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German Pages [626] Year 1960
KARL WOLFS KEHL
GESAMMELTE WERKE
ZWEITER BAND Übertragungen
Prosa
Claassen 1960
Herausgegeben, von Margot Ruben
und Claus Victor Bock
ÜBERTRAGUNGEN
Älteste deutsche Dichtungen
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Übertr agungen
VORWORT
ÜBER DIE ERNEUUNG DICHTERISCHEN ERBGUTS
Die Schwierigkeiten der Übertragung von Dichtungen aus einer älteren Sprachstufe in die eigne liegen, man möchte fast sagen, in der Leichtigkeit. Worte, Figuren, Gefüge, Rhythmik und Melodik sind nahe verwandt, vielfach identisch. Das hemmt und verführt zugleich. Denn weder im ganzen noch im einzel nen stimmt es jemals durchaus. Die erhaltenen Worte haben Bedeutungswandel erfahren, ihr Sinn ist erweitert oder ver schmäh, meist farbloser, abgezogener, matteren Vollklangs. Und mit dem Sprachbau, vor allem mit dem Gefälle steht es nicht anders. Auch wo langwährende Überlieferung einen Stil ge schaffen hat, Ausdruck und Gehaben leitet und eingrenzt, ist alles gesprochener, näher, merkhafter, weniger besonnen als bei uns. Jede wahrhaft dichterische Übertragung aber arbeitet mit dem was sie hat, mit den gegenwärtig vorhandenen, freilich steigerbaren, freilich vertiefbaren Sprachmitteln, denn nur aus dem Lebendigen entsteht Leben. Jeder Versuch nachtastenden Angl eichens, interlinearer Scheintreue, mehr aber noch jedes Altertümeln, jedes faschinghafte Herübernehmen vermuffter Embleme, Wendungen, Endungen, Windungen, bleibt Rumpel kammer und Mummenschanz, also stümperhafter Verzicht auf eignes Wohnen, eignen Wuchs, eigne Tat. Auf die wahrhaft erneuernde Erhaltung des ewigen Erbguts [kommt es an). Was ich in meiner Abhandlung »Vom Sinn und Rang des Überset zens« (Bild und Gesetz) über das Gesamtproblem ausführe, gilt hier ganz besonders. Welche Mittel nun besitzt unser heutiges Deutsch zum Behuf und Endziel der Erneuung? Wie gelingt es ihm, Nähe zu sein und Ferne zu atmen, vergangene Läufte, Gesinnungen, Blut töne, seine eigene Früh-Zeit, Hoch-Zeit, sich einzuziehen, einzu verleiben? Diese Mittel bestehen, es sind keine anderen, als deren der deutsche Dichter überhaupt bedarf, auch zum eigenen
Älteste deutsche Dichtungen
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Werk, und über die er verfügt. Sie bestehen, denn unsere Sprache »steht« noch nicht wie so manche andere Europas, sie ist nicht stationär, ihre Gesetze sind noch nicht zu Regeln erstarrt. Ohne Chaos zu sein, durchformt, durchgeistet, ist sie dennoch ganz Element. Bis in ihre Tiefen hinein reicht, wir haben es ehr fürchtig erlebt an Nietzsche wie an George, noch die liebende Gewalt ihrer grossen Sprecher und ihrer grossen Dichter. Ja, in der Hand jedes Meisters ist unsere Sprache gefügigstes Werk zeug, und sie bleibt dabei unverdorben, heiligster Mutterschoss. Das mag manchen befremden, mancher bespötteln, der Pedant mag es abstreiten, der Schnellschreiber es begrinsen in dieser Zeit barbarischen Verplattens oder Vermanschens, der Zeit der Schlagworte, Schlagzeilen, Schlagreime. Und dennoch ist es so: das alles rührt nicht an unserer Sprache eigentümliches Dasein, an ihren Mysterienbezirk, ihren glühenden, immer gebäreri schen, immer geschützten Kern. Und aus diesem glühenden Kern kann und muss unsere Vorzeit wieder erstehen, nicht umge schmolzen sondern reinwüchsig, weder wiederhergestellt noch modernisiert. Wir bedürfen keiner Notbehelfe, denn das was den Sprachstoff durchdringt, ihn knetet und prägt, der SprachGeist ist heut noch der gleiche wie in unseren Vorzeiten. Und auch die freilich gefährdete Sinnlichkeit in Bild und Klang, in Bedeutung und Fügung ist wiedergewonnen oder wieder ge winnbar. Auch haben wir gültigste Vorbilder, geradezu stilschaf fende, für unser eigenes Bemühen. Vor allem in den schon vor hundert und mehr Jahren von den Brüdern Grimm geschaffenen Ausdrucksformen (für das dichterische Neuwerden vor allem Wilhelm Grimms »Altdänische Heldenlieder«), denen freilich die überreiche Übersetzungsarbeit des vergangenen Jahrhunderts bis in unsere Tage kaum etwas abgelernt hat. Heute noch man geln uns das erneute Nibelungenlied, der Parzival, der Tristan. Denn was es davon gibt ist saftlos und ohne dichterischen Beruf. Aber sie müssen uns wiedergeschenkt werden, es ist unumgäng lich. Sie sind unveräusserliche - und wie alles wahrhaft Bild, also ewiges Sinn- und Geist-Zeichen Gewordene immer gegenwärtig-, nicht bloss fortwirkende Kräfte. Sie sind Glieder unserer Tota lität, haben Anteil an uns und damit allen Anspruch. Wie ich mir
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üb e r t r a g u n g e n
Art und Umfang solcher Erneuung denke, will ich noch nicht aussprechen: auch hierfür bestehen unabweisliche Muster. Und wie ich selber die Aufgabe angepackt habe, die bezeichnend sten und bedeutendsten Denkmäler unserer frühesten Poesie zu übertragen, wohin ich das Ziel gesteckt habe, mag das Werk sel ber erweisen. Kenner des Alten und Freunde der Dichtkunst mögen bemerken, dass hierbei nach keiner Vorschrift verfahren werden durfte. Eben die Fern-Nähe unseres Sprachschatzes nach Gehalt und Gestaltigkeit verbietet allen Schematismus, zerbricht jedes festgelegte Fordern. In einem Falle ist nachrechenbar ge naue Wiedergabe von Sinn, Wortstellung, Silbenzahl möglich, also Gebot, ein andermal wird Freiheit, ja scheinbares Paraphra sieren (niemals freilich Willkür oder Deutelung!) dichterische Gewissenspflicht. Der aufnehmende Empfänger hat sich stets das Ganze vor Ohr und Sinn zu halten, doch darf und soll er das Warum je und je selber erwägen, und ich hoffe, das Werk selbst steht ihm dann Rede, gibt ihm Rechenschaft. Nur zu gut weiss ich, wie manchmal meine Absicht nicht sich erfüllt hat. Doch schon dass ich vor dem Ungeheuren, vor dem Gewicht dieses Auf trags nicht verzagte und nicht zusammensank, sagt mir, ich habe mich zu Recht an ihn gewagt. Möchten diese Ältesten Deutschen Dichtungen immer wieder auch die Neuesten bleiben.
Älteste deutsche Dichtungen
DAS HILDEBRA.NDSLIED
Kasseler Handschrift
8. Jahrhundert
Ich hörte das sagen Dass sich Ausfodrer einzeln trafen, Hildebrand und Hadubrand zwischen den Heeren. Sie, Sohn und Vater, sahen nach ihrer Sache. Schlossen ihr Schirmhemd, gürteten sich ihr Schwert um, Die Reisigen über die Ringe, um zu solchem Streit zu reiten. Hildebrand anhob, er war höher an Jahren, Der Menschen Meister, gemessenen Wortes Zu fragen begann er, der Führer im Volke AVer sein Vater wäre........................ ........................... >oder wes Geschlechtes du bist. Wenn du mir einen sagest, weiss ich die andern eh, Kind, im Königreiche, kund ist mir die Gotteswelt.< Hadubrand anhob, Hildebrands Sohn : »Das sagten sie mir unsere Leute, Alte Meister, die eh’r da waren, Dass Hildebrand hiesse mein Vater, ich heisse Hadubrand. Ostwärts fuhr er einst, floh des Otakers Grimm Weg mit Dietrich und vielen seiner Degen. Verlassen im Lande liess er sitzen Die Frau im Bau, den jungen Buben, Ganz ohn Erbe, er ritt nach Osten weg, Denn den Dietrich Darben ergriff ihn Nach meinem Vater, der gar Verfemte, Der war dem Otaker maasslos böse, Und war der Degen liebster dem Dietrich. Er ritt nur an Volkes Spitze, ihm war nur das Fechten zu lieb. Kund war er kühnen Männern. Nicht glaub ich sei am Leben . . .« >Zeuge Heilger Gott hoch du vom Himmel ab, Dass dennoch du nie mit so Versipptem Deine Sache führtest . . .< Da wand er vom Arm ab gewundene Spangen, Kaisergoldwerk verziert, so wie’s der König ihm gab,
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Übertr agungen
Der Hunnenvogt: >das geb ich nun aus Huld dir.< Hadubrand anhob, Hildebrands Sohn: »Mit dem Gere soll man Gaben empfangen Spitze gen Spitze, Du bist dir, alter Hunn, unmässig schlau, Lockst mich mit deinen Worten, willst deine Lanz auf mich werf en. Bist solch ein uralter Mann und immer voller Untreu, Das sagten die mir so die See befahren, Westlich das Weltmeer, dass Krieg ihn wegnahm, Tot ist Hildebrand, Herbrands Sohn. Wohl aber seh ich an deinem Harnisch, Dass du daheim hast guten Herrn, Nimmer vom Reiche bannflüchtig reistest.« Hildebrand anhob, Herbrands Sohn: >Wahrlich nun, Waltegott, Wehgeschick wird. Der Sommer und Winter wallt ich sechzig äusser Lande, Seitdem man mich kürte zur Schar der Kämpen. Den auf keiner Burg wer blutig nicht streckte, Nun soll eignen Kindes Eisen mich treffen, Blatt mich durchbohren oder ich ihm den Bluttod schaffen. Doch kannst auch du einfach, wenn dein Eifer reicht, Des Hochbejahrten Harnisch gewinnen, Raub dir erraffen, wenn du irgend ein Recht hast. . . Der wäre doch der Feigste der Fahrer von Osten, Der den Kampf-Weg dir weigre, da so wohl es dich lüstet, Gemeinsame Gänge. Erprobe wer muss, Welcher heute sein Heergewand müsse räumen Oder der Brünnen beiden walte.< Da liessen sie erstlich Lanzen laufen, In scharfen Schauern, die standen im Schild fest, f Dann stapften sie zusammen, Steinaxt erklang. Hieben harmweckend ins helle Schildfeld, Bis die Lindenbohlen lützel wurden, Zerwirkt von den Waffen . . .
Älteste deutsche Dichtungen
WORTE DES STERBENDEN HILDEBRAND
Aus dem Altnordischen
12. Jahrhundert
Steht mir zu Häupten der Heerschild geborsten: . . . Sind drauf gezählt zehnmal acht Lauter Männer, denen ich Mörder ward. Liegt hier der Sohn selbst mir zu Häupten. Erbspross er, den ich eigen gehabt. . . Un-wollend sein Ende schuf ich.
DAS LUDWIGSLIED
Handschrift aus St. Elnon
g. Jahrhundert
Einen König weiss ich, der heisst Ludwig, Der gerne Gott fronet: Ich weiss, dass ders ihm lohnet,
Knabe ward vaterlos, des ward Ersatz ihm gross: Denn der Herr holt ihn ein, wollt ihm Zuchtmeister sein,
Gab ihm Riegen herrlicher Degen, Thronstuhl in Franken, des geniess er lange! All das teilt er dann gleich mit Karlmann, Seinem Bruder zumal, Wonnen sonder Zahl.
Da dies ein Ende nahm, Gott ihn versuchen kam, Ob er Beschwerde so jung dulden werde. Liess ein Heidenheer über See fahren her, Das Volk der Franken Sünden zu mahnen.
Manche, schon verloren, wurden neu erkoren: Dulden musste harte Straf’, wer bösen Lebens war. Mancher, der Dieb gewesen, mochte damals doch genesen So er seine Fasten nahm, ward er wieder ein frommer Mann. Die sonst logen, die das Recht bogen, Alle losen taten gerne Busse.
Der König war fern, das Reich ohne Herrn, Christ war dem R.eich gram, drob es leider Schaden nahm.
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Übertragungen
Doch es erbarmte Gott, der sieht all die Not, Hiess drum Ludewig reiten dahin sogleich: >Ludewig, König mein, steh meinem Volke bei! Denn der Normannen Heer dränget es schwer.
Herre, so tu ich, All was du heissest, kein Tod mirs nicht entreisset.
Herre mein, so lange harren wir dein.< Da rief mit Mute Ludewig der Gute: /Tröstet euch Gesellen, meine Nothelfer,
Her sandte mich Gott, der mir selber gebot, Wenn ihr möchtet, dass ich hier fechte, Mich selber nicht sparete, bis ihr gerettet wäret, So will ich, dass mir folgen alle Gott Holden, Hieniedensein beschieden ist, solang es füge Christ : Ihm ward die Gewalt, zu verfügen unsre Hinfahrt.
Drum der hier in Stärke vollbringt Gottes Werke, Kommt er gesund davon, kriegt er von mir Lohn, Bleibet er heute, dann seine Leute.< Drauf nahm er Schild und Speer, ritt in Stärke daher, Wollt die Wahrheit sagen seinen Widersachern.
Währte nicht gar lang, da traf er den Normann: Gott Lob er sagte, er fand was ihm behagte,
Der König ritt wacker, ein schönes Lied sang er Und alle zusammen sangen das Kyrieleison.
Der Sang war gesungen, der Kampf ward begonnen, Das Blut schien in den Wäugen den spielenden Franken. Da focht ein jeder Held, keiner wie Ludwig selbst: Schnell und hart, das war seine Art,
Älteste deutsche Dichtungen
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Manchen durchschlug er, manchen durchstach er, Er schenkte zu Händen seinen Feinden Bittern Seimes, Weh ihres Leibes! Gelobt sei die Gotteskraft: Ludwig war sieghaft, Und allen Heiligen Dank! sein ward der Siegkampf.
Aber wohl dir Ludewig, König waffenselig! So wie er hier bereit war, so wahr wie dessen Notdurft war. So halt ihn immer Herre in deiner Gnadenehre.
DAS WESSOBRUNNER GEBET
Münchner Handschrift
8. Jahrhundert
Mir gestand der Sterblichen Staunen als das Grösste, Dass Erde nicht war noch oben Himmel, Noch irgendein Baum noch Berg nicht war, Noch Sonne nicht schien Noch Mond nicht licht war noch die mächtige See. Da dort nirgends nichts war an Enden und Wenden, Da war doch der eine allmächtige Gott . . .
AUS DEM M U S P IL LI
Münchner Handschrift
g. Jahrhundert
Denn stracks wenn die Seele in ihre Strasse sich aufhebt Und sie den Leichnam liegen lasset Da kommt ein Heer von Himmelslichtern Ein andres von Peche die packen sich gleich an, Sorgen trag die Seele bis die Sühne angeht, Zu welchem der Heere sie geholet werde, Denn wenn des Satans Gesind sie gewinnet Das leitet sie stracks hin wo es ihr leid wird. In Feur und in Finstres da ist gar furchtbar Gericht. Wenn aber sie holen die die hernieder vom Himmel kommen, Und sie der Engel eigen wird:
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Übertragungen
Die tragen sie stracks zum Himmelreich auf, Da ist das Leben ohne Tod Licht ohne Finstres Seligsein ohne Sorgen da ist niemand nicht siech . . .
Das hört ich wahrsagen die besten Weltweisen, Dass der Antichrist solle mit Elias sich schlagen. Der Wolf ist gewaffnet da der Kampf erwachet, Die Streiter sind so stark die Sache so wichtig: Elias streitet fürs ewige Lehen, Will den Rechtgläubigen das Reich erhalten, Dazu soll ihm helfen der im Himmel Gewalt hat. Der Antichrist steht bei dem Altfeinde Steht bei dem Satanas der ihn versenken wird, Denn er wird auf dies Weichbild wund hinsinken Und an dieser Stelle sieglos werden. Doch wähnet mancher wackre Gottesmann Dass Elias in diesem Streite zerstossen werde. Wenn des Elias Blut auf die Erde abtrauft So entbrennen die Berge, kein Baum bleibt stehen Wo in der Weite, die Wasser vertrocknen, Das Moor verschweigt sich, schwelend erglost der Himmel, Mond fällt nieder abbrennt Mittelgard Stein bleibt nicht stehen, Straftag ins Land Fährt mit Feuer das Fleisch zu finden, Da kann Mann nicht dem Manne helfen vor dem Muspilli. Wenn der breite Wasen all verbrennet Wenn Feuer und Luft alles hinfegt Wo bleibt dann der Feldran d um den mit den Vettern Zank war Der Feldrand ist verbrannt, die Seele steht gebannt, Sieht nicht wie sie büsse so fährt sie zur Sühne.
Älteste deutsche Dichtungen
NORMANNISCHE RUNENREIHE
St. Gallener Handschrift
9. Jahrhundert
Fiehstand vorne, i/rochs andringt, 7'hurs dräut am dritten Stabe, As der ist ihm über, .Rad ritz am Ende, Änistern klebt daran, JIagel hegt die IVot, Eis, Anfang und Sonne, Liu, Birke und Mann inmitten, Lache die Lichte: Yr umhegt alles.
DIE BEIDEN MERSEBURGER ZAUBERSPRÜCHE
Merseburger Handschrift
9. Jahrhundert
I
Einstens sassen Idisen, sassen hierherum dortherum, Manche Hafte hefteten, manche Heere schläferten, Manche die klaubten um die klammernden Schnüre: Entspring den Haftbanden, entfahr den Feinden!
n Vol und Wodan fuhren zu Holze. Da ward dem Balders-Fohlen sein Fuss verrenkt, Da beschwor ihn Sinthgunt, Sonne ihre Schwester, Da beschwor ihn Frija, Volla ihre Schwester,
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Übertr agungen
Da beschwor ihn Wodan, er der’s wohl konnte : Wie die Beinrenke, so die Blutrenke, So die Gliedrenke: Bein zu Beine, Blut zu Blute, Glied zu Gliede, wie wenn sie geleimt sei’n!
EIN PFERDESEGEN
Pariser Handschrift
12. Jahrhundert
Ging ein Mann des Weges, Zog sein Ross mit der Hand nach. Da begegnete Mein Herr ihm Mit allen seinen Leuten.
>Wie Mann gehst du? Weshalb nicht reitest du?< »Wie kann ich reiten? Mein Ross ist versteifet.« >Nun zieh es bei der Flanke, Du raun ihm in das Ohr ein, Tritt es auf den rechten Fuss, So gehts mit der Versteifung gut.«
BLUTSEGEN
Strassburger Handschrift
11. Jahrhundert
Stumme sass im Berge mit stummem Kind im Arme. Stumm hiess der Berg, stumm hiess das Kind. Der heilige Stumme versegne diese Wunde.
Älteste deutsche Dichtungen
BLUTSEGEN
Millstädter Handschrift
12. Jahrhundert
Der heilige Christ ward geboren zu Betlehem, Von dannen kam er rück nach Jerusalem. Da ward er getaufet von dem guten Sankt Johann In dem Jordan. Da blieb stehn des Jordans Fluss Und auch seine Runst. So bleib stehn du, Blutrinnen, Um des heiligen Christes Minne, Du bleib stehn aus Zwang, Wie der Jordan getan, Da Sankt Johann der Traute Den heiligen Christ taufte. Bleib stehn du, Blutrinnen, Um des heiligen Christes Minne.
HUNDESEGEN
Wiener Handschrift
9.-10. Jahrhundert
Christ ward geboren vor Wolf oder Dieb. Da war Sankt Martin Christi Hirte.
Der heilige Christ und Sankt Martin, Der gewähre zu walten Heute der Hunde, Und der Zaupen, Dass Wolf noch Wölfin denen nicht möge schaden, Wo immer sie laufen Waldes oder Weges Und der Heide. Der heilige Christ und Sankt Martin, Der führe mir sie hilfreich alle heute heim gesund.
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Üb ertragungen
ZWEI BIENENSEGEN
Lorscher Handschrift
10. Jahrhundert
I
Krr!, die Immen sind haussen, nun fliegt Tierchen her mir, Frohen Friedens in Gottes Hut sollt ihr heimkommen gut. ii
Sitze, sitze, Biene da, dir gebot es Sankta Maria. Huschverlaub nicht habe du, zu Holze nicht Beug du, Dass du mir nicht entrinnest, dich mir nicht entwindest. Sitz immer stille, wirke Gottes Willen.
REISESEGEN
Weingartner Handschrift
12. Jahrhundert
Will dir nach sehen, will dir nach senden, Mit meinen fünf Fingern fünfundfünfzig Engel. Gott mit Gesunden heimzu dich sende. Offen sei dir dies Siegestor, so auch dir dies Segeltor. Verschlossen sei dir dies Wogentor, so auch dir dies Waffentor.
REISESEGEN
Münchner Handschrift
12. Jahrhundert
Jch schlief heut nacht so süsse Zu meines Herren Füssen. Das heilige Himmelkind Sei heut mein Friedensschild, Das heut liess mich aufstehn, In dessen Namen Gnade will ich heut gehn Und will mich heut gürten Mit des heiligen Gottes Worten, Dass mir alles hold ist, Was in dem Himmel ist, Die Sonn’ und der Mond
Älteste deutsche Dichtungen
Und der Tagesstern schön. Wohl fühl ich heute frohen Mut: Heut fahr ich, Herr, in deiner Hut. Sankt Mariä Leibgewand Das sei heut mein Friedensgewand. Aller meiner Feinde Waffen Müssen heut daliegen und schlafen Und sei’n heut also spröd und sprock Wie Sankt Marien Gelock, Da sie des heiligen Christ genesen Und doch eine reine Maid gewesen. Mein Haupt soll heut von Stahl sein, Keine Waffe schneid nicht hinein. Mein Schwert alleinig Will ich vom Segen scheiden, Das schneide und beisse Alles, was ich es heisse Mit meinen Händen Und mit keines Andern. Der heilige Himmeltraut Sei mein guter Halsberg heut. Amen.
AUS DEM TOBIASSEGEN
Münchner Handschrift
12. Jahrhundert
Der Gott dem nichts verborgen ist Und dem du leibeigen bist, Der von niemand wanket, Seiner Armen wohl gedenket, Der müsse dich behüten Aus väterlicher Güte. Über Feld und durch Wald Vor allen Nöten mannigfalt, Vor Hunger und vor Dürsten, Vor bösem Gelüsten, Vor Hitze und vor Frösten.
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Übertragungen
Gott müsse dein Gebet erhören Und dich fein schonen Vor dem jähen Tode, Du schlafest oder wachest, Im Holz oder unter Dache. D eine Feinde werden erniedert, Gott send dich gesund herwieder Mit dem rechten Mute, Zu deinem eigenen Gute. Gesegnet sei dein Weg Über Strasse und über Steg, Da vorn und da hinten Segnen dich die heiligen fünf Wunden. An jeder Flanke neben Stell sich ein Himmelsdegen Und pflege deiner Wege Und finde dir gute Pflege. Im Frieden Gottes du fahr, Der Heilige Geist dich bewahr, Dein Herz sei dir steinen, Dein Leib sei dir beinen, Dein Haupt müsse stählern sein, Der Himmel sei der Schild dein, Die Hölle sei dir versperret, Alles Übel von dir verirret. Das Paradies sei dir offen, Alle Waffen vor dir verschlossen, Dass sie dies müssen meiden, Dass sie dich nicht zerschneiden. Der Mond und auch die Sonne Die leuchten dir mit Wonne, Die heiligen Zwölfboten Die ehren dich vor Gotte, Dass dich deine Herrschaft gerne sehe: Alles Liebe müsse dir geschehen . . .
Älteste deutsche Dichtungen
HIRSCH UND HINDE
Brüsseler Handschrift
10. Jahrhundert
Hirschlein raunte der Hindin in die Lauscher, Willst du noch, Hinde?
DER EBER
Aus Notkers Rhetorik
11. Jahrhundert
Der Eber geht in der Leite, er trägt den Speer in der Seite, Seine Kraft die pralle lässt ihn nicht fallen. Er hat Füsse von Fudermaasse, Er hat Borsten hoch wie Forste Und hat Zähne zwölf Ellen lange.
EIN KAMPFREIM
Aus Notkers Rhetorik
11. Jahrhundert
Wenn ein Schneller einen Schnellen andern kann stellen, Dann wird viel geschwinde zerschnitten die Schildbinde.
SPOTTVERS
St. Gallener Handschrift
10. Jahrhundert
Leubene setzte sein Hochzeitsbier Und gab seine Tochter her, Da kam aber Sterzgefieder, Bracht ihm seine Tochter wieder.
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üb ertragungen
NECKVERSEAUF MÄDCHEN
Münchner Handschrift
13. Jahrhundert
Was hier hält Umzug, Das sind alles Maide genug. Die gehn mit keinem Mann Alle diesen Sommer lang.
TANZLIEDCHEN
Münchner Handschrift
15. Jahrhundert
Trauern will ich lassen stehn, Wollen auf die Heide gehn, Ihr lieben Gespielen all, Da sehen wir der Blumen Schwall.
Ich sage dir, ich sage dir, Mein Geselle, komm mit mir. Süsse Minne, denke mein, Mache mir ein Kränzelein, Tragen soll es ein stolzer Mann, Der wohl Frauen dienen kann.
LIEBESLIEDCHEN
Münchner Handschrift
13. Jahrhundert
Floret silva undique, Um meinen Gesellen ist mir weh. Der Wald ist grün allenthalben, Wo ist mein Geselle so lange?
Er ist geritten von hinnen, O weh, wer soll mich minnen?
Älteste deutsche Dichtungen
LIEBESLIEDCHEN
Münchner Handschrift
15. Jahrhundert
Komme, komm, Geselle mein, Denn in Zittern harr ich dein, Denn in Zittern harr ich dein, Komme, komm, Geselle mein. Süsser rosenfarbner Mund, Komm und mache mich gesund, Komm und mache mich gesund, Süsser rosenfarbner Mund.
DU BIST MEIN
Münchner Handschrift
12. Jahrhundert
Du bist mein, ich bin dein, Des sollst du gewiss sein, Du bist verschlossen In meinem Herzen. Verloren ist das Schlüsselein, Drum musst du immer darinnen sein.
LIEBESLIEDCHEN
Münchner Handschrift
15. Jahrhundert
Ach du Lieb ob allem Lieben, Wie könnt ich das verdienen Wohl um Gott und wohl um dich, Dass du, Fraue, wolltest minnen mich?
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Übertr agungen
DENKSPRÜCHE
12. Jahrhundert
I - III Züricher Handschrift IV Wiener Handschrift
12. Jahrhundert
V Münchner Handschrift
12. Jahrhundert
I Wer Montags dahin lenkt, Wo er zu bleiben denkt, Dem ist für die ganze Woche Ungemach angebrochen.
ii Trüber Wasser Tiefe Und schöner Huren Liebe, Wer danach drängt zu j ach, Des gereut ihn bald danach.
in Wer in die Kirche geht Und reuelos drin steht, Der wird am Jüngsten Tage Waffenlos erschlagen. Wer alsdann wird gerichtet, Der ist für immer vernichtet. IV Grimmes voll ist alle Welt, Wer dazu sich müssig stellt, Muss gewiss verderben, Die Ehre muss ihm sterben.
v Frau Übermut, die Alte, Sie reitet dahin gewaltig. Untreue führet ihr die Fahn, Gierigkeit rennet ihre Bahn, Zum Schaden den armen Weisen: Schrecknisse das ganze Land zerreissen.
Älteste d eutsche Dichtungen
SPERVOGEL
Minnesinger Handschriften 15.-14. Jahrhundert i
Ein Mann, dem ein gutes Weib ersteht, Der doch zu einer andern geht, Der ist so viel als ein Schwein, Er könnte gar nicht ärger sein, Verlässt den lautern Bronnen, Legt sich in einen trüben Pfuhl, Doch hat den Brauch so mancher Mann gewonnen, n In der Höll’ ist gar viel Unrat, Wem dorten ward die Heimat, Dem scheint die Sonne nimmer licht, Ihm gibt der Mond Hilfe nicht, Noch auch die lichten Sterne. Ja, alles müht ihn was er sieht, Ja, er wär dann im Himmelreich so gerne!
in Herr Christ zur Marterung sich gab, Er liess sich legen hinein ins Grab. Das tat Herr Christ aus Gottestum, Die Christenheit erlöst er drum Von dem Höllenschwalle. Das geschieht jetzt nimmer mehr, Daran gedenke jeder dem’s gefalle. IV
Ein Haus im Himmelreiche steht, Ein goldner Weg dahin geht. Die Säulen sind aus Marmelstein, Zu unsres höchsten Herren Schein Mit Kleinod überspielt. Da kommt nur der hinein, Der sich von allen Sünden rein erhielt.
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Alle Kräutlein des Waldes, Alle Körnlein des Goldes Und jeglicher Abgrund, Dir, Herr, ist alles kund, Und steht in Deinen Händen, Des Himmels ganzes Heer Könnte Dich zu loben nicht vollenden.
CHRISTUS UND DIE SAMARITERIN
Wiener Handschrift
9. Jahrhundert
So lesen wir: einst führe der Heiland der Fahrten müde, Zu Mittag, wir wissen das, an einem Brunn er hinsass. Liess von Samarien ein Weib bald sich sehn, Schöpfete Wasser, immer noch sass er.
Aufgebrochen die Knappen Leibesnotdurft ihm zu schaffen. Da ihn zu tränken ging er an das Weib, das daher kam. >Wieso begehrst du, guter Mann, dass ich dir zu trinken reiche heran ? Denn nicht geniessen, wisse Christ, die Juden was uns Speise ist.
Dicser Brunnenrand ist so tief, zu dem ich von Hause lief, Auch hast du kein Schaff, damit du könntest schöpfen, Wie kannst du, guter Mann, entnehmen den Heilbrunn dann ?
Nimmer ist im Land dein Lob, höher denn das von Jakob, Der uns diesen Brunnen gab, war ihm und den Seinen zur Lab Und auch seine Herden sollten draus getränket werdens »Wer zu trinken zu diesem Wasser kehr, immer wird ihn dürsten mehr.. Wer aber trinket das mein, ihn verlässt der Durst allein. Es quillt in seiner Brust, in Ewigkeit mit Lust.«
Älteste deutsche Dichtungen
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>Herr, ich kniee vor dir, das Wasser gebest du mir, Dass ich nie mehr über Tag hierher durstig laufen mag.< »Weib, mach dich an die Fahrt, hole ihn, der dein Gatte ward.« Sie sprach, so wahr sie lebe, ein Mann sei ihr nicht gegeben. »Weiss wohl, dass du wahr sagst, dass du einen Mann nicht habest Denn du hattest fünf, dir zu Wollüsten, Nun kannst du sicher sein, nun hast du einen der nicht ist dein.«
>Herr, aus dir wehet ein Schein, du magst wohl ein Seher sein, Die vor uns geboren eh taten betend in den Bergen stehn, Unsre Altahnen suchten hier Gnade, Doch ihr sagt Bitten vernehme Gott nur in Jerusaleme . . .
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ab, sie hat, mit Goethe zu sprechen, »anerkannte Muster« und bleibt doch in ewiger Wandlung, ein stets sich erneuender Leib. Wie steht es nun demgegenüber mit der literarischen Verwen dung der Mundart? Von der durch Luther begründeten und schriftsprachlichen Bewegung wurden zunächst die protestan tisch gewordenen Landesteile ergriffen. Nicht in vollem Umfang freilich und nicht immer bis in die Tiefe. Zwar das Land ausge prägtester Mundart, die deutsche Schweiz, schloss sich rückhalt los der Einheitssprache an: schon im 16. Jahrhundert und noch mehr im 17. finden sich äusser unbewusst fast widerwillig ein gesprengten Provinzialismen keinerlei Anzeichen eines selbstän digen Sprachbildungsdranges. Anders stand es in den niederfrän kischen und niedersächsischen Gebieten. Während in den befrei ten Provinzen der Niederlande, ewig denkwürdiges Beispiel! ein selbsttätig mit vollkommener Bewusstheit aus dem Willen und der Gestaltungskraft der Geistesführer entstandenes eigenes Sprachgebilde, die klassische holländische Schriftsprache sich er hob, blieb in den niedersächsischen Landesteilen die eigene ge wachsene Sprache noch eine Zeitlang in öffentlicher Übung, ohne sich aber, da ihren Trägern fester Wille und Ausdrucksgewalt gemangelt hat, in irgendeiner höheren Form durchsetzen zu kön nen. Doch war dies sächsische Niederdeutsch als nicht mundart liches, sondern selbständiges Sprachgebilde stark genug, um wenn auch später von offizieller amtlicher oder hochdichterischer Verwendung abgedrängt, dennoch literarisch sich zu erhalten, weiterzuwuchern. Es hat eigentlich keine Zeit gegeben, in der nicht da und dort eine Predigt, eine Satire, ein Lied auf »Platt deutsch« geschrieben worden wäre. Geschrieben! Denn darauf kommt es hier an. Es kommt darauf an, dass neben der unfixier ten Sprache sich, wenn auch im geringsten Umfang, eine abge leitete, also irgendwie festgestellte Ausdrucksweise erhalten konnte, neben und manchmal mit dem hochsprachlichen Schrift tum. In den übrigen protestantischen Gebieten, den fränkischen, den schwäbischen, den thüringischen und obersächsischen war der Sieg der neuen Sprache, durch Bibel- und Kanzelwort er kämpft, so vollständig wie möglich. Aber er fiel zusammen, schwankte, verschob sich, umgrenzte sich, wenigstens gegen den
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Prosa
Südosten mit der Reichweite der Lehre, als deren lebendiger Leib er zuerst erschienen war. Es gibt heute kaum ein undurchforschteres, kaum ein interessanteres deutsch-literarisches Geschichts problem als das von Art, Charakter und Sprache unserer katho lischen, besonders der bayrisch-österreichischen Literatur vom spätem 16. Jahrhundert an, übers 17. hinaus, bis zur bewussten Angliederung dieser Striche an die allgemeine deutsche, besser an die übrige deutsche Bildungswelt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gemeinhin ist die Überzeugung im Schwange, in diesem Zeitraum habe das katholische Süd- und Südostdeutsch land trotz einzelner wie zufällig eingesprengter, einem Sonder schicksal unterworfener Begabungen keinen Anteil an der deut schen Geistesbewegung gehabt, äusser etwa jenem abgeleiteten durch Jesuitendrama, das lateinische Schulstück, die lateinisch dichtenden Vertreter mehr römischer als deutscher Bildung (wenn auch nicht Gesinnung, vgl. den Erzpatrioten Balde) oder durch den ins Übermaass gesteigerten Prunk der italienischen Oper der beiden katholischen Hauptstädte München und Wien. In Wahrheit steht es so: gerade in Bayern und dem deutschen Österreich hat ein unmittelbar aus dem Volke selbst stammendes, für dies Volk bestimmtes, vom Volk mit Begierde und Begeiste rung aufgenommenes Schrifttum in Vers und ungebundener Rede in weitestem Umfang bestanden, ist erst durch die einbre chende Aufklärung ernstlich bedroht worden und auch dann nicht mit einem Schlag, sondern nach langsamem Vordringen des andern, zäh, widerstrebend, Schritt für Schritt aus Gross- in Kleinstadt, von da in Dorf und entlegenes Alpental zurückwei chend, im ig. Jahrhundert zugrunde gegangen. Werke und Werkchen, meist erbaulichen, selten belehrenden Inhalts, viel Übersetztes, vieles zu bestimmten Gelegenheiten, auf Einzelfälle hin Entstandenes. Wärmer und lebendiger als die oft gar zu zweckbedingte Prosa, die Dichtung, Lied und Schauspiel zumal. Diese Kunst steht im engsten Zusammenhang mit der ganzen Volksgesinnung, ist und will mit den Mitteln des Wortes genau das gleiche, wie die so reich und vielseitig entwickelte bildneri sche Volkskunst dieser Gebiete, hat sich oft auch in Bilderbuch, Einzelheftchen oder -blatt, Aufschriften auf Geräten, Marterln,
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Votivgegenständen aufs innigste mit ihr verbunden. Das Wich tigste: die Behandlung von Sprache und Reim, Versbau und Strophengestaltung ist teils aus der Weise des durch keinen Über lieferungsbruch verschwundenen, lebendig fortwirkenden späte ren Mittelalters gebildet, teils mit den Formen und Möglichkei ten der Mundart weiter entwickelt und farbig gemacht. Dabei sind es durchaus keine Dialektgedichte. Es ist im Gegenteil, dies ist das wesentlichste Ergebnis der Betrachtung, eine wenn auch nicht normierte, so doch deutliche, ja ausgesprochene Tendenz, zu eigner schriftsprachlicher Gesetzmässigkeit zu kommen, das allgemeine Schriftdeutsch der Zeit mit der eigenen Volkssprache zu durchdringen. Dieser Prozess ist mangels der Teilnahme der im wesentlichen anderssprachlich interessierten Oberschicht nicht zu Ende geführt worden, aber sehr weit gediehen. Man hatte 150 Jahre durch für das populäre geistliche Schrifttum zweifel los eine eigene, dem einzelnen zur Verfügung stehende Aus drucksform, besonders im Vers: der vom Klerus verstandene und geleitete Volksinstinkt hatte das Verbleiben oder die Rückkehr zur alten allgemeinen Religion in seinen wenigstens damals un vermeidlichen gesamtgeistigen Konsequenzen durchaus begrif fen, und nicht viel hätte gefehlt, so wäre eine eigene bayrische Schrift- und Literatursprache geworden - genau so wie eine hol ländische geworden ist. Aber noch einmal: auch das, was die Un gunst der Umstände noch gerade zuliess, ist durchaus kein Wild wuchs oder Zufall, durchaus nicht gestammelt, sondern die si chere, oft freie Betätigung sprachlichen Willens. Von diesen dort gelungenen, hier halb ausgereiften Bestrebun gen, einen einzelnen Dialekt zur Eigensprache, zum selbständi gen Ausdruck des Geistes zu erheben, scheidet sich die Verwen dung des Dialektes als solchen zu literarischen Zwecken scharf und deutlich ab. Wenn wir von seinem, übrigens äusser in Rand gebieten und Sprachinseln recht seltenen Vorkommen in der na menlosen sogenannten Volkspoesie absehen (schon Boeckel be merkt in seiner Einleitung zu den »Hessischen Volksliedern«, dass das Volkslied äusser in Kleingedichten, Einzelstrophen oder bei zotigstem Inhalte nicht mundartlich sei) wird er zu Beginn und noch auf lange hinaus zu komischen oder zu Kontrastwir
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kungen herbeigezogen, und dann immer als Bauernsprache, »Pöfelsprache« bezeichnet. Wirklich werden auch stets die dump festen untersten Dialektschichten, und selbst diese noch manch mal überbetont (in einer Art Hyperdorismus), herangezogen, während wir von der bis ins ig. Jahrhundert ebenfalls durchaus dialektischen Umgangssprache der städtisch Gebildeten, äusser ganz gelegentlichen Hinweisen - »der Tebel hohl mer« - zunächst noch kein literarisches Denkmal erhalten. Als Einzelfigur aber oder in eingeflochtenen Szenen treten bei Aufzügen und Fest spielen Bauern, Herren oder Niedre schon früh, etwa bereits bei Wcckherlin in ihrem Heimatsdialekt auf, auch im Einzelgedicht, so z. B. wenn von Kindermann das Lob des Zerbster Bieres auch in der Zerbster Bauernmundart gesungen wird (1658). Langsam nur erweitert sich die Verwendung des Dialektes, bleibt aber lange noch Folie, Gegenbeispiel. Doch das Landvolk und die Untern werden nicht nur um ihrer derben tölpischen Plumpheit willen verlacht, die feine Welt beginnt, in ihrer Aufrichtigkeit, ihrem unmittelbaren, naturhaften, kraftvollen Wesen ein Stück übriggebliebenen goldenen Zeitalters zu sehen oder zu wähnen, eine schon sentimentale Sehnsucht oder ein Rückerinnern an die eigne Kindheit dämmert auf. Natürlich ist vieles davon rein lite rarischer Tradition, theokritisch gefärbt und bedingt und von ausländischer Schäferei beeinflusst, aber ein gut Teil ist doch wohl eignes Erlebnis und scheint mit dem für diesen Abschnitt die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts - so vielfach bedeutenden Aufkommen des jungen Menschen als eines selbstbewussten NeuTypus, seinem Eingreifen in die deutsche Dichtung der Zeit zu sammenzuhängen. Brehme, Schoch, Schirmer, Schwieger, vor allem Stieler (und sein »Buschgen«) gehören hierher, sehr auch noch Christian Reuter und, natürlich, Günther. Aus diesen Stim mungen heraus idealisierte oder idyllisierte sich auch die Bauern komödie, die niederdeutsche wie die schlesische. Im ganzen blieb sie immer noch als Einlagestück an ein hochdeutsches Sprech oder Musikdrama gebunden, indessen wurde, in stilistisch enger Anlehnung an das nahe Holländische, im westfälischen Platt um diese Zeit auch selbständig gedichtet, auch im Hamburgischen. Das 18. Jahrhundert, die Geburtszeit der »Ideen«, Weltbürger-
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lieh und individualistisch, und also bei aller Schwärmerei für das Natürliche dem Landschaftlichen abhold, und in Deutschland vor allem auf Überwindung des Provinzialen eifrig aus, hat nur in den geistigen und geographischen Randgebieten den Dialekt literarisch gepflegt. Das trotz aller theresianisch-josefinischen Säuberung und Uniformierung in allen Schichten erdnah geblie bene Osterreichertum liess sich seine Hanswurstiaden, die Vor läufer Nestroys, nicht nehmen, die gerade in dieser Zeit sonstiger »Veredlung« des deutschen Theaters einen grossen und rein mundartlichen Aufschwung nahmen. Der Dialekt wird in diesen Stücken mit manchmal fast eleganter Selbstverständlichkeit, je denfalls ohne Anleihen aus schriftdeutscher Wort- oder Satzbil dung gehandhabt, bleibt freilich Rohstoff, an dem sich kein hö herer Ehrgeiz versucht. Dagegen erstand in dem benachbarten Rayern genau in dem Moment, in dem seine volkstümliche Lite ratur mit ihrem eigensprachlichen Charakter dem übermächtigen Eindrängen der neuen Bildungsantriebe erlag, einer der ganz wenigen grossen Gestalter, Ausgestalter des Dialekts, ein Sprach meister im engen aber völlig beherrschten Bereich. In des Münch ners Anton v. Bucher (1746-1817) Dialektdichtungen erhält das Volksbayrische seine stilistische Vollendung. Schon weil diese Schriften sich in der humoristischen und satirischen Sphäre hal ten, bleibt die Verwendbarkeit ihrer Sprache begrenzt, gewiss, aber innerhalb ihres Bezirkes ist sie klassisch geworden, losgelöst von jeder plumpen Zufälligkeit, ein nie und nirgends so gespro chenes, aber ein aus seinem innersten Sprachgesetz heraus zu sich selber gekommenes, bewusst gewordenes Bayrisch. Von der all gemeinen Bedeutung dieses auch von seinen Landsleuten kaum mehr gekannten gewaltigen Mannes handle ich an anderer Stelle: dass er ein Einzelfall geblieben ist, seine sprachschöpferische Tat nicht weiter wirkte, gehört zur notwendigen Tragik mundart lichen Dichtens überhaupt. Aber wie eminent sprachbildend seine Leistung ist, lässt der Vergleich mit dem ihm zeitgenössi schen Schwaben Sailer erkennen, der, katholischer Priester wie Bucher, volksbedingt wie Bucher, in seinen religiösen Dialekt dramen auch sprachlich im Stofflichen steckengeblieben ist. Bei Sailer erdrückt die Mundart jede Bewegung, jede freie Wen-
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düng, er wird von ihrem derben Zwang beherrscht, statt dass er die Mundart führe, er wirkt dadurch rein parodistisch, ermüdet auf die Länge, ist ohne Freiheit und Schwung. Und ist auf alle Fälle eine zeitlich und lokal beschränkte Erscheinung geblieben. Immerhin steht er gemeinsam mit Bucher an der Schwelle unse rer eigentlichen mundartlichen Literatur, die, etwa um die Wen de des 18. Jahrhunderts kräftig einsetzend, seitdem über unser ganzes Sprachgebiet hin besteht. Mit sehr wenigen Ausnahmen ist sie ein Erzeugnis der »Bildung«, eines bewussten sentimen talen Zugehörigkeitsgefühls, ein Kind des romantischen Historis mus, der Altertumswissenschaft und wie so vieles Neuzeitliche im Grunde genährt, innerlich berechtigt durch eine Angst, dass es auch an diesem Punkte mit dem alten Leben zu Ende gehe, dass nichts mehr weiter wachse. Oft ist es mehr eine Feststellung des vorhandenen Bestandes. Die mit dem Volke und seiner Mundart beruflich vertrauten Angehörigen der Oberschicht, Pa storen, Lehrer, Ärzte sind an der Produktion hauptsächlich be teiligt gewesen, manchmal warme Naturen und tüchtige Bega bungen wie Hebel, die nicht nur Kinder und Kenner ihrer Mundart waren, sondern auch in gewissem Umfange mit ihr in nerlich verwachsen blieben, meist aber doch richtige Bildungs poeten, die in den Formen der zeitgenössischen Literatur, vor allem mit den schriftsprachlichen Mitteln, in Wendungen und Syntax halbschlächtige Gebilde hervorbrachten, denen das Mund artliche nur von aussen angepinselt war. Dass heute nach einem reichlichen Jahrhundert dieser Bestrebungen jeder deutsche Gau seine eigene Dialekt-Literatur zu haben scheint, ist ein Trugbild. Neben dem grossen, ja nicht rein mundartlichen Einzelfalle Je remias Gotthelf ist es bezeichnenderweise nur die städtische Posse, vor allem die grossstädtische, die Berliner, Hamburger, Frankfurter, Wiener, in der sich eine Art von eigenem Leben eine Zeitlang entfaltete. In ihr ward die Mundart manchmal wirklich gesprochen, wurde, wenn auch nicht Kunst, so doch pralle Wirklichkeit, entsprach dem Bedürfnis, wurde aufgenom men, populär. Und wenn ein Dichter wie Raimund sie hand habte - der aber sein »Hobellied« doch hochdeutsch abfasste, ge rade damit es zum allgemein gesungenen Volkslied machte-wenn
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Raimund wienerisch dichtete, so ergriff er Besitz, es wurde sein eigenes, ein von ihm durchknetetes, von ihm fortgebildetes Idiom. Blieb freilich auch bei ihm Idiom. Immerhin wirkte seine Ausdrucksform sprachbestimmend auf Zeitgenossen und Nach fahren. Selbst in einer so unbekümmerten Begabung wie Nestroy oder einer so männlichen wie Anzengruber klingt er nach. Dennoch war es nicht ihm, sondern einem ganz anderen Vertre ter dieser »atellanischen« Gattung beschieden, innerhalb eines noch dazu schmal begrenzten Dialektes wahrhaft schöpferisch, frei aus dem überkommenen Stoffe heraus zu gestalten. Niebergall, Georg Büchners engster Landsmann und Zeitgenosse, hat in seinen beiden »Possen« die kleinstädtische Darmstädter Mund art, einen allerdings sehr selbständig entwickelten Zweig des Mittelrheinischen, speziell des Pfälzischen, mit unerhörter Frei heit und Eigenwilligkeit und mit ebenso grossem Sprachgefühl in Form gebracht, den Schritt zur Sprachbildung getan, die vor gefundenen Elemente durchtränkt und damit das innere Pathos und Ethos, die besondere syntaktische und rhythmische Eigenart des von seinen Landsleuten gesprochenen Wortes verdichtet und verdeutlicht. Bei ihm gibt es weder Entnahmen aus der Schrift sprache noch Anleihen aus verwandter, etwa der Frankfurter Dialektliteratur: unmittelbar aus der Materie heraus schafft er seine gefügigen biegsamen Dialoge und Einzelreden, prägt oder beseelt er urtümliche Wendungen, ohne irgend zu entgleisen, zu spreizen, oder in der zähen Masse unterzugehen. Seine mund artlichen Werke, der »Datterich« und »Der tolle Hund«, gehö ren mit Bucher und den besten Wienern in den engen Kreis un serer grossen Literatur, Musterstücke einer Gattung, die nur hier zeitlos geworden ist, unbedingt. Wenn Jeremias Gotthelf neben diesen Meistern der ort-und volksbedinglen Komödie wie ein Urgebirge sich auftürmt, so ver dankt er dies gewiss nicht allein der grösseren Umfänglichkeit seines Werkes. Aber da wir ihn an dieser Stelle einzig als Sprach bildner zu würdigen haben, so muss doch festgestellt werden, sein Versuch, das Berner Flochalemannisch rein oder in Verbin dung mit einem der Mundart zugebildeten Hochdeutsch frei zu verwenden, eine epische Dichtersprache aus der Mundart heraus
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zubilden., ist nur unvollkommen geglückt. Zwar lässt sein Stil erkennen, wie nahe die durch alle Zeiten von der gesamten Be völkerung gesprochenen, immer lebendig gebliebenen formenund klangreichen deutsch-schweizerischen Dialekte der Sprach selbständigkeit gekommen sind, wie es wirklich nur des gestal tenden Willens bedurft hätte, diese Idiome ebenso zu kristalli sieren und aus der allgemeinen Schriftsprache loszulösen, wie es eben seinerzeit der holländische Niederrhein gewagt und durch geführt hat: aber zugleich erfahren wir, dass dieser geschicht liche Augenblick vorüber war, als Gotthelfs Werk sich vollzog. Was der dramatischen Kleindichtung in der Stilisierung des Sprechwortes unter günstigen Umständen gelang, musste dem be richtenden, betrachtenden, darstellenden Worte versagt bleiben. Hier war die gemeinsprachige Überlieferung übermächtig, das ab geleitete Wissen zu gross, die Zeit zu spät, zu wurzelfern. Gerade sein Bemühen bei so vieler dichterischer Kraft, so zäher Verbun denheit mit seiner Welt, zeigt die unverrückbaren Grenzen des sen, was heute noch sprachlich möglich, d. h. also erlaubt ist. Wir fassen zusammen. Seit dem Aufkommen der allgemeindeut schen Schriftsprache ist für die Mundart kein Platz mehr im hö heren Schrifttum frei gewesen. Für ganz wenige Gattungen dörflichen und volkshaften Lebensausdrucks blieb sie die natür liche Sprachform: für die bayrisch-österreichischen Vierzeiler vor allem. Schon das durchs Land hingesungene Lied war mit Aus nahme der im verkehrsfernen, entlegenen deutschböhmischen Winkel, dem »Kuhländchen«, oder in der slawisch umbrandeten Sprachinsel Gottschee erhaltenen lyrischen und altepischen Stücke Schriftdeutsch, wenn es sich auch da und dort mundart lich zerschliss. Aufgenommen und zu Gegenwirkungen, Zwi schenspielen, Einfügsein verwendet, trat die Mundart fremd artig in das höhere Schrifttum ein, dienend, unselbständig, ge führt. Das eigenwillige, vielfache, jahrhundertlange Bemühen, auf Grund des religiösen und allgemein kulturellen Sonderda seins die Mundart im katholischen Süden und Südosten zu ent wickeln, ihr wenigstens die geistliche Dichtung zu sichern, ist nicht weiter gediehen, auch der vereinzelte Spätversuch eines Gotthelf musste scheitern. Der Sieg der Schriftsprache war und
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blieb vollkommen, und was das vergangene Jahrhundert an Dia lektliteratur hervorbrachte, gehört mehr in das Gebiet der Volks kunde wie in das Bereich der Dichtung. Dass es einige, ganz we nige wirkliche Dichter in und aus der Mundart gegeben hat, be rührten wir, immerhin beweisen sie die noch ungebrochene drän gende Triebkraft unseres gesamten Sprachstands. Und das ist freilich das Hauptergebnis dieser Überschau: die deutsche Spra che ist noch völlig im Fluss, ihr Gebiet noch nicht abgegrenzt. Wie sie als Instrument des Geistes und als Gestaltungsstoff des Dichterischen sich immer wieder, zuletzt noch in unseren Tagen, gewandelt hat, weicher, südlicher wurde oder dichter und auf rechter, je nach dem neuen Hauch der in ihr blies, so hat sie auch nie aufgehört, das mannigfache Leben der Nation in sich zu fas sen und mit ihren Mitteln auszubilden. Sie ist heute noch in einem tiefen Sinne landschaftlich. So wie es trotz mancher rein stadtbedingter Hervorbringer, vor allem Heines, dem Stoff und der Gestaltungsweise nach keine Grossstadtdichtung, wie etwa die Balzacs oder des Dickens, bei uns hat geben können, wie das gesellschaftliche Gefüge der neueuropäischen Bürgerwelt seine Spannungen, seine Moralen, seine Absichten im neueren Drama der Franzosen, im englischen Roman und bei den Skandinaven die literarische Form gefunden hat, die von uns mehr oder we niger glücklich übernommen wurde, so ist auch unserer Sprache jeder Versuch, sei es durch Regelung, sei es durch Abschleifen, konventionell sich festzulegen, »Koine« zu werden, gefährlich geworden oder missraten. Des Baccalaureus »Die Welt sie war nicht, eh ich sie erschuf« hat gewiss zu oft »neue« Bahnen ge wiesen, Weiterwachsen gehemmt und die äusseren Schicksale ta ten das ihre - aber auch im Sprachlichen kann bei uns ungebro chene Folge, lebendige Überlieferung nur von innen kommen, sie muss geistgespeist, sie darf nicht geistbedingt sein. Wie alle wirklichen Lehensgesetze, sind auch die Gesetze unserer Sprache ungeschrieben, immanent. Immer wieder ergänzt und stärkt sie sich aus dem gesprochenen Wort, wird sie »Zunge«, und noch durch das Schaffen ihrer Grossen und Grössten fliesst der Rhyth mus der Heimatmundart als lebendiges Blut.
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DEUTSCHER UND FREMDER SPRACHGEIST Allerlei merkwürdige Beobachtungen macht man beim Über setzen ins Deutsche. Sie lenken den Blick oft hart bis zur Werk stätte der Sprachbildung selbst, oft lassen sie ihn an Kleinigkei ten streifen, die unbedeutend scheinen, an denen dennoch der stärkste Übersetzerwille haltmachen muss. Auch der ungeheure Reichtum unserer Sprache an Darstellungs- und Ausdrucksmit teln, die Wortfülle, Umfang und Abstufung ihres Gefüges, ihrer syntaktischen Bindungen reicht nicht immer aus, besonders nicht, wo es gilt, den über Kargheit, ja Mängeln gewisser überalterter Sprachstufen lagernden Reiz wiederzugeben. Aufs wunderbarste befähigt ist unsere Sprache dagegen, alle Abstufungen des Ge fühls, die Formen der Leidenschaft und jede Art von Pathos, selbst das an Zeit und Volkstum fremdartigste, auszudrücken. Ebenso Herrin ist sie im ganzen weiten Reiche der Laune, der Tollheit, des Übermaasses, des befreienden, aber auch des bösen Lachens, der Welt des Thersites und Falstaff, des Gargantua und des Don Quichote. Hier haben, vorgeahnt von den bärbeis sigen, eigenbrötlerischen oder pudelnärrischen Versuchen im späten Mittelalter in Fastnachtsspiel, Bauernschwank, Narren tum, Lügenmär, unsere grossen Sprachbildner und -renker, die nimmermüden Schmücker, Überschmücker, Zauser und Zerrer unseres Wortgutes von Fischart bis Jean Paul eine oft fast tro pisch (indisch!) anmutende Urwaldüppigkeit hinterlassen, die eher zu sichten wie zu vermehren ist. Und als Ergebnis dessen besitzen wir etwa in des Regis Rabelais-Übersetzung, in Droysens deutschem Aristophanes, in Don Quichote von Ludwig Braunfels, denen sich Rudolf Kassners Übersetzung des Tristram Shandy von Sterne, Jean Pauls überschwenglich gelobtem Vor bild, gleichwertig zur Seite stellen wird, alle grossen Werke des europäischen Humors richtig und durchaus auf deutsch. Sogar das Übergreifen in die unserem Wesen ganz fremdartige semiti sche Arabeskenkomik ist Rückert mit seiner Übertragung der »Makamen des Hariri«, eines in Reimprosa glitzernd hinschlit ternden arabischen Abenteuerromans wohl geraten. Keine an dere europäische Sprache hat dergleichen aufzuweisen und ein
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Blick auf die ungeheuer vielseitige englische Übersetzungsliteratur genügt, um zu zeigen, wie bei aller Genauigkeit und Schärfe der Inhaltswiedergabe es dennoch nie in der Absicht der Über setzer liegen konnte, der Gestalt des jeweiligen Werkes auch for mal zu entsprechen. Dabei mag es auf den ersten Blick befremden, dass alles Groteske, Bunte, aber auch das stilistisch sehr Geschmückte, Preziöse - die sogenannte schwere oder üppige Sprache also - sehr viel leichter sich umsetzen lässt als die einfachen Stilformen. Zur Wiedergabe von Werken aus jener Sphäre genügen Eigenschaften zweiten Ranges. Unsere Sprache kommt jedem Bemühen nach der Bil dung neuer Worte und Wortbindungen, nach Klangwirkung durch Alliteration, Konsonantenanhäufung, Vokaltönung bereit willig entgegen, ebenso wie sie bezüglich der Wortstellung im Satz, der Zerlegung oder Bauschung der Sätze selbst die weite sten Freiheiten gestattet. Ja die Gefahr liegt hier nicht in einem Zuwenig, sondern in einem Übermaass der Möglichkeiten. Es ge nügt hier, an das Verhältnis von Fischart zu Rabelais zu erin nern. Seine »Geschichtsklitterung« schwemmt die bearbeiteten Teile des »Gargantua« derart auf, dass die bei aller bunten und prangenden Fülle dennoch plastische Figurierung des Originals wie in einem Hohlspiegel verzogen erscheint. Er vervielfältigt des Rabelais’ Anspielungen, Gleichnisse, Aufzählungen ins Un geheuerliche, das Original ist gewissermassen nur die Grundie rung oder die Schwarzweiss-Vorlage für diese übertolle Bunt heit, diese Leibes- und Gliederfülle. An diesem Musterbeispiel wird eine der Gefahren deutlich, vor denen der Übersetzer sich zu hüten hat. Man kann darauf verfallen, manchmal sogar un bewusst, mehr zu machen, als das Original wirklich hergibt. Ge rade ein dichterischer, einfühlsamer Übersetzer kann hier leicht zuviel tun. Besonders Sprachen gegenüber von geringem Wort schatz, festgelegten Wendungen. Hier heisst es äusserste Selbst kontrolle üben, entsagen und nur das wirklich Vorhandene um bilden. Auf den möglichen Fall, dass eine Übersetzung die im Original nicht völlig zum Ausdruck gelangten Gesichte seines Schöpfers stärker verwirklicht als die Urdichtung, mag hier nur von weitem gedeutet werden, ihn in Erwägung zu ziehen besteht
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kein Recht, obwohl wir Beispiele dafür zu kennen glauben. Denn der Vorgang, wenn er statthat, vollzieht sich in Hintergründen, in die nicht hineinzuleuchten ist. Ganz anders wie bei den Werken geschmückten Stiles steht es mit solchen einfacher, direkter oder gedrängter Diktion, klassischen oder naiven. Hier ist nicht ins volle zu greifen, um und um zu quirlen, aufzuplustern oder zu färben. Es gibt keine Handhabe, dem Bau solcher Werke und ihrer Klangfarbe von aussen beizu kommen. So wie ihre Wirkung, von den wenigen auch bei ihnen zu erkennenden simplen Kunstmitteln abgesehen, in dem unlös lichen Zusammenhang von Gehalt und Ausdruck, dem aus dem Inneren hervorbrechenden Glanze ihrer Worte besteht, wie der »natürliche« Ablauf ihrer Sätze und Satzfolgen ihr eigentliches Geheimnis ist, so muss es dem Übertrager vergönnt und verlie hen sein, auf die Elemente der deutschen Sprache, ihren eigenen Urbestand, in jedem solchen Falle zurückzugehen. Vielheit der Wendungen, Kenntnisse, ja Geschmack und Einsicht vermögen dabei an sich nichts. Ich entsinnemich einer vor etwa zwanzig Jah ren herausgekommenen Übersetzung von Dantes »Vita Nuova«, von einem etwas dünnen, aber wirklich begabten Stilisten ge fertigt, in deren Einleitung die Übersetzungsgrundsätze, zumal die auf Dante bezüglichen, verständnisvoll, ja geistreich dargelegt wurden. Die Übersetzung selber sowohl der Verse wie der unge bundenen Rede aber war ein mühseliges, trockenes, fast unge niessbares Machwerk. Desgleichen ist Regis in seiner Überset zung der Gedichte Michelangelos durchaus nicht glücklich gewe sen - auch ein Beweis für die Wirkungsgrenze der sogenannten Sprachmeister. Es leuchtet ein, dass die Wiedergabe eines Stücks einfacher Stilform als eine der Neuschöpfung sehr verwandte Leistung nur dem echten Dichter gelingen kann. Die Einfachheit ist so voller innerer Spannungen, dass jede Angleichung mit ab geleiteten Mitteln matt und tot davon abstünde. Zudem ist sie mystisch verbunden mit dem innersten Leben des Volkstums, dem sie als letzte, seltenste Blüte enttaucht. (Es ist wirklich wie das Auftauchen einer seltenen, mondhaft sich erschliessenden Blume aus den Tiefen eines Gewässers.) Weit mehr als die soge nannten »charakteristischen Äusserungen der Volksseele«, die
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derb oder lärmend oder hochfahrend nach aussen tretenden Mas sengebärden, die Masken- und Prunkaufzüge der Strasse, sich jedem preisgeben und darum über alle Grenzen hinaus den Bei fall des jeweils gleichen Niveaus erlangen. Seit der griechische »Geschmack« im europäischen Kulturkreis zur Herrschaft kam, seit wir neben den andern auch literarische Moden haben, hat man einander nachahmen zu müssen, verstehen zu können und übersetzen zu dürfen geglaubt. Wir Deutsche sind dabei in wei testem Umfang die Empfangenden gewesen, und seit das Chri stentum als Botschaft bei uns eindrang und mächtig wurde, unser Volkstum zusammenschloss, haben wir wieder und wieder frem des Seelengut zu dem unsern zu machen, uns einzuschmelzen ge habt. Aber bis auf die grossen Zeiten, die mit dem freilich immer noch von den Mitlebenden als »deutscher Milton« gepriesenen Klopstock anhuben, ist unser literarisches Dasein (was ihm nichts an Innengrösse raubt) ohne Bedeutung gewesen für das übrige Europa. Nur Luthers ungeheure Tat der deutschen Bibel hatte auf die Gestaltung der nationalsprachlichen protestantischen Bibel besonders in den verwandten germanischen Ländern be stimmend eingewirkt. Mittelbar durch die Bedeutung des Bibel worts auch auf die literarische Entwicklung dieser Nation. Aber es war eben kein Werk der Literatur, sondern das zum ersten Male verständlich gesprochene Wort Gottes, das Vorbild wurde. Noch weniger gehören in den Kreis literarischer Beziehungen und Übernahmen die übrigens mit vielem Sachverständnis gefer tigten Übersetzungen der Werke Jakob Böhmes, des allgemein so genannten Philosophus Teutonicus ins Englische des 17. Jahr hunderts, zumal da ihre Wirkung auf engste ganz unliterarische Kreise beschränkt blieb, so dass sie heute kaum mehr auffindbar sind. Die einzige literarische Gattung, aus der Deutschland in vorklassischer Zeit dem übrigen Europa abgab, war eine in ge wissem Sinne ebenfalls ausserliterarische, die dem untersten Lesebedürfnis etwa im Sinne der heutigen Zehnpfennig-Schrif ten entsprechende Masse der Jahrmarkts- und Volksbücher, der Ritter-, Narren-, Zauber- und Wundergeschichten. Der Doktor Faust, der Eulenspiegel, die Haimonskinder, die Schildbürger usw. sind in allen Sprachen verbreitet gewesen. Es ist sehr be
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zeichnend, dass Deutschland, grade an dieser Stelle, wenn auch wildwüchsig, wurzeln blieb, volksnah blieb. Das Phänomen ist nach mehreren Richtungen merkwürdig und beiehrsam. Es be weist die Gleichförmigkeit des Geschmacks in den literaturfer nen Schichten Gesamteuropas (denn auch das vordere Slawen tum, Polen, Böhmen, nahm teil), die typenschaffende Kraft des deutschen Volksgeistes und die Gleichgültigkeit des naiven Lese drangs Richtungen und Modeströmungen gegenüber. Aber erst mit dem 18. Jahrhundert erhielt die deutsche Literatur und Dichtung ein auch fürs Ausland erkennbares eigenes Gesicht. Sofort beginnen die Herübernahmen aus unserem Schrifttum. Die noch ungeschriebene Geschichte der in fremde Sprachen übertragenen deutschen Literaturwerke würde neben manchem Zufälligen doch eine deutliche, durchgehende Gesetzmässigkeit zutage bringen. Zwar die ungeheure Verbreitung des Werther ist genau erforscht und schon von Goethe selbst lächelnd beob achtet worden. Aber das Aneignungsbedürfnis ging sehr viel wei ter. Allerdings sind deutsche Bücher nicht im entferntesten so viele übersetzt worden wie englische oder französische. Dennoch aber bleibt es erstaunlich, was alles von unserem damaligen Schrifttum gesehen und gewünscht wurde. Dass Wieland, der weltmännischste unserer Poeten, in vielen Sprachen Aufnahme fand (besonders seine »Grazien« waren bis ziemlich ins ig. Jahr hundert hinein allgemein beliebt) begreift sich noch am ehesten. Ebensosehr das Interesse des denkerischen, Aufklärung und Hu manität erfindenden und treibenden Europa an dem klaren, liebenswerten, wohltemperierten Moses Mendelssohn. Eine sehr flüssige und verständnisvolle Übertragung seiner philosophi schen Schriften ins Italienische ist sogar als Bodoni-Druck er schienen, allerdings wohl nicht viel gekauft worden, denn sie ge hört heute zu den grössten Raritäten der Offizin. Doch schon war der Blick geschärfter. Einen so deutsch-spröden Dichter wie Jo hann Peter Uz vom Ausland her zu entdecken, bewies ein Ver ständnis für unser eigenstes Wesen. Die italienische Übersetzung seiner Gedichte (in Auswahl) ist voll redlichen Bemühens und gerade bei dieser auf ihre eigene lyrische Produktion so über stolzen Kulturwelt ein frühes Anzeichen für die neue Situation.
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Sie ist gleichsam der Beginn jenes deutsch-italienischen Zusam mengehens im äusseren und inneren Schicksal, das zu soviel ge genseitiger Befruchtung geführt hat und trotz der augenblick lichen politischen Verdunkelung immer weiter besteht. Erst mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, also, wie oft bemerkt wurde, in einer Zeit tiefer politischer Schwäche, ist das deutsche Schrifttum ein allseitig anerkannter Teil des Gesamt europäischen, nach manchen Richtungen eine Vormacht. In im mer steigendem Maasse werden deutsche Bücher übersetzt. Der bis heute währende Zustand ist eingeleitet. Und dies führt uns zurück zum Ausgangspunkt. Denn auch wir haben erst von da ab, ein wenig früher beginnend, mit dem Übersetzen Ernst gemacht. Noch die erste deutsche Dante-Über setzung, von einem Schulmeister Bachenschwanz 1768 begonnen, beschränkte sich auf eine klägliche, wenn auch durch ihre Un beholfenheit rührende Prosaauflösung des Gedichts. Seit Vos sens deutschem Homer wäre ein solcher Versuch mit untaug lichen Mitteln nicht mehr möglich gewesen. Seitdem herrscht in Deutschland, und nur in Deutschland, das Gesetz, wenn auch nicht ausnahmslos befolgt, genauer Formnachbildung bei Ge dichten, strenger Wiedergabe des Satzrhythmus in der unge bundenen Rede. Der unter dem Namen Philaletes übersetzende bildungseifrige Sachsenkönig Johann hat freilich seinen Dante in reimlose Jamben gebracht, und antike Dichtung hat man oft mals und mit geistreicher Begründung in deutsche Reimverse umzustellen versucht. Das sind Einzelfälle geblieben; manchmal wie vor allem des zu früh verstorbenen August Oehler schöne, aus der griechischen Anthologie in unseren Tagen geschöpfte Gedichtsammlung »Der Kranz des Meleagros« - sehr liebenswür dige, aber die Grundregeln unserer Ubersetzungskunst sind da durch nicht erschüttert worden. Wir können zum mindesten jedes europäische Maass aus unseren Mitteln mit unserer zugleich metrischen und rhythmischen Sprache nachgcstalten. Auch wenn wir von den seltenen Möglichkeiten »schwebender Betonung«, d. h. der gelegentlichen Verschiebung von Wort-Ton und metri schem Ton absehen, ist in dem unserer Sprache eigentümlichen Verhältnis von Wortbetonung und Satzmelodie eine Ausdrucks
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form gesichert, die dem Verhältnis von metrischem und natürli chem Akzent in der antiken Dichtung sehr viel mehr entspricht, wie die Theoretiker zugeben. Hölderlins Pindar und die beiden von ihm deutsch gedichteten Sophokles-Tragödien sind auch in diesem Betracht Neugeburten. Über die sehr viel grössere Schwie rigkeit einer Wiedergabe der neueren, auf nirgends haftenden, zwischen den Worten flimmernder »nuance« beruhenden romani schen, besonders der französischen Versmelodien, hilft einiger massen der fliessende, alles erweichende Rhythmus unserer Wort folgen hinweg. Freilich ist es nur dem Allergrössten gelungen, »in Schmelzfarben«, wie Goethe einmal sagt, zu malen. Und eigentlich erst seit den ganz liedhaften Schöpfungen Georges im »Teppich des Lebens«, dem »Siebenten Ring« und im »Neuen Reich« ist diese Befreiung von jeglicher Stoffschwere endgültig durchgeführt. Alle Kompaktheit ist hier umgesetzt in Bewegung, Geist, Bezug. Gegenüber dem Flächigen der romanischen Nu ance erleben wir hier einen schwerelosen, doch gleichgewich tigen Raum. Dies Verhältnis, im tiefsten Wesen der beiden Sprachstämme begründet, in ihrer Dämonie, ist freilich unver rückbar. Immer wird im Deutschen auch sprachbildnerisch die Tiefendimension, als Drang nach innen oder als Streben in die Ferne, Leben, Schicksal, Sprache wesentlich bestimmen.
VON SINN UND RANG DES ÜBERSETZENS Ein häufiges Traumerlebnis: Wir sind in fremdsprachlicher Um gebung. Wir wissen, wir kennen die Sprache der anderen nicht, sie nicht die unsere. Trotzdem versteht man sich, versteht sich ohne Dolmetsch, nicht obenhin, vermutungsweise, sondern ganz und gar. Was geredet wird, erscheint als verstandenes Abbild wie in einem Spiegel. Durch die verschiedenen Idiome durch klingt das Eine Gleiche: das menschliche Urphänomen: Sprache. Es ist wie vor der babylonischen Verwirrung. Dies Identitätserlebnis führt uns an das Sprachgeheimnis selbst, es erschliesst uns auch Art und Möglichkeiten des Übersetzens, das in seinem höchsten Grade eine wirkliche Erneuerung sein
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will und muss, eine Wiedergeburt. Es ist ein Vorgang verwandt denen des Besessenseins, der Ichverwandlung der gestaltenden Mimesis, besonders, doch das kann hier nur angedeutet werden, der Musik. (Hierüber wäre etwa meine Abhandlung »Über den Geist der Musik« anzuziehen.) So begreifen wir ohne weiteres, dass Deutschland nicht nur die meisten Übersetzungsversuche, sondern auch die einzigen wirk lichen Neudichtungen aufweist. Ja, dass in Deutschland einmal das vollkommene Identitätswunder sich ereignet hat: Hölderlins Sophokles, der Ödipus vielleicht um einen Hauch noch mehr wie die Antigone, und der griechische Sophokles ist wirklich ein und derselbe. Auch die wunderbare Geschmeidigkeit der allempfind lichen deutschen Sprache, ihre besondere Eignung zur Wieder gabe rührt daher! Das Deutsche ist dabei heute nach der Durchgeistung und Durchblutung, die es Nietzsche und George dankt, nach seiner geheimnisvoll erhaltenen Naturnähe wie seiner Be weglichkeit, die zentrale Sprache unseres gesamten Kulturkrei ses. Treue und Richtigkeit einer deutschen Übersetzung werden nicht wie bei den erstarrten oder den unentwickelten oder den zerpflückten Sprachen durch die Grenzen des Materials bestimmt. Die Güte einer Übersetzung richtet sich bei uns lediglich nach Wert und Adel dessen, der sie schuf. Übersetzen ist also, da wir das bei den höchsten Aufgaben auch liier wirksame Mysterium der Berufung im Dunkel lassen müs sen, in seinem erschliessbaren Wesen eine moralische Angelegen heit. Es erfordert die zu jeder Geistesarbeit notwendigen Eigen schaften der Selbsthingabe, Selbstverleugnung, Versachlichung in einem besonderen und einem eigentümlichen Maasse. Denn es gilt die fremde wiederzuschaffende Leistung nicht nur zu durch dringen, zu umgreifen, als Einzelsein und Teil ihres Weltganzen zugleich zu fassen, sondern: es muss zu all diesem auch noch der vollkommene Verzicht auf jede eigene Betätigung, jedes eigene Wirken kommen. Äusserste Zuspitzung und Verfeinerung des kritischen Vermö gens und unbeschränkte Freiheit in den Mitteln sind Vorausset zungen zur Wiedergabe. Äusserste Bewusstheit, bis zur Bewusst losigkeit - kein Wortspiel, man denke an Hölderlins Anmerkun
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gen über das Tragische Strenge, die Spiel wird, lächelnde Ge walt. Völlige Gesetzlichkeit des Vorgangs, nicht eine einzige Re gel. Es ist wie mit den Armeebefehlen grosser Feldherren: ihr habt zu siegen, das Wie? ist eure Sache. Keine einzige Regel. Selbst der allgemeine aus dem Verhältnis von Sprach- und See lenstufe fast selbstverständlich resultierende Grundsatz, dass auf keine frühere Sprachform rückgegriffen werden dürfe, dass mit unseren Sprachmitteln, mit diesen und ihren unausgeschöpften Möglichkeiten allerdings schrankenlos, jedes, auch das nach Zeit oder Art entfernteste Stück zu packen sei, erleidet, wenn auch seltene und stets irgendwie bedenkliche Ausnahme. Ich ziele hier einzig auf Wilhelm Grimms Verdeutschung der altdänischen Heldenlieder (Heidelberg 1811), in denen das Wie dererklingen des nordischen und des alten Tones neben lexikali schen Anleihen aus der Ursprache durch noch erlebbare Bildun gen und Bindungen unserer gleichstufigen Balladendichtung ge sichert wird. Doch auch hier bleibt das Gebilde künstlich, eine Einmaligkeit ohne Nachfolge, stilschaffend hat es nicht wirken können. Ebensowenig der an sich meisterhafte Parallelversuch in deutscher »altfränkischer« Prosa, des G. Regis’Rabelais-Verdeut schung. Alle solchen Versuche gehören schliesslich in das Gebiet der Kuriositäten und verschieben den Schwerpunkt der Aufgabe nach aussen. Es kann sich immer nur darum handeln, Stücke, die heute noch lebendig oder belebbar sind, oder wenn sie aus dieser Zeit stammen, solche, die dem jetzigen deutschen Seelenzustand einbeziehbar sind, deutsch zu geben. (Dass ich von Übersetzun gen für Tagesbedarf oder zu irgendwelchen Reizzwecken nicht spreche, versteht sich ohnehin.) Und natürlich kann dies Deutsch nur die gesättigte Dichtersprache oder das lebendige Wort aus und für uns selber sein, eine Sprache also, die von Luther zum ersten Male gesprochen, von Klopstock zum ersten Male ins Pa thos gehoben, von Goethe und seinem Jahrhundert vollendet worden ist und nun zugleich mit dem geheimnisvollen Auftau chen Hölderlins unendliche Bereicherung erfahren hat. Mit ihren Mitteln, durch ihr Gefüge und ihren Wortschatz, der ja noch mitten im Werden ist, seiner zeugerischen Kräfte neu be wusst geworden ist, lässt sich der Charakter des Entrückten (alt
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oder vergangen darf hier nichts sein) ebenso wiedergeben wie jede Art von Schwung, Feierlichkeit, Schweben oder Straffheit. Freilich, auch auf diesem Wege geht’s nicht durch Angleichung, Nachbildung. Der Begriff der Treue ist auf dieser Höhe des Übersetzens ein rein innerliches Moment, damit natürlich nur wuchtender, fordernder. Zwar das Festhalten an Maass und Rhythmus, soweit es sich um poetische Texte handelt, an den Kadenzen und der Satzmelodie in der ungebundenen Rede ist selbstverständlich. Denn das ist Struktur, Leibesbildung, soll und kann ungeschmälert wiederkehren. Anders steht es mit den Kunstmitteln, welche das Gebilde im einzelnen beleben, färben, durchbluten. Diese sind ihrem We sen nach zeitbedingt, sprachbedingt, dichterbedingt, ihrer Wir kung nach vieldeutig. So wenig man ein Wortspiel, eine stehende Redensart oder eine aus dem Sinnlichen ins Geistige ragende Wendung wörtlich übersetzen kann, ohne durch Scheintreue zu fälschen, kann man Klangelemente, Vokal Wirkungen in Folge oder Kontrast, Alliterationen, kann man selbst Satzbildungen unbedenklich herübernehmen. Nach dem hier wie überall gel tenden Grundsätze, dass man kein Ding von seiner Stelle neh men könne, ohne es zu verändern, und dem anderen Grundsatz von der Wesensgleichheit der im einzelnen verglichen ganz ver schieden scheinenden Teilelemente in Parallelsystemen (in Dacques Typenlehre jetzt für die Entwicklungsgeschichte fruchtbar gemacht) muss hier vermieden und verfahren werden. Entschei dend ist hier einzig die Tiefe der Schau, der Umfang der Be herrschung. Mit und von Stümpern ist nicht zu verhandeln, aber auch ein weit Gedrungener kann hier straucheln, des Schein guten zuviel tun und, damit der Pedanterie verfallend, da stelzen, wo das Urbild schreitet oder schwingt. Schnellsein nützt nicht zum Laufen! Nur wer das Urbild so tief in sich genommen hat, dass dessen Keimpunkt in ihm aufging und damit die notwen dige, unverrückbar einmalige Wachstumsform mit ihren imma nent dazu gehörigen »Schwächen«, den matten oder toten Stel len, den Lücken oder dem Hinzugekommenen sich organisch er gibt, kann hier das Richtige treffen. Gewiss werden ihm dann die Schulmeister rechnerisch und tastend Irrtümer und Unter
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lassungen nachweisen können - Dauer und Wirkung seines Wer kes geben ihm doch recht. Freilich von der Zeitmode, den Anschauungen, Wünschen und Reizungen des jeweiligen Bildungsdurchschnitts muss der Über trager eines zeitlosen Werkes ebenso unabhängig sein wie von irgendwelchem Privatgeschmack. Wir haben, bis uns »Plato, seine Gestalt« wieder erschien, den salbungsvollen, den einge bildeten, den ästhetischen Plato erlebt, wir hätten von Simon Schaidenreisser bis Schröder eine wundersame und nachdenk liche Geschichte der Homerverdeutschung, von Bachenschwanz bis Borchardt eine ebensolche der Danteübertragungen zu schreiben. Ja noch mehr: da unser ganzes Schrifttum, von den wenigen aus der Vorzeit hineinragenden Stücken abgesehen, formal aus Herübernahmen und Angleichungen besteht, da, wie wir oben streiften, das Fundamentalwerk unserer heutigen Sprache, die Lutherbibel, eine Übersetzung, eine Deutsch-Werdung ist, ein Gewandeltes also, ein Zwiefaches im gewissen Ver stand - wie anders steht es hier bei den Griechen, den Italie nern -, so ist für uns das Ganze Problem, ein Kernproblem, und das gesamte für die deutsche innere Geschichte zu bezeichnende Missverhältnis zwischen Aussen und Innen, ja zwischen Augen blick und Kairos stellt sich in ihm dar. So wie innere und äussere Höhepunkte bei uns in anderer Beziehung stehen wie sonst bei Völkern, oft nicht zusammenfallen, manchmal sich streifen, kreuzen, so war bei uns auch Zeitgeschmack und Zeiturteil stets besonders unabhängig von den eigentlich wirksamen Kräften und ihren Trägern. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in einer Geschichte der deutschen Übersetzungskunst, ihrer Richtung, ihrer Absichten, ihrer Mittel. Und wie die Freude an der Aneignung, Umbildung fremden Sprachgutes jedem der grossen Deutschen in der Seele lebte, jeder in irgendeiner Weise Übersetzer war, so müssen wir heute in der Zeit der Abrechnung, des Kampfes gegen fort schreitende Barbarisierung und unserer Verwirklichung es gleichfalls halten, mit wachem, raschem Auge und zögernder geübter Hand. Schon hat die raffende Gier der Vorkriegszeit, die sogenannte Allempfänglichkeit, einem wählerischen Wägen
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Platz gemacht. Dass wir heute versuchen, alle grossen Geist- und Dichtwerke von Vergangenheit und Ausland aufs neue für uns zu gewinnen - mit welchem Glück und Erfolg, ist hier nicht zu untersuchen das auferlegt Gehern und Empfängern doppelte Verantwortung. Indem dies alles Element oder Ferment (»Salz der Erde«) unserer neuen Gemeinschaft, der ersten wirklichen, seit wir im Licht der Geschichte stehen, werden soll und will, muss mehr wie zu irgendeiner Zeit Augenblicksgeschmack und Mode zurücktreten. Wer heute, wie es wohl geschehen ist, einen der grossen Dichter des Auslandes in der »expressionistisch« genannten Verfallsweise modischer Seelen- und Sprachverzer rung wiedergibt, begeht dasselbe Unrecht wie einer, der ihn mit privater Willkür aus den eigenen Schrullen erstehen lässt. Was geschieht, geschehe fürs Ganze und über das Jetzt hinaus. Wir besitzen schon vieles, wir haben die deutsche Bibel, den deutschen Dante, den deutschen Sophokles, den deutschen Shakespeare, ha ben bald wohl den deutschen Plato, vielleicht, obgleich hier ab sonderliche Zweifel nicht verstummen wollen, den deutschen Buddha. Ja, wir haben, allerdings fast als Geheimbuch, den deut schen Pindar. Noch fehlt uns, Unumgängliches zu nennen, der deutsche Äschylos und der deutsche Homer und die Erneuerung der Grosswerke unserer eigenen Vergangenheit. Auch dies wird kommen, und damit die besondere Aufgabe des Deutschen der Welt und den Zeiten gegenüber auch für die Sprache erfüllt sein.
LEBENSLUFT Mögen wir sie Aura nennen oder mit einer weniger »okkulten« Bezeichnung versehen: jedes stoffliche Gebilde strahlt sie aus, hat gewissermassen seine eigene nur ihm zugehörige Atmo sphäre. Belebtes und Unbelebtes (nach der gewöhnlichen Unter scheidung), Gebild der Menschenhand und absichtslos Entstan denes, alles drängt somit über sich hinaus, umgibt sich mit sich selber, ist von sich selber gewichtlos umwogt, umschalt. Sobald wir das Tagauge schliessen oder noch nicht aufgeschlagen ha ben: solange wir Kinder sind, oder wenn es uns gegeben ist zu
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verharren im kindlichen Menschentum, dann wissen wir um diese Seelenhülle der Erscheinungswelt, bei der das jeweilige Gestaltungsprinzip spürbar, ja für die tieferen Sinne klärlich merkbar (schaubar oder riechbar) deutlich wird. Diese stofflose oder stoffleichte Hülle ist nicht unveränderlich, sie ist sogar das gewisseste und feinste Kompassinstrument, in stetem Erzittern, und bei Lebendigem wie bei Leblosem auch ein Vorzeichen der Wandlung, lange bevor an »eigentlich« Stofflichem sich irgend welche Umlagerung, Umbildung - zu welchem Ziele auch immer - erkennen lässt. »Lange bevor« ist hier nur Näherungswert, eine Angleichung des Vorgangs an die uns geläufige Ablaufs reihe, mit der dies sonderbar innige, ja fast ausgewechselte Ver hältnis von aussen und innen im Grunde nichts zu tun hat. Aber alle unsere, und besonders aller Tiere »Vorgefühle« stammen daher, aus dieser überdinglichen Raum- oder Kraftsphäre. Wer dumpf, aber unbezwinglich gedrängt, oder gewarnt, oder ins Freie gerufen, ein Haus verlässt, das im Augenblick zusammen stürzt, da er die Schwelle überschritten hatte (wundersame Sagen des Altertums berichten von solchen Geschehnissen), wer im Hochgebirge den Steinschlag vorahnt, oder mit der Karte in der Tasche ohne jeden äusseren Anlass den Zug nicht besteigt, dem eine fürchterliche Katastrophe droht - oder aber wer wider allen Anschein den Schritt tut in den Abgrund, angezogen von Not oder Wollust des Untergangs -, in dem waltet, über das verknüp fende Gesetz des Tages hinaus, dies sphärische Leben als Wille und Weg bestimmende Norm. Auch alle tiefen, nicht weiter auflösbaren Grunderlebnisse ent stammen ihm. Die »Gunst der Stunde« so gut wie das Heimats erlebnis, der geheimnisvolle Zusammenhang mit Ding, Ort, Augenblick. Um seinetwillen werden unsere Kunstbewahr anstalten, die Museen, zu Leichenkammern, um so toteren, käl teren, böseren, je mehr sie sich zu maskieren mühen, »Milieu« vorzutäuschen suchen, denn nicht die äusseren Bedingungen schaffen oder erhalten das Leben eines Gebildes, sondern un nachahmliche, unwiederherstellbare Bezüge. Wenn der Dichter unserer Tage im Vorspiel zum »Teppich des Lebens« sagt: »der toren mund macht süsse laute schal«, so ist dasselbe ausgesprochen
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für die geheime Strahlkraft des menschlichsten aller Menschenschengebilde, fürs Menschenwort. Und sofort springt die Frage auf, uns, unserer Lust und der Absicht der Zeit entgegen, Finger zeig oder Drohen: wie ist es dann mit den Kerkern der Bewe gung, mit dem Auffangen des Flüchtigsten, Einmaligsten, des lebendigen Tons und der lebendigen Rede im Käfig des Appa rats? . . . Wann und wie lebt, wann und wie entstirbt ein Mensch, ein Ding, ein Daseinsbezirk? Denn, mögen Leben und Tod zwiegesichtig im selben Reigen schwingen, mag eines Siegel sein und Gewähr des anderen: jeder hat es empfunden, alle Sagen wissen davon zu melden, dass es abseits davon ein Aufhören gibt, eine grauenhafte Sackgasse, ein Ende ohne Wiederkehr, ohne Trost. Wann lebt sich ein zerfallendes Bauwerk aus und um zur Ruine, rücktauchend aus dem Menschen-Seelenfug hin ein in den Natur-Seelenfug, als ein Stück Gelände mit nach denklicher Trauer und dennoch befriedet? Und wie werden Trümmerstätten Orte des Grauens, entseelte Gegenbilder, Ab fall? Als die Urfeindin der Urbs, als Karthago endlich gefällt war, wurde das ganze Stadtgebiet unter den furchtbarsten Mysterienflüchen zur ewigen Brache verdammt, Salz ward über den Boden gestreut, dass kein grüner Halm je da gedeihe - aber die Götter und Genien, die Gewalten des Ortes, und gewisser massen seine jenseitige Wirklichkeit, sie wurden feierlich be schworen, sich niederzulassen in Rom, das also, was geisthaften Bestand hatte, nicht zu bekämpfen war, eben die Lebensluft um das Ding, den eigentlichen Daseinsleib, in den seinen aufnahm. Mit dieser Wende und Selbsterweiterung gewinnt Rom seine »Weltherrschaft«. Und als Rom zum zweitenmal fremdes Leben in sich trank, ein anderes, höheres Gottesgeheimnis in sich auf nahm, damals, als es den Jehowahtempel zerbrach und Jerusalem, die Andere Stadt, vor der Bezwingerin niedersank, da gewann Rom, über die irdische Weltherrschaft hinaus, diese überdau ernd, das Gottesimperium, die Ewigkeit, als Transzendenz und Amt. Hier, wie billig, verschleiern sich unsere Worte. Aus dem Klei nen und Einzelnen, vom Duft, der alles Geschaffene, alles Ge
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wordene, zeitlebens umschwebt, der die eigentliche Heimlichkeit aller Kreatur ist und enthält, der sich wandelt in Wachstum, Reife, Untergang, haschten wir den leisen Niederschlag. Ans Wunder der Gestaltung, des Gleichgewichts, der Schönheit, des »Selig in ihm selbst sein«, streiften wir wie im Flug. Und sie, die wir Weltgeschichte nennen, die Begebnisfülle irdischen Men schentums umwehte derselbe Hauch. Nun halten wir inne. Denn die Sorge, die am schwersten lastet, die Sorge, die grübelt: lebt unsere Zeit und woraus zieht sie ihre Kräfte, sind Welt und Über-Welt heute innig Eines, dieser Sorge sei ein andermal be gegnet, Aug in Aug.
AMULETTE UND TALISMANE Allbekannt ist die Parabel in Lessings »Nathan« von dem »Mann im Osten« mit dem ringgefassten wundertätigen Opal. Er war seinem Besitzer »von lieber Hand« übergeben und wirkte nur, »wenn wer in Zuversicht«, im festen Glauben an seine magischen Kräfte ihn am Finger trug. Wesen und Verwendungsbereich eines Talismans sind in diesen paar Worten enthalten: sie lassen Beziehungen, Umstände, Gesetze ahnen, die aus einem dem logisch-rationalen völlig fremden Erlebens- und Erkennungs gebiet stammen, sich aber wie dieses in ein streng geregeltes System einordnen. Zwei Grunderlebnisse sind die Entstehungs punkte dieses Systems. Das aus vier Urzuständen, den vier »Ele menten« Feuer, Wasser, Luft und Erde und ihren Mischungen bestehende All fasste in sich die »Kräfte«, eine wirkend geordnete Vielheit von Eigenschaften, Qualitäten, die an den Stoffen, den Körpern haften, nach dem Gesetze der Allverbundenheit des Weltalls mit- oder gegeneinander standen, einander stärkten, mehrten oder störten und aufhoben. Die Eigenschaften, ihre Be ziehungen, die Gesetze ihrer Wirkung waren mehr zu erahnen, zu erfühlen, zu erschauen als zu lernen. Das Wissen darum war ein direktes, gewissermassen ein Einswerden mit seinem Inhalt, seinen Gegenständen, und seine Übertragung durch Unterwei sung geschah ebenfalls mehr blut- als geistmässig. Der Schüler,
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der Aufnehmende, konnte nur gefördert werden, wenn sein We sen, seine Lebensführung, sein Charakter, seine Gemütsart dies verstattete oder er zum lebendigen Erfassen durch die einströ menden Kräfte des Meisters erweckt werden konnte. Neben sol chem engeren Geheimwissen aber bestand zu allen Zeiten die unendliche Erfahrung des Volkes, gemischt aus Überliefertem und neuem Erlebnis, Altväterweisheit und spontanes Erkennen zugleich. Das ganze ungeheure Gebiet des Aberglaubens mit seinen Bindungen, Verhütungen, Schutzmitteln erhebt sich vor unserem Blick. Wir stehen ihm heute ernster, lauschender, ja empfangender zu wie seit dem ig. Jahrhundert unsere Ahnen und Vorgänger, denen seine Zeugnisse und Denkmäler nur »geschichtliches« oder psychologisches Interesse erweckten, wäh rend noch die Romantik, von ihrem weisesten Sohne Novalis bis zu ihrem wissendsten, bis zu Jakob Grimm hier einen mehr und mehr versinkenden Zaubergarten geheimnisbergender Wunder, Schätze, Urborne erblickt hatte. Zu dieses Gartens vielfältigsten, rührendsten, kindlichsten und greifbarsten Sprossungen gehören die Talismane und Amulette. Es sind Gegenstände der verschiedensten Art, Herkunft, Form, Grösse, denen besondere Kräfte, einzelne oder Kraftgruppen, entweder von Natur innewohnen oder durch entsprechende Handlungen - Beschwörungen, Weihe, Übertragung - einge zaubert sind. Weit verbreitet ist immer noch das Wissen um die Kraft der Edelsteine wie auch der halbedeln Stufen und Kristalle (so des Achat, Onyx, Rheinkiesel und ihrer vielen Deri vate), wobei es merkwürdig ist, dass der jetzt in Europa meist als Unglücksbringer verschrieene Opal in früheren Zeiten allge mein und heute noch im Orient ein besonders heiliger Stein ist, ja, dass man ihm die Kraft zuschreibt, die Gabe der Weissagung zu verleihen. In seinen brüchigen, milchig zerfliessenden Farb splitterungen scheint alles Kommende, scheinen die Hoffnungen und Wünsche des Trägers zusammenzurinnen. Wer ihn an sich hat, muss sorgen, dass keine fremde Hand, kein fremder Hauch, ja am besten überhaupt keine fremde Nähe an ihn gerate, weil sonst seine auf den Besitzer gerichteten, mit diesem innig ver bundenen Strahlungen sich verwirren und abgelenkt werden.
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Diese magische Reizbarkeit, die allen Edelsteinen und den mei sten Amuletten überhaupt eigen ist, scheint bei dem Opal beson ders zart entwickelt. Dagegen scheint es für alle Amulette glei cherweise gefährlich, die Erde zu berühren. Sie verlieren als dann unweigerlich ihre Kraft, manchmal dauernd, manchmal für eine lange Zeitspanne, während der sie sich gewissermassen erholen, manchmal müssen sie neu »besprochen« oder mit einem neuen Geheimzeichen versehen werden - kurz, sie sind welk geworden, entweiht, gelegentlich, in seltenen Fällen, sind dann sogar böse »schwarze« Widerkräfte aus ihnen entstanden oder in sie gefahren, die dem früheren Besitzer zu schaden vermögen. Da sie als besonders geartete, besonders wirkende Teile der durchs All, organisches wie anorganisches (das in dieser Betrach tungsweise gar nicht unterschieden wird), durchströmenden Ge samtlebenskraft gelten, stehen sie dem Menschen, dessen Fähig keiten sie verstärken, dem sie Böses fernhalten, durchaus selb ständig gegenüber. Es ist manchmal, als wirke in ihnen eine Art Bewusstsein, dumpfer und doch tiefsichtiger wie das menschliche, von der Art, wie man es den »Elementargeistern«, den leben digen »Prinzipien«, den Herren und Bewohnern der Grund stoffe wie aller anorganischen Materie überhaupt, seit jeher zu erkennt. Hier berühren sie sich mit den Fetischen und Totems. Dass aus wunderkräftigen Stoffen, aus Steinen, Metallen, orga nischen Gebilden (dem Gewind der Turboschnecke, der Kauri muschel, Pfauenfedern, Tierzähnen usw.) entnommene oder ge fertigte Heil- und Zauberstücke sich verändern, wenn ihr Be sitzer erkrankt, mit ihrer Kraft auch ihren Glanz verlieren, dass ihr Aussehen matt wird, dass sie schrumpfen und schliesslich sich verflüchtigen wie das magische Chagrinleder in Balzacs berühmtem Roman, ist ein über die ganze Erde zu allen Zeiten verbreiteter Glaube, dem viele unverdächtige Beobachter auch heute beizupflichten geneigt sind. Ebenso steht fest: der Besitzer eines solchen Stücks muss an dessen Wirkung glauben und es muss zu ihm gewollt haben, sei es, dass es ihm ausdrücklich übergeben wurde, sei es, dass er es »zufällig« auffand, es selber erspähte, beim Wandern, in einer Trödelkammer unterm Hau fen heterogenster Gegenstände, in einem Geheimfach oder sonst-
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wie auf Schicksalsweise. Kaufen, absichtlich erstehen darf man ein Amulett im allgemeinen nicht. Vor allem die »liebe Hand« sichert die Kraft der Amulette, ja drängt sie für den Beschenk ten noch inniger zusammen. Liebende, Eltern und Kinder, »Herzbrüder« hängen einander die Abwehrzeichen um, etwa gegen den »bösen Blick«, gegen die Leben und Glück zerstörende Strahlkraft mancher Menschenaugen (am eindringlichsten ge schildert in Th. Gautiers Neapler Novelle »II Gettatore«), ge schlossene Händchen mit dem in uralter Lebens-Symbolik zwi schen drittem und viertem Finger durchgesteckten Daumen oder vorgespreiztem Zeige- und Kleinfinger, besonders gern solche aus dunkelfarbigem Stoffe, geschwärztem, am besten altem Schwemmholz, dunklen Steinen, Horn u. dgl. oder Hörnchen, phallische Formen, zumal Naturspiele dieser Art, Reisszähne von Raubtieren, Krallen u. dgl. Hier streifen wir neben den imma nenten Kräften der Stoffe schon die Geheimnisse der Formen sprache, die »Zeichen«. Die einfachsten geometrischen Formen in Fläche und Raum, der Kreis, das Dreieck, die Raute, Kugel, Pyramide, Kubus sind an und für sich neben und mit dem Stoff, den sie gestalten, Ausdruck besonderer Kraftballungen oder Kraftrichtungen. Deswegen gibt man den Amuletten gern eine dieser Formen, je nach dem Zweck, dem sie dienen soll. Sie führen über zur eigentlichen Geheimsprache des Lebens selbst, das sich in Aufstieg und Zerfall, als Strom oder Starre, »gut« oder »böse«, selbst in solche Zeichen, Runen, gebannt hat. Manche von diesen sind über die ganze Erde verbreitet, finden sich bei den unverwandtesten Völkern und Kulturen, so die verschiedenen Kreuzformen, die christliche zumal, dann auch die heute wieder so beliebte Swastika, das Hakenkreuz, die »Nabel«Formen (Kreis mit Mittelpunkt), Reihenbildungen wie die aus der antiken Ornamentgeschichte bekannten »Eierstab« und »laufender Hund«. Solche Zeichen, über deren Sinn und Her kunft hier nicht weiter zu handeln ist, werden - wurden von je in die Amulette geritzt oder diese in ihre Form gebracht. Das Anfertigen, Weihen, »Kräftigen« der Amulette geschah unter Einhalten genauer Regeln und Riten; nicht jeder durfte sich damit befassen. Auch die Kirche kam dem ungeheuren Volks-
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dränge entgegen und es verbreitete sich neben den wundertäti gen Reliquien, den Überresten oder Zeugen heiliger Personen und Begebnisse, den auf Papier, Pergament, verschiedenfarbige Seide oder Gelatine (»Hauchbilder«) gedruckten religiösen Bild lein, den fürs Volk bestimmten Lied- und Gebetsheftchen oder Einblättern eine Fülle religiöser und heiliger Symbole zu An hängezwecken, die einzeln oder an Rosenkränzen getragen, auch etwa an Geräte, Haus wände geheftet wurden, oder Votivcharak ter hatten und wenn auch vielleicht nur als Symbole oder Er innerungszeichen gedacht, durchaus Amulett-Sinn erhielten. So lag denn in Wirkung und Abwehr, dämmernd und erschlies send, ein tausendmaschiges Netz lebendiger Bezüge über dem ganzen Dasein. Übergänge vom einen zum andern, vom Men schen zur Welt, vom Leben zum Tode, vieldeutige, in Wechsel und Schwingung verschlungen, lockerten, halfen, bedrohten. Geistiges und Stoffliches schien oftmals wie vertauscht, ein le bendiges Traumspiel, realsten Zwecks, dunkelster Herkunft, un begreiflicher Mittel, Vorgänge, Handhaben, zerlegte und band kaleidoskopisch die Wirklichkeit. Heute ist diese Zwischenwelt abgetan. Sie war selber nur ein Abglanz längst versunkenen tieferen Zusammenhangs, gotttrunkener Gemeinschaft. Wie Höhenrauch im Herbst ist sie verweht und unter gewandeltem Gesetze steht unser Planet. Ob die neuen Bindungen neuen Zau ber bergen? Ob der Geist, hemmungslos, entkleidet, unbedingt, auf sich selber gestellt, neue Zeichen findet? Oder ob ... ?
MASKENMYSTIK Masken! Was sind Masken? Wie kommt, wie kam der Mensch dazu, ein anderes aus sich zu machen, oder von sich abzurücken? Als ob er sich selber nichts Festes wäre, vieldeutig fragwürdig sich selber wäre, von dem schlummernden Auf und Nieder der Gestaltungen, in den eigenen Unter- und Hintergründen etwas ahnend, oder als ob es woanders her in ihm aufklinge, aufdäm mere, fremdes Wesen in ihn führe, sich aus ihm herausdränge, oder als ob es eine andere Wirklichkeit gäbe, flüchtiger und
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dennoch wahrer, als ob ein farbiger Zauberschleier hinwehen müsse über Tag, Welt, Ordnung, als ob die Ferne plötzlich ein bräche: ja, als ob das Mysterium des Weltwandels sich am Men schen offenbar machen müsse, so tief, so unausweichlich, so über mächtig ist dieser Trieb. Der Europamensch von heute, morgen und der Weltfrist, an deren Beginn wir stehen, vor allem seine Reinkultur drüben überm Wasser, gänzlich von sich selber bedingt, umgeben von einer Natur, die vom Menschenhirn geschaffen, mindestens um gestaltet ist, er hat diesen Trieb freilich zu ganz anderen Ent ladungen gezwungen und gerichtet wie, soweit wir auch zurück und umschauen, alle sonstigen Geschlechter und Bildungskreise. Wo sich Gestalt verflüchtigt, ist Umgestaltung ohne Sinn, ja unmöglich. Aber noch hat sich Leben erhalten hier und dort in der alten, dem Gesamtdasein einbezogenen Weise, ein Wider schein des Gewesenen legt sich zu Zeiten über manche noch nicht ganz in »Zahlen und Figuren« erstarrte Weltstriche, lässt sie erglühen, die von ihm belichteten, in fremdem doch vertrautem Glanz, dass sie sich loslösen aus dem Bann, einander zuströmen, eins im andern sich sucht. Dass das Geheimnis der Verwandlung wach wird. Was ist Maske? Heute sprechen wir nicht vom Geheimnis des Übergehens, wie es im ewig bewegten, schwingenden, rollenden, saugenden, Ebene aus Ebene gebärenden Welterkennen des öst lichen Asiens erschlossen ist und im Erschliessen wieder sich auf hebt - jenem Erleben, das nie haftet, kein Zwischen hat, in dem Felsen und Drachen und Bäume und Tempel Wächter, grimme und milde, und Mädchen und Blumen, Wasserspiel und goldenes Geschmeide ein und dasselbe Fliessen ausmachen, dasselbe wel lige Auf und Ab. Ein stationäres Fliessen dabei, ein in sich Rück fliessendes, keine Bewegung von Punkt zu Punkt, keine zielhafte. Auch nicht von der ur- und allverworrenen Dschungel seele indischer Allverwandlung, Allgeburt, reden wir, wo die Glieder der Gestalten sich vertausendfachen wie Gezweig am Urwaldsbaum, alle menschlichen und tierhaften, alle von aussen gespürten und im Innenraum der Seele erstehenden Bildungen verschwimmen, wo das schwelende, beklemmende Übermaass
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schwelgerisch, zauberisch, mörderisch das Dasein zur nie enden den Orgie des Gottes Schiwa ausbraust, des Gottes, der sich selber gebiert und zerfleischt, des Allballers, Allerdrückers. Auch nicht von den wilden, schweifenden Gespenstertänzen der dunklen Afrikaner und nicht von den knospenhaften, mondhaften der zärtlichen, schwanken Kinder der Südsee. Schauen wollen wir, was unserem Menschentum, dem aus Hellas und dem Norden entrankten und enttauchten, dem dionysischen, dem wotanhaften, dem christlichen, dem welterfüllten, weltdurchstürmenden und dem weltentrückten Menschen Maske gewesen ist und bleibt. Wesen und Verwendung der Maske beruht beim europäischen Menschen wie all sein Tun, das freieste, willkürhafteste nicht stärker wie das gebundenste, auf dem Erlebnis und der Idee des unteilbar für sich Bestehenden, des Einzelnen. Dieser eine kann über sich hinauswachsen, kann von sich loskommen, kann ein anderer werden, sich selber vertauschen. Aber er kann es nur, indem er für ein Ganzes, eben für sich selber ein anderes Ganzes setzt. Heldenpaare, Blutsbrüder tauschen ihre Waffen, ihre Schicksale, ja ihre Personen. Sie zerfliessen nicht ineinander, sie gehen nicht über, die Grenze verschwimmt nicht, wird nicht verrückt. Aber an der Stelle des einen steht der andere. Dies ist europahafte Form der Wandlung. Sie geht durch Sage und Ge schichte unserer ganzen Art. Zuletzt, bis in die Tiefen rein und folgerichtig, hat sie Jean Paul gestaltet in der Freundes-Zweiheit Leibgeber-Siebenkäs, wo es zum magisch vollkommenen Ichtausch kommt, zum Namenstausch. Der Wille zum anderen und das Beharren in der Form, der eigenen Form, sind hier fast eines geworden. Hier zutiefst liegt, jenseits von Gefährtentum, Richtungs- und Artgemeinschaft, die Wurzel der Urtatsache Freund. Ist der Drang zum anderen Ursache des Wechsels, so finden wir dessen zweite Wurzel in der höchstgesteigerten Selbstliebe. Das Ich will rein werden, abschütteln die Zufälle, die Verkettungen der Umstände, so sein, wie es sich selber sieht. Und so gesehen werden. Die äusserste Form der Selbstdarlegung, Selbstgestal tung ist notwendigerweise ein Gestaltenwandel. »Schauspieler deiner selbstgeschaffnen Träume« (Hofmannsthal). Wieder ein, diesmal schrecklich verzerrtes Bild aus Jean Paul: der Held seiner
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letzten Romandichtung, des »Komet«, der sich selbst zum Für sten kreiert und mit dieser Maske zerrbildlich verwächst. Durchaus magisch ist Ursprung und Sinn der dritten Wand lungsart. Eine fremde, mächtige Gewalt durchdringt, ergreift die Sphäre des Einzelmenschlichen. Der Gott oder das Göttliche, das Allgemeine also, verleiblicht sich im Einzelfall, wird ge wissermassen bewegtes, handelndes Standbild, »lebendes«. Von dem Agonisten, dem Schauspieler in der griechischen Tragödie, der als Maske des Dionysos in zwiefacher Übertragung den Gott darstellt, bis zu den Vergöttlichungen bei Umzügen und Weihe festen, wo der Träger der Gottesabzeichen für einen Augenblick vom Gotte durchströmt und durchleuchtet wird, ist das Ich, der Einzelfall bis zur Entselbstung hier rätselvoll durchspült, ge wandelt, in andere Sphäre gehoben. In der stärksten, sinnfällig sten Verwirklichung dieses Aktes, in der griechischen Tragödie, wird die menschliche Gestalt nicht nur gänzlich von der neuen umhüllt, sondern für Auge und Ohr des Beschauers durch die als Schalltrichter wirkenden Gesichtsmasken und den Kothurn, die hochsohlige Beschuhung (über die lange Gewandfalten dekkend herüberfallen) dem anderen Reiche, Bereiche einverleibt. Bei den Trauerzügen der Vornehmen Roms, wo die Ahnen nicht nur im Abbild mitgetragen wurden, sondern wirklich mitschrit ten, indem Angehörige der Gens sie in Tracht, Gestalt und Würdeabzeichen darstellten, muss nach manchen Berichten die Identität mitten in Tageslicht und Nähe grauenhaft vollkommen gewesen sein. Noch in den Darstellungen göttlicher und heiliger Personen der christlichen Welt, bei Umzügen und szenischem Spiel klingt Verwandtes an. Jedes dieser drei zum Gestaltenwechsel führenden aktiven Ge staltungsmomente trägt in sich sein Widerspiel, kann sich aus wirken als seine eigene Kehrseite. Der Austausch kann zur Paro die w’erden, die Wunschbildung zur Selbstverspottung, die Gottes- zur Teufels- oder Tiermaske. Der ungeheure Reiz der Wesensveränderung ist an sich stark genug. Für gewöhnlich zurückgestaut, ins Dunkel des Unterbewusstseins verschoben, stösst er dann zu Zeiten mit entfesseltem Ungestüm an die Ober fläche, Ordnung und Grenzen überwirbelnd. Das grosse Staats
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volk Europas, das Stadtrömertum, hat dieses rein triebhafte Un gestüm in ihr öffentliches, klar und ehern fest gezogenes Dasein einreihen können: der berühmte, nun schon lang verstorbene römische Karneval der neueren Jahrhunderte geht lückenlos zurück auf die Vorfrühlingsfeiern, wo die ganze Urbs vom trie fenden Taumel erschüttert wurde, alle Schranken für eine Wo chenspanne verschwanden, der Gestaltentausch sich bis zum Ständetausch steigerte, das ganze Leben umschwang, Sklaven be dient wurden von ihren Herren. Seitdem hier das Recht alles Ausserrechtlichen, Entschlüpfenden, Wechselnden gewisser massen sanktioniert worden war, ist lange Jahrhunderte durch Maske, Maskenlust, Maskenfreiheit, Maskenherrschaft für einen kurzen Abschnitt des festgeregelten Jahresumlaufs gesichert ge blieben. Lächelnd übergab die kalte Vernunft dann ihre Vor rechte dem Taumel und dem Tand. Zufall und Willkür un ordneten ein Reich, dem Lachen und Laune oberste Pflicht war. Zum Thyrsus wurde das Szepter. Das Lehen »erholte« sich im wahren Sinn, es tauchte nieder in seine letzten Gründe, es wurde Tier, Pflanze, Sternentanz, umrauschte sich selbst. Und der Ein zelne, die Welle in diesem Strom. Das ganze Dasein entlud sich im wechselnden Bilde. Ob auch diese Quelle dem Menschentum versiegen wird? Eine nach der anderen hat zu springen aufgehört. Je mehr wir Kin der unseres eigenen Geistes werden, uns selber übertönen, über leuchten, überfliegen, verstummt uns das All, wird bildlos, ja entgleitet. Der Schleier zerreisst, die Maske fällt.
SPIELRAUM Im grossen wie im kleinen (was übrigens nur ein Sichtunter schied ist): nichts lässt sich völlig vorausbedenken, erklügeln. Die Verwirklichung einer Absicht, einer kühnen Idee, ja des kleinsten Schrittes, den wir wagen, stösst auf ein Unauflösliches, das plötzlich vorhanden ist, mithilft oder stört. Mag man alle Umstände erwogen haben, Spiel und Gegenspiel im unbeirrten Blick, mag die Wahrscheinlichkeit noch so gewaltig sein - an ir-
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gendeiner Stelle bröckelt es, das Gefüge war doch nicht ganz dicht, der Zufall kann einschiessen. Göttliche Freiheit der Din ge! Unüberschaubarer Geister- oder Gnomenwirbel über allem Menschenwitz! Wo wir ihn einfangen wollten, stirbt er ab, ver blasst oder verflüchtigt sich, oder versurrt im Geklapper von Rä dern und Gestängen oder erstickt im Aktenstaub. Wo wir ihn gelten lassen, lächelnd oder auch mit krauser Stirn auch nur ein Eckchen ihm freihalten, ihm, dem Wirbel des Zufalls, Zwischen falls, da lockert er unsere Alltagsschwere, übergüldet das Grau, durchfährt reinigend, erhellend unser Herz. Der Macht des Au genblicks, dem Zauberer Zufall müssen wir Platz machen, ein Eingriffsfeld bereit halten, einen Raum fürs Unberechenbare, einen Raum des Wunders und der Freiheit, einen Spielraum. Ob wir ihn einzig unserem Innensein verstatten, nur dem ge schlossenen Auge in seltenen Stunden die Einkehr eröffnen ins Traumreich der Wünsche und Erfüllungen, ob es uns gelingt, schöpferischer, eigenwilliger, mitten in Alltag und Gleichmaass sprunggespannt zu bleiben, gewiss, man könnte mit einem Male alles abwerfen, umdrehen, das ganz Neue, das Eigentliche stünde wartend vor der Tür (die vielleicht nie aufgestossen wird), ob wir, echte Kinder des Unberechenbaren, des einmaligen Fugs, den die Griechen Kairos nannten, Wanderer, Spieler oder Welt gestalter, uns in völliger Hingabe Eines wissen mit dem aller Fesseln spottenden Geschehen selber: nur in diesen Bereichen verläuft das wirkliche Leben. Nur solange und soviel sie uns offenstehen, bleiben wir, sind wir kraftvoll, schmeidig und jung. Worin besteht das Verruchte, das Höllische heutiger Daseins regelung etwa gemäss des amerikanischen Taylor-Systems? Aus sen und innen ist vorgemerkt, für Gedanken und Tat, für Ge fühl und Genuss, für Musse und Arbeit ist Vorsorge getroffen. Die Ausschaltung von Zufall und Willkür, des Geheimnisses also, ist zu Emde geführt. Alles ist in Ordnung gerückt, nach Zeitmaass, nach Kraftverwendung und Ruhebedarf berechnet und verschränkt, in Quanten gebracht. Höchstgehalt der »Leistung«, Tiefstand des Erlebens. Golf- und Hockeyplätze ersetzen nicht, nein, zerstören, in solche Ordnung eingerenkt, den wahren Spielraum.
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Nein, nein, es steht fest: ohne ein bisschen »Unverhofft« kann Leben nicht gedeihen. In leisem Zusatz als schwellender, lockern der Sauerteig muss es beigemengt sein der Erdenschwere. Wieviel, wie wenig von diesem die Regel sprengenden oder auch bloss neckenden Ingrediens der Einzelne vertragen könne oder ein ganzes Zeitalter - das freilich wechselt je und je. Wer alt wird, springt nimmer gern: wer weiss, vielleicht weil er sich schon selber entsprungen ist, ohne es gespürt zu haben. Viele überleben sich auf Erden, auch Völker oft und Kulturen, und Ewigkeit ist ein unerschöpfliches Nu, kein Längenmaass. Den Griechen aber stand es an und bekam es, dass sie sich verschwendeten, und die Jahrtausende zehren von diesem Überschwang. Und die hell äugigen Scharen des Nordens, die ein trocken gewordenes »durch organisiertes« Altreich zerstückten, an sich rissen, verschlangen und im Rausche des Sieges sich selber hingaben, verströmten, Saat wurden, das Europa schufen, über dem es allen Unken und Maulwürfen zum Trotz noch lange nicht dämmert; oder der eine kurze Tag des arabischen Märchenglanzes, der einen Traum himmel gespannt hat übers Menschentum, schimmernd und glit zernd, atmend und grollend in süsser Wirrnis, und sie, die Fah nenschwinger dieses Tags: das waren die Verleiblicher, Verwirklicher des heiligen Zufalls, den sie aufgriffen als eine Krone, gleich da er ihnen zufiel, sie waren die Ringer und Helden, die Heiligen und Heroen göttlichen Spielraums, sie die Unsterblichen zeugerischen Untergangs. Und, ganz aus der Nähe und dem Nächsten: »Fünf gerade sein lassen!« Wunderbare Weisheit dieses alten Wortes. Denkt nicht immer, wozu ein Ding, eine Handlung, ein Geschehen »gut« sei, denkt auch diesmal, glaubt, dass es an sich gut sei, gut werden könne, das heisst sinnvoll, ja lebenssteigernd, wenn es freund lich betrachtet wird, hingenommen wird - wenn man gut zu ihm ist. So wie fremdes Glück, mitgenossen, das eigene mehrt, so ist jede Art des Gewährenlassens, eines Gewährenlassens freilich aus Kraft, Wissen, Liebe, nicht aus Zagmut oder Ekel, eine Erwei terung des eigenen Spielraums. Regel und Gesetz sind gar nicht so griesgrämig und vergreist, gar nicht so fadengenau, so eng und steif wie Ihr glaubt oder fürchtet.
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Gerade weil sie nie ganz stimmt, nicht restlos aufgeht, gerade mit ihrer Unvollkommenheit ist die, darin wir uns befinden, ich weiss nicht, ob die beste, gewiss doch die lebbarste der Welten. Wo nichts mehr zu wünschen übrig bliebe, das weite Reich des Begehrens mit seinen stets einstürzenden Grenzen versunken wäre: wer möchte, wer könnte da noch schreiten und hausen? Aber zu allem Heil ist dafür vorgesorgt! Immer wenn ein Le ben oder eine ganze Ära Gefahr läuft zu vertrocknen oder zu ver sachlichen, kommt irgendwoher, ganz ungerufen, oft uner wünscht, ein frecher Windstoss und reisst die Türen auf, und ein neuer Umlauf beginnt. Spielraum ist geschaffen. Zeigt dann, ob Ihr noch tanzen könnt!
GEGENSPIELER ZUR METAPHYSIK DES CLOWNS
Man hat es immer ruhig hingenommen, selbstverständlich gefun den, dass der Clown nie allein auftritt, stets in Anderer Darbie tungen einbezogen ist, sie illustriert, verhohnagelt, verklumpt, oder aber Zwischenstück ist, überleitet, Atem schöpfen lässt, die Spannung zerlöst, »Pause« ist, ein Sichstrecken, ein Glieder schlenkern des überreizten Interesses. Selbst in unserer, die alten Grundordnungen zerschlagenden oder verquirlenden Zeit ist der Clown kaum je eine Einzelnummer, sondern was er von alters war: unheimliches, mehr und mehr zur Vormacht streben des Element, Mitläufer und Beiwerk: diese Funktion im schau stellerischen Kräftespiel nimmt ihm natürlich nicht das mindeste an Rang, Wichtigkeit, Wirkung. Nicht nur, weil erst durch den Clown Leistung und Art der Nichtclowns der tragenden Nummern deutlich werden, was an sich schon recht viel bedeutete: Piedestal, Fingerzeig, menschge wordenes »Hier«. Sein Sinn, seine Absicht wachsen weit dar über hinaus, und der geniale Clown wird zum vielfältigen, bunt zerrissenen Schlagschatten der Grösse selbst, des Pathos selbst moralisch gesprochen des Wichtignehmens, der geschwellten Könnerbrust. So ist er gewissermassen Grösse von unten, Schön
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heit von der anderen Seite, olympisches Achselzucken. Und ge hört unbedingt »dazu«. So wie Thersites, der Urclown Europas, in dem homerischen Heldensaal notwendig figuriert, wie ihr Mut seine Feigheit, ihr Hochgehaben sein Gegrinse, ihr Edel grimm sein Lästern, ihr Mannesbrüsten seine Knickebeinigkeit als Gegenbild erzeugen, wie die griechische Tragödie aus ihrem Triptychon voll Würde und Kothurn das Satyrspiel gewisser massen absondert, ausschwitzt, so ist es geblieben, über Shake speare hinaus, mit närrischem Zwischenspiel auf Brettern und Manegen. Freilich, der puristische, logisch sondernde, weihevolle Stelzen-Stilismus hatte im Theater in den letzten Jahrhunder ten vieles verdorben und mit dem berühmt-berüchtigten Ver jagen des Hanswurst von der Schaubühne dieser das lebendige Gefüge zerbrochen, die Tragödie traurig-gähnig und die Komö die krampfig-gähnig gemacht, indem er aus ihnen »Einzelgattun gen« herauspräparierte. Aber dem heiligen Gott-sei-bei-uns (und Goethe, der im Faustvorspiel den »Schalk« voll tiefsten Wissens den himmlischen Heerscharen gottwohlgefällig einreiht) sei Lob und Preis: an der anderen grossen Schaustätte, am Zirkus, war das Freie, das Allseitige, das runde Spiel der Kräfte nicht also zu verstümmeln und verstümpern. Im Zirkus und bei allem Zirkus haften, überall, wo es »Glanznummern«, Kraft- oder Gewandt heitsbetätigungen gibt, lächelndes oder kühnes Überwindungs spiel, überall da hat der Clown sich erhalten, wird der Stoff ebenso glanzvoll nicht überwunden, das Ziel genau so grandios verfehlt, von ihm dem Un-Helden (Contre-Heros) - der fast noch besser, noch hinreissender nicht kann, als der andere kann. Der fast noch prächtiger vom Schulross purzelt als der hehre Kunst reiter oder die linienstolze Dame sich wippend darauf wiegen. Der alles gründlich verkehrt macht, aber so gründlich, dass er die Leistung nicht etwa aufhebt, sondern umkehrt, umkippt, ein wahrhaft künstlerisches Minus daraus macht, und so als ne gative Grösse die Darbietung zum wirklichen, Licht und Dunkel umfassenden Gesamtbild herausschält, somit vollendet. Und, dies ist bezeichnend, fordert heraus zum Nachdenken: war in früheren Zeitläuften das Clownische nur ein Ausläufer, ein Anhängsel innerhalb des Gesamtbildes, eben ein thersitischer
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Schnörkel unter so vieler heroischer Pomposität, das Tröpflein gewissermassen an der Herrschernase des Göttervaters Kronion: heute hat es sich überwachsen, es ist ihm beinahe so gut ergangen wie in Andersens Märchen dem Schatten, dem Schlagschatten, ihm, der zunächst als treubescheidener Diener und Nachtreter seines Besitzers selbständig geworden ist, im Verlauf dann dessen Weltstellung und Bedeutung in sich saugt, so dass zum Schluss der Mensch seines eigenen Schattens Schatten wird, und als sol cher sich kümmerlich weiterfristet. In unserer, von allem Be tonten, allem Sonderheldischen zweifelnd, bös oder verderbt ab gekehrten Zeit wachsen auch an dieser Stelle die Gegenmächte, Gegenspieler ins Riesenmaass. Die vom Clownhaften verkörperte Spiegelung und Brechung des kosmischen und kosmogonischen Feuers, die Verzerrung oder Vernichtung von Haltung, Tat und Norm durch ihren clownischen Abklatsch hat jetzt um so mehr die Lacher, die Versteher, ja wer weiss manch ewige Mächte sel ber für sich. Die Genialität des Clowns nimmt zweifellos und sichtlich zu, seine alte Typik belebt und erweitert sich nach allen Seiten. Schon hat das Clownische übergegriffen in Schrifttum und bil dende Kunst, darf viel vom Ästhetischen, vom Sozialen, vom sittlichen Gewissen der Zeit in Anspruch nehmen. Anch dies ein Symptom des wunderbaren Dämmergrauens, der Abendneige der Weltstunde eben, wo die Schatten länger werden vor dem End! Der über-, bald vielleicht allmächtige Clown, die immer selbständiger werdende Kehrseite steht heute gigantisch hoch getürmt, spreizbeinig überm dunklen Fluss des Geschehens, von Ufer zu Ufer gestemmt, so wie der Sage nach im Altertum der ungeheure Erzkoloss des Apollo von Rhodos.
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MANN UND FRAU IM MENSCHENTUM EUROPAS So weit die geschichtlichen Zeugnisse reichen, war der Mann das Maass europäischen Menschentums. Mannesmaass war das Maass der Welt. In Bau und Gebaren, in Richte wie in Tucht, in Sat zung wie in Geschmack. Was nicht seines Maasses, das war nicht gut, nicht recht, nicht schön. Es war Gefahr, Entsetzen, Unter gang, es durchbrach die Dämme, zerriss die Ordnung, es war Widerwelt. Aber freilich: es bestand, es war da von Urbeginn, voll gotthafter Macht auch es, dies Nicht-Maass, und das Däm men allein half nichts, das Einbeziehen, Einordnen geriet nicht ganz, es galt auf der Hut zu sein, manchmal sogar hiess es be schwören, anbeten, ja sich wandeln, eintauchen in das Andere. Die Welt Homers, eine Adelswelt, also Männerwelt (auch in Frauenären gibt es das Heldische, Adel nie!), sie weiss um dies Grenzbedrohen kaum. Nur in der männerbezwingenden, Männer in Schweine verwandelnden Märchenzauberin Kirke bricht dies Schrecknis ein, und wie leicht, wie überlegen, wie elegant fast bannt es der Wanderer Odysseus. Und vielleicht ist im Lose Kassandras der Wahr sehe rin, deren Wort ungehört, ungeglaubt ver hallt, noch die Erinnerung daran erhalten, dass nichts mehr wei len darf, einschwingen darf, was nicht im Fug und Aufbau durch gestalteter Welt Sitz und Bestallung hat, einer Welt, in der die Stimme des männlichen Wahrsagers lautwerden darf, die aber vor dem Urworte sich verschliesst, einer Welt, die mit ihren Bil dern auch ihre Gegenbilder sich schafft und bestimmt, die das Weib in allen seinen Stufen, Formen so sieht und wertet wie es Mannes Wunsch ist oder Schreck. An einem ungeheuren Begeb nis ist eine Frau schuld. Dass die Königsfrau, dass Helena ent führtwird, entfesselt den grössten Krieg, mehr noch, diese einem der ihren angetane Schmach vereinigt, ja schafft eine Nation, bringt das Wissen um gleiche Art, gleiches Gesetz, gleiche Hal tung in die Seelen: Helenas Entführung ist die Geburtsstunde von Hellas! Alle Rechte, die bei dem Raube gebrochen werden, das Gattenrecht, das Gastrecht sind Rechte zwischen Mann und
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Mann, der Frau wird zugewiesen, wohin sie gehöre, wie sie schalten darf, ausstrahlen darf. Die vollkommene Freiheit der Frau im homerischen Weltalter bewegt sich innerhalb der Schranken mannsgemässer Gesittung. Alle Formen europäischen Frauentums finden sich sinnbildlich und grundsätzlich bei Ho mer, auch in ihren natürlichen oder gesellschaftlichen Beziehun gen zum Manne oder untereinander. Was Homer fehlt, dem jede Form der Geschlechterliebe bis zur sublimiertesten, unwägbar sten vertraut ist, was die männliche Welt nur durch das Chri stentum erfuhr, ist die Transzendentalisierung des Bezugs und Einbezugs, der Spannung und Lösung, eben der amor coelestis als Vergottung nicht des Eros, sondern des Sexus durch Ent-Leibung, also durch vollkommenes Geistwerden. Also, mag dies auch paradox klingen angesichts des Kultes der Jungfrau und al ler Arten »hoher« Minne bis zur Gottesminne der heiligen Frau en: durch letzte, unüberbietbar äusserste Vermännlichung von Idee und Erlebnis. Damit dass der erhabenste aller mythischen Vorgänge, die Aufhebung von Evas Schuld durch Marias Un schuld, Mitte und Maassstab des gesamten bewussten Daseins, ja jeder einzelnen Haltung Zukehr oder Abwehr wurde, sind, nicht etwa wie der späte Nietzsche will, die Quellen des Lebens be makelt worden: wohl aber birgt sich in diesem Vorgang als see lischer Tatbestand, seelische Wandlung jenes ungeheure Los kommen des Wesens von der Funktion, die allerdings den euro päischen Menschen in ihrer Folge zum Selbstherren gemacht hat. Und selbstverständlich ergab diese Trennung von Wesen und Funktion für alles nicht ganz zentral eingestellte Dasein ein Vordringen, ja eine Übergewalt des Funktionalen, die für die tatsächlichen Verhältnisse wieder den Schwerpunkt verschob. Oft genug hat man bestaunt, dass schon vom Hohen Mittelalter an in immer steigendem Maasse Lebensformen aufkamen, deren einziger Inhalt und Sinn die Beziehung des Mannes auf die Frau zu sein scheint. Das grosse Kapitel des »Frauendienstes« kann hier nicht durchgenommen werden. Aber schon ein Blick auf die Männermoden zumal der späteren gotischen Jahrhunderte lehrt uns Erstaunliches. Nur darf man diese oft maskenhaft verfratzten, oft bis ins Widerwärtige überbetonten Trachten und Ge
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baren nicht gynaikokratisch missdeuten : sie sind die triebhaften Gegenbilder der Sublimierung, sie bleiben durchaus innerhalb des Systems. Kein in sich geschlossenes Weltalter, wie weit unser Blick auch gehe, hat solche Missformen gezeitigt: was wir von den Männerreichen Asiens (von Alters her bis an die Schwelle unserer Tage) wissen, was die europäische alte Welt uns lehrt, verkündet jenes in sich ruhende Gleichmaass, in dem die Einzel willkür, sie gebärde sich noch so eigensüchtig, dennoch harmo nisch störungslos einbezogen ist. Und was gar die aus den dunk len Gründen hinter der Geschichte in Sage und Brauch noch zu uns raunenden matriarchalen Lebensbindungen enthüllen, ist alles andere als Verweiblichung des Mannes. »Effeminierung« ist eine Entartungsform der männlichen Zeitalter genau wie die Vermännlichung der Frau - bis zur Garçonne! Wer dies nicht sieht, zeigt nur, dass er über die männliche Schauweise nicht hinuuskommt. Die zwei durchaus von einander getrennten Grund typen des weibhaften Menschtums, (gibt es eine dritte? darüber noch ein Wort!) die mütterliche und die amazonische sind, was nicht chronologisch zu fassen ist, selbständige Frühformen, wahrscheinlich in jedem Falle von kurzer Dauer und innerhalb der Weltrunde, die sie anheben, einmalig. Einmalig wenigstens als Gesamtdarstellungen, als Herrschaft. Im einzelnen freilich taucht immer wieder die Mutter auf in ihrer matriarchischen Allmacht, die Amazone in ihrer kämpferischen Unbedingtheit und Unrührbarkeit. (Amazonismus darf nie mit dem durchaus männlicher Metaphysik entstammenden Virginalismus verwech selt werden!) Das, nicht nur weil es uns zeitlich nahgerückt ist, deutlichste und ungehemmteste Beispiel des Amazonentums ist die englische Königin Elisabeth - nicht, wie man zunächst an nehmen möchte, Jeanne d’Arc, weil in die Gründe dieser so scharf und selbsteigen umrissenen Erscheinung noch andere Quellen einströmen. Elisabeth ist, uramazonisch, in jedem Au genblick, in jeder ihrer Handlungen, ja in jeder Regung, in Ab sicht wie Abkehr, stets zugleich Nähe und Ferne. So wie sie nie mals ausdrücklich Befehle gibt, diese ungegebenen aber erahnt und befolgt haben will, so ist sie ohn Unterlass ganz actio und nie mals täterisch zu bemerken, immer vorhanden, niemals zu fassen.
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Tatsächlich kreist, fluktuiert ein ganzes Zeitalter um ihre jeder mann erregende, »unbegreifliche« Person. Ein Zeitalter für sich, nicht Mittlere, nicht Neuzeit, eine Ära, in der alles das, was männlichen Läuften zum Unsegen gereichen würde, Keime birgt, das Unkontrollierbare, das, was vom Manne aus gesehen Laune zu sein scheint, das Strukturwidrige, Sprengung oder Ballung, auf rüttelnd wirkt, die Elemente zueinander zwingt oder auseinan der drängt, stets im Einklang mit einem noch unmerklichen Fa tum steht, und - dies ist die Fruchtharkeit des unfruchtbar Amazonischen - immer gehen diese Wirkungen und Willküren in eine Ferne, in eine Weite, die erschüttert wird, eingeschmolzen wird, verhaftet wird. Alles, was unter ihr geschieht im Geistigen, im Schöpferischen, im Politischen, sind Amazonenzüge, Pfeil schüsse in die Ferne oder Eroberungen oder Gründungen. Denn so ist es wirklich: diese Epoche, in der gleichzeitig Shakespeare und Bacon, Drake und Raleigh da waren, sie war Elisabeths Ära, durch sie heraufgeführt und in atemloser Spannung gehalten. Fatum und Fata, Parze und Hexe: Elisabeth von England. Wie verehrt, wie bangt, wie versteht Shakespeare an der berühmten Stelle im »Sommernachtstraum«, wo die Huldigung meteorisch an der Kimm, der Schnittlinie von Himmel, Erde und Ozean hinläuft. Einen Fingerzeig lang haben wir hier Halt machen müssen, weil in dieser Gestalt und diesen Wirkungen das amazonische Ge heimnis so deutlich wird, dessen letzte, durchaus tragische, durch aus unbedingte Verkörperung die andere Elisabeth war, die dem mütterlich bergenden, freilich schon berstenden Schosse der Wie ner Hofburg immer wieder entstrebende Kaiserin, die, trotzdem sie gebar, nicht Mutter sein durfte, und die dennoch geheimnis voll aufrufende Ahnungen in die Seelen streute, ja noch die männlichsten zum Erschauern brachte, zur Bereitschaft. Ist auch sie ein Anbeginn und Frühstrahl wie ihre sternengeliebte eng lische Schwester? Jedenfalls, dies ist gewiss, nur von der einen Stelle konnte die letzte Wunderfrau des untergehenden Europas ausfahren, von der altersgrauen Mitte des letzten Imperiums, sie, die Wittelshacherin, die hier nicht mehr Frau werden durfte, aber Tochter wurde, Habsburgs letztes Gestirn. Die andere Urstufe des Weiblichen, die Mutter - unvereinbarer
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Gegenpol des Amazonischen, innig einbezogen männlichem Welt- und Weitegefühl - nie gründend, doch stets erhaltend, wei tertragend, steht nahe vor unserm Blick in zwei grossen geschicht lichen Sinnbildern: in den zwei Kaiserinnen Katharina der Grossen, Maria Theresia. Ist es nicht, als wäre in der durch den Zufall einer Staatsmariage ins Land geratenen kleindeutschen Fürstentochter Russlands Erde erst erblüht, trächtig geworden, ist diese Anhaltinerin nicht »Mütterchen Russland« in lebendi ger Person? Mit der fremd herein Gekommenen ist Russland zu sich selber gekommen, alles was seitdem aus Russland ward, mit, für und wider Russland geschah, alles was dort wuchs und zer fiel, kreiste und verging, alles Morgen in jeglichem russischen Heute ist wie ein Reigen um diesen Schoss. Und dass Österreichs Erzhaus noch sechs Menschenalter lang die Völker unter sich sah, ihr Orgelpunkt blieb und ihre Waage, das dankt es der KaiserinMatrone, ihr, die dem Menschlichen den Eingang schuf in die erstarrten Seelen und Amtsstuben, ohne dem Herrscherlichen Ab bruch zu tun, ohne den heiligen Gang des Geschichtlichen über ihre Lande aufzuhalten oder eigenwillig vorzuschreiben. Wer darf heute fragen, wie solches Regiment hätte befruchten können, wäre seinem Muttertum der Frieden beschieden gewesen, wäre der Umkreis dieses Imperiums in allen seinen Gliedern unter die ser Krone geblieben. Nur weil jede echte Geschichtsbetrachtung zweideutig ist, symbolisch also ist, weil das Gesetz historischer Bewegung zwiefach sich auswirkt, ist eine solche Frage über haupt verstattet. Zudem wirft sie ein Licht auf das Wesen des sen, was damals geschah: im Gegensatz Friedrich - Maria The resia drang das männliche Prinzip nicht nur äusserlich durch. Europa, dem das Russland von Katharina ab als unermesslicher Fremdkörper zur Seite bleibt, bedrohlich und fern zugleich, ist nun samt seinen Erweiterungen und Schwellformen jenseits des Weltmeers endgültig unterm Auge des Geistes, willensgerichtet, tangential. So tritt es in, so überschreitet es das ig. Jahrhundert. Wollen wir nun umschauen? Wir haben bis jetzt den fast ver wegenen Blick nur auf die Königinnen geheftet, auf die des Him mels wie auf die irdischen, er müsste nun allen Formen nach gehen, in denen Frauentum am Manne sich behauptet oder
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bricht, bestätigt oder verzehrt. Diese sind nach Art und Abart, nach dein Grad und Abstand ihres Bezugs aufs immanente Ge setz des Weiblichen fast unerschöpflich. Indem der europäische Mann den Sieg seines Prinzips nicht oder nur für kürzeste Fri sten und Strecken bis zu dem Ergebnis ausfocht, darin männliche Staaten, Kulturen und Läufte Asiens tausendjährig verharren konnten, indem das Weibliche hier nicht Element blieb, sondern verstatteten Anteil nahm, ist jenes wundervoll Zwiespältige in unsere innere Geschichte, in die Wandlungen unseres Seelen raums gelangt, das den Sieg niemals ernstlich zu befechten ver mochte und dennoch je und je wider ihn anlief. So gibt diese innere Geschichte Bild und Schauspiel eines unaufhörlichen Gewoges, dabei eines stets aufs neue besiegelten und trotzdem - dar um eben nennt der Mann das Weib »ungesetzlich« - eines nie anerkannten Fugs. Dieser Fug, ist er heute erlegen, dies Ge füge, wankt es in sich selbst? Auch wer den Sinn für Akzent und Distanz noch nicht eingebüsst hat, wer über das Nächste, über das was auf-fällt (und darum keinen Bestand hat!) hinausdeutet oder -denkt, muss sich dies fragen. Das Einströmen, Eindringen der Frau in die männlichen Geistessphären wäre freilich alles andere als eine Befreiung des Elementischcn, gewiss, eher ein Zeichen währender Übermacht von Geist und Geistgebilde noch in der Spätzeit. Aber seinen eigensten Trägern und Ausgestaltern ist weithin der Glauben erlahmt, ja das Licht zu grell geworden. Schatten der Vorwelt wehen über die Lande. Mit einem lang verschollenen Wissen steigt eine »uralt neue« Sehnsucht in die Seelen. Alles höhere Menschentum kehrt sich bewusst ab vom Geist, also vom einzigen Seinsrecht - wehe dem männlichen Zeit alter, das im Banne des Stoffes stünde, eingejocht in Haft und Kraft, in Richtung und Regel! Denn in diesem Bereich ist nur die Frau machtvoll und befugt. Ihr wird die Materie Mutter grund, Kraft und Regel ein träumendes Spiel von Blühen und Vergängnis. Aber auch sie ist in äusserster Not. Jedes Geschehen vollzieht sich nach den Normen seines Beginns. Und so bleibt in dieser von Christentum und Hellas heraufgeführten Menschheit die Frau unlöslich verbunden mit dem Schicksal und Zustande des lebendigen, des wachen, des männlichen Geistes. Mag sie wi
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der ihn fluten, sie kann nicht mehr sein ohne ihn. Das ist der schicksalsschwere Aspekt des heutigen Zustandes, er müsste den Betrachter zerbrechen, spürten wir nicht: ihn sehen heisst ihn überwinden. Denn der betrachtenden Erkenntnis Gnade - und Grenze ist: was wir erkennen, ist in Deo bereits gewesen. Was ist und sich begibt, niemand merkt es. Leise sind die Sohlen alles Wirklichen. Nur die Seher und die Dichter erfahren darum. Sie, in denen eine neue Ordnung Bild geworden ist, Schaubild, Werk bild, sie waren, sie sind unter uns: Nietzsche, George, sie haben dem Manne seine Macht wiederverheissen und damit auch der Frau ihr Recht.
ÜBER GÖTZEN
UND GÖTZENBEHANDLUNG Warum sind eigentlich Götzen keine richtigen Götter? Man hat sie doch so lieb, und päppelt und mästet sie mit den nettesten Bewusstseinsinhalten, mit Trieben und Triebchen, mit Span nungen und ehrlichen Absichten, mit Geträume und Gehoffe, man putzt sie fein, dass sie richtig nach was aussehen und man hängt an ihnen, brünstig oder inbrünstig, je nach Charakter und Moment. Der Götzenfanatismus ist erheblich greifbarer (leider auch viel riechbarer) als jeder echte Gottesglaube, er durchsetzt, betont, überfärbt jede Äusserung, jedes sonstige Le bensgefühl, er dressiert Turnüre und Manier, und vor allem: er ist Stab, Stütze, Halt. (Nämlich: mit dem vorhin so genannten echten Gottesglauben ist das leider nicht gleich bequem. Der verabreicht keine Rezepte, schenkt keine Schlaftrünke aus, heischt Würde, Urteil, Entscheid!) Wie man zu Götzen kommt? Ach, auf die allerverschiedenste Weise. Nur auf die eine nicht, die einzig menschengemässe, die zu gleich Schicksal ist und Weg. Sonst aber steht ihnen Tür und Tor offen, den Götzen, jederlei Gestalt nehmen sie an, wie der Augen blick es verlangt sind sie staffiert, Spielzeug und Machthaber zu gleich. Tyrann und Schosshündchen, das sind die Götzen! Die Biologie des Götzen muss einmal genauer erforscht werden.
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Ohne diese Grundlage bleibt die Geschichte des Götzentums schwer verständlich. Die Biologie! Denn sind sie auch unser eigenes Gemächte, unsere Ausgeburten, so wirkt doch in ihnen, zumal in ihnen, die teuflische Innenkraft der Verselbstung, der unheimliche Knechtsdrang Herr zu werden über den Meister, sich zu rächen, weil man geworden ist und dennoch kein Dasein hat - o Gott, die Maschine! Jeder Götz ist ein Golem, und immer ein freigekommener, wildgewordener. Am besten fährt man noch mit den kurzlebigen Götzen der Aussenbezirke. Sie, die unser Verhalten regeln, nämlich uns in Reih und Glied bringen, die uns vorschreiben, welchen Sport man zu treiben hat, welches Spiel grade fein ist, wie man sich kleidet und begrüsst, was man tanzt, sie sind zwar auch recht strenge Herren, aber sie gewaltsamen nun mal bloss eine Spanne lang, und eben ihrem unaufhörlichen Nacheinander entspricht ihre gewisse Harmlosigkeit. Wenn ein Drill den anderen ab löst, bleiben Seel und Leib vor Erstarrung einigermassen ge sichert. Aber andere gibt es, Grossgötzen, mit denen ist weniger zu spassen. Sie beziehen und beknuten das Innenreich unseres Da seins. Sie sind keine Moden, sondern Konstellationen. Sie sind Verhängnisse. Mir scheint, sie sind zugleich Emporkömmlinge, unduldsam also, überheblich also, selbstgefällig also ohne allen wahren Bezug, ohne Ehrfurcht, ohne das Wissen um Stufung und Rang. Sie sind auch noch gar nicht zu lange am Werk. Zur Obmacht gelangen konnten sie erst, seit es immer vernehmlicher in den Fugen kracht, seit niemand mehr von Natur aus, weil er irgendwo herkommt, auch irgendwo hingehört, seitdem die wahren Stimmen verstummt sind und ihr Zerrbild als »öffent liche Meinung« kauderwelscht. Noch keine zweihundert Jahre alt ist diese zugleich anarchische und despotische Götzenherr schaft, wobei ähnlich wie bei ihren harmlosen Aussenvettern immer ein Götzensystem das andere verdrängt. Aber hier ist der Übergang bösartiger, auch langsamer. In erbittertem Ringen setzt sich Neugötz und seine Gruppe durch, und das Schlacht feld ist die menschliche Seele. Immer aufs neue wird sie zer stampft, ausgeplündert, plattiert.
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Nun ist sie zwar gewiss viel Leids gewohnt von Anbeginn, diese menschliche Seele, und ihre Erneuerungskraft (früher nannte man es den »Drang zum Licht«) schien unerschöpflich. Und in ihrem letzten Grunde ruht sie ja auch in ewiger Hut. Gewiss. Aber dass es ihr »wohl ergehe auf Erden«, dass sie gedeihe in der Zeit, dass sie ihr Geheimnis entfalten könne, dazu bedarf es eben doch jenes glücklichen Zusammenklanges von Führung und Triebkraft, den mit dem verpönten Worte Freiheit anzu merken wir nicht unterlassen können. Und diese wahre Freiheit findet ihr Wirkfeld überall und in jedem Zustand, - er mag von aussen betastet auch noch so traurig dünken - überall und immer, nur nicht in vergötzten Läuften. Wird doch in solchen Läuften die Seele irre. Sie glaubt nimmer an sich, nicht mehr an ihr Recht, nicht mehr an ihren Beruf. Und es geht ihr bald dann wie einem Gefesselten, der ohne seine Ketten nicht mehr vorwärts kann. Ist es schon so weit? Merken wir nicht mit Grausen, wie heute das wagende Auge, der ord nende Sinn, die fühlsame Hand verboten sind, ja verdammt? Zielen und Zugriff, Kniefall oder Fauststoss - keine anderen Gebärden sind verstattet oder gemäss. Eine eiskalte SchwarzWeiss-Welt. Schwarzweiss trotz all ihrer Blutrunst. Nie gab es mehr Freiheit nach Aussen. Zeit und Raum in sich zusammen gestürzt, Dauer und Ferne lächerlich verrottete Gespenster. Und nie, soweit Zeugnisse zu uns reden, solches Sklaventum des Ge müts. Was verfemen die Dysangelisten des Hasses am meisten, wütiger noch als den Geist? Die eigene Regung, das eigene Ge wissen, den eigenen Wunsch. Wirklich, es ist »lästig«, wie die Holländer sagen, in einem sol chen Augenblick noch zu lächeln, zu bedenken, dass auch diese Tyrannis vorübergeht, eben weil sie Götzentum ist. Zu nahe wagt sie sich würgend an den Kern, zu tief bedroht sie die Spe zies homo europaeus. Zusammenschlagen ist leicht, und Trümmerstätten liegen heut lange brach. Und dennoch frommt es zu lächeln: denn was heute zusammengepresst wird mit den Walzund Stampfwerken der Entseelung, trifft schliesslich doch nur das oberste Geschiebe, Flugsand und Spreu. Da freilich wird alles aneinandergerückt zur gleichförmigen Paste. Aber unter
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diesem Schorf beginnt schon das Heilwerk. Mögen sie sich brü sten mit ihrem grellen und frechen Unisono - die Stimme der Zeit erklingt woanders, und vor allem - auch heut noch erklingt sie! Manchmal möchte es sogar scheinen: heute erst recht! Wo die Götzen geschäftig scheinen ist tatsächlich der Geist am Werk, das er fördert, leise, doch Zug um Zug. Sie können ihm nichts anhaben, denn Schattengebilde sind sie trotz allem, gedunsene Blasen. Den Horizont mögen sie verdumpfen, Unbehagen aus breiten, mephitische Schwaden drängen übers flache Land. Sie mögen den Anschein haben für sich, und die Zeitstunde dazu, so wie jedes nachrechenbare, messbare, beschreib- und beschreibare »Faktum«, sie die Patrone und Schutzheiligen aller Repor tagewirklichkeit, alles kurzatmigen Handelns und aller blindge borenen Schau. Sie sind und bleiben armselige Nichtse, unwich tige Nichtse! Sind sie doch heut - auch für die Götzen gab es schon bessere Zeiten! - in den vergänglichsten aller Stoffe ge bannt, in den wechselnden Wahn des Tages: wie sollten sie haltbar sein? Als die französische Revolution ausbrach und das Land bis in seine Tiefen aufzurühren schien, befand sich gerade ein junger engelländischer Lord auf seiner Bildungsreise, wie Sterne in den »Mittäglichen Provinzen« des erschütterten Reiches. Er frug bei seinem Vater brieflich an, wie er sich angesichts dieser Sachlage zu verhalten habe. Die Antwort lautete: »Wenn man in einem Lande reist, in dem Revolution herrscht, so setzt man seine Reise unbekümmert fort, als ob man nichts wisse von dem Bestehen dieser Revolution!« Der junge Lord tat nach diesem Wink, ver kürzte seinen Reiseplan um keinen Tag und vollendete die »Tournee« nicht nur unbehelligt, sondern mit gutem seelischen Gewinn. Halten wir es ähnlich bei unserem Pilgergang durch die vergötzte Zeit.
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BIS AN DIE STERNE WEIT... Ist Faust-Goethes höhnisches »Jawohl bis an die Sterne weit!« heute nicht aller Ironie entkleidete ernstliche Sehnsucht? Rüsten wir uns nicht, umgellt von allen Hip-Hips, Eljens und Alalas der Leistungsmanie, zum Vorstoss ins Siderische? Uns selber haben wir längst schon zurückgelassen, weit dahinten, wo unter den Schattenbildern der Grösse die »Lüge des Ich« sich mit dem Widerschein sittlicher Berechtigung anzufärben trachtet. Nun heisst es alle, auch die ursprünglichsten Bedingtheiten, abschüt teln, noch des unverrückbar Letzten ledig werden, um - ja war um? Ist es Zwang oder eigenste Übergewalt, ist es Trieb oder Willkür, Absicht, trübe Not, die uns, die sich weiter treibt? Sind wir überhaupt noch die Gestalter, die Träger dessen, was sich begibt? Seine Herren, die denkenden, grenzenden, bestim menden Walter unserer Verwirklichungen sind wir ohnedem nicht mehr. Das Rad rollt jetzt faktisch aus sich selber. Wenn wir, nach dem hochmütigen Spott jenes tibetanischen Lamas, mit unserer Technik »die niedern Dämonen gut in unsere Ge walt gebracht haben«, so sind vielleicht eben diese in Formel und Zwecke gebannten Mächte, ohne dass wir es selber gemerkt haben, gerade dadurch, gerade indem wir sie unterjochten und einspannten, erst richtig frei geworden, und schaffen sich jetzt das Reich von ihrer Welt mit unsern Mitteln, auf unsere Kosten und Gefahr. Das hat man nun von den Errungenschaften! Vielleicht aber - und es ist mehr als eine vage Hoffnung, was sich gegen solch trostloses Achselzucken aufbäumt - vielleicht sind diese Herren Dämonen dennoch, wie alle Teufel seit jeher, dumm, d. h. überschaubar, berechenbar, »logisch«. Und während Ihr von ihnen überrannt werdet, während sie alles aus den An geln heben und vernichtigen, was Euch bis dahin Welt war und Sicherheit, während sie zerstücken, was Euch Gefüge war, Ab stand und der Dinge Maass: was sind sie, was schaffen sie damit? Sind sie nicht etwa eine Generalabrechnung, ein grosses Reine machen - und eine Ouvertüre? Das eigentliche Spiel auf neuem Welttheater, so scheint es, will erst beginnen. Noch könnt Ihr ja nichts anfangen mit dem Hienieden, Euch
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nicht auslieben, ausweinen, ausjauchzen in dem Kräftetanz, den Ihr entfesseltet. Den neuen Tatbeständen steht Ihr noch gegen über, angstvoll erregte, scheu lüsterne Tolpatsche - Kinder oder Wilde. Zaghaft tastet Ihr Euch an das Euch umwirbelnde völlig diesseitige Jenseits heran, versteckt Euch unter der Schutzdecke seines Nutzwerts, nur um nicht wirklich Ernst machen zu müs sen. Da und dort blinzelt Einer tollkühn unter der Decke vor, ent-deckt ganz frische Zusammenhänge, versucht sich zurecht zufinden, spürt, dass die Enträumlichung, das Zusammenfällen von hier und dort, die Aufhebung von Ferne und Maass und Dauer, das Dominium über Wellen, Strahlen, Atome, die in strumentlose Musik und die Wundergeburten chemischer Syn these unausweichliche Forderungen, ja Drohungen in sich schliessen. Alles Bisherige, Menschlich-Organisch-Sinnfällige ist auf ein Kleines, auch schon Bekanntes (wie nah ist man dem Retorten-Eiweiss!) zusammengedrängt, ist fast zum blossen Ge genbild geworden der von Euch selber ebensogut gekonnten künstlichen Welt. Ob auch Seiden wurm und Gummibäume annoch unerreichte Natur-Laboratorien sind. Ohne es zu wissen, habt Ihr Euch aus den »ewigen« Angeln gehoben, in denen Ihr verhaftet wart. Kein Wunder diese tief beklagte Verstofflichung der Zeit! Kompensationskrampf! Und der »Geist« dieser Zeit, selber schuld, beschwert sich zu Unrecht. Statt gespenstisch über den Totenacker der verflossenen Welt mondlichtelierend zu strei chen, statt Schönheit, Bedeutung, Gestalt mit den ungültig ge wordenen Sinnenmaassstäben zu suchen, herzurichten, heraus zustellen, verschmelze, vermähle er sich mit der heutigen, gänz lich menschgeborenen, doch schon vom Menschen befreiten, eigne Gesetze und Wirkungen schaffenden Aussermenschlichkeit. Kei nerlei Hybris weist Ihr ihm damit an, kein Schauer vor dem Un-Nennbaren ist dabei zu verlieren; tiefste Demut vor dem Göttlichen, vor (mit Spinoza) »Denken und Ausdehnung« wird sich erst entfalten, wenn er also in seinem eigenen Werke seinen eigenen Sinn liebt, fasst, durchdringt. Er gehe ganz auf in dieser seiner, der heutigen Wirklichkeit, als dem heute einzig vorhande nen Lebensraum, der neuen »Natur«, statt sie nur zu umbuhlen, zu umschnüffeln wie bisher. Mit »Wohnmaschinen«, Flugzeug
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dramen oder konstruktiven Gemälden ist es nicht getan: alles dies ist noch vom Ehemals aus orientiert, herübergezerrt, befingert. Es scheint fast so, als kröche der Geist heute dem Leben nach, das er in allen bisher bekannten Vor-Ären angeführt, ja gesetzt hatte. Die huttenische Lust zu leben, dies stärkste Zeugnis für die Herrschaft des erstmals neuen, entbundenen, »los«gewordenen Geistes, das neue Wirklichkeit schaffende, neue Grund- und Weitengefühl der Epoche, da Ich und Welt sich gegenseitig fanden, entdeckten, erkundeten, da der Erdball durch Kolumbus samt seinen Vor- und Nachfahren Euer wurde, die Neue Welt dem Neuen Menschen wie naturnotwendig zufiel, um ihm bald Heim und Freistatt zu werden - wo ist diese Lust geblieben? Rekorde, Spannungen, Massenballungen sind gewiss nichts so Totes oder Böses oder Ödes wie das noch in Euch grimmende sauertöpfische Gestern und Ehegestern schmollt und schilt. Aber sie sind doch noch nicht mehr als Ansatzpunkte, vielleicht Vor zeichen der radikalen Umwandlung menschlicher Wesenheit. Bindung und Freiheit, eignes Wählen und Gesamtrhythmus, ja die letzten Grundbegriffe gesicherten, eindeutig gerichteten Da seins - alles das scheint zu schwanken, sich zu mischen, inein ander zu verdunsten. Weltansicht verdrängt Weltansicht, jede dem stets angstvollem Bemühen entstiegen, die jetzigen Tatbe stände im früheren Speicher unterzubringen, als ob sie sich ein fangen, aufstapeln, säuberlich schichten liessen, als ob sie nicht ganz und gar Bewegung w’ären, unbegreiflichst, Flimmerschein, Geisterspiel. Nie und nimmer kann es so gelingen: Ihr müsst scheiden und entscheiden. Hier wölbt keine Brücke (welch blinder Missver stand, diese nur in sich bedingte Zeit eine des »Übergangs« zu heissen). Ganz aus sich selber entronnen, »selbstentzündet« ist der heutige Zustand des restlos verwirklichten Solipsismus, in dem das unendlich Kleine, der Punkt Ich sich zum All auswei tet und damit aufhebt. Die Welt, nur menschliches Gebilde, hat kein fremdes Aussen mehr - der endlich gewordene Raum, dies letzte Ergebnis physikalischer Spekulation, besagt nichts an deres. Unsäglich aber, ja so unausmessbar, dass Sternenweiten davor zusammenschrumpfen, ist die Wandelbarkeit dieses Welt-
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gefüges, sein Nichtverharren. Dass man nicht ein einziges Mal in dieselbe Welle tauchen könne, war den Griechen ein furcht bares ehrerbietig eingestandenes Grenzerlebnis: Eure Erkennt nis, Euer Weltgefühl, ja, Eure Daseinsgestaltung hat, soll Eure Art, sollt Ihr weiterbestehen, gerade an diesem Erlebnis zu be ginnen. Eure Aufgabe ist der Sprung ins Helle, wagt ihn, den Sprung ins Helle, das Euch heute tiefer ist, geheimnisschwan gerer wie ehedem irgend Schau und Schauer der Nacht. Tag traum, gerufen vom Geist aus dem Geist, die zweite Urzeugung entringt sich dem neuen Chaos. Wieder scheint das Sein »Im Anfang«. Unverrückbar aber und immer gleich die Zwei: Bild und Gesetz.
Gelegentliches MOPS UND HERR
MEINE KARRIERE ALS GESPENST
DER KAMPF UMS GUTE ESSEN
MÜNCHNER FASCHINGSERINNERUNGEN AMTSSCHIMMEL UND ZAUBERELEFANT
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MOPS UND HERR VON EINEM DARMSTÄDTER
Ja so war die Reihenfolge. Ich kam durchaus in zweiter Linie, solange - er mich hatte. »Der Mensch ist der treueste Begleiter des Hundes« hörte ich mich öfters stossseufzen. Noch dazu in München, dieser doch ausgesprochenen Hundestadt, wo sich die Pforten der Elektrischen jeglichem Vierfussgetier brummig ver schliessen - selbst den so urbajuvarischen Dack’ln. Um wie viel mehr etwas so Fremdrassigem, Absonderlichem, heute schon fast mythisch Gewordenem wie einem Mops, einem echten, letzten Repräsentanten verschollener Straminkissenwelten. Denn das war er. Kein Spätling, nein, ein wahrhaftiger Endling, pran gend in allen Abzeichen des Mopsadels, und so fein dabei, so zart, so wählerisch, so apart in seinen Neigungen und Leiden schaften. Christa von Hatvany, die ihn dem erlesenen Kreis raf finierter Tiermodelle für mich entzog, befürchtete, unvertraut mit der erotischen Sachlage, ihre vermeintlich noch edlere, jeden falls noch winzigere, schwarze britische Möpsin möchte einmal mit ihm fehltreten. Sie kannte ihn doch zu wenig, Gigi oder Pienz, wie ich ihn seiner Wehleidigkeit halber auf Darmstädtisch nachtaufte - den Ultimops, den bewusst letzten, den Schlussstein seines Stammes. Ich weiss etwas von Möpsen. Wie ein freilich nur in Spezial fällen roter Faden zieht sich eine Kette von linksgelegten Ringel schwänzchen durch meine Tage, und ich hatte immer Respekt vor dem hervorragend entwickelten Iüebeseifer der Art. Davon erglühte auch Pienz. Aber in welch distinguierten Flammen! Unter seinesgleichen, ich meine Hunden überhaupt - denn wo hätte er, der allüberall ob seiner Rarität bestaunte, verhätschelte Sonderling, auf Münchens Strassen einen Mitmops treffen sollen - hielt er sich durchaus ans eigne Geschlecht, mit einer bis ins Unhöfliche gehenden Abneigung gegen jeden Versuch, ihn zum gemeinen, zeugerischen Eros hinzulocken. Er hätte dabei sehr viel Erfolg bei den feinsten Hündinnen haben können: ich habe die entzückendsten chinesischen Zotteldamen, habe Seidenpudel weibchen, ja einmal eine ägyptisch nackte Windspielin ihn bis
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zur Selbstentwürdigung umbuhlen sehen. Und innerhalb des eigenen Sexus hielt er, wie sichs verstand, dem Kühnen und Le bensvollen zu, den »guten Klang« der Paarung von stark und mild zu sichern. Vor allem die Riesen hatten es ihm angetan, die gigantischen Über-Doggen, die schwertrottenden sogenann ten, es gibt ja fast nur dem Namen nach Bernhardiner, die edlen Jagdrüden, zumal die so selten gewordenen gold- oder kupfer roten fahnenberuteten irischen Setter. »Soll i eam a Leiter bring’n?« fragte bei einer solchen Gelegenheit ein mitleidiger Münchner. Aber er war sehr begabt. Glaube man darum nicht an seine Urfeindschaft gegen das Weib! Ausserhalb seiner zoologischen Spezies wusste er Frauentum durchaus zu schätzen. Schönen Stuten habe ich ihn interessiert nach-steigen und -schnüffeln sehen und Menschinnen gegenüber war er, der Geschmäckler, fast zu unwählerisch, jeder einzelnen wedelnd, ja katzenhaft schmiegend, motorisch manchmal gar zu eindeutig zugetan. Auch fürchte ich, der tiefste Grund seines eben doch tragischen Verhältnisses zu mir war in meinem Menschenmannstum gelegen. Über eine kühle, durchaus nicht re spektvolle, eher herabsetzende Anerkennung seinerseits ist un sere Beziehung nie gediehen, trotzdem ich im allgemeinen bei Hunden in sehr gutem Geruch stehe. Sie war ja auch nicht ein fach, nicht für mich, nicht für ihn, diese Symbiose. Wie ihn hegen, nähren, säubern, unterhalten? Alles im Rahmen eines Altschwabinger Ateliers, ohne geregelten, weiblichen Beistand? Ich spüre noch das Herzklopfen, die Vorangst, als er, wohlver standen mit allem, mit Steuer- und Adressmarke, prächtigem Halsband und auch späterhin nie beschlupftem flausgefütterten Hundehaus oben ankam. Wie er sich - zugleich gelangweilt und doch etwas unsicher (gerade wie ich) - rings umschaute, sich dehnte, auf den Divan sprang, den Ringelschwanz hängen liess, die angebotene Milch kaum beroch und mit den Augen zwin kerte. Es war ihm gar nicht wohl zumut, und dabei war er so schön, dass ich alle Bedenken vergass und mich ihm zur Ver fügung stellte. Ich hab’ es auch treulich durchgeführt, freilich und gottlob nicht ganz allein, denn leicht war es nicht. War er doch weder erzogen noch erziehbar. Er folgte, wenn er wollte, war,
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echter Spätling, viel zu intelligent, sich irgendwie einzupassen und hatte die grösste Freude an den Hilflosigkeiten seines von ihm gebändigten Herrn und Meisters. Ihn auszuführen bedeu tete jedesmal eine Epopöe voller aufregender, nur im Rücker innern reizender Zwischenfälle. »Sie müssen ihn stets an der Leine lassen« hatte seine Vorbesitzerin gewarnt. Es war nur zu wahr! Die Versuche, aus ihm einen gebildeten Mitläufer zu machen, gelangen stets nur zufällig. Wer ihn nicht im Auge behielt, hatte ihn verloren, und ich weiss nicht, wie oft er tage lang verschwunden war, einfach weil er nicht zurückfand: ein Hund ohne Heimat- und Ortssinn! Denn auch nach seinem frü hem Gelass und der verflossenen Herrin fand oder gelangte er nie. Abends nach Arbeitsschluss hörte ich es dann, Trinkgeld heischend und Mops überbringend, bei mir pochen. Gleichmütig und mit leicht degoutiertem Schnauben liess er das Wieder sehen über sich ergehen, das meinerseits in einer vorsichtigen Do sierung von Zuspruch und Moralpredigt zu bestehen pflegte. Irgendwie ernst durfte man ihm nicht kommen. Dann erschrak er, ein Ausdruck störrischer Hoffart kam in seine kugligen Mopsaugen, und er ward ganz und gar Ablehnung. Vereiste. Nein, es war nicht leicht mit ihm! Zumal er auch körperlich wirklich hinfällig war, trotz seiner Jugend, (seine und meine Leidenszeit füllte die Spanne zwischen seinem ersten und zweiten Lebensjahr) war er wenig gerüstet für die harte Wirklichkeit. Das sonst mit so vielem Recht Hunde wetter genannte Hauptklima unserer »mässigen« Zonen erregte in ihm Hass, Abscheu und Diarrhöe! Bitte! Und bei einem Ateliergenossen im vierten Stock mit Steiltreppen ohne Lift. Freilich war es eine Art Entschädigung, eine künstlerische Wol lust, ihn bei solcher Witterung das kalte und glitschige Asphalt nicht etwa betreten, sondern geekelt zurückstossen zu sehen, mit einem vorwurfsvollen »das mir« im Blick. Und mit was für Pfötchen! Meine Hundeerfahrungen sind nicht gering, aber ich darf es aussprechen: nichts Hündisches, das mir je übern Weg lief, kam dem Adel dieser Extremitäten gleich. Elegantest ge zogene, vom federnden Fersengelenk zierlich bewegte Schmal beine endigten in Zehengrüpplein, deren glatte Bällchen wie mit
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Jungfernpergament bezogen schienen, und die im Schreiten, Schnellen, Springen oder in den seltenen Fällen bittender oder kosender Zärte die ganze Prinzenhaftigkeit des süssen Wedelings offenbarten und den linearen Wuchs - er gehörte nicht zu den breiten täppischen Klump-, sondern den zierlichen Rehmöpsen in eine feinere Sphäre hoben. Und das eben doch unvermeidliche Führen an der Leine wenigstens zu einem Teilgenuss gestalteten, den die Anerkennung der Welt, die bereitwillig und manchmal im Übermaass gezollt, sogar in einen Rausch von Stolz und Selbstbefriedigung bei ihm und seinem Begleiter steigern konnte. Denn ich wage es zu behaupten: es ist gewiss schön und schmeich lerisch, um seine Bücher, Bilder oder auch eine Geliebte benei det zu werden, nichts aber gleicht dem Hochgefühl, mit dem der wahre Hundist oder rechte Kynophile seinen Genossen preisen hört, oder, so er es gestattet, freundlich streicheln sieht. Auf die sem Felde war nun vermittels des Ultimops alles zu ernten. Zeit lebens blieb er die Sensation der Strasse, die Wonne der Gast stätten, der gehätschelte Liebling der Salons. Eine Unzahl freundlicher Episoden wacht auf in meinem Gedächtnis: vor nehme ältere Herren, geheime Räte lassen mitten auf der Strasse eine entrüstete Gattin stoppen, um sich mit den Worten »nein, da kann man nicht widerstehen« kosend zu Pienzen niederzu beugen. Bessere Schulmeister bleiben stehen und deuten beleh rend auf ibn: »Schaut den charakteristischen Vertreter einer aus gestorbenen Rasse«. Unzählige Male wird bei seinem Besitzer angefragt, ob »er« verkäuflich sei, einmal mit der anscheinend aus einer Heiratsannonce übernommenen Wendung »sechs Jahre suche ich für meine Freundin solch einen Gefährten«, ja selbst die bekanntlich dem Noblen gegenüber spröd ablehnende Volks seele öffnete sich Pienzens Reizen weit und gern: »a Mopsele« scholl es durch die Strassen, durch die ich mich, »ich mit dem Hündchen, einer Kokotte«, nach dem fast zu kritischen Ausdruck einer Freundin, mehr hindurchziehen liess als eigenmächtig bewegte. Aber wenn auch derart vergoldet, es waren doch Ketten, die ich trug, und die auf Stunden oder Tage abzuwerfen ein seliger Genuss war. Es gab die Gräfin! Von allen Menschenfrauen,
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deren Bekanntschaft ich ihm vermittelte, und deren jede er nach Art, Rang und Bedeutung zu werten, zu behandeln wusste, war ihm keine so nah, freilich auch keine so gewogen wie sie, die ihn zu fesseln, zu sänftigen, zu belehren verstand, deren Arbeits boudoir sein allmorgendlich ersehnter siebenter Himmel war. Diese Treppen flog er förmlich hinauf, und wenn ich zu dik tieren und sie auf der Maschine zu klappern begann, dann kauerte er sich oft neben mich, das in tausend Falten des Wohl behagens verschrumpelte Haupt auf meinen Knien, öfter und am liebsten zwischen die Füsse der Schreiberin, mit tiefem Traumröcheln die Klänge von oben begleitend. Und manchmal durfte er dann droben bleiben bei ihr, sich zur Lust, mir zur Entlastung. Wie schön sie dann waren, die gemeinsamen Mahl zeiten, Ruhestunden, Spaziergänge, weiss ich nur aus den Be richten, ahnte sie auch aus Pienzens resigniertem Lefzenlecken, wenn die Seligkeit um war, und er sich wieder mir bequemen musste. Denn es ist nicht anders: so gern ich ihn hatte, so stolz ich auf ihn war, so sehr ich ihn bekirrte, ja umwarb, wirklich nah sind wir uns nicht gekommen. Reservierte, manchmal, gar nicht oft, etwas gerührte Duldung war das vornehmste Gefühl, das ich in ihm entfachen konnte. Sicher war ich ihm zu gross, zu dröhnend, vielleicht auch zu darmstädtisch. Er war eben ganz Nuance, aufs Halblaute gestellt, kannte nur die Freuden des Übergangs, und da ich, wie man oben erfuhr, auch kein Objekt für seine Passionen sein konnte, so behalf er sich eben mit mir, weil es unvermeidlich war, liess sich bedienen und rümpfte, wenn er ihrer nicht zur Feststellung der Riechens würdigkeiten Münchens bedurfte, mit mildem Vorwurf die im Samt des Gesichtchens reizend vergrabene tiefschwarze Mops nase. Rümpfte, bis sein Leben einen jähen, ach für ihn uner träglichen Wechsel erfuhr. Juli kam! Die Stadt wollte sommer lich verlassen werden. Ultimops und sein Herr tauchten, nach langwieriger Bahnfahrt, wo »er« sich musterhaft betrug, die Huldigungen der ihm meist zu unfeinen Mitfahrer freundlich aber kühl entgegennahm, im Kaiserstuhl auf, dem süddeutschen Wein- und Gebirgswinkel, wo er bis auf weiteres bleiben sollte. Hier begriff er nun gar nichts mehr! Wahrhaftig, er war ein
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Städter! Das Landdasein war nicht für ihn, der Garten, der Hof mit einem grossen, schwerfälligen, unangenehm-pflichttreuen Kettenhund, die so ganz andern Menschen mit ihren unvertrau ten Beschäftigungen - nichts war ihm mehr recht. Vom Beginn der Sommerfrische trauerte er, zog sich zurück, blieb fremd. Ich fuhr weiter; der Abschied, von seiner Seite gleichgültig, sogar merk-würdig dumpf, tat mir weh. Aber ich sollte ihn ja im Herbste wiedertreffen, mitnehmen in die gewohntere StadthausHöhenluft. Es ist anders gekommen! Kaum war ich weg, so ging sein Trau ern über in Kränkeln; vergebens mühte sich freundliche Pflege und ärztlicher Beirat. »Ein Staupen-Rezidiv« lautete die ernste Diagnose. Die Bulletins, die ich regelmässig erhielt, wurden ernster und ernster, und als ich zur Zeit des höchsten Jahres jubels zur Weinlese zurückkam, ruhte er schon aus von dem viel zu undistinguierten Dasein! Er, der letzte Nachfahr abgesun kener Welt, er, der Pfotenzarte, der Ultimops.
MEINE KARRIERE ALS GESPENST Noch im Augenblick des Todes, grade als der Faden riss, hatte ich mir fest vorgenommen, nicht zu spuken. Nie im bisherigen Leben war ich ein Kleber gewesen, das Hinausleiern, Zerdehnen abgeklungener Situationen hatte ich stets lächerlich gefunden, bitter ironisiert. Schluss zur rechten Zeit, war eine meiner Haupt maximen. So wollte ichs auch mit mir selber halten, am Ende eines rasch durchwirbelten Daseins. Der »Sprung ins Dunkle« sollte endgültig geschehen, ohne Wink und Zwinkern nach rück wärts. »Hinterbliebene Grillen und Tränen haben mich nicht mehr zu rühren«, hatte ich grad noch denken wollen, da war es schon vorbei. Vorbei? Ei, das war ja wieder ganz anders, wie man sichs früher vorgestellt hatte. In besseren Gespensterge schichten stand es zu lesen, man empfände keine Veränderung, sähe, spüre, beschnuppere sich und Umwelt grade wie bisher, wundere oder gifte sich über das Verhalten von Anverwandten,
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Heuchelleidträgern, letzten Ölern und ähnlicher Erdapparatur, entschwebe dann, von Stufe zu Stufe geläutert, ins unbekannte Andere. So hätte es sein sollen nach allen Berichten aus alter und neuer Zeit, allen Tisch- und Pendelmitteilungen, allem Trance-Geraun. Also eigentlich ganz nett und anregend für ein neugieriges, etwas selbstbewusstes Gemüt. Nun, und - was begab sich in der Tat? Statt der erhofften Be freiung sass man - ein ganz sonderbares »man« übrigens - re gungslos wie in Gelatine eingegossen, irgendwo, verklumpt, ohne Bewegung, ohne Absicht, ohne Gefühl und war eben doch, hatte Bestand, wusste, es gab einen. Ein unbeschreiblicher Zu stand bleiernen Von-sich-seins. Wäre man noch bei Sinnen ge wesen. so wäre vielleicht der knirschende Witz aufgestiegen: »Es möchte kein Hund so länger sterben!« Aber es langte nicht einmal mehr zu dieser blöden Reminiszenz. Vollkommene Schwere war das einzige, davon man wusste. Schwere ringsum, Schwere da, wo das Ding, das Nicht-Ding Ich sich befand. Es ist so schwierig, diesen Zustand des Nichtseins, Nichtexistierens bei vollkommener Ortsgebundenheit vorzustellen, ihn anders als mit Negation zu beschreiben. Denn die unbelebte Natur, der gewachsene Fels, die ziehenden Wolken, die wogende Flut, alles hat seine besondere Art, seine selbstgleiche Wirklichkeit und Stärke. Aber hier der gebannte, zum Dauern verdammte und doch nicht mehr vorhandene Bestand - es gab ihn eben bloss. Es gab mich bloss. Denn das war das Gräuliche, in diesem von über all her zusammengepressten fühllosen Klumpen bestand noch irgend etwas wie ein Wissen um die eigene Einheit, Selbstbe wusstsein, ganz entfärbt, aller Einzelheiten verlustig, ohne Be zug nach Aussen und Innen, nur eben dumpfes, verhängtes, ver schwollenes Ich. Leben, Wesenheit, Wünsche wie ausgepresst, das Ich als blosse Materie, als Phlegma, nur an der Schwere erkennbar, der Last, dem unerträglichen Druck, mit dem es auf sich selber wuchtete und drückte. Dem unerträglichen Druck! Nur der war übrig geblieben. Dieses Noch-Dasein, die ses nicht Nichtdasein hatte etwas grenzenlos Fürchterliches. Es verhielt sich nicht im Raum, es rollte nicht in der Zeit: nirgend wo und nirgendwann verblieb es und hatte doch statt.
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Keine Erdenspanne möchte messen, wie lang sich dies alles voll zog. Und jetzt, dem Zustand entronnen, reputierliches Gespenst geworden, brauchbare parapsychologische Hilfskraft von einer ganz komfortablen andern Seite her, heute vermöchte ich nicht auch nur anzudeuten, wie mir zumute war. Grässlich genug, dass ich überhaupt noch darum weiss, dass ich noch den ver quollenen Zustand in mir spüre, wenn ich einmal nichts zu tun habe, nicht in ein nettes Medium fahren darf, keine der Wunder chen vollbringe, an denen sich Menschen ergötzen, erbauen oder erschrecken, und die ihnen doch so wenig einbringen. Ach, wie gern tu ich ihnen den Gefallen, ohne mich über sie lustig zu machen, ohne launisch zu sein, wie so viele meiner Mitgespen ster, ohne meinem lieben Fritz - ich mag viel lieber männliche Medien, damals im Leben war es freilich anders! - berufliche Ungelegenheit zu bereiten. Denn ist auch, was ich jetzt bin, meine, fühle, webe und leiste, dünn genug, winzig genug: es ist doch ein Rausch, ein Wirbel, eine Fülle, ein Schwingenbrei ten, gegenüber dem ichumkerkerten Ichzustand, in den ich ver fallen war, aus dem ich los kam, wie los kam? - Ich begreifs selber nicht. Von aussen kam die Befreiung nicht, wo hätte sie auch ansetzen sollen? Ich war ja nirgends. Ich war nicht zu fas sen, nicht zu locken. War es vielleicht die unsägliche Qual, die mich schmolz? War diese Qual schon ein Widerstand? Ein Wi derstand, in dem das blosse Lasten sich selber überwand, sich selber spürte als ein Anderes? Und damit Spannung schuf, Be zug, Wechselwirkung? Irgendwie so muss es zugegangen sein, dass dies Ich aufging, Ausdehnung erhielt, Raum bekam. Denn plötzlich wusste ich: ich bin da! Damit war der Bann gebrochen. Denn dies Da-Sein musste aus sich heraustreten, sich betätigen. Nur von solchem Drang ge zogen, geschüttelt, fuhr das Ich, das aus sich selbst entlassene, los, und geriet, armselig und noch ganz im Taumel, auf die Zwischencbene, wo der Verkehr zwischen uns und dem Erdenleben sich abspielt. Kurz, ich stolperte in ein Medium. Kein sehr um fangreiches. Viel kann ich nicht mit ihm anfangen. Möchte gar zu gern mich deutlicher machen, mehr Bewegungsfreiheit haben nach der entsetzlichen Stille und Ferne. Aber mein Medium mag
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nicht. Ich soll bloss Gegenstände hin und her bewegen. Schade, ich käme so gern, wenn nicht leib-, so doch geisthaftig ein biss chen zum Vorschein. Aber das Medium gibt nichts her. »Mani festationen sind Schwindel«, näselt es mir entgegen, sobald ich mich einmal vorwage. Ich weiss nicht, was das heissen soll, ver stehe überhaupt nichts mehr richtig. Aber wenigstens bin ich mir selber entronnen. Das ist schon viel. Auch das mässigste Spuken ist immer noch vergnüglicher, seiender, wirklicher - fast hätte ichs »lebendiger« genannt, als das unerträgliche Verhaftetsein in sich selbst. Man wird bescheiden im Jenseits.
DER KAMPF UMS GUTE ESSEN Keiner der menschlichen Triebe hat es heut schwerer, alterwor benen Adel zu behaupten, als der des Essens. Alle andern lassen sich leichter mit den veränderten Umständen einen, bequemen sich an, ducken oder wandeln sich. Das Essen jedoch ist in Gefahr, seine ganze Würde zu verlieren, blosser Heizstoff zu werden, totes Mittel. Schon dass es mehr als alle andern Formen leib lichen Geniessens dessen bedarf, was heute keiner mehr besitzt, dass es zur Vermenschlichung, zur Vergeistung sich ausdehnen muss, ein geruhsamer Vorgang sein muss, dass es Zeit verlangt und Hingabe, das schon bedroht, ja zerstört seine Schönheit und seinen saftigen Glanz. Die flüchtige Zigarette, der Kuss auf der Schwelle, ja selbst ein rascher Trunk behalten mit dem heim lichen auch den träumerischen Reiz, vergolden unmerklich über hauchend noch Alltag, Geschäft, Sport, Gymnastik und Repräsen tation. Aber das flugs und damit gleichgültig verschluckte, in den fest zusammenhängenden Tageslauf wie hineingepflöckte Kurz mahl oder der Biss unter der Arbeit sind notwendigerweise bar aller Weihe wie allen Genusses. Und ich glaube, noch von einem andern als dem meiner Kompetenz entzogenen hygienischen Ge sichtspunkt aus darf man von einer Gefahr sprechen. Ob das öde und blöde Schlingen physiologisch heillos sei, weiss ich nicht: dass es das Dasein verdumpfe, das Leben entzaubere, also gefähr de, ist gewiss, denn über Kalorien und Vitamine hinaus lebt in
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der Nahrung und in der Art ihrer Entgegennahme, ihrer »Ein verleibung«, jenes ungreifliche, zwischen Ding und Geist wal tende fluidale Element, in dem das Geheimnis der Umwandlung vor sich geht, alle Dinge zu »guten Dingen« werden und der Geist sich bindet und erhellt. Sieht man derart über die Zeit hin, erfährt an sich selbst und der Umwelt, mehr noch aber aus vielfältigen, stets gleichlautenden Berichten über die fürchterliche Essverödung auf der andern Seite des Atlantiks, wie weit es schon gediehen ist, dann scheint das Menschentum unseres Kulturkreises wahrhaftig reif für die, sagen wir vorletzte Loslösung aus dem natürlichen Zusammen hang für die synthetisch, aus chemischen Elementen hergestellte Nahrung. Dies soll ja auf dem Mars - nach des Curt Lasswitz wieder recht aktuell werdendem Raumschiff-Roman »Auf zwei Planeten« - bereits zur Herrschaft gelangt und sogar schmack haft sein! Mit dem Menschentum im bisherigen, der Jahrmillio nen Sinn wäre es dann freilich zu Ende. Und eben drum wollen wir trotz aller Schlechtigkeit der Zeit, die sich, nach manchen Sittenpredigern, gerade in den technischen Errungenschaften äussert, an die Möglichkeit der Retortenspeisen vorläufig noch nicht glauben. Sondern lieber mit dafür sorgen, dass der bisherige Zustand der Dinge sich wieder bessere und man ohne Essfanati ker, Rohkostadorant oder Kau-Götzendiener zu werden (zum Schlemmen langt es ja ohnedem nicht mehr) in der bescheidenen Freude am guten Essen wieder eine Erhöhung des gesamten Lebensgefühls erblicke. Und dass man vor allem wieder lerne, gutes Essen sei nicht durch die Kostbarkeit der Speisen, sondern, um es so zu nennen, durch ihre Richtigkeit und durch die Art gewährleistet, in der sie sich uns bieten, durch die Summe also von Geist, Liebe, Verständnis, mit der sie zubereitet werden und aufgetischt. Solange man freilich unser prächtiges, stark und echt schmeckendes Roggengebäck mit Sauerteig überwürzt, mit Essigstürzen nicht nur die zarten Salate, sondern auch alle mög lichen Fleischspeisen, ja sogar die edelsten Fischgerichte erwürgt - ich habe schon blaue Forellen in versäuerter Brühe vorgesetzt bekommen! -, solange wird man nicht wissen, wieviel Genuss, wieviel Schönheit die einfachste Speise bergen kann, wenn man
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nur versteht, ihre Tugenden hervorzulocken. Ob es freilich in einem Lande dazu kommen kann, in dem sogar die auf Pflanzen kost eingeschworenen Gaststätten ahnungslos sind in der Ge müsebereitung und jedem, aber auch jedem Pflanzengericht durch den berüchtigten Mehlzusatz seinen Reiz, seine besondere Lieblichkeit und damit seine Nährkräfte rauben - ach, man soll die Hoffnung dennoch nie ganz verlieren! Jedenfalls liegt ein fruchtbares, noch gar wenig bestelltes Feld der Betätigung weit gedehnt vor unserm Blick. Hier ist mehr als man ahnt und zu gibt fürs Volkswohl zu leisten, ja praktisch aufzuzeigen, dass neusüchtiger Sinn und echte Tradition sich wohl miteinander vertragen können. Denn während nichts wandelbarer scheint als der »Geschmack« auch im engeren, im Gaumensinne des Wortes, während wir mit Staunen, manchmal mit Gruseln uns berichten lassen, was man in früheren Tagen alles gern zu sich nahm und wie man es zu bereitete - so hat sich doch im Laufe der Zeiten eine geradezu heilige Überlieferung gebildet über das richtige Braten, Kochen, Dünsten mit seinen, jeder Speise (und innerhalb der Speiseart dem jeweils besonderen Zustand des Einzelfalles) entsprechen den Eigenheiten. An dieser Überlieferung ist nicht mehr zu rüt teln, sie ist, in Zeiten der Gefahr wie den unsern, nur zu hüten, zu wahren, zu sichern. Mutige, des Zieles bewusste und kennt nisreiche Paladine tun not zu solcher Wacht. Unbedenklich müs sen sie sein und dennoch behutsam, froh des Erreichten und Pfadfinder ins Unbekannte. Ihr Herz muss am rechten Fleck sein, ihre Zunge schmeidig, fühlsam und vibrierend, ihr Wissen voller Anmut. Gebildete Menschen müssen es sein! Gibt es denn das noch? fragt wohl ein Griesgram. Der Zweifel begreift sich und um so schöner ist es, dass man froh und schlank weg auf ein besonders freundliches, besonders wohlgeratenes Beispiel bejahend weisen kann. Carl Georg von Maassen - wahr haftig, er ist dieser von mir verlangte Ausbund, ein Ritter, ein Liebender und ein Weisheitsfreund zugleich. So wie sein Leben eine heitere Kunst ist, so sein Treiben eine »Fröhliche Wissen schaft«. Wer wäre berufenerer Künder der »Weisheit des Es sens« - so übersetzt er glücklich das von seinem grossen deutschen
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Vorgänger Vaerst geprägte Tempelwort »Gastrosophie« vom lächelnden Ernst und der lieblichen Tiefe eines Kultes, an dessen duftigen Altären er selbst als Priester und Eingeweihter hohen Grades waltet. »Von der Weisheit des Essens«! Dies leichte, träumerisch und mit leiser Ironie wie zwischen Mokka und Likör hinerzählte Büchlein ist ganz dazu angetan, einzugreifen in den guten Kampf. Nicht oft wird so viel Wissen, so viel praktische Erfahrung, so viel Einsicht ähnlich reizend serviert. Die scheinbar zufällig aus dem unendlichen Gebiete der Esskunde, Esskunst und Esshisto rie herausgegriffenen Kapitel über gewählte und einfache Speise arten, den Streit um ihre beste und echteste Zubereitung, über berühmte oder sonderbare Esser, über Tafelkünste, den Ge schmack der deutschen Dichter, mit dem Hymnus auf den Gross meister des Kochens und Speiserichtens, Pfordte in Hamburg, dem Loblied auf Spargel und den »König der Fische«, den köstlichen Steinbutt, bilden ein ungewollt in sich verbundenes, Gaumen und Gemütgleicherweise anregendes Ganzes. Die Fülle der Anek doten, Beispiele und Seitenblicke, mühelos aus unendlichem Wis sen geschöpft, bedrückt nicht, sondern beschwingt, und die bei aller Unerschütterlichkeit immer höflich vorgebrachten Überzeu gungen fordern auch den eigenwilligen Kenner und Liebhaber des Stoffes zu selbstprüfendem Nachdenken, selten nur zum Wider spruch. So weiss ich freilich nicht, ob die aus seinem Geschmack an derben Speisen hergeleitete Bezweifelung der lyrischen Echt heit des Schillerlieblings Matthisson gegründet ist, fühle mich mindestens gedrungen, gleichsam in eigener Sache hier mich zur Wehr zu setzen. Gestärkt bin ich dabei durch das Beispiel des seraphischsten aller Dichter, Jean Pauls, der doch Bayreuth zum Wohnsitz erwählt hat, weil ihm das dortige Bier am besten von sämtlichen deutschen Brauprodukten mundete, und schliesse ganz versöhnt mit dem Ritter und Autor Maassen, verdanke ich doch seinem trefflichen Buche die herzerhebende Kenntnis, dass Mar tin Luther das machtvollste aller deutschen religiösen Kampflie der, die »Feste Burg« in meiner hessischen Heimat, beflügelt von Duft und Geist des Niersteiners, des köstlichsten aller Hessen weine, verfasst hat.
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MÜNCHENER FASCHINGSERINNERUNGEN Ob der Fasching früher schöner war als heute, ob er ungebun dener war, ob die Fröhlichkeit mehr von Herzen kam, die Laune phantastischer spielte, kurz ob es faschingsmässiger zuging beim Münchener Fasching: wer möchte darüber urteilen? Wer viel mitgemacht hat, Jahre, ja Jahrzehnte durch immer wieder in diesen tollen Wochen unterging oder auf ging, wie man will, der weiss zu gut, von wieviel Gelegentlichem, Unberechenbarem das Faschingserlebnis genährt wird, und wie auch schon früher erfüllte und ödere Faschings]ahre miteinander abwechselten keiner konnte sagen warum. Ein wahrhaft dämonisches Ge schick bestimmt die FaschingsWochen und ihre einzelnen Höhe punkte. Man wusste und weiss nicht, warum dies oder jenes Fest im Vorjahre aller panischen Mysterien Schauplatz gewesen ist, diesmal unterm tristen Zeichen Sankt Gähnians steht, um dann im kommenden vielleicht wieder das anerkannt »schönste von allen« zu werden. Ein paar äussere Momente lassen sich manchmal mit Händen greifen (aber doch nicht ändern!). Wenn auf einem der grossen öffentlichen Feste gar zu viele, durchs bunte Maskenzeichen ihre Alltagsbürgerlichkeit noch überbe tonende bessere Herren das bunte Bild beschatten, wenn gar zu viel neulingshaftes Reden und Benehmen sich breitmacht, oder wenn die »Neue Sachlichkeit« Mannsleute und Weibervolk dazu bringt, sich im voraus zu sichern, d. h. wenn man mit Sei nem oder Seiner nicht nur über die Schwelle tritt, sondern das Pärchen einen Abend lang beieinander bleibt: dann allerdings kann kein richtiges Fest gedeihen. Besonders die letztgenannte Faschingssünde ist gefährlich. Früher war es fast Gesetz, dass man während einer Faschingsnacht einander nicht nur nicht stör te, sondern überhaupt nicht sah, nichts voneinander wusste. Man kam sofort und ungestüm in den Strom, wirbelte mit, tanzte mit allen, war selig mit vielen, ging auf im allgemeinen Gewoge und hatte eher Angst, sich durch ein Augenblickserlebnis gänzlich zu isolieren. Mittun wollte man, teilhaben an allem, an der Ge-
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samtlust, der mit Worten gar nicht wiederzugebenden schwelge rischen Gehobenheit, in der jeder einzelne sich stärker, schöner, freier fühlte. Die Kargen oder Selbstischen kamen freilich auch damals nicht auf ihre Rechnung. Aber wie selten waren sie! Es klingt unwahrscheinlich, aber wirklich es ist so: die Faschings jahre, deren ich jetzt gedenke, taten fast allen gut. Das Herz schlug freier, schmiegsamer wurde der Sinn, freundlicher der Blick. Wenn man wohl gesagt hat, das Münchener Leben - frei lich war dies ein Vorkriegslob - das Münchener Leben ver menschliche jeden, mache den einzelnen naturnäher, verstehen der, freudiger, auch der Zugezogene wandle sich in diesem Zau ber, so hat der Fasching daran vor allem teilgehabt. Ich glaube, jeder pflichtet mir bei, der etwa der nun auch entschwundenen Schwabinger Bauernkirchweih sich entsinnt. Bei diesem Fest, das Winter um Winter den Mittelpunkt, man könnte sagen die eigentliche Kultfeier des ganzen Faschings gebildet hat, schien der Geist der Landschaft selber geheimnisvoll am Werk. Das Städtische, die soziale Gliederung, die Scheidewände von alt und jung, von fremd und einheimisch: alles zerbrach oder war wie weggeflammt. Diese Burschen und Dirndeln, diese Hof bauern und Bäuerinnen waren eine Nacht lang tatsächlich das, wofür sie sich gaben. Bauern, das Bauernland, hatte gesiegt, der bayerische Bauer erstand in jedem einzelnen, echte Scholle hatte ihn geboren, und was vor sich ging war echte, altderbe, altheilige Kirchweihlust. Kein Fest trug so wenig das Gewand der Maske rade, der willkürlichen oder einmaligen Selbstveränderung. Echtheitsgrade gab es freilich, und darin, in der Verwirklichung, konnte man einander übertrumpfen. Verpönt aber war alles, was nach Zufall oder Willkür schmeckte. Selbst geistreiche Masken, die nicht hineinpassten, wurden mitleidslos und höhnisch wie der hinausspediert. Auch dies ein Beweis für den geheimen Zwang, der hier fast unbewusst gewaltet hat. Aber jeder Bua und jedes Gänseliesel waren willkommen, wie simpel auch die Staffierung war - und freilich, wer tanzen wollte, tat besser, sich derart leicht zu überbauern, während die vielen echten Trachten mehr den würdigen Jahrgängen langsameren Blutes und Tanzbeins zukamen und anstanden. Diese Trachten waren
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oftmals heiliggehaltene Familienerbstücke, hundertjährige, schwerwattierte und faltenreiche Seidenröcke, Gold- und Spit zenhauben, grellfarbig und doch geschmackvoll gemusterte Mie der und Brusttüchlein sowie herrlicher alter Filigranschmuck bei den Frauen. Und wer sich ausstatten musste für den einen Abend, dem stand in mehr als einem Leihgeschäft eine uner schöpfliche Auswahl echter Stücke zu Gebot. Keines der Fa schingsbilder, die in meiner Erinnerung leben, kommt dem der Bauernkirchweih gleich. Und heute noch schlägt mir das Herz, wenn ich daran denke, wieviel Müh und Eifer ich in meinen ersten Münchner Jahren daran setzte, Einlass zu bekommen. Denn die Bauernkirchweih war ja das Fest der Münchner Künst lerschaft, man war wählerisch und streng, wollte möglichst unter sich sein, und ein »blosser« Dichter und Schriftsteller wie ich bedurfte empfehlender Protektion, musste sich bewähren, ehe es selbstverständlich wurde, dass man teilnahm, und von selber durch eines der prachtvollen Einladungsblätter sich das Tor vor einem auftat. Nun, jegliche Mühe war belohnt, nein vergessen, wenn man, von fern schon angelockt durch die »zünftige« Mu sik, in den verschneiten Garten bog, eingelassen wurde, drinnen war. Gar zu früh zu kommen war gegen das ungeschriebene Ge setz, aber von zehn Uhr abends bis weit, weit nach Mitternacht währte in diesen glücklicheren, polizeistundenlosen Läuften, in abwechselnden Spannungsstärken, stets aber einen jeden von uns erfüllend, die gleiche Fröhlichkeit. Soviel habe ich von der Bauernkirchweih gesprochen, nicht nur, weil die Erinnerung mir überquillt, wenn ich ihrer gedenke, weil man eigentlich gar nicht aufhören kann, von ihr zu erzäh len - vor allem doch, weil in ihr das Geheimnis des Münchener Faschings so ganz deutlich wird, jenes Geheimnis, das ihn auch vom rheinischen und anderen Karneval abhebt. Es ist die sonder bare, Leben verwandelnde, Leben befreiende Wirklichkeitsnähe, der bei allem Witz, aller Laune, das eigentlich Närrische im Sinne z. B. des Kölner Jeckentums fremd, fast unverständlich ist. Weswegen es auch hier, selbst in den erfülltesten Faschingsjäh ren, nicht eigentlich das tolle Strassentreiben gegeben hat, das die rheinischen Städte für drei Tage so bunt überzieht. Der
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Münchener Fasching, wenigstens wie er war und wieder werden sollte, lässt den Menschen zu sich selber kommen und gerade darum ist er früher die Angelegenheit aller gewesen, für die man Betten und Hausrat verpfändete, um nur mittun zu können. Und für wieviele ist er eine Lebensschule geworden! Wieviel Spröd heit und Scheu, wieviel Angst und Verzagen, wieviel Hemmun gen hat er weggeschmolzen bei Männlein und Weiblein. Jeder konnte spüren und zeigen, was an ihm war, was er konnte, wie viel Ausdauer er besass. Oh, diese durchtanzten Nächte! Sport war es nicht, und kein Rekordkrampf belohnte das unermüdlich ste Paar. Aber man selber war frischer, heiterer, leichter, lebens tüchtiger nach einer solchen Nacht. Wenn man der Schwabinger Brauerei, wo ja die schönsten öffentlichen Feste ihre Stätte hat ten, frühmorgens wehmütig und doch lächelnd sich enthob, im Café Benz, das damals noch nichts von einem Kabarett an sich hatte, mit der Schar den schwarzen, heissen Trank schlürfte, dann war dies kein Ende eines Festes. Es ging so weiter. Wer Zeit hatte, fuhr ins Isartal, die letzten Nachtnebel sich wegblasen zu lassen vom Bergwind. Wen es in Amt, Atelier oder Studier stube trieb, der ging ans Werk, als läge nichts hinter ihm. Ge schlafen hat keiner, frisch blieb ein jeglicher. So ging es Wochen durch. Bis mit dem Aschermittwoch das unvermeidliche, damals wirklich noch streng eingehaltene Ende die bunte Wirklichkeit umschuf zur grauen. Aber im Blut lebte sie fort und in den Sin nen, jene unbegreiflich schwellende, fruchtbare Zeit. Und sie hat nicht nur mich, sie hat viele, von denen ich weiss, mitgestal ten helfen. Und wie ist sie in mir geblieben. Wieviele Feste er stehen in meinem Gedächtnis!
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AMTSSCHIMMEL UND ZAUBERELEFANT EIN FAST GANZ WAHRES KLEINSTADTMÄRCHEN
»Kleinstadt« will hier keine statistische Bezeichnung sein. Die wäre nachweislich falsch, äusserst falsch. Es ist nur mehr ein Stimmungs- oder Stilbegriff. In dieser engen Riesenkleinstadt also trat ein Zauberkünstler auf. Er konnte alles Mögliche, was eben ein Zauberkünstler kön nen muss. Aber er konnte auch etwas ganz Besonderes. Er hatte nämlich einen Elefanten bei sich, einen richtigen ausgewach senen, lebendigen Elefanten. Ein liebes, verständnisvolles Tier. Gross und mächtig, die kleine Bühne fast ausfüllend, stand der Elefant neben seinem Meister, jedermann aus dem Publikum durfte sich, denn er war ja ganz zahm und menschenfreundlich, durch Abtasten, Rüsselkrauen oder ähnliche Feststellungsmetho den von seiner Wirklichkeit überzeugen. Und diesen Elefanten brachte der Zauberkünstler zum Verschwinden. Wirklich und wahr, zum restlosen Verschwinden. Er hielt ihm ein schwarzes Tuch vor, hokuste und pokuste ein wenig herum, und wenn er alsdann das Tuch fortzog, war kein Elefant mehr da. Also ein ganz erstaunliches Zauberkunststück. Dennoch aber: diese schier unglaubliche Elefantenverflüchti gung zog nicht recht. Trotz beifälligster Hinweise in dem gelesensten Tagesorgan der Riesenkleinstadt wurde sie keine Sen sation, nichts was man gesehen haben musste. Der Zauberkünst ler rang die Hände. Wie konnte man die Augen der Riesenklein städter auf seine magischen Kräfte lenken? Er entschloss sich zu einem Rundgang durch die Strassen der Stadt in Begleitung seines lieben, verständnisvollen Elefanten. Ein guter Einfall! Doch um ihn zu verwirklichen, dazu bedarf es einer schwer zu erringenden Schicksalsgunst, der Polizeierlaubnis. Klopfenden Herzens, zu Schutzengel und Patronen flehend, kam der Zau berkünstler um diese Erlaubnis ein. Schriftlich und unter Ein haltung aller Formalitäten bezüglich Aussehen und Stilform solchen »Betreffs». Trotzdem blieb die Schicksalsgunst aus, denn Amtsschimmel und Zauberelefant vertragen sich zoologisch gar zu schlecht. -Die Organe der öffentlichen Sicherheit untersagten
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den Rundgang aus Gründen der öffentlichen Ordnung und um keinen Präzedenzfall zu schaffen, denn sonst könnte ja jeder kommen! Bekümmert probierte der Zauberkünstler einen zwei ten, dringlicheren Ansturm. Er beteuerte, es bestünde auch nicht ein Schatten leisester Möglichkeit eines Verkehrshemmnisses oder sonstiger Strassenverwirrung im Falle des Rundganges. Sein berüsselter Begleiter sei ein Muster an Sitte und Zucht, menschen-, tier-, auto-, tram-fromm wie nur einer. In den grossen Kapitalen beider Hemisphären sei der Rundgang anstandslos zugelassen worden, nie sei etwas vorgefallen, das versichere er auf seine Ehre als Zauberkünstler, und ausserdem könne sich die hochverehrliche Behörde der Riesenkleinstadt geneigtest er kundigen. Für ihn, den Zauberkünstler, sei der Rundgang ge radezu eine Lebensfrage. Auf diese Eingabe erfolgte überhaupt kein Bescheid. Behörden äussern sich nicht zweimal zum gleichen Betreff. Zumal fürs Polizeiamt der Riesenkleinstadt gilt das »Roma locuta est«. Und so entschloss sich der unglückliche Zauberkünstler, nachdem er mehrere Tage in vergeblichem Hangen und Bangen verloren hatte, zu einem ungeheuerlichen Schritt: er wurde persönlich vorstellig. Eines Tags erschien er, nachdem auf sein Anpochen ein barsches »Herein« an sein Ohr gedrungen war, in dem ge weihten Raume, zog die Tür hinter sich zu, trat vor den Tisch, hinter dem die drei Gewaltigen der öffentlichen Ordnung düster und amtsmienig sassen oder schrieben, oder verglichen oder ver sorgten, und brachte seine Bitte, sein Anliegen nochmals und mit den beweglichsten Worten vor. Schweigend, doch mit zusammengezogenen Brauen, liess man ihn ausreden. Als er geendet hatte und angstvoll gespannt auf die drei Machthaber blickte, da fiel von den Lippen des Obersten unter ihnen nur das eine, einzige Wort, das aber klang wie der Scherenschnitt der Parze, das Wort: »Nein!« Da aber wuchs die Gestalt des Zauberkünstlers. »Nun denn«, rief er aus, und der Atem flog ihm, »wenn alle meine Worte abprallen an Ihrer Amtsbrust, so sei es gewagt! Ich habe einen Fürsprech mitgebracht, der mag für mich zeugen.« Und er stürzte zur Tür, und er riss die Tür auf und durch das
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Türloch dehnte sich gross, Schlangenhaft und wellig geringelt ein grauer schnaubender Rüssel•, und der diesen Rüssel trug, der liebe, verständnisvolle Elefant, betrat langsam vorwärtswan delnd, schweren, doch federnden Schrittes das Amtslokal. Der Elefant das Amtslokal! Und er stand vor dem Tische der drei Gewaltigen, und sein Rüssel wogte wie segnend über ihren ge wichtigen Häuptern. Und die drei Gewaltigen erbleichten und behielten mit Mühe ihre Fassung, doch ihre Stühle schoben sich von selber nach rückwärts, und währenddem rief und beschwor der Zauberkünstler: »Meine Herren, hier haben Sie den soge nannten Störer der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Ruhe. Ich bin mit ihm«, und dabei strich seine Hand liebevoll über den Rüssel und die hochgewölbte Stirn, »mit ihm durch die beleb testen Strassen dieser verehrungswürdigen Stadt gewandert, jetzt, um die Mittagsstunde, wo der Verkehr doch auch in Rie senkleinstädten« (dies Wort gebrauchte er wohlweislich nicht!) »ungeheuer ist. Sie selber wissen, welche Strassen ich passieren, welche Plätze ich überqueren musste bis vor dies Kastell der öffentlichen Ordnung, und dann hab ich mit meinem lieben Elefanten die drei Treppen ersteigen müssen, ich habe ihn allein warten lassen müssen vor Ihrer Tür, meine Herren - und was ist vorgefallen? Haben Sie, meine Herren, die alles augenblicks erfahren, fast noch ehe es vorfällt, haben Sie irgendetwas ge merkt von meinem Bittgang, haben Sie irgendeine Meldung er halten in Sachen unerlaubter Elefantenpassage? Ihren Mienen seh ich es an, meine Herren, die in diesem Augenblick nicht mehr ganz Amtsmienen sind. Sie sind gerührt, ich habe Sie über zeugt, das Faktum spricht für sich und nun, meine Herren, nun verstatten Sie mirs und ich darf ihn machen, den höchstbehörd lich zugelassenen Rundgang, ich und mein Elefant. O wie dank ich Ihnen in diesem Vorgefühl!« Ach, auch ein Zauberkünstler ist nur ein Mensch, und sein Füh len irrt wie sein Denken. Unisono donnerte ein vielfaches »Nein« von drei gewaltigen Lippenpaaren, und der oberste Amtsherr raffte und straffte sich zusammen und dekretierte und gebot: »Sofort auf dem kürzesten Wege nach Haus mit Ihrer Bestie! Die Behörde wird sich überlegen, ob sie Ihnen auf diese uner-
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hörte Frechheit hin die Konzession zu entziehen hat. Auf jeden Fall zahlen Sie dreihundert Reichsmark Ordnungsstrafe wegen grober Ungebühr und sämtliche Kosten!« Der schwergetroffene Zauberkünstler und sein Elefant kamen ebenso unbehelligt heim, wie sie hergefunden hatten. Ob Wun der mitwirkten, wissen wir nicht. Wir fragen auch nicht, wie wohl ein Kadi unter Harun al Raschid auf solchen Evidenzfall reagiert hätte, dies Märchen spielt ja nicht in Bagdad, sondern in Derwischadbad, wie der unvergessliche Fallmerayer die Rie senkleinstadt zu nennen liebte, weitab von der Weisheit des Ostens und seinem milderen Lächeln. Denn eines beweist dieses Märchen und das erbaut, befriedigt zur Genüge, ja das ist auch Wunders genug: unsere Behörden bestehen, wo es sein muss, aus Spartanern oder alten Römern, würdig jeglichen Heldensanges oder eines Kapitels Plutarch.
Heilige Narretei SAMMLER- UND BÜCHERFREUDEN
BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER
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SAMMLER- UND BÜCHERFREUDEN
HEILIGE NARRETEI MÜNCHNER SAMMLER -ERINNERUNGEN
Mit dem Sammeln ist es eine sonderbare Sache. Wer sich dieser meist sehr merkwürdigen Neigung oder Leidenschaft ergeben hat, ist wie von einem Dämon umgetrieben. Natürlich nach Maassgabe seines Temperaments. Auch auf dem Gebiete der Pas sion gibt es ruhige, bedächtige, beherrschte oder aber erglühende, impulsive, leicht hingerissene Charaktere. Diese Unterschiede der Gemütsart zeigen sich nicht nur in der Weise, wie dem Hange gefrönt wird, sondern auch sehr in den Gegenständen, auf die er sich richtet. Das Sammeln von kunstgewerblichen Gegen ständen, von Stoffen, Fayencen, Metallarbeiten etwa, setzt, ne ben den in jedem Falle unumgänglichen Sonderkenntnissen auf dem betreffenden Gebiete, dem sicheren Auge und der willens kräftig zugreifenden bland, ein gedämpftes gleichmässiges Wei terschreiten voraus. Das Bücher-, Bilder-, Kupferstichsammeln, aber auch das von Münzen oder gar Briefmarken hat dagegen etwas Aufpeitschendes, Atemberaubendes - wenigstens wo es nicht, wie bei der heute freilich überwiegenden Anzahl von Ver kaufssammlern, mit aus händlerischen Gründen betrieben wird. Hier ist natürlich nur vom echten Sammler die Rede, einer nun mehr und mehr zurückgedrängten Spezies Mensch. Das Interesse, der Wunsch, zu besitzen, zu vervollständigen, die Jagd nach und die Freude an dem einzelnen Stüde sind bei einem solchen Samm ler rein persönlicher Natur. Er denkt nicht an Verwertungs möglichkeiten, augenblickliche Moden, ja er flieht diese sogar, freut und müht sich, ganz besondere, nur ihm begreifliche Eigen gebiete zu erlangen und zu vervollständigen. Eines solchen rich tigen Sammlers Sammlung wird somit ein Bild seiner Persön lichkeit, seines inneren und äusseren Daseins, ein aus lauter fremden Objekten zusannnengefügtes eigenes Lebenskunstwerk. Dies freilich nur, wenn der Betreffende sich nicht gar zu sehr spezialisiert hat, wenn er über die einfachen Kategorien der
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vollständigen Reihe, »tadelloser Zustände« usw. hinaus, mit einem tieferen Blick in Materie und Einzelstück sein Werk ge wissermassen durchglüht. Jener mir bekannte norddeutsche Sammler z. B., dem es gelungen ist, eine fast lückenlose Reihe aller Trambahnfahrkarten aus aller Welt und seit dem ersten Aufkommen städtischer Pferde- und Dampfbahnen bis heute zu sammen zu bringen, hat gewiss eine stattliche Arbeit geleistet, die viel Umsicht, Energie und Zielbewusstsein verlangt. Aber niemand würde wohl behaupten, dass aus diesem wunderbar nach Ländern, Emissionen, Fehldrucken geordneten Blättern und Blättchen sich etwas über das Wesen ihres Besitzers ent hülle. Es ist ja reizend, mit einem solchen Spezialisten gelegent lich zu plaudern, sich von ihm in die Geheimnisse und Irrgänge seines Reviers einführen zu lassen. Gerade das Bewahren und Aufstapeln eines solch vergänglichen, vom Käufer niemals be achteten Stückleins, für das sich eigentlich nur Kontrolleure und - Schwarzfahrer interessieren, hat etwas Unheimliches. Derlei Augenblicksgeburten, der Vergänglichkeit liebevoll und kauzhaft entrissen, haben etwas von dem Duft an sich, der geöffneten frühen Gräbern entsteigt, gerade ihre Wertlosigkeit ergreift, beklemmt und fesselt in einem. Als ich aber einmal mit dem Urund Vorbild sämtlicher Sammler, dem tausendfache Gebiete zu gleich überschauenden und pflegenden berühmten »Könige der Dult«, von dem noch weiter zu sprechen ist, über den »Stachus« schritt, unserm fast grossstädtisch belebten Verkehrsknoten punkt, er sich plötzlich aus meinem Arm löste, das lebhafte Fach gespräch unterbrach und sich mit den finderglückgesättigten Worten »wie lange suche ich schon danach« nach einem ver schrumpelten Papierfetzchen mitten am novemberglitschigen Fahrdamm bückte, da sah ich doch tief erschreckt den Freund seine fast feierliche Handlung ausüben. Und als ich dann erst noch erklärt bekam, er habe nun endlich den nur einen Tag lang vor etwa sechs Wochen in Gebrauch gewesenen Fehldruck, ich weiss nicht mehr welcher Münchner Trambahnbillettreihe ge funden und werde das Kleinod sofort jenem Fahrkarten-Fafner schicken, da überlief es mich doch schaurig vor diesem Liebes bund von Leidenschaft, Wissen und Wahn.
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Aber trotzdem, ich kann mir nicht helfen, solche Spezialraffer leben eigentlich »wider die Natur« menschlichen Sammelns. All gemeingültigkeit, Schönheit, innerer Umfang, mit einem Wort Daseinsfülle, geschichtliche Bedeutung müssen ein Objekt und seine Gruppe hervorheben aus Alltag und Zufall, auf dass die Beschäftigung mit ihm einem Sammlerleben Inhalt, Farbigkeit, Würze verleihe. Ich will keinen Philatelisten, keinen Briefmar kensammler beleidigen, rede und fühle, da ja jedem Narren seine eigene Kappe gefällt, vielleicht zu parteiisch vom eigenen Stand punkt aus, bin eben selber in der Hauptsache Büchersammler aber bei allem anerzogenen Verständnis für die Liebe zum Klei nen kann ich mich, und kann meines Erachtens ein ausgewachse ner Sammler sich nur an Gegenständen richtig begeistern, aus denen schaffendes Menschentum oder der Hauch der Geschichte wirklich und unmittelbar sich äussern, nicht nur beiläufig oder halb verhüllt. Und ich glaube, es muss jedem aufs Sammeln ge richteten Menschen so ergehen, wenn er in München lebt oder in Paris, oder wenn er, in freilich zurückliegenden Tagen, die Stätten alter Kultur, Italien, Spanien, den Orient oder gar die Wunderwelt Ostasiens durchstreift hat. In unserem Europa ist allerdings Paris, in dem alle Zeitalter in Denkmälern und Resten noch vorhanden, greifbar fast lebendig nahe sind, von jeher die Zentralstätte des Sammelns gewesen und geblieben. Entgegen allen Unkenrufen, es sei auch dort vorbei, strömen in Paris heute noch alle Schätze und Leckerbissen vergangener oder entlegener Zonen zusammen oder sind seit Jahrhunderten aufgestapelt, kommen nach den Gesetzen des Wechsels durch Überdruss, Erb gang oder Verarmung immer wieder auf den Markt, schmücken und füllen die grossen und kleinen Lager und Magazine bis zu den ärmlichsten Ständen, Buden und Karren hinab. Denn es ist so: Unverständnis und die Götter des Zufalls lassen in Paris im mer noch die begehrenswertesten Dinge sich in die Winkel ver irren, aus denen die Wünschelrute des begnadeten Suchers sie her vorzieht. Wer sammelt in Paris nicht! Die Freude am Alten, Ge wesenen, der Reiz des Seltsamen und Entrückten, der »Eros der Ferne« in jeglicher Gestalt und Spiegelung, vor allem und allen der naive Schönheitssinn sind dort Erbgut der ganzen, sonst so
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nüchtern rechnenden Bevölkerung. Dem Bedürfnis entsprechen die Angebote, und so ist Paris ein unerschöpflicher Jagdgrund fürs Sammeln jeglicher Art. Was habe ich, freilich vor dem Krieg, nicht alles dort gefunden, sogar an deutschen Büchern, Kupferstichen, Handzeichnungen! Und ist nicht die glänzendste Schilderung eines richtigen, alles umfassenden unspezialisierten Antiquitätengewölbes in Balzacs Meisterroman »Das Chagrin leder« zu lesen? Wie sich dort alles staut, übereinandertürmt, Stoffe, Rüstungen, Kristallkannen, Prunktische, kostbare Manu skripte darauf den Weg versperren und das Auge verwirren, so ist in manchem Betracht Paris heute noch Stapelplatz und Schatz haus von allem, was es zu sammeln gibt. Aber neben ihm, in sei ner Art nicht minder reich und in vieler Beziehung freundlicher, heimeliger, jedenfalls unserem deutschen Empfinden näher, stand und steht München als die Stätte, wo das Sammeln gedeiht und Freuden weckt. D er Altwarenhandel, der Vertrieb von gebrauchten Stücken und »Speicherkram« hat in München und nur in München eine ge wisse Weihe. Der Schönheits- und Farbensinn des bayerischen Stammes, der Genuss am Putz, an Schmuck und Buntheit auch des täglichen Lebens, die alle Einzelheiten des Daseins durch wir kende, verklärende Macht des Kultus schufen seit Jahrhunder ten eine Überfülle von Ausdrucksformen, wirklich für jeder mann aus dem Volk! So wurde denn von Generation zu Genera tion eine unendliche Masse vielfältigster Einzelheiten erzeugt, und wenn auch das meiste dem Gesetze der Vergänglichkeit fol gend wieder verschwand, so war doch die Zahl des Geschaffenen so gross, manchmal auch die Anhänglichkeit am Überkommenen von Kind und Kindeskind bei diesem konservativsten, beharrendsten aller deutschen Stämme so stark, dass noch unendlich vieles da war, als die Freude am Sammeln auch der kleinen und un scheinbaren Zeugnisse der Vergangenheit erwachte. Diese Freude erstand schon bald im ig. Jahrhundert im Gefolge des romantischen Interesses am ungeschiedenen Gemeinleben, der Liebe zu allem Volkshaften in Brauch, Sitte und Lied, und so vernehmen wir früh und vielfach wie Münchens Gassen von Liebhabern suchend durchstreift wurden, wie der, wenn auch
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nicht älteste, so doch berühmteste aller europäischen Altmärkte, die Münchner »Dult«, dreimal im Jahre die in der Zwischenzeit von den Fieranten oder Tändlern, den Kunsttrödlern erstöberten Schätze dem Verlangen darbot. Vorab die eigentlichen Bür ger und Hauptgestalten der werdenden und sich vollendenden Kunststadt, die Maler und Bildner suchten und fanden auf diese Weise, was sie zur Ausschmückung ihrer Werkstätten bedurften. Heute, wo das Atelier mehr und mehr zum reinen Arbeitsraum geworden ist, höchstens mit einer Tee-Ecke für Geschäfts- und andere Freunde, und an dieser Stelle eher zweckhaft, heute ahnt man nur noch aus den Schilderungen überlebender Grosspapas oder aus den Künstlerromanen des vergangenen Jahrhunderts, wie solch eine Malerhöhle ehedem aussah. Manchen derartigen Raum habe ich noch gekannt, in dem der täglich zunehmende, selten vom Wischtuch belästigte Staub der Zeiten über wurm stichigen Schränken, wunderlichen Wackelstühlen, auf schleissigen Messgewändern, zerfressenen Sofakissen und Bauern kostümen sich wohlfühlte, während ringsum verbeultes Zinn, grell bemalte Bierkrüge, besonders aber eine Unmenge von Holz figuren und geschwärzten Bildern den Raum mehr beengten als belebten. Es war ein heimlich-unheimliches Durcheinander, in dessen Mitte sich der häufig noch sammetbejackte Meister schier kaum bewegen konnte. Aber, das muss gesagt werden, immer war es behaglich in einem solchen Malepartus, immer fühlte man, so zufällig auch alles zusammengetragen schien, die beson deren Neigungen und Wünsche dessen, der sie so zu seinem künstlerischen Inspirations- und Tätigkeitstempel hergerichtet hatte. Und noch etwas: so wie diese aus allen deutschen Gauen, ja aus aller Herren Länder hier zusammengeströmten Malers leute alle zu Münchnern wurden, etwas vom Wesen dieses Volks tums in sich aufnahmen, ja in gewissem Sinne weiterbildeten, so sind sie es auch gewesen, die mit ihrer rein sinnlichen, so gar nicht wissenschaftlichen Lust am Alten uns vieles, unschätzbares Gut der Vergangenheit vorm Untergang schützten und damit eine Überlieferung aufrecht hielten, die sonst in den mehr und mehr sich veräusserlichenden, nur aufs nächste und praktische gerichteten Zeitläuften kaum sich hätte bewahren lassen. Und
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die, ohne jedes System, einfach nach »malerischen« Gesichtspunk ten vorgehend, die Freude am Sammeln in weite Kreise Mün chens getragen haben. Was auf diese Weise einmal gerettet war, ging gemeiniglich nicht mehr verloren. Wenn einer starb oder fortzog oder - ach wie oft! - verschuldete, so kam sein Nachlass gewöhnlich in irgend einer Form auf den Markt, entweder zu den Kleinhändlern, oder es gab eine jener berühmten Versteige rungen, von denen zu erzählen heute wie ein Märchen klingt, obwohl sie noch ein erkleckliches Stücklein bis in unser Jahr hundert hineinreichten. Sie fanden manchmal im Atelier selber statt, manchmal, wobei dann meist mehrere Nachlässe zugleich verhämmert wurden, in einem jener altväterischen Auktions häuser, deren Besitzer, halb Künstler, halb selber Sammler, sehr wenig vom Kaufmann, aber sehr, sehr viel vom Kenner und vom Freund ihrer Stammkunden an sich hatten. Der alte Mössl! Er war der Prototyp dieser ganzen Klasse scharf äugiger und warmherziger Vermittler zwischen altem Gut und neuem Begehr. Ursprünglich Maler, auf der Akademie gebildet, war er durch seine Schwärmerei für alles Alte von der hohen bis zur angewandten Kunst zu seinem Berufe gekommen. Da sah man ihn denn inmitten seiner Verkaufs- und Versteigerungs räume im Herzen Alt-Münchens, am »Rindermarkt«, mit Lust, Würde und prächtigem Humor seines zeitgeschichtlichen Amtes walten, den hochgewachsenen Mann mit den ausdrucksvollen Zügen, den hellen Augen und dem schneeweissen Künstlerbart. Man fand alles mögliche bei ihm, eigentlich nur gute und echte Stücke, denn er verstand sich auf sein Fach wie nur einer, hatte, allbeliebt, Beziehungen und Zutritt nach den verschiedensten Seiten in Stadt und Land. So war es denn eine Freude, mit be wunderndem Betasten, Hin- und Herrücken, Schauen, Schmö kern Stunden um Stunden der damals noch billigeren und eben darum köstlicheren Tageszeit zu verbringen. Eine Art Kultus aber war es, einer Mösslschen Versteigerung anzuwohnen. Ach, sie sind dahin, dahin mit ihrem nun schon lange im biblischen Alter entschlafenen Veranstalter und Dirigenten! Aber was wa ren das für Gelegenheiten und wie sagenhaft billig alles, was es da von Schätzen gab. Zuschläge habe ich erlebt, die fast Ge-
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schenken an den Ersteigerer gleichkamen. Soviel ich mich ent sinne, handelte es sich fast ausschliesslich um Kupferstiche und Handzeichnungen, die, in umfangreichen Katalogen aufs ein fachste aufgeführt, alle Sammlerherzen Münchens lebhafter po chen liessen und in mehrtägigen Sitzungen in die Kennermappen abflossen. Da sassen sie, alle die würdigen, einander und der ganzen Stadt genau bekannten Häupter des Münchner Sammelns. Akademieprofessoren (oh Altvater Seitz!), hohe Beamte, Kauf leute und mitten und wohlvertraut unter ihnen manch tüchtiger Handwerksmeister, der seine spärliche Musse durch die verständ nisvolle Freude an Kunstblättern vergeistigte. Man achtete sich gegenseitig, trieb einander nicht hoch, war verhältnismässig neidlos, gönnte auch dem Nebenmann etwas und war gottlob völlig unberührt von »Kippemachen« und ähnlichen Tricks und Mätzchen des modernen Auktionsbetriebes. Ein Hauch des Be hagens und der Beruhigung umfloss den ganzen Vorgang, man spürte, man sass unter freundlich gesinnten Kollegen, die den noch Kenner waren. Die wunderbarsten Stücke kamen da oft zum Aufruf. Jeder, wirklich jeder, der Anfänger wie der Gross sammler, der Spezialist wie jener, dem es auf Muster und cha rakteristische Erscheinungen aus allen Gebieten ankommt - alle kamen zu ihrem Recht. Ich glaube, kein Mensch ist je aus einer solchen Mössl-Auktion unbeglückt die Treppen hinabgestiegen. Ein Beispiel für die schwindelnde - Niedrigkeit, in der sich da mals die Preise bewegten. Eines Morgens betrat ich etwas ver spätet, denn es war Fasching und der Schwabinger Bauernball erst seit sehr, sehr wenigen Stunden vorüber, die heilige Auk tionshalle, und was wurde vor meinen erschütterten Ohren ge rade vergantet und, während ich noch in der Tür stand, ach, einem anderen zugeschlagen? Rembrandts herrliches Helldun kelblatt »Die Kreuzabnahme bei Fackelschein« im alten Abdruck mit Rändchen und im herrlichen frühen Zustand. Ich liess mir das Exemplar, nachdem ich wieder zu mir gekommen war, vom beseligten Ersteher herzeigen und bewunderte es aufrichtig, um so mehr als es, wahr und wahrhaftig, für elf Mark in seinen Besitz gekommen war! Und solche Fälle waren durchaus keine Seltenheit, ja sie häuften sich, wenn es sich um mittlere Namen
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und spätere Epochen handelte, llandzeichnungen z. B. der deut schen romantischen Maler, hauptsächlich natürlich der Münch ner, gelegentlich aber auch der Düsseldorfer und Dresdner, tauchten oft in Scharen auf. Gar nicht selten kamen schöne Blät ter Meister Schwinds vor und ich erinnere mich, dass einmal allerdings nicht bei Mössl, sondern bei Maurer in der Schwan thalerstrasse - ganz entzückende Entwürfe, Illustrationsmotive, Vorlagen und dergleichen von Neureuther, dem heute so ge suchten und schon von Goethe hochgeschätzten Künstler, kon volutweise versteigert wurden, zum Teil kaum Anklang fanden und nach Beendigung der Auktion an nachträgliche Interessenten (ich gehörte zu diesen) um ein Winziges abgingen. Überhaupt, was war nicht alles zu finden! Etwa tauchte bei einem kleinen Juwelier ein historischer Goldschmuck auf, so einmal ein ganzes Arrangement in entzückendster Goldschmiede technik aus dreierlei Gold, gelbem, grünem, rotem, Brosche, Ge hänge, Kettchen, Schieber, mit ausführlicher datierter Dedikation an Fanny Elssler, die Grossmeisterin der Biedermeier-Tanz kunst - und wurde um wenige Mark um den nackten Metallwert weiter gegeben. Auf ähnliche Weise konnte man zu altem Silber zeug, guten Augsburger Stücken des 18. Jahrhunderts zum Bei spiel, gelangen. Sogar Edelporzellan, Figürliches natürlich sel tener wie Gebrauchsstücke, Tassen, Kannen, Schalen oder Teller tauchten, oft in kompletten Serien, auf und kosteten meist erheb lich weniger wie mittlere Neuware. Hauptsächlich natürlich al tes Nymphenburg in manchmal hervorragenden Stücken und seltensten Formen, aber auch Wiener und Imdwigsburger Er zeugnisse kamen genug vor. Natürlich gab es auch, zumal unter den stets begehrten Einzelfiguren und Gruppen, Fälschungen in Hülle und Fülle: Auskennen musste man sich schon! Oder mit einem gewiegten Fachmann »tändeln« gehen, vor allem mit ihm, dem heute noch ungebrochener Kraft lächelnd seines liebens würdigen Berufes waltenden »Ohm Pachus«, dem Vertrauens mann aller Tändler, Händler und Sammler, der selber wohl der letzte Repräsentant des alten echten alles-sammelnden üniversaltyps ist: er der Hofrat und Ehrenkonservator Pachinger. Wer wie ich unter seiner Leitung zwar nicht ins Sammeln, aber
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in die sonderen Geheimnisse des Münchner Betriebs sich einar beiten konnte, der musste es zu etwas bringen, vor allem etwas Wirkliches lernen, neben der Freude am Finden und Erwerben die Hand schmeidigen, den Blick schärfen und das Wissen erwei tern. Geschichte der kunsthandwerklichen Techniken, Zünftieri sches, Volkskundliches, Religionshistorisches, alles das kam natur gemäss auf solchen Gängen zur Sprache. Und dies, diese Wissens erweiterung und -belebung gerade ist eines der Hauptmomente, das dem Sammeln und seinen Adepten einen über blosse schrul lige wenn auch unbedenkliche Liebhaberei weit hinausgreifen den allgemeinen, ja nationalen Wert verleihen kann. Kann, sage ich, denn ich denke natürlich nur an diejenigen Sammler, die über die blosse Auf speich erungs- oder Vervollständigungs oder Raritätensucht hinaus warmherzig und mit innerer Anteil nahme ihre Lust oder ihr Lüstchen büssen. Diese haben eine Art Mittleramt auszufüllen, sie sind Schaffner und Erhalter nicht nur des gewesenen Gutes, was ja von sich aus nicht gar zu viel zu bedeuten hätte, sogar hemmen, unnötig belasten könnte: son dern vor allem und im wesentlichen halten sie das Wissen um dieses Gut lebendig, lebendig auch ausserhalb der verschlossenen Türen der Fachwissenschaft, die im Grunde ja nur für sich selber da ist. Daher schreibt es sich, dass eine solche Privatsammlung trotz ihrem doch stets geringeren Umfang und meist erheblich minderen Wert wie die öffentlichen Museen so viel mehr an lockt, zum Verweilen reizt. Die ganze Liebe, das ganze Wissen, ja oft genug das ganze Lehensschicksal eines einzelnen auf seine Weise strebenden, ja einer Idee hingegebenen suchenden und ringenden Menschen - alles das atmet eine solche Sammlung aus. Selbst wenn es eine Spezialsammlung wäre, kann sie belehren und entzücken, auch denjenigen, dem die Materie als solche fremd ist. So kenne ich eine Sammlung von Zigarrenspitzen, also gewiss ein eng umgrenztes Gebiet, zudem zeitlich nicht sehr aus gedehnt, da der »Cigarro« spanischer Herkunft kaum weit ins 18. Jahrhundert zurückreicht - aber was lässt sich nicht alles daraus lernen und locken? Mode, wechselnder Geschmack, dandyhafte Eigenliebhaberei, Unterschied der Stände und Landstri che, solches und mehr kann man aus diesem oft anmutigen, oft
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bizarren Kleinzeug herausspüren, das kaum ein paar Glaskästen füllt. Wie echt vormärzlich, wohlhäbig und elegant zugleich, oft mit einem Stich ins Biedermännisch-Erotische, sind nicht die Altwiener Zigarrenspitzen! Sie, zugleich die Muster der ganzen Spezies. Zierlich geschnitzter Bernstein, Emaille (das schöne und berühmte, mit dem Berliner- und dem von Sèvres erfolgreich konkurrierende Wiener-Blau !), getriebenes oder gepresstes Sil ber, geschnitztes Elfenbein, reizendes Glasgebläse, vor allem aber das heute unpopuläre Urmaterial der Rauchkunst, der kleinasia tische Meerschaum, den alten Rauchergenerationen durch sein mitlebendes Verfärben des »Anrauchens« lieb und unentbehr lich: das sind die Grundstoffe für Kleinwerke, die den Geist einer ganzen Epoche in sich fassen, denen man förmlich noch anmerkt, wie und bei welcher Gelegenheit sie gebraucht, geführt, weggelegt oder zerbrochen wurden . . . Welch menschliche Leidenschaft birgt solch ein Gerät! Wieviel unheimliches Leben zittert darum, mit welchen Empfindungen fasst man es ins Auge, nimmt man es in die Hand! Besteht doch für den wirklichen Sammler, den wahrhaftigen Liebhaber des Gewesenen, der intimste Reiz eines jeden Objektes in seiner Ein zigkeit darin, dass es unabhängig von allem anderen eine eigene Vorgeschichte, gewissermassen ein eigenes Leben hinter sich hat. Mag eine Töpferei, ein Gewebe, ein Schmuckstück, ein Mö bel stilistisch oder gar in der Herstellung sich noch so oft wieder holen, ein Kupferstich oder ein Buch auflagenmässig so und so vielfach entstanden sein: jedes einzelne Exemplar ist eben da durch, dass es schon durch Menschenhände ging, Menschenschick sale teilte, irgendwie menschennah geworden, ein Stück durch pulstes Dasein. Hier liegt offenbar der eigentlichste, meist unbe wusste Antrieb zum Sammeln, und hier vielleicht auch der tief ste Grund, warum in München, dieser doch gewiss nicht ältesten aller deutschen Städte, soviel Gelegenheit zum Sammeln ist und soviel Lust daran. Denn München ist und bleibt nun einmal die menschlichste Stadt, der Ort, wo Einzelner und Gesamtheit, Na tur und Geschichte sich innig durchdringen und dauernd gegen seitig befruchten. Das Gewesene ist hier nicht vergangen, es wirkt weiter, bleibt uns in seinen Zeugnissen und Denkmälern
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vertraut. Eine Einrichtung wie die Münchner Dult mag sich unter dem Wechsel der Zeiten verändern, mag zurücktreten an Bedeutung, sie ist und bleibt dennoch ein Symbol für eben diese Zusammenhänge. Und ihre echten Vertreter und Beiehrer, die Generationen der wirklichen »Tandler«, die, zum Unterschied von den Trödlern und Althändlern anderer Städte, meist gauund ortseingesessener Herkunft sind, bilden in all ihrer An spruchslosigkeit, humorvollen oder groben Derbheit und ihrer oft staunenswerten Sach-Unkenntnis geradezu die Erscheinung eines Lebensprinzips. Mit der Unzahl der die Dult bespürenden, beschmökernden, manchmal nur bestreunenden Kleinsammler, manchmal der gleichen Art und desselben Kennerniveaus wie die Fieranten selbst, machen sie eine Familie aus, die sich unter einander kennt und auskennt, über das Geschäftliche hinaus viel, manchmal zuviel voneinander weiss, sich vertraut und misstraut und im ganzen trefflich verträgt. Freilich die ganz grossen Dult funde haben längst aufgehört. Sie sind, wie der wohl auch jetzt noch gelegentlich von einem glückstrahlenden Ignoranten ergat terte, aus armseliger Kopie bestehende »echte Leibi«, wohl auch ehedem vielfach legendär oder imaginär gewesen, obwohl seiner zeit doch einmal eine Biedermeier-Goldkette oder ein früh-mit telalterlicher Bronzeguss sich unter Altmessingkram verirrt hatte. Aber auch die so mühevoll zu durchklaubenden, oft so viel reiche literarische und wissenschaftliche Ausbeute in sich haltenden alten Leihbibliotheken aus kleinen bayerischen Pro vinzstädten werden selten und seltener. Überhaupt, mit Büchern ist es merklich anders geworden. Aber das ist ein Kapitel, so umfangreich und erregend, dass ich es heute nicht einmal strei fen will. Lassen wir seine Dultbestände von den grossen aus schliesslichen Bücherbuden wie jener berühmtesten des, leider, schliesslich doch einmal verstorbenen alten Huber, dieses pfiffi gen, selbst in seine Bestände vernarrten, Kunden und Käufer höchst ungleich, »individuell« behandelnden Sonderlings und Urgrobians für heute beiseite, ebenso wie den Hinweis auf die Bücher an den zahllosen Mischbuden, wo sich oft zwischen zer fetzten Schul- und Kochbuchbänden irgendein Prachtstück unterduckte. Lassen wir es für heute mit dieser Betrachtung
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des heiligen Sammelwahnsinns bewenden, an dem es uns ge lungen ist, wenn auch lächelnd, genug liebenswürdige und be deutsame Züge zu entdecken.
HOFRAT A. M. PACHINGER Eine immer mehr versinkende Zeit, eine Zeit der Herzinnigkeit lebendigen Bezuges von Heute zum Gestern und Ehegestern, eine Zeit der Hingabe ans Kleine, Zufällige und Verschollene, eine Zeit des Aufhorchens und Aufmerkens auf leise verhallende Stimmen aus Gräbern, Kellern, Gewölben, die Zeit, wo Volkslied und Volksbrauch, Volkstracht und Volksgerät in ihrer tieferen, fast magischen Bedeutung erkannt wurden und der Sinn der Sinnigen sich allem zuwandte was einmal lebensnah gewesen war: diese Zeit hat noch einen einzigen, in all ihrer Fülle und Liebenswürdigkeit sie darstellenden Repräsentanten unter uns Münchnern. Wer kennt ihn nicht, den König der Sammler, den Berater und Gefährten des Häufleins der Altertumsfreunde, ja ihren Führer, den grossen Kenner aller volkskundlichen, kultur geschichtlichen und Kunst-Antiquitäten Europas, den zum Ur münchner gewordenen Altbürgerssohn aus Linz, den jugend lichen Sechziger und Hofrat und »Ehrenpfleger« (des Germani schen Museums in Nürnberg) Anton M. Pachinger? Wie schön vormärzlich schon der Name 1 Behagliche Würde in seinem Klang wie in Wucht und Wuchs des Trägers, den auf seinen unermüd lichen Streifzügen, zumal durch unsere Altstadt, etwas vom Ab glanz wirklicher Lebensmission zu umleuchten scheint. Diese nun schon seit Jahrzehnten fast täglich unternommenen Gänge zu den Gewölben und Buden grosser und kleiner Althändler, wo er gutachtend, abwägend, Wert und Art bestimmend und immer dies und jenes fürs eigne Schatzhaus erntend, ein stets respektier ter, vielfach geliebter, hie und da (ich weiss warum) gefürchteter Gast ist, sind geradezu ein Stück Münchner Ortsgeschichte. Vor allem aber muss man Ohm Pachus, so nennen ihn die Freunde, in den grossen Gezeiten sehen, die wie die des Meeres oder wie der Passatwind regelhaft wiederkehren: wenn die Münchner Dult
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dreimal im Jahr als freilich verblasste, für ihn aber immer noch spendereiche Wunderwoche all seine Kraft, all seinen Spürsinn, sein Wissen und seine Zauberkunst ins Märchenhafte steigert. Den wotanischen Schlapphut schattig tief über dem spähenden Auge, wandelt er dann, gleichmütig scheinbar, in Wahrheit fast schlafwandlerisch entrückt, den »Objekten« zugewandt, so wie diese ihm - wirklich es ist oft, als verlangten die alten Stück lein, die Talismane und Zunftzeichen, die Schau- und Wall fahrtsmünzen, die handgezeichneten oder farbgestochenen Kunst blätter, das holzgeschnitzte Kleinwerk und die Liebesembleme und besonders das tausendfältige Waffengepränge aus Amors Arsenal vom Rokokostrunipfband bis zum antiken Schminktiegel zu ihm, dass seine verstehende Liebe ihr Dasein friste. Ja, ein Liebender ist er, unser Pachus, und die Freude am Alten, mit dem er sich kennerisch, wählerisch, sammlerisch umgibt - welch ein köstlich romantisches und doch so wohl verwaltetes Durch einander ist seine eigene Behausung - hat ihn allem Leben, auch dem greif-, fühl- und schmeckbarsten, nur näher gebracht. Wem von uns hat er nicht schon geholfen auf wissenschaftlichen, künst lerischen und manchen verschlungenen Lebenspfaden? Wieviele Museen hat er schon gemehrt und gehoben, manche selber einge richtet oder wissenschaftlich ergänzt! Denn wo, in welchem Al tertumsgebiet, wäre er nicht daheim? Ein universeller Spezialist - ach, vielleicht der letzte Polyhistor alles Gewesenen. Nur das offenste Auge, nur das wärmste Herz kann so vieles erspähen, so sehr für alles erglühen, was den Abglanz des Lebens, die geheime Würde und Würze des Gewesenen, Grabentstiegenen aushaucht. Und nur der hingehendste Fleiss kann diese Vielfältigkeit also in Reihen und zur Ordnung zwingen. Denn er, der kein Fach vertritt, dem zu den vielen schönen Würden und Titeln, mit denen die Anerkennung der Wissenden ihn geschmückt hat, die akademische noch nicht gekommen ist, hat der europäischen, zumal der deutschen Kulturwissenschaft ausserordentliche Dien ste geleistet, nicht nur durch Erhaltung und Sichtung der vor handenen Denkmäler, nein auch durch deren Bearbeitung. Seine vielfach verstreuten Abhandlungen und mehrere grössere Schrif ten, besonders aus dem Gebiete der geistlichen Volkskunst und
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religiösen Numismatik (darin er Hauptautorität ist), des volks tümlichen Heil- und Zauberwesens, dessen letzte Frucht sein im hiesigen Dreimaskenverlag erschienenes hochinteressantes Nach schlagewerk über »Talismane und Amulette«, und aus vielen verwandten Gebieten, sind an sich schon eine treffliche Mannes leistung. Aber weit mehr gerade beim Pachus gilt das was er lebt, was er liebt, was er konserviert, was er ist, er der echte »Ehren pfleger« und Ohm.
DIE ZIGARRENSPITZE Die Zigarrenspitze gehört mit Busennadel, Manschettenknöpfen, Stockgriff zu den wenigen Zierstücken, an denen sich der Schmuckdrang des europäischen Mannes während eines karg ge wordenen Jahrhunderts hat ausleben können. Älter wie dieses neunzehnte Jahrhundert ist ihre Geschichte ja nicht. Der »Cigarro« kommt erst, von Spanien aus verbreitet, nach achtzehn hundert auf, macht sehr bald auch im Norden der allbeliebten Tabakspfeife, wenn nicht das Feld, so doch den Rang streitig und verdrängt Schritt für Schritt, seine Beliebtheit steigernd, das ari stokratische Schnupfen, das in den Oberschichten nur noch in Gestalt der »Tabatière«, des über seine Verwendbarkeit hinaus noch jahrzehntelang verliehenen fürstlichen Cadeaus, ein charak teristisch leeres Parade- und Scheindasein beibehält. Und mit der Zigarre ist ihr Träger aufgekommen, die Zigarrenspitze. An fänglich ein einfacher, zum Knoten geschlungener Schlauch mit Glashülse, wurde sie rasch ein beliebtes Mode-Utensil, und der wandelbare, oft wankende, überallhin auslugende Geschmack des bürgerlichsten aller Jahrhunderte hat aus ihr einen Spielball ge macht, den die Laune der Langeweile, diese der Prunksucht und alle der Profitgier zugeworfen haben. Aber gerade darum spie gelt eine Sammlung von Zigarrenspitzen auch die ganze Zeit mit all ihren Zufällen, ist ein Stück physiognomischer Kulturge schichte, das, richtig belauscht und verstanden, weit über sich hinaus Ausblicke gewährt. Rein technisch muss man zwei Werkzeuge unterscheiden, die
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dem Raucher seinen Glimmstengel »näher bringen« sollen: die eigentliche »Spitze«, die sich zwischen Lippe und Zigarre ein schiebt, und den immer wieder eingeführten, dennoch nie ganz durchdrungenen »Halter«, ein möglichst leicht, oft sehr an mutig aus Draht gezogenes Zangen- oder Kneifinstrument, das die Zigarre umschliesst, deren Handhabung erleichtert und den Raucher der Gêne enthebt, sie direkt zwischen die Finger zu nehmen, was bei den Elegants des Riedermeier nicht als comme il faut gegolten hätte. Diese »Halter« sind gewöhnlich aus Silber, manchmal aus Gold gefertigt, die Kneifzange daran oft in der in den dreissiger und vierziger Jahren so beliebten Krallenform. Aber wie gesagt, sie sind nur eine Nebenprovinz im grossen Reich der Zigarrenstützen, ja ein halber Zwitter zwischen Spitze und Menschenhand. Einen wirklichen Sinn hat nur die Spitze und zwar einen dreifachen. Sie soll, dem Pfeifenrohre nahe verwandt, den Brand gleichmässig machen und den Rauch kühlen, weiterhin soll sie die Zigarre selbst den Lippen fernhal ten, deren Zerstörung beim Rauchen verhindern und schliesslich die lästige Nikotinwürkung dämpfen. Auf den heute im wesent lichen gegen die Spitze entschiedenen Streit der Meinungen, ob diese Absichten und ihr Erfolg nicht dem wahren Zigarrengenuss abträglich seien, das süss erklommene Aroma und den wahren Rauchgenuss nicht störten, kann ich mich hier nicht einlassen, so verlockend es auch wäre, das Für und Wider aneinander zu messen. Nehmen wir die Tatsache »Zigarrenspitze« schlechthin als gegeben, so sehen wir zunächst, dass sie, in ihrer ange führteren Gestalt gewissermassen eine konzentrierte Tabaks pfeife, in kleinerer und zierlicherer Erscheinungsform dagegen mehr ein blosses gestrecktes Pfeifenmundstück, dieselben Her stellungsstoffe bevorzugt wie ihre umfänglichere Schwester: vor allem den edlen Bernstein, den kleinasiatischen Meerschaum, dann etwa Metalle, Porzellan und Hartholz. Als für die Zigar renspitze allein verwandt könnte man vielleicht Glas und Elfen bein aufführen. Die übrigens nie ganz aus der Mode und dem Gebrauch ent schwundene, trotz ihrer Fragilität durch leichte Reinigungs möglichkeit und Anmut sehr sich empfehlende Glasspitze, war
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eines der Lieblingsmaterialien der frühesten Spitzenzeit, im Em pire bis gegen die dreissiger Jahre in vielen Formen vertreten, meist klein bis mittelgross von Umfang, doch auch manchmal, die Gefahr des Zerbrechens erheblich mehrend, ins Gigantische gedehnt. So besitze ich in meiner Sammlung ein aus den frühen dreissiger Jahren stammendes Riesenobjekt dieser Art, fünfzehn Zentimeter lang, violettes böhmisches Glas, in schlanker, wenig nach dem Mundstück zu verjüngter Kelchform, von mehreren Knäufen unterbrochen. Meist aber waren die Glasspitzen sehr kurz, geblasen (erst in den achtziger Jahren kommen als Kurio sum schwere geschliffene Kristallstücke auf), manchmal geriffelt, manchmal zierlich bemalt, meist dunkelfarbig, in blauem, lila oder Bordeaux-Ton. Auch das opalisierende Eisglas kommt vor. Ebenso natürlich Porzellan, wenn es auch nie als edles Spitzen material gegolten hat. Die zentralen Stoffe wurden bald und blieben eben Bernstein, Meerschaum und Silber. Die Silberspitze, mit ihr zu beginnen, bei der das Mundstück ausnahmslos aus anderem Material bestand, aus Bein oder Bern stein, ist trotz ihrer Schattenseiten, vor allem der Schwierigkeit, das Metall blank zu halten, das ganze Jahrhundert durch im Ge brauch geblieben. Alan hat sic ganz besonders gern figürlich aus gestattet, manchmal, wie bei einem Herrenartikel natürlich, und bei diesem nach Stammtisch und Abendbehagen rufenden in oft recht unbelasteter Freiheit, mit an- beziehungsweise auszüglichen Motiven, welche für die noch ungeschriebene Geschichte des Spiesser-Eros weidliche Beiträge liefern könnten. Neben solchen und ähnlichen Einzel- und Gruppendarstellungen zierte die Silberspitze wohl auch ein Hirt mit Proben seiner Herde; ja ganze Landschäftchen, silbergepresste Häuschen mit allerlei Bei werk sind mir schon vor Augen gewesen, Zeugnisse sowohl der zunehmenden Wanderlust wie des wachsenden Ungeschmacks. Erst gegen die fünfziger Jahre stellt sich derartiges ein. Mit dem Meerschaum, dieser für den beschaulichen Raucher von jeher liebsten Unterlage fürs blaue Dünsten, verhält es sich ähn lich wie mit dem Press-Silber. Er ist so leicht zu bearbeiten, dass er die Phantasie förmlich herausfordert und hat wohl die um fangreichsten und oft grauslichsten Spitzenmonstren hergege-
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ben. Von der gerollten Riesenvolute über Blatt- und Ranken werk hinaus bis zu Figurinen, bei denen die Zigarre zwischen die gefalteten Hände oder gar ins Haupt oder gar - ich breche ab, gesteckt werden musste, Ross-Schnauzen, Fischmäulern hat so ziemlich alles herhalten müssen, nur ein Elefant aus Meerschaum ist mir als Spitze noch nicht begegnet (eine sehr hübsche, elefan tengekrönte, aus tief bernsteingelb abgedunkeltem Elfenbein, ein Stück der vierziger Jahre, besitze ich). Das Wichtigste beim Meer schaum ist ja seine herrliche Kraft, dem Rauch sich farbig einzuschmiegen, seine Blässe zu verlieren und mit wärmstem Gold- bis Mahagoni- bis Nachtbraun die beharrlich behagliche Mühe seines Anrauchers zu lohnen und zu künden. Wie geschaffen für Bieder meier und Konsorten! Dass mit der Zigarrenspitze die im acht zehnten Jahrhundert spärlich gewordene Kunst des Bernstein schneidens wieder auflebte, hat freilich nur eine Nachblüte, einen Altmännersommer gewissermassen, dieser besonders im siebzehn ten Jahrhundert so prächtig gediehenen Kleinmeisterei zeitigen können. Ich besitze einpaarWiener Stücke der Art, grosse, schöne, ausgesuchte Ambraknollen mit naturalistischen Motiven, einem Frosch, einer Mücke, einigem Blattwerk belebt, »mehr interessant als schön«, immerhin mit Liebe durchgeführte Arbeiten. Und jetzt kämen die Elfenbeinspitzen daran mit ihren bescheide neren Vettern aus Tierknochen, von denen die Röhrenknochen der Vögel oder deren Brustbeine, manchmal auch Kleintierschä del, ihrer symmetrischen und doch bizarren Gestaltung wegen oft ganz unbearbeitet zum Zigarrenträger geworden sind. Ein mal habe ich sogar das Sammlerglück gehabt, eine Spitze aus ech tem Menschenbein nicht nur zu sehen, sondern der Reihe meiner Muster einzubeziehen: das Schienbein einer Zirkustänzerin der fünfziger Jahre, das ihr trostloser Geliebter, ein ebenso senti mentaler wie skrupelloser Arzt, dem Grabe nicht gegönnt hatte. Schwer mit Silber beschlagen, wohl ausgebohrt, war dieser etwas kannibalisch abgewandelte »Becher von Thule« jahrzehntelang das einzige, und welch ein Mundstück dieses zärtlichen Materiali sten. Als er in meine Hände gelangte, war er, jeden Altmeer schaum hinter sich lassend, von tief dunkler Färbung mit vielen matteren Halbtönen flockig beflammt, ein echtes Weihestück,
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Sinnbild, und Dank einer ganz sonderlichen Eros-Abart, des amor fumatorius. Weiter kann es die Zigarrenspitze nicht bringen. Nehmen wir also angesichts dieser wunderlichsten aller Spitzen wieder Ab schied vom ganzen Spitzentum.
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BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER, BÜCHER
BIBLIAGOGIK ODERÜBERDEN ERZIEHLICHEN UMGANG M IT B Ü C H E RN Gelangt ein altes Buch erstmalig in den Besitz eines wirklichen Bücherfreundes, so kommt es gewissermassen aus dem natürli chen Zustand in den des Geistes. Ein der Willkür, Zufällen und Gefahren ausgesetztes Dasein ist abgeschlossen, liebende Pflege umgibt es, seinen Leiden wird Linderung, wo sie nicht völlig zu heilen sind, seine Tugenden und besonderen Gaben werden ge hegt, ja entwickelt - es wird nicht nur erhalten, sondern weiter gebildet, vervollkommnet. Sowie es dem echten Bibliophilen Freund, Kind und Geliebte ist, jedes einzelne seiner besonderen Zuneigung gewiss, wieviele es auch seien, jedes einzelne ein »nur Du!«, so kann man förmlich beobachten, wie Bücher zu sich sel ber kommen, aufblühen, schöner werden, wenn die richtigen Hän de sie ergreifen, das kennerische Auge, trunken oder lächelnd, über sie gleitet, oder wenn sie, ihrem Wartedasein entrückt, sich zu fühlen, ja zu erkennen beginnen, der schlummernde Rhythmus von Gehalt und Gestalt auflebend sich reckt und regt. Bevor indes das Buch solcherart aus der wilden in die wissende Sphäre erhoben werden kann, muss sein Besitzer selber jenen Grad erlangt haben, der ihn tüchtig macht zum Führer in dies Bereich. Zwar wird auch der wahre Bücherfreund »geboren«, aber wieviel muss dennoch entwickelt werden, dass er sich voll ende. Persönliche Erfahrung tut hier freilich ihr bestes, mancher Irrweg aber lässt sich durch Hinweis vermeiden, manche Leiden von Buch und Herrn tun nicht not. Das Letzte bleibt wie immer unlehrbar, die rechte Anwendung alles, und wie bei jedem Lie besspiel, das heiligen Ernstes Würde bewahrt, ist der Einzelfall nur sich selber gleich, nur aus sich zu bewerten, zu bewähren. Dennoch wagen wir es, auf einige Urgesetze zu deuten, eine Art ars amandi librorum aufzuzeichnen, die dem Bibliophilen im Verkehr mit seinen Lieblingen diene - während freilich auch hier das echte Kamasutram, die Satzungen des Geheimordens der
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Biblio-Erotiker, nur in undeutlichen Umrissen ahnbar wird. Wie billig, beginnen wir mit dem Aussen und betrachten die Pflege des Buchs von dem Augenblick an, wo es zu seinem Freun de übergeht. Hat man schon bemerkt, wie sich das ganze Gehaben des Sammlers wandelt, wenn ein Stück aus fremdem Besitz, händ lerischem, sammlerischem oder privatem, am Ende gar ahnungs losem, in den seinen sich wendet? Gewiss war er - von Schän dern, Stümpern, Banausen ist hier überhaupt nicht die Rede auch vorher schon, beim Ausproben oder Bewundern, achtsam und genau im Anfassen, Öffnen, Blättern. Aber wie zart greifen nun erst seine Fingerspitzen! War er nicht selber mit lind ge glättetem Seidenpapier versehen, oder ist er ohne samtgefütterte Tiefentaschen, so verfolgt er angstvoll und streng zugleich jede Bewegung der fremden buchumhüllenden Hand. Das Buch muss fest, aber darf nicht zu eng eingeschlagen werden, es soll in der Hülle sich nicht bewegen können und dennoch an Ecken, Kanten und vor allem den Rückenrändern nicht gepresst oder gar ge schabt sein. Ist es unumgänglich, einen Bindfaden um das ver packte Buch zu ziehen, so achte man peinlichst, dass dieser nicht zu stramm geknüpft werde, es könnten sonst auf dem Einband, oder bei broschierten Stücken oder gar solchen mit Büttenrand, Schnürmarken Zurückbleiben, Quetschungen, ja sogar Einrisse, also betrübliche, oft nur mit Narbenverbleib zu schliessende Wunden. Bei Büchern, die man von auswärts erhält, ist es gut, diese Einschlagregeln bei der Bestellung ausdrücklich einzu schärfen, damit die mit dem Packen betrauten gleichgültigen Lehrlingshände kein oder nicht zuviel Unheil anrichten. Zu Hause beginnen die eigentlichen süssen Pflichten. Hat man das Buch auch persönlich erstanden und durchprüft, so war das doch nur wie ein Ansprechen auf der Strasse, oder eine wenn auch ergebnisvolle Vorstellung im fremden Salon. Nun erst ist man »endlich allein!« Mit welchem zugleich gierigen und hü tenden Verlangen werden die Umschläge entfernt, die geliebten Wesen herausgehoben! Überraschung, Schmerz, Freude wogen durcheinander. Denn immer entdeckt man Neues, Unerwartetes, Übersehenes. Immer! Dies gehört zum Geheimnis des Bücher erwerbs. Schäden waren beim Ankauf irgendwie unsichtbar,
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Schönheiten, Reize von Erhaltung, Vorbesitz oder einem der tausend Wertdetails, mit denen ein Buch-Individuum behaftet oder ausgestattet sein kann, lassen ihre Schleier fallen. Aber noch bleibt der eigentliche Liebesgenuss verboten. Ein Buch ist wie eine Haremsschöne, die erst nach tausendfachem Zurüsten, geba det, durchknetet, besalbt, wohlausgeruht und mit zarten Wür zen sinnenhaft erschlossen, der Arme des Gebieters würdig ist. Bei uns sind liebender Grossherr und wissende Duenna ein und dieselbe Person, die das eine im andern wirkt und geniesst. Welcher Art diese geheimnisvollen Vorbereitungen sind? Sie sol len den Zustand des Buches, wo und wie es auch schadhaft sei, möglichst wiederherstellen und sichern. Falls es sich nicht um schlimme tiefergehende Blessuren oder Zerstörungen handelt, abgebrochene Buchdeckel zum Beispiel, die man notgedrungen einem im Verkehr mit alten Büchern geübten Kunstbinder über lassen muss. Alle Klein- und Feinarbeit aber besorgt der BuchAmant am liebsten selbst. Zu bessern, aufzufrischen ist der Zu stand fast jeden Exemplars, das unsern Händen sich vertraut. Bei den Lederbänden ist der obere und untere Rand ausgefranst und muss behutsam mit Fingerspitze und Pinzette, sowie einem mög lichst neutralen Klebstoff in seine rechte Lage gebracht, ange legt oder eingebogen werden. Auch das Rückenschildchen ist oft gelockert. Ähnliches hat an Buchdeckeln und besonders an Ecken und Kanten zu geschehen. Bei Halb- oder Ganz-Papierbänden ist meist noch ausgedehnter und noch segensreicher zu wirken. Ganz oder teilweise abgesprungene Rückenpartien frei lich können nur von sehr subtilen und erfahrenen Sammlerhän den selbst wieder dauernd gefestigt werden. Auch die Kapitäle der nicht auf echte Bünde gehefteten Bände sind meist gelockert und der Gefahr des Verlorengehens ausgesetzt, was dem Band einen sehr zierlichen Stirnschmuck rauben würde. Der eigent liche Buchkörper bedarf vieler Sorgfalt. Eingebogene Ecken müs sen vorsichtig zurückgebügelt werden, lose Seiten kann man ein kleben. Auch das meist abgerissene Lesebändchen ist wieder zu befestigen. Den sonstigen Zustand des Buchinnern ändere man tunlichst nicht, selbst Flecken sind schliesslich ein Teil der Ge schichte dieses Exemplars. Dagegen kann es keiner der Buchgöt-
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ter oder -Kobolde dem Sammler verargen, wenn er ein defektes Exemplar aus einem anderen ergänzt oder - ich bekenne mich selbst zu solchen frommen Fälsch erkünsten - etwa fehlende Schutzblätter vor Kupferstichen oder gar »Originalumschläge« hinzufügt. Als besonderen, geradezu huldigenden Schmuck eines Exemplars habe ich es immer angesehen, wenn ihm ein Auto graph seines Autors, womöglich ein auf das Buch selbst bezüg liches, mit oder ohne dessen Bildnis beigegeben werden konnte. So habe ich zum Beispiel meinem entzückenden Maroquin-Exem plar des kleinen Bodonischen Anakreon durch Einlegung eines ausführlichen Originalbriefs des Parmenser Königlichen Drukkers eine Spezialweihe gegönnt, und dies Beispiel öfters wieder holen dürfen. Doch dies gehört schon in das Kapitel von der lie benden Buchpflege. Bevor wir uns mit diesem eigentlichen In halt des Lebens mit Büchern befassen, noch ein paar Worte über die der Einordnung sonst noch vorhergehenden Wiederherstel lungen. Wie es mit dem meist unten stark bestossenen und ver klemmten Büttenrand unbeschnittener Exemplare zu halten sei, der nicht nur unschön aussieht, sondern auch das Blättern schwer macht, das ist nicht leicht zu beantworten. Mir scheint es am be sten, diesen Teil des Buchs bei vorsichtig zurückgebogenen Ein banddecken über warmen Wasserdampf zu halten, die feuchtge wordenen Büttenränder, wenn nötig einzeln, mit äusserster Vorsicht, am besten mit einem glatten Instrumente, in ihre ur sprüngliche Lage zu bringen und in diesem Zustande einer vor sichtigen, mehrstündigen Pressung zu unterziehen. Leicht ist es nicht. Viel einfacher und in allgemein bekannter Weise geht man gegen die Buchwürmer vor. Ob man bereits vorhandene Wurmfrass- oder Bohrstellen ausbessern lassen soll oder nicht, ist eine reine Geschmacksfrage. Mir kommt natürlich dies teure aber oft bis zur letzten Täuschung gelingende Verfahren wie ein unerlaubter Eingriff in die Individualgeschichte des Buches vor. Dem Fortschreiten solcher Schädlingsspuren aber Einhalt zu ge bieten, ist Liebespflicht. Die Behandlung der Missstände beson ders an den Buchdeckeln mit ätherischem Öle genügt hier voll auf ; im Notfall tut es sogar Petroleum. Die eingeführten Sub stanzen verflüchten völlig ohne irgend Reste zu hinterlassen.
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Damit hat das Vorzeremonial sein Ende erreicht. Das Leben des Buches bei seinem Freunde beginnt. Wie hat er vorgesorgt, dass es ihm wohlergehe in seiner Nähe, unter allen Umständen bes ser als vorher. Es kommt in einen Raum von möglichst gleich mässiger Temperatur, alle groben Schwankungen versehren, alles Harte, Grelle, Plötzliche schwächt das Buch. Im verschlos senen Schrank es zu bewahren ist nicht gut, zumindest müssen die Türen wöchentlich einmal auf Stunden geöffnet werden. Dumpfe Luft zehrt an altem Leder, macht es mulstrig, befördert das Wuchern von Schädlingen. Dörrende Zentralheizung ist ohnehin kein Vorteil für Bücher und andre empfindliche Exi stenzen, und die Heizkörper müssen möglichst entfernt stehen von allem Buchartigen. Ausgetrocknete Bücher werfen sich, spreizen auseinander, werden papier- und lederspröd. In Reih und Glied gestellte Bände dürfen sich nicht pressen, doch auch nicht zu locker gereiht sein, das eine bewirkt Quetschungen, be sonders am Einband und den eventuellen Bildbeigaben, das an dere kann dem Einband durch die in den Zeiten der Neu-Renais sance lächerlicherweise als »malerisch« empfundene Schieflage Gefahr bringen. Barbaren, die ihre Bücher doppelreihig stellen, sie also bei jedem Herausnehmen aus der hinteren Reihe den schwersten Unfällen preisgeben, ausserdem das dann oft unver meidliche Aufstossen von Vorderkante auf Rücken oder die Rei bung des Rückens an der Vorderkante unbeachtet lassen, die ge hören körperlich gezüchtigt. Ich selber - confíteor! confíteor! habe schon zu diesen Barbaren gehört. Die Bretter, darauf man die Bücher stellt, müssen spiegelglatt sein, um sie leichter staubfrei halten zu können, vor allem aber damit die aufstehenden Kanten unter keinen Umständen gerie ben werden. Bücher mit verzierten Stehkanten unterlege ich noch eigens mit Watte. Jedenfalls müssen sie auf gut poliertem Holz aufstehen. Schwer wird noch oft beim Herausnehmen eines Buches aus der Reihe gefehlt. Es wird meist einfach am oberen Rande angefasst und nach rückwärts geschoben. Dergleichen ruiniert natürlich je den älteren Einband in kürzester Zeit. Rückenkopf und -ansatz zerspleissen, der Schnitt, besonders Goldschnitt, wird stumpf, die
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unteren Kanten zerreiben sich und werden breitgequetscht. Ein Buch mit irgendwie wertvollem Einband packt man zunächst überhaupt nicht an. Man entfernt irgendeinen gleichgültigen Band aus der betreffenden Reihe, drängt die übrigen durch leich tes Aufnehmen und Beiseiteschieben von dem gewünschten Stück ab, so dass genügend Spielraum darum entsteht, man das Buch an beiden Deckeln zugleich tief anfassen, ergreifen und durch Hochheben in die Hand bekommen kann. Am besten, wenn auch schwer durchführbar, ist es, sich zu diesem Behuf eigens einen ziemlich umfangreichen, etwa zweihundert Seiten starken, völ lig wertlosen Band in jede Reihe einzustellen. Wieder eingefügt wird das herausgezogene Buch natürlich gleicherweise. Bekanntlich springen bei alten Papp- oder Lederbänden häufig die Rücken ah und sind nur schwer, auch von Fachleuten nur unter Minderung der Verwendbarkeit und Frische wieder zu befestigen. Alan kann dieser Senilitätserscheinung, die beim Pa pierrücken von zu leichtem Material, eventuell von der Verkrümelung des Kleisters, bei den Lederrücken von der Alters spröde herrührt, besonders dadurch vorbeugen, dass man bejahr tere Bücher niemals zu weit aufschlägt. In freier Hand am besten überhaupt uicht. Man bette das Buch auf eine geeignete Grund fläche, öffne es in einem Winkel von nicht über hundertzwanzig Grad und stütze den aufgeschlagenen Deckel durch eine Wider lage. Soll es geöffnet bleiben, so lässt sich dies auch bei dieser Sperrweite durch den gleichmässigen Druck einer sogenannten »Lesewurst«, eines nicht zu kurzen, mit Schrotkörnern halb straff gefüllten, am besten aus glättestem Sammet oder Atlas ge fertigten Beschwerers mühelos ermöglichen. Genug für diesmal! Ich könnte noch viel zufügen, möchte aber heut nur noch mahnen, dass man bei Büchern mit Schliessen be sonders achtsam sei, weil diese, wenn einigermassen knapp, leicht beim Offnen oder Zusperren an den Schnitt kratzen und häss liche Riefen, bei Büttenrand sogar Einrisse hinterlassen, und dass man die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert so vielfach beliebten, oft seidegewirkten Verschlussbänder, weil fast ausnahmslos morsch und mürb, am besten überhaupt nicht mehr knüpft, sondern gradgestrichen, doch nicht zu stramm ge-
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zogen zwischen Buchdeckel und Vorsatz einbreitet. Dasselbe ist bei gar zu knappen oder an gefährdetem Leder befestigten Me tallschliessen anzuraten, natürlich unter Sicherung des Ver schlusshakens durch einen Wattebausch. Es gibt noch andere Methoden, ich möchte nicht eigenmächtig entscheiden. Und nun, nachdem alles dies und noch manches andere, wie ein selbstverständliches Pflichtgesetz die Behandlung von Büchern moralisch geregelt hat, beginnt erst die eigentliche, die magische Bibliophilie, das Leben mit dem Buch. Soweit sich darüber et was aussagen lässt, so weit es erlaubt ist, von diesen wirklichen Liebesgeheimnissen den Schleier zu lüften, soll es zu anderer, gelegenerer Stunde geschehen.
BÜCHERFREUDEN Manchmal schon rührte ich an die Geheimnisse, die ein altes, ein durch andere Hände bereits gegangenes Buch umwittern. An sich Träger, Behälter geistiger Lebensäusserungen, aller Ehren wert, die man etwa einem lieben Boten angedeihen lässt, bekommt das Buch, je länger es seinem Zwecke diente, ein Eigenschicksal, wird es eine Individualität, nicht bloss im rein geschichtlichen Sinne des Einzelfalls. Sein Dasein, die Umstände, darin es sich befand und befindet, seine Besitzer und Leser, Art, Eifer und Liebe damit es benutzt wurde, Leben gab und erhielt, sie haben sich in Zeichen und Spuren oder auch ganz unmerklich daran ge heftet, es durch würzt und es für jeden fühlsamen Beschauer sinn lich-übersinnlich gewandelt, abgestimmt und geschliffen. Ein Buch, dem solches widerfuhr, besitzt eine wirkliche Existenz, ist in der innigen Beziehung zum Menschen menschlicher Lebenswerte teilhaft geworden, hat gelernt sich lieben zu lassen, ver gilt gute oder fühlsame Behandlung und sträubt sich gegen den plumpen oder gierigen Banausen. Der Umgang mit Büchern ist nur den wahrhaft Liebenden vergönnt und möglich. Es gibt einen echten Bücherkult, so wie es Frauendienst gibt und - sel tener vielleicht - Bücherhände gleich wie Weinzungen. Wahrlich! Hat man je den gebornen Buch-Amanten einen seiner
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Lieblinge ergreifen, nein nicht so - mit zärtlich bebenden Finger spitzen behutsam und kosend umfangen sehen? Hier spielt noch ganz was anderes wie ehrfürchtige Scheu vor kostbarem und leicht verletzlichem Gegenstand, hier spürt sich Leben an Leben heran, des Wagnisses bewusst, des Anschmiegens froh, der laut losen Schwebeflamme heimlichster Wollust gewärtig. In solchen Augenblicken ahnt auch der Ungeweihte etwas von den Selig keiten, die ein geliebtes Buch hold zu vergeben hat, dem freilich am süssesten, überschwänglichsten, der das so seltene, unerklär liche, gnadenvolle »Glück bei Büchern« hat. Einen solchen Erwählten scheinen die Bücher ebenso auszuzeich nen, ja anzuschwärmen, wie er sie. Nicht nur, dass sie sich auf stöbern lassen, einfangen lassen von ihm, sie werden auch besser um seinetwillen und durch ihn, »besser« im bibliophilen Wort sinn, sie entschleiern ihre seltensten Reize, sie freuen sich seiner Nähe. Leben um Leben! Ein Buchliebender erfährt unendlich viel mehr von Wesen, Gehalt, Schicksal jedes einzelnen Stückes wie der geschäftstüchtigste Händler oder der eifrigste gelehrte Schnüffler oder wie der kalte Amateur.Wie oft habe ich an einem Buche, einem auf dem gewöhnlichsten Wege erworbenen, Ge heimnisse entdecken können, gänzlich unbemerkt gebliebene. Da war an verschwiegener Stelle am unteren Seitenrand, hinten am Innendeckel oder im eingelegten Gedenkzettel, ein bedeutender Vorbesitzershinweis - erst kürzlich fand ich in einem mit Augs burger Farbstichen gezierten handschriftlichen Zopfgebetbuch apokryphe Reimverse »Jean Pauls«. Oder es birgt sich unterm verklebenden Vorsatz ein wertvolles Exlibris, so wie ich ein mal vor ein paar Jahren mein Exemplar der Schriften von Sturz als das David Friedländers, des freundlich wortreichen Mendelssohn-Sodalen, Aufklärers und Emanzipationsmaklers, mit dessen schönem merkurischen von Chodowiecki gestochenen Bücherzei chen entdecken konnte. Oder ein Einband lässt in der verschnör kelten Goldornamentik zwischen den Bünden ein rosenkreuzerisches oder Illuminaten-Siegel ahnen. Oder ein »unvollständiges« Exemplar, eines von jenen, an dem, den Göttern der Mysterien sei Dank, Normalsammler und »bessere« Händler, drei Kreuze schlagend, stierblöd vorüberstapfen, entpuppt sich als besonderer
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Zustand, Probedruck oder geschichtliches Dokument, dem die fehlenden Blätter, laut eines natürlich unbeachtet gebliebenen Vermerks von Staatszensur, oder den »Superis« oder gar den Summis, den Waltern der Inquisition entrissen wurden, oder aber die von einer edlen und bedeutenden Hand, einer nament lich zu erschliessenden, sorgsam nachgetragen wurden - und dem Buche wird dadurch mindestens in meinen Augen ein liebhaberisch besonderer Reiz, ja ein unvergleichlicher Ewigkeitswert verliehen. Kein Mensch wüsste, dass in den schon ausgedruckten Bogen der Erstausgabe der Hölderlinschen Gedichte von 1826 viele fehler hafte Seiten sich befanden, dass eine Anzahl Blätter neu gesetzt und als Karton eingefügt werden mussten, wenn ich nicht ein ungeheftetes Exemplar mit den durchschnittenen Fehlbogen besässe - und heute zum erstenmal davon spräche. Und ein recht fragmentarisches Exemplar des alten hochdeutschen Eulenspie gelbuchs, das ich einmal bei einem ebenso namhaften wie unver ständigen Antiquar erstand, entpuppte sich nicht nur als völlig unbekannte, dem verlorenen niedersächsischen Original am nächsten stehende älteste, vor dem in London befindlichen Druck von 1500 zu datierende, Urausgabe - sondern es hatte auch als Einzelstück eine höchst interessante Vergangenheit, geradezu ein Vorleben, war von einem gelehrten und viel berufenen Früh besitzer im achtzehnten Jahrhundert durch Blätter aus höchst seltener, späterer Jahrmarktsausgabe ergänzt und voller wichti ger handschriftlicher Notizen und Hinweise. Diesen wackeren und lobeswürdigen Buchgreis mit all seinen Ehrenmarken, Nar ben und Alterszeichen habe ich besonders ins Herz geschlossen, und er hat es mir noch letztlich vergolten, indem er mich an sei nem bescheidenen Rokokopapierband eine vorher übersehene, fast hätte ich gesagt, eigens auf gesparte Entdeckung machen liess, über die ich heute noch nichts sage. Ich könnte die Beispiele häufen wie Kjökkenmöddinger, aber die paar mögen ausreichen. Ich wollte ja nur beleuchten, welche Schätze und Wunder oft gerade unbeachteten oder gemiedenen Stücken entsteigen können und welche Genüsse man der zärt lichen, fühlsam eindringlichen Beschäftigung mit ihnen vielfach
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verdankt. Natürlich gibt es auch Exemplare, von denen der Buch liebende sich mit Abscheu wegwendet oder mit Entsetzen. Aus Mutwill, barbarischer Sammelgier oder Händlereigennutz zer fetzte, verstümmelte, gefledderte Leichen, die nur noch den Gna denstoss, das Einstampfen oder Verbrennen verdienen. Ein sol ches Sühnegericht habe ich oftmals vollzogen und wo es nicht anging, mich verhüllten Hauptes fortgeschlichen. Wie oft hätte ich in den Jahren der nun auch schon verebbenden Inkunabel hausse grössere oder kleinere böswillig misshandelte Scherben in Italien um ein Nichts erwerben können, einmal einen vollstän dig erhaltenen, breitrandigen, schneeweissen Neapler Früh druck, dem die, wie Reste und Ranken dartaten, aufs reichste miniierten Initialen rücksichtslos und dilettantisch dazu ausge schnitten waren, nach dem aber jeder Händler und smartere Liebhaber-Weiterverkäufer die Hände zu Ergänzungszwecken ausgestreckt hätte - aber mir drehte sich das Herz im Leibe her um, und da ich weder Bücher- noch Mädchenhändler bin, kam mir nur Ekel, aber kein Gedanke an lukrativen Erwerb. Also ich rede durchaus nicht dem »gebrauchten« oder gar schlecht erhaltenen Buche an sich das Wort, sondern ich sage: die wahre Sammelleidenschaft gelte dem lebendigen Buch! In Regeln fas sen lässt sich dies Gebot auf keine Weise. Wie alles nur gefühls mässig zu Erfassende schaut es in jedem Falle besonders aus, und seine Befolgung wird dem Zeitgeschmack und dem Charakter des Einzelsammlers entsprechend recht verschieden ausfallen. Das Leben der Niederungen mit seinem namenlosen Auf- und Abpulsen, die kleinen Freuden und Leiden von Alltag, Hütte und Funzellicht, das Wander- und Kriegsfahrerglück - was gibt es für wunderbarlich zersungene oder angeschwellte, süsslich nach Hexensalben duftende Lieder- oder Zauberbücher - alle die Zeugen und Zeugnisse der Winkel- und Winzigwelten, alles was seit dem Romantik genannten Wiederaufwachen des MenschlichVegetalen, geschichtslos Wuchernden, neu entdeckt, gleichsam neu erfunden wurde, birgt und bietet dem dichterischen Buch freund unerschöpfliche Wonnen. Sind doch in diesen Existenz breiten Buch und Heftlein, fliegendes Blatt, ungelenk beschriebe ner Heil- oder Abwehrsegen, Liebeszauber oder »festmachender
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Amulettzeddel«, ein Stück vitaler Funktion, gewissermassen Halm oder Schössling, Polle oder Wurzelfaser der tausendfältig zuckenden Lebensdämonie: in Herstellung, Vertrieb, Nutzung und Bewahrung völlig ein »Stück Natur«. Aber nicht einem je den aus der Schar unserer Liebenden behagt es in diesen panisch durchpulsten Untergründen. Ein anderer wird den Zeugnissen des Ideenkampfs, der geschichtlichen Krisen und Zusammen hänge oder menschlicher Einzelgrösse sich zuwenden. Auch er sei darauf bedacht, dass nicht nur das Werk, sondern die beson dere Form, in der er es gewinnt, das Exemplar, in sichtlichem Bezug zu Art und Wirkungsabsicht des Inhalts stehe. Wieviel lieber als eine meiner Hölty-Originalausgaben samt den gleich öder vorzeitigen »unechten« Drucken ist mir ein beschädigtes, sehr minderer alter Leihbibliothek entstammendes, Schmiedersches Nachdrucksbändchen, auf dessen zerrissenem Vorsatz Mörike, der das Exemplar dann mit einem Reimpaar weiter dedi ziert hat, seine Lieblingsgedichte aus dem Bande notiert und das er mit Strichen, Merkzeichen, auch mal mit launigem und don nerndem Ausfall gegen einen am Rande nörgelnden »alten Kanz leihengst« versah! Und wer hätte mir als Vorbesitzer meines Exemplars der Erstausgabe von Liebigs berühmten »Chemi schen Briefen«, diesem klassischen Beispiel echter Popularisie rung und Gemeinverständlichkeit und zugleich einem der wich tigsten Denkmale des »fortschreitenden« naturwissenschaftlichen Zeitalters, besser gepasst als Matthäus Müller im heiteren Elt ville, der rhein- und weinfrohe Grossbürger und Gründer der Sektfirma? Nur bei einer einzigen, engumschriebenen, gewissermassen ent rückten Gattung von Büchern und buchähnlichen Veröffentli chungen ist das Fehlen von Gebrauchsspuren, Lebens- und Ge schichtszeugnissen unabweisliche Not. Ich denke an Werke re präsentativen Charakters, Königs- oder Akademie-Editionen oder solche, die dem Sondergeschmack der raffinierten, immer währenden Feiertäglichkeit hoch- und wohlgestellter Kreise und Schichten entsprechen und entgegenkommen. Ein Bodoni-Druck, auch der kleinste, zufälligste, kann gar nicht tadellos genug er halten sein. Um die »kalte Pracht«, das gravitätische Antikisieren
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und Empirisieren dieses Ausstattungsstils zur Geltung zu brin gen, bedarf es äusserster Säubernis, Adrette und Unberührtheit. Aber wer, wer äusser einem vom Vollständigkeitswahn befalle nen Spezialisten, gähnt nicht beim Durchlaufen einer grösseren Reihe von Werkendes Königlichen Hofbuchdruckers von Parma? Ehrfurchtsöde Langeweile verbreiten ist freilich sehr aristokra tisch, und in schwarz eingelegten dunkelgoldgelben Kirschbaum schränken, hinter blauseidenbespanntem Glase, wie ich sie ein mal bewundern und - in Ruhe lassen durfte, führen sie ein re spektvoll eintöniges Herrenstiftsdasein. Niemand wird Ähnliches von manchem englischen Prachtwerk behaupten können, dem ganz in Kupfer gestochenen Horaz oder dem berühmten, im Riesenformat für die höchsten Lordschaften des Landes herausgekommenen Julius Caesar etwa: das sind Editionen, die bei all ihrer kostbaren, saftigen Prunkfülle das Herz stärken und den Sinn ersättigen. Denn der mannhaft präch tige, der wohlige und tatenfrohe Geschmack der werdenden Weltmacht, die ihrer humanistischen und Renaissancetraditio nen pflichtvoll und stattlich bewusst geblieben ist, der hat solchen Prunks bedurft. Eines dieser Rücher feierlich und freimütig zu gleich zur Hand nehmen zu dürfen oder gar - märchenhafte Uto pie! - es zu besitzen, reiht sich den grössten bibliophilen Freuden an. Und es ist selbstverständlich, dass Exemplare von ihnen des selben Glanzzustandes, der gleichen Leibespflege und Gewan dung sein müssen wie die Welt, zu der sie gehören. Auf was nicht alles könnte man den Blick noch lenken! Wie viele Freuden und Freudehen am Buche blieben unberührt, oder wur den kaum obenhin und eilends angemerkt in diesen Sätzen! Aber wer wollte das Unermessliche, den tiefen Brunnen des Lebens genusses auszuschöpfen sich unterfangen? Dem Gefühl Wege vorzeichnen? Lassen wir auch bei seinen Büchern jeden nach sei ner Fasson selig werden, bescheiden wir uns, auf einige der Le bensgeheimnisse des Buches den Blick gelenkt und, vielleicht, dem und jenem gezeigt zu haben, was der Umgang mit Büchern zu bieten vermag.
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FINDERGLÜCK Weiss man es eigentlich, dass jeder geborene Sammler in seiner Art ein Lebensbezwinger ist, Meister der Umstände, magischer Herr dse Zufalls, des Einzelfalls nämlich? Nicht der gewöhnliche Scharrer und Hamster natürlich, der Aufspeicherer, der Kostbar keitler, der Vollständigkeitsnarr. Pedanten oder Protzen bleiben ausserhalb des Bereichs, dessen Fluidum Liebe ist, arge oder süsse, schenkende oder saugende, immer aber der schwingende Bezug von Ich und Welt. Den geheimen Gesetzen der Affinität gemäss verbindet er Fernstes, sondert das Unverwandte aus, greift organisch über und ein. Ein wirklicher Sammler ist ein Werbender des Geistes um geistgeborenen, geistgewordenen Stoff, alleweil auf Brautschau. Seine Suche wird geheimnisvoll geleitet, der colunibische Entdeckerstern ist über ihm, ja viel leicht - hier heisst es verstummen - die Strahlkraft eines ganz an deren Sternes noch, und auch das Leben, seines Lebens eigenste Gestaltung wird ihm gewährt: die Dinge wollen ihn, drängen sich zu ihm, wollen teilhaben an ihm, im Dasein bleiben durch ihn. Es ist wie eine gegenseitige Befruchtung, Wiederbelebung. Wir sprechen hier von Sammlern im engsten, für uns fast ein zigen Sinne, im Geistsinne, von den Büchersammlern. Wie sich die gegen die anderen Vertreter des Gesamttypus abgrenzen, das heisst worin die besondere Qualität des Büchersammlers sämt lichen anderen Sammelformen gegenüber bestehe, wollen wir ein andermal betrachten. Sehen wir heute zu, wie er zu seinen Schützlingen, seinen Lieblingen, die wirklich keine »Objekte« sind, hingelange. Dies geht oft viel sonderbarer zu als der Un eingeweihte zu glauben geneigt ist. Äussere und innere Hebel, Geld und Kenntnisse, bestimmen hier nur insoweit sie dem Le ben überhaupt behilflich sind. Das Wesentliche ist, jeder Samm ler findet, was zu ihm gehört, kommt auf oft unglaublichen We gen zu seinem Besitz. Jahralte Kataloge enthalten - »plötzlich«, ist man versucht zu sagen, ein lange Erstrebtes und unheimli cherweise noch am Lager Befindliches, oder etwas Derartiges ist einem andern Bande beigeheftet, das persönliche Durchackern eines Lagers fördert Geheimnisse zutage, in einer Auktion ver-
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stummen wie durch Zauber- oder Zungenschlag die Mitbieter. Die von allen Aussenstehenden, nicht Begnadeten, ironisierten und abgeleugneten Märchenfunde am Pariser Quai des Augu stins oder der Berliner Bücherkarren sind heilige Wahrheit. Ich habe sie selber erlebt und mit mir, vor und nach mir manch an derer. Sie sind heute noch so möglich und häufig wie vor hundert Jahren. Freilich wer ist noch echter Rutengänger? Eines derart Begnadeten Leben aber wirkt sich aus im Auffin den, manchmal ist man versucht zu meinen: im Herzaubern, ja im Materialisieren der Wunschstücke. Er streift fast gelang weilt an einem beliebigen Mittwoch über den Campo de Fiori Roms, den Urahn aller ehrwürdigen »Juden«-Märkte, oder durch Münchener Dultgassen: plötzlich spürt er einen Ruck, wie in einer Trance bleibt er stehen, in der Bude links mitten unter Schul heften und Familienblättern steht etwas für mich! Er greift zu, der fehlende Band eines seit Jahren beschämt in seiner Biblio thek verduckenden Werks ist in seiner Hand, ein Einzeldruck, irgend was ganz Verschollenes - und wie kam es dorthin? War es vorher überhaupt schon da? War er, waren so manche andere wirklich immer wieder hier achtlos vorbeigepirscht, die vielen Seltenheitsangler, hatten sie wirklich nichts gemerkt? »Dies ist ein Wunder, glaubet nur!« Und dennoch, nur auf solche Weise, nur mit solchen Mitteln, das heisst »ohne Mittel« kamen früher und kommen heut noch, wenn auch immer seltener, die echten Bibliotheken zustande, die Meusebachs, Brentanos, Clemms, Heyses, Gundolfs, vor allem so vieler französischer Amateurs, diese wirklichen Lebewesen, diese Sondergattung Dasein, oft die Des poten oder gar die ränkevollen Geliebten ihrer Besitzer, denn auch hier wie bei allem Leben gibt es Oberes und Unteres, Gott und Teufel. Gar manchen hat seine Bibliothek überwältigt, sogar gänzlich verschluckt, während andere, von begabteren Schutz engeln Geführte, auch aus dem Sammelrausche nur des erha benen, des tiefen Eros-Schauderns teilhaft wurden. Finden! Geheimnisvoll vielspältiges Glück und Geschick! Nach Zeit und Umständen verschieden, einmal Abbild, einmal Wider spiel des Sammelns! Manchem schenkts der Herr wirklich »im Schlaf«, es ist ihm verboten auf ein Bestimmtes auszugehen, aus-
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zulugen, das sind die eigentlichen Gotteskinder, ihr Reich hat schwimmende, schwankende, atmende Grenzen, von aussen er scheint es wie ein Gewirr von Einzelstücken, planlos aneinander gepackt, ohne Sinn und Verstand, von fast unheimlicher Zweck losigkeit und ist dabei doch ein Zauhergarten voller Wunder, der sich freilich nur öffnet, wenn einer die Formel kennt. Solchen traumwandlerischen Sammler kenne ich heute nur einen, aber auch den anderen, den klaren, den wollenden, den sondernden Naturen kann die Gnade die Hand bieten und lenken. Während die dichterischen sich eine Bibliothek zusammensinnen, erobern sich die handfesten ein Reich von dieser Welt mit ahgesteckten Marken, verständig gegliedert. Unempfindlich für Rausch und Reiz, blind für alles Nichtzugehörige gehen sie auf die Suche und finden, stehen am Wechsel - und der Eine Sech zehnender verfällt ihnen. Ihnen ist erlaubt, ja auferlegt, zu fra gen und Antwort wird ihnen. Man kann es oft von ihren Lippen hören - denn sie sind nicht abergläubisch und haben keine Furcht vorm Zerreden -: Was ich wirklich brauchen kann, das bekomme ich stets. Ja, sie können oft angeben, an welcher Stelle und wann sie dazu gelangen. Dies ist eine sehr echte und sehr edle Bezie hung zum Gegenstand, keine heldische, aber fast eine herrscherliche, und wenn sie auch vieles voraussetzt, Wissen und Willen, Entschlusskraft und feines Wahrnehmen, Aufmerken, so trennt sie doch ein tiefer Abgrund von dem eklen, dem schnüffelnden Spürsinn, der mit Zwecken, Absichten, Gierden ans Einheimsen, ans Erstöhern geht. Der durch das Sammeln Aussersammlerisches sich verschaffen will, dem es um Gelderwerb geht oder um äusserliche Ehrsucht oder der bloss besitzen will, haben will, träg, geistlos, verfressen, fafnerhaft. So wie allen Lastern zugleich mit dem Befriedigungsdrang die schwarze Kunst innewohnt, die Befriedigungsmittel jeglichem Zufall abzulisten, so scheinen auch die Träger dieser Wider- und Zerrformen der edlen Sam melkunst oft absonderlich glückhegünstigt. Wie Ratten und Ge schmeiss dringen, bohren, luppern sie überall ein, die niederen oder durch sie erniedrigten Sinnes- und Geistorgane offen und geschärft, immer kurzatmig, japsend und gehetzt, von Neid, Schadenfreude, Brunst zerfressen oder gebläht, immer bereit
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übers Ohr zu hauen, und sei es das Leben selbst. Es sind Schäd linge, wirkliche Vampyre. Soviel steht fest: auch das Sammeln untersteht höheren Mäch ten; Zwischenwesen sicherlich, rübezahlhaften, die ihren Genuss anteil an der Beute heischen, etwas davon oder dafür haben wol len. Kein Sammler, auch der hingegebendste, behütetste nicht, dient ihnen ungerupft. Dafür sind sie zu nahe verwandt der For tuna des Spielers, dem weder »System« noch Selbstvertrauen immer hilft. Auch für den Sammler gibt es ein Zero, ein alles Hoffens, alles Berechnens, ja vielfach sogar der Gnade spottendes Nichts, und oft genug wird in sonderbar botanisch-zoologischer Transmutation ein Pechvogel aus dem Glückspilz.
Durchgesehen am Tag, da der erste. Bericht über einen Wunder fund, über die Entdeckung von sieben neuen Eiebesstrophen Walthers von der Vogelweide, einen Amselklang ins erbärmliche Tagesgeplärre warf.
GIBTES ÜBERHAUPTERSTAUSGABEN? Der Begriff der Erstausgaben ist so vieldeutig wie möglich. Was die Editio Princeps eines antiken Autors ist, steht freilich ohne weiteres fest, ebenso wie das Behagen, das dem Besitzer ein sol ches Zimel zu bereiten pflegt, besonders wenn er noch ein letztes Spezimen der bereits paläontologisch werdenden Gattung ge bildeter Sammler sein sollte. Aber wie steht es mit Erstausgaben von Werken neuerer Zeit? Der Zeit der Almanache und Zeit schriften, der Vordrucke und Nachdrucke, der Sammelwerke und dergleichen? Es ist höchst schematisch und roh, wie hier meist geurteilt wird und bestimmt. Die Norm ist ja klar: Erstausgabe ist der erstmalig vom Autor selber veranstaltete Abdruck seines betreffenden Werks. Aber wie, wenn es sich um eine Sammlung von Gedichten handelt, die längst an den verschiedensten Orten verstreut zu finden waren, oder wenn das ganze Werk bereits irgendwo erschienen war, oder das Stück ohne Vorwissen des Autors, beziehungsweise Erstherausgebers, schon vorher veröf-
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fentlieht wurde? Es gibt noch eine ganze Anzahl ähnlicher »Oder«. Für alle lassen sich Beispiele in Fülle geben, sie sind durchaus keine Begriffsspielerei, sondern modifizieren erheblich den Wert der Erstausgabe. So würde ich zum Beispiel diesen Titel lieber drei verschiedenen Abdrucken von Goethes Faust zusprechen, als wie üblich dem ersten Einzeldruck des »Frag ments«. Denn dieser besteht ja in jedem Fall, ob mit oder ohne Norm, mit vorgesetztem oder fehlendem Eigentitel aus den be treffenden Bogen des siebten Göschen-Bandes, ist also ohne wei teren Eigenwert, und eben dieser siebte Band wäre ihm sicherlich vorzuziehen. Wirkliche Erstausgaben des Faust, die eine vom Dichter durchaus als erstmaliges Ganzes in die Welt gegeben, die andere ein Vermächtnis des gerade Abgeschiedenen, sind: die vollständige Ausgabe des ersten Teils von 1808 und der erste Ge samtdruck des ganzen Werkes. Und am Ende käme Einer, und seine Meinung hätte manches für sich, und behauptete, die eigentlichste und wirklichste Erstausgabe sei Erich Schmidts Abdruck des Göchhausen-Fausts, dieses Beinahe-Urfausts, min destens einer Fassung, ursprungsnäher, hingeworfener und viel umfänglicher wie das »Fragment«. Wie soll man da entscheiden? Seltenheit, Mode, Übereinkunft spielen die Hauptrolle, und fröh liche Inkonsequenz tut das ihre. So wird sicherlich kein OpitzSucher lieber nach der ersten vom Dichter veranstalteten Samm lung seiner Poesien greifen, wie nach dem von Zinkgraef ohne Vorwissen und zum grössten nachträglichen Missvergnügen Opitzens gemachten Vorabdruck, diesem in jeder Beziehung köstlichen Dokument einer Übergangszeit, in dem sich Gestern und Morgen zu einem wundersamen kurzlebigen Heute mischmaschen. Und wieder: was könnte rührender sein wie das kurze, unter fremder Maske vorgebrachte Zitatchen aus den »Räubern« in Schillers Erstabhandlung »Vom Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen« - eine Schrift neben bei, in der sich heute noch gültige, überraschende, ja manchmal erst jetzt wieder verständliche Einsichten finden. Ich gestehe, dass ich den Besitz dieser Seiten mit ihrem ersten schüchternen Vorhangheben über alle Frühausgaben der »Räuber« schätzen würde, denn in einem solchen Falle ist man, wenn auch nur für
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Augenblicke, ganz nahe beim Dichter selbst, von einer gewissen, einer untergründlichen Seite des Seelischen aus, fast noch näher als bei einem Autograph. Hier ist tatsächliches Erstlingstum und, ein letztes Beispiel zu bringen, welchen Wert hätte die von Uhland und Schwab herausgegebene früheste Sammlung der Hölderlinschen Gedichte für unser Erleben, hätte nicht der schon jahrzehntelang in seine Nacht gebannte Seher sich selber darüber »rasend gefreut«? So freilich ist sie uns eine heilige Reliquie, durch das verschattete Auge geweiht, das noch über sie glitt. Wir sehen, wie mannigfach, wie verschiedenartig die Momente sind, die einer Ausgabe Erstlingswert verleihen und kommen zum Ergebnis: An Stelle der landläufigen, rein äusserlich rubri zierenden Wertung träte Einfühlung in die Besonderheit jedes Falles, den tatsächlichen Bezug zwischen Abdruck und Autor, das Erwägen der Umstände, der Zeit und der Bedeutsamkeit. Sucht man dem Willen und der Absicht des Dichters als schaf fenden Künstlers völlig gerecht zu werden, so nehme man sich der Ausgaben seiner letzten Hand an, die ja nicht nur die dau ernde Beschäftigung mit dem Werk bis zu ihrem letzt-erreichliclien Punkte darstellen, sondern auch noch auf geheimnisvollere Arten der Symbiose des gemeinsamen Wachstums bei Schöpfer und Geschöpf hinzeigen. Will man das erste, frische, unver brauchte Wehen des Geistes spüren, gewissermassen erfahren, was Gleichzeitige erstmals erfuhren, so weckt der erste Abdruck freilich am gewissesten diesen Zauber, allerdings nur der wirk lich erste, sei er auch in irgendeinem Sammelwerk unter unend lich viel taubem Gestein zerstreut oder versteckt. Und schliesslich hat jede irgendwie veränderte, oder auch nur neu gesichtete, vom Autor nochmals übergangene Ausgabe Erstlingscharakter, und somit Erstlingswert. Wir müssen uns nur wieder gewöhnen, den Seltenheitsbegriff zu verinnerlichen. Was wären nun zum Schlüsse wirklich wichtige und grundle gende Erst- oder Haupt-Ausgaben? Sicherlich diejenigen Werke, an denen Zeitgenossen und Folgezeit sich erbaut, erneut, gebil det haben, in der Ausgabe, die ihre Wirkung erschloss und si cherte, oder solche, in denen eine abgelaufene Ara sich noch ein mal zusammenfasst und dokumentiert. So ist von deutschen Wer-
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ken, ganz abgesehen von seiner ausserordentlichen Seltenheit und seinem Inkunabelwert, der alte Druck des Parzival und Titurel ganz ohne Zweifel die grösste deutsche Kostbarkeit im Bücherreich, denn in ihm tritt eine bereits abgelaufene Vorzeit noch einmal in ein schon neues Licht. Und neben ihm im Rang steht der erste vollständige Druck der Lutherbibel, als noch heute unerschöpfte, noch heute frische Quelle unseres geistigen Ge samtlebens. Dieser Hinweis möge genügen: ich will ja Normen geben und keine Listen,aufstellen. Nur, um aus anderem Gebiet und aus anderem Volkstum noch einiges aufzuführen, sage ich, von Shakespeare wie billig hier schweigend, auch die Dante-In kunabeln nur gerade erwähnend: weit lieber als die seltensten Erstausgaben Ronsards ist mir die wundervolle reich und dabei feierlich ausgestattete grosse Gesamtausgabe seiner Werke in Folio, die er selber noch vorbereitet hat, deren erste Proben er auf dem Krankenlager noch in zitternden Händen hielt und auf deren Titelblatt er als der Erste den seitdem so oft an Zufällige vergebenen Titel des Prince des Poètes führt. Denn mit dieser Ausgabe beginnt recht eigentlich das Grosse klassizistische Frank reich, sie ist, könnte man fast sagen, ein Stück Vor-Empire. Und ihr Gegenstück etwa ist Rousseaus »Contrat social«: wer ihn in der Erstausgabe besitzt, mag sich rühmen, das folgenschwerste Buch des achtzehnten Jahrhunderts sein zu nennen, auf dem ge fühlsmässig noch das ganze neunzehnte beruht. Wer, von solchen Gesichtspunkten ausgehend, wählt und zu sammenbringt, mag, auch wenn er vom Allgemeinen und Wuch tigen ins Leichtere und Umfangärmere herabsteigt, oder sich auf Sondergebiete beschränkt, immer versichert sein, dass er neben allem Sporthaften und Eigenbrötlerischen seines Tuns auch dem Buch als einer Äusserungsform des Geistes gerecht wird.
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ERHALTUNGSFETISCHISMUS Abstufen! Abstufen! Welcher Sammler, der mehr ist als blosser Kostbarkeitsregistrator, hätte nicht gelegentlich beim Betrachten, Umblättern, zumal beim Erwerben eines besonders tadellosen Exemplars ein gewisses Unbehagen empfunden, bei aller Freude an dem blink und blanken Schimmer und virginalen Zustand des Stücks ein »acherontisches Frösteln«? Was Kaltes, Unbelebtes, fast Sinnwidriges scheint einem Buch anzuhaften, das sich so rein erhalten hat. Vergessen wir doch nicht: ein Buch ist ein Stück Leben - welcher Art auch immer -, ein mitschwingender Teil des wechselvollen Daseins. Nur indem es mittut, genommen wird, aufgeschlagen wird, hingestellt wird, wieder und wieder vorgeholt, oder indem es seinem Besitzer in lebendiger Anteil nahme näher kommt oder über wird, erhält es Sonderdasein. Erhält es dies Sonderdasein vielleicht sogar in einem wirklichen, geheimnisvollen Sinn, wachsend mit seiner Wirkung mag es Kräfte entfalten, Strahlen senden, die wir gerade in unsern Ta gen zu ahnen beginnen. Jedes einzelne Exemplar eines beliebi gen Werks bekommt somit einen Sondercharakter, Sonderbedeu tung, Individualität - für den verstehenden, den fühlenden Sammler also seinen eigenen spezifischen Wert. Das derart als Individuum erlebte Buch wird natürlich auch bei seinem neuen Besitzer in ganz anderer Weise weiterexistieren, es wird, selbst jahrelang im Fache stehend, nie zur blossen Nummer oder zum toten Prunk- oder Wertobjekt sich verflüchtigen oder vereisen. Wir alle haben Sammlungen erlebt, bei deren Betrachten es uns warm um die Seele wurde, wo man den Geisterreigen zu spüren glaubte, der in ihnen wogte - und dann wieder mit andern uns abgegeben oder abgefunden, die waren mit allem Fluch der Museumshaftigkeit geschlagen, Kostbarkeiten gedrängt an Kostbar keiten, »erstklassige« Erhaltungen, »Zustände«, über diese ein andermal, rubrizierte und katalogisierte Erstarrungen, blosses Kapital. Wir sagen natürlich nicht: das Exemplar irgendeines alten Bu ches ist um so wertvoller, um so sammel würdiger, je verbrauchter es ist. Das wäre freilich lächerlich, so lächerlich als wenn man die
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Altersabgezehrtheit der Jugendkraft vorzöge. Soviel aber kann man, bei aller Schwierigkeit allgemeine Grundsätze aufzustel len, ungescheut sagen: ein Buch ist um so richtiger im Zustand, je richtiger, das heisst seinem Wesen entsprechender es »gelebt« hat, dagewesen ist, verwandt und einbezogen wurde, je mehr es also seinem Grundcharakter entsprochen hat. Ein gelehrtes Werk ohne Randnotizen muss sich fast schämen. Erst die Mar ginalien, die Verweise, Zustimmungen, Ablehnungen, Erweite rungen, geben einem solchen Exemplar seine Existenzberechti gung, reihen es ein in die Welt, für die es bestimmt war, obwohl das fetischistisch sakrosankte Verhältnis von Satzspiegel und Rand dadurch arg verschoben wird. Hatte nun ein solches Buch das Glück, von Hand zu Hand nicht nur zu »gehen«, sondern auch belebt zu werden, hat es also eine wirkliche Daseinsge schichte gehabt, so kann es geradezu den Charakter der Ehrwür digkeit bekommen. Grenzen sind hier natürlich gezogen, und die Glosse sollte auch in solchem Falle niemals den Text ersticken. Es sei denn, ein weltberühmter Vorbesitzer habe hier gewirt schaftet und gewütet. Dann ist es eben ein Autograph des Betref fenden geworden, unter besonderen Umständen entstanden und von einem nicht mehr in diese Betrachtung gehörigen Reiz. Ich kenne manches derartige, denke eben besonders an ein von Scho penhauer eigenhändig an allen freien Stellen und mitten durch den Text hin temperamentvollst beschmiertes, bestricheltes, beziffertes, bejahtes, verneintes Stück, in der lebensvollsten aller mir bekannten Sammlungen, der berühmten, nun wie alles Geistige in Deutschland verwaist zurückgebliebenen Bibliothek Gundolf. Wieder anders steht es mit der schönen Literatur. Bücher, die ihr zugehören, müssen die Wärme, die Jugend oder aber die Ruhe und Gelassenheit, mit einem Worte, Sinnesart und Schwin gung derer enthalten und noch ausatmen, noch spüren lassen, denen sie ein Stück Leben gewesen sind. Wie habe ich mich im mer gefreut, das Exemplar eines Dichters zu bekommen, in dem empfindsamer Vorbesitz ein Blümchen, ein buntes Band, die Zeile eines Liebesbriefs hinterlassen hatte. Schon die gewöhn lichen Papierstreifchen, die Zufallslesezeichen stimmen nach-
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denklich und erwecken jenes seltsame Lächeln, das beim Anblick verhuschten, noch irgendwie merkbar gebliebenen Kleindaseins aufzuckt. Händler und Käufer sollten auf diese Winzigkeiten achten, heute schon. Wir nähern uns einer Epoche, wo die seeli schen Zusammenhänge über alles Stoffliche, »exakt« Feststellbare, also notwendigerweise Tote, Vereiste, Starrgewordene hinaus ihr Recht verlangen und erringen. Zusammenhänge von Mensch zu Mensch, zu Ding, zu Zeit, zu Vergangenheit! Bald wird auch ein Sammler kein Aufhäufer mehr sein, sondern ein Umwerber, ein Liebhaber im zärtlichsten Sinn. Wie wichtig ist ihm dann das alles, davon wir hier flüstern! Während heute noch rein schema tisch, nach den drei oder vier Kategorien der Vollständigkeit, Sauberkeit, Breitrandigkeit, etwa noch nach gutem Einband ge wertet wird - man dabei immer noch barbarisch genug verfährt, niemals darauf achtet, ob das im achtzehnten, vielfach schon im siebzehnten Jahrhundert jedem gutgebundenen Buche ausnahms los beigegebene, meist entzückend ad hoc gewobene, farbenfeine Lesezeichen versehrt sei, oder vielleicht gar ganz mangle, ob bei Kupferstichwerken die schützenden Seidenpapiere vorhanden seien, was doch alles wirklich und wahrhaftig zu einer richtigen Vollständigkeit gehört. Ja, es pflegt heute noch nicht einmal oder bloss kaum merklich Wert zu mindern, wenn ein Exemplar sei nes Exlibris beraubt worden ist, obwohl dies geradezu einen Eingriff ins Leben bedeutet, eine Verstümmelung, eine Exzision. Und doch ist das nach all unseren Ausführungen immer erst äus serliche Vollständigkeit. Wir gehen rasch weiter. Eine Lutherbibel, welcher Ausgabe auch immer, muss, am besten Generationen durch, Haus- und Familienbuch gewesen sein. Die weissen Blätter zu Anfang und Schluss, womöglich noch eigens beigeheftete, müssen bedeckt sein mit Einzeichnungen des jeweiligen Familienhaupts, die Gebur ten, die Hochzeiten, die Ableben mit biederer Hand aufführend. Oder es muss das Exemplar eines Pastoren sein. Ich besitze so eines voll herrlicher Lebendigkeit, papierdurchschossen mit pfarramtlichen Notizen, Predigtentwürfen, Paraphrasen. Ein katholisches Gebet- oder Liederbuch, besonders aus Bayern oder Österreich, seiner stets beigegebenen, an Lieblingsstellen ein-
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liegenden Heiligen- oder Wallfahrtsbildln, Beicht- und Kom munionzettel, Bruderschaftsausweise usw. beraubt, ist nichts Rechtes mehr. Eine alte Haggada, das mystische, jüdische Osterritual, muss Weinflecken aufweisen, in deren Nachdunkeln dämmert die erwartungsvoll gedämpfte Fröhlichkeit der Vor abendfeier weiter. Und gar ein im händlerischen Sinne gut er haltenes altes Volksbuch, ein Traum- oder Beschwörungsbuch, eine »wundersame und unerhörte Historie vom hürnen Sieg fried, den Haimonskindern, der schönen Magelone, der Höhle Zaza«, ein Liederblatt oder eine Moritat, die sind in unberühr tem Zustand, wenn auch Originale, doch fast Fälschungen ihres eigenen Daseins, aus der warmen, dampfenden, zeugenden Flut des Geschehens zurückgebliebene Armseligkeiten, daran nur Pedanten ihr Wohlgefallen find en. »Fast unbenutzt« sollte in solchen Fällen schier als Schimpf gelten, jedenfalls keine Empfehlung sein. Um- und Rückschau. Auch wir Sammler wollen und sollen dem Leben dienen, Leben erhalten, auffangen, sichern. Die Schönheit ist nichts Eindeutiges. Grade für uns Deutsche, mit unserer aus gesprochenen Ehrfurcht, mit unserem Verständnis für den Ein zelfall, ist die These begreiflich, ja selbstverständlich, vom Recht auch des einzelnen Buches. Es wird gewiss niemand einfallen zu behaupten, dass ich »schlecht erhaltene« Exemplare absolut und immer den »guterhaltenen« vorzöge. Natürlich muss ein Buch seine ursprüngliche Gestalt so klar und deutlich und so selbst eigen als möglich sich bewahrt haben. Dass hierbei sogar noch manches zu beachten ist, worauf bis jetzt wenig oder gar nicht geschaut wurde, haben wir ja schon gestreift. Zugleich aber muss das Buch, wenn es schon ein Leben hinter sich hat, wenn es schon in Freud und Leid des Menschentums getaucht war, dies Leben spüren lassen, Zeuge sein seiner selbst, seiner Geschichte. Erst dann ist es wirklich leibhaft, wesentlich und von letztem Sam melwert.
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DEUTSCHE BUCHILLUSTRATION »Seit Jahren reite ich auf einem Prinzip herum«, genau wie der vormärzliche Reuss-Greiz-Lobensteinische Tetrarch, von dem das Wort herrührt. Nur auf einem andern. Der hochselige Duodezer wollte seine Beamten auf der Strasse gegrüsst haben. Ich habe Gott und die Welt, die einschlägige, bestürmt, man solle sich auch einmal um die deutsche Buchillustration kümmern, um die des achtzehnten Jahrhunderts, die verdient es nämlich in ihrer Weise genau so, wie die vielberufene, minutiös durch schnüffelte französische der gleichen Epoche und ist dabei - war vielmehr bis heute - ein Gebiet von herrlicher Unerforschtheit, eine rechte terra incognita. Äusser ein paar Künstlermonogra phien hatte und wusste man nichts. Chodowiecki, Meil, Oeser waren bekannt und geschätzt, etwa noch Schellenberg, um die andern kümmerten sich weder Sammler, noch Forscher, noch Händler. Die Notizen wanderten unter dem Segen des hl. Plagiatius von Katalog zu Katalog, verdienten auch nichts Besseres, denn eine Bemerkung wie: »Entzückende Vignetten im Rokoko geschmack«, das war schon das Raffinierteste an Gelehrsamkeit und Feinsinn, wozu sich eine solche Bemerkung aufschwang. Sonderbarer, fast unbegreiflicher Zustand! Das ist nun mit einem Schlag behoben, richtig auf Anhieb. Hans Mollier, ausgezeichneter Kenner, Sammler und Gelehrter in einem, der die Materie seit langem bearbeitet, sie wirklich beherrscht, und vor allem zärtevoll umwirbt, hat aus einer Ab teilung des neuen Auktionskataloges der Münchner Firma Karl & Faber geradezu den Grundriss einer Monographie über deut sche Buchillustration im Spätbarock, Zopf und Empire gemacht. Zum ersten Male fällt Licht auf die verschiedenen Kunststätten, Künstlerkreise und Einzelpersönlichkeiten. Die vortrefflich ge schriebene Einleitung fasst alles Ursächliche zusammen, für das Niveau der heutigen Kenner- und Sammlerschaft vielleicht et was zu hoch genommen, einer jener Fehler, die am Ende Vor züge sind. Wer bereits eine Ahnung vom illustrierten deutschen Buch des achtzehnten Jahrhunderts und seiner Meister besitzt, wird aufs trefflichste belehrt und weitergeführt. Die zur Auktion
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ausgebotene Sammlung selbst, wohlgeordnet nach Epochen, Schulen, Meistern, ist besonders für Mittel- und Norddeutsch land glänzend zusammengestellt. Der Leipziger Kreis, speziell Oeser und die Seinen, Goethes Lehrmeister, sind vortrefflich ver treten. Sogar etwas so Ausgefallenes und Unauffindliches wie Oesers französischer Gil Blas - ich selber hatte ihn bis dahin nie gesehen - ist vorhanden. Ebenso schön steht es mit anderen Stät ten dieser Kleinkunst: Berlin, Hamburg und der höchst inter essante, an die pfälzischen Kurfürsten gegliederte und von ihnen geförderte Mannheimer Kreis, Sinzenich, Verhelst. Auch Ham burg ausgezeichnet, Hagedorner Editionen, etwas spärlicher die Schweiz, bei der Schellenberg ganz fehlt, Grimm und der treff liche, trotz seiner inkognito gebliebenen Monographie noch we nig beachtete, vorromantische Berner Dunker wenigstens mit ein paar guten Proben. Im ganzen aber nach kennerischer Aus wahl wie nach Qualität eine delikate Kollektion, der der Bear beiter in jedem einzelnen Falle genau orientierende Anmerkun gen und Hinweise beigegeben hat. Kurz, nicht nur das bekannte, unentbehrliche Hilfsmittel, sondern mehr! Der erste wirkliche Schritt zur Klärung und Sichtung eines bis dahin unbekannten Gebietes, an das sich Bearbeiter und Sammler, vor allem diese, jetzt eifrig heranpirschen müssen. Weidmannsheil!
ERSTE SCHRITTE ANLEITUNG ZUR PRAKTISCHEN BIBLIOPHILIE
Leider - gewisse Kenntnisse gehören dazu, eine Art Ahnung muss man im vorhinein haben. Die Tage des frisch-fröhlichen Sam melns, wo das Nichtfinden schwieriger war als das Ergattern, auch die ungeübte Hand eine Blüte brach, ja einen Falter haschte, wo man »beim Danebengreifen auch eine Glücksnuss knackte«: vorbei, vorbei! Untergang, Schluss des Continuum auch hier! Wir Bibliogreise wissen und träumen rückschmatzend noch von der Wollust frühdumpfen Umarmens der Diva Bibliophilia. Himmlische Somnambuhlerei von ehedem! Inzwischen doch ist
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die hohe Dame verständig geworden, wenn auch durchaus nicht spröd, und gibt sich, äusser an begnadete Götterknaben, die es freilich immer geben wird, nur noch gegen Bezahlung in Geld und Wissen, lässt sich nicht mehr beschleichen, weiss, was sie wert ist, hält etwas auf sich. Wie beschlagen also und gerüstet muss der Neuling, den ein nob ler aber dumpfer Drang zum Erwerbe schöner Bücher stachelt, sich umschauen und Hand anlegen? Woran erkennt man es, wie kommt man an das dauernd erfreuliche alte Buch? Nur vom antiquarischen Erwerbe nämlich soll gesprochen werden. Beim neuen Buch kann auch das »Grünhorn« nur schwer entgleisen. Was ihn da reizt und befriedigt, leicht kann das beschafft wer den. Bei dem hohen Niveau und der nach abgelaufener »Ersatz«Zeit wieder untadelig gewordenen Ausstattungsmoral unseres Verlegertums mag der Käufer heute gewiss sein, ein anständig geheftetes, dauerhaft gebundenes, fast immer geschmackvoll er stelltes, in Einband und Druckanordnung vor jedem Auge und Urteil standhaftes Stück zu erhalten. Und wenn er nicht einmal weiss, was er überhaupt gern hätte oder weiter verschenkte solcher herrlich unberührter buch- und literaturkeuscher Seelen gibt es, soll man nicht gottlob sagen?, weit mehr als uns vom Bau gemeinhin klar ist: ja also, auf ein solch unbeschriebnes Blatt setzt jeder halbwegs menschensichere Sortimenter schon die richtige Anschrift. Und an Auswahl mangelts ja auch nicht. Nein, ein neues Buch zu erstehen, fordert heute gar keine Vor kenntnis. Man tritt einfach ins nächste bessere Gewölbe, seis selbst im edelsten Dunkelpommern oder Uraltbayern, erschrecke und erfreue den Verkäufer durchs Wunschwort: »Ich möchte ein Buch!« Alles Weitere wickelt sich alsdann ab, logisch und zu gegenseitigem Behagen. Ist aber der Bucherwerber kühner, be deutet für ihn das Buch etwas als Gegenstand, als Einzelstück, nicht bloss als Träger eines Inhalts, ist es seinem noch ungeklär ten Sinn eine Glücksverheissung auch »ohne Worte« - kurz ist er drauf und dran ein Bibliophile zu werden, dann freilich heisst es aufpassen, prüfen, wissen, was man will und verschmäht. Und, zumal für den Anfänger sollte es auch heissen: selbständig sein in Wunsch und Begehr, unabhängig vom grade geltenden Mode-
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wesen. Es sollte überhaupt nichts Individuelleres geben als einen Bibliophilen. Mit-trotten ist grade hier ein besonderes Armuts zeugnis, zumal es bekanntermassen just dem Reichtum ausgestellt werden muss 1 Also, er traue sich selber was zu, lausche der an fänglich noch recht stammelnd piepsigen »inneren Stimme«, frage sich, was er gern möchte. Dass das Buchinteresse meist über die Freude an sogenannter Literatur erwacht, ist begreiflich, heute aber sollte es noch andere Hahnenschreie geben. Jedes Buch enthält und ist ein Stück Leben besonderer Art, bereichert also verwandtes Dasein. Und darum habe ich es nie begriffen, wieso der Techniker sich nicht mehr darum müht - ist es ihm überhaupt um Buch und Erholung durch Gedrucktes zu tun -, die Erstlings- oder die Hauptschriften dieser seiner zur unbestrit tenen Weltherrschaft emporgediehenen vernünftigen Zauberscienz zu besitzen, die ersten gar nicht so weit zurückliegenden Schritte in ihren Spuren auf sich zu lenken, darin das neue Welt wesen auch psychisch, in seinen Seelenvoraussetzungen, völlig enthalten ist. Die meisten dieser Dokumente werden heute noch kaum geschätzt, sind also preiswert und verhältnismässig leicht erhältlich. Ebenso geht es mit sonstiger älterer Fachliteratur. Besonders die alten Naturgeschichtsbücher, die freilich schon einen grösseren Interessentenkreis besitzen, sind, meist aufs beste illustriert und »illuminiert«, von ausserordentlichem Reiz. Neu ere, die ihren Stilcharakter und die künstlerische Exaktheit in Zeichnung und Farbe noch bis ins neunzehnte Jahrhundert be wahren, haben überdies oft noch gar keinen eigentlichen Sam melwert, sind also billig und erfreuen ohne zu erdrücken. Das überhaupt sollte jeder Anfänger sich gesagt sein lassen: die wirk liche Sammlerlust besteht in ganz etwas anderem als im Raritä tenehrgeiz. Das Zusammenleben mit den Schätzen erweckt an sich schon eine zart erotische Atmosphäre, zeitigt und erhält einen friedlichen polygamen Liebesgenuss nach dem Sinne des »Viele Frauen hast und Ruh im Hause« in Mohammeds Para dies. Das Wichtige ist eben nicht, dass ein Sammler mit seinen Stücken prahlt, sondern, dass er sich an ihnen ergötzt. Wirklich halten auch viele und oft die feinsten Sammler mit ihren Klein oden zurück, weisen sie nur ungern vor, auch unter den Kennern
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nur besonders Erwählten von verwandter Aura, wie eifersüch tig, ein fremdes oder gar bös blickendes Auge möchte etwas von den innersten, nur ihnen erschlossenen und erlaubten Reizen eines Lieblings - denn ein bisschen platonisch-griechisch in jedem Verstand ist der Umgang mit Büchern - auf fangen und absaugen. Doch wie jedes Geschenk des Eros will solche Gunst errungen sein, erkauft in einem höheren Sinne des Wortes. Wer, sei sein Beutel auch noch so prall, und seine Absicht auch noch so ehrlich, beim renommiertesten Antiquar auf gut Glück einhandcln geht, dem wird, wie zuverlässig er auch bedient sei, doch nur »Ware« zuteil. Nie aber, und sei es das netteste Stückchen, ein für ihn selber vorhandenes, ihm selber gewissermassen sich entschleiern des, ein zu ihm drängendes, ein lebendiges Buch. Freilich ist es auf diesem wie auf jedem Liebesgebiet auch nicht angezcigt, die Wünsche festzulegen. Dem »Wunder« in jeglicher Gestalt greife man nie vor durch ein Programm oder pedantischen Starrsinn. Alan stehe fest, blicke sich aber um - und lasse sich ver führen ! Gibt es überhaupt noch etwas Schöneres im Leben ? Etwas Schöneres als verlockt werden? Gottlob, dass es ihn gibt, ihn den nichtig-süssen, den ewig bunten, den Schleier der Maja! Doch auch sie, die ewige Täuschung hat ihre Scheinsgrade, ihre ureigne Wahrheit. Wählen und verschmähen muss können, wer ihr in Schönheit erliegen will. Seiner selbst sicher sein, der ihr erliege. Kenner sein vor er »erkennen« darf, auch im »Bibel sinn«. Und so muss auch heim Sammler zu Sehnsucht und Be gehr, ja zu angeborenem Feingefühl das Wissen treten, das seine Wollust forme und verfeinere, seine Sinne schärfe, sein Denken zugleich beschwinge und konzentriere. Denn was ist nicht alles zu besinnen, zu beachten beim alten Buch! Ich führe jetzt nur das Nächste an, das Unerlässlichste, die Grundregeln, die freilich nicht ausnahmslose Naturgesetze sind, sondern spielende Richt weise, die bei den höheren und höchsten Staffeln des Sammler ordens sich oft wie ins Gegenteil verkehren. Auf den untern Bänken aber sollte man sie katechismushaft befolgen, auswendig lernen und stets zu Rate ziehen. Erstes, ohne weiteres einleuchtendes Erfordernis ist die Voll ständigkeit des Bandes oder, bei mehrbändigen Werken, der
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ganzen Publikation. Einzelne Bände zu kaufen, etwa in der Hoff nung den oder die weiteren gelegentlich aufzufinden, hat im all gemeinen keinen Zweck, und ein derartiger Einzling bleibt fast immer in einer Art Krüppelstellung unter den Genossen. Dies gilt natürlich nicht für einzelne Jahrgänge periodischer Ver öffentlichungen, für Zeitschriften oder gar für die einzelnen stets in sich gerundeten Almanachbändchen. Jede dieser Jahresrun den ist gewöhnlich ein fest geschlossenes Ganzes von selbstän digem Wert, zumal wenn sie - und dann natürlich immer im Erstdruck - Beiträge bedeutender Autoren enthält. Ich selber habe nie gezögert, derartige Kalenderbände meiner Sammlung einzubeziehen und immer noch Freude daran gehabt, ob sie nun Ausgangspunkte für Brüder und Schwestern wurden, eine mehr oder weniger lückenlose Reihe mit ihnen anhob oder ob sie für sich allein blieben. Verwaist kamen sie sich und mir nimmer mehr vor. Im allgemeinen aber greift gerade der Anfänger zunächst am be sten nach Einheitlichem. Und hierbei tauchen die brennenden Fragen nach Ausgabe, Erhaltung, Zustand auf: die drei Pfeiler bibliophiler Wissenschaft. Auf ihnen ruht das ganze Gebäude der Erkenntnis samt seinen luftigsten, wimpelbeflatterten Türmen, lauschigen Erkern, tänzerischen Altanen. Dem Novizen, gerade etwas läuten hat er hören, wird es zu nächst um die sogenannten Erstausgaben zu tun sein. Zwar habe ich einmal schon in einem für höhere Grade bestimmten promemoria die Frage gestellt und - offen gelassen, ob es überhaupt wirklich Erstausgaben gäbe. Aber für die gerade zur Not der unteren Weihen teilhaftigen Proselyten ist sie eindeutig genug. Wir machen nicht einmal die schon zu spitzfindige Unterschei dung zwischen Erstdruck und Erstausgabe, sondern stellen fest: Erstausgabe ist die erste beim Originalverleger erschienene Ein zelveröffentlichung des betreffenden Werkes. Sie zu besitzen ist ein begreifliches, wenn auch nicht überdelikates Sammler glück, zumal wenn es sich um ein Hauptwerk der Dichtung oder ein geistes- oder auch weltgeschichtlich bedeutsames sonstiges Dokument handelt. Nur vergesse auch der Anfänger nicht, dass alle weiteren Auflagen, wenn irgendwie vom Autor nochmals
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übergangen oder verändert, ebenfalls Erstlingscharakter und damit Erstlingswert besitzen. Vor allem bedenke er, dass die letzte dem Werke von seinem Schöpfer verliehene Gestalt, die »Ausgabe letzter Hand«, als ausdrücklich so gewollte und aus gesetzte Editio defiuitiva an Gewicht der Erstausgabe mindestens gleichzustellen ist und damit auch an Sammelwert. Dass da neben auch spätere nach dem Tode des Autors erschienene oder sogar Nachdruckausgaben sammelwürdig sein können, hat mit dem Inhalt nichts mehr zu tun, sondern führt uns bereits auf das andre grosse Gebiet des Büchersammlerischen, die Ausstat tung des Werkes, Gestalt und Form, darin es sich präsentiert. Hier nun gibt es ungeheuer viel zu wissen, weniges davon ohne gleichzeitiges sinnliches Anschauen zu übertragen. Ein paar Grundlinien müssen genügen. Ist das Buch gebunden, so hat in jedem Falle ein aus der Zeit des Erscheinens stammender Ein band, selbst ein einfacher, den Vorzug vor einem später hinzu gekommenen, sei dieser auch noch so geschmackvoll, hüte er sich auch vor dem Greuel der Stil-Imitation. Ein simpler Pappband umschliesst, grau und unscheinbar wie er immer sei, die Aus gaben des siebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts, heim licher, zugehöriger, echter wie die noch so prunkende Hülle aus übersatter heutiger Biblioprotzenbücherei diesseits oder jenseits der Meere. Man vergesse nie, dass dies Regeln für Anfänger sind! Je schöner der Zeitband ist, je köstlicher das Material, je meister licher Binde- und Vergoldungsarbeit, um so höher steigt natür lich der Wert des Stückes. Hier aber tut die Erfahrung des Ein zelnen das Beste. Wie gesucht französische sammelwürdige Bü cher in Maroquinbänden sind, besonders im roten, sowohl dem kurznarbigen, ä courts grains, wie dem langriefigen, ä longs grains, auch wenn sie nicht aus einer der hochberühmten Werk stätten stammen, ist wohl allgemein bekannt. Über die viel fachen Abarten der einfachen »Kalb«-Lederbände ist hier nicht zu handeln. Wohl aber weisen wir darauf hin, dass ein deutsches, zumal ein literarisches Werk aus der, mit dem späten siebzehn ten Jahrhundert einsetzenden, wirtschaftlich armen Zeit, bereits im gewöhnlichen Voll-Lederband in jedem Fall eine Seltenheit ist. Ebenso wie der deutsche Kalb-Lederband während des sech
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zehnten Jahrhunderts, wo, auf Holzdeckeln oder mit Papierfül lung, das glatt polierte, gegen das Ende des Jahrhunderts bis ins siebzehnte hinein oftmals buntangefärbte oder das mit allerlei Renaissancezierat oft recht überladen bepresste Schweinsleder fast die Alleinherrschaft hatte. Die nur für einzelne Epochen und Länder genau festgestellte Entwicklung des Einbands und speziell seiner Ausschmückung, die zum Beispiel für Deutschland nach den geistigen Provinzen verschieden und ausserdem fast konfessionell getrennte Wege geht, dabei aber wenigstens seit 1700 den wechselndsten Moden von oft grosser Bedeutung auch für die allgemeine Geschichte des Ornaments sich anbequemt, das kann nicht einmal angedeutet wrerden. Summa: man suche, nach eigenem Geschmack, sich das Buch im Einband seiner Zeit. Gleicherweise verhält es sich mit Farbe und Dekoration des Vor satzpapiers, das bei kostbareren Bänden, für die ja auch früh schon, besonders bei Damenbüchern, Sammet und Seide als Deckenbezug zur Verwendung kam, oft durch Atlas oder meist sehr schön gewässertes Moiré ersetzt wird. Auch hier gilt der Satz: je kostbarer das Material um so rarer - durchaus nicht immer auch schöner - das Stück. Goldschnitt, oft sogar noch mit Ornamenten in Guasche oder Lackfarben, übermalter oder mit dem Messer in Schnittmustern verzierter, sogenannter zise lierter, ist bei kostbaren Bänden seit dem sechzehnten Jahrhundert gebräuchlich. Die gewöhnliche bekannte Schnittfärbung, meist in rot oder grün, die ein gutgebundenes Buch erst wirklich voll endet - ich schätze sie weit höher als den sogenannten Bütten rand, wenn die Breitrandigkeit des Exemplars dadurch nicht beeinträchtigt wird - ist seit Jahrhunderten die allgemein üb liche und wohl auch entsprechendste Randbehandlung. Je fri scher die Färbung, desto erfreulicher, also begehrenswerter das Buch. Dieses selbst, das eigentliche »Korpus« wie die Buch binder sagen, hat nun ganz für sich zu sprechen. Nicht jedes Buch soll oder will »vornehm« wirken. Flugschriften und Volksbüchern zum Beispiel, allem was für Augenblick und Armut bestimmt war und gerade in dieser Zweckerfüllung intim wirkt und liebenswert, steht Knapprandigkeit, nachlässiger Druck, abge-
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nutzte Type ebenso wohl an, wie dem perücken- und brokat stolz auftretenden, beziehungsweise sich aufschlagenden Folio kupferwerk sein für Herren und Grosshändler bestimmtes Feier kleid, der übermässige Weissrand, der den Druckspiegel ein rahmt, »Grand papier« genannt, und das schwere, möglichst schneeige, oft kartonstarke Material selbst, wenn nicht gar, vor allem im sechzehnten Jahrhundert, sporadisch aber durch die ganze Zeit hin, Pergament, die nach Farbe und Druckwirkung köstlichste Grundlage, Verwendung fand. Dass daneben, beson ders seit dem achtzehnten Jahrhundert, der heute noch geübte Brauch bestand, auch einfachere, für weitere Leser- oder Emp fängerkreise bestimmte Werke in einer Anzahl von Exemplaren auf besserem Papier, geglätteterem, schwererem, weisserem, seine Namen tun nichts zur Sache, für anspruchsvolle Käufer und Geldkatzen auf den Markt zu bringen oder solche als Wid mungsexemplare herzustellen, sei im Vorbeigehen erwähnt. Bücher auf derlei Papier haben natürlich sowohl Schönheits- wie Seltenheitswert. Und nun, da die eigentlichen Lehrstunden zu beginnen hätten, die für den Mitteiler so lockende Feinarbeit anheben müsste, ruft es mir Halt zu. Schon treten die Bemerkungen räumlich über alle Ufer, und zudem spüre ich, dass sich eigentlich nur an bland und vor Augen des Beispiels, an Büchern selbst, das eigent liche Geheimnis weitergeben lasse. I^eute wie ich sollten Kurse und Führungen, wirkliche Seminare für Bibliophilie veran stalten und gründen. Doch denke ich, geben die paar Winke und Grundlinien manchem schon Richtung und Halt, allen Emp fänglichen aber, das hoff ich, ein Gefühl von Fülle und Pveiz des Gegenstandes, dem in ihm ruhenden Reichtum von Belehrung und Belebung. Und so verzichte ich denn auch darauf, über das scheinbar einfachste, tatsächlich aber subtilste Thema mich ge nauer zu äussern: über die Frage, wie ein antiquarisches Buch erhalten sein müsse. »Gut natürlich«, denken die ahnungslosen Laien, denen ich, in diesem wie manch anderem Fall, recht viele angesehene ja berühmte Sammler und die meisten Antiquare zuzähle. Pardon. Die Erhaltung, der Zustand, in dem das Buch seinem neuen Besitzer zukommt - fast hätte ich gesagt, sich über-
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reicht - muss einigermassen der Tatsache entsprechen, dass es ein Leben bereits hinter sich hat, ein geschichtliches Dokument ist und dabei ein Einzelfall mit schier persönlichem Schicksal. »Wie frisch aus der Presse gekommen« sollte äusser für ganz grosse Bibliotheks- und Prachtwerke fast eine Wertminderung bedeu ten. Ein Buch zeige sich je nach seiner Altersstufe wohl konser viert, schäme sich nicht des lächelnd-wehmütigen Anhauchs zar ter Verwitterungsspuren, Gebrauchs- und Liebeszeichen: es kann darum doch noch firn sein und feurig, wie alter Edelwein, süss und begehrenswert wie eine liebliche femme flétrie, und sicher ist es dem echten Kenner in solchem Zustande werter, als wenn es etwa durch Chemikalien und ähnliche moderne Quälmittel und Pseudokosmetika in einen kurzfristigen Jugendflor rückgesteinacht wäre. Aber dies Thema ist viel zu weitläufig. Genug, genug. Ich hoffe, man wendet sich nun gern zum alten Buch - und lernt und liebet selbst.
DAS ALTE BUCEI ALS WEIHNACHTSGESCHENK Ich grabe am Ende mir und den buchmachenden Zeitgenossen damit selber manches Wasser ab, aber es muss heraus: alte Bü cher habe ich furchtbar gern. Über Reiz der Neuheit, gärendes Gegenwartsleben, Pracht und Hochstand unseres Buchgewerbes, verlieren wir nicht erst Worte. Dergleichen hätte mit dem Pro blem, mit der Stellung zum Altbuch auch rein gar nichts zu tun. Alte Bücher und Neuerscheinungen haben äusser der Begriffs kategorie äusserst wenig Gemeinsames, sobald man sie auf ihre man verzeihe! - mystische Zugehörigkeit zum Daseinsganzen hin betrachtet. Die Lebensstufen sind sehr verschieden. Ein neues Buch ist, was es auch enthalte, wie es auch ausgestattet sei, noch so lange »unerweckt«, bis es in die erste Hand kommt, vor das erste Auge, bis es erstmals zu Sinn und Sinnen spricht. Ein altes dagegen - mit treffendstem Lebensinstinkt nennt es der Eng länder ein second-hand book - ist bereits im Kreislauf des Schick sals mitgeschwommen, hat trübe oder bessere Tage gesehen, seine
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fata gehabt, sehr aber auch die menschlichen kennen gelernt und teilen müssen, kurz es ist ein Individuum geworden, ein Einzelfall. Ist es nun zugleich noch stolzer oder anmutiger oder frivoler Repräsentant einer Epoche, eines bedeutsamen Autors oder Ausstatters - was ruft es da nicht alles auf? Reiz des Ein maligen und Symbolträchtigkeit, das eine im andern und durch das andere! Kann ein Gegenstand persönlicher, ein Objekt welches sonst auch immer! - subjektartiger werden? Man ver arge mir dies Schwärmen fürs alte Buch mitnichten, noch auch meine Zuversicht, verstanden, gebilligt zu werden. Ich hoffe auf einen recht umfangreichen »Beifall der Besten«. Vor allem ist merkwürdig, wie verbreitet eine meist einiger massen wildwüchsige Freude an alten Büchern ist. Sind auch die Zeiten vorbei, wo man »aus Dekorationsgründen« Schweins leder-Schmöker nach Format und Gilbung in altdeutschen Trink oder Bauernstuben malerisch protzen liess, so bekommt man doch oft genug »alte Ausgäbchen«, einzelne Bände, Krüppel- und Krümperzeug komischster Art mit einem Stolze vorgewiesen, den unverletzt zu lassen auch dem Menschenfreund schwer fällt. Man sagt sich freilich, dass derlei Miss- und Quergriffe immer hin den bekannten guten Kern in sich tragen, aus dem die Blüte wissender und wohlgeleiteter Altbücherliebe heraus zu gärtnern ist. Und gerade in unseren Tagen, wo der kleine und der mitt lere Sammler ebenso wie die sie bedienenden Händler und das ganze mittlere - nur der äusseren Bewertung nach mittlere Büchergut zu verschwinden drohen, wo also das gesamte viel fältige, der Wissenschaft und dem Leben gleich nutzbringende Antiquariatsdasein in wichtigen Zweigen am Verdorren ist, da müssen solche Keime sorgsam gehütet werden. Vielleicht, dass an Stelle der Sammlerbibliotheken der Vorkriegszeit ein mit fühlendes, besitzheischendes Interesse an einzelnen schönen oder bedeutenden oder merkwürdigen Büchern und Buchexemplaren geweckt oder gesteigert werden kann, das wenigstens ein paar Hauptparzellen des weiten Feldes zugute kommt. Wie man das anfängt? Ich glaube, es gibt ein ganz einfaches Mittel: man verwende das alte Buch ausgiebiger als bisher zu Geschenkzwecken, man wird sehen, wie selten man dabei fehl-
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geht, wieviel Freude, Anerkennung, Besitzvergnügen man auf ruft, so man dies tut. Natürlich nur, wenn es in der richtigen Ab stufung geschieht, Charakter, Wünsche, Bildungsgang und Ge legenheit dabei richtig erwogen und beachtet sind. Sorgender Hausfrau und Mutter ein galantes Maroquinbändchen aus dem französischen Rokoko unter den Lichterbaum legen, möchte, wenn man sie nicht dadurch verführen will, seinem Zweck zu widerlaufen. So auch, wenn man einen Fachgelehrten oder einen Geschäftsmann durch ein noch so entzückendes altes Modejournal oder einen Unmusikalischen durch eine Beethovensche Erstaus gabe zu beglücken gedächte. Aber auch abgesehen von solchen ohnehin einleuchtenden Verwahrungen und Normen gibt es der Unterschiede in den Kategorien genug. Sicherlich bestehen prä destinierte, prästabilierte »geborene« Geschenkbücher, während andere, gar nicht die schlechtesten, äusser zu Spezialzwecken hier ausschalten. Und so sehen wir denn heute einmal zu, nun die Weihnachtslichter schon ihre Schatten vorauswerfen, was im allgemeinen, und in Sinn und Absicht der Zeit, Geschenkwert habe von den Schätzen der Antiquariatslager, was ein solches Buch enthalten, wie es ausschauen müsse, um zu gefallen. Zunächst und hauptsächlich werden bei dem allgemeinen SchauHang der Zeit, der das gedruckte Wort immer mehr zum Hin weis, zur Überschrift oder Kurznote herabdrängt, Bücher mit oder aus Bildern sich anbieten. Die Letztgenannten freilich zag hafter und nur in Sonderfällen mit Erfolg. Reine Kupferwerke oder Holzschnittwerke sind zwar oft prächtige Beispiele des Könnens und Charakters ihrer Zeit, auch, weil von jeher kostbar gewesen, so ziemlich immer sorgsam gepflegte, aus feierlichen Bibliotheken stammende Stücke - äusser es handelt sich etwa um das berühmte Salzmannsche »Elementarwerk«, dessen Quer quartbände regelmässig in Rissen, Fingerabdrücken und Tinten flecken das Blättern, Staunen, Wüten seiner halbwüchsigen Be nutzer konservieren, oder um eine aus verwandten Gründen oft ähnlich ausschauende Bilderbibel - aber sie sind eben auch heute noch teures Gut, ausserdem erfordert ihr Betrachten Musse, die es nicht mehr gibt, ihr oft ungefüges Format Raum, den man nicht mehr hat, und so werden sich wohl wenig Weihnachts
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tische unter ihnen hiegen. Freilich, wenn es gelingt, für einen Naturfreund irgendein schönes, handkoloriertes Pilanzenbuch oder ein entsprechendes zoologisches Werk, vielleicht eines der schönen Vogelbücher des achtzehnten Jahrhunderts oder etwas von den prächtigen, vom Verfasser-Zeichner stets eigenhändig ausgetuschten Reptilien-»Belustigungen« des Nürnberger Roesler aufzutreiben, so sollte man weder in Bezug auf den Preis- noch auf den Werk-Umfang zu ängstlich sein: mit einem solchen Stück am richtigen Platz wird man immer Ehre einlegen und dauerndes Behagen verbreiten. Aber das sind doch nur Einzel fälle, nicht häufige. Im ganzen geht man ziemlich sicher, rückt man mit einem französischen oder deutschen oder auch einem englischen illustrierten Buche heran. Ich ringe meinem darob erbosten Patriotismus diese Rangordnung ab, weil in den unter unseren Blick fallenden Zeit- und Kulturläuften im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die französische Buchillustration ohne alle Frage - trotz des vielen Schönen im übrigen Europa im Vordergrund steht und Werke aus der Blütezeit der deut schen Buchausstattung und -bebilderung, dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, damals als das deutsche Buch und Buchbild alle anderen übertraf, in einigermassen gültigen Exem plaren zu teuer geworden sind. Von den französischen illustrier ten Büchern des achtzehnten Jahrhunderts, die nur in ihren grossen Stücken und Luxuszuständen unerschwinglich sind, ist jedes einzelne »schön«, das heisst sinngemäss, voll der Grazie einer sich gern verausgabenden, dem Augenblick verfallenen und damit diesen oft genug über sich selbst erhebenden, ihn ver ewigenden après nous le déluge-Zeit, also einer bis auf die Grazie uns recht verwandten! Da solche französischen Bücher und Büchlein, wenn sie nicht gerade von deutschkargem Land adel auf der indispensablen einmaligen Pariser Bildungsreise er standen und billig in Halbfranz oder einfaches Buntpapier gebunden wurden, mindestens in schönes Ganzkalb gekleidet sind, einfaches, poliertes, marmoriertes, oder in das herrlich hell blinkende veau fauve, regelmässig hübsch goldornamen tierten und farbig beschilderten Rücken haben, so sehen sie auch dann gut und »nach etwas« aus, wenn es keine der teuren
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Deckel-, Kanten-, innen- oder wer weiss wo und wie noch ver goldeten Prunkmaroquine sind. Der Inhalt tut hier wie in den meisten Fällen,wo es sich nicht um deutsche Klassiker und ähnliche Ehrwürden handelt, wenig zur Sache. Aber, man verhehle sichs nicht, es sind doch mehr Geschenke für Damen oder Geschmacks prinzen unserer Zeit! Das französische illustrierte Buch des neunzehnten Jahrhunderts gefällt sicherlich allgemeiner, auch direkter, es ist auch leichter und verhältnismässig billiger in guten und Hauptstücken zu er werben. Daumier, von dessen Einzelblättern und Lithographien hier ja nicht die Rede sein soll, tritt als Buchillustrator - trotz seiner schönen Zeichnungen zur Art médicale - hier eher zurück, aber um ihn, vor und nach ihm, welche Fülle üppigster, viel fältigster, eigenwilligster Talente! Eines Werks wie der von Tony Johannot illustrierten Manon Lescaut oder seiner Voyage pittoresque mit den herrlichen Landschaften und Genrestücken kann man nie überdrüssig werden. Und was hat er nicht noch alles illustriert. Am populärsten seine gleichzeitig auch deutsch erschienenen Don Quichote- und Gil Blas-Bände. Und neben ihm der frühreife, märchenhaft fruchtbare Alleskönner Doré, den man einen Spezialisten für Genialität nennen könnte, mit sei nem Rabelais, seinen Bildern zu Balzacs Contes drolatiques oder zur französischen Ausgabe unseres heimischen Lügenhelden Münchhausen - dieses sogar eine seiner gelungensten kapriziöse sten Schöpfungen - oder die prachtvollen Natur-Volks-Studenten-Märchen-Bilder zu Saintines Mythologie du Rhin, wo sich, wie annähernd auch im Text, der Drang nach Verstehen der deutschen Seele oft so rührend, fast wehmütig äussert. Oder greifen wir zu dem jetzt gerade in der Schätzung wieder empor kommenden Liebling unserer Väter und Grossväter - wenigstens soweit sie süddeutsch waren - zu Gavarni, der nach Art und Sentimentalität etwa ein Parallelfall zu Murger und seiner Bohêmeverklârung ist, oder zu einem der vielen, vielen Bücher des so geistreich konzipierenden linienfeinen Bertall oder, wenn wir den Hauch der Historie und den Schatten des grössten Hel den verspüren wollen, zu Horace Vernets Napoleonbüchern oder zu was nicht allem. Kurzum, ein französisches Illustratum
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gerade des neunzehnten Jahrhunderts wird immer Spass machen oder mehr. Ebenso und vielleicht dem Herzen noch wohltuender ein deutsches aus der gleichen Zeit oder dem achtzehnten. Aus dem deutschen achtzehnten, das so amüsant und geschmackvoll illustriert hat, ist ja äusser Chodowiecki und - für die Berliner Meil noch kaum wer richtig entdeckt und geschätzt, sogar nicht einmal ausreichend von ihren engeren Landsleuten die feinen geistreich phantastischen, oder wie in Vorahnung romantischen Sinnierens musikhaften Schweizer Stecher: Schellenberg, der treffliche Winterthurer, Grimm, Hegi und der süsse Dunker, dessen Vignetten zur schönsten deutschen, und Bilder zur herr lichsten, freilich auch kostbaren französischen Ausgabe von Hal lers Gedichten wahrere Lyrik sind, wie die Verse des hochge lahrten und -geborenen Botanikers und Patriziers selbst. Zudem sind die meisten deutschen illustrierten Bücher des achtzehnten Jahrhunderts noch verhältnismässig wohlfeil, und Geber wie Beschenkter haben das angenehme Gefühl dabei, einem vater ländischen Kunstzweig aus der Vergessenheit zu helfen. Dass die schönen, bilderreichen Klassiker-Ausgaben des ausgehenden acht zehnten und neunzehnten Jahrhunderts - die herrliche, zweibän dige, von dem Dichter-Graphiker selbst illustrierte und gezierte Ausgabe der Werke Salomon Gessners, dessen kleine Bändchen ebenfalls aufs entzückendste von seiner Hand geschmückt sind, oder die zwei prächtigen Berliner Ramler-Prachtwerke in Quart und Oktav, oder gar die weithin prangende Quartausgabe der Wielandschen Werke, dann, bis 1850 etwa, Neureuthers, Schwinds, Rethels, oder wer es sich leisten und Freunden gön nen kann, Menzels Friedrich der Grosse - äusserst unter den Ge sichtspunkt des Geschenks fallen, versteht sich von selbst. Und auch hier sind unter den Kleineren reizende Entdeckungen zu machen, vielleicht in Ausgaben von Chamissos Peter Schlemihl, entzückenden Biedermeier-Kinderbüchern, oder den langsam aufkommenden, speziell für Damen oder »Herzblättchen« be stimmten Goldschnittsachen. Und dann, lassen wir endlich das illustrierte Buch beiseite, unsere Klassiker überhaupt! Natürlich sind da alle einigermassen nett ausgestatteten und annehmbar erhaltenen Einzel- oder Gesamtausgaben erfreuliche Geschenk-
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Stückchen. Gelingt es aber zum Beispiel, irgend etwas Schillerisches, noch dazu in hübschem Saffian- oder Maroquineinband zu ergattern, beim Liebling der Nation ist diese an sich unter deut schen weltlichen Büchern seltene Chance noch am häufigsten, oder eine der um die Jahrhundertwende sich etwas mehrenden, im ganzen ja spärlichen Prachtdrucke eines Klassikers: getrost, da darf man seines Erfolges sicher sein. Besonders die vielen schönen, auf schwerstes Papier nobel empiresk gesetzten Erschei nungen der Wiener Offizin Degen, des »deutschen Bodoni«, unter denen es auch Kleinformate hat, sind dem Geschmack und Geldbeutel zu empfehlen. Natürlich daneben alles, schlechthin alles, was der wirkliche Bodoni geschaffen hat, alte und italie nische Klassiker - das Reizvollste wohl sein kleiner Anakreon in griechischen Versalien, zumal im alten Rotleder - oder Franzö sisches, Italienisches aus der Zeit, darunter auch eine interessante italienische Übersetzung von Moses Mendelssohns denkerischen Schriften: alles schön, feierlich, ein bisschen langweilig und ge dämpft, also sehr zu ausserindividueller, offizieller Weihnachts dargabe geeignet. Zu einer solchen passt auch in hervorragendem Maasse als wirklich repräsentatives Stück irgendeine schöne und wohlerhaltene deutsche Bibel aus dem sechzehnten bis achtzehn ten Jahrhundert, die gewissermassen als himmlisches Gegen stück zum irdischen Gästebuch in keiner wohlgegründeten Fa milie fehlen sollte und in jeder Ausstattung, jedem Format und mannigfachen Preisabstufungen erhältlich ist. Als ganz spezielle Damengeschenke kämen noch Almanache und Zeitschriften mit Modekupfern aus den bisherigen, wenn auch meist kniebedecken den Epochen in Betracht, auch alte oder ältere Koch-, Tafel- und Anstandsbücher oder irgendein Frauenvademekum aus dem achtzehnten, besonders wenn in Seide gebunden. Dass man Gelehrten von einiger Wärme mit der Überreichung klassischer Werke aus ihrer eigenen Wissenschaft wohltuende Freude bereitet und von ihnen Anerkennung erntet, sollte sich denken lassen. Dass man einem Germanisten etwa Frühausgaben des Nibelungenlieds, die Bodmersche oder die von Friedrich dem Einzigen so verächtlich zurückgestossene, mit »hinausschmeissen« aus seiner Bibliothèque bedrohte Myllersche, oder Erstausgaben
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der Grimmschen Hauptwerke, besonders Jakobs, seiner deutschen Grammatik, Mythologie, Rechtsaltertümer, oder ein Lachmannsches Frühwerk schenkt, einem Historiker seien es schöne Hu manistenausgaben der antiken Geschichtsschreiber, des Tacitus, Thukydides, Plutarch, oder vielleicht J. v. Müllers Schweizer Geschichte oder Ranke, Mommsen, Burckhardt in Erstdrucken, einem Naturwissenschaftler oder Arzt Hauptwerke aus seiner Wissenschaft usw. usw. schenken könne, wird noch viel zu wenig bedacht. Auch sollte man meinen, heutigen Industriellen und Ingenieuren müssten Werke aus der Kinder- und Beginnzeit der europäischen Technik, dieser jüngsten und ausgiebigsten aller Weltbeherrscherinnen, erfreulich sein, Französisches, Englisches, bald auch Deutsches. Aber das sind Specialia, Sondermöglich keiten, auf die ich nur von weitem hinweise. Für die Mehrzahl der Fälle wird immer das illustrierte Buch in möglichst schöner Erhaltung und Bindung und vielleicht die gute Einzel- oder Gesamtausgabe bedeutender Autoren sich vor dringlich empfehlen. Und das wesentliche Ergebnis eines solchen Versuchs, das antiquarische Buch der Reihe anerkannter, gern entgegengenommener Geschenksorten einzugliedern, bestünde bei dem zweifellos vorhandenen, eingangs gestreiften eigen tümlichen Reiz, ja Geheimnis eines solchen Überlebsels aus ver gangener Zeit in einer wärmeren Liebe, einer stärkeren Ein stellung zum Buch überhaupt, die dann schliesslich dem gesam ten Buchwesen, auch dem heutigen, zugute käme.
DER PLATONISCHE EPIKUREER CARL GEORG VON MAASSEN
So wenig wie Liebe blind macht - denn was wäre Hellsichtigeres als der Blick des Liebenden - so wenig stimmt es, dass grosse Nähe verwirren müsse oder verzerren. Gewiss gibt es eine zentrale, ge wissermassen metaphysische Erkenntnis auf einen Schlag. Eine Erkenntnis, die, zum Wesenskerne dringend, das Wirkliche und das Mögliche, ja bis in die Zufälle hinein, das notwendig Fa tale einer Person oder eines Begebnisses unbedingt erfasst und in
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sich hält. Doch ist dies blitzartige Begreifen gewiss nicht die einzige Form, in der wir uns betrachtend und voll Verständnis dem Leben nähern können. Neben der Einmaligkeit jäh auf leuchtender Helle gibt es als liebliches Lebensgeschenk jenes langsame, zarte, vielleicht sogar bedächtige, durch Jahre und Jahre weiterspinnende Eintasten in eine Persönlichkeit, eine Landschaft oder einen geschichtlichen Vorgang aus Gegenwart oder Vergangenheit, wobei wir recht eigentlich heimisch werden in dem andern, es verstehen lernen, es erschliessen durch unsre Hingabe. Und es hängt nur vom Grad der Empfänglichkeit ab, freilich auch vom Maasse der Gestaltungskraft und des Sinnes für Rhythmus, Akzent und Haupttöne, wie viel oder wenig vom Wesen, von der Grundform des also Umfangenen bei solch ver trautem Umgänge sich enthüllt. Mit alledem will ich nur wünschen oder hoffen, dass mir beschieden sei bei dem Bilde, das von Carl Georg von Maassen zu ent werfen ich mir vorgenommen, jene beiden Klippen oder Fehl punkte zu vermeiden, die sich sentenziös in die bekannten und so charakteristisch kontradiktorischen Sprüche umgesetzt haben: »Freunde haben nie Talent« oder aber: »Freunde überschätzt man stets«. Allerdings sind - ich schmälere eilig und bewusst den Ruhm schwer errungener Objektivität - gerade bei Maassen diese Klippen am leichtesten zu umschiffen. Vor Stranden an der einen müsste die Fülle von Zeugnissen vielseitigster Begabungen, Fä higkeiten, Kenntnisse auch den bösartigen »guten Freund« be wahren, vor den Gefahren der andern die lächelnde und ge schmackvolle Weisheit Maassens jeden Schilderer seines Wesens wie von selber schützen. Seine Weisheit! Hu! überläuft es den Neophyt, den Vordergründler, den modernen Genüssling oder Tätler bei diesem wohlbehäglichen Wort. Er weiss ja nicht mehr, erfährt nicht mehr, dass die wirkliche Weisheit kein kaltes, mattes, vergähntes oder öliges Hingleiten über Tag und Leben bedeutet, dass sie vielmehr lächelndes Zugreifen, Empfangen, Schenken ist. Allem Reizvollen, I-äeblichen, Schmackhaften ist wahre Weisheit freund und gesellt, dem wiederkehrenden, ja dem ewigen Ablauf und Gleichmaass entlockt sie noch liebliche Reize, das Absonderliche schreckt sie nicht, und selbst aus Unheil
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und Hemmnis zieht sie heimlichen Genuss. Götter und Geschicke - wer wollte sie leugnen und ihre unwandelbare Wirklichkeit thronen, so gewiss »es sie gibt«, als ewige Normen und Gewalten sehr fernab unsrer wechselvollen, unaufhaltsam aufblinkenden und versprühenden Zeitlichkeit als schöne entrückte Bilder, stö ren also gar nicht, falle auch ihr Schatten manchmal übern Weg. Wer dient ihnen auch besser als der ihn lächelnd verfolgt, diesen einmaligen, vorbedingten und dennoch mit Freiheit, ja tänze risch durchmessenen Weg? Lehr es uns, göttlicher Platon, ver künd es, heiliger Epikuros, stimme bei, Du der Hohen Beiden spätgeborener Jünger und Nachfahr, Du leuchtendes Exempel der echten gaya scienza, Du, Ritter zugleich und Magister, Du Liebling so vieler Musen (vieler, denn es sind ja Frauen!), Du unser C. G. von Maassen! Denn mit allen diesen Blicken und Fingerzeigen, die gar keine Lobsprüche sind, nur Kenn- und Merkmale, sind wir bereits völlig bei ihm, bei ihm, dem vielleicht letzten Glaubenszeugen der lieblichsten und lockendsten aller Künste, der Kunst der Lebensfreude, die nie überwältigt, die nie verschwemmt oder be schmiert, die ihre Vertrauten hebt, schmeidigt und wohlgefällig macht. Sie bekennen, heisst für sie kämpfen, um sie werben, ja ihr verfallen sein. Und so ist denn Maassens ganzes Leben treu lich erfüllt von diesem frohgemuten, herzhaften und sinnigen Ringen in Spiel und Ernst. Nomen und Parzen, will sagen die nordländischen, über Fernfahrer und Abenteurer waltenden, wie die griechischen, Becher, Rosenkränze und lichte Schau zärt lich und würzig austeilenden Schicksalsschwestern, haben sich an seiner Wiege zusammengefunden, und ererbter Ernst im Bunde mit deutschem Verantwortungsgefühl haben dies Leben fest gehalten in seiner vielfach bunten, von Zufällen umwitterten Bahn. So sind denn die ausgesuchtesten Triebkräfte guten Europäertums wirksam in diesem ritterlichen Deutschen C. G. von Maassen. Sie haben, jede für sich manchmal, meist aber rhyth misch ineinandergreifend, sein recht sagenumwobenes Leben be stimmt, ihn gereift. Ja, es ist sagenumwoben, dies Leben, das unbekümmert und aufrecht in sich selber ruht, ferne jeglichem Alltag bleibt und
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doch so gar nicht abseits steht, gar nichts von Schrulle an sich hat oder Sonderlingerei. Legenden haften sich heute schon an seinen Namen, sein Tun umspielt ein Märchenlicht, und wie aus Ritterromanen und derbem Schwank gemischt hören sich die Berichte an, die halb zweifelnd, halb gruselnd, immer aber freundlich, ja liebend auch dem Fernstehenden Farben und Liniamente darreichen zu diesem Bild. Was stimmt dabei, was ist falsch oder verbogen? - Wer möchte fragen, wer dies ent wirren wollen? Ich glaube, Maassen selber ist nichts daran ge legen, hier Ordnung zu schaffen. Denn wenige Menschen kenne ich, die so völlig sich selber zugehören, bei sich zu Hause sind, ihr Leben so sehr unter eignes, und ein sehr sicheres Gesetz stellen. Wie deutlich sehen, wie skrupulös achten dies alle, die uni ihn sind! Denn dieser verschwenderische Geist, dieser wiking haft allem Entlegenen zustossende Mut, dies träumerische und tolle Herz, längst wären sie zerstörerisch gegeneinandergestan den, hätten Anlage und Form gesprengt, hätten aus diesem so genauen wie sonoren Dasein irgendeine Schwabinger Spezialität gemacht. So aber, unter Norm und Fug gestellt, ruht dies Leben in sich und gedeiht dabei durch die Jahrzehnte. Es ruht. Maassen ist gerade um dieser innerlichen Lockungen und Leidenschaften willen äusserlich der sesshafteste aller Menschen. Seit er, der Norddeutsche, in München - ach einem goldneren, lustigeren und lässigeren München als dem von heute - sich niederliess, haben wohl nur geschäftliche oder Forschungsreisen ihn von dessen Weichbild entführt. Mindestens hat man die Empfin dung, er sei immer hiergeblieben, immer dagewesen. Er bedarf des Ortswechsels nicht. Reisen können diesen Sinn nicht berei chern, der so viel Welt und Fährlichkeiten in sich zieht und birgt. Denn innerlich ist er gewiss immer »auf Fahrt«. Immer wo anders. Auch in seinen vier Wänden. Ja gerade in ihnen schauert Fremde, webt das Wunder. Da ist er ganz bei sich und stets entrückt. Fast nicht zu beschreiben ist dies Heim. Wer aber für Fluiden empfänglich ist, der spürt es, spürt das bunte, bro delnde Gewimmel in diesen stillen Räumen, deren altväterisch und solid möbliertes Behagen von tausend zierlichen Elfen und putzigen Kobolden bevölkert scheint - wenn man nämlich ihren
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Herrn und Meister dort bei sich antrifft. Zur strengst vorbe stimmten Stunde natürlich. Denn das gehört zum Geheimnis dieses Lebens und seinem rätselvollen Reiz: es zeigt sich nur in wohlbedachter Absicht und Gestalt, niemals von ungefähr, nie, auch wo es bacchisch dahinrollt, im Négligé oder zerzaust. Man kann, aber man will es auch nicht überraschen oder er tappen. Wie Maassen seine Stunden verbringt, ob er sie durch liebt oder durchforscht, ob er träumend oder schaffend, »guote spise« bereitend oder zehrend, oder ob er planend einsame Nächte verbringt, die bei ihm so oft an Tagesstelle treten - dar über ist nichts auszusagen, und am Ende stimmt all dies zu gleich, ist es doch bei ihm ein und dasselbe. Denn ein platonischer Epikureer sinnt, liebt, lebt und wirkt in Einem. Verlässt Maassen aber die farbige Klause seines Einzeldaseins, wendet er sich zu Freunden und zur Welt in Umgang oder Werk, wie weiss er dann zu schenken! Wahrlich, er ist einer von den wenigen, die nach einem Worte Walthers von der Vogelweide »al der werlt die fröude mêren«. Und er tut es gern, vielfach und, gar zu fad wäre auch sonst das tägliche Brot, oft absonderlich gewürzt. Alle seine Taten und Tätchen, die Leckereien und die Neckereien menühaft aufzuzählen, das frommt nicht. Man müsste ja doch, so wollen es die Verhüllungen, unter denen er, schnellgepfeffert oder kiesewetternd oder sonstwie gerüstet und getarnt, oftmals heraustrat, Eigenstes, Schnurrigstes verschwei gen. Und Maassen selbst liegt weit mehr daran, Wissende zu letzen, als von den Vielen verschlungen zu werden, er will ge rühmt werden, nicht berühmt sein. Der grosse und gerechte Ruf seiner einzigartigen Gelehrsamkeit auf wichtigstem Teilgebiete deutscher Geistesgeschichte, einer unerhört ins Einzelne gehenden, das Verschollene mit dem Spür sinn der Liebe schatzhebenden Sachkunde, ist ja selbst, Bewun derung abnötigend, bis zu den engbrüstigsten Kathedern ge drungen. Und Maassen, der wie jeder wahrhaft Liebende und Lernende ein »ewiger Student« bleibt, lächelnd und geruhig angebotene akademische Würden ausschlug, ist heute unser be ster, ja, unser einziger durchaus zuverlässiger Kenner der deut schen Romantik von ihren Gipfeln bis zu den letzten Niede
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rungen und äussersten Ausläufern. In den zwei Menschenaltern, von 1770-1830, ist ihm wirklich kaum etwas fremd. (Ich höre ihn eben, wie er dies liest, mit etwas ironischer Zurückhaltung »wie übertrieben« murmeln, aber ich habe doch recht.) Und wie es seiner Natur gemäss ist, hält er dabei stets Ausschau nach dem zu Unrecht Vergessenen, leuchtet in die Winkel, schirmt und mehrt unser Erbgut. Hat er nicht Wetzel, Küchelbecker, Con tessa recht eigentlich entdeckt? Wo wäre ein Kanne-Kenner gleich ihm? Scheint es nicht, als sei ihm das Geheimnis der »Nachtwachen Bonaventuras« zu enthüllen gelungen? (Ich werde mich hüten, darüber mehr zu verraten.) Und ist nicht seine grosse kommentierte Ausgabe E. T. A. Hoffmanns, selbst wenn sie ewig ein michelangelesk gigantischer Torso bliebe, ein Wundererzeugnis der Liebe, der Hingabe und der Wissenschaft, ein echtes und rechtes Lebenswerk? Wie nimmermüde an dieser Ausgabe gearbeitet, gefeilt, geprüft und gewählt wurde, kann nur der engste Mitkenner halbwegs ermessen, und auch er steht oft staunend beim Betrachten und Betasten der unzähligen Stein chen, aus denen der Bau zusammengesetzt ist. Diese Hoffmannausgabe wäre freilich ganz unmöglich gewesen, hätte die weithin berühmte Maassensche Bibliothek nicht den Maassenschen Eifer unterstützt und gelenkt. An dieser Biblio thek mögt ihr ermessen, wie Liebe und Wissen, Hingabe und Schau sich gegenseits befruchten und was solch ein Erosspiel zeitigen kann! Ermessen mögt ihr auch, was insonderheit Bücher liebe ist und vermag. Nach dem gewiss nicht vielen, was ich selber von dieser Sammlung weiss, hält sie sich im Wesentlichen in den Grenzen der zwei oben genannten Menschenalter deut schen Schrifttums, nur durch gelegentliche, freilich oft köstliche Funde aus früheren Epochen, dann durch manche Werke der schalkhaften oder »badinierenden« Muse anderer Zunge und, wie sich versteht, durch die vielen Spenden forschender, dichten der und zeichnender Genossen oder Verehrer erweitert und garniert. Innerhalb ihres Sondergebiets aber - welch ein Schatzbehalter ist sie! Um die Arrivierten (wofür man das Münchner Synonymon »Grosskopfete« nur schwer unterdrückt), die Führer und Marschälle im Geisterheer, drängt sich die ganze Fülle der
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Kleineren und Kleinsten, gerade sie oft am schwersten aufzu treiben, denn schon damals blieben sie unbeachtet, wurden ver schleudert oder in regelmässiger Wiederkehr solchen Stand gerichts mit dem übrigen Leihbibliotheksballaste eingestampft. Kaum eine öffentliche Bibliothek hat bis in unsere Tage hinein - in den letzten Jahren wird es etwas besser in diesem Bezug sich ernstlich um dies Kleinzeug gekümmert, und so ist eine Sammlung wie die Maassensche von geradezu einzigem Kulturund Geistes wert. Wie viele Rarissima, ja Unika sie enthält, ist nicht auszudenken, jedenfalls nicht nachzuprüfen. Herrlich, dass sie da ist und - dass sie Maassens, des Buchkenners, des Buch frohen, des Buchliebers Hut sich vertraut. Maassens des Buchliebers vor allem. Ich weiss von keiner feu rigeren, keiner zärtlicheren, keiner besorgteren, keiner pädago gischeren, der Pflege, ja Entwicklung geliebter Bücher mehr ge widmeten Bibliophilie wie der seinen. Wenn ich über »Bücher freuden« mich aussprach; über »Bibliagogik«, den »Umgang mit Büchern« schrieb oder über »Finderglück«: immer stand mir dabei hauptsächlich C. G. von Maassen als Besitzer und Ausüber aller dieser Tugenden und Gaben vor dem inneren Blick und, ich sags nicht nur aus höflicher Bescheidenheit, mehr als an mir selbst hab ich an ihm gelernt und erfahren, was echte und wahr haftige Bücherliebe ist, echte Liebe zur Sache, echte Liebe zur Person, das heisst in diesem Falle zum einzelnen Stück, zum je weiligen Exemplar, zum Buch-Ich. Und hei alledem ist ihm ja auch als Bücherfreund die nach Nietzsche lebensnächste und hel dischste aller Tugenden eigen: die schenkende Tugend. Er liegt nicht fafnerhaft schmatzend und besitzgeschwollen missgünstig auf seinen Schätzen. Mit vollen Händen teilt er sein Wissen aus, lässt er seine Freuden mitgeniessen. Er zeigt gern und verbreitet sich, das Lieblingsstück behutsam in den Fingerspitzen oder ko send darüber hinfahrend wie über einen bebenden Mädchenleib, über die Geheimnisse, den Zauber, die Seltenheit des Fundes und seine Geschichte. Und hierbei enthüllt er sich oft bis in die dun kelsten und duftigsten Hintergründe, denn er ist ein Herr des Wortes, ein Füger und Finder gerade des gesprochenen Wortes wie kaum ein anderer. Ist seine Zunge gelöst, so strömt es ihm
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von den Lippen in Anmut, Wohlform, lässiger oder grotesker Ironie, und wer ihm in solchen Stunden nahe war, den Stunden, wo er freilich alles »ver-winkelt« findet, aber nicht müde wird zu spenden im Wort (ach, er wird ja überhaupt nie müde, und die Dauer seiner Nächte ist grenzenlos) - in solchen Stunden er fahren es die Gefährten wieder und wieder, dass Plato und Epikuros seine Paten sind und ihn mit dem Schönsten bedacht haben, was es auf dieser Erde gibt, mit Weisheit und Genuss.
DER ALTE ANTIQUAR ZU LUDWIG ROSENTHALS GEDÄCHTNIS
Unvergesslich steht in mir ein Bild: der alte Ludwig Rosenthal auf der Münchner Dult, unserm mit Oktoberfest und Salvator zu wahrzeichenhafter Dreiheit verbundenen periodischen GrossTrödelmarkt. Auch hier sucht, auch hier fand er. Da stand denn der geschäftskundige, allbekannte Leiter eines Weltantiquariats früh acht schon am Eröffnungsvortag bei den Bücherbuden, spä hend fuhr sein heftiger, zupackender Blick über getürmte Mas sen, wahllos aneinandergeschobene Reihen, heftig fuhren die zu gleich eifrigen und fühlsamen Hände in just entnagelte Kisten: hier ein Band, hier ein Kunstblatt, hier eine Handschrift, wan dernd zum immer stattlicher getürmten Beute-Konvolut. Stets war sein Fischzug reich, jedesmal zog der von Kennern, Kunden, Kollegen, vom Gross und Klein der Zunft verehrte und gefürch tete Mann wohlzufrieden in die eigenen Gewölbe voll märchen hafter Schätze. An den Arbeitstisch, den er, der Unermüdliche, bis in höchstes Greisenalter nur verliess, auserwählte Käufer zu bedienen und zugleich zu beraten. Der Unermüdliche! Wenn Genie Fleiss ist, so ist bei diesem Manne die mit zäher Ausdauer vereinte Rastlosigkeit eines feurig ausladenden Temperaments der Ursprung aller Lebenserfolge. Spüreifriger Sinn, Willens härte und ein unheimliches Verhältnis zu den Denkmälern des alten Schrifttums - trotzdem es ihm, dem Kaufmann, »Ware« sein musste, hing er am Buch mit der uralten Buchverehrung seines Stammes - diese Tugenden, die zugleich Triebe waren,
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haben ihn, der so bescheiden lächeln konnte, zu dem grossen Ausländer, ja oftmals zum Entdecker und in ungezählten Fällen zum Erhalter, Verteiler verschollenen oder gesuchtesten Buch gutes gemacht, ihn, dessen Finderglück fast sprichwörtlich ge wesen ist. Und der ein Freund und Stützer, Nährvater möchte man sprechen, der öffentlichen Bibliotheken, der privaten Samm lungen, der Gelehrten und der Liebhaber gewesen ist, dessen Andenken, obwohl er, müde geworden, vor einem Lustrum sich in die Stille zurückgezogen hatte, unverlöschlich in unserm Ge dächtnis weiter lebt. Seine Kataloge, die zugleich kenntnisstrot zenden und schlichten, heute durchzublättern, welch ein spannen der Genuss und ach, ein wie schmerzlicher! Was konnte man alles in L.R.’s Verzeichnissen finden, oder gar, wenn er Einen daranliess, in den glänzend geführten Zettelkästen erschnappen! Unerschöpflich schienen seine Bestände: Handschriften, frühste Inkunabeln, zumal die von ihm recht eigentlich ans Licht gebrach ten spanischen Frühdrucke, alte deutsche und französische Lite raturwerke, das Edelste an Holzschnittbüchern: wieviele stolze Privatsammlungen sind recht eigentlich durch ihn ermöglicht und ausgestaltet worden, wieviele Köstlichkeiten öffentlicher Bibliotheken entstammen seinen Beständen! Bei ihm zu kaufen war herrlich, ihm zu lauschen, sich das Märchen seines Lebens erzählen zu lassen - seine Rede war knapp, einfach, eindringlich, ihr Klang eher sanft und bescheiden, sein Personen- und Sachge dächtnis ungeheuer - ach, das war uns allen noch fast der liebste Teil eines Besuchs in seinem Antiquariat. Und nun hat er sich, der schon lang Entrückte, ganz von uns entfernt, in aller Stille, jeder Ehrung, jedem Gepränge, jedem Aufsehen abhold bis ins Grab hinein, aber, auch hierin voll zähen Beharrens, des Daseins Grenze hinausrückend weit übers gewohnte Maass. Mit dem fast Neunzigjährigen ist viel alte Welt, viel Geschichte, viel Arbeit dahingegangen und viel Lohn.
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DAS DEUTSCHE UNTERHALTUNGSBUCH DER VERGANGENHEIT Der Begriff der Unterhaltungs-Literatur, innerhalb des allge mein literarischen Schaffens nur betonungsmässig abzugrenzen, erläutert sich vielleicht am ehesten durch den umfassenderen der Mode, des wechselnden Zeitgeschmacks. Was interessiert, fesselt, belustigt ein Zeitalter, einen Stand, eine Altersstufe? Wo von will man unbeschwert etwas wissen, was erwünschen die Träume, welche Leere soll ausgefüllt werden, worüber jauchzt und weint man gern? Zwischen den beiden Polen: wie will man sich erfüllen, bestätigen, erhöhen, und dem andern, wie kommt man von sich los, los von Alltag, Öde, Zufall - zwischen ihnen breitet .sich das Feld der Unterhaltungs-Literatur. Und damit spricht sich schon aus, was sie erstreben muss, was ihre eigent liche Triebfeder zu sein hat: möglichst vielen zu gefallen, ja nichts anderes als den puren Beifall zu verlangen, dienstfertig zu sein, allewege bereit, »greifbar« und bequem. All das setzt freilich schon ein erhebliches Maass von literarischer Beweglich keit voraus. In Zeiten, Lebensstufen, Volksschichten gefesselter oder dumpfer Enge findet solche Literatur keinen Raum, in stür mischen, aufrüttelnden oder zersprengten Läuften, in den Epochen seelischer Erneuung oder fürchterlichen Unterganges mangelt ihr die Luft. Sie bedarf der müssigen Stunden und Seelen. Und welches ist bei derlei Absichten und Daseinsbedingungen ihr Inhalt und ihr Gehaben? In beiden ist die UnterhaltungsLiteratur Spiegelung, Wiederkehr, Weitergabe. Sie schafft nicht selber, sie führt aus, verbreitert, macht zurecht. So wie sie vor handenen Bedürfnissen entgegenkommt, so ist auch ihr Form schatz dem anderer literarischer Gattungen entnommen. Nicht einmal der für das neuere Europa oder die spätere Antike so be deutsame, für die Wandlung des Seelenstandes so charakteristi sche Übergang von der gebundenen zur ungebundenen Redeweise, vom Vers zur Prosa, ist von ihr selbständig gemacht worden. Auch hier hat sie nicht gebildet, sondern ausgebildet, ein Vorhandenes verarbeitet, freilich ins oft Ausserordentliche hochgestreckt und mit allen Mitteln für ihre Zwecke fruchtbar gemacht.
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Durch diesen Blick deuten wir zugleich an, auf welches Gebiet wir den Begriff der Unterhaltungs-Literatur besonders legen und beschränken. Wer freien Stunden zu tun geben will, lange Abende beleben, die Zeit vertreiben, den Weg kürzen will, der muss drei Hauptbegierden wachhalten und erlösen zugleich, muss sie immer wachhalten und immer erlösen: die Schaubegier, die Genussbegier, die Tatenbegier. Bild und Begebnis, Situation und Spannung sind die Elemente der echten Unterhaltungs-Literatur. Wir rechnen sie also ins grosse, vielfach gegliederte Bereich ein, in dem diese drei Begierden durchs blosse Wort aufgerufen und entladen werden, in dem nicht erblickt wird von aussen, sondern geschaut im Innern, dem Reiche des Epischen, freilich im allerausgeweitetsten Sinn und Umfang dieses Begriffs. Wir tun dies vor allem, weil das andere mit literarischer Beihilfe und litera rischen Mitteln tätige und wirksame Unterhaltungsgebiet, das von Schaubühne und Theater, wohin es auch gerate, womit es sich auch schmücke, was es auch erstrebe, in jedem Verstände un literarisch ist und nach Herkunft und »Natur«, ja nach Idee und immanentem Mythus auf sich selber beruht, aus sich selber wächst. Hier und heute darüber mehr zu sagen, wäre nicht an gebracht. Von selber fallen, unserer Wesensbestimmung gemäss, die auf Übung und spielende Freiheit des Verstandes zielenden Gattun gen, Rätsel, Sprichwort, Gnome ebenso ausserhalb dieser Be trachtung wie Lied oder Spruch, Fabel und Parabel, oder gar die politisch-religiöse Streit- und Tagesschrift, oder, weil ganz ausserliterarischen Zwecken dienstbar, alles irgend Populär-Wis senschaftliche, bis zum Punktierbuch, Glücksrad, Aderlasskalen der und Prognostikon. Eine Geschichte der Unterhaltungs-Literatur ist also im wesent lichen eine solche der erzählenden überhaupt. Und damit für alle literarisch entwickelten Epochen einer Geschichte des Lesens und Lesestoffs nahe verwandt. Natürlich auch des Vorlesestoffs. Denn bis an die Schwelle unsrer Gegenwart und rückwärts von Jahrhundert zu Jahrhundert, in steigendem Umfange bis in die Zeiten freier rezitativischer Verbreitung, wurde der litera rische Unterhaltungsstoff, der jeweilig »neueste« wie der altbe
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liebte, zum Grossteil durchs Ohr aufgenommen, waren seine Er zeugnisse zum Vorlesen bestimmt, trugen alle Eigentümlichkei ten dieses wesenhaft noch kaum erkannten, jedenfalls ungenü gend durchforschten, besonderen literarischen Zwecks. Bilden eine Gattung, die nach Anlage, Situatiopsumriss, Verteilung von Licht und Schatten, Prägnanz des Ausdrucks am ehesten unseren Zeitungs- und Fortsetzungs-R.omanen zu vergleichen, ja deren akustischer Vorläufer ist. Spinnstuben und Winterabende sind die greifbarsten Beispiele für das dabei vorauszusetzende Mi lieu; grauer Alltag und junger Herzschlag ergaben im Verein mit gläubigem Sinn und Wissbegierde den zur Aufnahme ge eigneten »einfältigen« Gefühlsgrund. Und nun die Werke selbst! Vorgreifend muss gleich festgestellt werden, dass die viel berufene, vielbejammerte »Spaltung der Nation« in getrennte Bildungs- und Geschmackssphären weit über Glaubenstrennung, Humanismus und abscheuliche Neuslzeit zurückreicht, ja wenn man Anzeichen glauben darf, schon in den Anfängen unseres Volkstums deutlich sich abzeichnete. Mindestens eine Bauern- und eine Adelsliteratur, die eine von der anderen freilich zehrend und entnehmend, hat es bis in das gleichfalls ständisch geschiedene Kult- und Götterwesen hinein immer gegeben. Hierzu trat dann im Hochmittelalter als von beiden Elementen zugleich herkommendes und sehr gesondertes Drittes das Stadtbürgertum, das sehr bald den ganzen Literatur betrieb an sich riss, den Geschmack nach oben und nach unten beeinflusste, wenn nicht vorschrieb - später freilich im Verein mit den Fürstenhöfen - und das mit seinem geistigen Pedantismus sogar die »Ausländerei«, die gelangweilte Abkehr der gesell schaftlich obersten Schichten von den deutschen literarischen Lei stungen mitverschuldet hat. Sehe man sich erhaltene deutsche Schloss- oder Patrizier-Bibliotheken des achtzehnten Jahrhun derts darauf an! Das Italienische freilich tritt mindestens für den Norden und Gesamtwesten vom Spätbarock an fast ganz zurück - während es sich in Österreich noch einigermassen, und sogar noch in Bayern, wenn auch in erheblich geringerem Umfange, herkömmlich behauptete - aber die »leichte« oder »schöne« fran zösische Tagesliteratur bildet stets den eigentlichen Grundstock,
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wogegen der in der zweiten Hälfte dieser Epoche immer mäch tiger um sich greifende englische Kultureinfluss innerhalb des Literaturkonsums hauptsächlich in Übersetzungen und nach ahmenden Eigenwerken kund wurde, also in der weniger ge reisten, weniger sprachkundigen Leserschicht wirksam war. Je denfalls machte während des gesamten achtzehnten Jahrhunderts die Herstellung von »Lesefutter«, das oft schon völlig gewerbs mässig betriebene Romanschreiben, einen nicht nur der Zahl nach sehr erheblichen Teil der literarischen Produktion aus. Diese heute sehr verschollenen Machwerke, deren einziger Zweck Tageserfolg und Verkäuflichkeit war, spiegeln aufs deutlichste den Wandel des Geschmacks, der zwar bezüglich der Fabel das »Romanhafte«, phantastische Verwicklungen, wunderbare Zu fälle und Abenteuer - erst gegen das Ende dieser Epoche auch interessante oder verkauzte Charaktere - bevorzugte. Der in Haltung und Ausdruck des Gefühls indessen sich vom pathetisch Geschwollenen und Überhöhten des noch im Jahrhundertbeginn trotz einreissender »Vernünftigkeit« weiterprunkenden Barocks mehrund mehr entfernte, das Übermaass verdünnte oderdämpfte, schwärmerisch wurde oder knasterhaft zivil. Weibliche Autoren, die für das siebzehnte Jahrhundert in der Prosa noch völlig feh len, traten nun, und gleich in grösserer Anzahl heraus: die wich tigste und fruchtbarste unter ihnen, Benedikte Naubert, hat ne ben einer Unzahl aus jedem Gedächtnis entschwundener Ritter romane mit ihren Volksmärchen sogar den Beifall der Roman tiker - E. T. A. Hoffmanns und selbst Arnims, der ihr ein Sonett gewidmet hat - erringen können. Für die unteren Schichten scheint der aus den vergangenen Jahrhunderten überkommene und festgehaltene Bestand an »Volksbüchern« mit ein paar Zu sätzen aus neuerem Geschichtsstoff damals noch ausgereicht zu haben. Die fliegenden Buchhändler führten auf Messen und Märkten nach wie vor die alten Helden-, Liebes- und WunderGeschichten, Schwänke und Faseleien in kaum der Sprache und Rechtschreibung nach modernisierter Fassung, und es ist für die Kluft zwischen Hoch und Nieder bezeichnend, dass Zachariä, dem es Spass machte, die Melusine und andere dieser Fabeln durch Versifizierung den Gebildeten mundgerecht zu machen,
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sich für diesen, wir dürfen heute sagen: Snobismus, förmlich zu rechtfertigen nötig fand. Dieser Zustand hatte für das vorhergehende, das siebzehnte Jahr hundert fast noch mehr Gültigkeit. War auch im Liederschatz des Studenten noch viel - auch über den Abgrund des grossen Kriegs hinaus mehr als man wohl zugibt - vom alten Volks gesang in Wort und Weise übrig geblieben, machten die Lyriker der Zeit neben den modisch-schäferlichen Poesien bisweilen auch echte Ausflüge und Vorstösse zu Volk und »Pöfel«, so beweist doch des grossen Grimmelshausen menschlich wie dichterisch fast anonym gebliebene Existenz, bei so viel Leseerfolg, - die Unzahl Auflagen und Umarbeitungen der simplicianischen Schriften! dass man schon damals zu wählen hatte, entweder fürs Volk schrieb oder für die Gebildeten. Dass der Simplicissimus ein wirkliches Volksbuch geworden ist, überall hindrang, dafür lie fert der Zustand vieler erhaltener Exemplare den Beweis. So verräuchert, gilbig, fingerfettig kommt man nur aus Bauern stuben! Tatsächlich, man weiss nicht, ob das meisterliche Werk über sei nen nächsten dankbaren Leserkreis hinausgedrungen ist. Wenige Jahrzehnte später hatte es, und nicht nur für Deutschland, ein in simplicianischen Schriften thematisch schon vorgeahntes Buch doch weit besser. Der »paneuropäische« Riesenbeifall des Ro binson - nebenher einer der ersten Siegeszüge des Spleen - war vielleicht der früheste allgemeine Bucherfolg, man möchte fast sagen seit der Bibel, und jedenfalls der Vorschmack der ja immer noch gern von England ausgehenden oder wenigstens dort kre ierten Saisonschlager. - Wer schreibt einmal die Geschichte der Schlager? Prachtthema! - Der Unterschied der Zeiten freilich er weist sich darin, dass man den Vorwurf unter Beibehaltung des Namens unzählige Riale und nach allen Seiten und Gesichtspunk ten frei abwandelte, jedes Volk, jedes Alter, jeder Stand sich seinen Spezialrobinson leistete, dass sogar ein »Jüdischer Robin son« in die weite Welt stolperte, während man in unserer begnügsameren Zeit etwa von einem »Christ Süss« nichts vernom men hat. Mit diesem Achselzucken breche ich ab. Gerade fängt das Thema
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an viel herzugeben., zuviel. Ein andermal über Unterhaltungs lektüre in der europäischen Renaissance, über Unterhaltungs und Amüsierstoffe im Mittelalter, und vielleicht einmal über Tagesliteratur in der Antike - über China und den sonstigen Osten weiss ich auch in dieser Beziehung nichts.
DEUTSCHES BUCH UND DEUTSCHES LEBEN Es ist doch eine sehr nachdenkliche Sache, dass sich die Deutschen eine eigentümliche Schriftart, eben die »deutschen Buchstaben«, geschaffen und durch die Jahrhunderte hin bewahrt haben. Nur sie unter den Nationen Europas, wenn wir wie billig von den Randvölkern, den Russen, Griechen, Türken oder dem über die Welt hin verstreuten Urvolk des Buches, den Juden, absehen. Innerhalb der germanisch-romanischen Gemeinschaft setzte sich schon im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts, zu fast vollkom mener Alleinherrschaft wenigstens seit dem frühen siebzehnten, die runde »Lateinschrift« gänzlich durch, während die »gebro chene« Schrift, die sich in noch sehr gotisch wirkenden Formen im nachbarlichen Holland und manchmal später noch, von Deutschland her beeinflusst, in skandinavischen Ländern am längsten neben uns gehalten hatte, sich zumal während, und wohl auch mittels, des eindringenden Barockwesens zu den uns seit dem geläufig gebliebenen Gestaltungen verschliff oder verschnör kelte. Mag man diese Entwicklung gut heissen oder bedauern grosse Meister und Schönheitsfreunde haben ihr Einhalt bieten wollen - sie hat sich behauptet durch die Jahrhunderte, durch alle Phasen, durch Aufschwünge und Niedergänge hindurch. Mit jener eher passiven Zähigkeit, mit der deutsches Wesen oft fast unbewusst sich verteidigt, an sich festhält oder sich durchsetzt. Sicher gehört die deutsche Druckschrift in diese schon fast vege tative Gegend völkischen Eigendaseins, unter Brauch, Sitte, Ge pflogenheit, Gerechtsame, als eine Art psychischer Volkstracht gewissermassen, ja als einzig übriggebliebene, keiner künstlichen Auffrischung bedürftige Eigengewandung. Und keineswegs darf
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bestritten werden, dass die - ja nur irrtümlich so genannte Lateinschrift sie an Klarheit und Würde weit übertrifft. Goethe selbst hat das ihm selber liebste, herznächste seiner firnen Bü cher, den »West-Östlichen Divan«, in einer schönen, klaren An tiqua drucken lassen, die das Wunderkind dieses feierlichen Le bens- und Venusdurchgangs, in dem Drang und Schau, Trachten und Betrachten einander die Waage halten, reif und sinnig wi derspiegelt. Und mit Goethe, ja noch einmal so unerbittlich wie dieser, hat Jakob Grimm, dem vergönnt war, tiefer, erkennender ins deutsche Wesen und in die deutschen Bildungsgesetze zu blicken als irgendein anderer unter den forschenden Suchern, der lateinischen Schrift den Vorzug gegeben, hat Bachofen sein Hauptwerk »Das Mutterrecht«, hat Nietzsche alle seine Schrif ten in Antiquadruck der Welt übergeben. Dass die von Stefan George ausgehende dichterische und geistige Bewegung sich die sen Ahnen anschliesst, ist allgemein bekannt. Jedenfalls aber hat die bis heute beibehaltene eigene Schrift dem deutschen Buch nicht nur nach aussen hin die eigentümliche Stellung gewahrt, sondern durch den inneren Gehalt, die be scheidene, fast demütige, bei aller Zackigkeit unauffällige Be haglichkeit, ja Betulichkeit der gewöhnlich verwandten Fraktur schriften, jenen gewissermassen unöffentlichen, nach innen und aufs Eigene gekehrten Charakter verliehen, der dem deutschen Wesen wenigstens der letzten Jahrhunderte und bis nahe an un sere Zeit heran entspricht. Das deutsche Buch, etwa seit dem Barock, ist in sehr ausgesprochenem Maasse ein »Hausbuch«. Es ist in sehr viel weiterem Umfange in die Familie gedrungen, Teil des Gesamtbesitzes gewesen wie anderwärts. Es war nicht nur Träger der hohen Bildung, Sicherer und Verbreiter von Wissenschaft und Staatskunst, Kündiger heiliger Worte, Spiegel des religiösen Daseins: es hat stets die Wünsche, Träume, Sehn süchte des Gemüts, unerfüllte oder zurückgedrängte, beleben, be friedigen, beschwingen helfen. Ohne das deutsche Buch könnte man sich gar nicht vorstellen, wie die Qual des Grossen Krieges, wie die Enge und Dumpfheit nach dessen Verstummen, wie alle die grotesken und fürchterlichen Folgen einer unsäglichen Öde hätten ertragen werden können - bis weit in Tage hinein, von
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denen noch unsere Grossväter nachknirschend oder mit überwin dendem Lächeln zu erzählen wussten. Wie kam es aber auch weit herum in seiner deutschen Welt, das deutsche Buch! Bis in die Winkel der sozialen Unterschich ten war nicht nur die Kunst des Lesens gedrungen, sondern auch die Lust daran. Neben Lutherbibel und Gesangbuch im prote stantischen, einer Erbauungsschrift im katholischen Deutsch land und dem ebenfalls ausnahmslos anzutreffenden Kalender mit Aderlasstafel, Wettervorhersage und, wenns hoch kam, einem Abriss der »denckwürdigsten Begebenheiten und wunderbahren Vorfälle« des verflossnen Jahrs, also neben der einfachsten Bin dung an Welt und Überwelt, lag oder duckte sich fast überall, auch in der stickigen Stube des hörigen Kleinbauers und Kätners, auch in der baufälligen Vorstadthütte des ärmsten Handlangers, irgendwas für Herz und Phantasie. Mindestens ein Messebänd chen »Gedruckt in diesem Jahr«, ein Stück jener ganz volkhaft gewordenen Literatur, die entweder, wie der Eulenspiegel, der Hans Clawert und ähnliche Rüpelhelden, nach Inhalt und Be handlung den Kleinleuten selber entstammte, oder wie die für »einfältige« Leser verständlich und schmackhaft gemachten al ten Ritter- und Wunderromane, altmodisch, »altfränkisch« ge worden, sich in naiv gebliebene Volksteile hatten flüchten müs sen. In unzähligen Zufallsausgaben, fast ausnahmslos bebildert, mit naiven aber höchst ausdrucksvollen Holzschnitten geziert, (der Holzschnitt als illustratives Vervielfältigungsmittel hat sich nach seinem Niedergang fast zweihundert Jahre durch auf diese Weise erhalten, deren geschichtliche Einzelheiten noch ganz un geklärt sind) dergestalt ausgestattet, auf grobes aber sehr dauer haftes Papier gedruckt, so erschienen diese meist ohne Umschlag, simpel mit buntem Rückenstreif gefalzten Heftlein auf jedem Jahrmarkt im Kram eines fliegenden Winkelbuchhändlers, der oft auch der Drucker war, und sie müssen reissend abgegangen sein. Denn trotzdem gerade dieser Zweig des deutschen Buches naturgemäss der Vernichtung am allermeisten ausgesetzt ist, ha ben sich glücklicherweise viele, viele Stücke erhalten und gewäh ren einen wundersamen Einblick in den Lesedrang wie in die Freude am Buchbesitz bei unseren Altvordern.
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Denn natürlicherweise mehrte und bereicherte sich die Freude am Buch, am deutschen Buch, mit der relativen Sicherung des äusseren Daseins. Gab es auch neben den eigentlichen gelehrten nicht viele wirkliche Büchersammler, entstammen auch zum Bei spiel in bemerkenswertem Umfang die noch vorhandenen deut schen Barockbücher einigen wenigen Adelsbibliotheken, so macht man doch oft Beobachtungen, findet Anzeichen aller Art, die für eine grosse Verbreitung unserer schönen Literatur in den Bürgerkreisen sprechen. Und es ist sehr bezeichnend, dass zu allen Zeiten die Frauen dem deutschen Buch besonders zugetan gewe sen sind. Der deutsche Jüngling als Hauptleser, Träger und Aus druck der deutschen schönen Literatur wird freilich seit und mit Klopstock, wie die innere Norm unseres dichterischen Schaffens, so auch der wesentlichste Empfänger der Werke. Neben den Pastoren, Rektoren, Ludimagistern und ihrem »Frauenzimmer« war der deutsche Student hauptsächlichster Bücherkäufer. Von wie vielen weiss man durch Überlieferung oder Tagebücher, wie sie sich die Kreuzer und Groschen an der Schüssel, am Glase oder am »Toback« abzwackten, um sich die Bücher anzuschaffen, die grade damals viel galten - für einen guten Teil des achtzehnten Jahrhunderts, bis tief in die vorklassischen Jahrzehnte hinein, vor allem den gefeierten Prototyp des deutschen Studenten, den schwärmerischen, verliebten, unglückseligen und wunderbar dichterischen Christian Günther. Dass dann Schiller auf Gene rationen hinaus der unbestritten oberste Ihebling des deutschen jungen Menschen war, sein Ruhm ein echter deutscher Jünglings ruhm ist - während Jean Paul durch die »Titanidische« deutsche Frau, und Goethe durch den Machtspruch der deutschen Gesamt welt zum Herrschertum gelangten - steht ja fest. Und damit halten unsre notgedrungen eiligen Sätze an der Schwelle dieser Zeit. Wie ist es heute mit dem deutschen Buch? Die vielbeklagte Abkehr vom Buch, die, zumal verglichen mit dem ungeheuren Bücherverbrauch der nachklassischen Jahr zehnte, der eigentlichen Bildungsära, ungeheuer scheint: ist sie wirklich so bedenklich? Ohne Zweifel: das »gute Buch« ist nicht mehr vorzüglichstes Wahlobjekt bei Geschenken. Ohne Zweifel: nicht nur die Zeit, sondern auch die Lust des Lesens ist gemin-
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dert. Dennoch sind wir zuversichtlich. Denn der Deutsche und sein Buch sind inniger verwachsen als man wohl glauben mag. Denke man des Tornisterinhaltes unsrer Feldgrauen im Weltkrieg!
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DER BIBLIOPHILIE IN UNSRER ZEIT Die Zeit des Sammelns aus Überfluss, Musse oder Prunksucht ist vorbei. Sie ist vorbei, gewiss und auf immer für uns Deutsche innerhalb des Reichs und Österreichs, sie wird bald auch im üb rigen Europa verrauschen. In dem fremden, rätselhaft unheim lichen Neugebilde, der russischen Welt, fehlt mit jeder Möglich keit zur Selbstbesinnung und Umschau auch diese Form des Rückgreifens, Bewahrens. Heute lässt sich schon voraussagen, dass das Erbe der Vergangenheit nicht nur in Denkmälern und Zeugnissen, sondern auch als lebendiger Strom in Gefahr ist, zu versiegen. Nicht nur die bittere Not gibt dieser Gefahr mehr und mehr Vor schub. Ein Tieferes, innerlich mit dieser Not also Verwobenes, dass keiner zu sagen wüsste, wo Zettel ist und wo Einschlag, greift hier noch bestimmender ein, noch zerstörender. Auch in unsren eignen Bezirken verfällt mit der Unlust, ja mit dem Über druss am dinglichen Besitz zugleich die Neigung, mit ihr die Gabe, einen über Nutz und Zweck hinaus vorhandenen Wert der Dinge zu erkennen, oder gar sinnfällig, seelenfällig also zu er spüren. »Die Freude an schönen Dingen« verkümmert, ver schwindet wohl ganz. Dass Statistiken, Maassnahmen, pflicht gemässe und darum notwendigerweise sinnlos tappende oder tölpelnde Rettungsversuche davon noch nichts wissen und mel den, besagt nichts. Hinter diesen Schleiern und Kulissen sieht es anders aus, ist schon alles entschieden. So wie in gorgonisch fürch terlicher Umkehrung des uralten Kronos-Mythos heute die Zeit verschlungen wird vom Dämon Augenblick, so wie allenthalben, auf jedem Seinsgebiet die Vertikalreihen verdrängt und zer sprengt werden von Horizontalballungen, so kann es kommen, dass bald jeder nicht völlig dem Götzen Gegenwart verdungene
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Dienst am Gewesenen wider den öffentlichen Anstand geht, wi der die Moral. Aus den Dingen werden Sachen, das wundersam Gewesene, ehedem ein Schatzhaus, ein Tempel oder eine köst lichste Lebensessenzen haltende, bereitende, aushauchende Krypte wird, wo es nicht ganz verschüttet ist, bestenfalls ein Steinbruch oder ein Kohlengrubenwerk, und, noch einmal gesagt, wer ihm anders zugewandt ist, ehrfürchtig und liebend, der wird verdäch tigt, bald vielleicht verfemt, gilt als Feigling oder Tagedieb. Mag es im Moment, da wir dies hinschreiben, auch noch nicht bis dahin gekommen sein, mögen wir vorgreifend einen inner lich »auf Sternen« bereits vollzogenen Umschwung zu früh und endgültig in der von ihm noch nicht völlig verstümmelten Welt wirken lassen: jedem berufenen Hüter ziemt es, durch den Zu fall und Wirrwarr von Einzelzügen hindurch auf das wirkliche Gesicht zu blicken, die Zeichen zu erspähen und zu deuten. Denn wenn das Geschick sich vollzogen hat, so dass jeder merkt, was geschehen ist, dann kommt Hilfe und Abwehr zu spät. Hilfe und Abwehr - was befugt uns, wer ruft uns auf, hier Ein halt zu gebieten? Wäre es nicht ein lächerlich-ohnmächtiges, dar um Kraft vergeudendes, darum (nicht nur im heutigen Engsinn) frevlerisches Schwimmenwo! len wider den Strom, den reissend unaufhaltsamen? Viel wäre hierauf zu erwidern. Vor allem doch dies: mögen wir sie aus unserem Bewusstsein, unserm Gefühl, unserm Ethos ausmerzen, nie können wir die Vergangenheit zernichten, abtun. Was war, west weiter, so es aber nicht mehr gesehen wird und gehegt, nicht mehr würzig einströmt, zersetzt es sich, wird Gespenst, würgender, vampyrischer Nachtmahr. »Ehret und opfert« mahnt der »Chor der Toten« bei dem gros sen Schweizer Dichter. Unglaubhaft, ja töricht mag solches Wort klingen in den un frommen, hall-losen Ohren der meisten. Ich wende mich nicht an sie. Ich weiss, an wen ich mich wende und dass man mir Ge hör schenkt, wo ich vernommen sein will. Ich spreche unter und zu Freunden des Buches, des nicht nur vorzüglichsten, sondern eigentlichen Erbträgers also, und ich spreche vom Buche von ge stern, nicht vom Buche des Augenblicks und der kommenden Tage, das andre Aufgaben erfüllt, dessen Daseinskampf von an-
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dem Helfern geschützt, von andern Feinden bedrängt ist. Mein Augenmerk, Spruch und Schirm gilt den lebendigen Zeugen des weiter währenden Einstmals. Zu oft habe ich vom alten Buch als von einer durch manche Zei ten und Hände gegangenen Wesenheit gesprochen, als dass ich heute noch dabei zu verweilen hätte. Vielleicht doch waren die Folgerungen, die ich zog, zu spielend, zu liebhaberisch. Wer jetzt noch vom Eros des Büchersammelns, Bücherliehens, Bücherumschwärmens zu künden wagt, verwirkt nicht nur die Achtung der dröhnend brutalen Zeitherren, was er verschmerzen könnte, sondern sein eignes Gewissen warnt ihn wie vor einem verbote nen, wenn auch, ach, so unentrinnbaren, ach so süssen Fehl. Nichts, was geschieht, darf mehr den »zarteren Genien des Le bens« dienen. Als jüngst in einem Nachbarlande ein gesetzlicher Naturschutz eingerichtet wurde, geschah dies ausdrücklich nicht wegen der »sentimentalen Gefühle, Anwandlungen und Wün sche«, sondern um des puren, feststellbaren Schadens willen, den die endgültige Ausrottung von Insektenvertilgern nach sich zöge. Freilich wollen wir mit diesem erschreckenden Beispiel der Ver sachlichung nicht andeuten, dass auch uns obliege, den Nutzwert des Büchersammelns darzutun oder dass wir uns zumuteten, auf die geheimen Bücherfreuden zu verzichten. Aber allerdings müssen wir an einem der grossen Wendepunkte des europäischen Lebens gefühls wissen, wozu wir da sind, worin unsere Berufung besteht, unsre Würde, welcher Idee Diener und Ausgestalter wir sind. Dem europäischen, zumindest dem deutschen und dem öster reichischen Bibliophilen liegt heute und für die Folgezeit ob, den Bestand an Buchgut selbständig zu sichern und zu sichten. Zwar weisen wir die gelegentlich schon laut gewordene Befürch tung zurück, der Besitzstand unserer öffentlichen Bibliotheken könne gefährdet werden. Man hat in dieser Beziehung schon an allerlei gedacht, etwa an den möglichen Verkauf von kostbaren Stücken in reicheres Ausland, manchmal sogar auf Stimmen ver wiesen, die gar eine »Säuberung« oder »Auskämmung« unserer öffentlichen Büchereien im Sinne parteipolitischer Tagesnormen zu fordern schienen. Von alle dem kann natürlich nicht die Rede sein. Der deutsche Geist wird sich weder seine Freiheit noch
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seine Universalität auch nur antasten lassen, gehe es im übrigen, wie es wolle, und seine Träger und Walter werden die Zeug nisse und Mittel dieses Geistes bis aufs letzte verteidigen. Wohl aber sind die öffentlichen Bibliotheken gezwungen, ihre Neuan schaffungen äusserst zu beschränken, sind gehindert, manche Ge biete weiter auszubauen, neu auftauchenden Problemen, beson ders der Geschichtsbetrachtung, aber auch der Menschenkunde etwa, das nötige Material zu bieten. Hier zumal hätte eine neu zeitliche Bibliophilie einzusetzen. Nach den verschiedensten Bich tungen kann hier Erspriessliches geleistet werden, ohne dass der Sammler nötig hätte, zum öden Spezialisten abzusinken, sich nur als Handlanger zu fühlen. Es ist geradezu erstaunlich, auf wie viele Fragen öffentliche Bibliotheken die Antwort schuldig blei ben - wenigstens wenn diese Fragen im Sinne des heutigen wis senschaftlichen Interesses und seiner besonderen Methoden ge stellt sind. Mag dies manchmal an der Rubrizierung in den Sach katalogen liegen - oft genug bestehen wirkliche Lücken. Ich möchte auf ein paar Beispiele aus meinem engeren Arbeitsbe reiche weisen. Wer wäre heute in der Lage, auf Grund des in den öffentlichen Sammlungen feststellbaren Bestandes die noch völ lig ungeschriebene, ja in ihren wichtigsten Zeugnissen unbe kannte Geschichte der deutschen Renaissancedichtung vor Opitz zu erforschen? Tüchtige Kenner werden abstreiten, dass, von dem und jenem Einzelwerk von gewissen, im Verein mit neuen musi kalischen Kunstformen entstandenen, liedhaften Erzeugnissen oder von der Herübernahme und durchaus »altfränkischen« Be arbeitung von Stoffgebieten abgesehen, ein erhebliches Eindrin gen des Renaissancegeistes im deutschen Schrifttum, sagen wir vor 1620, zu bemerken sei. In Wahrheit aber ist durchs ganze sechzehnte Jahrhundert hin in immer gesteigertem Maasse ein durch die fremden Beispiele erregter und gerichteter neuer und starker Formungswille zu beobachten, der in seiner Rücksicht nahme auf die besondere Rhythmik unseres Sprachbaues gele gentlich Ergebnisse zeitigte, die vor denen opitzischer Reglemen tierung melodisch manches voraushaben. So geht etwa die Ge schichte des deutschen Alexandriners bis ins sechzehnte Jahr hundert zurück, freilich verstecken sich die Belege in theologi-
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sehen oder zeitgeschichtlichen oder gar juristischen Einzelschrif ten. Ebenso wenig weiss man, dass es nach Reimbindung, Stro phenbau und rhythmischer Versbildung mustergültige deutsche Sonette, Übersetzungen allerdings aus dem Niederländischen, bereits um 1570 gegeben hat, und welche Entdeckungen in dieser Beziehung noch zu machen sind, erfuhr ich selber ganz kürzlich, als mir in einer Umgebung, wo ich mir nie einen derartigen Fund hätte träumen lassen, in einem Buche von 1605 ein eben falls ausgezeichnet gebautes deutsches »Sonet« entgegen sprang. (Womit des wunderlich-weisen I. V. Andreä mühsame Umschrei bungen von Sonetten Campanellas also weit hinter dem längst Erreichten Zurückbleiben!) Auch an den noch so wenig bemerk ten deutschen Zehnsylber in Strophen und Reimpaaren, dessen Denkmale freilich grossenteils auch erst zu entdecken sind, darf erinnert werden. Welch mühelohnendes Arbeits- und Sammel feld dies alles! Kenntnisse und unverdrossenes Wittern gehören freilich dazu. Denn es handelt sich fast stets um einzelne, oft an den unwahrscheinlichsten Stellen verschlupfte Stücke, aber ge rade durch ihr versprengtes Vorkommen in ungewöhnlicher Umgebung gewähren sie blitzartig Einblicke in das geistige und soziale Lebensringen ihrer Epoche. Auf ein weiteres, fast noch unbearbeitetes Sammelgebiet habe ich schon vor mehreren Jahren hingewiesen, auf die volkstümliche deutsche Barockliteratur des katholischen Südens mitsamt seinen westlichen und östlichen Grenzstrichen (»Sprache und Mund art im Deutschen« in: Bild und Gesetz). Auch hier versagen un sre öffentlichen Sammlungen fast völlig. Dabei handelt es sich um ein sehr ausgedehntes, eigentümliches, ja, wie ich a.a.O. streife, fast eigensprachliches Schaffen, von dem selbst wohlge wiegte Künder und Erkunder unserer regionalen, stammesgeschichtlichen Literatur nichts wissen. (Brenner hatte eine Ah nung davon!) Nur ein paar besonders deutlich umrissene Persön lichkeiten kennt man, den »Mirant« von Schnüffis, Khuen, den deutschen Balde - aber aus Mangel an Übersicht nimmt man diese als Einzelerscheinungen, erratische Zufälle, verfehlt ihre Einordnung und also ihre geschichtliche Würdigung. Freilich wird es immer schwerer, des Materials habhaft zu werden, so
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reich es auch ist. Wie viele Scholarchen und Pfarrherren gab es damals! Wackere, oft ausserordentlich sprachbegabte Naturen! In Wallfahrtsheftchen, Erbauungsschriften, Sitten- und Erzie hungslehren, als poetische Erläuterungen zu Bilderfolgen oder »submisseste« Ergüsse an Gönner, oder zu festlichen Feier- und Trauerakten sind diese Sachen gedruckt worden. Also in Erschei nungsformen, die dem Verderb und dem Verschallen sonderlich ausgesetzt sind. Aber wie wichtig ist es, aus solchem Raumgewirre herauszuholen, was noch übrig blieb! Hier kommt fast jede Rettung einer Entdeckung gleich. Auf viele verwandte Gruppen könnte sich das Interesse des ein zelnen Sammlers legen. Das ganze weite Feld der volkstümli chen Literaturen war bis jetzt, und bleibt natürlich, von den öf fentlichen Sammlungen vernachlässigt. Es ist ein doppelt an onymes Gebiet. Nicht nur eines anonymer Autoren, sondern auch, wenn man so sagen darf, anonymer Leser, die darum nicht an spruchsloser waren, sehr bestimmteAbsichten undWünsche einem Druckwerk entgegenbrachten. Nur unter gewissen literarhisto rischen und folkloristischen Gesichtspunkten gibt es für diese Gattungen bereits bibliographische Hilfsmittel, so für die »Volks bücher« im engeren Sinn, auch für Kalender, Volksmedizin u. ä. Auch diese Zusammenstellungen genügen noch lange nicht, und für viele Zweige dieser im Zeitalter des Soldat Inconnu doch si cherlich achtungswürdigen Gattung mangeln sie durchaus. Auch hier also wäre neben der sammlerischen noch eine bedeutende wissenschaftliche Leistung zu tun. Überhaupt sollte dem Sam meln des »Unscheinbaren« mehr Wert beigelegt werden: den Einzelschriften aller Art, allem was für den Augenblick bestimmt ist. Neben ihrem Seltenheitscharme haben diese Kleinigkeiten ihre kulturhistorische Bedeutung, enthalten oft mehr vom Geist ihrer Zeit als die würdigen Wälzer. Ich halte ein, denn ich könnte ewig fortfahren. Bei Lieblings themen wird man leicht redselig. Aber ich glaube doch, die paar Anhaltspunkte genügen, um zu zeigen, was von nun an etwa die Aufgabe büchersammlerischer Naturen zu sein hätte, zumal sie auch im Sinne des Heute zwar Hingabe verlangt, Kenntnisse und Unermüdlichkeit, aber an den so knapp gewordenen Geld-
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beutel nur wenig Anforderungen stellt und - ihre Erfüllung auch räumlich anspruchslos ist. Prunken kann man mit derlei Samm lungen freilich nicht - aber welcher wahre Bibliophile hätte das je gewollt, hätte je etwas anderes ersehnt als den intimen, höch stens mit wesensverwandten Kennern sparsam geteilten Lust genuss am persönlichen, nur ihm selber wirklich vertrauten Be sitz? Wir wollen gewiss damit dem Geschmack am schönen oder kostbaren Buch, oder an dem, was man bisher gemeinhin unter Seltenheit verstanden hat, nichts anhängen. Wer sich weiterhin solche Sammlungen zulegen oder ausbauen kann und will, auch er ist unsres Respektes gewiss, nur eben diese ehedem führend gewesene Bibliophilenart wird immer spärlicher, falls sie nicht ganz verschwindet. Und grade an ihre Stelle hätte jenes neue, fast geheimbündlerische Sammlertum zu treten. Jeder wahre Bibliophile ist ein Priester am Geiste. Was er in den Katakomben seiner Liebe birgt, ist nicht nur äusserlich vorm Untergange geschützt. Auch der Gehalt - der ja grade heim Buche mehr ist als der »Inhalt« - dieser jeweils für viele bestimmten und doch in jedem Falle einmaligen Tatsache »Buch« besteht fort, west weiter. Ein Ahnenkultus zartester, stillster Art, das ist die echte Bibliophilie. Ein Ahnenkult, der das Gewesene leib haft uns verbindet, ja verbündet. Aus dem grossen Wissen der Vergangenheit wie aus Bräuchen und Mären tönt das Gebot zu uns, Leben zu erhalten, bei uns zu hegen auch was nur noch in Wirkungen oder aus der Ferne dunkel oder stammelnd raunt. Vielleicht wird keines der Lebensgesetze heute mehr missachtet als dieses. Und vielleicht rächt keine Übertretung urgegebener Normen sich furchtbarer als dies Zerreissen der Zusammenhänge. So haben wir Bibliophilen denn geradezu einen heiligen Auftrag, einen Auftrag, der über die gesteckten Grenzen hinaus Heil brin gen, Unheil verhüten kann. Über diese Dinge ist schwer zu reden, und doch müssen sie genannt werden und ausgesprochen. Und gesagt werden muss noch, mindestens um vorlautem oder beque mem Einwand zu begegnen, dass nicht jede Form des Dabehal tens echtes Erhalten ist im feierlichen Abendscheine dieser Ge sinnung. »Die art wie ihr bewahrt ist ganz verfall« - warnt und zürnt der grosse Dichter und Richter unsrer Zeit. Nicht das tote
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oder in einem veralteten Verstände »wissenschaftliche« Stapeln, Aufspeichern und Ordnen haben wir gefordert und gepriesen, sondern seinen Gegensatz, das echte Liehhaben dessen, was war in seinem echtesten, erweckharsten Üherlebsel, dem Buch und allem, was weiter zum Reich der Bücher gehört. Wo sind die letzten Schatzhüter und Buchwarte? Ihnen gilt unser Ruf und unsre Zuversicht.
Anhang B ERICHT DER N A C H L A S S V E RWA LT ERIN
ZUR VERANTWORTUNG DER
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b ericht der Nachlassverwalterin
BERICHT DER NACH LAS S VERWALTE RIN Als Karl Wolfskehl mich im November 1934 zu sich nach Italien rief, war er damit beschäftigt, sein vor kurzem erschienenes Werk >Die Stimme spricht< zu revidieren und zu erweitern. Seit dieser Zeit habe ich an des Dichters Leben und Schaffen den nächsten Anteil nehmen dürfen. Es war mir vergönnt, vierzehn Jahre lang - zuerst in Florenz, dann in Camogli und Recco, schliesslich ab 1938 in Neuseeland - das Entstehen und Wachsen seiner Dich tungen bis zu seinem Tode im Jahre 1948 mitzuerleben. Ein fortschreitendes, beinahe zur Erblindung führendes Augen leiden brachte es mit sich, dass Karl Wolfskehl auf äussere Hilfe angewiesen war. Im letzten Jahrzehnt konnte er die eigene Schrift - seit jeher für andere schwer lesbar - kaum mehr selbst entziffern. So gehörte es zu meinen Aufgaben, erste Nieder schriften, auf lose Blätter oder in Diarienhefte hingeworfen, zu enträtseln und ins Reine zu bringen. Häufig schrieb ich grade entstandene Verse während des Hersagens mit. An den Nieder schriften liess Karl Wolfskehl schon beim Anhören Änderungen vornehmen oder fügte sie mit eigener Hand nachträglich bei. War das Stück zur Reife gediehen, so wurde eine Maschinen abschrift gefertigt - und auch diese abermals Korrekturen unter zogen. Das innere Wachstum der Dichtungen vollzog sich pflan zenhaft und erstreckte sich oft über Jahre. Eines Tages aber hiess es: »Hiermit erkläre ich feierlich und vor mir selbst: ne varietur!« Selbst ein solches Verdikt war nicht immer endgültig: oft wirkte der dem Willen entzogene Vorgang der künstlerischen Steigerung weiter. Verwundert stellte der Dichter fest, das Ge dicht sei wiederum gewachsen, abermals zu verändern oder neu einzureihen. Auch die Drucklegung eines Buches setzte diesem Drang nach Verwirklichung kein Ende. Fast alle Handexemplare, mit dem des >Umkreis< beginnend, weisen Korrekturen und Zusätze auf. So hat der Dichter bis zuletzt an seinem Werk gebaut. Über die mehr mechanische Aufgabe des Entzifferns und Ab schreibens hinaus liess Karl Wolfskehl mich an seinem inneren
Bericht der Nachlassverwalterin
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Arbeitsprozess teilhaben. Denn um mitzuarbeiten musste die Helferin mitverstehen - nicht nur mitschwingen, auch erkennen und wissen. Suchte sie zuweilen eine frühere gegen eine späte Fassung zu verteidigen, so wurde die dichterische Notwendigkeit einer Änderung oder Erweiterung eingehend erläutert, ihr Sinn und Stellenwert innerhalb des kompositorischen Aufbaus dar getan. Oft liess Wolfskehls Rede den unmittelbaren Anlass weit hinter sich und gab entrückt Kunde vom Wesen seiner Sprache und seines Dichtertums. Seit dem Beginn meiner Arbeit mit Karl Wolfskehl habe ich jeden Zettel - erste Niederschriften, handschriftlich korrigierte Schreibmaschinenmanuskripte, wie sonstige Vorstufen und Va rianten zum Werk, neben eignen Aufzeichnungen und Stich worten - getreulich gesammelt und bewahrt. Obwohl für die vorliegende Ausgabe weitgehend von der Aufnahme der frühen Fassungen, Varianten, Fragmente und Kommentare abgesehen wurde, erwies sich der Besitz all dieses Materials von grösstem Wert. Die Sichtung des Nachlasses - zu dem auch unveröffent lichte, bis in die zwanziger Jahre zurückreichende Briefe ge hören - begann in Neuseeland, bald nach dem Tode des Dichters, und wurde in London fortgesetzt. Auf diesen langjährigen Vor arbeiten beruht die Ausgabe der Gesammelten Werke. Wesentliche Aufschlüsse gaben mir die Diarien Karl Wolfskehls. Sie enthalten Meditationen über mythische Gestalten, dichte rische Bilder, Symbolwerte von Zahlen; dazwischen stehen Aphorismen, Tagebuchnotizen, Betrachtungen zur Zeit, Auf zeichnungen von Träumen; dann wieder Prosafragmente und Entwürfe, verworfene und endgültige Fassungen von Gedich ten, Pläne und Überschriften zu weiteren Werken, und An gaben für eine künftige Gesamtausgabe. Der Zugang zu diesen Diarien blieb der Helferin zu Karl Wolfs kehls Lebzeiten verwehrt. Vor dem nahen Ende übergab der Dichter sie ihr zu getreuen Händen. In einem der Hefte fand sich die folgende dunkelsinnige Widmung an sie: This volume, so I hope, to me and you appeals. For I know what it hides, and you what it reveáis. Ich habe Verborgenem nicht nachgespürt. Ich habe mich damit
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begnügt, in Zusammenarbeit mit dem Mitherausgeber, den zum Werk gehörigen Aufzeichnungen und Hinweisen zu folgen und sie, soweit es mir möglich war, dieser Ausgabe zugrunde zu legen. Für die Überlassung einer Anzahl zum literarischen Nachlass gehöriger Bücher und Mappen spreche ich den Töchtern des Dichters, Fräulein Renate Wolfskehl und Frau Judith Köllhofer, meinen verbindlichen Dank aus. Im besonderen habe ich dem Leo Baeck Institut, Jerusalem, London und New York, zu dan ken, das mir während eines Jahres die ausschliessliche Beschäf tigung mit der Herausgabe der Gesammelten Werke ermöglichte.
Margot Ruben
ZUR VERANTWORTUNG DER HERAUSGABE Der Plan, das Gesammelte Werk Karl Wolfskehls herauszu geben, hatte die Nachlassverwalterin seit längerem beschäftigt. Als der Claassen Verlag ihr im Sommer 1958 die Möglichkeit zu einer solchen Ausgabe bot, zog sie den Mitherausgeber für die editorische Arbeit hinzu. Die Frage, wie das Gesammelte Werk aufzubauen und zu gliedern sei, erfuhr schon bald eine so gültige wie verpflichtende Lösung. Bei ihrer Entzifferung der in Karl Wolfskehls Nachlass befindlichen Diarien stiess die Werkver walterin überraschend auf das detaillierte Konzept einer Ge samtausgabe. Dieser Entwurf, der im Spätjahr 1941 ohne kon kreten Anlass und also auch ohne Rücksicht auf etwaige inhalt liche Wünsche oder räumliche Vorschriften eines Verlegers nie dergelegt worden war, diente den Herausgebern bei ihrer wei teren Arbeit in allen wesentlichen Zügen als Richtschnur. Dass auch der Claassen Verlag auf sämtliche Wünsche Karl Wolfs kehls einging, ohne bei deren Durchführung den Herausgebern eine Beschränkung aufzuerlegen, sei hier mit besonderem Dank hervorgehoben. Die in den Diarien aufgefundene Skizze lautet:
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»GESAMTAUSGABE VON K. W.
I. Gesammelte Dichtungen {ohne Priester vom Geiste!) II. Umkreis, ohne Dramatisches, aber vermehrt um alle seit 1904 entstandenen Gedichte in den Blättern und sonst. Auch Auswahl aus Gelegentlichem, z. B. Eitelkeit der Eitelkeiten, und dem ganzen ungedruckten Nachlass.
III. Die Stimme spricht mit dennoch nicht darin aufgenommenen 4 Stücken.
IV. Das Buch Exul. V. Dramatisches, geteilt in: a. Chöre: Dreigesang, Geheimfeier b. Scenen: Orpheus, Saul, Sanctus c. Schattenspiele d. Maskenzug
VI. Übertragungen: Älteste Deutsche Dichtungen, Der Weinschwelg, Archipoeta, Weinbuchauszug und alle persischen und arabischen, die hebräischen aus dem Schockenalmanach, hollän dische, die 8 Hebrew Melodies by Byron etc. VII. Prosa:
1. Mythen: Priester vom Geiste, Über die Dunkelheit, das aus Folge III, Vom Neuen Lose, Die Menschwerdung, Beethoven und der Olymp. 2. Prosa aus Blättern und Jahrbüchern, aber nicht die in Jahr buch II. 5. Bild und Gesetz mit Zusätzen: Frau Aja, Mann und Frau im Menschentum Europas, der Aufsatz über Paris in Radiozeitung, Über Götzenerziehung, ungedruckt, wenn auffindbar. 4. Bibliophiles und Sammlerisches: Bücher Bücher, der Aufsatz über Maassen im Jahrbuch für Bibliophilie, Wien, und desgl. Über Beruf der Bibliophilie in unserer Zeit, etwa 1933. Auf sätze über Sammeln wenn auffindbar, über Pachinger Sammeln in München, Zigarettenspitze. 5. Gelegentliches: Elephant im Polizeiamt, Karriere als Ge spenst etc.«
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Dieser Plan bedarf kaum einer Erläuterung. Auffallend ist, dass eine R.eihe grösserer und kleinerer Arbeiten Karl Wolfskelils in diesem Konzept keine Aufnahme gefunden haben. Am vollstän digsten wird, wie zu erwarten, die Dichtung berücksichtigt. An Übertragungen fehlen Charles de Coster, Die Geschichte von Ulenspiegel, 1926; Jacques Delamain, Warum die Vögel singen, (1930); Bertrand Russell, Wissen und Wahn. Skeptische Essays, 1930. Ungedruckte Ansätze zu einer geplanten neuhochdeutschen Fassung des Nibelungenlieds in der ursprünglichen Strophen form blieben unerwähnt. Das gleiche gilt für die Umdichtungen von Lieder- und Operntexten: neben sechs englischen Texten zu Kanzonetten und Liedern von Haydn, München 1924, Zwölf Konzert- und Opernarien von Joh. Christ. Bach, Leipzig 1930, und >Fremder SangSignor BruschinoFigaro