückte ihren Sessel ganz dicht zu Henning heran. »Ja, sehen Sie, Baron, unser lieber Hans Burmann ist ein langweiliger Mensch mit seiner Praxis und seinen Zielen, aber wir haben noch Sinn für Roman­ tik und verstehen uns viel besser. Schade, schade, daß sie sich nie in mich verliebt haben und ich hier im Hause nur respektiert und gern ge­ sehen werde------- Aber wie es nun einmal ist, kann ich mich gut hin­ eindenken in diese Geschichte. Es gefallt mir, daß Sie sich in diese unwahrscheinliche Lucy verliebt haben, daß grade Sie endlich einmal hinter einem Phantom herlaufen wollen - ein Phantom mit einem ver­ dammten Schweden - das ist sehr hübsch ... Ach Gott, schon wieder ein Besuch...« »Dies mal wird’s wohl die Lulu sein«, meinte Henning resigniert, »und es war grade so nett, Ihnen zuzuhören ...« Er küßte ihr die Hand. Es hatte wieder geschellt, aber diesmal viel zuversichtlicher als vorhin. Ninis Position war schon seit einiger Zeit ins Schwanken gera­ ten, und das gab sich auch in ihrem leicht vibrierenden Anläuten kund. »Der Herr Vetter und Fräulein Hedy«, meldete Josias mit wohl­ wollendem Lächeln, und schon brachen die beiden Angekündigten mit geräuschvollem Vergnügen ins Zimmer ein, ohne erst abzuwarten, ob sie willkommen waren oder nicht. Es war Burmanns Vetter Georg, ein achtzehnjähriger Gymnasiast, und seine Freundin Hedy, die kaum siebzehn zählte. Die zwei liebten sich, machten hier im Hause kein Geheimnis daraus und wurden wohlwollend protegiert und geduldet. Es war nichts dabei zu machen, auch wenn die Älteren ihre Bedenken hatten, sie waren viel zu überzeugt von ihrer guten Sache und ihren Rechten an das Leben. Man versuchte wohl hier und da pädagogisch

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auf sie einzuwirken, aber es nützte gar nichts. Sie liebten sich und ba­ sta. Sie fanden es herrlich und wollten keinen Moment verlieren und basta. Georg war seinem Äußeren nach ein hübscher Durchschnittsjun­ ge aus guter Familie, Hedy, brünett und lebhaft, aus wohlhabendem Parvenümilieu und nach dem, was sie erzählte, jedenfalls darauf be­ rechnet, nach einer sorgfältigen Erziehung eine gute Partie zu machen. Sie wollten gleich anfangen, von ihren neuesten Eskapaden und Gaunerstreichen zu erzählen, aber es war heute keine Stimmung dafür. Man ließ sie nicht recht aufkommen, versorgte sie nur mit Tee und Sü­ ßigkeiten und fuhr fort, von Lucy und dem gestrigen Fest zu sprechen. »Recht so, Henning«, sagte der kleine Georg, als er erfaßt hatte, worum es sich handelte. »Machen Sie nur einmal Emst und stecken Sie Ihr Roueleben auf - das ist ja langweilig - das ist ja unschön. Grad vorhin sind wir Ihrer Nini begegnet - Sie haben sie wohl wegge­ schickt, und dann läuft sie zu einem anderen, um den Abend totzu­ schlagen. Das ist vielleicht nicht schön von ihr, aber Sie machen sie eben auch nicht glücklich.« »Was wissen denn Sie davon, Sie dummer Bub?« Georg und Hedy sahen sich nur an und platzten vor Lachen. Sie sa­ ßen da und tranken alle süßen Schnäpse aus, die sie nur erreichen konnten. Oh, sie kannten das Leben und waren überzeugt, alle anderen seien nur elende Stümper. Später bestürmten sie Burmann um Geld. Sie brauchten immer Geld, sie mußten Auto fahren, um nicht gesehen zu werden, und heute wollten sie gemeinsam zu Abend essen, denn Hedys Eltern gingen aus. »Kinder, Kinder«, sagte Burmann und warf ihnen ein Goldstück zu, das die Kleine geschickt auffing. Aber sie wurde dunkelrot dabei. »Wär’s hingefallen, so müßten wir darauf verzichten, Herr Doktor, ich kann mir doch nicht so Geld hinwerfen lassen, wie eine ... und Ge­ org erst recht nicht, wenn ich dabei bin.« »Eine feine Lektion, Hedy, ich will’s mir merken. Bleiben Sie nur bei diesen Empfindungen, damit es nicht einmal schiefgeht mit Ihnen.« »Das wird es nie, dazu bin ich viel zu gut erzogen.« Sie lächelte vergnügt und ein wenig zweideutig zu Georg hinüber. Der wurde verlegen: »Du könntest es mir tatsächlich ebensogut in die Hand geben, Hans, oder auf den Tisch legen — und außerdem

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reicht es nicht. Wir müssen Chambre separee nehmen, man kann über­ all Leute treffen.« »Nein, hört einmal, das ist doch etwas reichlich«, protestierte Käthe, die sonst diesem Fall ein wenig ratlos gegenüberstand, »du, Ge­ org, mußt doch an Hedys Ruf denken.« »Ich heirate sie ja.« Sie bekamen nun noch ein zweites Goldstück, welches diesmal in aller Form überreicht wurde, und zogen beglückt vondannen. Es ging jetzt schon gegen Abend, der Regen rann immer weiter gleichmäßig und ermüdend an den Fenstern nieder. Man hörte die beiden jungen Leute auf der Treppe noch lachen, bis die Haustür drunten ins Schloß fiel, und lauschte ihnen unwillkürlich nach. Burmann war aufgestanden und wanderte im Zimmer auf und ab. Dann machte er vor einer Etagere halt, auf der einige indische Nippes standen und betrachtete sie anscheinend mit gespannter Aufmerksam­ keit. »Hast du etwa wieder Verantwortungsgedanken?« fragte Henning. »Nein - Verantwortung stimmt nicht ganz. Es ist nur so ein dum­ mes Gefühl ... Ich hätte mich lieber nicht darauf einlassen sollen, in diesem Babyroman den Mitwisser zu machen. Ich spiel’ da wirklich eine ungeschickte Rolle. Für die beiden bin ich der ältere Vetter, dem man blind vertraut und Geld abknöpft, dafür darf ich dann, wenn’s einmal hapert, mit ihnen durch dick und dünn gehen. Und den etwai­ gen Eltern gegenüber - stellt euch nur den Fall vor, daß etwas auf­ kommt oder es irgendein Malheur gibt...« Er machte eine ironische Grimasse - »Ich bin es so gewöhnt, ta­ dellos dazustehen, und ihr habt alle nichts Besseres zu tun, als mich je­ den Augenblick in eure - Verzeihung - zweifelhaften Abenteuer hin­ einzuziehen.« »Ich doch nicht«, rief Käthe empört. »Nein, du machst eine rühmenswerte Ausnahme. Wenn du welche hast, weiß man wenigstens nichts davon« - ihre Blicke trafen sich ei­ nen Augenblick, und Burmann fühlte eine plötzliche Neugier in sich aufsteigen, ob diese immerhin hübsche und unabhängige Frau, die er wie eine Art Schwester betrachtete, wohl wirklich so ungestört und oh­

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ne Erlebnisse ihren Weg ging. Aber dann bemerkte er, daß Henning ihn fragend ansah, und kam wieder auf seinen Gedankengang zurück. »Nein, mir ist nicht ganz wohl dabei, denn nach meinen bisherigen Erfahrungen gehen die meisten Abenteuer schlecht aus, wenigstens die der anderen ... Mit meinen eigenen Angelegenheiten - es bleiben eben immer Angelegenheiten - habe ich im ganzen weder Glück noch Pech. Das verläuft alles so schön friedlich und mittelmäßig, wie es sich für einen normalen Bürger gehört.« »Meinst du denn, Hans, daß diese beiden Kinder...?« fragte Käthe. »Kinder? Gott, das ist immerhin seine siebzehn oder achtzehn Jah­ re alt und geht, wie du siehst, ohne Gardedame im Chambre separee soupieren. Was soll es da nützen, sie zu warnen?« »Nein«, sagte Henning, während er von seinem Schaukelstuhl aus etwas schläfrig jeder Bewegung seines Freundes folgte, »andere zu warnen, ist die überflüssigste und sinnloseste Beschäftigung, die je er­ funden wurde. Vor was, um Gottes willen, willst du denn mich oder die beiden glücklichen Krabben warnen? Vor dem Unheil, das aus je­ der Freude entstehen kann, einerlei auf welchem Gebiet man sie sucht. Sobald man daran denkt, ist ja auch die Freude hin, wenigstens die richtige, unbefangene«, er hob die Arme und dehnte sich weit hinten­ über mit einem fast verächtlichen Ausdruck um die Lippen, »dann warne lieber gleich vor dem Leben in Bausch und Bogen, das Leben ist ja so bedenklich und riskant auf Schritt und Tritt...« »Sie reden ja ganz weltschmerzlich, Henning, das ist wieder eine neue Nuance bei Ihnen.« »Nein, nur angeödet, teure Frau Käthe. Vor allem liegt mir der Brief von meinem alten Herrn im Magen - Sie wissen ja, er hat sich wieder verheiratet und fängt an, mich mit kleinen Stiefbrüdern zu be­ glücken. Ich gönne es ihm von Herzen, aber meine Situation wird sich sehr verändern, und darüber hält er mir jetzt ausführliche Vorträge. Vorläufig sind es nur Briefe, aber die unangenehmen Tatsachen wer­ den schon folgen ... Sehen Sie, Hans Burmann hat vorhin gesagt, er sei gewöhnt, tadellos dazustehen - und ich bin gewöhnt so zu leben« - er machte eine Geste über das behaglich und elegant eingerichtete Zim­ mer.

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»Das soll ich mir nun abgewöhnen oder einen Beruf ergreifen Sakrament ... Und gerade in diesem Moment läuft mir ein Weib über den Weg...« Burmann hatte mit mehr Teilnahme zugehört, als er sich anmerken lassen wollte, aber nun lächelte er: »Für das du viel Geld ausgeben möchtest, nicht wahr? Lieber Junge, einstweilen ist sie dir doch nur über den Weg gelaufen. Wer weiß, ob du sie überhaupt wiedersiehst. Mir scheint, du brauchst dir einstweilen noch keine Sorgen über eure gemeinsame Zukunft zu machen.« »Und Phantome sind vielleicht nicht so anspruchsvoll«, sagte Frau Käthe tröstend. »Ich bitte euch, laßt eure Witze.« Henning zog nervös die Brauen zusammen, warf einen Blick auf die Uhr und stand auf: »Ich finde sie schon noch. Ach, schell doch dem Josias, da du gerade bei der Tür stehst, Hans. Ich denke, wir ziehen uns jetzt um und gehen essen. Frau Käthe wird inzwischen das Handschreiben meines Vaters lesen ... Ich lade Sie zu einem guten Abendessen ein, Frau Käthe - nicht zum Sou­ pieren, um Sie nicht mit Nini auf eine Stufe zu stellen - Sie sollen selbst Restaurant, Menü und alles, was Sie wollen, bestimmen, und nachher beim Kaffee reden wir ein ernstes Wort über die Zukunft. Ihr müßt mir ein wenig raten.« »Das nützt ja doch nichts, Henning, Ihre Zukunft ... die wird doch immer nur von Ihren Renten abhängen. Außerdem wird es mir nachge­ rade langweilig, daß Ihr mich immer nur in Euren ernsten Angelegen­ heiten zu Rate zieht, jetzt möchte ich auch einmal die frivolen mitma­ chen. Lieber helfe ich Ihnen Lucy suchen ...« Die Ninis und Lulus, die bisher eine ziemliche Rolle in Hennings Le­ ben spielten, hatten jetzt schlechte Zeiten, und über ihn selbst gingen bald trübe Gerüchte um. Es hieß, er sei finanziell ruiniert und habe sich an die vermögliche Frau Käthe Tergens gehängt, die ihn zu heiraten und zu rangieren gedenke. Überall begegnete man den beiden zusam­

men, sie machten alle Vergnügungen der Saison mit, wurden außerdem viel in Restaurants, Tea-rooms, Kaffeehäusern und nächtlicherweile in den Bars gesehen - derselbe Baron Erasmus von Henning, der wohl für einen Lebemann, gleichzeitig aber als einwandfreier Gesellschafts­

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mensch galt, und dieselbe Frau Käthe Tergens, gegen deren unbescholtens Dasein sich bisher keine Beweise hatten aufbringen lassen. Tatsächlich hatten die beiden eine Art Bund miteinander geschlos­ sen, und wie sie an jenem Sonntagabend halb scherzend vereinbarten, gemeinsam die Jagd nach dem Phantom Lucy und dem Schweden auf­ genommen, dem verdammten Schweden, wie man ihn in einer Mi­ schung von Ressentiment und Wohlwollen auch fernerhin bezeichnete ... Die große Chance war, Lucy selbst wieder zu begegnen, aber auch wenn es nur gelang, den Schweden aufzufinden, so ließen sich ja je­ denfalls Anhaltspunkte über ihre Personalien und ihren Verbleib ge­ winnen. In Henning nun hatte sich die Idee festgesetzt, daß er sie schwerlich auf der Straße oder in irgendeinem normalen Tagesmilieu treffen würde, sondern eher wie jenes erste Mal in einer Umgebung von Lärm, Menschenfülle und festlicher Bewegtheit. Als Jagdgründe galten daher vor allem die Stätten des Vergnügens, und zwar durchmaß man die vornehmeren wie die minderwertigen und zweifelhaften, da man ja über Lucys soziale Sphäre, über ihre Neigungen wie über alles andere vollkommen im unklaren tappte. »Ich taxiere sie auf Typus >Schlangejetzt fällt es uns erst recht nicht mehr ein, auf Musterknaben zu posierensie< es nicht wollte.« »Was hast du denn nachher noch mit ihr gesprochen?« »Nichts. Sie hat nur geweint, und ich habe sie getröstet, bis dann der Papa kam.« Henning richtete sich auf und wurde sehr unruhig. Die ganze Szene stand wieder deutlich vor ihm, und ihm schien, als sei er gestern in un­ begreiflicher Unachtsamkeit an etwas vorbeigegangen, was ihm jetzt erst in der richtigen Beleuchtung erschien. Hedy hatte geweint wie eine völlig Verzweifelte und hatte sich überhaupt benommen wie jemand, der Abschied nimmt. Er sagte jedoch nichts weiter darüber, sondern stand nun ebenfalls auf und machte eilig Toilette. Die elektrischen Lampen brannten noch, während es draußen längst hell geworden war. Henning warf ungedul­ dig alles durcheinander, was ihm in die Hände kam und blieb dazwi­ schen unentschlossen stehen, um einer Vermutung nachzugehen oder zu hören, was Burmann sagte. Es war eine Stimmung wie inmitten ei­ nes Aufbruches, einer plötzlichen Veränderung des Bisherigen in ei­ nem Milieu, wo man nicht an unerwartete Ereignisse gewöhnt ist. Dann gingen sie zusammen hinunter, und Josias brachte das Früh­ stück. Wie er gestern Hedy mit einem guten Kaffee trösten wollte, so suchte er jetzt auf die beiden Freunde durch besonders liebevolle Be­ dienung beruhigend einzuwirken. Er schenkte ihnen ein, was sonst je­ dem selbst überlassen blieb, reichte ihnen zu, was sie brauchten und blieb dann abwartend im Hintergrund stehen. Man ließ ihn gewähren, er gehörte ja mit dazu und war von großer Besorgnis erfüllt.

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Henning meinte, man müsse vor allem zu erfahren suchen, ob auch Hedy nicht heimgekommen sei ... Sie besuchte die Selekta einer Mäd­ chenschule, und die Schule lag in der Nähe jenes Postamts, wo er sie damals mit Georg getroffen hatte. Das ließ sich leicht erfahren, er selbst wollte um die Mittagszeit hingehen, und falls Hedy nicht sicht­ bar würde, eines der anderen Mädchen fragen. »Gut«, sagte Burmann, »und ich patrouilliere um die gleiche Zeit vor dem Gymnasium - dann treffen wir uns. Natürlich frage ich vorher noch einmal an, ob Georg inzwischen nach Hause gekommen ist. Vielleicht löst sich der ganze Schrecken in eine neuerliche, noch etwas gewagtere Eskapade der beiden auf. Es wird nun aber doch allmählich zu arg, und das sollen sie mir entgelten. Man hätte wohl Besseres zu tun, als sich um die zwei zu ängstigen und Detektiv vor den verschie­ denen Kinderschulen zu spielen ... Übrigens, ich gestehe, daß ich vor­ hin gründlich erschrocken war, aber jetzt bei Tageslicht kommt es mir übertrieben vor, sich so verhängnisvoll zu gebärden, weil ein dummer Junge eine Nacht nicht nach Hause kommt. Vielleicht haben sie nur wieder gebummelt, und er ist bei einem seiner Bekannten geblieben.« »Gut, versuchen wir es wieder mit Optimismus«, sagte Henning. »Dein Kaffee, Alter, hat Wunder getan an uns ... bei Hedy wollte er gestern nicht viel anschlagen ... Und du übernimmst den Telephon­ dienst, während wir weg sind. Ist etwas zu melden, so sage es mir zwi­ schen eins und drei Uhr ins Hotel. Dann bringe ich meinen Vater an die Bahn und komme selbst wieder her.« Burmann machte sich auf, um einen Kollegen zu bitten, er möge ihn heute nachmittag vertreten, und Erasmus ging gleich in die Stadt. Vielleicht gab es der Zufall, daß er den beiden Sündern begegnete. Er ging einige Male durch die Hauptstraßen und dann in eine Konditorei, wo er wußte, daß sie häufig verkehrten. Dort fragte er ganz beiläufig, ob sie gestern hier gewesen seien. »Nein, vorgestern war die junge Dame da und holte ein Paket ab, was sie hier gelassen, seitdem nicht mehr.« Henning saß am Fenster und sah über seine Zeitung hinweg hinaus, viele Unbekannte und hin und wieder auch Bekannte kamen vorüber, mit flüchtigem Seitenblick, wie man im Gehen die Fenster von Läden und Lokalen streift. Das bedienende Mädchen ordnete et­ was am Nebentisch und sagte zu ihm hinüber: »Die Herrschaften kommen immer nur nachmittags.« Henning gefiel ihr, und es erweckte

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ihr Interesse, daß er so teilnahmslos vor sich hinsah, sie hätte gerne ein Gespräch mit ihm angefangen, aber er hatte keine Lust. Der Vormittag nahm kein Ende, endlich war es halb zwölf, er er­ kundigte sich nach der Mädchenschule und schlenderte dort auf und ab, bis es Mittag schlug. Bald nachher kamen Scharen von Kindern und halbwüchsigen Mädchen aus dem Gebäude, die größeren folgten etwas später, gingen langsamer und meist zu zweien oder dreien. Auch Lehrer und Lehrerinnen kamen vorbei und sahen ihn mißtrauisch oder neugierig an. Er war auf dem Trottoir stehengeblieben und musterte die einzelnen Gruppen. Hedy war nicht darunter, aber er glaubte das Mäd­ chen zu erkennen, das sie damals begleitet hatte und dann fortlief, als er und Georg kamen. Auf alle Fälle, ob sie es nun war oder nicht, warf er ihr einen vielsagenden Blick zu und winkte mit den Augen. Sie stutzte, ihre Gefährtinnen lachten und machten Bemerkungen. Dann machte sie sich von ihnen los und schlug die entgegengesetzte Rich­ tung ein. Henning folgte ihr ohne weiteres, sie wandte sich auch halb um und erwartete wahrscheinlich ein Abenteuer ... Nun zog er den Hut und sprach sie an. Es war ein schlankes Mädchen mit einer dicken Franse über der Stirn und lustigen Augen. Die lustigen Augen wurden zwar einen Moment beleidigt, als sie begriff, daß es sich gar nicht um sie handelte, aber das ging rasch vorüber. Es bedeutete immerhin ein Erlebnis, daß ein schöner, eleganter Mann hierher kam, um über wich­ tige Dinge mit ihr zu sprechen. Ja, sie war Hedys Freundin und in de­ ren Liebeshandel eingeweiht. Bei ihr wurde Hedy eingeladen, wenn es sich um einen Vorwand zum Fortbleiben handelte. Aber gestern und heute war sie nicht in die Schule gekommen, vielleicht war sie krank. Die Freundin erbot sich, gleich nach Tisch hinzugehen und sich zu erkundigen. »Ja, tun Sie das«, sagte Henning und sah auf die schmale Gestalt, die mit der Schulmappe neben ihm hertrabte. Nun erzählte er ihr, daß auch Georg verschwunden wäre. »Dann sind sie sicher zusammen durchgebrannt«, rief das Mädchen erregt. »Hedy wollte doch immer zum Theater gehen.« »Ja, liebes Kind«, sagte er sehr überlegen, »das ist ja ein ungeheu­ rer Unsinn. Aber ihr seid alle gleich, ihr stellt euch das vor wie in ei­ nem Roman: Ach, wie spannend! Man brennt durch, man geht zum

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Theater, und alles ist auf das angenehmste erledigt, man kann das Buch zuklappen. In Wirklichkeit aber gerät man in eine Sackgasse von Un­ möglichkeiten.« »Ich weiß«, meinte das Mädchen kleinlaut, »solange man nicht mündig ist —« »Es kann eine schöne Geschichte werden«, fuhr Henning ingrim­ mig fort. »Ein Aufruhr unter allen Eltern und Verwandten und was weiß ich ... Die beiden Missetäter wird man bald gefunden haben und ihnen kein angenehmes Dasein bereiten. Hüten Sie sich nur davor, kleines Fräu­ lein, auf ähnliche Dummheiten zu verfallen ... und jetzt gehen Sie heim, später sprechen Sie bei Hedys Eltern vor und bringen mir Nach­ richt ... ja wohin? ...« Er überlegte und verabredete dann, daß er sie nachmittags in jener Konditorei treffen wollte. Der Backfisch gab ihm die Hand, schaute ihn an und verschwand, erfüllt von der Wichtigkeit seiner Mission. Henning sah ihr nach. Das ging nun wahrscheinlich den ganzen Tag so fort, daß man sich traf, suchte, auf Nachrichten wartete. Die Spannung des Morgens hatte schon nachgelassen, man wurde nervös und unlustig, fühlte sich ver­ sucht, die Dinge einfach ihren Weg gehen zu lassen und sich ins All­ tägliche zurückzuziehen, zum Beispiel Käthe aufzusuchen und ein be­ langloses Gespräch mit ihr zu führen. Es war halb eins, und er mußte sich eilen, um Burmann nicht zu verfehlen, der ihn schon an der vereinbarten Stelle erwartete und sich in ähnlicher Stimmung zu befinden schien. »Man kommt sich ja ein­ fach dumm vor«, sagte er, »läuft da herum wie ein Narr, ängstigt sich, blamiert sich, und die beiden sitzen derweil irgendwo im Versteck und amüsieren sich königlich ... Also, Hedy ist auch verschwunden, Georg nicht wiedergekommen. Seine Mutter ist außer sich und meint nun, es sei ihm etwas zugestoßen. Es nützt ja nichts, daß ich hingehe und sie zu trösten versuche. Irgendwie und -wann wird sich ja der Sachverhalt herausstellen, und die hoffnungsvollen Sprößlinge werden auslöffeln müssen, was sie sich eingebrockt haben ... Ich glaube, es ist am ge­ scheitesten, wenn wir jetzt einfach die Finger davon lassen.« »Wen hast du denn dort gesprochen - seine Freunde?«

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»Ja, die Jünglinge vom Selbstmordverein. Sie waren feierlich und verschlossen. Gesehen hätten sie ihn nicht und wüßten nicht, was er vorhabe. Als ich mit ihnen sprach, kam der Klassenlehrer vorbei, besah sich die Jungen voller Argwohn und fragte, was ich wünsche. Oh, nichts Besonderes, ich kam zufällig in der Gegend und wollte meinen Vetter, Georg Burmann, abholen. - Der fehle seit zwei Tagen, er wolle sich heute erkundigen lassen, ob er krank sei. Darauf warfen sich die Jungen Verschwörerblicke zu, etwa so: Wir halten zusammen und ver­ raten nichts. - Sie wissen sicher ganz genau Bescheid.« »Und jetzt?« »Jetzt kümmern wir uns vorläufig nicht weiter darum und lassen die leidige Affäre auf sich beruhen. Nach Tisch werde ich dann noch einmal mit Georgs Mutter sprechen.« Der Vater ging vor dem Hotel auf und ab, als sie ankamen, und wärmte sich an der mittäglichen Märzsonne. Er bedauerte, daß er nicht noch länger bleiben könne und betrachtete das Straßenbild, das gerade hier in der Nähe des Bahnhofs sehr belebt war, mit etwas leerem, ge­ spanntem Blick, wie man Dinge ansieht, die einen im Grunde nichts mehr angehen. »Ich glaube, am schwersten fällt dir der Abschied vom Stadtleben«, sagte Erasmus, »hoffe aber, daß dir auch unsere Gesellschaft fehlen wird, wenn du wieder nur deine Gutsnachbam um dich hast und die unvermeidlichen Gespräche über Pferdehandel und Emteaussichten.« Der alte Herr war heute ziemlich abwesend, als sei schon ein Teil seines Wesens auf der Reise. Die Worte seines Sohnes erwiderte er mit einem konventionellen Lächeln, von dem auch der Doktor seinen Teil bekam. »Gewiß ja, ich werde eure angenehme Gesellschaft sehr entbehren. Im übrigen magst du recht haben: mir ist das Landleben, oder sagen wir lieber das Leben auf meinem Gut, eine liebe und vertraute Ge­ wohnheit, aber im Grunde bleibt man doch immer Stadtmensch. Wenn ich nicht so gebunden wäre ...« »Das ist deine eigene Schuld ... wärst du Junggeselle geblieben, so könnten wir uns hier ein gemütliches Leben zusammen machen ... Nun gehst du wieder fort, und wer weiß, wann und unter was für Umstän­ den man sich wiedersieht.«

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»Bitte, nur keine graue Abschiedsstimmung«, warf Burmann da­ zwischen, während sie die Stufen zum Hotel emporstiegen. »Zu einem guten Abschied gehört, daß man das Vergangene wie das Kommende mit Wohlwollen ins Auge faßt.« »Aber der Papa ist heute düster gestimmt, ich übrigens auch«, sagte Erasmus. »Um dem abzuhelfen, wird man jetzt sehr gut essen, einige Flaschen trinken und dann ...« »Dann kehrt der gestürzte Minister in sein Exil zurück«, bemerkte der Vater trocken, als sie an dem großen Spiegel in der Halle vorbei­ kamen und er sich des ersten Abends erinnerte. Sodann richtete er sich straff empor und sah so unerreichbar vornehm aus, als ob er noch um Königreiche zu würfeln habe. Diese Haltung behielt er halb ironisch bei, zeigte sich während der Mahlzeit, die als stilgemäßes Junggesel­ lendiner begangen und endlos ausgedehnt wurde, von seiner beste­ chendsten Seite, erzählte Anekdoten von seinem betrügerischen In­ spektor und von seinen Gutsnachbam, die er freundlich verachtete, und spöttelte über das schlimme Geschick, das über dem Hause Henning waltete. Er behandelte dieses Geschick gewissermaßen, als sei es seine Tischdame, mit der er eine sarkastische Konversation zu führen habe. So kam der leichte, gleichgültige Ton, den alle wünschten, anschei­ nend mühelos zustande, und es waren vielleicht die heitersten Stunden, die man zusammen verlebt hatte. Die Flaschen wurden leer, der unruhige, bedrückende Morgen ver­ schwand wie hinter einem Schleier. Man dachte kaum mehr daran, bis gelegentlich der Hotelbesitzer durch den Saal ging, an dem Tisch ste­ henblieb und den scheidenden Gast in ein längeres Gespräch verwikkelte. Er begann mit einigen Worten des Bedauerns, daß der Herr Ba­ ron wieder abreisen wolle, hoffte, er sei mit seinem Aufenthalt hier im Hause zufrieden und würde dasselbe bei nächster Gelegenheit wieder beehren, machte dann einige allgemeine Bemerkungen über Tageser­ eignisse und erzählte schließlich, daß sich eben jetzt die Nachricht von einem sensationellen Selbstmord verbreitet habe - ein blutjunges Lie­ bespaar, beide aus bester Familie, hatte sich in den Anlagen außerhalb des westlichen Stadtviertels zusammen erschossen ... Es hieß, man ha­ be sie trennen wollen ... es hieß, das Mädchen sei von seinen Eltern verstoßen worden, es hieß ... Der Mann stand da mit seiner behäbigen Gestalt und seiner lässigen Kellnergrazie und sprach mit häufigem

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Achselzucken und nicht ohne Bewegung über die verschiedenen Ge­ rüchte, die wie immer bei derartigen Ereignissen die Gemüter erhitzen. Dann kam er wieder auf den Fremdenverkehr und sein Hotel zurück. Die beiden Freunde waren ihm dankbar für seine Gesprächigkeit, die sich vor allem an den alten Baron wandte und von diesem wortkarg und gelangweilt erduldet wurde. Sie beherrschten sich, wechselten nur ein paar leise Worte miteinander und versuchten noch einmal, die end­ gültigen Befürchtungen abzuwehren, die sich ihnen jetzt wieder auf­ drängten. Es war ja noch nicht gesagt, daß es jene beiden waren, es war nicht einmal sehr wahrscheinlich. Ebensogut konnte es sich um das gemeinsame Ende irgendwelcher fremder und gleichgültiger Menschen handeln. Endlich ging der Wirt, und Burmann verabschiedete sich unter dem Vorwand eines ärztlichen Besuches, um gleich nach der Polizei zu fah­ ren und sich über den Fall zu erkundigen. Erasmus überwachte indessen die Abreise seines Vaters, es schien ihm jetzt, daß dieser gerade im rechten Moment abfuhr, und er fürch­ tete beinah, er möchte den Zug versäumen. Er ging mit ihm in das Zimmer hinauf, und während der alte Herr langsam und exakt die letzten Vorbereitungen traf, erwähnte er in kurzen Worten das Ver­ schwinden der beiden und daß man nicht ohne Sorge um sie sei. Der Vater hörte nur halb hin, fand es bedauerlich und aufregend, war aber mit seinen Gedanken bei Kofferschlüsseln und ähnlichen Dingen und drängte zur Eile. Als alles erledigt war, blieb ihnen am Bahnhof noch eine halbe Stunde. Das Restaurant war überfüllt und ungemütlich, des­ halb blieben sie auf dem Perron und gingen langsam auf und ab. Als die Reisenden allmählich anfingen einzusteigen, kam Burmann durch das Gedränge auf sie zu. Sein Ausdruck war verschlossen und hart, er ging wie jemand, der große Eile hat. »Beinah zu viel Liebenswürdigkeit, Herr Doktor«, sagte Henning senior, hielt dann plötzlich inne und sah ihn erstaunt an. Alle drei stan­ den einen Moment schweigend und wie verlegen da. »Was ist denn?« fragte der Baron, »ist etwas Schlimmes passiert?« »Ja«, antwortete Burmann, wie wenn er als Arzt über einen ernsten Fall zu berichten hätte. »Man hat uns vorhin im Hotel von einem Lie­ besdrama erzählt ... Sie haben vielleicht nicht so darauf geachtet, Herr Baron. Uns beide dagegen hat es gleich beunruhigt, da mein Vetter und

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das junge Mädchen seit gestern vermißt wurden. Ich war jetzt auf der Polizei, dann in der Leichenhalle - es stimmt alles, sie sind tot, die beiden ... Sinnlos ist die ganze Geschichte«, fugte er hinzu, nur um weiter zu sprechen, da niemand etwas sagte, »so unnötig. Warum gleich sterben? Aber da ist jetzt nichts mehr zu machen, sie sind tot.« Erasmus sprach keine Silbe und schien weder erregt noch er­ schrocken. Ihm war, als hätte er es die ganze Zeit schon gewußt, und es sei ihm jetzt nur offiziell bestätigt worden. Er sah gradeaus auf die große Bahnhofsuhr - fünf Uhr zehn ... gestern um diese Zeit lebten sie wohl noch, dachte er ... wo mögen sie da gewesen sein ... was sprachen sie miteinander? und wie stellten sie sich die Sache vor? ... Und wir machten Abschiedsbesuche ... vielleicht hätte man es noch verhindern können, oder auch nicht. Der Vater dagegen, den es doch am wenigsten anging, war sicht­ lich schwer erschüttert. »Mein Gott«, sagte er einmal über das andere, und seine Lippen zuckten, als hätte ihn selbst etwas Schweres betrof­ fen. Dann suchte er nach passenden Worten, die der Situation entspra­ chen. Den ganzen Zug entlang stiegen immer hastiger die Leute ein, hier und dort wurden schon die Türen zugeschlagen. »Es ist Zeit, Papa«, sagte Erasmus, »grüße zu Hause und schreibe mir bald.« Es fiel ihm auf, daß der Vater blaß geworden war und ihm mit einer wunderlichen Besorgnis in die Augen sah, als wollte er sich nach seiner inneren Verfassung erkundigen ... Aber als er dann einge­ stiegen war und am Coupefenster erschien, hatte er seine Haltung schon wieder korrigiert, nur das Lächeln ließ er fort, weil es jetzt nicht am Platz war. Dann fuhr er in den Abend hinaus, und man sah ihm nach, worauf die beiden anderen den Heimweg antraten. Die Straßen waren hell erleuchtet und der Himmel voll schwarzer Frühlingswolken. »Erzähl mir nichts«, sagte Erasmus hastig, aber nach einer Weile begann er dennoch ausführlich nach allen Einzelheiten zu fragen, als sei das Sensationelle daran noch das einzige, was es etwas erträglicher machte. Viele Einzelheiten gab es übrigens nicht zu be­ richten. Geschehen war es mutmaßlich heute morgen in aller Frühe oder noch in der Nacht. Ein Parkwächter hatte sie in den Vormittags­ stunden gefunden, und da Georg eine Brieftasche mit Visitenkarten bei sich trug, war seine Persönlichkeit ohne weiteres festgestellt worden.

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Wer das Mädchen war, wußte man nicht, Burmann hatte ihre Persona­ lien angegeben. Nun würde er gleich zu Georgs Eltern gehen müssen ... Er sprach rasch und einsilbig und hielt es wohl für besser, das Ge­ fühlsmäßige einstweilen auszuschalten und sich um so intensiver dem geschäftlichen Teil der Sache zu widmen. Henning empfand eine Art von Eifersucht, Burmann war doch we­ nigstens irgendwie beteiligt, er selbst stand wie ein müßiger Zuschauer mit den Händen in der Tasche, und was er fühlte, kam für niemand in Betracht. Er wollte den Abend nicht allein verbringen und beschloß, Käthe aufzusuchen. »Tu das«, sagte Burmann, »besser, sie erfährt es jetzt durch dich als morgen durch die Zeitung oder durch gleichgültige Leute. Sie ist sehr sensibel.« »O nein, ich möchte gerade mit ihr zusammen sein, als ob nichts geschehen wäre.« Sie trennten sich. Erasmus ging zu Käthe, und sie freute sich über den unerwarteten Abendbesuch. Es traf sich, daß sie wegen Kopf­ schmerzen eine Einladung abgesagt hatte und nun gezwungen war, zu Hause zu bleiben. Sie ließ ein kleines Souper herrichten, nachher lag sie noch etwas matt auf der breiten Chaiselongue, zwischen einem Wald von weichen seidenen Kissen und ließ sich von Henning bedie­ nen und unterhalten. Er tat sein Bestes, war sehr gesprächig, und Käthe erklärte sich zu­ frieden. »Ein so guter Causeur wie Ihr Papa sind Sie noch nicht«, meinte sie, »aber Sie machen doch Fortschritte ... Was werden wir denn nun machen, wo er wieder fort ist? Wollen wir wirklich wieder nach Lucy suchen?« »Ich glaube nicht. Wir haben sie mit unserem Suchen nur verjagt. Es nützt nichts mehr.« »Und wieder abends in den Bars tanzen«, sagte Käthe nachdenk­ lich, »aber hoffentlich ohne diesen peinlichen Kommerzienrat. Apro­ pos, was ist denn daraus geworden?« »Ich weiß nicht«, sagte Erasmus rasch, »man wird es schon erfah­ ren.« »Haben Sie die Kinder seitdem nicht mehr gesehen?«

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»Nein, seitdem nicht mehr, ich war gestern und heute immer mit dem Papa zusammen.« »Wenn der Schönlank mir nicht so unendlich widerwärtig wäre«, begann Käthe von neuem, »so könnte ich eigentlich ein Wort für Hedy bei ihm einlegen. Ich habe sowieso in einer Geschäftssache mit ihm zu tun, und anstatt es telephonisch zu erledigen ... ja, ich werde morgen in seinem Büro vorsprechen. Es war doch zum Teil meine Schuld, daß die Kinder dorthin kamen. Wer weiß, was das arme Mädel für Unannehm­ lichkeiten davon hat. Wir sind schlechte Kinderhüter, Henning.« »Ja, das sind wir«, bestätigte er, »aber jetzt ist es zu spät.« »Wieso zu spät?« »Man hätte gleich etwas tun sollen, den nächsten Tag. Und nun hö­ ren Sie bitte auf, von diesem Typ zu sprechen. Er kommt mir vor wie der Satan in einem Märchen.« Er stand auf und machte einen Gang durch das Zimmer, das halb im Dunkeln lag, nur der Platz bei der Chaiselongue mit dem Tischchen davor war beleuchtet. »Ich könnte mir wohl denken, daß er einen Pferdefuß hat«, sagte Käthe von ihrem Lager her. Die ganze Sache in der Bar drängte sich ihm wieder auf, vor allem die Figur des Herrn Schönlank mit seinem soignierten Äußeren und dem kulanten Lächeln ... er sah tatsächlich so aus, wie man sich einen Geschäftsfreund vorstellt. Erasmus schwelgte förmlich in seiner Anti­ pathie gegen ihn, obgleich er einsah, daß man ihm keinerlei Schuld beimessen konnte. Georg und Hedy waren jedenfalls seitdem nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, und sein Verbrechen bestand nur darin, daß er über­ haupt zugegen gewesen war. Dann versuchte er darüber nachzudenken, warum die beiden nicht mehr hatten leben wollen, aber Käthe hob den Kopf von ihren Kissen und beunruhigte sich über sein sonderbares Wesen. So kehrte er in den Umkreis der Lampe zurück. »Sicher hat er den«, sagte er als Antwort auf ihre Bemerkung von dem Pferdefuß des Kommerzienrats, »oder er hat den bösen Blick oder etwas Ähnliches. Und solche Leute sollte man meiden.« Sie lachte und meinte, sie sei sehr müde.

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»Sie werden jetzt heimgeschickt, es war ein sehr hübscher häusli­ cher Abend. Nun werden wir alle einmal gründlich ausschlafen, ehe wir unsere folies communes wiederaufhehmen. Das junge Volk aber darf nicht mehr mit.« »Nein, das nehmen wir nicht mehr mit«, antwortete er und küßte ihr die Hand. »Und wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so gehen Sie morgen nicht zu dem Mann mit dem Pferdefuß. Ich nehme Ihnen den Gang nächster Tage mit Freuden ab.« Halb im Scherz ging sie darauf ein, dachte aber anderen Tags nicht mehr daran und suchte dennoch den Kommerzienrat in seinem Büro auf. Sie wollte ihn bitten, doch dem jungen Mädchen keine Schwierig­ keiten zu bereiten, ihm sagen, daß es ihr persönlich bekannt sei und sie fortan ein wachsames Auge auf die kleine Liebesgeschichte haben würde. Man ließ sie im Vorzimmer warten, dann kam Schönlank von draußen im Zylinder mit Trauerflor, er hatte eben seinen Kondolenzbe­ such bei einer befreundeten Familie gemacht, deren Tochter ... er ließ Käthe in das Büro eintreten, stellte den Zylinder auf ein spiegelblankes Tischchen und fuhr sich über die Stim ... »eine unbegreifliche Ge­ schichte ... ein blutjunges Ding aus angesehener Familie und mit einem Liebhaber in den Tod gegangen ...« »Gott, wie traurig«, sagte Käthe, die sich niedergelassen hatte und mechanisch den Zylinder auf dem blanken Tischchen betrachtete. Der Kommerzienrat warf sich noch in voller Gemütsbewegung ebenfalls auf einen Sessel, sah Käthe an und schien über etwas nachzudenken. »Entschuldigen Sie mich, gnädige Frau, ich verliere sonst nicht so leicht die Contenance, aber dies geht mir nah, ich muß mich erst einen Augenblick sammeln, dann wollen wir Ihre Angelegenheit besprechen. Die Papiere sind da, es ist alles in Ordnung.« »Der Mann mit dem Pferdefuß scheint doch ein Herz zu haben«, dachte sie. Er erhob sich wieder, ging an einen Geldschrank und schloß ihn auf. Käthe mußte an einen albernen Film denken, den sie neulich gese­ hen. Da schloß ein ruinierter Bankier mit genau derselben Geste seinen völlig leeren Kassenschrank auf, holte aus einer Ecke desselben eine Schnapsflasche und ein Gläschen hervor und trank sich Mut an. Es hätte sie gar nicht verwundert, wenn jetzt Schönlank es ebenso ge­

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macht hätte. Aber er nahm nur ein Kuvert mit Papieren heraus und legte es vor sie hin, dann saß er ihr wieder gegenüber. »Sie haben ja übrigens das Mädchen neulich gesehen«, sagte er, immer noch ergriffen, »an dem Abend, wo ich das unerwartete Ver­ gnügen hatte, Sie in einer Bar zu treffen ...« Er sprach nun noch des längeren über das Mädchen und dessen El­ tern, mit denen er seit langem bekannt war, über Jugend, über Fehltritte und Selbstmorde. Käthe hörte ihm schweigend und wie gelähmt zu und beeilte sich dann fortzukommen. Ihr war nachher, als habe sie stun­ denlang dagesessen und nicht einmal die Augen bewegen können, während Schönlank sie lauernd beobachtete. Aber er dachte gar nicht daran, ihm war nicht das Geringste in ih­ rem Wesen aufgefallen, und er kam nicht einmal auf den Gedanken, daß sie das Mädchen näher gekannt habe. Er war überhaupt ein ziem­ lich harmloser Mensch und hätte sich sehr verwundert, daß man ihn so wenig leiden konnte und ihm eventuell teuflische Qualitäten, sei es auch nur einen Pferdefuß, zutraute. Und sein Mitgefühl für den schwer betroffenen Geschäftsfreund, Hedys Vater, war durchaus aufrichtig.

Was die beiden jungen Leute zum Sterben veranlaßt und wo sie sich den Tag vorher aufgehalten hatten, wurde in keiner Weise näher auf­ geklärt. Man mußte wohl annehmen, daß es ein ganz momentaner Ent­ schluß gewesen sei. Wenigstens Georg hatte keine Zeile an seine An­ gehörigen hinterlassen, und wie Hedy es damit gehalten, darüber erfuh­ ren Henning und seine Freunde nichts ... Es bot sich keine Möglichkeit, mit ihren Eltern in Beziehung zu treten, sie hatten jeden dahingehenden Versuch seitens der Burmannschen Familie abgelehnt und blieben an­ onym, die Mutter, welche die Schuhe ihrer Kinder vergolden ließ, und der Vater, der ein Geschäftsfreund des Herrn Schönlank war. Man wußte nicht einmal, wann und wo Hedy begraben wurde, die Eltern hatten sie reklamiert, und es schien, als sei jede Spur von ihr ausgelöscht. Georgs Begräbnis dagegen wurde von einem der Familie naheste­ henden Geistlichen in der herkömmlichen Weise begangen. Auch Henning und Burmann waren hinausgefahren, der Friedhof lag weit draußen vor der Stadt. Burmann, als Verwandter, stand neben seinem Onkel, während Henning sich möglichst im Hintergrund hielt. Wäh­

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rend der Rede des Geistlichen, der die unfaßliche Verirrung eines ju­ gendlichen Gemütes beklagte und Vergebung dafür erflehte, sah Hen­ ning eine Gruppe von vier Schülern in seiner Nähe ... Es fiel ihm auf, daß sie abgesondert dastanden und von der übrigen Trauerversamm­ lung hier und da mit wenig sympathischen Blicken gestreift wurden, auch der Prediger schaute mehr als einmal verhängnisvoll zu ihnen herüber. Die vier trugen Trauerflor am Arm und schauten regungslos auf das Grab. Der Selbstmordverein, dachte Erasmus. Er behielt die Jungen im Auge, und als die Versammlung sich auflöste, gesellte er sich zu ihnen und fing ein Gespräch an. Sie gingen dann gemeinsam zwischen den langen Gräberreihen entlang über den Friedhof und kehrten zu Fuß nach der Stadt zurück. Die Jungen waren bedrückt und erregt, nun hatten sie schon den zweiten aus ihrer Mitte begraben sehen, und diesmal war auch noch ein Mädchen dabei gewesen, das sie alle kannten. Sie fühlten sich wie in einem Schauerroman, der immer neue Fortsetzungen haben konnte. Gegen Henning verhielten sie sich anfangs etwas reserviert, allmählich aber tauten sie auf und erkannten ihn als guten Bekannten Georgs an. Schließlich lud er sie in ein Weinrestaurant ein, er fühlte eine Art Verpflichtung, die jungen Leute etwas aufzuheitem, zum mindesten die öde Friedhofsstimmung zu verscheuchen, die so beklemmend und nutzlos auf den Lebenden lastete. Als das nicht recht gelingen wollte, versuchte er es mit einem anderen Ton. »Was da geschehen ist, stellt Sie gewissermaßen vor eine Aufga­ be«, sagte er zu dem, der ihm der Anführer zu sein schien - er sprach am meisten und sah am erwachsensten aus. »Sie müssen darauf achten, daß keiner mehr folgt. Die Pflicht des Selbstmordvereins ist jetzt, am Leben zu bleiben.« Wider Willen lächelten sie alle vier, und der Anführer sagte: »Aber bitte nennen Sie uns nicht so, wir haben doch nie im Emst einen sol­ chen Verein gründen wollen. Das war so Gerede, wie man eben manchmal spricht, und vor allem sollte es ganz unter uns bleiben.« »Ich weiß«, sagte Henning, »dasselbe hat mir Georg schon einmal gesagt.« »Aber jetzt ist der Verein nicht mehr auszustreichen«, bemerkte ein anderer, ein Schwarzhaariger, Eleganter, der so aussah, als ob er ein­

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mal viele Abenteuer und Schulden haben würde. Die übrigen waren uninteressant und verhielten sich schweigend. Dann wollten sie gehen. Kam einer von ihnen jetzt nicht rechtzeitig nach Hause, so war man gleich in Angst, es sei wieder ein Unglück ge­ schehen ... Henning schenkte ihnen noch einmal ein: »Sie können mich ja von jetzt an als außerordentliches Mitglied betrachten«, sagte er zwischen Scherz und Emst. »Ich bin im Prinzip durchaus dafür. Nur nicht in Ih­ rem Alter, da soll man noch warten.« Die beiden Indifferenten lächelten wieder, die anderen blieben ernst und stießen nicht ohne Feierlichkeit mit ihm an.

Ein halbes Jahr war seitdem hingegangen, ein Frühling, ein Sommer, und man war wieder mitten im Herbst. Von den beiden Toten wurde öfters noch gesprochen, aber ihre Gestalten verblaßten immer mehr und rückten schattenhaft in die Feme, wie alle, die nicht mehr da sind. Henning hatte angefangen, sich um seine Karriere, die ihn im Grunde so wenig interessierte, zu bekümmern, er kultivierte die Bezie­ hungen, die sein Vater ihm angeraten, und arbeitete sich bei einem Rechtsanwalt ein. Es war dies ein Bekannter von ihm, der begriff, um was es sich handelte und ihn mit ungläubigem Staunen wochenlang re­ gelmäßig im Büro erscheinen sah. Henning selbst wunderte sich viel­ leicht noch mehr darüber, war aber im Grunde nicht sehr überzeugt, daß er nun wirklich eine Bahn beschritten habe, die ihn über kurz oder lang an ein wünschenswertes Ziel bringen würde. Im Gegenteil, je mehr die anderen erst schüchtern, dann immer zuversichtlicher auf die beginnende Wandlung seines Lebens blickten, um so unwahrscheinli­ cher erschien sie ihm selbst. Sorgfältig verbarg er den Widerwillen, mit dem er von seinem Ta­ gewerk nach Hause zurückkam und sich wieder in den eigentlichen Erasmus Henning mit der geordneten Behaglichkeit und der tropischen Indolenz zurückverwandelte. Die letztere hatte ihn auch trotz aller gro­ ßen Entschlüsse veranlaßt, seine bisherige Wohnung und den damit verbundenen Lebensapparat beizubehalten. »Schilt mich nur pathologisch, soviel du willst«, sagte er gelegent­ lich zu Burmann, »ich erkenne es vollkommen an, wie ein Schuldkon­ to, das man mir schwarz auf weiß oder lila auf weiß vorlegt. Wie, ob

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und wann ich es einmal arrangieren werde, weiß ich noch nicht. Siehst du, wenn die sattsam bekannten Stränge reißen ... erschießen kann ich mich immer noch als außerordentliches Mitglied des Selbstmord­ vereins ... aber unpathologisch existieren, das bringe ich nun mal nicht fertig.« Er bekam daraufhin einen der Burmannschen Blicke und eine der Burmannschen Bemerkungen: »Du bist schon ein ganz schwerer Fall ... wenn du nur selbst wüßtest, was für Unsinn du wieder daherredest.« »Du verstehst es aber doch? Man nehme mir das Beiwerk meines Lebens, an dem ich nun einmal hänge wie ein Sammler an seinen Ra­ ritäten, so bin ich entwurzelt und tauge zu nichts mehr, es gibt mich überhaupt nicht mehr. Ich brauche das Haus hier, die Straße, die ich gewöhnt bin, dich und Käthe, so wie ihr hier seid, nicht wie ihr in ir­ gendeiner beliebigen Dreizimmerwohnung kommen und gehen würdet. Last not least, Josias und unser Morgenzeremoniell.« »Und wenn nun der Alte eines schönen Tages eingeht?« »Das tut er nicht - solange alles bleibt, wie es ist, bin ich über­ zeugt, er lebt weiter wie der ewige Jude. Wären wir dagegen umgezo­ gen, so würde er sicher sofort in Staub zerfallen.« »Das könnte ich mir ganz gut vorstellen. Übrigens spricht da viel die Belastung der Herkunft mit. Ihr seid, Herr und Knecht, auf der ei­ genen Scholle geboren und lebt dann in ewigem Heimweh wenigstens nach einer unveränderten Wohnstätte, nach den Leuten, die euch schon als Kinder auf dem Arm getragen haben und so weiter. Ich kenne so etwas nicht - ich bin einfach da, wo ich bin. Es würde mich nicht im geringsten berühren, wenn ich von morgen an am entgegengesetzten Ende der Stadt oder der Welt leben sollte.« »Ganz richtig, von der Scholle weg bleibt man immer heimatlos und sucht etwas Ähnliches oder ein Surrogat dafür. Oder man kann nur gleich ganz weit fortgehen, in die Tropen zum Beispiel.« »Ach, das ist wieder so echt«, sagte Burmann, »in die Tropen ge­ hen. Eine andere Wohnung suchen ist unmöglich, seine Lebensge­ wohnheiten ändern ausgeschlossen, aber nach Afrika oder Australien oder auf den Mond auswandem - Bagatelle.« »Gewiß, das ist auch viel einfacher«, antwortete Henning in tief­ stem Emst. »Warum hast du denn nie daran gedacht?«

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»Mein Gott«, sagte Erasmus langsam, »was sollte ich dort, solange ich mich hier wohl fühle. Aber die Käuze haben mir neulich einmal lang und breit davon gesprochen. Sie meinten, ich passe so gut dorthin. Du weißt ja, wie sie sind, sie betrachten alles von künstlerischen oder ähnlichen Gesichtspunkten. In meinem Fall stellen sie sich zum Bei­ spiel ein sonnenheißes Land vor, mitten darin ein komfortables Klub­ haus, und davor sitze ich im weißen Anzug, von Niggerboys umgeben, die mir mit ungeheuren Palmblättem Kühlung zufächeln. Wenn weiter nichts dabei zu tun wäre, möchte mir das auch ganz gut gefallen. Die Käuze treiben es wie einen angenehmen Sport, Menschen und Verhält­ nisse ausfindig zu machen, die zueinander stimmen. Sie können sich dann auch wirklich ins Zeug legen, um diese und jene zusammenzu­ bringen. Käthe nennt Augustin deswegen den Impresario des Schick­ sals, und er hört das gar nicht ungern.« »So laß dich nur von ihm in das komfortable Klubhaus verpflan­ zen, er hat damit nicht so unrecht.« »Er unterhandelt auch schon mit dem Kommerzienrat, der soll ir­ gendeine wunderbare Position für mich ausfindig machen. Ich nähme sie zwar lieber aus einer anderen Hand entgegen.« »Du verkehrst in letzter Zeit viel mit ihnen, wie mir scheint.« »Ja, das Cafe, wo die Käuze tagen und Schicksale lenken, liegt an meinem Weg zum Büro, so mache ich dort fast regelmäßig noch eine letzte Rast und lasse mich mit milder Zukunftsmusik und schönen Bil­ dern trösten.« Käthe kam in das Zimmer, mit einer weißen Schürze angetan, sie hatte die Aufsicht geführt, während Josias und Frau Lohr Burmanns Konsultationszimmer der allwöchentlichen großen Reinigung unterzo­ gen. »Fertig, Hans, es glänzt alles nur so, und Josias ist aufs neue über­ zeugt, daß wir uns doch noch heiraten, weil ich mich so um deine Sa­ chen kümmere. Er ist sehr dafür, ich glaube zum Teil aus Besorgnis, daß sonst Erasmus eine Mesalliance mit mir eingehen möchte. Einer von euch muß es ja schließlich sein.« »Liebste, einzige Käthe, legen Sie die Schürze weg, die Ihnen nicht steht, und dann auch das leidige Thema, wer von uns dreien sich ver­ heiraten soll«, bat Henning, »die Sache ist noch lange nicht spruch­ reif.«

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Sie war aber eigensinnig, behielt die Schürze an und beanspruchte den Schaukelstuhl, den er ihr nicht ganz bereitwillig abtrat. »Es ist so selten geworden, daß wir alle drei beisammen sind«, sagte sie fast traurig, »alles hat sich verändert. Haben eigentlich die beiden Kinder eine so große Rolle bei uns gespielt, oder ist es, weil wir den Schrecken noch nicht verwinden können. Grade heute habe ich wieder so viel daran gedacht, und mir ist, als hätten wir uns alle seit­ dem verändert, etwas von unserer Spannkraft eingebüßt.« Keiner antwortete, während sie langsam schaukelte und in die Luft sah. »Wovon habt ihr denn gesprochen, als ich hereinkam?« »Von den Käuzen«, antwortete Henning erleichtert. »Ich erzählte Hans, wie ich mich alle Nachmittage von ihnen aufrichten lasse. Sie haben tiefes Verständnis dafür, daß mein Büro und ich eine unglückli­ che Zusammenstellung ergeben, und spintisieren darüber, während ihr anderen mit eurem gesunden Menschenverstand das nicht einsehen wollt und stumm an meinen Leiden vorübergeht.« »Ja, Sie sind so etwas wie ein unverstandner Mann.« »Pfui«, sagte Erasmus, »und überhaupt hat es etwas Aufreibendes, wenn fortwährend festgestellt wird, wie jemand ist und was er ist. Wo­ zu, es weiß ja doch keiner etwas vom anderen. Erinnerst du dich noch, Hans, wie du damals mit meinem Vater über Georg gesprochen hast? Du meintest noch, er habe das Zeug dazu, etwas Besonderes zu wer­ den. Tags darauf hat er sich mir nichts dir nichts erschossen. Ebenso Hedy, die wir alle für einen netten, aber oberflächlichen Backfisch hielten. So viel weiß man voneinander.« »Aber nach dem, was Sie erzählen, machen die Käuze es auch nicht viel anders, und da finden Sie es wohltuend.« »Nein, die eben nicht. Sie gehen einige Schritte weiter. Sie stellen wohl erst fest, wie ein Mensch ist und wie die Verhältnisse sind, seine, die nicht für ihn passen, und andere, die vielleicht für ihn passen wür­ den. Und dann machen sie sozusagen An-angierproben: Der da steht nicht gut, bewegt sich nicht richtig, nimmt sich in dieser Beleuchtung ungünstig aus ... stellen wir ihn anderswo hin. Zum Beispiel, der ju­ gendliche Liebhaber Henning eignet sich nicht für Heldenrollen, auch als Schreiber bei einem Advokaten macht er schlechte Figur, lassen wir ihn lieber nur in Salonszenen auftreten oder als Afrikareisenden. Ver­

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steht ihr, sie wissen wenigstens so etwas wie Hoffnung zu erwecken, daß die schlechte Inszenierung des Lebens hier und da abgeändert werden könnte...« »Ich verstehe schon«, warf Burmann ein, »und für Leute, die im­ mer eine Regie brauchen wie du, ist das gewiß ein wünschenswerter Verkehr. Mir dagegen würden solche Gespräche auf die Nerven fallen, wenn ich sie oft mit anhören müßte.« »Du hast auch Pech gehabt, die beiden Male, als du mit warst, wurde nur über französische Küche im vorigen Jahrhundert oder über die talentvolle Nichte gesprochen.« »Und mir scheint, es wurde beides etwas zu wichtig genommen.« »Wie man es nehmen will, sie halten eben die französische Küche für einen wichtigen Lebensfaktor, und die Nichte macht ihnen viel zu schaffen.« »Kennst du sie?« »Nein, ich habe sie noch nie zu Gesicht bekommen. Ich glaube, sie halten mich für gefährlich. Das Mädchen kommt irgendwo aus dem Wildwest und soll nun gesellschaftlich zugestutzt werden. Sie haben sozusagen Mutterstelle an ihr zu vertreten.« »Wessen Nichte ist sie denn eigentlich?« fragte Burmann. »Ihr sprecht immer von den drei Herren, als ob sie ein Sammelbegriff wä­ ren.« »Ich muß allerdings sagen, daß sie sich damals auch so benahmen. Augustin führte beständig das Wort, und die beiden anderen sind mir ganz unklar geblieben.« »Gewiß, sie sind nur Begleiterscheinungen, Nebenkäuze. Wein­ trapp und Leidhecker ... es gehört unbedingt zu ihnen, daß sie so wun­ derliche Namen haben.« »Die Namen sind lustig, sie klingen wie erfunden.« »Und die Nichte ist natürlich Augustins Nichte«, erläuterte Hen­ ning weiter. »Weintrapp und Leidhecker partizipieren nur an den Freu­ den und Sorgen, die sie um sich verbreitet... aber was mich weit mehr interessiert - es scheint, daß sie etwas darüber erfahren haben, wer Lucy ist. Woher, wollten sie mir nicht sagen. Sie tun immer gern etwas geheimnisvoll, und das Vergnügen kann man ihnen ja lassen. So sind wir auch noch nicht ganz sicher, ob die Personalien stimmen.«

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Nun fuhr Käthe auf, wie von einer Tarantel gestochen: »Und das sagen Sie erst jetzt? Mein Gott, was sind Sie für ein Mensch!« Sie hatte ihm die Morgenstunde bei Schönlank immer noch nicht vergessen, und dies schien ihr wieder ein neuer Verrat. Burmann beobachtete die beiden wie aus einem Hinterhalt und sagte dann, wie in schmerzlicher Resignation: »So wird also dieses Spiel von neuem beginnen. Aber erzähl uns doch.« »Sie soll eine schwedische Sängerin oder Tänzerin sein und wollte hier auftreten. Das hat sich dann aus irgendeinem Grunde zerschlagen, es sei aber nicht ausgeschlossen, daß sie diesen Winter wiederkommt. Und der verdammte Schwede ist wahrscheinlich Pianist, begleitet sie auf dem Klavier und auch durchs Leben.« Henning schwieg, dachte an den vergangenen Winter und fugte dann hinzu: »Wenn es wirklich die­ selbe ist, man kann sich ja auch irren. Und wer weiß, ob sie mich jetzt noch interessiert.« Dann zog er sich in seine Gemächer zurück, um, wie er sagte, noch einen Prozeß zu bearbeiten, und die beiden anderen blieben allein. Burmann trat zu Käthe heran, die regungslos im Schaukelstuhl lag, immer noch mit der weißen Hausfrauenschürze und mit ihren schönen, klaren Augen zu ihm aufsah. In ihrem Ausdruck war einen Moment lang etwas Hilfesuchendes. Er legte ganz vorsichtig die Hand auf ihre Schulter und fragte: »Käthe, liebst du ihn eigentlich?« »Nein«, antwortete sie, »ich kann ihn nicht ausstehen, und er mag seine Lucy nur alleine suchen.« Es schien, daß Hennings Interesse für Lucy noch nicht gänzlich erloschen war, denn er nahm seine abendlichen Irrfahrten wieder auf, und die anderen bekamen ihn wenig mehr zu Gesicht, da er spät nach Hause kam, die Vormittage wieder wie früher verschlief und dann gleich nach Tisch mit seiner Aktenmappe verschwand. Einmal hatte er Käthe aufgefordert mitzukommen, sie zeigte sich aber launisch und wollte einstweilen von keinem gemeinsamen Spleen mehr wissen. Er kam dann auch nicht wieder darauf zurück und ging mehr und mehr seine eigenen Wege. So war der Herbst verstrichen, und die Wintersaison hatte längst mit ihrem üblichen Getriebe eingesetzt, als er und Käthe sich zufällig auf einem Ball trafen. Keiner hatte gewußt, daß der andere da sein würde. Als Erasmus eintrat, stand sie in einer Saalecke, vielfach um­

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ringt und in lebhafter Unterhaltung. Sie sah ihn mit der Frau des Hau­ ses kommen, mit verschiedenen anderen sprechen, man begrüßte sich vorläufig nur mit einem Blick, während er allmählich der Gruppe näher kam. »Da kommt der Baron Henning«, bemerkte einer der Herren, »um die Schar Ihrer Freier vollständig zu machen oder aber, wie ich furchte, um uns andere auszustechen - er hat doch wohl immer noch die meiste Chance«, fugte er leiser hinzu. Käthe befand sich in guter Stimmung und war ihm fast dankbar für die Bemerkung. Sie sah es nicht ungern, wenn man ihre Beziehung zu Henning überschätzte, und doch gab es ihr manchmal einen leisen Stich, weil so gar nichts dahinter war. Dann schüttelten sie sich die Hand, mit betonter Herzlichkeit, da es vor anderen geschah, und empfanden es beide mit Vergnügen, sich in dieser fremden Umgebung wiederzusehen. Die Verstimmung, die in letzter Zeit eingerissen war, mußte wohl oder übel vor der Umgebung ignoriert werden. So konnte man sich wieder freundlich begegnen, oh­ ne erst eine langweilige und vielleicht mißglückte Aussprache zu ver­ anstalten. Es hatte sich gerade ein Wettstreit entsponnen, wer Käthe zum Souper führen sollte, und sie hatte die Entscheidung mutwillig bis zum letzten Moment hinausgeschoben. »Sehen Sie«, sagte sie nun zu Henning, »ich übte mich gerade darin, kapriziöse Schlange zu spielen - die Herren sind ja immer be­ geistert, wenn sie einen für kapriziös halten dürfen - und habe noch keinem mein Jawort gegeben. Natürlich bekommen es jetzt Sie, der es am wenigsten verdient und sich nicht einmal drum beworben hat.« »Sie sind bezaubernd und ungerecht wie das Schicksal selbst«, sagte Doktor Augustin, der Kauz, der ihr zunächst stand, während die anderen ein unwilliges Gemurmel erhoben. Henning sah sie unter schweren Augenlidern hervor forschend an und versuchte um der vie­ len beobachtenden Blicke willen, einen triumphierenden Ausdruck über seine ermüdeten Züge zu verbreiten. Dann entführte er Käthe zum Souperwalzer, während die enttäuschten Freier noch einen Augenblick stehenblieben, ihnen nachsahen und sich dann zerstreuten. Das Souper ging in zwei kleineren, an den Tanzsaal grenzenden Räumen vor sich. Es waren dort wie in einem Restaurant einzelne Ti-

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sehe aufgestellt, an denen je nachdem ein, zwei oder mehrere Paare sa­ ßen. Henning hatte rasch, als ob es so sein müßte, ein Tischchen aus­ findig gemacht, das sich nur zum tete-ä-tete eignete. Dicht daneben war ein Kamin, in dem nur des hübschen Effekts halber ein Holzfeuer brannte, und er wußte von früheren Gelegenheiten, daß der Platz nicht sehr beliebt war, weil man ihn zu heiß fand. »So geht’s«, sagte er heiter, als sie sich gegenüber saßen. »Ich hatte gar keine Lust herzukommen. Hätte mir nicht Josias den Frack so ver­ führerisch hingelegt, so wäre ich weggeblieben. Und nun bin ich wirk­ lich froh, hier zu sein. Ist es nicht beinah, als ob wir ein junges Paar auf der Hochzeitsreise wären und diese ganze Sache nur arrangiert, um ei­ nen hübschen Rahmen für uns abzugeben.« Dabei schenkte er ihr ein, legte ihr vor und bediente sie wirklich wie ein junger Ehemann. Das helle Kaminfeuer, die weißen Tische mit Blumenschmuck und festlichen Menschen, das Lachen und Sprechen ringsum, das alles gab eine Note von intensiver Behaglichkeit. Käthe musterte ihren Tischherm, er hatte nur etwas Unruhiges im Ausdruck, aber wenn er sprach, legte er eine ungewohnte Wärme in seinen Ton. »Was haben Sie heute - Ihnen ist irgend etwas begegnet. Oder sind Sie jetzt immer so? Wir haben uns wenig gesehen. Sie verändern sich, ich weiß nur noch nicht, in welcher Richtung.« »Nein, bitte, liebste Käthe, lassen Sie uns vorläufig plaudern, aus­ schließlich plaudern. - Mir ist etwas begegnet, jawohl, aber ich muß noch überlegen, ob ich es Ihnen erzählen soll ... Jedenfalls erst später, nicht so zwischen zwei Gängen, mit Gabel und Messer in der Hand.« Sie aßen also weiter und sprachen von gleichgültigen Dingen, von den verschiedenen Bekannten oder kritisierten die Gesellschaft, die rings umher saß. Endlich kam man beim Dessert an. Käthe hatte großes Vergnügen an all den zierlichen süßen Dingen, die da herumgereicht wurden, und Henning sah ihr zu wie bei einem Spiel. Um sie her ging es jetzt ziemlich unruhig zu, ein Teil der Gäste war schon aufgestanden und verteilte sich wieder in den anstoßenden Salons. Die Jugend drängte sich im Tanzsaal um einen Amerikaner, der einen neuen Tanz vormachte und erklärte. Dazwischen schoben sich still und eilig die Diener und servierten kleine Kaffeetassen auf schweren silbernen Ta­

bletts. Andere waren noch sitzen geblieben, sahen schläfrig dem Trei­ ben zu oder unterhielten sich. Zwischen Henning und Käthe war das Gespräch immer einsilbiger geworden, da beide sich bemühten, dem auszuweichen, was der eine fragen und der andere antworten konnte. Dann aber sagte sie ohne jeden Übergang: »Jetzt erzählen Sie mir, Erasmus, ob Sie Lust haben oder nicht. Ich will alles wissen, was Sie in diesen Wochen gemacht haben, seit wir« - sie dachte nach und zog die Augenbrauen fragend und vorwurfsvoll in die Höhe - »ich muß wohl leider sagen, verstimmt aufeinander sind oder vielmehr waren. Sie haben jetzt eine Chance, es wieder auszugleichen. Außerdem sind wir fertig, Messer und Gabel brauchen Sie nicht mehr zu stören.« »Es war eine schlechte Zeit«, sagte er, »und Sie haben mir sehr ge­ fehlt. Wenn Sie mich jetzt wieder beim Vornamen nennen, bin ich ja zu jeder Buße bereit. Obgleich es Ihre Schuld war.« »Sie denken wieder an etwas anderes, es war doch nicht meine Schuld ...« Erasmus unterbrach sie: »Sehen Sie das junge Mädchen, das dort mit einem älteren Herren spricht?« Käthe wandte sich um: »Ja ... und?« »Das ist die Freundin von Hedy, mit der ich damals gesprochen habe. Wir verabredeten uns nachmittags in eine Konditorei, wohin sie mir Nachricht bringen sollte, ob Hedy zu Hause sei, und ich bin dann nicht hingegangen. Ich hatte es vollkommen vergessen, und es fiel mir erst viel später wieder ein.« Das Mädchen legte den Arm auf den des älteren Herrn, der ver­ mutlich ihr Vater war, und kam an ihnen vorbei. Henning stützte den Arm auf den Tisch und begegnete ihrem Blick, als wünschte er, sie möchte ihn erkennen. Schon in der Tür sah sie sich denn auch neugie­ rig nach ihm um. »Diesen Winter wäre wohl auch Hedy zum erstenmal ausgegan­ gen«, meinte Käthe, »wir hätten sie hier und da getroffen, so wie sie den Abend in der Bar aussah, damenhaft und ein bißchen fremd. Erin­ nerungen bleiben immer so melancholisch, selbst wenn man sich an das Geschehene gewöhnt hat. Und Sie«, fuhr sie dann fort, während er noch völlig abwesend der hellen Gestalt nachsah, »Sie haben wieder den Blick, als ob Sie Gespenster sähen.«

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»Dasselbe sagten sie damals, als Schönlank mit meinem Vater her­ einkam. Es ist mir im Gedächtnis geblieben, weil es das letzte Wort war, ehe sich die fatale Szene entwickelte, und weil es so zutreffend war ... Bleiben wir noch ein wenig sitzen, es wird nicht weiter auffal­ len. Die stürmische Jugend tanzt, und die ältere Generation kann sich, wie Sie sehen, noch nicht zum Aufstehen und zu weiteren Strapazen entschließen. So können wir ruhig noch eine Weile abseits bleiben.« Sie saßen und blickten auf das dekorative Kaminfeuer, beide in Anspruch genommen durch die unerwartet wieder aufgewachten Erin­ nerungen. »Hat der Gespensterblick Sie beunruhigt?« fragte Erasmus mit ge­ zwungenem Lächeln, »Sie sehen mich so besorgt an.« »Nein, diesmal nicht, weil er der Vergangenheit gilt ... Ich wüßte nicht, was er jetzt und hier Schlimmes voraussehen könnte. Aber ich mag ihn nicht - Sie sehen dann aus, als ob Sie willenlos und ohne Wi­ derstand dem ersten, besten Gespenst verfallen würden, das Ihnen be­ gegnet.« »So ist es auch, Käthe, Sie haben eine unheimliche Divinationsgabe. Übrigens handelt es sich nicht um dies kleine Mädchen, das da eben vorüberging und gewissermaßen Hedy wieder mitbrachte. Das ist ein harmloses Gespenstchen, ich werde nachher mit ihm tanzen und mich entschuldigen, daß ich es damals umsonst habe warten lassen ... Aber ich habe vor einigen Tagen ein anderes getroffen ...« »Lucy?« fragte sie wider Willen. Sie hatte überhaupt nichts mehr fragen wollen, denn es reizte sie im stillen, daß er immer neue Überra­ schungen bei der Hand hatte und sie ausspielte oder für sich behielt, wie es ihm grade gefiel. Ihm schien es aber diesmal nicht auf den Effekt anzukommen, er verlangte nur danach, sie wieder teilnehmen zu lassen, und er hatte sei­ ne anfänglichen Bedenken längst wieder vergessen. »Ja, hören Sie nur zu. Aber erst noch eine Vorbemerkung. Es steht ziemlich schlecht um mich, liebe Käthe. Ich habe in dieser Zeit ein dummes Leben geführt ... ich habe angefangen zu spielen und viel verloren. Notabene, ich verliere natürlich, was ich eigentlich gar nicht besitze. Und abends habe ich dann allein oder mit Ihrem Ungarn - der übrigens beständig nach Ihnen fragt - viele, viele Gläser getrunken. An dem Abend, auf den es ankommt, war ich zufällig allein und trank

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wieder viele Gläser, fühlte mich, wie ich leider gestehen muß, schon etwas unklar und dachte darüber nach, wie ich mich aus alledem wie­ der herausreißen könnte. Es war ein ziemliches Gedränge in der Bar, ich sah zu, wie sie tanzten, und sah ein dunkles Mädchen mit einem langen blonden Herrn, den ich schon einmal gesehen haben mußte.« »Der verdammte Schwede«, sagte Käthe halblaut und ergriffen. »Richtig, der verdammte Schwede - ich wußte es auch, aber es er­ regte mich nicht besonders. Sie müssen entschuldigen, wenn ich noch einmal betone, daß mein Bewußtsein etwas umfangen war, es gehört leider zur Geschichte und beeinflußt sie ... Ich sah also den verdamm­ ten Schweden, sah ihn mit Lucy tanzen und empfand es mit friedlicher Heiterkeit, daß die beiden wieder da waren. Sie tanzte auch wieder auf­ fallend stürmisch, war aber nicht so schick angezogen wie damals, im Gegenteil, sie sah einigermaßen reduziert aus, und das freute mich bei­ nah. Ich dachte, dir ist es anscheinend auch nicht besonders gut gegan­ gen seit damals.« Henning stockte und sah eine Zeitlang in das Feuer. Käthe beobachtete sein schön gebildetes Profil und die breite Stim und sann darüber nach, welchen Eindruck er wohl auf Lucy gemacht habe. »Es blieb auf die Länge nicht so idyllisch«, fuhr er in seiner Er­ zählung fort. »Ich trank einen schwarzen Kaffee, wurde wieder munte­ rer und fing Händel mit dem Schweden an, nannte ihn einen ver­ dammten Schweden und suchte ihm klarzumachen, daß ich mindestens ebensoviel Anrecht an Lucy habe wie er. Kurzum, es war eine Szene, wie sie manchmal gegen Morgen in solchen Lokalen stattfindet. Schließlich endete sie damit, daß Lucy mit mir am Tisch saß und der Schwede verschwunden war. Sie hatte sich die ganze Zeit halb totge­ lacht und schien großen Spaß daran zu haben.« »Und dann?« wollte Käthe wissen. Sie war sehr gespannt, aber leicht enttäuscht. Man hatte sich dereinst zuviel von Lucy versprochen, als daß sie jetzt als banales Barabenteuer enden durfte ... »Soll ich auch noch den Rest erzählen?« und als Käthe nickte: »Ich will ihn kurz andeuten. Sie kam mit mir in ein Hotel, war aber morgens verschwunden. Ich habe sie also nur im Rausch und im Dunkeln gese­ hen, von Licht wollte sie durchaus nichts wissen. Keine Verabredung, keine Adresse - nichts. Folglich - und dies ist die Pointe - ist sie ein Phantom geblieben und muß selbst wissen, daß sie eines ist, warum hätte sie sich sonst so mysteriös benommen. Eine Frau, die den ganzen

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Abend lacht und tanzt, ihren Schweden, der sie durchs Leben begleitet, mir nichts dir nichts verabschiedet, um sich zu einem völlig Fremden zu gesellen, diesen aber wieder absichtlich im Dunkel über sich läßt sagen Sie selbst, Käthe, ist es etwa mit mir nicht richtig oder begegnen mir tatsächlich Gespenster?« Er schüttelte sich, und seine letzten Worte klangen wie ein halb verzweifelter Appell an ihren Wirklichkeitssinn, der ihm zu Hilfe kommen sollte. Sie wußte, daß alle den an ihr liebten, immer war es ih­ re Rolle, die frohe, sichere Frau darzustellen, die mit allem fertig wur­ de, aber sie war das müde und wollte nichts mehr davon wissen. Seit sie Henning im Lauf des letzten Jahres, durch alles, was sie zusammen erlebt hatten, nähergekommen war, reizte es sie grade, ihre Sicherheit aufzugeben und lieber dunkle und verworrene Erlebnisse mit ihm zu teilen. Seine Erzählung hatte ihr anfangs wenig gefallen, jetzt gewann sie wieder an Charme, aber zugleich empfand sie doch gegen ihren Willen eine quälende Eifersucht. »Ihre Geschichte ist jedenfalls ziemlich sonderbar«, sagte sie, und es irritierte sie, hier im Ballkleid zu sitzen, schön und begehrenswert auszusehen, alles das nur, um seine zweifelhaften Bekenntnisse entge­ genzunehmen. »Aber wie soll ich wissen, wie es um Sie steht? Seit dem Tode der beiden Kinder sind wir wohl alle etwas nervös geblieben und leicht zu erschrecken ... Und wie war sie denn - Lucy meine ich? Solange sie greifbar vorhanden war.« »Ach, ich weiß nicht«, gab er zerstreut zurück. »Der verdammte Schwede dagegen ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Übri­ gens hat er mich gefordert oder ich ihn. Ich entsinne mich nicht mehr genau, wie es war. Er saß eine Weile neben mir, sehr lang und sehr blond, und setzte mir sanftmütig auseinander, daß es wohl ein Nonsens wäre, sich wegen eines Mädchens zu schlagen, die sich bald mit dem einen, bald mit dem anderen amüsiere. Am nächsten Morgen müsse er verreisen, käme aber in einiger Zeit zurück und dann könne das Duell stattfinden. Ich dachte erst, ich hätte die ganze Unterredung geträumt, fand aber nachher seine Visitenkarte in meiner Westentasche und wer­ de ihm wohl auch die meine gegeben haben. Er heißt natürlich Axel - Pallström oder Hallström oder so ähnlich und hat mit Bleistift unter den Namen geschrieben: Pistolen, spätestens am 15. Februar. Dies Nachspiel fügt sich dem ganzen Spuk nicht übel an.«

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Käthens widersprechende Empfindungen lösten sich plötzlich, sie war selbst ganz beglückt, daß sie wieder weich und freundschaftlich für ihn fühlen konnte, und brach in ein helles Gelächter über den ver­ dammten Schweden aus. Henning war verwundert, dann aber stimmte er mit ein, und sie lachten beide noch, als Doktor Augustin zu ihnen trat. »Sie vergnügen sich anscheinend besser als ich«, sagte er. Sein Er­ scheinen kam nicht grade erwünscht, aber man konnte nicht gut nein sagen, und er rückte sich einen Stuhl an den Kamin. Die drei waren jetzt fast die einzigen im Raum. »Ich irre hier herum«, fuhr Augustin in seiner etwas umständlichen Sprechweise fort, »und kann diesen Festen keinen Geschmack abge­ winnen. Es sollte eine Kunst sein, sich zu vergnügen, den in Frage kommenden Sinnen einen feinen, allmählich an- und wieder abklin­ genden Anreiz zu bieten - statt dessen ... die jungen Leute da drüben tanzen nur, um zu tanzen, um sich Bewegung zu machen, die älteren langweilen sich. Dazwischen steht man herum, soupiert eilig und ge­ dankenlos ...« »Das ist wohl der springende Punkt«, warf Henning ein, »aber als berufsmäßiger Gourmand - oder Gourmet, wie Sie mich zu verbessern pflegen - sollte man eben nicht auf Bälle geben.« »Recht, mein junger Freund, wenn nicht auch die gesellschaftli­ chen Verpflichtungen als notwendige Tugend gepflegt werden müßten. Ein gutes Diner oder Souper als Selbstzweck ist mir lieber, aber wer gibt denn heute noch Diners an sich?« Erasmus lächelte konventionell, wie sein Vater manchmal lächelte, wenn ihm eine Situation nicht ganz recht war, Doktor Augustin be­ trachtete ihn aufmerksam mit seinen runden, genußfrohen Augen und fühlte, daß da etwas nicht in Ordnung war. »Ich habe gewiß ein anregendes Gespräch unterbrochen?« fragte er, »darf ich bitten, daß Sie es fortsetzen, ohne meine Anwesenheit in Betracht zu ziehen. Ich will dann auch gestehen, daß mich Ihr Lachen herbeilockte. Meine Tischdame wurden abgerufen, weil ihr Baby sich erkältet hatte, und ich fand keine andere Gesellschaft als einen moro­ sen älteren Herrn, der ebenfalls allein war. Kurz, gnädige Frau, meine innere Harmonie wird heute beständig beeinträchtigt, und ich hoffe, Sie gestatten mir, mich an der Ihrigen zu erbauen.«

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»Gerne«, erwiderte Käthe spöttisch. »Ja, dieses hübsche Plätzchen am Feuer, das Sie sich ausgesucht haben und das einen wirkungsvollen Rahmen für Ihrer beider Erschei­ nung abgibt, regte, wenn ich so sagen darf, meinen künstlerischen Blick an. Sicher erzählte der Baron grade eine amüsante Geschichte.« »Gewiß«, sagte Henning, »schade, daß Sie nicht früher kamen. Übrigens haben Sie doch ein wenig daneben geraten, wir erzählten uns nämlich Spukgeschichten, die gnädige Frau und ich.« »Beabsichtigen Sie, das Gruseln zu lernen, Gnädigste? Mir will zwar scheinen, als sei trotz des Kamins und der späten Stunde hier nicht ganz die geeignete Umgebung dazu.« »O doch ..., ich kann es schon«, meinte Käthe mit einem Versuch zu scherzen, obgleich ihr wirklich beklommen und wunderlich zumut war. Dies Gefühl steigerte sich noch, als Henning aufstand und die Ab­ sicht äußerte, das junge Mädchen von vorhin um einen Tanz zu bitten. Er würde nicht lange ausbleiben und dann wieder hierher kommen. So blieb sie mit Augustin allein. Sie gab sich alle Mühe, eine unbe­ fangene Unterhaltung mit ihm zu fuhren, aber sie konnte diese phanta­ stische Stimmung, die sie sich sonst manchmal gewünscht hatte, nicht wieder loswerden ... Vergebens sagte sie sich, daß ihre Nerven über­ reizt seien ... ihr schien alles um sie her unwirklich und unsinnig, die Musik im Saal nebenan, die Paare, die sich immer lebhafter drehten, die ganze festliche Atmosphäre und Helle, welche Menschen und Räume einhüllte. »Da tanzt er nun mit dem harmlosen Gespenstchen«, dachte sie, »zwischen den anderen, die sich wirklich amüsieren. Und wer weiß, was da nicht alles wieder emporsteigt, wenn sie von Hedy sprechen.« Sie fühlte auch, daß ihre Antworten bis zur Unhöflichkeit zerstreut waren und Augustin sie des öfteren erstaunt und verlegen ansah. In­ zwischen betrachtete er die großen Sträuße von weißen Rosen, die auf dem Kaminsims standen. Wahrscheinlich stellte er ästhetische Be­ trachtungen an, und es beunruhigte ihn, daß eine schöne Frau neben Rosensträußen saß und nicht harmonisch aufgelegt war. Sie stellte dann ihrerseits fest, auch er nähme sich heute nicht ganz richtig aus, man war zu sehr gewöhnt, ihn von seinen beiden Nebenkäuzen ergänzt zu sehen, allein wirkte er inkomplett, und seine Bemerkungen, die

nicht durch ein doppeltes Echo variiert wurden, langweilig und gekün­ stelt. »Wo haben Sie denn Ihre Trabanten gelassen?« fragte sie aus die­ sem Gedankengang heraus. »Sie sind noch weniger Ballfreunde als ich, und sie fanden einen Vorwand, die Einladung zu umgehen. Statt dessen sind sie mit meiner Nichte im Theater.« »Ah, mit der gemeinsamen Nichte. Die hätten Sie doch auch mit hierher nehmen können.« »Sie ist noch nicht eingefuhrt und hat noch nicht die nötigen Besu­ che gemacht. Das ist alles nicht so einfach. Das Mädchen kann auch wohl nicht gut mit uns ausgehen. Wenigstens meinten Weintrapp und Leidhecker, es nähme sich nicht gut aus, und man müsse einen anderen Modus finden.« Käthe war froh, daß sich endlich ein ablenkendes Thema auftat, und fragte weiter: »Ja, überhaupt, was ist denn eigentlich mit dieser Nichte? Man hört hier und da von ihr sprechen, bekommt sie aber im­ mer noch nicht zu sehen. Erzählen Sie mir doch etwas von ihr - wie alt ist sie - ist sie hübsch und wie heißt sie - sie muß doch außer ihrer Ei­ genschaft als Nichte auch irgendeinen Namen haben.« »Elisabeth«, sagte Augustin mit sorgenvoller Miene, »aber der Name paßt durchaus nicht zu ihr. Ein Mädchen, welches Elisabeth heißt, könnte zum Beispiel sanft und ein wenig überirdisch sein - mei­ netwegen auch etwas gewöhnlich und schwerfällig - dann würde man sie eben Lisbeth oder Elise nennen. Aber eine Elisabeth darf nicht den Teufel im Leibe haben, das wirkt ungemein stillos ... Hübsch ... ja, sie ist knapp zwanzig Jahre alt und, soweit ich unparteiisch urteilen kann, recht hübsch zu nennen. Aber auch ihr Äußeres ist ungebärdig und entbehrt der Sorgfalt, zum mindesten immer eine oder die andere Haar­ strähne, die ihr in die Augen fallt, oder sonst etwas, das nicht am rich­ tigen Platz sitzt. Und so ist es bei ihr mit allem. Sie ist begabt, aber zu keiner stetigen Ausbildung ihrer tatsächlich vorhandenen Talente zu bewegen. Sie kam mit der Absicht, Malerei zu studieren, jetzt will sie Schauspielerin werden und deklamiert den ganzen Tag.« »Wie sind Sie denn dazu gekommen, ausschließlich die Obhut über die junge Dame zu übernehmen?«

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»Sie ist in Amerika geboren«, erklärte Augustin, und ihre Eltern starben kurz nacheinander, ohne irgend etwas zu hinterlassen. Ihre dortigen Bekannten haben ihr wohl den Rat gegeben, sich an ihre eu­ ropäischen Verwandten zu halten, und sie einfach herübergeschickt. Da ich nun der einzige Verwandte war, erschien sie eines Tages bei mir, und ich konnte nicht gut umhin, mich ihrer anzunehmen. Ich muß auch sagen, gnädige Frau, daß ich in gewissem Sinne Freude daran ha­ be, solch ein junges Menschenschicksal zu leiten ... könnte man ihr nur den Wild-West etwas rascher abgewöhnen. Aber ... ich langweile Sie gewiß? Wollen Sie nicht noch tanzen?« Nein, sie hatte keine Lust mehr, es war schon spät, gegen zwei Uhr, und lohnte sich nicht, noch einmal anzufangen. Es tat ihr wohl, hier sitzen zu bleiben, sich von unbekannten Menschen, die einen nichts angingen, erzählen zu lassen, und sie war jetzt ganz bei der Sache. Die drei Käuze mit ihren Onkelsorgen waren ganz unterhaltend. Henning war unterdessen in dem Getümmel des Balles unterge­ taucht und kam lange nicht wieder. Er suchte nach der jungen Dame, erfuhr, daß sie Wera Erler hieß und ihr Vater ebenfalls ein Geschäfts­ freund von Schönlank war, worauf er sich ihr vorstellen ließ und um einen Tanz bat. Sie hatte den Namen nicht verstanden, sah ihn neugie­ rig an, mit denselben vergnügten Augen wie damals vor der Schule, und schien sich zu besinnen, ob sie ihn nicht schon einmal gesehen ha­ be. Dann ließ sie sich wie ein gehorsames Kind stillschweigend und pflichtbewußt von ihm herumdrehen, sah ihn nochmals von der Seite an und erklärte bald, sie sei müde, sie habe heute schon so viel getanzt. »So unterhalten wir uns ein bißchen«, schlug Henning vor, »Sie er­ kennen mich wohl nicht wieder?« »Doch, aber ich habe Ihren Namen nicht verstanden.« »Der tut wenig dazu«, meinte er ernsthaft, »aber ich habe mich einmal recht unhöflich gegen Sie benommen.« »Sie?« sagte Wera ungläubig, »haben wir denn schon einmal mit­ sammen getanzt, diesen Winter?« »Nein, es muß ja auch nicht beim Tanzen gewesen sein. Denken Sie einmal nach ... wir haben vor längerer Zeit eine kleine Mittagspro­ menade zusammen gemacht. Sie waren damals noch ein Backfisch, es ist etwas über ein halbes Jahr her. Dann wollten wir uns am Nachmit­

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tag treffen, aber es passierten alle möglichen Sachen, und ich konnte nicht kommen.« Jetzt entsann sich das Mädchen allerdings, wer er war. Sie sah er­ regt an ihm vorbei, ob auch niemand in der Nähe sei und zuhöre, und erzählte dann, daß auch sie damals nicht an den verabredeten Ort ge­ kommen sei. Man hatte sie nicht fortgehen lassen. Ein Bruder von ihr gehörte ebenfalls zum Selbstmordverein, war mit Georg befreundet gewesen, und alle Eltern waren in furchtbarer Aufregung. Mit dem Bruder hatte sie dann den ganzen Nachmittag zusammengesessen und über die Geschichte gesprochen. Er wußte auch, wo Georg und Hedy sich verborgen gehalten, aber er würde nie etwas darüber sagen. Hen­ ning ließ ihn sich beschreiben, es war jener schwarzhaarige, soignierte Junge, dessen er sich noch sehr wohl erinnerte. An der Art, wie sie sprach, fühlte er, daß das alles schon wie etwas Halbvergessenes war, was nur zufällig wieder aufgerührt wurde - Jugendffeundschaft, die im Moment wohl intensiv empfunden wird, aber nichts Unersetzliches ist. Das störte ihn keineswegs, sondern tat ihm eher wohl. Sie war wirklich nur ein harmloses Gespenst und stand auf einer ganz gesunden menschlichen Basis. Jetzt zupfte sie an einer Pal­ me, die hinter ihnen die Ecke füllte, hätte gerne etwas Tiefempfunde­ nes gesagt, fand aber nicht das Richtige. Dann sah Henning, daß nicht weit von ihnen entfernt die Frau des Gastgebers stand und neben ihr der Kommerzienrat Schönlank, der ihn beobachtete. Ihm fiel ein, daß jener Weras Vater kannte, und er verlor plötzlich die Lust, noch weiter mit ihr zu sprechen. »Nicht wahr, gnädiges Fräulein, das ist eine schlechte Ballunter­ haltung«, sagte er lächelnd, »und es schickt sich vielleicht auch nicht, daß wir so lange hier beisammenstehen. Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Papa zurück ... wenn der wüßte, daß wir einmal ein Rendezvous verab­ redet hatten.« »Damals war ich ja noch ein Schulmädchen.« »Und jetzt sind Sie erwachsen und würden nicht mehr darauf ein­ gehen?« »Wer weiß ...« Sie war nicht ganz zufrieden, daß er sie schon wie­ der abliefem wollte. Die abgeschworene Backfischromantik regte sich ... man könnte in einer Ecke sitzen und von Hedy sprechen.

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»Und dann kommt zufällig Herr Schönlank herein ... Nein, wir wollen uns die Sache wenigstens noch überlegen. Da Sie gewiß die Absicht haben, diesen Winter viel zu tanzen, und ich ebenfalls viel mitmachen werde, treffen wir uns sicher noch an manchem Ballabend ... Man kann auch da von Hedy sprechen ... sie hat noch den letzten oder vorletzten Abend vor ihrem Tode mit uns getanzt.« Davon hatte Wera gehört, es hatte sich herumgesprochen, man wußte nicht, durch wen. Jetzt wurde ihr alles wieder lebendig, sie fühlte etwas von dem dunklen Reiz, der über Hedys kurzem, verwege­ nem Leben und ihrem jähen Ende lag. Ihr Blick war ganz verändert, als sie noch einmal zu ihrem Begleiter aufsah. Aber der Papa, der Ge­ schäftsfreund, spähte schon besorgt nach ihr aus, und Henning zog sich nach einigen höflichen Worten zurück. Als er an einem der nächsten Tage in das Kaffeehaus kam, wo Au­ gustin mit seinen Freunden tagte, hielt dieser ihnen gerade einen begei­ sterten Vortrag über Frau Käthe Tergens. Er kannte sie zwar schon länger, hatte aber noch nie eingehender mit ihr gesprochen und meinte nun, hier sei endlich einmal alles beisammen, an äußerer Erscheinung, an Eigenschaften und den dazugehörigen Lebensumständen. Wie diese Frau sich zum Dasein verhalte, so verhalte sich auch das Dasein zu ihr und ebenso die Menschen, die mit ihr in Berührung kamen. Die zwei anderen Herren, Leidhecker und Weintrapp, hörten zu, beglückt, daß endlich etwas so Harmonisches entdeckt worden sei und sozusagen unter ihnen weilte. Denn auch ihnen war Frau Tergens eine bekannte Erscheinung, nur war man sich noch nicht klar gewesen, was sie eigentlich zu bedeuten habe. Erasmus war wie gewöhnlich mit seiner Aktenmappe erschienen, obgleich er das Büro schon lange vernachlässigte. Die anderen brauchten das nicht zu wissen, man setzte ja immer noch von allen Seiten Hoffnungen auf ihn, während er selbst fühlte, daß ihm der Bo­ den unter den Füßen immer mehr entglitt. Die Aktenmappe, wie man­ che andere Äußerlichkeiten, die ihn umgaben, waren nur noch Theater­ requisiten, auf die er immerhin noch einen gewissen Wert legte. Er saß ganz zufrieden da und hörte zu, wie man Käthe entdeckte. Sie konnte ja auch einen von diesen dreien heiraten, dachte er, zum Beispiel Augustin, der sie sicher auf Händen tragen würde. Sie ist ei­ gentlich doch immer die Perlenkette, die wir einander anpreisen. Son­

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derbar ist es mit dieser Frau, jeder ist entzückt von ihr und findet, der andere solle sie doch heiraten. Dabei bleibt sie immer allein und wir anderen ebenfalls. Augustin lächelte mit seinen runden Augen: »Für Elisabeth ver­ spreche ich mir sehr viel von der Bekanntschaft mit Frau Tergens. Ich soll sie ihr bringen, sie hat uns auf einen Abend in der nächsten Woche eingeladen.« »Gewiß wäre es von Vorteil für das Mädchen, wenn es entspre­ chenden Damenverkehr fände«, meinte Weintrapp. Er hatte ein phleg­ matisches Gesicht, glattrasiert mit goldener Brille. Übrigens waren sie alle drei glattrasiert, das gehörte zu ihren gemeinsamen ästhetischen Prinzipien ... Und Henning sagte: »Ich hätte sie ja längst mit Frau Käthe bekannt machen können, aber man hat mir Fräulein Elisabeth bis jetzt systematisch vorenthalten.« »Gott bewahre, lieber Baron«, und Augustin wurde beinah verle­ gen, »es bot sich nur noch keine Gelegenheit. Sie ist ja noch nicht lan­ ge hier, und ich halte es in meiner Eigenschaft als Onkel nicht für an­ gebracht, sie mit ins Kaffeehaus zu nehmen.« »Mit wem verkehrte sie denn bisher?« »Das ist ja gerade der wunde Punkt, sozusagen mit niemand, außer mit einigen Schauspieleleven und -elevinnen. Sie nimmt, wie Sie wis­ sen, neuerdings dramatischen Unterricht. Ferner wollte sie durchaus nicht in einer Pension wohnen, wie ich wünschte, sondern hat sich ein kleines Appartement genommen.« »Sie meinte, es sei weniger kostspielig«, erläuterte Weintrapp, der für die praktischen Fragen als Sachverständiger galt, »und so störe sie niemanden durch ihre Sprechübungen. Darin mußte man ihr wohl bei­ stimmen, aber andererseits war zu bedenken, ob nicht ihr Ruf durch diese freiere Lebensführung gefährdet wird.« »Was meinen Sie dazu, Henning?« fragte Augustin. »Sie kennen unsere Gesellschaft besser als ich. Das Mädchen selbst hat leider aus Amerika ziemlich freie Ansichten über Verkehr und dergleichen mit­ gebracht.« »Elisabeth ist ein Kind«, sagte Leidhecker, der bisher noch keine Silbe gesprochen hatte. Er war ein schweigsamer Mensch, machte nur hier und da vereinzelte Bemerkungen oder faßte die Quintessenz eines Gespräches in irgendeiner sprichwortartigen Sentenz zusammen. Man

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nahm seine Aussprüche achtungsvoll entgegen, wie überhaupt in die­ sem kleinen Zirkel die Eigenart jedes einzelnen mit Liebe kultiviert wurde. Es folgte eine kurze Pause, während der Zigaretten angezündet wurden und Henning nach der Uhr sah. Die Nichte begann ihn zu langweilen, und Augustin kam wieder darauf zu sprechen, wo er mit ihr Besuche zu machen gedenke. Unweigerlich fiel dabei wieder der Name des Kommerzienrats Schönlank, sein Haus gehörte zu denen, die in erster Linie in Betracht kamen. Die Käuze schätzten es einmütig wegen seiner vorzüglichen Diners, und außerdem galt es für den Sam­ melpunkt von allem, was sich auf schöngeistigem und künstlerischem Gebiet betätigte. Eine angehende Schauspielerin konnte sicher nichts Besseres tun, als dort Stammgast zu werden. Henning ließ ihn ausreden, er sah ein, daß er dem Kommerzienrat doch niemals entrinnen würde, und beschloß, ihm demnächst einen Be­ such zu machen. Über dem Abend bei Käthe herrschte ein ausgesprochener Unstern. Sie hatte kurz vorher einen Bekannten aus früherer Zeit getroffen, einen älteren Schauspieler, der sich speziell für unfertige Talente inter­ essierte, und ihn ebenfalls eingeladen, womit sie Augustin einen Ge­ fallen zu tun dachte. Er kam schon etwas früher, um noch vor dem Eintreffen der anderen eine ruhige Stunde mit ihr zu verbringen. Aber Käthe stand grade am Telephon und war sehr präokkupiert. Sie hatte unerwartet ihr Mädchen entlassen müssen, wodurch dann auch die Kö­ chin aus dem Gleichgewicht geraten war, und verhandelte mit Bur­ mann, ob nicht Josias ihr für den Abend aushelfen könne. »Setzen Sie sich, Herr Werner«, sagte sie und lächelte dem Eintre­ tenden zu, »oder gehen Sie umher und schauen sich meine Zimmer an.« Er aber zog es vor, neben ihr stehenzubleiben und ihr die unbe­ schäftigte Hand zu küssen. »Also, Hans, könnt ihr mir Josias zur Aushilfe schicken?« »Unmöglich«, kam es zurück, »er hat heute Ausgang und ist schon fort. Was sind denn das für Feste, zu denen wir nicht eingeladen wer­ den?«

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»Nur Augustin mit der Elisabeth und noch jemand«, antwortete sie ärgerlich. »Gott sei Dank, daß ihr nicht auch noch kommt. Was sprichst du denn da? Ist Erasmus auch dort?« »Ja«, sagte dieser und erbot sich an Josias’ Stelle zu kommen und ihr zu helfen. Käthe lachte und versicherte, sie könne ihn nicht brau­ chen, aber er bestand darauf und wollte wissen, wer der Unbekannte sei. »Das kann ich jetzt nicht erklären, weil er neben mir steht und zu­ hört.« »Das dulden wir nicht«, sagte Erasmus, »also ich komme auf jeden Fall.« Endlich hängte sie den Hörer wieder ein und konnte sich ihrem Gast widmen. Er stand mit gekreuzten Armen da und wartete. »Entschuldigen Sie ...« »Aber ich schwärme dafür, Telephongespräche anzuhören«, sagte er, »die fehlende Hälfte macht es so hübsch geheimnisvoll. Und die kühne Selbstverständlichkeit, mit der der Sprechende ins Leere hinein­ redet ... Der Zuhörer dagegen wird nie wissen, was da eigentlich ver­ handelt wird. Wer zum Beispiel ist der Mann mit dem biblischen Na­ men, Josua oder Josias, der anscheinend einen anderen ersetzen soll ...« »Ein alter Diener«, erläuterte Käthe, »ferner: Hans, ein Jugend­ freund - Erasmus, ein Baron ...« »Und da wollen Sie mich glauben machen, es handle sich nur um Hausfrauennöte ... und wer ist denn Augustin?« Als sie ihm nun gerade auseinandersetzte, was es mit Augustin für eine Bewandtnis habe, und daß sie seinetwegen mit ihrem Souper zu glänzen wünsche, kam von diesem eine Botschaft, daß er durch eine starke Erkältung verhindert sei, wenn sie aber nichts dagegen habe, würde Elisabeth alleine kommen. »So spielt das Leben«, sagte der alte Schauspieler befriedigt. »Au­ gustin, um dessentwillen man so viele Ängste aussteht, sagt ab. Ich da­ gegen, der geringschätzig als >noch jemand< bezeichnet wurde, bin hier und denke nicht zu weichen, auch wenn das ganze Programm umge­ stürzt wird.« Käthe war im Grunde ganz zufrieden, sie ging hinaus, um die Kö­ chin zu beruhigen, daß der gefürchtete kritische Gast nicht käme, und

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machte sich dann daran, selbst den Tisch zu decken, wobei ihr Werner in bester Laune an die Hand ging. Erasmus hatte sich unterdessen gleich auf den Weg gemacht. Er wußte, daß sie ihre Gäste um acht Uhr erwartete und dachte, noch rechtzeitig anzukommen. Eben vor ihm trat ein junges Mädchen in das Haus, er holte sie auf der ersten Treppe ein und wollte rasch vorüber, als sie stehenblieb und ihn ansah. Sie war blaß, brünett, eine lange, losgelöste Locke fiel ihr über die Stim, und sie warf sie mit einer brüs­ ken Kopfbewegung zurück. Dann lächelte sie und war sichtlich etwas erschrocken. »Lucy?« sagte Henning vollkommen verwirrt. Er begriff nicht gleich, daß sie plötzlich hier vor ihm auf der Treppe stand. »Wie kommen Sie hierher?« »Was meinen Sie damit«, gab sie in großer Verlegenheit zurück. Ich heiße Elisabeth Augustin. Mir scheint, Sie verwechseln mich mit jemand anders.« Damit ging sie rasch und energisch die Stufen hinauf, es schien sie zu reizen, daß er ihr folgte, und sie funkelte ihn zomig mit den Augen an, als er ebenfalls im zweiten Stock vor Käthes Tür haltmachte. »Einen Moment, bitte«, sagte er nun, als sie anläuten wollte, stellte sich vor und bemerkte, er sei ebenfalls bei Frau Tergens eingeladen und ein Freund ihres Onkels. »Ja, ich weiß jetzt, wer Sie sind«, antwortete sie und errötete bis unter die Locke, die schon wieder in die Stim fiel. »Aber ich dachte vorhin, als Sie mich so plötzlich anredeten, Sie wollten sich einen Scherz machen.« Sie brach ab und drückte auf die Klingel. Käthe kam selbst aufmachen, begrüßte beide, bedauerte, daß der Onkel nicht kommen könne, und war sehr herzlich und eilig. »Eras­ mus, helfen Sie Fräulein Augustin ablegen, ich habe noch einen Mo­ ment zu tun, gehen Sie in das kleine Zimmer ... Ja, also ... Baron Hen­ ning - Fräulein Augustin ... aber Sie haben wohl schon auf der Treppe Bekanntschaft gemacht?« »Ja«, sagte Henning, Käthe verschwand, und man hörte ihre und des Schauspielers sonore Stimme im Eßzimmer. Henning nahm dem jungen Mädchen den Mantel ab, dann stand sie vor dem Spiegel und schob ihre widerspenstigen schwarzen Haare zurecht. Er sah mecha­ nisch zu, musterte jede Einzelheit ihrer Gestalt und ihrer Toilette, die

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einen etwas lässigen Eindruck machte. Das an sich elegante dunkle Abendkleid war nicht mehr ganz auf der Höhe, vor allem der Halsaus­ schnitt war mit einer gewissen Verwegenheit arrangiert, als sei im letzten Moment noch etwas geändert worden, und die seidenen Schuhe sahen aus, als dienten sie gelegentlich auch zum Spazierengehen. Nun wandte sie sich ihm zu, ein reizvolles Gesicht mit lebhaften, unregel­ mäßigen Zügen. Nein, da war kein Zweifel möglich, dieses Gesicht kannte er. Aber es war jetzt nicht Ort und Zeit, um dem Zusammen­ hang nachzugehen. Er führte sie in das Zimmer, gleich darauf erschie­ nen auch Käthe und Herr Werner, und man ging zu Tisch. Es gab viel Gelächter und einiges Durcheinander, da alle der be­ drängten Hausfrau beispringen wollten. Elisabeth fand sich rasch hin­ ein, um so mehr, als man sie von vornherein nicht als Fremde behan­ delte. Henning übernahm allen Ernstes die Bedienung und duldete nicht, daß die Damen sich betätigten. Er servierte geschickt wie ein gelernter Kellner und brachte die Köchin, die das unziemlich fand, in große Verlegenheit, besonders, wenn er die leeren Schüsseln zurück­ brachte. Werner dagegen war begeistert und meinte, er sähe jetzt ein, daß auch ein Baron zu etwas gut sein könne, und wo er das gelernt ha­ be. »Meinem alten Josias abgesehen«, sagte Henning. »Ja, es ist nichts mehr mit den Vorurteilen der Kaste, Herr Wemer. Meinen Sie nicht auch, ich könnte noch ganz gut als Oberkellner Karriere machen, wenn alle Stränge reißen?« Der hielt das für einen harmlosen und billigen Scherz. »Ja, sie reißen, Herr Wemer, sie reißen, sie sind eigentlich schon gerissen«, fuhr Henning fort in dem melancholisch wohlerzogenen Ton eines Kellners, der mit seinem Gast über das Leben redet, und reichte ihm den Salat. »Pfui, Erasmus«, rief Käthe dazwischen, sie konnte diesen Ton bei ihm absolut nicht leiden. Dann erwachte in Wemer der Regisseur, er machte darauf auf­ merksam, wie diese oder jene Bewegung auf der Bühne gemacht wer­ den müsse. Das Gespräch kam auf das Theater, und Wemer erklärte sich bereit, Elisabeth nachher ein wenig zu examinieren. »Geht nur schon hinüber«, schlug Käthe vor, »wir werden hier in­ zwischen Ordnung schaffen.«

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Werner und Elisabeth gingen in den Salon, und es dauerte nicht lange, so hörte man lebhaftes und lautes Sprechen. Erasmus hatte sich wieder auf seinen Platz gesetzt: »So, Käthe, lassen wir die beiden nur deklamieren und trinken wir in aller Ruhe noch ein Glas Wein zusam­ men. Wie finden Sie das Mädchen?« »Ich finde gar nichts mehr. Ich bin ganz müde, es ist mir zu unge­ wohnt, mich für meine Gäste so anzustrengen. Gott sei Dank, daß Au­ gustin nicht kam, meine Harmonie geht schon an einem fehlenden Dienstboten in die Brüche.« »Mehr Temperament!« rief nebenan Werner mit klangvoller Don­ nerstimme. »Hat sie welches?« fragte Käthe ermattet, »sie sieht entschieden so aus, und die Käuze beklagen sich ja auch darüber. Bei Tisch fand ich allerdings ihr Benehmen eher schüchtern und gezwungen.« »Die Käuze mochten dennoch nicht unrecht haben«, sagte Erasmus in gedämpftem Ton. »Ich bin wieder einmal im Zweifel, ob ich Ihnen etwas erzählen soll.« »Was ist denn nun wieder? Sie machen mich wirklich nervös, Erasmus. Ich will lieber nichts mehr mit Ihren Geschichten zu tun ha­ ben.« »Es sind gar nicht meine Geschichten, sie passieren mir nur.« »Also ...« »Also, diese Elisabeth ist identisch mit Lucy ... vielmehr mit der Dame, die ich neulich in der Bar für sie gehalten habe.« »Sie haben wohl tatsächlich schon Halluzinationen«, sagte Käthe und schüttelte ihre müde Zerstreutheit ab. »Nein, dies war keine - ich erkannte sie gleich wieder, als ich sie auf der Treppe traf, und jetzt bin ich meiner Sache vollkommen sicher. Sie hat sogar dasselbe Kleid an.« »Und hat sie Sie auch wiedererkannt?« »Zweifellos, aber sie will nichts davon wissen.« »Das ist nun allerdings eine unangenehme Geschichte«, meinte Käthe nachdenklich. Dann wurden sie unterbrochen, der alte Josias kam, er war von seinem Ausgang zurückgekommen und wollte fragen, ob man seiner noch bedürfe. So überließ man ihm das Weitere und ging zu den anderen hinüber.

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Elisabeth wollte schon um zehn aufbrechen, sie habe morgen früh Unterricht, sagte sie, und müsse ausschlafen. Dann sträubte sie sich in fast auffälliger Weise gegen Hennings Begleitung, sie wolle keine Stö­ rung verursachen und sei gewöhnt, allein zu gehen. Schließlich bat sie, man möchte ihr ein Auto rufen, und hoffte, auf diese Weise allein fort­ zukommen. Es geschah, aber Henning begleitete sie hinunter und stieg dann ohne weiteres mit ein. »Was war denn das jetzt?« sagte Werner, der mit Käthe allein ge­ blieben war, »sie wollte nicht, absolut nicht, und der Baron sah sie die ganze Zeit an wie ein Tierbändiger. Dann fahrt sie davon, und er ver­ schwindet ebenfalls. Ihnen ist auch irgend etwas nicht ganz recht - ... Ja, das Leben ...«, und er tat ein paar große Schritte auf und ab. »Ihr Jugendfreund heißt Burmann, wie ich vorhin hörte - war es nicht auch ein Burmann, der junge Mensch, der sich umbrachte?« »Ja, sein Vetter.« »Nun, mir scheint, es geht um Sie herum ganz interessant zu. Komplizierte Menschen und komplizierte Ereignisse.« »Ach nein«, sagte Käthe bedrückt, »wir sind alle ganz gewöhnliche Menschen, aber der liebe Gott spielt ein bißchen Verhängnis mit uns —« Henning hatte sich auf dem Rücksitz niedergelassen, um dem jun­ gen Mädchen ins Gesicht sehen zu können. »Was meint also Herr Werner zu Ihren schauspielerischen Leistun­ gen?« »Er war ganz zufrieden«, erwiderte sie unruhig, »und möchte mit meinem Onkel sprechen. Eine lange Rede hat er mir darüber gehalten, ich sei noch zu unruhig und sprunghaft, aber an Talent fehle es mir nicht.« »Nein, das glaube ich auch«, sagte Henning langsam und betont. »Wie wollen Sie das wissen?« »Nun, Sie haben Ihre Rolle damals und heute abend wieder recht gut gespielt. Aber ich werde keinesfalls mit Ihrem Onkel darüber spre­ chen.« Wieder traf ihn ein unruhiger Blick, und sie versuchte überlegen zu lächeln.

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»Wissen Sie, Herr Baron, ich habe schon öfters von Ihnen sagen hören, Sie wären ein sonderbarer Mensch. Mit mir sind Sie wirklich nun recht sonderbar. - Was wollen Sie eigentlich von mir?« »Und warum sagen Sie das so gereizt? - Das war ungeschickt. Ihr Talent versagt doch manchmal. Dagegen wäre es kein übler Effekt, wenn sie jetzt sagen wollten, daß Sie mich wiedererkannt haben.« »Nun ja«, sagte Elisabeth mit einem raschen Entschluß, »ich habe Sie gleich wiedererkannt, aber Sie verstehen wohl, daß es eine unange­ nehme Situation für mich ist.« Beide schwiegen. Das Auto fuhr langsam, da noch viel Verkehr auf der Straße war, und Elisabeth sah mit ihren lebhaften Augen zum Fen­ ster hinaus, als ob sie das sehr interessierte. Sie ist leichtsinnig und gefaßt, dachte Henning, dann beugte er sich ein wenig vor und sagte mit einem Lächeln: »Also — Lucy.« Sie zuckte leicht zusammen: »So sagen Sie mir jetzt, bitte, warum haben Sie mich immer so genannt. Ich habe Ihnen schon mehrmals ge­ sagt, daß ich nicht so heiße.« »Darauf habe ich nicht geachtet, ich war den Abend nicht ganz normal, wie Sie vielleicht auch bemerkt haben. Die Art unserer Be­ kanntschaft war ja auch nicht grade normal oder, sagen wir, nicht die in unseren Kreisen übliche.« Elisabeth sah sehr jung und ziemlich beschämt aus und fragte: »Ich weiß. Es ist wohl eine dumme Frage, wenn man sich so benimmt wie ich damals, aber sagen Sie mir bitte: Für was haben Sie mich eigentlich gehalten?« »Für Lucy, wie Sie schon wissen.« »Wer ist das?« fragte sie weiter - »das heißt also, Sie haben mich mit einer anderen verwechselt?« »Wenn man es so nennen will, ja. Es tut mir leid, eine so ungalante Tatsache zugeben zu müssen.« »Geschieht mir ganz recht«, sagte das Mädchen plötzlich mit ame­ rikanischer Nüchternheit. »Ich weiß ja selbst nicht, was mir damals eingefallen ist. Ich habe mich so gelangweilt, seit ich hier bin, und be­ kam auf einmal Lust, mich unsinnig zu amüsieren. Was geschehen ist, kann man nicht mehr ändern. Aber ich weiß schon------ « Sie wurde, während sie sprach, immer lebhafter und zutraulicher, wie ein Kind, das seine ungezogenen Streiche erzählt und bis zu einem

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gewissen Grade auf Verständnis rechnet. »... Ich fürchte überhaupt, ich bin leichtsinnig, und das nimmt einmal ein schlechtes Ende.« »Ja«, sagte Henning, »man darf sich einen solchen Leichtsinn nicht leisten als junge Dame, die zur Gesellschaft gehören will. Von mir ha­ ben Sie nichts zu befürchten, aber daß Sie gerade an mich gerieten, war nur ein liebenswürdiger Zufall.« »Und Sie? Verachten Sie mich jetzt nicht, wie die Mädchen in Romanen immer fragen?« »O nein, dazu bin ich, abgesehen von allem anderen, viel zu höf­ lich. Darf ich ganz offen mit Ihnen reden? - Sind Sie erst eine be­ rühmte Schauspielerin, so machen Sie, was Sie wollen, da sieht man Ihnen durch die Finger und nimmt von vornherein an, daß Sie kein Musterleben führen. Einstweilen aber sollten Sie sich Ihrer Existenz als beschütztes junges Mädchen anpassen, sonst kommen Sie unter die Räder. — Sonderbarerweise komme ich öfters in die Lage, derartige Mahnreden zu halten. - Ihr jungen Mädchen seid eine schwierige Sa­ che. Man möchte so gerne sagen: Amüsiert euch nur, Kinder, das Le­ ben ist kurz genug, aber man darf nicht.« »Wenn es nun aber nicht mehr zu ändern ist«, sagte Elisabeth wie­ der mit einer Beimischung von Eigensinn, und Erasmus maß sie mit einem langen Blick, während ihr eine heiße Röte ins Gesicht stieg. »Wir sind jedenfalls in eine wunderliche Beziehung zueinander ge­ raten, und ich denke gerade darüber nach, wie wir uns da aus der Affä­ re ziehen.« Er machte eine Pause und dachte an ganz andere Dinge: »Sagen Sie mir, bitte, noch das eine: Haben Sie hier - nach dem Vorher frage ich nicht - schon öfters solche Abenduntemehmungen gemacht und dann wie kamen Sie zu dem schwedischen Herrn?« »Den kenne ich aus der Pension, wo ich zuerst wohnte - und es ist nichts dahinter. Ich war an dem Abend im Theater, zum erstenmal al­ lein, sonst hat mich immer einer von den Onkeln begleitet. Da traf ich ihn, er lud mich ein, mit ihm zu essen. Gott, und dann bekam man Lust, noch etwas zu unternehmen, und wir gingen in die Bar ...« Das Auto hielt. »Wir sind schon da. Trinken Sie noch eine Tasse Tee bei mir«, sagte Elisabeth hastig. »Ich habe jetzt eine eigene Wohnung.« »Ja, ich möchte wohl noch etwas weiter mit Ihnen sprechen.«

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Man stieg aus, und sie führte ihn in ihre Wohnung, die erst flüchtig eingerichtet war und den Eindruck machte, es würde wohl auch so bleiben. Alles lag und stand ein wenig achtlos durcheinander. »Es war noch nie Besuch hier«, entschuldigte sie sich, »ich gehe morgens früh fort zum Unterricht und nachmittags zum Zuschauen in die Theaterproben. So wird es hier immer noch nicht fertig.« Ihre Mutter war sicher noch eine Indianerin, dachte Henning, die irgendwo im Urwald ihren Haushalt führte. Ich fange an, die Sorgen­ falten der Käuze zu verstehen. Das Mädchen mochte seine Gedanken erraten und sagte, die Onkel kämen nie hierher, und es habe einen großen Kampf gekostet, bis man sie alleine wohnen ließ. Im Nebenraum sah man ein Bett und einen großen Spiegel. Hen­ ning räumte nachsichtig einige Kleider von einem breiten Sessel, wäh­ rend Elisabeth Hut und Mantel nebenan auf das Bett warf und dann die Tür hinter sich zuzog. Dann sollte sie weiter von dem Schweden er­ zählen, aber sie hatte ihn nur einmal auf der Straße gesehen, ehe er ab­ reiste, und wußte sonst nichts über ihn. »Was sagte er denn über den Verlauf des Abends?« »Er fand, ich hätte ihn schnöde behandelt, aber er lachte darüber, besonders, daß Sie ihn so zomig behandelten, und daß Sie mich be­ ständig Lucy nannten. Dann meinte er, er sei Ihnen früher schon ein­ mal begegnet, wußte aber nicht, wer Sie wären.« »Ah, das wollten Sie also von ihm erfahren. Es ist doch recht schlimm, Elisabeth - Sie wußten nicht einmal, wer ich sei.« »Ja«, gab sie kleinlaut zu, »er war auch sehr neugierig und fragte alles mögliche. Ich habe ihm nur gesagt, Sie wären nachher ganz ver­ nünftig geworden und hätten mich ganz korrekt nach Hause gebracht.« »Und jetzt? Sehen Sie mich nur nicht so unglücklich an. Unser Abenteuer ist etwas eigenartig, hat aber den Vorteil, daß niemand au­ ßer uns beiden darum weiß. Ich schlage Ihnen vor, wir ignorieren es und verkehren weiter miteinander, als ob nichts geschehen sei. Ihre drei Onkel wissen, daß ich Sie bei Frau Tergens kennengelemt habe, wir werden uns nun wohl öfters sehen und uns zwanglos begegnen, wie das in unseren Kreisen üblich ist. Vielleicht werden wir noch ganz gute Freunde ... Oder finden Sie, daß ich Sie nach dem, was vorgefal­

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len ist, heiraten müßte? Ich kann Ihnen nur davon abraten - aus allen möglichen Gründen.« Ihr kam dieser Gedanke so unerwartet, daß sie hell auflachte. »Nein, das brauchen Sie nicht. Ich glaube, ich bin überhaupt keine Frau zum Heiraten.« Dann fügte sie ernster hinzu: »Ich war damals wirklich etwas verliebt in Sie, und es reute mich, daß ich nicht einmal wußte, wer Sie waren.« »So?« sagte Henning und sah sie scharf an: »Das war aber doch Ih­ re eigene Schuld. Sprechen wir nicht mehr davon. Und jetzt ist es vor­ bei?« »Ja - ich danke Ihnen, daß Sie die Sache so gentlemanlike geordnet haben.« Er stand auf, um zu gehen, und gab ihr die Hand: »Sie sind eigent­ lich ein liebes Mädel, Elisabeth, aber geben Sie mehr acht auf sich. Schaffen Sie zum Beispiel das Chaos hier in Ihrer Wohnung ab und überhaupt - Chaos tut niemals gut, vor allem in äußeren Dingen. Ich fühle jetzt beinah so etwas wie Verantwortung für Sie ...« Sie nahm die Lampe und leuchtete von der Treppe aus, bis er die Haustür gefunden hatte. Er sah sich unten noch einmal um, ihr warm getöntes, lebhaftes Gesicht lächelte, und sie warf die Locke zurück Henning nickte ihr zu, und unterwegs fiel ihm ein, daß er ihr ja noch von Lucy erzählen wollte und manches andere. Aber man würde nun wohl öfters zusammenkommen, und das war ihm ein ganz sympathi­ scher Gedanke. Es kam dann auch so, daß sie sich in der nächsten Zeit häufig sa­ hen, aber das gemeinsame Abenteuer wurde nicht mehr erwähnt. Hen­ ning begegnete ihr mit Korrektheit, die sogar einen Anflug von Strenge hatte. Er rügte ihr zerfahrenes Wesen und hatte jeden Augenblick et­ was an ihrer Toilette oder ihrem Benehmen auszusetzen. Sie lachte dann wohl, nahm es sich aber doch mehr zu Herzen, als wenn ihre bis­ herigen Beschützer sie zu erziehen versuchen. So bemühte sie sich, ih­ re Wohnung besser in Stand zu setzen, und lud ihn dann ein, sie einmal wieder zu besuchen. Aber er lehnte es kurzweg ab, man traf sich im­ mer nur in Gesellschaft der anderen oder machte nach ihrer Theater­ stunde einen Spaziergang miteinander. Werner war inzwischen wieder abgereist, nachdem er Doktor Au­ gustin kennengelemt und des längeren mit ihm über seine Nichte ge-

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sprachen. Er hatte sich inzwischen noch eingehender mit ihr beschäf­ tigt und äußerte sich in unbestimmten Ausdrücken. Gewiß, es sei alles mögliche da, was sich entwickeln und herausbilden ließe, aber auch ihm gab die eigenwillige Sprunghaftigkeit des Mädchens zu denken. Wenn man eine Rolle mit ihr durchnahm, war sie manchmal ganz bei der Sache und zeigte die besten Ansätze, aber gleich darauf hatte sie Gott weiß was für andere Gedanken im Kopf und war zu nichts mehr zu brauchen. »Strenge künstlerische Zucht tut ihr not«, sagte Wemer, »und Abschleifen in jeder Beziehung. Vielleicht ein rauher Diamant, der die Mühe lohnt, vielleicht auch nur ein hübscher, blanker Kiesel­ stein.« Das gab den Käuzen viel zu denken und zu reden. Sie hatten zwar schon häufig ähnliche Erwägungen gemacht, aber sie waren dabei un­ ter sich gewesen. Das Problem war sozusagen in der Familie geblie­ ben, jetzt begannen sich auch andere dafür zu interessieren, das störte und beunruhigte sie. Eines Nachmittags saß Henning wieder bei ihnen, und zufällig hatte sich auch Käthe eingestellt, was sonst selten vorkam. »Was macht Ihr Diamant?« fragte Henning, »geht es gut vorwärts mit dem Abschleifen?« Er hatte Elisabeth in der letzten Woche nur flüchtig gesehen. Aber Augustin war herzlich schlechter Laune und sagte mit einem Anflug von Galgenhumor, der eine neue Erscheinung an ihm war: »Nein, wir kommen nicht damit zu Rande. Entweder muß ich jetzt heiraten, damit das Mädchen eine Art Familie hat, oder man muß sie selbst unter die Haube bringen, mit einem Mann, der sie zu beeinflussen weiß.« Weintrapp und Leidhecker wechselten erstaunte, befremdete Blikke, solche gewaltsame Scherze lagen sonst gar nicht in seinem Stil. Er fühlte das auch selbst und lenkte wieder in die gewohnte, an diesem Stammtisch herkömmliche Redeweise ein: »Ich gedachte hiermit keine Frivolität zu sagen, sondern meinte es ganz im Emst«, sagte er. »Das Kaffeehaus ist zwar nicht der geeignete Ort, um darüber zu sprechen, aber da wir hier unter uns sind ... Kurzum, Sie wissen, daß Elisabeth inzwischen einige Bälle besuchte, und bei dieser Gelegenheit hat ein Herr sie kennengelemt, der sie zu heiraten wünscht. Ich möchte selbst­ verständlich noch keinen Namen nennen, aber er war schon bei mir, hat nicht grade direkt um sie angehalten, sondern - wie soll ich sagen -

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mich nur darauf vorbereitet, daß dieses geschehen würde, sobald er sich ihrer Zustimmung einigermaßen sicher fühlt...« Käthe mußte unwillkürlich lachen, dieser vorsichtige Bewerber würde sich sicher gut mit den Käuzen verstehen. Henning aber ärgerte sich. Da wurde so viel über das Wohl und Wehe dieses Mädchens ge­ schwätzt, und schließlich war es doch allen am bequemsten, sie mit dem ersten besten Trottel zu verheiraten. Er hatte sie gern und fand es schade um sie. Sie war ein warmherziges, impulsives Wesen und zeigte ihm gegenüber eine fast kindliche Anhänglichkeit. Er nahm sich vor, sich wieder mehr um sie zu bekümmern, eben jetzt hatte er sie ein wenig vernachlässigt, weil ihm andere Dinge im Kopflagen. »Was sagt sie denn selbst dazu?« fragte er brüsk. »Das eben«, sagte Augustin, »das eben hat mich ein wenig aus der Fassung gebracht. Sie lachte erst und fragte, ob er Geld habe, viel Geld, und schilderte mir aufs ausführlichste, wie sie sich dann das Le­ ben zu gestalten wünsche. Dann wurde sie wieder ernst, sagte, sie dächte gar nicht daran und fände den betreffenden Herrn unausstehlich. Ferner erklärte sie mir noch an demselben Tage, vom Theater habe sie vorläufig genug, es habe sie anfangs gelockt und gereizt, aber als dau­ ernder Beruf sei es eben doch nichts für sie. Jetzt sehne sie sich nur da­ nach, Musik zu treiben. Sie ist tatsächlich musikalisch recht begabt, aber es wird allmählich eine Kalamität mit all ihren Talenten und dem gänzlichen Mangel an Ausdauer ... Nach dieser Aussprache ist sie dann nicht mehr bei mir gewesen, so suchte ich sie dieser Tage in ihrer Wohnung auf -« Augustins Augen weiteten sich, als habe er dort ganz ungewöhnliche Eindrücke erlebt - »sie sitzt den ganzen Tag am Kla­ vier und spielt. Nein, das kann nicht so weitergehen.« »Elisabeth ist ein Kind«, sagte der schweigsame Leidhecker, »das meinte die Frau Kommerzienrat auch - ich sprach gestern mit ihr über die Aufführung, bei der Elisabeth jetzt plötzlich nicht mehr mitwirken will.« Käthe fragte, um was für eine Aufführung es sich handle, und Au­ gustin erzählte, es solle im Hause Schönlank ein Diner gegeben werden mit nachfolgenden künstlerischen Darbietungen, an denen sich auch talentvolle Dilettanten beteiligten. Man vertiefte sich in Einzelheiten, das Gespräch drehte sich nun endlos und ausschließlich um dieses Diner sowie die kulinarischen und

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künstlerischen Genüsse, die es bieten sollte. Die Käuze hatten einige interessante alte Rezepte ausgegraben und sie ausführlich mit der Frau Schönlank besprochen, Elisabeth hatte schon mit jenem Herrn, der sich um sie bewerben wollte, eine Rolle geprobt und mußte unter allen Um­ ständen dazu bewogen werden, Ihren Widerstand aufzugeben. Auch an Henning wandte Augustin sich mit einer dringenden Ermahnung, die Einladung nicht auszuschlagen. Er antwortete ausweichend und brach gleich danach auf. »Lassen Sie ihn doch mit Schönlank zufrieden«, sagte Käthe, als er gegangen war, »er mag die Leute nicht, und das Zureden verstimmt ihn nur.« »Es ist aber tatsächlich von Wichtigkeit für ihn, gnädige Frau ... Ich kann Ihnen das nicht im einzelnen auseinandersetzen, es ist gewisser­ maßen noch Geschäftsgeheimnis. Nur so viel möchte ich sagen, daß der Kommerzienrat von den besten Absichten für unseren gemeinsa­ men Freund erfüllt ist, wenn ihm dieser nur ein weniges entgegen­ kommen wollte.« »Etwa eine von seinen Töchtern zur Baronin machte - ja, das glau­ be ich gem.« »Sie tun dem Mann unrecht. Er ist, wie ich ihn kenne, durchaus kein berechnender Charakter. Seine Eitelkeit, wenn man es schon so nennen will, liegt auf ganz anderem Gebiet. Er ist ein mächtiger und einflußreicher Mann, und wo er einmal Sympathie für jemanden gefaßt hat, macht es ihm die größte Freude, jene beiden angenehmen Dinge für ihn geltend zu machen.« »Warum hat er nur diese auffallende Sympathie für Henning«, meinte Käthe nachdenklich. »Viele haben Sympathie für ihn«, bemerkte Leidhecker, »aber er hat keine Verwendung dafür.« Augustin liebte es nicht, wenn man ihn durch Zwischenbemerkun­ gen störte, er quittierte daher diese nur mit einem flüchtigen Lächeln und fuhr dann fort, wie schon gesagt, könne er keine Einzelheiten dar­ über sagen, aber Schönlank habe eine Stellung für ihn im Auge, welche für Henning den Ausweg aus allen Schwierigkeiten bedeute. »Meinen Sie denn, daß er überhaupt in einer Stellung irgend etwas leisten wird?« Ihre Frage klang sehr ungläubig.

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»Der Baron ist begabt«, sagte Leidhecker, und Weintrapp, der Zeitungen las, nickte zustimmend. »Selbst das wäre hier nicht einmal nötig. Für die Leistungen sind andere Leute da. Er braucht nur zu repräsentieren, vorhanden zu sein und, ich wiederhole, dem Herrn Schönlank ein wenig entgegenzu­ kommen.« Auch diese beiden Fähigkeiten traute Käthe ihm nicht recht zu, aber sie sprach das nicht aus. »Reden Sie ihm zu«, sagte Augustin geheimnisvoll und eindring­ lich. »Tun Sie Ihr möglichstes, gnädige Frau, daß Henning das Diner nicht versäumt. Man legt Wert darauf, daß er gerade bei dieser Gele­ genheit erscheint.« »Gewiß, gerne, soweit ich da etwas ausrichten kann. Wenn man Ihnen heute zuhört, lieber Doktor, möchte man beinah glauben, dieses Diner sei eine magische Veranstaltung, wo jeder, der ernstlich danach trachtet, sein Lebensglück ausgehändigt bekommt - Ihre Nichte, Hen­ ning -, vielleicht findet sich auch für mich noch etwas.« »Sie brauchen es nicht, Frau Käthe ...« Sie war schon aufgestanden, Augustin begleitete sie bis an den Ausgang: »Allen Scherz beiseite, gnädige Frau«, sagte er, »ich hatte kürzlich einen Brief von dem alten Baron, er macht sich schwere Sorge um seinen Sohn - und ich auch. Durch einen Zufall habe ich allerhand über ihn erfahren, ich fürchte, er ist da in Dinge hineingeraten, die ihm den Hals brechen können, wenn nicht etwas geschieht...« »Wenn er nicht zum Diner des Kommerzienrats geht«, antwortete Käthe mit einer Nuance von Gereiztheit. »Gewiß ja, er hat auch mir gegenüber so etwas geäußert. Es scheint, daß er spielt - was weiß ich. Es wird auf die Dauer langweilig und ermüdend, wenn ein ausgewach­ sener Mensch immer Sorgenkind bleibt.« Und als sie Henning das nächste Mal traf, sagte sie ihm: »Nun, wie steht’s? Sie werden doch hingehen ... zu Schönlanks, meine ich. Man will Sie retten. Ich weiß nicht, inwieweit Sie Rettung brauchen, aber überlegen Sie es sich rechtzeitig. Natürlich gehe ich auch hin, und wenn wir einen stimmungsvollen Platz finden, können wir ja wieder einen Annäherungsversuch machen ... Übrigens werde ich Hans Bur­ mann heiraten, um diese Frage endlich aus der Welt zu schaffen.«

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Henning lachte: »Aber Käthe, was ist denn in Sie gefahren? Sie werden ja ganz brutal. Natürlich wünsche ich Ihnen alles Glück und Hans ebenfalls.« Er machte seinen Besuch bei Schönlanks und wurde mit strahlen­ der Liebenswürdigkeit empfangen. Dann gab es eine längere Privatun­ terhaltung mit dem Kommerzienrat, der ihn ungemein vorsichtig be­ handelte und sich nur in Andeutungen erging. So sondierte er flüchtig, ob Henning wohl gewillt sei, es mit einer Stellung zu versuchen, die nur geringe Ansprüche an Fachkenntnis stellte, aber diese und jene Vorteile böte - deutete an, daß er Gelegenheit haben würde, die maß­ gebenden Persönlichkeiten bei dem geplanten Fest kennenzulemen es sei auch dies nur Formsache, als solche aber von Wichtigkeit. Henning war an diesem Vormittag in friedfertiger Stimmung und ließ alles mit stummer Resignation über sich ergehen. Nur als Schön­ lank äußerst behutsam andeutete, daß sich wohl auch ein Modus finden würde, pekuniäre Schwierigkeiten zu arrangieren, zuckte er ein wenig und dachte an den Pferdefuß. Wenn dieser Mann wirklich genau über ihn orientiert war, mußte etwas ganz Besonderes dahinterstecken, oder aber er war von einer sinnlosen Nächstenliebe besessen. Vielleicht hatte Schönlank dieses Zucken bemerkt, denn er sprang rasch wieder von dem heiklen Punkt ab, erzählte von den künstleri­ schen Darbietungen des Abends und erwähnte so nebenbei, es werde auch ein schwedisches Tänzerpaar erwartet, das schon voriges Jahr hier geweilt habe, ohne jedoch aufzutreten. Er nannte auch die Namen, und Henning fiel dabei die Visitenkarte des verdammten Schweden ein: spätestens am 15. Februar. Es stimmte alles ganz genau und war vielleicht ein eigentümliches Zusammentreffen, aber er wunderte sich nicht darüber. Der Kommerzienrat war sichtlich dazu ausersehen, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und ein ganzes Füllhorn erwünschter Dinge über ihn auszuschütten. Nur kam er wahrscheinlich damit zu spät. Es war Mittag vorbei, als sie sich unter herzlichem Händeschütteln trennten. Der Kommerzienrat begab sich zu seiner Familie, und Hen­ ning ging nach Hause. Man hatte Elisabeth eingeladen, und er fand sie und Burmann schon bei Tisch. Die beiden verstanden sich ausnehmend gut, und Henning machte eine Bemerkung darüber, als er in das Zim­ mer trat. Er meinte, sie sähe heute ganz besonders artig und gesetzt

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aus, gewiß habe Burmann ihr gerade wieder eine ihrer neuesten Lau­ nen ausgeredet, sogar die Locke, in der ihr ganzer Eigensinn stecke, sei ausnahmsweise am rechten Platz. Worauf das Mädchen mit raschem Aufblick antwortete: Ja, hier im Hause sei ihr am allerwohlsten, und dann verhielten sich auch ihre Launen und Locken ruhiger. Dann erzählte Henning von seinem Besuch, erklärte ohne weiteres, Elisabeth möchte jetzt ihre Proben wiederaufnehmen, es sei eine aus­ gemachte Sache, daß sie alle beide das Fest mitmachen würden. Wenn er zu Kreuz krieche, solle sie ihm wenigstens dabei Gesellschaft lei­ sten. Elisabeth nickte. »Warum ist denn Käthe nicht erschienen?« fragte er, »oder kommt sie noch?« »Nein, sie war verhindert, du wirst die Herren Onkel nachher beru­ higen müssen, daß wir ihre Nichte ohne Gardedame empfangen ha­ ben.« »Sie mag mich nicht«, meinte Elisabeth, »und übrigens möchte ich das Recht haben, hier im Hause aus und ein zu gehen, wie es mir und Ihnen paßt.« Man versuchte ihr diesen Gedanken auszureden, warum sollte Käthe etwas gegen sie haben, aber die beiden Freunde fühlten, daß wohl etwas Richtiges daran sein mochte, und dann versprachen sie, die Frage des unbeschränkten Gastrechts näher zu erwägen. »Wenn ich wieder zurück bin«, sagte Burmann, »ja, ich denke nämlich auf ein paar Tage fortzugehen. Jetzt mitten im Winter, einer­ lei, ich bin überarbeitet und muß ein wenig ausspannen.« Noch während er darüber sprach, rasselte das Telephon, und Josias meldete, daß ein Patient dringend seinen Besuch wünsche. Burmann legte die Serviette weg: »Da können Sie sich einen Begriff machen, Elisabeth, was Pflicht heißt. Ein schönes, bittres Wort, das Sie nur vom Hörensagen kennen.« Damit ging er. Henning nahm sie mit herüber in sein Zimmer, das sie gerne sehen wollte. Sie betrachtete alles, entdeckte schließlich auch den vergolde­ ten Schuh auf dem Schreibtisch und fragte, ob der aus seiner eigenen Kinderzeit stamme. Nein, und Henning begann ihr die Geschichte die­ ses Schuhes zu erzählen. Elisabeth saß dabei auf dem Schreibtisch und ließ die Füße herabhängen. Es wunderte ihn, daß es sie so erregte, aber sie wurde bleich bis in die Lippen und schauderte sichtlich.

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»Ja, mein Gott«, unterbrach er sich, »was haben Sie denn? Wenn Sie dies fremde Schicksal so erregt - und Sie wollen Schauspielerin werden?« »Nein, das will ich nicht mehr«, und sie nahm sich wieder zusam­ men, »ich tauge nicht dazu. Ich tauge überhaupt zu nichts. Was ich auch anfange, immer dasselbe. Aber das sind nicht nur Launen, wie ihr meint. Und mit dem Leben geht es mir genauso. Es ist ja«, sie bekam plötzlich wieder Farbe und sprang auf, »es ist manchmal so schön, leichtsinnig zu sein, und dann ist auch das wieder nichts.« Dabei hatte sie ein frivoles Lächeln und sah ihn sonderbar an, dann verschwand das Lächeln, und ihre Augen wurden matt und dunkel. Sie nahm den Schuh noch einmal in die Hand: »Wissen Sie was, Henning«, sagte sie langsam und ohne Pose, »am liebsten möchte ich denselben Weg ge­ hen wie diese Hedy, ich habe nur den Mut nicht. Und vor allem nicht allein.« »Warten Sie noch, vielleicht leiste ich Ihnen Gesellschaft.« »Warten, worauf?« »Nun, zum mindesten warten wir noch das berühmte Diner ab. Vielleicht denken wir nachher alle beide anders darüber.« Sie schwieg, und er versuchte diese Szene absurd zu finden, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Wenn sie nur jetzt nicht anfängt zu weinen wie die Kleine damals. Dann werde ich sie zu trösten suchen, und wer weiß, wie das endet, aber Elisabeth weinte nicht, sondern sah ihn gerade an und sagte: »Ist das Ihr Emst ... ich meine, daß Sie auch solche Gedanken haben?« Er zuckte die Achseln: »Mir ist eigentlich nie etwas ernst. Ich hän­ ge weder am Leben noch sehne ich mich danach, es los zu sein ... aber«, fuhr er halb gedankenlos fort, mit einer tiefen Falte zwischen den Augen, »es könnten Umstände eintreten, die mir nicht viel Wahl lassen. Übrigens spreche ich das heute zum erstenmal aus, komischer­ weise gerade Ihnen gegenüber. Das ist vielleicht ebenso sinnlos wie unser Irrtum an jenem Abend. Oder es ist nur Hedys Schuh daran schuld.« »Wieso? Was für Umstände?« wollte sie wissen. Er setzte sich in den Sessel vor dem Schreibtisch und spielte mit dem Federhalter, der vor ihm lag.

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»Geldgeschichten, Elisabeth. Ja, sehen Sie mich nur so an. Sie denken, ich sei ein Gentleman, das denken bisher alle, die mich ken­ nen. Ich halte mich ja auch selbst dafür, aber - verstehen Sie - meine Geldaffären sind auf einen Punkt geraten, wo ich eventuell nicht mehr dafür gelten könnte. Das liegt mir nicht, wenn ich auch ein äußerst in­ dolenter Mensch bin, es würde mich doch wohl zu einem Entschluß treiben, der die ganze Sache erledigt. Sie haben doch gewiß schon hin und wieder gehört, daß sich Männer wegen derartiger Angelegenheiten eine Kugel vor den Kopf schießen.« Das Mädchen sah ihn immer noch an, als habe sie nicht recht be­ griffen. »Aber, wie gesagt, ich habe noch eine Weile Zeit, es mir zu überle­ gen. Jedenfalls gehen wir erst zusammen zu dem Diner. Und jetzt wollen wir spazierengehen, um auf andere Gedanken zu kommen.« Unterwegs erzählte er ihr, daß auch Lucy da sein werde. Er sei recht neugierig, wie es nun diesmal mit ihr ausgeben werde. Jedenfalls würde sie nun wohl aufhören, ein Phantom zu sein -« »Und Sie werden uns wohl nicht noch einmal miteinander ver­ wechseln«, sagte Elisabeth nachdenklich.

Der Tag des kommerzienrätlichen Festes war herangekommen, Bur­ mann war verreist und Henning den ganzen Nachmittag allein zu Hau­ se. Er befand sich in einem Zustand von unerträglicher Nervosität und ging ruhelos von einem Zimmer in das andere. Dann wieder sah er zum Fenster hinaus oder nach der Uhr, die heute überhaupt nicht vorzurükken schien. Einmal dachte er daran, Käthe aufzusuchen, gab es aber gleich wieder auf. Es war keine Freude mehr dabei, wenn sie zusam­ men waren. Henning war sich noch nicht darüber klargeworden, ob sie ihre kürzlich geäußerten Zukunftspläne im Emst gemeint habe, aber er fühlte, daß sie ihn mehr und mehr fallenließ und sich anderen Gedan­ ken zuwandte. Die Käuze mochte er ebenfalls nicht sehen. Sie würden nur wieder vom Diner reden, und das konnte er nicht mehr anhören, wenn er auch entschlossen war, es mitzumachen. Schließlich kam ihm der Gedanke, Elisabeth aufzusuchen, sie würde ihm wenigstens Gesell­ schaft leisten, und dann fuhr man gleich zusammen zu Schönlanks. Um sieben Uhr sollte das Fest beginnen, und jetzt war es halb fünf. Er rief

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Josias und begann sich rasch umzukleiden. Der Alte versuchte einen Scherz, um ihn aufzuheitem. »Der Herr Baron haben heute Ballfieber wie eine junge Dame.« »Es ist kein Ball, Josias, es ist ein Diner.« »Nun, ich meine, das kommt wohl auf dasselbe hinaus. Wenn Herr Baron keine Lust haben, sollten Herr Baron doch lieber nicht hinge­ hen.« »Du hast leicht reden. - Höre, Josias«, sagte er dann, während er vor dem Spiegel stand und den Kragen zuknöpfte, »ich muß hingehen, weil der Kommerzienrat mir eine Stellung verschaffen will - eine Stellung, Josias - es wird jetzt Emst mit uns, blutiger Emst.« »Ich weiß, Herr Baron«, sagte der Alte, glaubte aber immer noch nicht daran. »Es ist schwer für den Herrn Baron, und unser alter Herr Baron hat die Schuld. Aber es wird gewiß alles wieder in Ordnung kommen, und dann sind wir wieder zufrieden.« »Meinst du, ich wäre unzufrieden - ja, vielleicht kann man es auch so nennen.« Er hatte inzwischen die Krawatte gebunden und wandte sich nach Josias um, der den Frack bereithielt. »Es geht mir sehr schlecht, lieber Josias, und vielleicht geht es ei­ nes schönen Tages schief mit mir trotz allen Kommerzienräten. Ich spreche nicht gern darüber, du verlierst sonst noch den Respekt. Aber schließlich kommt so etwas in den besten Familien vor und da erst recht, nimmt sich aber doppelt schlecht aus. - Es könnte also sein, daß ich fortgehe, ins Ausland oder sonst wohin - man kann das alles noch nicht wissen, und du bleibst dann einfach beim Doktor. Zu meinem Vater möchtest du wohl nicht zurück, oder?« »Nein, Herr Baron. Aber gehen Herr Baron nur erst einmal zu dem Diner. Dann wird es schon wieder recht sein.« Josias glaubte absolut nicht an Katastrophen, die über seinen jun­ gen Herrn hereinbrechen könnten, der hatte schon oft so geredet, und es war immer alles geblieben, wie es war. »Schön, wir sind fertig, rufe ein Auto, und hörst du, da liegen noch Briefe von heute morgen auf dem Nachttisch. Wirf die ganze Ge­ schichte ins Feuer, aber vergiß es nicht.« Unterwegs kaufte er einen großen Strauß Rosen für Elisabeth. Sie war zu Hause, hatte aber Besuch von einigen jungen Schauspielern und zwei Mädchen, die ebenfalls Kolleginnen vom dramatischen Unterricht

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waren. Die ganze Gesellschaft saß um den Tisch, trank Wein und war laut und lustig. Elisabeth machte ihm selbst die Tür auf und war sehr überrascht. Voller Freude nahm sie die Rosen an sich. »Danke schön, wie hübsch, daß Sie kommen, und schon in voller Gala.« »Ich wollte Sie für heute abend abholen und gleich so lange hier­ bleiben, wenn ich Sie nicht störe.« »Gewiß nicht, aber es sind Leute bei mir ...« »Das habe ich schon bemerkt« - die Tür zum Wohnzimmer stand offen, man hörte Stimmengewirr und Lachen - »so ertappe ich Sie doch einmal, wenn Ihre Onkel nicht aufpassen.« »Die sprachen erst davon, mich abzuholen, kamen aber glückli­ cherweise davon ab. Soll ich die Leute wegschicken?« »Nein«, antwortete Henning und legte im Flur seinen Pelz ab, »ich habe gar nichts dagegen, vor diesem Abendzauber noch etwas Boheme zu mir zu nehmen und mir anzusehen, wie Sie leben, wenn Sie nicht unter Aufsicht sind.« Er bekam darauf die jungen Künstler und ihre Damen vorgestellt, saß im Frack dazwischen, war liebenswürdig und guter Laune. »Nun müßt ihr gehen, es wird Zeit, Toilette zu machen«, sagte Eli­ sabeth, als es gegen sechs Uhr ging. Sie wollten nicht, sie wollten bleiben und sie in ihrer Gesellschafts­ toilette sehen. Die Onkel hatten sich angestrengt und ihr ein sehr schö­ nes Kleid machen lassen, das nebenan auf dem Bett lag. Sie führte Henning hinein, um es ihm zu zeigen, die anderen hatten es schon vor­ her bewundert. Dann setzte sie sich plötzlich neben das Kleid auf ihr Bett und sah ihn hilflos an. Er sah erst jetzt, daß sie tiefe Schatten um die Augen hatte. »Was ist mit Ihnen, Kind?« fragte er, »eben waren Sie noch so lu­ stig, und nun machen Sie ein Gesicht...« »Nein, ich bin gar nicht lustig, und ich möchte heute abend lieber nicht hingehen, einfach zu Hause bleiben.« »Ich auch nicht, aber nun ist der ganze Apparat einmal in Szene ge­ setzt. Gehen wir nur, wenn es auch vielleicht keinen Sinn hat«, er fuhr sich über die Stirn und sah sie wieder an, »ich fürchte, Sie haben schon einen kleinen Schwips, und mir geht es ebenso. Man muß sich einen

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Ruck geben, es geht doch nicht an, daß wir beide in angeheiterter Stimmung dort auftreten. Denken Sie nur an Ihren Freier - ja, Augustin war so indiskret, mir davon zu erzählen. Sie sollten sich die Sache je­ denfalls überlegen und ihn derweil nicht vor den Kopf stoßen. Geord­ nete Lebensverhältnisse sind immerhin nicht zu verachten.« Elisabeth legte den Kopf auf das Kissen und lachte fassungslos, richtete sich aber gleich wieder empor und lehnte sich ein wenig an ihn. Henning streichelte sie sanft und vorsichtig, spielte mit der eigen­ sinnigen Locke, die heute wieder nicht am Platz bleiben wollte. »Lie­ bes Kind, es ist besser, wenn wir jetzt Haltung bewahren, wir haben sie alle beide nötig. Mut, Mut, ziehen Sie sich an, auf dreiviertel sieben habe ich den Wagen bestellt.« Die anderen lärmten nebenan. »Ja, gehen Sie hinüber.« »Ein Teufelsmädel«, bemerkte einer von den jungen Leuten, der Eberhard gerufen wurde, und Henning wunderte sich, daß die beiden Mädchen in dieses Lob einstimmten. Es war kein Kolleginnenton, man schien sie wirklich gern zu haben, sprach anerkennend über ihr Talent, ihre Erscheinung und dann wieder über andere Sachen. Die Zeit ver­ ging, draußen rasselte ein Auto. Und Henning bemerkte mit Schrecken, daß es schon zehn Minuten auf sieben war. Elisabeth blieb immer noch im Nebenzimmer und schien sich nicht zu rühren. Er ging an die Tür und sah hinein, sie saß in einem hellblauen Kimono und in aller Ge­ mütsruhe vor dem Spiegel, hatte sich frisiert und betrachtete sich nun ganz versunken und mit ernstem Ausdruck. »Es ist höchste Zeit«, sagte Henning, »wir kommen ohnehin zu spät, und bei einem Diner ist das peinlich.« Sie fuhr herum: »Ach, das ist mir ja so gleichgültig ... Ich muß erst noch ein Glas Wein trinken.« Damit schob sie sich an ihm vorüber, setzte sich wieder zu den anderen und ließ sich einschenken. Henning ergab sich in sein Schicksal und wartete ab, wie es sich nun weiterent­ wickeln würde. Ihm war zumut wie in einem Traum, wo man läuft und läuft und nicht vorwärts kommt. Er sah deutlich den peinlichen Mo­ ment vor sich, wo sie beide verspätet anlangen würden, aller Blicke sich auf sie richteten, begriff, daß das eine Unmöglichkeit sei, und rang mit dem Entschluß, allein zu fahren. Dann aber kam sie gewiß nicht

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mehr nach und würde sich große Unannehmlichkeiten zuziehen. Das durfte er keinesfalls auf sich nehmen. Er beugte sich vor und sprach leise auf sie ein. Die Schauspieler schwätzten untereinander ruhig weiter. Von Henning hatten sie bisher nie gehört, hielten die beiden für ein Liebespaar und wollten so wenig wie möglich stören. »Ich kann wirklich nicht«, antwortete Elisabeth und stützte den Kopf in beide Hände, »gehen Sie allein.« »Weshalb nicht? Sind Sie krank?« »Nein, ich bin nicht krank ... es ist etwas anderes. Ich mag nicht, und es hat auch keinen Zweck mehr.« Ganz unvermittelt nahm sie die Hände herunter, sah ihn voll an und sagte: »Lieber Henning, es hilft Ihnen nichts. Sie werden mich doch heiraten müssen.« Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriffen hatte, daß sie in vol­ lem Emst sprach, und um was es sich handelte. »Das auch noch«, sagte er unwillkürlich. »Und jetzt gehen Sie, ich fühle mich heute nicht imstande, alle die Leute zu sehen, ihnen etwas vorzuspielen. Für sich werden Sie schon eine Entschuldigung finden. Denken Sie auch, wie es sich ausnehmen würde, wenn wir beide mit einer solchen Verspätung ankämen«, dabei lächelte sie wieder. »Entschuldige, Elisabeth«, rief eines der Mädchen vom Tisch her­ über, »aber ihr kommt wirklich nicht mehr zurecht. Willst du dich nicht anziehen, ich helfe dir. Und dann müssen wir auch fort, wir ge­ hen ins Theater.« »Ja, komm und hilf mir. Ich ziehe mich an, damit sie nichts mer­ ken«, sagte sie leise zu Henning. »Und Sie gehen jetzt.« Sie gab ihm die Hand und zog das Mädchen mit sich fort. Henning ging, aber nur auf die Straße hinunter, lohnte den Chauf­ feur ab und kam wieder herauf. Oben war man inzwischen wieder munter geworden, die ganze Ge­ sellschaft beteiligte sich an Elisabeths Toilette. Man half ihr, reichte ihr die Sachen, suchte nach Nadeln, kritisierte, es ging zu wie in der Theatergarderobe, und niemand ließ sich dadurch stören, daß Henning wieder erschien. »Närrische Leute seid ihr«, sagte Eberhard, »jeder von uns wäre froh darum, bei Schönlanks zu verkehren, und ihr verplaudert die Zeit,

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als ob das gar nicht der Rede wert sei. Ihr werdet um eine Stunde zu spät in die Gesellschaft hineinplatzen, und das macht einen verwünscht schlechten Eindruck. Paß auf, Elisabeth, man wird dich nie wieder einladen.« Elisabeth sah sehr hübsch aus in ihrem lichtgelben Kleid mit einer von Hennings Rosen im Haar, und diesmal war alles an ihr in tadello­ ser Ordnung, selbst die Frisur ließ nichts zu wünschen übrig. Sie nahm den Rosenstrauß in die Hand, verneigte sich mit gemäßigtem Salonlä­ cheln, hielt eine Entschuldigungsrede an einen fingierten Kommerzien­ rat, etwas von oben herab wie eine große Dame, die sich wohl einen Verstoß gegen die Etikette leisten kann, und trieb alle mögliche Allo­ tria. »Nun stoßen wir noch einmal an«, sagte sie dann, »auf das Haus Schönlank, und ob es uns Glück bringen wird. Kinder, ihr wißt ja gar nicht, was alles von diesem Diner abhängt. Und dann geht ihr alle. Ich habe es mir überlegt, ich erscheine erst nach Tisch und nehme derweil meine Rolle noch einmal durch. Und Sie, Baron?« »Wenn Sie erlauben, warte ich auf Sie, ich werde mich ganz still verhalten.« Zehn Minuten später waren alle gegangen und die beiden allein. Sie sprachen noch lange miteinander und fuhren dann in die Stadt, um in einem stillen, eleganten Restaurant zusammen zu Abend zu essen. Und dort kam eine beinah leichte und fröhliche Stimmung über sie. Sie saßen sich gegenüber, beide immer noch in Gesellschaftstoilette, Eli­ sabeth hatte ihre Rosen mitgenommen. Das Diner war endgültig auf­ gegeben. »Und haben Sie jetzt wirklich noch den Mut?« fragte Henning lä­ chelnd. »Sehen Sie nur, wie das Leben wieder hübsch und verlockend aus­ sieht, sobald man aus den eigenen vier Wänden, die alles wissen, her­ auskommt.« »Man müßte ja doch wieder dorthin zurück, und dann geht es wie­ der nicht - mit alledem, was man sich angerichtet hat.« »Nein gewiß, es geht nicht«, sagte Henning. »Für mich wenigstens steht das ganz fest - ich bin fertig, rien ne va plus. Das weiß ich schon seit einigen Tagen, ich dachte eigentlich nur um Ihretwillen, heute noch dorthin zu gehen. Aber Sie?«

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»Ich würde es sonst ja doch alleine tun«, antwortete Elisabeth mit Festigkeit, »heute, morgen oder in drei Wochen, was sollte sonst aus mir werden.« »Wir können es ja auch noch überlegen«, meinte Henning. »Wenn wir nun das Diner nicht versäumt hätten ... jedenfalls den­ ken jetzt verschiedene Menschen an uns, und warum wir nicht da sind. Zum Beispiel der Mann, der mich heiraten möchte.« »Wäre das nicht noch ein Ausweg gewesen, Elisabeth?« »Nein.« »Und Lucy wird da sein«, sagte er, »nun bleibt sie doch ein Phan­ tom. Auch der verdammte Schwede - ich habe Ihnen doch erzählt ... spätestens am 15. Februar, das ist übermorgen. Damit behält er nun vielleicht recht, wenn es auch anders gemeint war.« Elisabeth war tief in Gedanken versunken, und manchmal kam ein verstörter Zug in ihr Gesicht, wie bei Menschen, die nicht mehr ganz bei Verstand sind. »Wenn wir uns wenigstens geliebt hätten«, sagte sie, »dann wäre es viel schöner.« »Ja, was können wir dafür? Das Schicksal hat uns auch ohne das zusammengeworfen und hat es nicht ganz geschickt gemacht wie so oft. Es würde uns übrigens nicht viel nützen, Kind, wir würden nur et­ was mehr am Leben hängen. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag, Elisabeth, wir nehmen einen Nachtzug, fahren irgendwohin, an einen anderen Ort, und bleiben noch einen Tag beisammen oder zwei. Dann wünsche ich spurlos von der Bühne zu verschwinden. Was Sie tun wollen, steht bei Ihnen.« »So wie ich da bin?« fragte sie, »ich möchte nicht noch einmal nach Hause.« Henning lächelte: »Gut, bleiben wir so, wie wir sind, zum Anden­ ken an das Diner mit all seinen schönen Verheißungen. Wir haben ja die Mäntel darüber. Kommen Sie, Kind, machen Sie sich fertig.« Auf dem Weg zum Bahnhof zog er sie an sich: »Ob wir uns nun lieben oder nicht, jetzt bleiben wir zusammen, und es kann nichts Schlimmes mehr kommen. Mir war schon lange nicht mehr so froh und leicht wie heute abend.« Die Käuze saßen am anderen Tage ratlos und verstört bei ihrem schwarzen Kaffee. Weder Elisabeth noch der Baron Henning waren gestern abend im Hause des Kommerzienrats erschienen, sie hatten

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sich nicht einmal entschuldigt und ließen sich auch heute nicht blicken. Man hatte sich nach Henning erkundigt und von dem alten Josias er­ fahren, daß er seit gestern nachmittag nicht mehr zu Hause gewesen sei, und zwar wäre er im Frack fortgegangen. Aber schließlich - man kannte ihn, und er hatte manchmal seine Einfälle, jedenfalls beunru­ higten sie sich mehr um Elisabeth. Es wurde auch zu ihr ein Bote ge­ schickt, er fand die Wohnung unverschlossen, aber sie war nicht da. Die Leute im Hause erzählten, daß gestern eine Gesellschaft von jun­ gen Leuten bei ihr gewesen sei, die sie nicht näher zu beschreiben wußten, verschiedentlich hatte man auch Autos vorfahren hören. Augustin war wie vor den Kopf geschlagen: Was mochte das Mäd­ chen angestellt haben - war sie etwa mit diesen jungen Leuten fortge­ fahren? Und wohin? »Wir hätten dies Alleinwohnen niemals zugeben sollen«, sagte er, »ganz abgesehen davon, daß dies mit Schönlanks eine peinliche Affäre war, die schwerlich wieder in Ordnung zu bringen ist - wenn sie nun in schlechte Gesellschaft geraten ist, in einem unbewachten Augenblick auf leichtsinnige Streiche verfällt... Dergleichen kommt ja vor ...« »Elisabeth ist ein Kind«, sagte Leidhecker beschwichtigend. Käthe hatte in bezug auf Erasmus andere und mehr zutreffende Ahnungen, und in plötzlicher Angst rief sie Burmann telegraphisch zu­ rück. Wieder ging die Kunde von einem aufregenden Doppelselbstmord durch verschiedene Stadtviertel - diesmal atmeten die Eltern der jüng­ sten Generation erleichtert auf, denn der ominöse Verein hatte nichts damit zu tun. - Und wieder traf es Burmann, die Toten zu rekognoszie­ ren, da er durch einen langen Brief von Henning orientiert war. Später erzählte er Käthe, Erasmus habe wieder ausgesehen wie ein schöner Stierkämpfer mit breiter Stim und breiter Brust und unendlich froh, nicht mehr in die Arena hinabsteigen zu müssen. Dann las er ihr aus Hennings Brief vor. Er sagte darin, es sei alles sehr merkwürdig gekommen, aber er habe noch für eine kurze Weile etwas kennengelemt, das er beinah für Glück halten könnte. Ihn, Hans Burmann, bäte er, den alten Josias zu behalten und seinem Vater möglichst schonend alles mitzuteilen. Es sei wirklich kein anderer Ausweg mehr für ihn gewesen, und er zählte hierfür Gründe auf, die Burmann beim Vorle­

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sen mit Schweigen überging. Käthe möge er in aller Freundschaft grü­ ßen und so weiter. Während er ihr das vorlas, erlebte er es zum erstenmal, daß sie weinte. Sie mochte ihn doch wohl geliebt haben, dachte Burmann. Dann kam der alte Baron an, er wurde allmählich vorbereitet, wie das immer zu geschehen pflegt, und nahm alles gefaßt entgegen. Bei dem Begräbnis seines Sohnes drückte auch der Kommerzienrat Schönlank ihm in tiefer und echter Ergriffenheit die Hand. Er ließ es höflich über sich ergehen, und der unnahbare Zug um seinen Mund wich keinen Augenblick. Den Abend verbrachte er mit Käthe und Hans Burmann, ließ sich, was sie wußten, über Elisabeth erzählen und nahm Hedys vergoldeten Kinderschuh als Andenken an sich, weil ihn dieser ganz besonders an seinen letzten Besuch erinnerte. Bei der Trauerfeier auf dem Friedhof waren auch die vier Schüler vom Selbstmordverein erschienen. Sie hatten von der Tragödie gehört, und obgleich man ihnen auch dieses Mal, wo sie ganz unbeteiligt wa­ ren, nicht mit freundlichen Blicken begegnete, ließen sie es sich nicht nehmen, einen Kranz auf das Grab zu legen.

Editorische Notiz Die Arbeit am Roman Herrn Dames Aufzeichnungen begann die Auto­ rin im Januar 1912, der Abschluß erfolgte im September desselben Jah­ res. Der Geldkomplex entstand im Jahr 1916. Der aus dem Nachlaß herausgegebene Roman Der Selbstmordverein wurde 1916 begonnen, konnte aber durch den plötzlichen Tod der Verfasserin im Jahr 1918 nicht mehr zu Lebzeiten veröffentlicht werden. Dieser Ausgabe liegen folgende autorisierte Erstdrucke zugrunde: 1. Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. München: A. Langen Verlag 1913; 2. Der Geldkomplex. Roman. München: A. Langen Verlag 1916. Textgrundlage für den Nachlaßroman ist: 3. Der Selbstmordverein. Novellistischer Roman aus dem Nachlaß. In: Gesammelte Werke in einem Bande, hg. und eingeleitet von El­ se Reventlow. München: A. Langen Verlag 1925, S. 1087-1227. Abgeglichen wurden die Fassungen der beiden ersten Romane mit den letzten zu Lebzeiten der Autorin erschienenen Auflagen. Nach freund­ licher Auskunft von Frau Ursula Hummel (Leiterin des Literaturar­ chivs der Monacensia, Stadtbibliothek München) ist über den Verbleib des Manuskripts von Der Selbstmordverein weder in den in Frage kommenden Archiven noch der früheren Inhaberin der Rechte, Frau Beatrice del Bondio-Reventlow, etwas bekannt. - Die diversen Nach­ drucke und Neuausgaben der Romane, die im bibliographischen An­ hang des fünften Bandes vollständig genannt werden, spielen für die Textüberlieferung keine Rolle.

Über die der Neuausgabe zugrundeliegenden Editionsrichtlinien in­ formiert ausführlich der Anhang des fünften Bandes. Grundsätzlich gilt, daß die Texte nicht modernisiert wurden. Lautstand und schriftstellerische Eigenheiten bleiben ebenso erhalten wie die Zeichensetzung, Groß- und Klein- oder Getrennt- und Zusammen­

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Schreibung. Es wurde auch dann nicht eingegriffen, wenn beispielswei­ se die Personalpronomina auf einer Seite uneinheitlich groß oder klein geschrieben oder Worte wie hab mit oder ohne Apostroph versehen wurden. Offensichtliche Druckfehler der Erstdrucke wurden bereinigt, graphische Varianten (z. B. Tür für Thür oder daß für dass oder Über für Ueber) der heutigen Schreibweise (alte Rechtschreibung) angepaßt. Zur Textpräsentation der Romane hier noch einige Hinweise: 1. Das in den Erstdrucken angewandte Verfahren, die wörtliche Rede in Gedankenstriche zu fassen, wurde aufgegeben. Wörtliche Rede erscheint in der Neuausgabe in doppelten Anführungszeichen. 2. Auszeichnungen werden im Neudruck grundsätzlich kursiv ange­ zeigt. 3. Zeilenumbrüche, Abstände von Abschnitten und Kapiteln zum Text u. ä., die in Abdrucken nach dem Tod der Dichterin recht willkürlich verändert wurden, wurden wiederhergestellt.

Andreas Thomasberger

Nachwort12 Die Themen der drei Romane des vorliegenden Bandes reichen vom Münchner Fasching um 1905 über das leidige Thema des immer feh­ lenden Geldes bis hin zum Tod und bitteren Ende. Alles dies ist heiter und leicht formuliert, und es würde völlig mißverstanden, wenn nicht die Exaktheit der Beobachtungen und die Wirklichkeit des sogenann­ ten biographischen Hintergrundes bemerkt würden. Für den ersten in diesem Band abgedruckten Text bestätigt dies als Protagonist des Romans und als Zeitzeuge zugleich Karl Wolfskehl: »Die beste Quelle, fast bis ans Tatsächliche heran, jedenfalls doch für Stimmung und Luft der Epoche, ist und bleibt der Reventlow Herrn Dames Aufzeichnungen.^Die Meinung des 77jährigen Wolfskehl, mehr als vierzig Jahre da­ nach, gehört allerdings auch zu den Einschätzungen des SchwabingRomans, die ihn als Zeugnis für die Atmosphäre gelten lassen, das »Tatsächliche« aber zu weit in den Hintergrund stellen. Dies betrifft weniger die realen Fakten als die ungewöhnlich genauen und hellsich­ tigen Beschreibungen der »Wahnmochinger«3 Verstiegenheiten, Tri-

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Für wertvolle Hinweise zur Überlieferung der Texte danke ich Ursula Hummel, der Leiterin des Literaturarchivs der Monacensia (Stadtbibliothek München), für zahlreiche Anregungen zur Interpretation Susanne Barth. Brief an Ludwig Curtius vom 23.9.1946, zitiert nach: Brigitta Kubitschek: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. Eine Biographie und Auswahl zentraler Texte von und über Franziska Gräfin zu Reventlow. Mit einem Vorwort von Arno Bamme. München, Wien 1998, S. 570. »Den in die Literatur eingegangenen Namen (...) - Wahnmoching - erfand die Autorin in Zusammenarbeit mit ihrem damals 15jährigen Sohn Rolf: sie Wahn, er moching.« Dies berichtet Else Reventlow in ihrer »Einführung«. In: Franziska zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begeben­ heiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. Mit einem Vorwort von Else Re­ ventlow. München 1978, S. 5, (Reihe: Das besondere Taschenbuch).

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vialmythen und Utopien sowie ihrer Folgen, die im ungünstigsten Fall nach 1933 zur Auswirkung in ganz Deutschland und Europa kamen. Hatte Franziska zu Reventlow gemeinsam mit Franz Hessel, einem ihrer Wohngemeinschaftspartner im berühmten Eckhaus, Kaulbachstraße 63, die Münchner Geister im Frühjahr 1904 mit den hektographierten Blättern des Schwabinger Beobachters geärgert^ und dabei

schon die alle Fundamentalismen auflösende Wirkung des Humors er­ probt, so mögen es wieder der Humor und die Ironie des neun Jahre später geschriebenen Romans sein, die bei manchen Lesern den Irrtum erwecken, es handle sich hier um »leichte Kost«. Else Reventlow weist in ihrem Vorwort zur Ausgabe der Romane von 1976 darauf hin, daß »die Schriftstellerin Franziska Reventlow, (...) in ihrem angeblich nur von Vergnügen und Tollheiten und Liebes­ abenteuern ausgefullten Leben 5 Romane, etwa 20 Novellen, Skizzen und Aufsätze schrieb, sich in Gedichten versuchte und aus dem Fran­ zösischen übersetzte: 20 Romane und Novellen von Marcel Prevost, 6 von Anatole France und 3 von Guy de Maupassant.«^

Für Else Reventlow sind die Romane »fast heitere Konfessionen, und die spielerische Grazie des Stils zeigt, wie stark die Beschäftigung mit der französischen Literatur daran formte.«^ Daß zu dem leichten Schritt dieses graziösen Stils durchaus schwerwiegende Gedanken pas­ sen, weiß sie nur zu gut: »In Herrn Dames Aufzeichnungen ironisiert sie fast liebevoll das am eigenen Leib erfahrene Wahnmoching des er­ sten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts und hinterläßt bei dem nachdenkli­ chen Leser die beklemmende Ahnung, hier sei in Umrissen einer Satire unbewußt vorausgesehen, in welch schaurige Wirklichkeit sich 30 Jah­ re später die kosmogonischen Phantastereien verwandeln sollten.«4 567 Die Unterschiede innerhalb der Phantastereien und auch der über­ zeugenden Entwürfe aus dem München um 1905 sollten jedoch nicht 4

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Franz Hessel: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Hartmut Vollmer und Bernd Witte. Band IV: Lyrik und Dramatik. Hg. und mit einem Nach­ wort versehen von Andreas Thomasberger. Oldenburg 1999 [Schwabinger Dialoge], S. 301-318, im Nachwort dazu S. 322f. Else Reventlow: Vorwort. In: Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. Von Paul zu Pedro. Herrn Dames Aufzeichnungen. Der Geldkomplex. Der Selbstmordverein. Hg. von Else Reventlow, München, Wien 1976, S. 5. Ebd., S. 6. Else Reventlow (Anm. 3), S. 5.

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zugunsten der großen politischen Perspektive vernachlässigt werden. Schon in bezug auf die Entwicklung zum Faschismus gibt es Differen­ zierungen, wenn der Roman sehr genau die Mechanismen von Faszi­ nation und Manipulation vorfuhrt. Und auch in anderen Bereichen gibt er adäquate Informationen, die ihn zu einem kulturgeschichtlichen Do­ kument von höchstem Rang werden lassen. In der »Einführung« zur Ausgabe als »Das besondere Taschen­ buch« von 1978 berichtet Else Reventlow von dem Briefwechsel mit dem Privatgelehrten und Philosophen Paul Stem, der »ausführlich Auskunft über Begriffe und Sprache der kosmogonischen Kreise in Schwabing«89 gibt. Hier erhält der Roman sein Fundament; er kann durchaus zuverlässig über die geschilderten Gedankengebäude Wahnmochings aufklären. Die »Entzifferung« der handelnden Personen durch Else Reventlow ist inzwischen teilweise konkretisiert oder korri­ giert worden, sie kann aber dennoch hilfreich sein. In Herrn Dames Aufzeichnungen treten auf: Herr Dame Herr Herr, eine blasse Figur, lediglich des Namens wegen herangezogen, Hans Walter Gruhle; Dr. Gerhard der Schriftsteller Franz Düllberg; Dr. Sendt der Privatgelehrte und Philosoph Paul Stem; Professor Hofmann der Dichter Karl Wolfskehl; und seine Frau Lotte und seine Frau Hannah; Heinz Kellermann der Schriftsteller Friedrich Huch; Delius, der Mann mit der Toga der Mysterienforscher Alfred Schuler; Orlonsky der Kunstgewerbler und Glasmaler Bohdan von Suchocki; Willy der Schriftsteller Franz Hessel; Adrian der Schriftsteller O. A. H. Schmitz; Meister der Dichter Stefan George; Hallwig der Graphologe und Philosoph Ludwig Klagest

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Ebd., S. 6. Der Name Hallwig kann in Anspielung auf eine ähnliche Konstellation von Frau (Franziska zu Reventlow) und Mann (Klages) in Marie von EbnerEschenbachs Roman Lotti, die Uhrmacherin (1880) gewählt worden sein. Auch dort steht der selbständigen und tatkräftigen Uhrmacherin Lotti der illusionsreiche Schriftsteller Hermann von Hallwig gegenüber (vgl. Marie von Ebner-Eschenbach: Lotti, die Uhrmacherin. Hg. von Marianne Henn. Stuttgart 1999).

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Konstantin, der Sonnenknabe ein Neffe der Dichterin Ricarda Huch, Roderich Huch; Georg, der standhafte Zinnsoldat Rechtsanwalt Dr. Alfred Friess; Gardeleutnant der Vetter Franziska zu Reventlows, Victor von Levetzow; blonder Gutsbesitzer mit Pantherfell der Privatgelehrte und Paläonto­ loge Albert [Albrecht] Hentschel; Susanna Franziska zu Reventlow; Phantasiefiguren Maria, die Polin Jadwiga, die kappadozische Dame, der Rabbi von der deutschen Ostgrenze, der Herr mit der kulti­ schen Krawatte.1011 Mit einem solchen Register versehen wird der Roman zur ironischen Enzyklopädie der Münchner Moderne. Seinen literarischen Wert erhält er darüber hinaus durch die zahl­ reichen poetologischen Selbstreflexionen, die den Erzählfluß unterbre­ chen und die Aufmerksamkeit auf die Art des Erzählens lenken. Dazu kommen vielfältige intertextuelle Beziehungen, die sich innerhalb des Werkkontexts als Parallelen zu den Erzählungen und den anderen Ro­ manen beobachten lassen, und die, über das Werk hinausreichend, zur erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts bestehen. Kann für den im­ manenten Bezug als prominentestes Beispiel die Verwendung einer Wir-Erzählergruppe gelten - sie mag eine Ironisierung der »Kreise« darstellen -, so lassen sich andererseits bis hin zu einzelnen Wendun­ gen Anklänge an Autoren wie Storm und Fontane finden: In Herrn Dames Aufzeichnungen z. B. das Motiv der Landpartie; in Der Geld­ komplex die im 19. Jahrhundert bekannten und literarisch oft verarbei­ teten Kennzeichen saturierter Bürgerlichkeit, die Berlocken. * *

Der Schwabing-Roman verfährt dazu noch in der Hinsicht exakt, daß er die Themen seiner Protagonisten treffend aufnimmt, sei es Al­ fred Schulers Römertum und Bachofenbezug, sei es die Neigung zum

10 Letzterer ist unschwer als Friedrich Gundolf zu identifizieren, wie die Ar­ beitsweise der Autorin insgesamt dagegen spricht, daß gänzlich erfundene Personen auftreten. Beispielsweise kann Maria als weitere persona der Autorin interpretiert werden. Die Auflistung der Personen ist angelehnt an Else Reventlows »Einführung« (Anm. 3), S. 6f., und ergänzt und korrigiert durch neue Forschungserkenntnisse. 11 Berlocken: Schmuck an Uhrketten.

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Märchen bei Franz Hessel alias Herrn Willy; der klare Blick und der humorvolle Abstand bleiben dabei immer gewahrt: Der Meister, Stefan George, muß sich gefallen lassen, als unecht und theatralisch beschrie­ ben zu werden. Ob allerdings das Wort »Mirobuk«, mit dem Dr. Sendt seine Erklärungen beruhigenderweise abzuschließen pflegt, ableitbar ist, ist fraglich. Es wird seine orientalisch-weise Wirkung durchaus auch dann behalten, wenn es als Kontamination aus Mirakel und Hum­ bug entlarvt werden sollte. Auf Herrn Dames Aufzeichnungen träfe es dann zugleich gar nicht und vollständig zu. Auch für den Geldkomplex sind Ironie und ein leichter, plaudernder Ton kennzeichnend; hinzu kommt in diesem Fall eine spezifische Form des Galgenhumors, verarbeitet Franziska zu Reventlow in dem Roman doch ein gutes Stück ihrer Biographie - nämlich ihre notorische und über weite Strecken durchaus auch bittere finanzielle Not. Daß sie selbst auf das beste mit der Situation vertraut war, von Gläubigem ver­ folgt zu sein und auf geradezu abenteuerliche Weise von Vorschüssen, der Verpfandung ihres Hab und Guts und den sporadischen Zuwen­ dungen ihrer Bekannten zu leben, ist allgemein bekannt. Ohne jeden Zweifel ist die unbeschwert mittellose Protagonistin des Geldkomple­ xes als ironische Selbstdarstellung angelegt, und tatsächlich bezieht Franziska zu Reventlow sich in dem Roman auf eine beträchtliche Zahl wirklicher Begebenheiten aus ihrem Leben. Die Scheinehe mit dem baltischen Baron Rechenberg-Linten und der dadurch erhoffte, jedoch gründlich gescheiterte Erbschaftscoup ist nicht die einzige Parallele, die sich zwischen dem Leben der Autorin und den skurrilen Motiven des Geldkomplexes ziehen läßt. Selbst eine gemeinsame Schiffsreise mit seekranken Kühen hat sie persönlich erlebt. Franziska zu Reventlow wäre nicht »die Reventlow«, würde sie diesen autobiographischen Hintergrund etwa verschleiern oder unge­ nutzt lassen. Die frech-fröhliche Widmung, die dem Roman vorange­ stellt ist, weist den Leser unmißverständlich auf die richtige Spur und*

12 Vgl. Johannes Szekely: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Bonn 1979, S. 175-209. Szekely weist zahlreiche autobiographische Bezüge nach und erkennt in dem Personal des Geld­ komplexes reale Personen wie Albert [Albrecht] Hentschel (Henry), den Nationalökonom Edgar Jaffe (Lukas) und den Psychiater Otto Groß (Bau­ mann) wieder.

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rückt einmal mehr das vermeintlich schillernde Leben der »tollen Grä­ fin« ins Rampenlicht. Auch wenn sie mitunter darunter litt, daß die Außenwelt in ihr ausschließlich die leichtlebige, allzeit fröhliche und bei aller Not unbeschwerte »femme fatale« sah - Franziska zu Reventlow fugt sich hier einmal mehr in das Schicksal dieses Stigmas, indem sie sich jenes Bild einer Frau ohne Kummer und Sorgen für ihre Zwecke - den schriftstellerischen Erfolg - dienstbar macht. Doch auch wenn Franziska zu Reventlow in finanzieller wie per­ sönlicher Hinsicht zum Teil erhebliche Zweifel, Ängste und Nöte plagten, ihre Lebensführung und gerade auch ihr Umgang mit Geld bleiben doch beispielhaft für das Treiben der leichtlebigen Boheme des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Indem Der Geld­ komplex die Grundhaltung und Lebensumstände dieser Künstler- und Lebenskünstlerkreise zum Gegenstand nimmt, kommt dem Roman ein nahezu ähnlich dokumentarischer Wert wie Herrn Dames Aufzeich­ nungen zu. Der Umgang, den die Protagonistin mit - zumeist nicht vorhandenem - Geld pflegt, entspricht in etwa dem »genußpostulatorischen Typus« des Bohemiens, den Helmut Kreuzer beschrieben hat: Ihm liegt jedes ökonomisch-rechnerische Denken fern, und der Besitz von Geld erscheint ihm nur im spontanen Verbrauch, das heißt durch dessen Verwandlung in Genuß, sinnvoll.13 Die Sorglosigkeit, mit der die Briefeschreiberin des Geldkomplexes vor ihren Geldnöten und Gläubigem in ein Sanatorium flüchtet, kann ebenso wie das insgesamt komödiantisch-rollenhafte Verhalten der (Touristen-)Gruppe in der Anstalt als gelungene, ironisch gesteigerte Wiedergabe eines boheme­ typischen Lebensverständnisses angesehen werden: Man betrachtet das Leben amüsiert und von einem mehr oder minder externen Standpunkt aus als eine Art unterhaltsames Spiel. Die ironischen Anspielungen auf den zeitgenössischen Gedanken­ komplex der Freudschen Psychoanalyse ergänzen den satirisch­ dokumentarischen Gehalt des Romans um einen weiteren Aspekt. Im ganzen ist dem zuzustimmen, was Theodor Heuss 1916 schrieb: »(...) die kleine Erzählung der Gräfin Reventlow Der Geldkomplex ist ein >Roman in Briefern, aber diesmal ist es eine Reihe graziöser, witzi­

13 Vgl. Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intel­ lektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1971, S. 255-264.

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ger unkorrekter Frauenbriefe aus dem Sanatorium. Eine entzückende Laune beherrscht dieses Buch, dessen Unbefangenheit selbst einen Philister gewinnen müßte, so unphiliströs es auch ist; stilistisch durch­ sichtig und bewegt, in der Haltung geistreich und ungemein unterhal­ tend.«14 Der Selbstmordverein präsentiert sich in einem erheblich weniger »graziösen«, »witzigen« und plaudernden Ton. Zwar wählt Franziska zu Reventlow auch in diesem Roman mit Baron Henning die Figur ei­ nes »intellektuellen Herumtreibers«, dem die Sorge um die ökonomi­ schen Voraussetzungen seiner Lebenshaltung als lästige Zeitver­ schwendung erscheint. Auch fungiert dieser durchaus als Sympathie­ träger. Doch während noch im Geldkomplex ein eigentlich emstzu­ nehmendes Problem in bekannter Reventlowscher Manier durch Ironie und Galgenhumor seiner Schwere beraubt wird, schildert der Nachlaß­ roman eine Folge unglücklicher Ereignisse ohne jeden Hang zur Bagatellisierung. So wirkt die erklärte Unfähigkeit Hennings, sich den Anforderungen eines erwerbstätigen und bürgerlichen Lebens zu stel­ len, in diesem Fall keineswegs komisch. Die Tragödien, die sich in seinem Umfeld und letztlich auch in seinem eigenen Leben entwickeln, sind vorgezeichnet, erscheinen schon auf den ersten Seiten des Romans unausweichlich. Eine gewisse Form des Fatalismus bildet zwar eine Konstante in Franziska zu Reventlows Werk, doch handelt es sich im Selbstmordverein nicht mehr um jene komisch-ironische Abgeklärtheit, die etwa für Von Paul zu Pedro oder den Geldkomplex maßgeblich ist. Mit dem Tod der jungen Liebenden Georg und Hedy gestaltet Revent­ low ein Unglück, dessen entsetzlicher Tragik sich der Leser kaum zu entziehen vermag. Der Selbstmord Hennings dagegen hat ein voll­ kommen anderes Gewicht: Der Baron stellt den typischen Ästheten dar, der die Realität als Kunstwerk sieht, das seine Wirklichkeit der treffenden Formulierung verdankt. Dieser beobachtende und seine Formeln bereithaltende Dekadent wird allerdings schließlich von der Frau, die er als Phantom jagte, in realer, körperlicher Gestalt über­ rascht. Dies öffnet die Augen für die Wirklichkeit jenseits der ge­ 14 In: März 10, 2, April-Juni 1916, S. 239f. Vgl. auch Franziska Gräfin zu Reventlow: Der Geldkomplex. Roman. Mit einer biographischen Notiz von Natascha Fischer und vier Abbildungen. Zürich 2001. Dort: Biographische Notiz, S. 137-143.

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pflegten Klischees und läßt den Protagonisten erkennen, wie wenig emst er die Realität genommen hat und wie wenig wirkliches Wissen er vom anderen besitzt. Das Spiel endet tödlich und weist dahingehend, daß angesichts des Todes der Wert des Lebens erkennbar wird, bemer­ kenswerte Parallelen zu Hugo von Hofmannsthals »Der Tor und der Tod« (1892) auf. Zu Beginn des Fin de siede und an seinem Ende 1918 steht demnach das Wort ADSTANTE morte nitebit wta15 - Fran­ ziska zu Reventlow zeigt den Selbstmord des Ästheten - gemeinsam mit seiner Geliebten - als zitierende (Kleist), lebensvemeinende Geste, mit der der Weg aus der Verantwortung gewählt wird. Im Gegensatz hierzu vertreten Georg und Hedy den Typus der ernsthaft an den gesellschaftlichen Umständen verzweifelnden Selbst­ mörder. Sie betrachten das Leben keinesfalls als amüsantes Spiel, son­ dern legen - im Gegenteil - eine in ihrer jugendlichen Naivität fast komische Ernsthaftigkeit an den Tag. Sie empfinden in ihrer Bezie­ hung zueinander nicht nur wahrhafte Liebe, sondern betrachten dies zugleich mit absoluter Selbstverständlichkeit als bindenden und ver­ pflichtenden Umstand. Henning, dem jede Art der unmittelbar emotio­ nalen Beziehung oder gar Bindung zu anderen Menschen vollkommen fern liegt, betrachtet auch das Gebaren seiner beiden »Schützlinge« mehr oder weniger von dem Standpunkt des zwar freundlichen, aber doch auch belustigten Beobachters einer ihm fremden Welt. Im Ver­ gleich des letzthin lebensuntauglichen, sich aus seinem selbstverschul­ deten Schlamassel herauslavierenden Vetters zu den beiden wild ent­ schlossenen Kindern, die an ihrer ungestümen Konsequenz zugrunde gehen, steht ersterer freilich nicht allzu gut da. Der Selbstmordverein ist auch insofern alles andere als ein weiteres witzelndes Dokument verstiegener Künstlerkreise oder einer das Leben zur Komödie erklä­ renden Boheme. Franziska zu Reventlow weist in ihrem letzten Roman deutlich auf das Kommen einer neuen, anderen Generation hin, die ei­ nen unmittelbaren, lebendigen und organischen Zugang zu ihrer Um­ welt zum Prinzip erhebt und dem Leben mit einer Ernsthaftigkeit ent­

15 »Aufglänzen wird das Leben, steht der Tod dabei«. Quelle unbekannt, Übersetzung von Emst Zinn. Vgl. dazu Hugo von Hofmannsthal'. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Band HI, Dramen 1 ... hg. von Eberhardt Götz u. a. Frankfurt a. M. 1982, S. 492.

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gegentritt, die sie vielleicht nicht stärker, in gewisser Hinsicht aber doch überlegen macht. Else Reventlow, die Schwiegertochter und erste Herausgeberin des Selbstmordvereins, hat dem Roman ein Vorwort mitgegeben, das in die Zukunft weist, die Franziska zu Reventlow nicht mehr erlebte: »Vom sentimentalen Roman durch die distanzierten, liebenswürdigen Spöt­ teleien der Amouren über die graziöse Formenhaftigkeit des Geldkomlexes führt der Weg zum Selbstmordverein. Im polierten Männ­ chen, Herr Fischotter und Logierhaus zur schwankenden Weltkugel liegen seine Anfänge, jene Art der Gestaltung des Alltäglichen, aus dem plötzlich und unbegreiflich Ereignisse sich zur Groteske zusam­ menballen. Das nachgelassene Werk der Verfasserin bleibt in der Form Fragment, ihre Absicht, es noch einmal durchzuarbeiten, verhinderte der Tod - zu diesem Roman schrieb er den stärksten grotesken Schluß­ akkord, der das Schaffen einer Künstlerin dort abbrach, wo es anfing, neue Wege zu gehen.« 1958 schrieb Friedrich Podszus das Nachwort zur ersten Neuaus­ gabe von Reventlowschen Romanen seit 1925. Er schließt: »Wir wol­ len und müssen vieles vergessen. Nicht vergessen sollten wir die Dame Reventlow!« 17 Das Erinnerungsbild der »Dame Reventlow« wird al­

lerdings nicht nur von ihren Texten geprägt, sondern verstärkt auch von der Buchgestaltung, von Klappentexten und der unverminderten Tradierung biographischer Anekdoten und Außergewöhnlichkeiten seit den späten fünfziger Jahren. Knapp neunzig Jahre nach dem Tod der Autorin ist der Abstand of­ fenbar groß genug geworden, um vorwiegend objektiv mit den Texten umgehen zu können. Die vorliegende Gesamtausgabe - genau 100 Jah­ re nach den berühmten Schwabinger Zeiten des Eckhauses erscheinend - sollte den verschiedensten Leserinteressen Material bieten und mit der Freude an den Texten zu neuen Fragen anregen - als einzig mögli­ che und passende Erinnerung an die »Dame Reventlow«.

16 Franziska Gräfin zu Reventlow: Gesammelte Werke in einem Bande, her­ ausgegeben, eingeleitet und »Biographische Skizze« von Else Reventlow. München 1925, S. 1089. 17 In: Franziska zu Reventlow: Der Geldkomplex. Herr Dames Aufzeichnun­ gen. Von Paul zu Pedro. Drei Romane. Mit einem Nachwort von Friedrich Podszus. München 1958, S. 303.

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Andreas Thomasberger ist apl. Professor für Neuere Deutsche Lite­ ratur an der Universität Frankfurt am Main. Er hatte Gastprofessuren in Göttingen, Greifswald, Leipzig und Innsbruck inne und ist Lehrbeauf­ tragter in Karlsruhe. Mit einer Dissertation zu Hölderlin wurde er pro­ moviert. Er habilitierte sich mit einem Thema zu Edition und Interpre­ tation von Hofmannsthals Lyrik. Andreas Thomasberger ist Herausge­ ber von Werken Hugo von Hofmannsthals (Kritische Ausgabe), Ri­ chard Beer-Hofmanns und Franz Hessels. Er veröffentlichte Aufsätze zur Literatur und Kultur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.