Skaz und Unreliable Narration: Entwurf einer neuen Typologie des Erzählers 9783110407976, 9783110403893

For decades, experts in Slavic studies and English and American studies have engaged in separate discussions on the narr

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German Pages 300 Year 2015

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Zur Theorie des skaz
2.1 Boris Ejchenbaum
2.2 Viktor Vinogradov
2.3 Michail Bachtin
2.4 Irwin R. Titunik
2.5 Die Erzählertypologie Lubomír Doležels
2.6 Mögliche Bestimmungskriterien für skaz
2.6.1 Stilistische Merkmale
2.6.2 Thematische Kriterien und der skaz als Gattung
2.6.3 Der beschränkte geistige Horizont des Erzählers
2.6.4 Merkmalkombinationen
2.7 Rekapitulation und Schlussfolgerungen für das Konzept skaz
3 Zur Theorie von unreliable narration
3.1 Das Problem der Instanz
3.2 Das Problem des Gegenstands
3.2.1 Edgar Allan Poe: The Tell-Tale Heart
3.2.2 Agatha Christie: The Murder of Roger Ackroyd
3.2.3 Thomas Glavinic: Der Kameramörder
3.2.4 Patrick McGrath: The Grotesque
3.2.5 Zwischenfazit
3.2.6 Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day
3.2.7 Jerome D Salinger: The Catcher in the Rye
3.2.8 Schlussfolgerungen
3.3 Das Problem des Maßstabs
3.4 Die semantische Markierung
3.4.1 Das Kriterium der Vollständigkeit der Information
3.4.2 Das Kriterium der Korrektheit der Information
4 Zusammenfassung
5 Literaturverzeichnis
Register
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Skaz und Unreliable Narration: Entwurf einer neuen Typologie des Erzählers
 9783110407976, 9783110403893

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Andreas Ohme Skaz und Unreliable Narration

Narratologia Contributions to Narrative Theory

Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garcı´a Landa, Inke Gunia, Peter Hühn Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jörg Schönert

45

De Gruyter

Andreas Ohme

Skaz und Unreliable Narration Entwurf einer neuen Typologie des Erzählers

De Gruyter

ISBN 978-3-11-040389-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040797-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040805-8 ISSN 1612-8427 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.  2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck  Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Studie ist eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Jahr 2012 angenommen wurde. Mein Dank gilt in erster Linie meinem akademischen Mentor Prof. Dr. Ulrich Steltner, der die Entstehung dieser Arbeit mit stetiger Bereitschaft zur Diskussion und Geduld begleitet hat. Ihm fühle ich mich auch deshalb verbunden, weil er meine Lust an literaturtheoretischen Fragestellungen stets gefördert und mir dabei auch eine sehr konkrete Vorstellung davon vermittelt hat, was Wissenschaftlichkeit im Umgang mit Literatur bedeutet. Bedanken möchte ich mich ferner bei den beiden anderen Gutachtern. Prof. Dr. Jochen-Ulrich Peters hat einen nicht unerheblichen Teil meines akademischen Werdegangs mit Interesse und einer Vielzahl anregender Gespräche begleitet. Prof. Dr. Andrea Meyer-Fraatz wiederum hat in unterschiedlicher Weise dafür Sorge getragen, dass meine Anbindung an das Institut für Slawistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena bis heute fortbesteht. Dank für ihre Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts schulde ich Nadine Keßler und Iris Bauer. Nicht zuletzt gebührt mein Dank Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Schmid für seine Bereitschaft, diese Studie in die Reihe Narratologia aufzunehmen, sowie den beiden Peer-Review-Gutachtern, die diese Aufnahme befürwortet haben. All jenen aus meinem privaten Umfeld, die mich auf dem Weg zur Habilitation in vielfältiger Weise unterstützt und begleitet haben, danke ich von ganzem Herzen. Namentlich genannt seien an dieser Stelle: Thomas und Waltraud Ohme, Udo Ziemer und Claudia Klages, Doris Boden, Ulrike Lange, Dirk Oschmann, Ralf Dressel sowie ein weiteres Mal Nadine Keßler. Jena, im Juli 2014

Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung .........................................................................................

1

2 Zur Theorie des skaz .....................................................................

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2.1 Boris Ėjchenbaum ...........................................................................

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2.2 Viktor Vinogradov .........................................................................

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2.3 Michail Bachtin ...............................................................................

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2.4 Irwin R. Titunik ..............................................................................

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2.5 Die Erzählertypologie Lubomír Doležels ...............................

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2.6 Mögliche Bestimmungskriterien für skaz ................................

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2.6.1 Stilistische Merkmale ...........................................................

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2.6.2 Thematische Kriterien und der skaz als Gattung .......

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2.6.3 Der beschränkte geistige Horizont des Erzählers ......

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2.6.4 Merkmalkombinationen .....................................................

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2.7 Rekapitulation und Schlussfolgerungen für das Konzept skaz ....................................................................................

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3 Zur Theorie von unreliable narration ........................................

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3.1 Das Problem der Instanz ...............................................................

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3.2 Das Problem des Gegenstands ....................................................

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3.2.1 Edgar Allan Poe: The Tell-Tale Heart .............................

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3.2.2 Agatha Christie: The Murder of Roger Ackroyd .............

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3.2.3 Thomas Glavinic: Der Kameramörder .............................

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3.2.4 Patrick McGrath: The Grotesque ........................................

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3.2.5 Zwischenfazit ........................................................................

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3.2.6 Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day ........................

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3.2.7 Jerome D Salinger: The Catcher in the Rye .....................

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3.2.8 Schlussfolgerungen ..............................................................

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Inhaltsverzeichnis

3.3 Das Problem des Maßstabs ..........................................................

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3.4 Die semantische Markierung .......................................................

218

3.4.1 Das Kriterium der Vollständigkeit der Information ..

221

3.4.2 Das Kriterium der Korrektheit der Information .........

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4 Zusammenfassung ..........................................................................

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5 Literaturverzeichnis .......................................................................

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Register .................................................................................................

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1 Einleitung Die Gestaltung der vermittelnden Instanz stellt in der Erzählliteratur zweifellos eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten der Rezeptionslenkung dar, gibt sie dem Leser doch eine je spezifische Perspektive auf das dargestellte Geschehen vor und bietet ihm auf diese Weise einen wichtigen Anhaltspunkt für das Verständnis des Textes.1 Dabei reicht die Spannbreite von einem in jeder Hinsicht unmarkierten Erzähler bis hin zu einem solchen, der das Geschehen aus subjektiver Perspektive kommentiert und bewertet, und der darüber hinaus noch durch eine spezifische sprachliche Stilisierung ausgezeichnet sein kann. Konsequenterweise ist die Erzählinstanz deshalb zu einem zentralen Forschungsfeld der Narratologie geworden, und es mangelt nicht an Erzählertypologien, die den Versuch unternehmen, Form und Funktion der unterschiedlichen Erzählertypen zu systematisieren. Zwar entstammen derartige Typologien jeweils einem fachspezifischen Kontext, etwa der Anglistik im Falle Franz K. Stanzels (1985, 1987) oder der Romanistik im Falle Gérard Genettes (1998), um nur zwei prominente Beispiele zu nennen, doch gehören sie angesichts ihres grundsätzlichen Charakters längst zum anerkannten Forschungsbestand aller Philologien. Dieser Befund trifft freilich nicht in gleichem Maße auf die Erforschung bestimmter Stilisierungen der Erzählinstanz zu, die mit den bereits genannten Typologien nicht adäquat zu erfassen sind. Selbst wenn die jeweiligen Phänomene nicht an eine Nationalliteratur gebunden sind,2 bildet ihre wissenschaftliche Untersuchung doch häufig die Do-

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Wie stark die rezeptionslenkende Wirkung selbst im Falle eines unauffällig gestalteten Erzählers ist, macht auf paradoxe Weise Vladimir Sorokins Text Očereď (Die Schlange) aus dem Jahr 1985 deutlich, der im Untertitel zwar die Gattungsbezeichnung Roman führt, auf eine vermittelnde Instanz aber konsequent verzichtet. Durch die Absenz des Erzählers bleibt der Leser hinsichtlich der raum-zeitlichen Koordinaten und, da die inquitFormeln fehlen, auch hinsichtlich der Sprecher der einzelnen Repliken lange Zeit im Dunkeln, wodurch der Rezeptionsprozess erheblich erschwert wird. Dieser weitgehende Bruch mit den Konventionen der Erzählliteratur wirft – ungeachtet der Gattungsangabe durch den Autor – freilich die Frage auf, ob Očereď überhaupt noch zu selbiger zu zählen ist. Zwar trifft es durchaus zu, dass Phänomene wie der skaz oder auch die polnische gawęda in ihrem national-kulturellen Kontext jeweils spezifische Traditionen ausgebildet haben, die deren Erforschung in eben jenem Kontext nahe legen. Wenn aber Brigitte Schultze

Einleitung

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mäne einer einzelnen Fachdisziplin. Dies ist zweifellos bei den Konzepten skaz und unreliable narration der Fall, die in der Regel getrennt als Gegenstand der Slavistik bzw. der Anglistik/Amerikanistik behandelt werden. Diese fachliche Trennung erweist sich gerade in Bezug auf skaz und unreliable narration als nicht unproblematisch, scheinen mit diesen beiden Konzepten doch in den jeweiligen Disziplinen ähnliche Phänomene erfasst zu werden. Zwar finden sich in einzelnen narratologischen Arbeiten bisweilen kurze Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen skaz und unreliable narration,3 doch steht der systematische Aufweis eines solchen Zusammenhangs bis heute aus. Dabei scheinen die Gemeinsamkeiten zwischen dem skaz-Erzähler und dem unreliable narrator auf der Hand zu liegen. Bereits hinsichtlich ihrer Funktionsbestimmung, die zumeist in Relation zum impliziten bzw. zum abstrakten Autor vorgenommen wird,4 gelangt die Forschung zu vergleichbaren Ergebnissen. So heißt es etwa bei Wayne C. Booth, auf den der Begriff des unreliable narrator zurückgeht: For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied 5 author’s norms), unreliable when he does not. (Booth 1961, 158f.)

Wie Booth (1961, 300) an anderer Stelle ausführt, sei die Folge von unreliable narration deshalb eine „secret communion of the author and reader behind the narrator’s back.“ In vergleichbarer Weise charakterisiert Hans Günther die Diskrepanz zwischen Erzähler und abstraktem Autor im Hinblick auf den skaz: Der große Abstand des Erzählers zur Stimme und zum Standpunkt des Autors und damit zur „letzten Sinninstanz“ verlangen vom Leser eine besondere intensive Mitarbeit bei der Rekonstruktion des nicht expressis verbis gegebenen Sinns. Der Skaz setzt einen „aktiven Leser“ voraus, der den „Dissimilationsprozeß“ zwischen Autoren- und Erzählerstandpunkt nachvollziehen kann. Zwei

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und Wiebke Skalicky (2001, 319) im Rahmen ihres Konzepts einer Kulturpoetik beispielsweise den „russischen Skaz mit seinem gesamten Tradierungszusammenhang [...] als Distinktionsmerkmal einer bestimmten Literatur“ begreifen, so übersehen sie, dass die mit dieser Tradition verbundenen erzähltechnischen Verfahren durchaus auch in anderen Nationalliteraturen auftreten und damit einer fächerübergreifenden Erforschung zugeführt werden können. In diesem Sinne beschäftigt sich etwa Jiří Holý (1999) mit dem skaz als Form des Erzählens in der tschechischen Literatur, untersucht Robert Hodel (1994) den skaz im Werk des serbischen Autors Dragoslav Mihailović und bezeichnet Manfred Jahn (1998, 89) Mark Twains Huckleberry Finn und J. D. Salingers The Catcher in the Rye als skaz-Texte. Aus anglistisch-amerikanistischer Sicht vgl. Zimmermann (1995, 58–62) und Jahn (1998, 89), aus slavistischer Manns (2005, 26–28). Zur Vergleichbarkeit dieser beiden Konzepte vgl. Kindt/Müller (2006, 134). Soweit nicht anders vermerkt, entstammen die Hervorhebungen in den Zitaten dem jeweiligen Original.

Einleitung

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Hauptaufgaben fallen dem Leser zu: Einmal geht es darum, die Gestalt des Erzählers zu konkretisieren. Da er oft nur als anonymes Ich eingeführt ist, muß er aus seiner Sprache, Erzählerperspektive usw. erschlossen werden. Zum anderen ist dem Leser aufgegeben, die implizite Intention des Autors zu rekonstruieren, den Sinn des Erzählten aufzuschlüsseln, der sich sozusagen hinter dem Rücken 6 des Erzählers bildet. (Günther 1979, 329)

Aus diesem Zitat geht bereits hervor, dass im Falle von skaz und, so kann ergänzt werden, von unreliable narration der emotiven Sprachfunktion, die auf den Urheber einer Äußerung in gleichsam indexikalischer Manier zurückverweist, eine besondere Bedeutung zukommt (Günther 1979, 330; ähnlich auch A. Nünning 1998c, 18 für den unreliable narrator).7 Als Folge davon kommt es zu einer mehr oder minder stark ausgeprägten Lenkung der Aufmerksamkeit des Lesers von den dargestellten Sachverhalten weg und hin auf die Art der Vermittlung dieser Sachverhalte, die für den skaz-Erzähler ebenso charakteristisch ist wie für den unreliable narrator: Im Skaz wird die expressive Sprachfunktion auf Kosten der darstellenden aktualisiert. [...] Ėjchenbaum hat in diesem Zusammenhang von einer „Verlagerung des Schwerpunkts von der Fabel auf das Wort“ gesprochen. (Günther 1979, 330)

In vergleichbarer Weise formuliert Ansgar Nünning für den unreliable narrator: Das allgemeine Resultat des als unreliable narration bezeichneten Phänomens besteht somit darin, die Aufmerksamkeit des Rezipienten von der Ebene des Geschehens auf den Sprecher zu verlagern und dessen Idiosynkrasien hervorzuheben [...]. Nicht die Handlung steht somit im Zentrum, sondern die Perspektive und die Normabweichungen des Erzählers. (A. Nünning 1998c, 19)

Diese Idiosynkrasien und Normabweichungen in ihrer Gesamtheit, so lautet eine weitere Übereinstimmung in der Forschung, lassen auf ein spezifisches Weltbild des Erzählers schließen, welches in der Regel so stark von dem des Lesers abweicht, dass die dargestellte Welt mehr oder minder stark ausgeprägte groteske Züge annimmt.8 Im Endeffekt kommt

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Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass Günther (1979, 328; Fußnote 14) unter dem Autor hier ebenso wie Booth eine „abstrakt-ideale Instanz[...]“ versteht. Zum Begriff der emotiven bzw. expressiven Sprachfunktion vgl. Jakobson (1979, 89). Auf die Verbindung von skaz und Groteske hat bereits Boris Ėjchenbaum (1994a, 153f.) im Zusammenhang mit Nikolaj Gogoľs Erzählung Šineľ (Der Mantel) hingewiesen, ganz allgemein dann auch Miroslav Drozda (1979). Dagmar Sims (1998) wiederum hat auf die Affinität zwischen unreliable narration und Groteske aufmerksam gemacht. In beiden Fällen ist die groteske Wirkung jedoch abgeschwächt, ein Umstand, der eben in jener Wendung des Blicks vom Geschehen auf die Vermittlung des Geschehens begründet liegt: Im Falle von skaz und unreliable narration kann die grotesk erscheinende Welt dem verzerrenden Bewusstsein des Erzählers zugeschrieben werden. Ihre volle Wirkung entfaltet die

Einleitung

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es deshalb beim unreliable narrator zu einer „fortschreitenden unfreiwilligen Selbstentlarvung des Erzählers“ (A. Nünning 1998c, 6), die Günther (1979, 330) ebenso für die skaz-Texte Michail Zoščenkos konstatiert. Nicht zuletzt sind es einzelne Textmerkmale selbst, die eine Verbindung von skaz und unreliable narration nahe legen. Bei zahlreichen der von Ansgar Nünning genannten potenziellen Signale für unreliable narration handelt es sich um Verfahren, die Irwin R. Titunik (1977, 134f.) in allgemeinerer Form bereits als Charakteristika für den skaz-Erzähler angeführt hat, wie etwa: — Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Expressivität und Subjektivität;

— Häufung von Leseranreden und bewußten Versuchen der Rezeptionslenkung durch den Erzähler;

— syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit (z.B. Ausrufe, Ellipsen, Wiederholungen);

— explizite, autoreferentielle, metanarrative Thematisierung der eigenen Glaubwürdigkeit (z.B. emphatische Bekräftigung);

— eingestandene Unglaubwürdigkeit, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive Einschränkungen;

— eingestandene oder situativ bedingte Parteilichkeit […]. (A. Nünning 1998c, 28)

Bei so vielen Gemeinsamkeiten drängt sich die Frage geradezu auf, ob hier lediglich in zwei Philologien mit verschiedener Begrifflichkeit dasselbe Phänomen konzeptualisiert wird oder ob es sich bei skaz und unreliable narration nicht doch um unterschiedliche Phänomene handelt, deren Zusammenhang erst einer näheren Explikation bedarf. Eine Antwort auf diese Frage erweist sich schon allein deshalb als schwierig, weil in den beiden Disziplinen selbst kein Konsens über die Definition des jeweiligen Phänomens besteht. So konstatierte erst unlängst Wolf Schmid in Bezug auf den skaz: Obwohl der Skaz seit den Arbeiten der Russischen Formalisten [...] sich des besonderen Interesses der russischen Literaturwissenschaft erfreute, gibt es bis heute noch keine Vereinbarung darüber, was unter dem Begriff zu verstehen ist und welche Phänomene man ihm sinnvollerweise zuordnen sollte. In der russischen Erzähltheorie findet sich kaum ein zweiter Begriff mit einem so uneindeutigen Inhalt und einem so unklaren Umfang. (Schmid 2008a, 168)

Dieses Diktum gilt keineswegs nur für die russische Literaturwissenschaft, sondern, so kann ergänzend hinzugefügt werden, für die Erzähltheorie insgesamt. Ähnlich verhält es sich auch im Fall des unreliable

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Groteske aber erst in Verbindung mit einem unmarkierten Erzähler, da hier die verzerrte Welt gerade nicht auf ein individuelles Erzählerbewusstsein zurückgeführt werden kann. Ein Beispiel hierfür wäre etwa Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung.

Einleitung

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narrator, weshalb Ansgar Nünning (1998b, unpaginiert) vor nicht allzu langer Zeit zu dem Schluss gelangte, dass es „bislang weder eine befriedigende Theorie oder zumindest Definition von unreliable narration noch einen Überblick über die Formen, Funktionen und Veränderungen unglaubwürdigen Erzählens“ gibt. Sowohl beim skaz wie auch im Falle von unreliable narration ist man deshalb mit der Situation konfrontiert, dass beide Konzepte einerseits trotz intensiver Forschungsbemühungen und der daraus resultierenden Vielzahl einschlägiger Publikationen nicht als zufriedenstellend geklärt gelten können, sie aber andererseits gleichzeitig in der Analysepraxis, mehr oder weniger unhinterfragt, eine breite Anwendung finden.9 Dieser Befund ist in zweierlei Hinsicht höchst unbefriedigend, denn erst eine präzise Terminologie ermöglicht eine exakte und intersubjektiv nachvollziehbare Beschreibung der jeweiligen Textphänomene und gewährleistet damit gleichzeitig das Gelingen wissenschaftlicher Kommunikation. Umgekehrt verhindert eine mangelnde terminologische Präzision nicht nur einen Zugewinn an wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern droht darüber hinaus die eigene Disziplin zu delegitimieren, setzt sie sie doch dem Verdacht der Beliebigkeit und folglich auch der Überflüssigkeit aus. Im Bewusstsein der Spezifik des Gegenstandes als sprachlichem Artefakt mit seiner hermeneutischen Problematik einerseits und ungeachtet der aus dieser Spezifik resultierenden Vielzahl methodischer Zugänge andererseits müssen die Philologien deshalb in erster Linie darum bemüht sein, ihre Begriffe und die sich mit ihnen verbindenden Konzepte zu klären, handelt es sich bei ihnen doch um nichts weniger als das fachspezifische Analyseinstrumentarium. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, einen Beitrag zur Klärung der Konzepte skaz und unreliable narration zu leisten. Zu diesem Zweck werden sie im Folgenden unter Berücksichtigung der jeweiligen Forschungsliteratur in gesonderten Kapiteln behandelt und auf ihre explikative Kraft für die Erzähltextanalyse hin überprüft. Das Ergebnis dieser Überprüfung fällt – soviel kann an dieser Stelle bereits vorweg genommen werden – durchaus überraschend aus. Bestand die ursprüngliche Intention dieser Studie darin, die beiden Konzepte durch einen kontrastiven Zugriff zu schärfen, so wird sich im Gang der Argumentation die Dysfunktionalität sowohl des einen wie auch des anderen erweisen.10 Die Ursache hierfür ist in beiden Fällen dieselbe. Die zu kon-

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Diese Diskrepanz hat Ansgar Nünning (1998c, 3) bereits für das Konzept des unreliable narrator beklagt. Allerdings impliziert das bisherige Misslingen einer intersubjektiven Übereinkunft, wie sie Schmid für den skaz und Nünning für die unreliability konstatiert haben, bereits eben diese Dysfunktionalität.

Einleitung

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zeptualisierenden Phänomene sind schlicht zu komplex, als dass sie mit einer binären Opposition – sei es anhand des Terminus skaz oder unreliable narration – adäquat erfasst werden könnten. Deshalb ist es notwendig, ein differenzierteres Analyseinstrumentarium zu entwickeln, welches der Vielfalt der stilistischen und semantischen Gestaltungsmöglichkeiten der vermittelnden Instanz gerecht zu werden vermag. In diesem Sinne wird am Ende des Kapitels zum skaz zunächst eine allgemeine Typologie des Erzählers vorgeschlagen, die im Hinblick auf dessen semantische Markierung im Kapitel zur unreliability dann weiter differenziert wird.11 Auch wenn das Interesse der Arbeit mithin allgemeinen narratologischen Problemen gilt, so stammen die herangezogenen Textbeispiele, den jeweiligen Forschungstraditionen gemäß, doch überwiegend aus dem Bereich der russischen sowie der englischsprachigen Literatur. Da sich die Studie aufgrund ihres fachübergreifenden Charakters also nicht allein an Slavisten wendet, folgt den russischsprachigen Zitaten ebenso wie solchen aus anderen slavischen Sprachen grundsätzlich eine deutsche Übersetzung. Im Bereich der Forschungsliteratur wird dabei – sofern vorhanden – auf bereits vorliegende Übersetzungen der Originalzitate zurückgegriffen, um auf diese Weise auch für Nicht-Slavisten eine schnelle Identifizierung der Belegstellen zu ermöglichen. In allen anderen Fällen stammen die Übersetzungen vom Verfasser dieser Studie.

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Die beiden Kapitel sind aufgrund der unterschiedlichen Forschungslage zu skaz und unreliable narration verschieden aufgebaut und können – dem jeweiligen Forschungsinteresse gemäß – auch je für sich gelesen werden.

2 Zur Theorie des skaz Der Begriff skaz, dessen Etymologie unklar ist,1 bezeichnet in Russland ursprünglich eine Gattung der mündlichen Volksliteratur, die – in der Regel in Form eines Augenzeugenberichts – eine ungewöhnliche Begebenheit aus dem Alltagsleben der jüngsten Vergangenheit zum Gegenstand hat. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er dann von Vertretern der russischen Formalen Schule für eine mehr oder minder genau bestimmte Gestaltung der Erzählinstanz in der Kunstprosa verwendet und ist in diesem Sinne auch in die Erzähltheorie eingegangen. Der Zeitpunkt für das Einsetzen der skaz-Forschung ist keineswegs zufällig, denn im Gegensatz zur Dominanz der Darstellungsfunktion der Sprache im Realismus zeichnet sich die spät- und postsymbolistische Erzählliteratur der 10er und 20er Jahre als Gegenbewegung dazu häufig gerade durch eine bewusste Stilisierung der Erzählerrede aus. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Autoren wie Andrej Belyj, Aleksej Remizov, Boris Pil’njak, Evgenij Zamjatin, Konstantin Fedin oder Michail Zoščenko. Nicht zuletzt durch ihre Texte dürfte dann auch der Blick für vergleichbare Phänomene im 19. Jahrhundert und damit für eine skazTradition in der russischen Belletristik geschärft worden sein, so dass gerade die Erzählungen von Nikolaj Gogol’ und Nikolaj Leskov die Aufmerksamkeit der beginnenden skaz-Forschung auf sich zogen. Lässt man die mittlerweile neunzigjährige skaz-Forschung Revue passieren, so zeigt sich, dass neuere und neueste Ansätze zumeist im Anschluss an bzw. in Abgrenzung von immer denselben Arbeiten entwickelt wurden, die auf diese Weise gleichsam zu „Klassikern“ der skazTheoriebildung avanciert sind. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Aufsätze Kak sdelana „Šinel’“ Gogolja (1918; Wie Gogol’s „Mantel“ gemacht ist), Illjuzija skaza (1918; Die Illusion des skaz) und Leskov i sovremennaja proza (1925; Leskov und die moderne Prosa) von Boris Ėjchenbaum, den Aufsatz Problema skaza v stilistike (1925; Das Problem des skaz in der Stilistik) von Viktor Vinogradov, Michail M. Bachtins berühmte Monographie Problemy tvorčestva Dostoevskogo (1929; Probleme

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Jedenfalls fehlt ein entsprechender Eintrag in Vasmers Etymologischem Wörterbuch der russischen Sprache. Vgl. aus dem entsprechenden Wortfeld aber beispielsweise skazyvat’ (erzählen), skazka (Märchen) und skazanie (Sage, Legende).

Zur Theorie des skaz

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des Schaffens Dostoevskijs)2 sowie um Irwin R. Tituniks Dissertation The Problem of Skaz in Russian Literature (1963) bzw. dessen Aufsatz Das Problem des skaz. Kritik und Theorie (1977). Da in diesen Arbeiten in der Tat zentrale Positionen der skaz-Forschung formuliert wurden, seien deren jeweilige Argumentationslinien zunächst nachgezeichnet, bevor im Anschluss daran weitere Definitionsvorschläge für den skaz diskutiert werden.

2.1 Boris Ėjchenbaum Für die Frühphase des Russischen Formalismus war es charakteristisch, dass seine Vertreter wenig Interesse an präzisen Definitionen literaturwissenschaftlicher Kategorien zeigten. Vielmehr war es ihnen in der Regel darum zu tun, anhand konkreter Textanalysen die ästhetische Wirkung einzelner literarischer Verfahren zu beschreiben und auf diese Weise gegen eine rein utilitaristische Literaturauffassung zu polemisieren. Dementsprechend geht es in Boris Ėjchenbaums Aufsatz Kak sdelana „Šinel’“ Gogolja nicht um das Phänomen skaz als solches, sondern darum zu zeigen, welche Textstrategien Gogol’s Erzählung den Charakter einer Groteske verleihen. Zwar spielt der skaz dabei die zentrale Rolle, doch ist eben nicht der skaz an sich Gegenstand der Untersuchung, sondern dessen spezifische Ausprägung in Šinel’. Ėjchenbaum setzt damit beim Leser ganz offensichtlich ein bestimmtes Verständnis von skaz bereits voraus. Um welches es sich dabei handelt, wird gleich am Beginn seiner Ausführungen deutlich: Kompozicija novelly v značitel’noj stepeni zavisit ot togo, kakuju rol’ v ee složenii igraet ličnyj ton avtora, to est’ javljaetsja li ėtot ton načalom organizujuščim, sozdavaja bolee ili menee illjuziju skaza, ili služit tol’ko formal’noj svjaz’ju meždu sobytijami i potomu zanimaet položenie služebnoe. (Ėjchenbaum 1986, 45) Die Komposition einer Novelle hängt in hohem Maße davon ab, welche Rolle der persönliche Ton des Autors in ihrem Bau spielt, d. h. davon, ob dieser Ton Organisationsprinzip ist und damit mehr oder weniger die Illusion eines skaz erzeugt oder ob er mehr als formales Bindemittel zwischen den Ereignissen dient und daher eine Hilfsfunktion übernimmt. (Ėjchenbaum 1994a, 123)

Der Begriff skaz wird hier zunächst im Sinne der oben bereits erwähnten Gattung der Volksliteratur eingeführt, deren Spezifik sich ein Text der Erzählliteratur annähere, wenn seiner Komposition ein persönlicher Ton zugrunde liegt, wobei zunächst unklar bleibt, was darunter genau

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In einer überarbeiteten Fassung erschien das Buch 1963 unter dem Titel Problemy poėtiky Dostoevskogo (Probleme der Poetik Dostoevskijs).

Boris Ėjchenbaum

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zu verstehen ist. Fast unmittelbar darauf wird der Begriff skaz jedoch nicht mehr für die Bezeichnung der Gattung verwendet, sondern für die Summe all jener Verfahren, die den Eindruck eines solchen persönlichen Tons hervorrufen: Soveršenno inoj stanovitsja kompozicija, esli sjužet sam po sebe, kak spletenie motivov pri pomošči ich motivacii, perestaet igrat’ organizujuščuju rol’, to est’ esli rasskazčik tak ili inače vydvigaet sebja na pervyj plan, kak by tol’ko pol’zujas’ sjužetom dlja spletenija otdel’nych stilističeskych priemov. Centr tjažesti ot sjužeta (kotoryj sokraščaetsja zdes’ do minimuma) perenositsja na priemy skaza [...]. (Ėjchenbaum 1986, 45) Völlig anders wird die Komposition, wenn das Sujet an sich, verstanden als Verflechtung von Motiven mit Hilfe ihrer Motivation, aufhört, eine organisierende Rolle zu spielen, d. h. wenn der Erzähler sich auf irgendeine Weise in den Vordergrund schiebt, wobei er das Sujet eigentlich nur zur Verflechtung einzelner stilistischer Verfahren verwendet. Der Schwerpunkt wird vom Sujet (das sich in diesem Falle auf ein Minimum reduziert) auf die Verfahren des 3 skaz übertragen [...]. (Ėjchenbaum 1994a, 123)

Im Bereich der Schönen Literatur bezeichnet skaz demnach ein Bündel von stilistischen Verfahren, die den Erzählvorgang und damit die vermittelnde Instanz ins Bewusstsein des Rezipienten heben. Im Folgenden aber werden von Ėjchenbaum lediglich jene Verfahren in den Blick genommen, die für den von ihm so bezeichneten komischen skaz (komičeskij skaz; Ėjchenbaum 1986, 45) charakteristisch sind, den er seinerseits differenziert in 1) povestvujuščij i 2) vosproizvodjaščij [skaz]. Pervyj ograničivaetsja šutkami, smyslovymi kalamburami i pr.; vtoroj vvodit priemy slovesnoj mimiki i žesta, izobretaja osobye komičeskie artikuljacii, zvukovye kalambury, prichotlivye sintaksičeskie raspoloženija i t. d. (Ėjchenbaum 1986, 45f.) 1. den narrativen und 2. den reproduzierenden skaz. Der erste beschränkt sich auf Witze, auf vom Sinn her bestimmte calembours u. ä.; der zweite führt die Verfahren der Wortmimik und -gestik ein, erfindet besondere, komische Arti-

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Die von Ėjchenbaum an dieser Stelle vorgenommene schematische Gegenüberstellung von Sujet einerseits und dessen Vermittlung andererseits ist nicht unproblematisch und in der Forschung wiederholt kritisiert worden. So weist etwa Titunik (1977, 119) zu Recht darauf hin, dass Handlung und Stilisierung nicht einfach gegeneinander aufgerechnet werden können: „Aber tatsächlich sind Handlung (plot) und Stil keine kommensurablen Größen. Sie sind verschiedene Faktoren der literarischen Struktur, und obwohl sie bestimmt in einem Verhältnis zueinander stehen, das sicherlich von komplexer Art ist, befinden sie sich ganz offensichtlich nicht in irgendeiner notwendig proportionalen Korrelation.“ Es scheint deshalb nicht sinnvoll, hier von einer schematischen Entweder-OderOpposition auszugehen, sondern von einem dynamischen Verhältnis, welches es in seiner jeweiligen konkreten Ausprägung zu beschreiben gilt. Nebenbei sei bemerkt, dass es gerade die einseitige Konzentration auf den Erzähler ist, die letztlich die Schwäche von Ėjchenbaums Analyse von Šinel’ ausmacht, worauf bereits Hans Günther (1968, 182f.) hingewiesen hat.

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Zur Theorie des skaz

kulationen, vom Lautlichen bestimmte calembours, kapriziöse syntaktische Konstruktionen usw. (Ėjchenbaum 1994a, 123f.)

Letzterer nun sei die dominante Form des skaz in Šinel’. In Verbindung mit Passagen deklamatorisch-pathetischer und sentimental-melodramatischer Art führe er zu jener Stilgroteske, „in der die Mimik des Lachens mit der Mimik der Trauer abwechselt“ (Ėjchenbaum 1994a, 147) [„v kotorom mimika smecha smenjaetsja mimikoj skorbi“ (Ėjchenbaum 1986, 57)], und die das Spezifikum des Textes ausmache. In seinen Schlussfolgerungen greift Ėjchenbaum seine Differenzierung des komischen skaz erneut auf und ordnet beiden Formen je einen bestimmten Typus von Erzähler zu: Vyjasnilos’, čto skaz ėtot – ne povestvovatel’nyj, a mimiko-deklamacionnyj: ne skazitel’, a ispolnitel’, počti komediant skryvaetsja za pečatnym tekstom „Šineli“. (Ėjchenbaum 1986, 57) Es ergab sich, daß dieser skaz kein narrativer, sondern ein mimisch-deklamatorischer war: nicht ein volkstümlicher Erzähler, sondern ein Darsteller, fast ein Komödiant, verbirgt sich hinter dem gedruckten Text des „Mantel“. (Ėjchenbaum 1994a, 147)

Neben diesem komischen skaz ist schließlich auch noch die Rede von einem epischen skaz (Ėjchenbaum 1994a, 147) (ėpičeskij skaz; Ėjchenbaum 1986, 57) und synonym dazu von einem sachlichen skaz (Ėjchenbaum 1994a, 147) (delovoj skaz; Ėjchenbaum 1986, 58), der bei einem mündlich vortragenden Erzähler („skazitel’“; Ėjchenbaum 1986, 57) eigentlich zu erwarten wäre. Spätestens an dieser Stelle wird die fehlende Systematik in Ėjchenbaums Ausführungen deutlich. Wurde zunächst der Eindruck erweckt, bei skaz handle es sich in Analogie zur volkstümlichen Gattung um eine Stilisierung der vermittelnden Instanz in Richtung eines mündlichen Erzählens ganz allgemein (ėpičeskij skaz), wird durch die später vorgenommene Zuordnung „narrativer skaz – volkstümlicher Erzähler“ und „reproduzierender (mimisch-deklamatorischer) skaz – Darsteller“ eher Verwirrung gestiftet, denn Klarheit geschaffen. Die Ursache hierfür dürfte darin liegen, dass es Ėjchenbaum, wie bereits angedeutet, eben nicht um eine Definition von skaz ging, sondern darum, dem auf Vissarion Belinskij zurückgehenden und bis dahin dominanten gesellschaftskritischen Textverständnis von Šinel’ eine dezidiert philologische Betrachtungsweise von Gogol’s Erzählung entgegenzusetzen. Trotz aller Widersprüchlichkeit impliziert Ėjchenbaums Unterscheidung verschiedener skaz-Formen bereits in diesem Aufsatz, dass die Stilisierung der Erzählinstanz recht unterschiedlich ausfallen kann. Freilich scheint die Funktion all dieser Formen der Stilisierung letztlich doch stets dieselbe zu sein, nämlich die Erzeugung des Eindrucks von

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„lebendigen Redevorstellungen und Sprechemotionen“ (Ėjchenbaum 1994a, 129) [„živych rečevych predstavlenij i rečevych ėmocij“ (Ėjchenbaum 1986, 48)]. Darin aber wird bereits das Problem von Ėjchenbaums früher skaz-Konzeption deutlich: Die stilistische und damit formale Heterogenität mündet in eine funktionale Eindimensionalität, für die der Begriff der Mündlichkeit steht. Ein solches Verständnis legt auch der kurze Aufsatz Illjuzija skaza nahe. Unter Hinweis auf das Märchen und die Byline4 konstatiert Ėjchenbaum, dass das mündliche Erzählen gegenüber der Schrift die ursprüngliche Form der Tradierung und damit auch die Grundlage der künstlerischen Prosa sei. Deshalb fänden sich auch in der schriftlichen Wortkunst Verfahren, die „den Eindruck einer unmittelbaren Erzählung, einer Improvisation“ (Ėjchenbaum 1994b, 163) [„vpečatlenie neposredstvennogo rasskaza, improvizacii“ (Ėjchenbaum 1962, 154)] hervorrufen und somit auf den skaz als Gattung der Volksliteratur zurückverweisen.5 Pauschal nennt Ėjchenbaum in diesem Zusammenhang syntaktische Wendungen, Wortwahl und -stellung und schließlich die Komposition eines Textes selbst. Wie auch im Aufsatz zu Šinel’ werden mit Syntax und Lexik also einerseits stilistische Phänomene als Ursache für den skaz-Effekt angeführt, für die beispielhaft die Erzählungen von Gogol’ und Remizov stehen. Andererseits stellt sich aber die Frage, was in diesem Kontext unter Komposition zu verstehen ist. Aus Ėjchenbaums weiteren Beispielen, den Povesti Belkina (Belkins Erzählungen) von Aleksandr Puškin und den Zapiski ochotnika (Aufzeichnungen eines Jägers) von Ivan Turgenev, lässt sich schließen, dass damit die Einführung einer mehr oder weniger konkreten Erzählerfigur gemeint ist. So wird in den Povesti Belkina von ihrem fiktiven Herausgeber explizit darauf hingewiesen, dass Belkin seine fünf Erzählungen von unterschied-

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Es handelt sich dabei um die Gattungsbezeichnung für epische Heldenlieder der russischen Volksdichtung, die zunächst lediglich mündlich überliefert wurden. Bereits an dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Ėjchenbaum nicht der Erste war, der die Bedeutung des mündlichen Ursprungs des Erzählens und seinen Einfluss auf die schriftliche Erzählliteratur hervorgehoben hat. So führt etwa Käte Friedemann in ihrer Studie Die Rolle des Erzählers in der Epik aus dem Jahr 1910 aus: „Der Rhapsode, so sahen wir, repräsentierte zugleich die historisch früheste und logisch erste Form des Erzählenden, die logisch erste, weil wir in dem Verhältnis eines mündlichen Erzählers zu gegenwärtigen Hörern den ursprünglichsten Typus des Erzählers überhaupt entdeckt haben.“ (Friedemann 1965, 40) Bezüglich der Entwicklung der Erzählliteratur kommt Friedemann (1965, 35) deshalb zu folgendem Schluss: „Aus dem mündlichen Erzähler wird also der schriftliche, der aber immer die Fiktion des mündlichen Berichts aufrecht zu erhalten strebt.“ Diese frappierende Übereinstimmung in der Argumentation von Friedemann und Ėjchenbaum bestätigt auch die bereits in der Einleitung geäußerten Zweifel, dass es sich beim skaz tatsächlich um ein Spezifikum und damit auch Distinktionsmerkmal der russischen Literatur handelt (vgl. Einleitung, Fußnote 2).

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lichen Gewährsleuten zunächst gehört und daraufhin aufgezeichnet habe.6 Der Ich-Erzähler in den Zapiski ochotnika hingegen geriert sich als Augenzeuge, der die von ihm berichteten Geschehnisse möglichst unmittelbar an seine Leser weitergeben will, wovon nicht zuletzt die wiederholten Leseranreden zeugen, die die kommunikative Distanz zwischen Erzähler und fiktivem Adressaten verringern.7 Entscheidend ist aber, dass die stilistischen skaz-Merkmale, die von Ėjchenbaum zunächst ins Feld geführt worden sind, in beiden Fällen nur äußerst gering ausgeprägt sind, so dass – anders als im Falle von Šinel’ – die Aufmerksamkeit des Rezipienten eben nicht auf den Erzähler gelenkt wird.8 Der Eindruck von mündlichem Erzählen wird in diesen Fällen also nicht in erster Linie durch stilistische Verfahren erzeugt, sondern durch den Hinweis auf den mündlichen Ursprung der Erzählungen Belkins bzw. durch den expliziten Adressatenbezug in den Zapiski ochotnika. Im Vergleich zum Gogol’-Aufsatz sind die Kriterien für den skaz also deutlich weiter, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht anhand eines einzelnen Textes ermittelt wurden. Zudem entsteht durch den Gang der Argumentation der Eindruck, dass jedes dieser Kriterien für sich bereits als hinreichendes Merkmal anzusehen ist. Die Folge davon ist konsequenterweise eine erhebliche Ausweitung des skaz-Begriffes, mit dem auf diese Weise ein derart heterogenes Textkorpus konstituiert wird, dass dieser Begriff seine explikatorische Kraft gänzlich einzubüßen droht.

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„V samom dele, v rukopisi g. Belkina nad každoj povestiju rukoju avtora nadpisano: slyš[a]no mnoju ot takoj-to osoby (čin ili zvanie i zaglavnye bukvy imeni i familii). Vypisyvaem dlja ljubopytnych izyskatelej: Smotritel’ rasskazan byl emu tituljarnym sovetnikom A. G. N., Vystrel podpolkovnikom I. L. P., Grobovščik prikazčikom B. V., Mjatel’ [Metel’; A.O.] i Baryšnja deviceju K. I. T. [In der Tat ist im Manuskript von Hr. Belkin über jeder Erzählung von der Hand des Autors verzeichnet: Gehört von der und der Person (Rang oder Titel und die Anfangsbuchstaben des Vor- und Nachnamens). Wir führen sie für die neugierigen Forscher an: Der Postmeister wurde ihm von Titularrat A. G. N. erzählt, Der Schuss von Oberstleutnant I. L. P., Der Sargmacher von Gutsverwalter B. V., Der Schneesturm und Das Adelsfräulein von Fräulein K. I. T.]“ (Puškin 1995, 61) Wegen ihrer Unschärfe ist die Kategorie des Ich-Erzählers einer grundsätzlichen Kritik unterzogen worden, so etwa von Wolf Schmid (2008a, 86–89), der stattdessen das Konzept des diegetischen Erzählers vorgeschlagen hat. Von der Sache her ist es identisch mit dem homodiegetischen Erzähler in der Terminologie Genettes (1998, 175). Da in der vorliegenden Studie weiter unten eine eigene Terminologie eingeführt wird, soll zunächst an der traditionellen Dichotomie von Er- und Ich-Erzähler festgehalten werden. Gerade im Falle Turgenevs wäre ein solcher Effekt auch kontraproduktiv gewesen, hatten doch v. a. die frühen Texte der Zapiski ochotnika im Sinne der očerk-Tradition der natural’naja škola nicht zuletzt die Funktion, den Leser mit den Lebensumständen auf dem Land vertraut zu machen. Zu diesem Zweck musste die Aufmerksamkeit naturgemäß auf den dargestellten Sachverhalten liegen und nicht auf deren Vermittlung.

Boris Ėjchenbaum

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Dieser Tatsache ist sich Ėjchenbaum offenbar selbst bewusst geworden, denn in seinem späteren Aufsatz Leskov i sovremennaja proza rückte er von einem jener Beispiele, die er in Illjuzija skaza angeführt hatte, wieder ab. Galten ihm dort wegen des Auftretens einer Erzählerfigur und der Verringerung der Distanz zwischen Erzähler und fiktivem Adressaten durch die Leseranrede die Erzählungen Turgenevs noch als ein Muster mündlichen Erzählens (Ėjchenbaum 1994b, 163), weist Ėjchenbaum (1994c, 223) nun darauf hin, dass gerade bei Turgenev die Einführung einer solchen Erzählerfigur rein äußerlich bleibe. Auch die Wendung des Erzählers an den Leser wird explizit nicht mehr als Verfahren zur Erzeugung einer Illusion mündlicher Rede gewertet (Ėjchenbaum 1994c, 219). Selbst die Abbildung von einem oder mehreren Erzählvorgängen – wie etwa in Giovanni Boccaccios Decamerone – könne allein noch keinen skaz begründen. Von einem solchen könne vielmehr erst dann die Rede sein, wenn zu einer expliziten Darstellung des Erzählvorgangs die entsprechenden stilistischen Phänomene hinzutreten: Pod skazom ja razumeju takuju formu povestvovatel’noj prozy, kotoraja v svoej leksike, sintaksise i podbore intonacij obnaruživaet ustanovku na ustnuju reč’ rasskazčika. (Ėjchenbaum 1987, 413) Unter skaz verstehe ich jene Form der Erzählprosa, die in ihrer Lexik, ihrer Syntax und ihrer Wahl der Intonation deutlich auf die mündliche Rede eines Erzählers intendiert. (Ėjchenbaum 1994c, 219)

Hinsichtlich der konkreten Verfahren bleibt Ėjchenbaum allerdings erneut vage und äußert sich lediglich dahingehend, dass skaz aus einer Entfernung vom schriftlichen Standard (pis’mennaja reč’; Ėjchenbaum 1987, 413) rühre. Eine etwas konkretere Vorstellung von Ėjchenbaums skaz-Begriff erhält man erst durch die angeführten Beispieltexte sowie durch die Unterscheidung verschiedener Formen von skaz, die auf der Basis der jeweils verwendeten Lexik getroffen werden kann: Iz privedennych vyše slov Leskova, meždu pročim, vidno, čto dlja skazovych form charakterno pol’zovanie ustnoj reč’ju, imejuščej specifičeskie social’nye ili professional’nye ottenki, – reč’ krest’janina, poluintelligenta, meščanina, svjaščennika i t. d. Delo v tom, čto princip skaza trebuet, čtoby reč’ rasskazčika byla okrašena ne tol’ko intonacionno-sintaktičeskimi, no i leksičeskimi ottenkami: rasskazčik dolžen vystupat’ kak obladatel’ toj ili inoj frazeologii, togo ili inogo slovarja, čtoby osuščestvlena byla ustanovka na ustnoe slovo. (Ėjchenbaum 1987, 419) Den oben angeführten Worten Leskovs ist u.a. zu entnehmen, daß für die Formen des skaz der Gebrauch der mündlichen Rede mit spezifischen sozialen oder professionellen Nuancen charakteristisch ist – die Rede des Bauern, des Halbgebildeten, des Kleinbürgers, des Priesters usw. Das Prinzip des skaz verlangt nämlich eine durch Nuancen gefärbte Sprache des Erzählers nicht nur in Intonation und Syntax, sondern auch in der Lexik: der Erzähler muß seine Be-

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herrschung dieser oder jener Phraseologie, dieses oder jenes Wortschatzes demonstrieren, damit die Intention auf das gesprochene Wort verwirklicht wird. (Ėjchenbaum 1994c, 231)

Zwar bemüht sich Ėjchenbaum in dieser Hinsicht nicht um eine exakte Typologie, doch lassen sich andeutungsweise drei auf der Lexik basierende verschiedene Formen des skaz bei ihm unterscheiden: — ein skaz mit folkloristischer Sprachfärbung: in seinem Falle wird durch umgangssprachliche Lexik und Redewendungen der Eindruck eines mündlichen Erzählens im vertrauten Kreise (Familie etc.) erzeugt. Als Beispiel hierfür führt Ėjchenbaum Leskovs Erzählung Žitie odnoj baby (Die Vita eines Bauernweibes) an; — ein skaz, in dem Verfahren des Wortwitzes und der Volksetymologie dominant sind: er zeichne sich v. a. durch die daraus erwachsenden komischen Effekte aus, die dazu führen, dass der Erzähler ungewollt seine Halbbildung offenbart. Typische Beispiele hierfür seien Nikolaj Leskovs Erzählungen Levša (Der Linkshänder) und Leon, dvoreckij syn (Leon, der Haushofmeistersohn); — ein skaz, der durch seine spezifische Lexik die Zugehörigkeit des Erzählers zu einer bestimmten Berufsgruppe oder zu einem bestimmten sozialen Stand indiziert. Eine derartige für den skaz charakteristische lexikalische Stilisierung finde sich in der Regel zunächst lediglich in der Figurenrede, die sich zum skaz aber gleichsam auswachsen könne, wenn der Dialog nicht in erster Linie dazu dient, das Sujet voranzutreiben, sondern wenn eine sprachlich entsprechend ausgezeichnete Figur im Verlauf der Handlung selbst beginnt, eine Geschichte zu erzählen. Der skaz bedürfe jedoch nicht notwendigerweise einer solchen Motivierung auf der Ebene des dargestellten Geschehens durch die explizite Einführung einer Erzählerfigur, vielmehr reiche das Vorhandensein der oben genannten stilistischen Verfahren aus, um eine solche implizit zu konstituieren. Schließlich grenzt Ėjchenbaum von den angeführten eigentlichen Formen des skaz noch den ornamentalen skaz („ornamental’nyj skaz“; Ėjchenbaum 1987, 421) ab, der mit einer Stilisierung in Richtung mündliche Rede kaum noch etwas gemein habe und damit beim Leser auch nicht mehr die Vorstellung eines konkreten Erzählers erzeuge. Beispiele hierfür fänden sich vor allem in der Prosa Boris Pil’njaks und Vsevolod Ivanovs (Ėjchenbaum 1994c, 237). Ėjchenbaums Position lässt sich damit folgendermaßen zusammenfassen: Blieb der Begriff skaz in den ersten beiden Aufsätzen noch relativ unbestimmt, bezeichnet er in Leskov i sovremennaja proza ein Bündel durchaus heterogener stilistischer und in Bezug auf Intonation und

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Syntax nicht näher spezifizierter Verfahren, die durch Abweichung vom schriftlichen Standard beim Leser den Eindruck mündlicher Erzählerrede hervorrufen. Diese Verfahren, bei denen offenbar der Lexik eine zentrale Rolle zukommt, können sich in der Figurenrede, aber auch in der Erzählerrede finden, d. h. skaz kann nicht nur bei erzählenden Figuren vorliegen, sondern auch bei einem Erzähler, der nicht im Sinne eines Ich-Erzählers Teil der dargestellten Welt ist. Als Stilisierung der Figuren- und Erzählerrede kann sich der skaz auf eine oder einzelne Textpassagen beschränken, so dass es in einem Text zu einer Stilmischung kommt (Ėjchenbaum 1994c, 225), oder er kann einen Text in seiner Gesamtheit prägen. Und schließlich kann der skaz stärker oder schwächer ausgeprägt sein, so dass im letzteren Fall nur mehr von „einer skaz-ähnlichen Manier“ (Ėjchenbaum 1994c, 237) gesprochen werden kann.

2.2 Viktor Vinogradov In seinem Aufsatz Problema skaza v stilistike nimmt Viktor Vinogradov auf die skaz-Konzeption von Ėjchenbaum direkt Bezug. Freilich konnte er dabei wohl nur die zwei frühen Arbeiten Ėjchenbaums berücksichtigen, da sein eigener Text aus demselben Jahr stammt wie Leskov i sovremennaja proza, also von 1925. Wenn die Kritik Vinogradovs an Ėjchenbaums Position an dieser Stelle dennoch von Belang ist, so deshalb, weil sie sich nicht allein auf einzelne Argumente aus Kak sdelana „Šinel’“ Gogolja und Illjuzija skaza beschränkt, sondern weil sie darüber hinaus zudem jene Thesen infrage stellt, die auch die argumentative Basis von Ėjchenbaums drittem Aufsatz zum skaz bilden und mithin dessen gesamtes Konzept. Der zentrale Kritikpunkt Vinogradovs ist Ėjchenbaums „Definition des skaz als Intention auf die mündliche Rede [...]. Denn das ist die Definition einer Unbekannten durch eine andere Unbekannte.“ (Vinogradov 1994, 177) [„opredelenie „skaza“ kak ustanovki na ustnuju reč’ (...). Ėto – opredelenie odnogo neizvestnogo čerez drugoe, tože neizvestnoe.“ (Vinogradov 1980, 44)] Vinogradov kritisiert in erster Linie also – durchaus zu Recht – die Unschärfe von Ėjchenbaums skaz-Begriff, wodurch dieser zu einem bequemen Etikett geworden sei, welches es dem Forscher erlaube, auf detailliertere Analysen zu verzichten. Selbst Ėjchenbaums Verweis darauf, dass dem skaz Elemente der Umgangssprache zugrunde lägen, sei letztlich keine Präzisierung, sondern geradezu paradox, da solche Elemente der Umgangssprache häufig auch in dezidiert als schriftlich ausgewiesenen Gattungen (Tagebuch, Brief etc.) an-

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zutreffen seien. Ebenso wenig wie derartige Texte als skaz bezeichnet werden könnten, müssten auch skaz-Texte selbst keineswegs durch Elemente der mündlichen bzw. der umgangssprachlichen Rede ausgezeichnet sein, wie Vinogradov (1994, 177) mit Verweis auf eine Passage aus Fedor Dostoevskijs Roman Idiot (Der Idiot) und auf Turgenevs Erzählung Žid (Der Jude) anmerkt. Als letztes Argument gegen Ėjchenbaum führt Vinogradov schließlich ins Feld, dass Elemente der mündlichen Rede in der Belletristik in ganz unterschiedlichen Redeformen auftreten können, von denen die meisten gerade nicht als skaz zu bezeichnen seien, wie etwa im Figurendialog, aber beispielsweise auch in den Gerichtsreden in Dostoevskijs Brat’ja Karamazovy (Die Brüder Karamazov). Nicht die Stilisierung in Richtung Mündlichkeit als solche sei deshalb als das entscheidende Kriterium für skaz anzusehen, vielmehr gelte es bei seiner Definition das Augenmerk auf die spezifische Form der mündlichen Rede zu richten, die von Vinogradov im Folgenden als eine spezielle Form des Monologs bestimmt wird. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind dabei die unterschiedlichen Typen des außerliterarischen Monologs, wobei im Hinblick auf den skaz zunächst Monologe in schriftlicher Form ebenso ausgeklammert werden wie auch solche, „die in der Praxis des Alltags nicht an die allgemeinen Normen des familiärhäuslichen Umgangs geknüpft sind, wie z. B. Vorlesungen, Vorträge usw.“ (Vinogradov 1994, 183) [„kotorye v praktike povsednevnoj žizni ne prikrepleny k obščim normam semejno-domašnego obichoda, kak, naprimer, – lekcii, doklady i t. d.“ (Vinogradov 1980, 46)] Im Anschluss daran unterscheidet Vinogradov für den Bereich der alltäglichen sprachlichen Praxis unter funktionalem Aspekt vier Typen der monologischen Rede: monolog ubeždajuščej okraski – primitivnaja forma oratorskoj reči; monolog liričeskij kak jazykovaja forma iz’’javlenija ėmocij; monolog dramatičeskij kak složnyj vid reči, v kotoroj jazyk slov javljaetsja liš’ kak by akkompanementom drugim sistemam psichičeskich obnaruženij – putem jazyka mimiki, žestov, plastičeskich dviženij i t. p., – i, nakonec, monolog soobščajuščego tipa. (Vinogradov 1980, 47) der Monolog mit überredendem Ton – die primitive Form der oratorischen Rede; der lyrische Monolog als sprachliche Form des Ausdrucks von Emotionen; der dramatische Monolog als komplizierte Form der Rede, in der die Sprache der Worte gleichsam nur als Begleitung zu anderen Systemen psychischer Äußerungen – durch die Sprache der Mimik, der Gesten, plastischer Bewegungen usw. – erscheint, und schließlich der Monolog des mitteilenden Typs. (Vinogradov 1994, 183)

Der Monolog des mitteilenden Typs lasse sich seinerseits noch einmal unterscheiden in a) einen Monolog als Erörterung, d. h. als primitive Form der wissenschaftlichen Rede (Vinogradov 1994, 185) und b) einen

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Monolog des narrativen Typs („monolog povestvujuščego tipa“; Vinogradov 1980, 47). Letzterer nun sei als die entscheidende Basis für die Bestimmung des skaz anzusehen. Zwar tendiere ein solcher Monolog des narrativen Typs in lexikalischer und syntaktischer Hinsicht zum schriftlichen Standard, doch werde dieses Ideal in der Praxis nie erreicht. Ursache hierfür sei einerseits die mündliche Redesituation, in der es zwangsläufig zu Pausen, der Verwendung von Füllwörtern oder gar zu Anakoluthen komme. Andererseits könnten als weitere Ursachen die emotionale Involviertheit des Sprechers, die sich in der Syntax und der Lexik niederschlage, sowie unterschiedliche sprachliche Anomalien wie Stottern oder Aphasie hinzutreten. Durchaus in einem gewissen Widerspruch zu seiner eigenen Aussage, dass der Monolog des narrativen Typs lexikalisch und syntaktisch zum schriftlichen Standard tendiere, führt Vinogradov zudem aus, dass derartige Monologe natürlich auch im Rahmen eines jeden beliebigen Dialekts vorkommen können. Auf diese Weise ergebe sich für den Monolog des narrativen Typs stilistisch gesehen „eine Stufenleiter des allmählichen Hinabsteigens von den Formen der allgemeinen Sprache zur volkssprachlich-dialektischen Lexik und sogar zu den konventionellen Bildungen der Jargons, sowohl umgangs- als auch schriftsprachlicher (z. B. des kirchlichen).“ (Vinogradov 1994, 189) [„lestnica postepennych nischoždenij ot form obščego jazyka k narodno-dialektičeskoj leksike i daže k uslovnym obrazovanijam žargonov – razgovornych i knižnych, naprimer cerkovnogo.“ (Vinogradov 1980, 48)] Auf der Grundlage dieser Überlegungen formuliert Vinogradov schließlich seine Definition des skaz: Skaz – ėto svoeobraznaja literaturno-chudožestvennaja orientacija na ustnyj monolog povestvujuščego tipa, ėto – chudožestvennaja imitacija monologičeskoj reči, kotoraja, voploščaja v sebe povestvovatel’nuju fabulu, kak budto stroitsja v porjadke ee neposredstvennogo govorenija. Soveršenno jasno, čto skaz ne tol’ko ne objasan sostojat’ isključitel’no iz specifičeskich ėlementov ustnoj živoj reči, no možet i počti vovse ne zaključat’ ich v sebe (osobenno esli ego slovesnaja struktura vsja celikom ukladyvaetsja v sistemu literaturnogo jazyka). Vpročem, skaz predpolagaet izvestnuju dialektičeskuju differencirovku, t. e. izvestnyj sloj obščestva, sredi kotorogo on kak budto proiznositsja. (Vinogradov 1980, 49) Der skaz ist die eigenwillige literarisch-künstlerische Orientierung am mündlichen Monolog des narrativen Typs, er ist die künstlerische Imitation der monologischen Rede, welche, die Erzählfabel gestaltend, sich scheinbar als unmittelbarer Sprechvorgang aufbaut. Es ist völlig klar, daß der „skaz“ nicht notwendig ausnahmslos aus spezifischen Elementen der mündlichen lebendigen Rede bestehen muß, sondern auf sie sogar fast völlig verzichten kann (vor allem, wenn seine sprachliche Struktur sich vollkommen in das System der Literatursprache einfügt). Im übrigen aber setzt der skaz eine bestimmte dialektische

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Differenzierung voraus, d. h. eine bestimmte Gesellschaftsschicht, in der er 9 scheinbar vorgetragen wird. (Vinogradov 1994, 191)

Das für die alltagssprachliche Praxis lediglich fakultative Merkmal des Dialekts wird für den skaz demnach zu einem notwendigen. Scheint in der Verbindung von mündlichem narrativen Monolog mit dem Dialekt eine durchaus griffige Definition von skaz gefunden zu sein, wird sie freilich von Vinogradov selbst umgehend wieder außer Kraft gesetzt. Zum einen geschieht dies durch einzelne von ihm als Beispiele für skaz angeführte Texte, die in der Erzählerrede gerade keine dialektalen Merkmale aufweisen, wie z. B. Gogol’s Erzählung Šinel’ und auch dessen Roman Mertvye duši (Die toten Seelen) oder Turgenevs Erzählungen Tri portreta (Drei Porträts) und Andrej Kolosov.10 Zum anderen widerspricht sich Vinogradov selbst, wenn er die zunächst behauptete Notwendigkeit des Vorhandenseins einer dialektalen Färbung an anderer Stelle zur bloßen Möglichkeit erklärt: Vozmožnosti chudožestvennoj igry pri illjuzii skaza delajutsja šire, kogda reč’ perenositsja, tak skazat’, vo vneliteraturnuju sredu, za predely obščego jazyka. (Vinogradov 1980, 50) Die Möglichkeiten des künstlerischen Spiels bei der Illusion des skaz erweitern sich, wenn die Rede in die sozusagen außerliterarische Sphäre verlegt wird, über die Grenzen der allgemeinen Sprache hinaus. (Vinogradov 1994, 193)

Damit aber ist, durchaus in Übereinstimmung mit den von Vinogradov angeführten Beispielen, die Möglichkeit eines skaz im Rahmen des schriftsprachlichen Standards zumindest impliziert. Offenbar kann also beim skaz, wie etwa durch die Ukrainismen in dem von Vinogradov angeführten Beispiel des Erzählers Rudyj Pan’ko aus Gogol’s Erzählzyklus Večera na chutore bliz Dikan’ki (Abende auf dem Vorwerk bei Dikan’ka), eine Abweichung vom schriftlichen Standard vorliegen, doch muss dies offenbar nicht zwangsläufig der Fall sein. Noch deutlicher wird dieser Umstand im folgenden Zitat: Ved’ togda, kogda rasskazčik vedet reč’ svoju „kak po pisannomu“, t. e. kogda on, ostavajas’ v sfere knižnych norm, svobodno vladeet ich ustnym upotrebleniem, „skaz“ s trudom možet byt’ opoznan stilističeski [...]. (Vinogradov 1980, 51) Wenn z. B. der Erzähler seine Rede „wie nach der Schrift“ ausführt, d. h. im Bereich der schriftsprachlichen Normen verbleibend frei über ihre mündliche

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Um Missverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass sich das Adjektiv dialektisch (dialektičeskij) hier, wie im gesamten Text Vinogradovs, nicht auf die Dialektik, sondern auf den Dialekt bezieht, wie sich aus dem Kotext unzweifelhaft schließen lässt. Im Falle von Turgenevs Texten hat übrigens bereits Ėjchenbaum (1994c, 223f.) in seinem Aufsatz Leskov i sovremennaja proza ganz zu Recht darauf hingewiesen, dass bei ihnen von skaz keine Rede sein könne.

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Verwendung verfügt, kann der „skaz“ stilistisch nur mit Mühe erkannt werden [...]. (Vinogradov 1994, 197)

Wenn aber die Verwendung des Dialekts nunmehr doch kein notwendiges Kriterium für die Bestimmung von skaz ist, bleibt von Vinogradovs Definition nur noch die Redeform des mündlichen narrativen Monologs, wodurch die Frage nach den Signalen für den skaz eine besondere Dringlichkeit erlangt. Diese Frage lässt Vinogradov allerdings unbeantwortet. Denn alle von ihm genannten möglichen sprachlichen Indikatoren wie Dialektismen, die Verwendung von Jargon oder Volksetymologien sowie sprachliche Defekte und andere Signale, die auf einen mündlichen Erzählvorgang schließen lassen (Vinogradov 1994, 199f.) – mithin all jene Merkmale, die auch Ėjchenbaum für den skaz anführt –, sind seiner Meinung nach fakultativ, da der skaz eben auch maximal an den schriftlichen Standard angenähert sein kann. In einem solchen Falle seien dann „Hinweise des Autors auf die den skaz begleitenden Umstände unerläßlich.“ (Vinogradov 1994, 197) [„neobchodimy (...) avtorskie ukazanija na soputstvujuščie skazu uslovija.“ (Vinogradov 1980, 51)] Damit aber wäre jeder dargestellte und sprachlich neutral gestaltete Erzählvorgang als skaz zu qualifizieren, wodurch bei Vinogradov der skaz-Begriff derart ausgeweitet wird, dass er seine explikatorische Kraft gänzlich verliert.11 Doch nicht allein aus diesem Grunde läuft Vinogradovs Kritik an Ėjchenbaum ins Leere. Auch seine Ablehnung von dessen Kriterium der Mündlichkeit zielt an der Sache vorbei, spielt eben dieses Merkmal bei Vinogradov doch selbst eine prominente Rolle, wenn er als zentrales Bestimmungskriterium für skaz den mündlichen narrativen Monolog wählt, der darüber hinaus all jene oben angeführten fakultativen Indikatoren aufweisen kann, die im Rahmen eines nicht als dezidiert schriftlich ausgewiesenen Erzählens in der Belletristik durch die Abweichung vom Standard auf eine mündliche Redesituation hindeuten.

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In vergleichbarer Weise formulierte diese Kritik bereits Hans Günther (1979, 326): „Hält man nämlich mit Vinogradov bereits die Sprechsituation als solche für ein ausreichendes Kriterium des Skaz, dann müßte jede Einführung eines Erzählers und Unterstreichung der Erzählsituation als Skaz gelten.“ Und genau aus diesem Grunde ist auch Jurij Striedter (1994, XLVIIIf.) zu widersprechen, wenn er ausführt: „Vinogradov [...] hat [...] zu Ėjchenbaums skaz-Beiträgen Stellung genommen und dabei mit guten Gründen an einzelnen Unkorrektheiten, aber auch grundsätzlich an der linguistisch unzureichenden Definition und Differenzierung des Ėjchenbaumschen skaz-Begriffes Kritik geübt. Sein eigener Versuch, eine genauere Definition des Begriffs skaz, eine klarere Bestimmung seines Verhältnisses einerseits zur mündlichen, andererseits zur schriftlichen Rede und eine Art Katalog verschiedener Typen des skaz zu geben, ist eine berechtigte Korrektur und Ergänzung der Analysen und Thesen Ėjchenbaums.“

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So kann es im Grunde nicht überraschen, dass trotz der Kritik von Vinogradov an Ėjchenbaum beide skaz-Konzeptionen letztlich mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als Unterschiede. Dieser Umstand zeigt sich nicht nur in der Auswahl vieler der herangezogenen Beispieltexte, sondern beispielweise auch darin, dass beide skaz sowohl als Phänomen bei erzählenden Figuren als auch bei Er-Erzählern ansetzen.12 Ferner gehen beide von der Möglichkeit einer unterschiedlichen Intensität des skaz-Effektes aus, je nachdem wie stark die Signale für skaz in quantitativer und qualitativer Hinsicht ausgeprägt sind. Für den Fall einer geringen Ausprägung könne demnach nur mehr von einer „skaz-ähnlichen Manier“ (Ėjchenbaum 1994c, 237) bzw. von einer „skaz-‚Färbung‘“ (Vinogradov 1994, 205) gesprochen werden. Ursache für all diese Übereinstimmungen ist letzten Endes, dass beide Forscher bei ihrer Definition von skaz von denselben Parametern ausgehen, nämlich der nicht als schriftlich markierten Form der Vermittlung einerseits und der sprachlichen Signale für Mündlichkeit andererseits. Doch während Ėjchenbaum seine Aufmerksamkeit auf eben diese Signale richtet und somit den, in mancher Hinsicht zweifellos ungenügenden, Versuch unternimmt, die spezifischen Merkmale des skaz herauszuarbeiten, verfehlt Vinogradov dieses Ziel gerade deshalb, weil er sich mit dem narrativen Monolog in erster Linie auf die ihm zugrunde liegende Redeform konzentriert und damit auf den Erzählvorgang als solchen.

2.3 Michail Bachtin Zu jenen Texten, die für die skaz-Theorie eine zentrale Bedeutung erlangt haben, gehört auch Michail Bachtins über die Grenzen der Slavistik hinaus bekannt gewordene Dostoevskij-Monographie, welche in zwei Fassungen vorliegt (Problemy tvorčestva Dostoevskogo, 1929 und Problemy poėtiki Dostoevskogo, 1963), die in nicht unerheblichem Maße voneinander abweichen.13 Da aber die Ausführungen zum skaz von diesen Abweichungen nicht betroffen sind,14 beziehe ich mich im Folgenden ausschließlich auf die zweite Fassung. Bei der Auseinandersetzung mit Bachtins skaz-Begriff sind zwei Faktoren zu berücksichtigen, auf die es vorab hinzuweisen gilt. Zum einen bemüht sich Bachtin grundsätzlich nicht um eine exakte Termino-

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Ebenso wie Ėjchenbaum in seinem Aufsatz Leskov i sovremennaja proza weist Vinogradov (1994, 195 und 203) mehrfach auf Fälle eines skaz-Erzählers hin, der nicht als Figur auftritt. Zu den einzelnen Veränderungen in der zweiten Fassung vgl. Freise (1993, 271f.). Vgl. Bachtin (2000, 81–101) und Bachtin (2002, 207–228).

Michail Bachtin

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logie, vielmehr hat seine Begriffsverwendung häufig metaphorischen Charakter, so dass die Bedeutungen der einzelnen Termini je nach ihrem unterschiedlichen Kotext erheblich changieren – ein Umstand der der Sicherung des Textverständnisses, gelinde gesagt, nicht unbedingt zuträglich ist.15 Zum anderen beschäftigt sich Bachtin mit dem skaz gleichsam nur en passant im Rahmen seiner Konzeption des „zweistimmigen Wortes“, wo er mit so unterschiedlichen Phänomenen wie der Ich-Erzählung, der Parodie und dem Figurendialog zusammen abgehandelt wird.16 Bevor auf Bachtins skaz-Begriff näher eingegangen werden kann, muss deshalb zunächst diese Konzeption kurz erläutert werden. Bachtin geht davon aus, dass die Spezifik der soeben genannten Phänomene mit den Mitteln der Systemlinguistik, wie sie von Ferdinand de Saussure etabliert wurde, genauso wenig adäquat zu erfassen sei wie

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Diese Feststellung ist keineswegs originell, sondern stellt geradezu einen Topos der Bachtin-Forschung dar. Vgl. dazu etwa Schmid (1974, 383, Fußnote 7) oder Grübel (1979, 36). Mag dieser Umstand auch mit Bachtins Wissenschaftsauffassung zu erklären sein, wie Irina Wutsdorff (2006, 29) ausführt, so bringt eine derartige Begriffsverwendung nicht unerhebliche Probleme mit sich, wie Matthias Freise (1993, 294) mit Blick auf den Terminus der „Dialogizität“ konstatiert: „In Bachtins Monographie verschwimmen die Grenzen zwischen den Ebenen unterschiedlicher Extension, auf denen von Dialogizität gesprochen werden kann. Das macht seine Aussagen nicht falsch, aber fast bis zur Beliebigkeit unpräzise.“ Gleiches gilt für Bachtins Begriff des „Wortes“, das für das Wort als solches stehen kann, aber eben auch für Rede, Stil, Perspektive, Bewusstsein, ja sogar für Mensch. Ganz allgemein fasst Irina Wutsdorff (2006, 29) dieses Problem folgendermaßen zusammen: „Bachtins Terminologie ist in erster Linie eine philosophische; Begriffe wie Dialog, Antwort, Wort, Intonation verwendet er eher metaphorisch, bei strenger literatur- oder sprachwissenschaftlicher Betrachtung müssen sie deshalb ungenügend vage erscheinen.“ Freilich sollte auch und gerade in der Philosophie die begriffliche Präzision eher die Regel als die Ausnahme sein. Eine der Ursachen hierfür ist sicherlich der Umstand, dass der skaz im Werk Dostoevskijs lediglich eine untergeordnete Rolle spielt. Vgl. dazu auch Bachtins Hinweis, dass der „vielstimmige Roman Dostoevskijs [...] z. B. sehr viel weniger sprachliche Differenzierung, d. h. verschiedene Sprachstile, territoriale und soziale Dialekte, Berufsjargons u. ä. [enthält], als der Roman vieler monologisch schreibender Schriftsteller, wie L. Tolstoj, Pisemskij, Leskov u. a.“ (Bachtin 1985, 202) [„v mnogogolosom romane Dostoevskogo značitel’no men’še jazykovoj differenciacii, to est’ različnych jazykovych stilej, territorial’nych i social’nych dialektov, professional’nych žargonov i t. p., čem u mnogich pisatelej-monologistov: u L. Tolstogo, Pisemskogo, Leskova i drugich.“ (Bachtin 2002, 203f.)] Umso überraschender mag es daher erscheinen, dass sich auch in Bachtins Studie Slovo v romane (Das Wort im Roman) aus den Jahren 1934/35, die keinem speziellen Autor, sondern dem Problem des „zweistimmigen Wortes“ allgemein gewidmet ist, lediglich eine extrem grobe Definition von skaz als „die Stilisierung verschiedener Formen des mündlichen, alltäglichen Erzählens“ (Bachtin 1979, 156) [„stilizacija različnych form ustnogo bytovogo povestvovanija“ (Bachtin 1975, 75)] findet. Ausschlaggebend hierfür dürfte sein, dass sich Bachtin nicht lange mit der Beschreibung einzelner Formen, d. h. konkreter literarischer Verfahren aufhält, sondern sich in erster Linie für deren Funktionen interessiert, was wiederum damit zusammenhängt, dass sein „Impuls weniger ein literaturwissenschaftlicher im analytischen Sinne war, als ein kulturphilosophischer.“ (Wutsdorff 2006, 26)

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mit denen der Stilistik, da in beiden Fällen Sprache rein abstrakt, eben als ein System aufgefasst werde. Dem skaz, der Ich-Erzählung, der Parodie und dem Figurendialog könne man aber nur dann gerecht werden, wenn man sie als konkrete Äußerungen des jeweiligen Senders analysiert, dessen Bewusstsein sie repräsentieren.17 Bachtin bezeichnet diesen Zugang als metalinguistisch, doch könnte man wohl sagen, dass es ihm um eine Art Pragmatik der literarischen Redeformen zu tun ist. Eine solche Pragmatik könne zwar auf die traditionellen grammatischen und stilistischen Kategorien nicht verzichten, doch müsse ihr v. a. daran gelegen sein, für die von ihr zu erfassenden Phänomene ein geeignetes Beschreibungsinstrumentarium allererst zu entwickeln. Ausgehend von diesen Überlegungen unterscheidet Bachtin zunächst zwischen drei Typen des „Wortes“: 1. das direkte, unmittelbar auf seinen Gegenstand gerichtete Wort (das Autorwort), 2. das Objekt-Wort und 3. das Wort mit einer Ausrichtung auf ein fremdes Wort (das zweistimmige Wort [dvugolosoe slovo]). Nach Bachtin (1985, 208) zeichnet sich der erste Worttyp dadurch aus, dass er „auf seine direkte, gegenstandsbezogene Bedeutung“ hin ausgerichtet ist [„v napravlenii svoego prjamogo predmetnogo značenija“ (Bachtin 2002, 209)]. In der Terminologie Karl Bühlers könnte man sagen, dass beim ersten Worttyp die Darstellungsfunktion der Sprache dominiert.18 Um ein größtmögliches Maß an Verständnis zu gewährleisten, wird sich der Sprecher in einem solchen Fall einer neutralen Sprache bedienen, d. h. sich einer Sprachverwendung enthalten, die entweder gruppenspezifisch ist (Dialekt, Soziolekt, Jargon) oder das Erkennen seiner Intention erschwert (z. B. durch Ironie).19 Ein solches Wort sei als Ausdruck der letzten Bedeutungsinstanz

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In seiner Studie Slovo v romane formuliert Bachtin diese Prämisse auf prägnante Weise: „My berem jazyk ne kak sistemu abstraktnych grammatičeskich kategorij, a jazyk ideologičeski napolnennyj, jazyk kak mirovozzrenie i daže kak konkretnoe mnenie, obespečivajuščij maksimum vzaimnogo ponimanija vo vsech sferach ideologičeskoj žizni.“ (Bachtin 1975, 84) [„Wir erfassen die Sprache nicht als ein System abstrakter grammatischer Kategorien, sondern als ideologisch gefüllte Sprache, Sprache als Weltanschauung und sogar als konkrete Meinung; Sprache, die in allen Sphären des ideologischen Lebens ein Maximum an wechselseitigem Verständnis gewährleistet.“ (Bachtin 1979, 164)] Ähnlich bereits Grübel (1979, 36f.). Das Autorwort ist also „auf das rein sachliche Verständnis ausgerichtet. Wenn das Wort des Autors aber so bearbeitet wird, daß es als charakteristisch oder typisch für eine bestimmte Person, für einen bestimmten sozialen Stand oder eine bestimmte künstlerische Manier spürbar wird, dann haben wir es bereits mit einer Stilisierung zu tun: entweder mit einer gewöhnlichen literarischen Stilisierung oder mit stilisiertem skaz.“ (Bachtin 1985, 208f.) [„ustanovlena na čisto predmetnoe ponimanie. Esli že avtorskoe slovo obrabatyvaetsja tak, čtoby oščuščalas’ ego charakternost’ ili tipičnost’ dlja opredelennogo lica, dlja opredelennogo social’nogo položenija, dlja opredelennoj chudožestvennoj manery, to pered nami uže stilizacija: ili obyčnaja literaturnaja stilizacija, ili stilizovannyj skaz.“ (Bachtin

Michail Bachtin

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anzusehen, die in einem literarischen Werk nur dem Autor zukommen könne. Bachtin meint damit nicht den psychophysischen Autor, sondern die letzte Bedeutungsinstanz innerhalb des Textes, die in diesem Falle durch einen sprachlich weitestgehend unmarkierten Erzähler auf dem zweiten Kommunikationsniveau repräsentiert wird. Der erste Worttyp beschreibt demnach einen gleichsam neutralen bzw. objektiven Er-Erzähler, der von Bachtin mit dem abstrakten Autor identifiziert wird.20 Der zweite Worttyp stehe, wie es der Begriff „Objekt-Wort“ bereits indiziert, in einem hierarchischen Verhältnis der Unterordnung zum ersten. Das klassische Beispiel für diesen Worttyp in der Erzählliteratur sei die Figurenrede, da sie nicht selbständig auftritt und in einer Abhängigkeitsrelation zur Autorrede steht. Ist die Typologie Bachtins bis zu diesem Punkt noch problemlos nachvollziehbar, kann dies für die weitere Argumentation schlechthin nicht mehr behauptet werden. Denn einerseits konstatiert Bachtin (1985, 208), dass sich der zweite Worttyp ebenso wie der erste durch seine „unmittelbar gegenstandsbezogene Bedeutung“ [„neposredstvennoe predmetnoe značenie“ (Bachtin 2002, 209)] auszeichne, während er andererseits ausführt, dass sich beide durch ihre jeweilige sprachliche Gestaltung voneinander unterscheiden: Stilističeskaja obrabotka togo i drugogo vyskazyvanija različna. Slovo geroja obrabatyvaetsja imenno kak čužoe slovo, kak slovo lica, charakterologičeski ili tipičeski opredelennogo, to est’ obrabatyvaetsja kak ob’’ekt avtorskogo ponimanija, a vovse ne s točki zrenija svoej sobstvennoj predmetnoj napravlennosti. Slovo avtora, naprotiv, obrabatyvaetsja stilističeski v napravlenii svoego prjamogo predmetnogo značenija. (Bachtin 2002, 209) Die stilistische Bearbeitung der beiden Aussagen ist unterschiedlich. Das Wort des Helden wird als fremdes Wort bearbeitet, als Wort einer Person, die als Charakter oder Typus festgelegt ist, d. h. es wird als Objekt der Auffassung des Autors und nicht vom Standpunkt seiner eigenen Gegenstandsbezogenheit bearbeitet. Das Wort des Autors dagegen wird stilistisch in Richtung auf seine di21 rekte, gegenstandsbezogene Bedeutung bearbeitet. (Bachtin 1985, 208)

Problematisch ist dabei zweierlei: 1. War beim ersten Worttyp die Gegenstandsbezogenheit durch die sprachliche Unmarkiertheit begründet worden, wird beim zweiten Worttyp, dem ja auch eine „unmittelbar gegenstandsbezogene Bedeutung“ zugeschrieben wurde, diese Gegenstandsbezogenheit nun mit sprachlicher Markierung verbunden. Der lo-

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2002, 209f.)] Sowohl die Stilisierung wie auch der skaz gehören nach Bachtin dann zum dritten Worttyp. Zur insgesamt ambivalenten Haltung Bachtins gegenüber dem Konzept des abstrakten Autors vgl. Schmid (2008a, 60, Fußnote 20). Hinsichtlich der stilistischen Markierung des Objekt-Wortes geht Bachtin (1985, 208) allerdings nicht ins Detail, sondern spricht lediglich ganz allgemein von einer „bestimmten Färbung“.

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gische Bruch resultiert daraus, dass Bachtin die zunächst behauptete Gegenstandsbezogenheit des zweiten Worttyps umgehend wieder relativiert. Er stellt nämlich für die Figurenrede ein Relationsverhältnis zwischen Gegenstandsbezogenheit und Stilisierung her, welches eine reine Darstellungsfunktion ausschließt: Po mere usilenija neposredstvennoj predmetnoj napravlennosti slov geroja i sootvetstvennogo poniženija ich ob’’ektnosti vzaimootnošenie meždu avtorskoj reč’ju i reč’ju geroja načinaet približat’sja k vzaimootnošeniju meždu dvumja replikami dialoga. Perspektivnoe otnošenie meždu nimi oslabevaet, i oni mogut okazat’sja v odnoj ploskosti. Pravda, ėto dano liš’ kak tendencija, kak stremlenie k predelu, kotoryj ne dostigaetsja. (Bachtin 2002, 210f.) In dem Maße, in dem sich die unmittelbare Gegenstandsbezogenheit der Worte des Helden verstärkt und ihr Objektcharakter entsprechend nachläßt, nähert sich die Wechselbeziehung zwischen der Rede des Autors und der des Helden der zwischen zwei Dialogrepliken an. Der perspektivische Bezug zwischen ihnen läßt nach und sie können sich auf derselben Ebene befinden. Das ist allerdings nur als Tendenz vorzustellen, als Streben zu einer Grenze, die nicht erreicht wird. (Bachtin 1985, 210)

2. Damit aber wird impliziert, dass sich ausnahmslos jede Figurenrede von der Erzählerrede in stilistischer Hinsicht unterscheidet. Dies trifft aber zweifellos nicht zu. Als Beispiele hierfür ließen sich viele Texte von Turgenev, Lev Tolstoj, aber auch von Dostoevskij anführen, worauf Bachtin ja selbst hingewiesen hat.22 Aber Bachtin stiftet sogar noch größere Verwirrung, wie das folgende Zitat belegt: Neposredstvennoe prjamoe polnoznačnoe slovo napravleno na svoj predmet i javljaetsja poslednej smyslovoj instanciej v predelach dannogo konteksta. Ob’’ektnoe slovo takže napravleno tol’ko na predmet, no v to že vremja ono i samo javljaetsja predmetom čužoj avtorskoj napravlennosti. (Bachtin 2002, 211) Das unmittelbare, direkte, bedeutungsvolle Wort ist auf seinen Gegenstand gerichtet und ist die letzte Bedeutungsinstanz innerhalb des gegebenen Kontextes. Das Objekt-Wort ist auch nur gegenstandsgerichtet, aber gleichzeitig ist es selbst Gegenstand der fremden Intention des Autors. (Bachtin 1985, 210f.)

Hier wird als alleiniges Unterscheidungskriterium zwischen den beiden Worttypen erneut das Hierarchieverhältnis zwischen ihnen eingeführt, während sie sich hinsichtlich ihrer Gegenstandsbezogenheit nun offenbar doch wieder gleichen. Wie dem auch sei, jedenfalls handelt es sich nach Bachtin bei beiden Worttypen jeweils um „einstimmige Worte [odnogolosye slova]“. Im Gegensatz zu diesen einstimmigen Worten zeichne sich das zweistimmige, und damit der dritte Worttyp, dadurch aus, dass in einem „Wort“ zwei Bedeutungstendenzen gleichzeitig zum Ausdruck kommen.

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Vgl. Fußnote 16.

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Wie bereits bei Autor- und Objekt-Wort stehen diese beiden Bedeutungstendenzen zueinander in einem Hierarchieverhältnis, welches nun aber nicht in zwei voneinander getrennten „Worten“ realisiert wird, sondern in einem einzigen (Wort, Satz, Text). Dadurch werde die fremde Stimme – und mit ihr der fremde Standpunkt – zu einer bedingten, die in Abhängigkeit von der Autorintention steht, nicht aber zum Objekt. Eben dies sei auch das Spezifikum des skaz.23 Für Bachtin (1985, 212) ist der skaz eine Unterform der „Erzählung aus der Sicht eines Erzählers, die in der Komposition an die Stelle des Autorenwortes tritt“ [„rasskaz rasskazčika, kak kompozicionnoe zameščenie avtorskogo slova“ (Bachtin 2002, 213)]. Eine solche Erzählung könne in sprachlicher Hinsicht ganz im Standard gehalten sein – als Beispiele führt Bachtin den fiktiven Verfasser der Povesti Belkina von Puškin sowie die Erzähler bei Dostoevskij an – oder aber „in Formen der mündlichen Rede, dem skaz im eigentlichen Sinne des Wortes“ (Bachtin 1985, 212) [„v formach ustnoj reči – skaz v sobstvennom smysle slova“ (Bachtin 2002, 213)]. In beiden Fällen aber werde die fremde Stimme des Erzählers wegen der mit ihr einhergehenden Perspektive eingeführt, die von der des Autors mehr oder minder stark abweichen kann. Der Unterschied zwischen beiden Perspektiven könne so erheblich sein, dass sich die oben angesprochene Bedingtheit in Richtung auf das ObjektWort zubewegt, zu dem es allerdings niemals werden könne, „selbst dann nicht, wenn er [der Erzähler] einer der Helden ist und nur einen Teil der Erzählung übernimmt“ (Bachtin 1985, 212) [„kogda on (rasskazčik) javljaetsja odnim iz geroev i beret na sebja liš’ čast rasskaza“ (Bachtin 2002, 213)]. Dem nahe liegenden Einwand, dass es sich in einem solchen Falle doch um Figurenrede und damit um Objekt-Wort handle, versucht Bachtin in folgender Weise zu begegnen: Avtor ne pokazyvaet nam ego [rasskazčika] slova (kak ob’’ektnoe slovo geroja), no iznutri pol’zuetsja im dlja svoich celej, zastavljaja nas otčetlivo oščuščat’ distanciju meždu soboju i ėtim čužim slovom. (Bachtin 2002, 213) Der Autor zeigt uns seine [des Erzählers] Worte nicht (wie das Objekt-Wort des Helden), sondern bedient sich ihrer von innen für seine eigenen Ziele und läßt uns die Distanz zwischen seinem eigenen und diesem fremden Wort deutlich spüren. (Bachtin 1985, 212)

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass das „Wort“ einer erzählenden Figur, egal in welcher Weise es stilisiert ist und welche Funktion es hat, nach der Unterscheidung der ersten beiden Worttypen rein logisch immer zum zweiten Worttyp, also zum Objekt-Wort zu zählen wäre,

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Auf die anderen Formen des „zweistimmigen Wortes“ braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.

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zumal sich dieses nach Bachtin ja ohnehin immer durch ein gewisses Maß an Stilisierung auszeichnet. Doch damit nicht genug der Ungereimtheiten, denn auch wenn das „Wort“ eines Erzählers und damit auch der skaz nie zum Objekt-Wort werden könne, so kann es doch offenbar zum ersten Worttyp, also zum Wort des Autors werden: I rasskaz i daže čistyj skaz mogut utratit’ vsjakuju uslovnost’ i stat’ prjamym avtorskim slovom, neposredstvenno vyražajuščim ego zamysel. (Bachtin 2002, 213) Sowohl die Erzählung als auch der reine skaz können jede Bedingtheit verlieren und direktes Autorenwort werden, das seine Absicht unmittelbar zum Ausdruck bringt. (Bachtin 1985, 213)

Problematisch ist dabei zum einen, dass sich das Autorwort nach Bachtin durch seine sprachliche Unmarkiertheit auszeichnet, was durch den skaz natürlich konterkariert würde. Zum anderen würde das zweistimmige Phänomen skaz in einem solchen Fall zu einem einstimmigen. Und in der Tat behauptet Bachtin (1985, 206) an anderer Stelle, dass der „skaz [...] tatsächlich manchmal nur auf den Gegenstand der Rede gerichtet sein“ kann. [„Skaz dejstvitel’no možet imet’ inogda liš’ odno napravlenie – predmetnoe.“ (Bachtin 2002, 207f.)] Es zeigt sich also, dass wie beim Objekt-Wort so auch beim skaz die einzelnen Bestimmungskriterien in einen Widerspruch zueinander geraten. Als Beispiel für ein Zusammenfallen von skaz und Autorwort führt Bachtin Turgenevs Erzählung Andrej Kolosov an. Bei ihrem Erzähler handle es sich um einen „intelligenten, literarisch gebildeten Menschen aus dem Kreis um Turgenev.“ (Bachtin 1985, 213) [„rasskaz intelligentnogo literaturnogo čeloveka turgenevskogo kruga.“ (Bachtin 2002, 213)] Zu denken gibt hier nicht nur die anthropomorphisierende Redeweise, sondern vor allem, dass sich Bachtin durch eine kurz darauf folgende generalisierende Aussage selbst widerspricht: Vvoditsja, sobstvenno, rasskazčik, rasskazčik že – čelovek ne literaturnyj i v bol’šinstve slučaev prinadležaščij k nizšim social’nym slojam [...]. (Bachtin 2002, 214f.) Es wird nämlich ein Erzähler eingeführt, ein Erzähler aber ist kein literarisch gebildeter Mensch und gehört in der Mehrzahl der Fälle zu den niederen sozialen Schichten [...]. (Bachtin 1985, 214)

An dieser Stelle kann der Versuch eines argumentativen Nachvollzugs der Typologie Bachtins abgebrochen werden, ganz einfach deshalb, weil sich gezeigt hat, dass ein solcher Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Ursächlich hierfür ist, dass Bachtins Ausführungen der grundlegenden Forderung der Wissenschaft nach einer kohärenten und widerspruchsfreien Argumentation nicht genügen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass in seiner Typologie die unterschiedlichen Parameter, nämlich Redekrite-

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rium, Stilisierung, Perspektive und deren jeweilige Funktionen, ständig heillos durcheinander geraten.24 Im Folgenden soll deshalb – angesichts der genannten Schwierigkeiten einem exegetischen Akt nicht unähnlich – der Versuch unternommen werden, die zentralen Merkmale von Bachtins skaz-Begriff zu ermitteln. Wie oben bereits dargelegt, begreift Bachtin (1985, 212) den skaz als eine besondere Form der „Erzählung aus der Sicht eines Erzählers“. Da aber ein jeder Erzähler, egal ob er mündlich oder schriftlich erzählt, im Vergleich zum abstrakten Autor in einem gewissen Maße individualisiert sei, enthalte jede Erzählung auch notwendigerweise skaz-Elemente. Freilich können diese unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Bei Turgenev etwa seien sie extrem zurückgenommen, weil sich seine Erzähler grundsätzlich des literarischen Standards bedienen. Da bei Turgenev zudem auch keine spezifische Stilisierung im Rahmen des Standards festzustellen sei, rühre der Eindruck von skaz ausschließlich aus der Komposition, d. h. aus der expliziten Einführung einer Erzählerfigur (Bachtin 1985, 213). Hierbei handle es sich dann um einen einstimmigen skaz. Anders gelagert sei der Fall bereits bei der fiktiven Autorfigur Belkin. Zwar wird Bachtin an dieser Stelle nicht konkret, meint aber offensichtlich die parodistische Wirkung der Povesti Belkina, die daraus resultiert, dass Belkin im Standard und völlig nüchtern über sozusagen hochromantische Themen spricht.25 Anders als bei den Erzählern Turgenevs handle es sich hier durch die parodistische Brechung, die aus der Perspektive Belkins rührt, bereits um eine fremde Stimme. Eine solche Fremdheit könne aber noch deutlicher markiert werden, indem der Erzähler durch seine Sprache als Repräsentant einer bestimmten sozialen Schicht ausgewiesen werde, wie dies in vielen Erzählungen Leskovs der Fall sei. Hier wäre dann von einem zweistimmigen skaz zu sprechen. Beide Formen des skaz, also der einstimmige bei Turgenev wie auch der zweistimmige in den anderen Beispielen, können sowohl in der Ich- als auch in der Er-Erzählung auftreten. Hinsichtlich der Formen des skaz zeigt sich, dass Bachtin einen noch weiteren skaz-Begriff vertritt als Vinogradov, da bei ihm nicht nur jede Einführung eines mündlichen Erzählers bereits als skaz zu werten ist, sondern auch die von solchen Erzählern, die sich des Mediums der Schrift bedienen, wie sein Beispiel der Aufzeichnungen Vladimir Petrovičs in der Erzählung Pervaja ljubov’ (Erste Liebe) belegt, die Bachtin

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Wenn Matthias Freise (1993, 291f.) in diesem Zusammenhang von einer „eher unsystematisch erscheinende[n] Gliederung und Schematisierung der ‚Typen des Prosaworts‘“ spricht, so scheint mir dies noch sehr zurückhaltend formuliert zu sein. Genau in diesem Sinne nämlich führt Bachtin (1979, 202f.) das Beispiel Belkin in seiner Abhandlung Slovo v romane an.

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(1985, 213) als ein treffendes Exempel für den skaz bei Turgenev anführt. Von einem solchen rein auf der Komposition basierenden skaz ist dann der eigentliche zu unterscheiden, der sich durch eine sprachliche Individualisierung des Erzählers durch dialektale oder soziolektale Merkmale auszeichnet. Hinsichtlich der Funktion des skaz trifft Bachtin folgende Unterscheidungen: 1. Der skaz erzeuge, auch bei Turgenev (Bachtin 1985, 214), den Eindruck der Mündlichkeit.26 2. In der Mehrzahl der Fälle werde der skaz aber nicht wegen der Stilisierung in Richtung Mündlichkeit verwendet, sondern wegen der Einführung einer fremden Stimme und der mit ihr verbundenen spezifischen Perspektive. Sowohl beim einstimmigen (ohne fremde Stimme) wie auch beim zweistimmigen (mit fremder Stimme) skaz könne der Erzähler aber die Intention des abstrakten Autors direkt erfüllen. Es handle sich dann um einen einfachen skaz. 3. Davon gelte es eine weitere mögliche Funktion zu unterscheiden, die lediglich der zweistimmige skaz erfüllen könne, nämlich die Parodie. Was damit konkret gemeint ist, wird in der Dostoevskij-Monographie nicht recht deutlich. Der fiktive Autor Belkin kann damit aber wohl nicht gemeint sein, weil die parodistische Wirkung seiner Erzählungen mit der Intention des abstrakten Autors wohl in Einklang steht.27 Der skaz wäre hier – in Bachtins Terminologie – zwar zweistimmig, aber einfach. Deutlicher wird Bachtin im Hinblick auf den parodistischen skaz in seiner bereits mehrfach angesprochenen Abhandlung Slovo v romane (Bachtin 1979, 203), wo er zwischen einer Rede in fremder Sprache (zu der dann der einfache skaz gehören würde) und der Rede durch fremde Sprache (zu der dann der parodistische skaz gehören würde) unterscheidet.28 Bei einer Erzählung durch fremde Rede komme es zu folgendem Effekt: Za rasskazom rasskazčika my čitaem vtoroj rasskaz – rasskaz avtora o tom že, o čem rasskazyvaet rasskazčik, i, krome togo, o samom rasskazčike. Každyj moment rasskaza my otčetlivo oščuščaem v dvuch planach: v plane rasskazčika, v ego predmetno-smyslovom i ėkspressivnom krugozore, i v plane avtora, prelomlenno govorjaščego ėtim rasskazom i čerez ėtot rasskaz. V ėtot avtorskij krugozor vmeste so vsem rasskazyvaemym vchodit i sam rasskazčik so svoim slovom. My ugadyvaem akcenty avtora, ležaščie kak na predmete rasskaza, tak i na samom rasskaze i na raskryvajuščemsja v ėto processe obraze rasskazčika. Ne oščuščat’ ėtogo vtorogo intencional’no-akcentnogo avtorskogo plana – značit ne ponimat’ proizvedenija. (Bachtin 1975, 127f.)

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Wie dies mit der Schriftlichkeit der Aufzeichnungen Vladimir Petrovičs in Pervaja ljubov’ zu vereinbaren ist, bleibt eines von Bachtins vielen Geheimnissen. Vgl. dazu etwa U. Busch (1989, 63). „[...] ne na jazyke, a čerez jazyk, čerez čužuju jazykovuju sredu [...].“ (Bachtin 1975, 127)

Irwin R. Titunik

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Hinter der Erzählung des Erzählers lesen wir eine zweite Erzählung – die Erzählung des Autors über dasselbe, wovon der Erzähler erzählt, und außerdem über den Erzähler selbst. Jedes Moment der Erzählung nehmen wir deutlich in zwei Schichten wahr: in der Schicht des Erzählers, in seinem gegenständlich-semantischen und expressiven Horizont, und in der Schicht des Autors, der mit dieser Erzählung und durch diese Erzählung gebrochen spricht. In diesen Horizont des Autors geht mit allem, was erzählt wird, auch der Erzähler selbst mit seinem eigenen Wort mit ein. Wir erraten die Akzente des Autors, die sowohl auf dem Gegenstand der Erzählung als auch auf der Erzählung selbst und dem sich in ihrem Verlauf erschließenden Bild des Erzählers liegen. Diese zweite Schicht der Intention und Akzente des Autors nicht wahrnehmen heißt, das Werk nicht verstehen. (Bachtin 1979, 203f.)

Hier wird wohl zum ersten Mal jenes Phänomen beschrieben, das die skaz-Forschung, aber – wie in der Einleitung bereits gezeigt wurde – auch die Forschung zum unreliable narrator, wie ein roter Faden durchzieht, nämlich die „Entlarvung“ des Erzählers bzw. die „heimliche Kommunikation“ zwischen dem Autor und dem Leser „hinter dem Rücken“ des Erzählers. Und in der Tat führt Bachtin (1979, 203) in diesem Zusammenhang als Beispiele nicht nur typische skaz-Erzähler an wie Rudyj Pan’ko aus Gogol’s Večera na chutore bliz Dikan’ki, sondern auch die Chronisten bei Dostoevskij, die gerade nicht als skaz-Erzähler zu qualifizieren sind. Die parodistische Funktion im Sinne Bachtins ist also offenbar nicht an bestimmte Formen des skaz gebunden, vielmehr kann sie von allen Formen des Erzählens in fremder Rede ausgehen, auch wenn diese stilistisch nicht markiert ist. Wenn Bachtins Konzept hinsichtlich der formalen Bestimmung von skaz im Vergleich zu Ėjchenbaum und Vinogradov auch nichts Neues bringt, ja sogar noch hinter diese zurückfällt, so wurde es hier dennoch so ausführlich behandelt, weil auf ihm die skaz-Theorie von Irwin R. Titunik fußt, die ihrerseits einen relativ hohen Verbreitungsgrad erlangt hat.

2.4 Irwin R. Titunik Den Vorzug von Bachtins skaz-Konzeption sieht Titunik in seinen beiden Arbeiten The Problem of Skaz in Russian Literature (1963) und Das Problem des skaz. Kritik und Theorie (1977) darin, dass in ihr für die Definition von skaz weder ein außerliterarisches Kriterium herangezogen wird, wie etwa der Monolog narrativen Typs bei Vinogradov, noch eine bereits als gegeben vorausgesetzte und nicht näher definierte Vorstellung von Mündlichkeit in der Literatur wie bei Ėjchenbaum. Mit der Unterscheidung von „Autorwort“ und „Objekt-Wort“ sei hingegen der

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adäquate textimmanente Rahmen für die Bestimmung des skaz gefunden. Diese These basiert auf zwei Grundannahmen Tituniks: Zum einen geht er (1977, 127) im Anschluss an Bachtin davon aus, dass diese beiden für die Erzählliteratur konstitutiven Redekontexte stilistisch deutlich voneinander unterschieden seien. Zum anderen setzt er voraus, dass „dem skaz ein reziprokes Verhältnis, eine gegenseitige Durchdringung und Interaktion der beiden Redekontexte zugrunde liegt.“ (Titunik 1977, 129) Auf diese Weise stellt Titunik das Problem des skaz in den weiteren Kontext der Interferenz zwischen Erzähler- und Figurenrede und entwickelt seine Theorie deshalb auf der Basis der Forschungsergebnisse zum Phänomen der Erlebten Rede (Titunik 1977, 132).29 In diesem Sinne unterscheidet Titunik zwischen einem Text P, der aus den Repliken der Figuren („Personen“) besteht, und einem Text A, „der sich aus Aussagen zusammensetzt, die direkt vom Autor an den Leser gerichtet sind – der Autortext [...].“ (Titunik 1977, 129)30 Diese beiden Texte seien sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch in Bezug auf

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Titunik verwendet hier allerdings den Begriff des quasi-quoted discourse und nicht die im englischen Sprachraum gebräuchlicheren Termini semi-indirect speech bzw. free indirect style. Da er ihn aber nicht definiert, bleiben als Indiz für das Verständnis lediglich die Quellen, auf die sich Titunik bezieht. Dabei handelt es sich aber gerade um Arbeiten von Lubomír Doležel (1958 und 1960), die sich dezidiert mit dem Problem der Erlebten Rede beschäftigen. Auf die Begriffsgeschichte des Terminus Erlebte Rede braucht an dieser Stelle nicht näher eingegangen zu werden. Vgl. dazu Vološinov (1975, 221–231). Eine Darstellung unterschiedlicher Positionen zur Erlebten Rede und deren Diskussion findet sich auch bei Hodel (2001, 19–50). Titunik verwendet den Begriff des Autors uneindeutig. Sollte damit wirklich der konkrete Autor gemeint sein, der sich an den konkreten Leser wendet, dann würde sich dahinter eine reichlich naive Literaturauffassung verbergen, die eine neutral gestaltete Erzählinstanz im Text umstandslos mit dem Textproduzenten gleichsetzt. Lubomír Doležel (1958, 20), auf den sich Titunik ja bezieht, ist hier deutlich präziser, wenn er zwischen einem Figurentext (text postav) und einem Erzählertext (text vypravěče) unterscheidet. Sollte bei Titunik aber wirklich ein neutraler Erzähler gemeint sein, so kommuniziert dieser natürlich nicht mit dem Leser, sondern mit dem fiktiven Adressaten. Offenbar aber meint Titunik, so wie bereits vor ihm Bachtin mit seinem „Autorwort“, diese textinterne Instanz, die er als Autor bezeichnet, um sie auf diese Weise von einer explizit eingeführten Erzählerfigur abzugrenzen. Diese unpräzise Verwendung des Autorbegriffs bei Titunik hat Manns (2005, 27) fälschlicherweise zu der Annahme verleitet, bei Text A handle es sich um die Instanz des abstrakten Autors. Eine solche Auffassung ist freilich abwegig, da der abstrakte Autor im Text keine eigene Stimme hat, wie Manns selbst zu Recht feststellt, Titunik aber mit Text A jene Stimme im Erzähltext bezeichnet, die der Figurenrede hierarchisch übergeordnet ist. Was er damit aber letztlich konkret meint, wird erst in einer Anmerkung in seiner Dissertation deutlicher, wenn er den Autortext gleichsetzt mit „the traditional norm of epic narration, i.e. third person omniscient (= authoritative) author narration.“ (Titunik 1963, 142, Endnote 10) Im Weiteren wird also gemäß der Logik des Kommunikationsmodells, wie es beispielsweise Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter (1991, 43–53) im Anschluss an Wolf Schmid (1973, 20–30) entworfen haben, unter Text A die Rede eines neutralen Erzählers verstanden und der Begriff des Autors stillschweigend durch den des Erzählers ersetzt.

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ihre Funktion deutlich voneinander abgrenzbar. Während Text A seiner Funktion nach berichtend und in formaler Hinsicht merkmallos sei, sei Text P seiner Funktion nach berichtet und in formaler Hinsicht merkmalhaft. Lässt sich das funktionale Kriterium noch problemlos aus dem Abhängigkeitsverhältnis von Erzähler- und Figurenrede ableiten, bedarf das Kriterium der Markierung einer näheren Begründung. Diese glaubt Titunik (1977, 132) in der Setzung gefunden zu haben, dass das „Redeereignis des Textes A, dessen Teilnehmer Autor und Leser sind, einer theoretischen Norm zu vergleichen [sei], nämlich ungefüllt oder nicht markiert.“ Dementsprechend liege bei Text A der Schwerpunkt ausschließlich auf den dargestellten Sachverhalten. Im Gegensatz dazu werde in Text P nicht nur ein Redeinhalt vermittelt, sondern sei das Redeereignis zusätzlich noch markiert. Diese Markierung lasse sich mit Hilfe des Modells binärer linguistischer Merkmale darstellen, welches Lubomír Doležel für die Bestimmung der Erlebten Rede entwickelt hat. In Anlehnung an Doležel (1958, 1960 und 1973) führt Titunik (1963, 39– 42 und 48–87 bzw. 1977, 134f.) deshalb a) grammatische, b) situative, c) semantische, d) expressive, e) allokutionale und f) dialektale Merkmale ein, um zwischen Text A und Text P formal zu unterscheiden. a) Die grammatischen Kriterien ergäben sich aus den unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten der Personalpronomina und der temporalen Verbformen in Text P und Text A. Da die Figuren in der dargestellten Welt mit anderen Figuren kommunizieren, können sie sich in ihren Äußerungen entweder auf sich selbst beziehen (ich), auf ihren Gesprächspartner (du) oder auf eine dritte Figur (er/sie) bzw. einen Sachverhalt (es) innerhalb dieser Welt. Je nach dem Gehalt der Proposition der jeweiligen Äußerung wird deshalb das Personalpronomen der ersten, zweiten oder dritten Person verwendet. In Text A hingegen stehe der Erzähler außerhalb der dargestellten Welt, weshalb er sich auf sie nur durch die Personalpronomina der dritten Person beziehen könne, um Handlungen der Figuren (er/sie) oder Sachverhalte (es) zu entwerfen. Vergleichbares gelte für die Tempusformen des Verbums. Als Teil der erzählten Welt verfügen die Figuren über eine Ich-Origo, d. h. ein raum-zeitliches Bewusstseinszentrum, anhand dessen sie ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart oder ihre Zukunft thematisieren können. Dementsprechend seien in Text P alle drei Verbaltempora, also Präteritum, Präsens und Futur, verwendbar. Anders in Text A. Da sich der Erzähler außerhalb der von ihm entworfenen Welt befindet, fehle ihm ein vergleichbares raum-zeitliches Orientierungszentrum, so dass er sich auf diese nur im Sinne eines Berichts über ein bereits vergangenes Geschehen im Präteritum beziehen könne. Auch der vereinzelte Gebrauch des

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Zur Theorie des skaz

historischen Präsens ändere nichts an dieser grundlegenden Position des Erzählers. b) In unmittelbarem Zusammenhang damit stehen die situativen Merkmale. Die Ich-Origo eines Sprechers kommt nicht nur in den Tempusformen des Verbums zum Ausdruck, sondern häufig auch in Adverbialbestimmungen des Raumes und der Zeit. So sind etwa die lokalen Adverbien „hier“ und „dort“ oder die temporalen Adverbien „gestern“, „heute“ und „morgen“ lediglich aus der Perspektive der jeweiligen Figur heraus verständlich. Eine solche subjektive Bezugnahme auf Sachverhalte unter raum-zeitlichem Aspekt heißt deixis. Freilich können sich die Figuren auf dieselben Phänomene auch in intersubjektiver Weise beziehen, dann nämlich, wenn sie sich nicht selbst zum Orientierungszentrum der Aussage machen, sondern einen bereits genannten Sachverhalt. Beispiele hierfür sind lokale Adverbialbestimmungen wie etwa „neben der Tür“ oder „hinter dem Haus“ bzw. temporale wie „am nächsten Tag“ oder „im vorigen Jahr“. Eine solche raum-zeitliche Bezugnahme auf die dargestellte Welt in Relation zu einem Sachverhalt wird elenxis genannt. Demzufolge könnten in Text P sowohl deixis als auch elenxis auftreten. In Text A hingegen, in dem eine Ich-Origo fehle, könne die raum-zeitliche Orientierung lediglich mit Hilfe der elenxis zum Ausdruck gebracht werden. Nach Karl Bühlers (1982, 24–33) Organon-Modell der Sprache ist jede Äußerung durch drei Funktionen gekennzeichnet: eine Ausdrucksoder Kundgabefunktion, die sich auf den Sprecher bezieht, eine Appellfunktion, die an den Hörer gerichtet ist, und eine Darstellungsfunktion, die auf den zu vermittelten Sachverhalt abzielt. Zwar seien in jeder Äußerung alle drei Funktionen präsent, doch dominiert in der Regel eine über die beiden anderen. Laut Titunik (1977, 133) unterscheiden sich die beiden Redekontexte in einem Erzählwerk in dieser Hinsicht jedoch grundlegend voneinander. Da in Text A eine Ich-Origo und infolgedessen auch der Kommunikationspartner fehle, komme ihm ausschließlich die Darstellungsfunktion zu. In Text P hingegen könnten alle Bühlerschen Funktionen realisiert sein, woraus sich die weiteren Unterscheidungsmerkmale ableiten lassen, nämlich die allokutionalen, die expressiven und die semantischen. c) Die semantischen Merkmale beziehen sich auf die Ansichten und Werturteile eines Sprechers, die dieser gegenüber den von ihm dargestellten Sachverhalten zum Ausdruck bringt. Da die Figuren in einem Erzähltext zumeist hochgradig individualisiert seien, repräsentiere Text P deren Weltsicht aus ihrer jeweiligen subjektiven Perspektive. In Text A hingegen fänden sich keine derartigen idiosynkratischen Haltungen. Werden Ansichten und Werturteile formuliert, so geschehe dies viel-

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mehr aus einer intersubjektiven Perspektive, die den gemeinsamen Erwartungshorizont der Mitglieder einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt repräsentiert. Gerade aus diesem scheinbar universellen Blickwinkel beziehe der neutrale Erzähler seine Autorität in Bezug auf die dargestellte Welt, wie Titunik (1963, 60) ausführt: „Only the ‘zero’ author has the privilege of absolute authoritativeness.“ Daraus sei zu folgern: „A value claimed in text A must be taken seriously.“ (Titunik 1963, 61) Aus diesem Umstand resultiere auch die Glaubwürdigkeit des neutralen Erzählers. Die in Text P repräsentierte Weltsicht der Figuren hingegen könne zwar mit der des Erzählers in Einklang stehen, was aber aufgrund ihrer subjektiven Perspektive nicht zwangsläufig der Fall sein müsse. d) Mit der Ausdrucks- bzw. Kundgabefunktion bei Bühler korrespondieren bei Doležel und Titunik die expressiven Merkmale. Sie verweisen auf den Sprecher insofern zurück, als sie seine Kontrolle über die Äußerung bzw. seine emotionale Anteilnahme an dem von ihm berichteten Geschehen signalisieren. Indikatoren hierfür sind Ausrufe und Interjektionen, Selbstanrede und rhetorische Fragen sowie Abschweifungen. Ferner gehören hierher alle Aussagen, die den eigenen Sprechvorgang kommentieren und bewerten, wie etwa Beteuerungen, Selbstkorrekturen sowie ganz allgemein die Reflexion der eigenen Rolle als Kommunikationsteilnehmer. In Text P mit seinen konkreten Figuren seien all diese Verfahren denkbar, während sie bei einem neutralen Erzähler ausgeschlossen seien, weil hier die Individualisierung des Sprechers gerade vermieden werden solle. e) Vergleichbares gelte notwendigerweise auch für die allokutionalen Merkmale, die die Appellfunktion in Bühlers Organon-Modell zum Ausdruck bringen, denn eine Bezugnahme auf das Gegenüber ist nur dann möglich, wenn beide Teilnehmer am Kommunikationsakt imaginiert werden, was bei Text A aber bereits durch das Fehlen eines individualisierten Sprechers verhindert würde. Allokutionale Merkmale könnten demnach lediglich in Text P auftreten und markieren dort die Teilnahme eines Empfängers am Kommunikationsvorgang, indem sie die Gerichtetheit der Äußerung signalisieren. Zu denken sei hier nicht nur an direkte Formen wie Anrede sowie Interrogativ- und Imperativformen, sondern auch an indirekte, die das Gegenüber nicht ansprechen, es aber doch implizieren, z. B. durch vorweggenommene Antworten und Einwände. f) Unter dialektalen Merkmalen schließlich versteht Titunik all jene sprachlichen Mittel, die der Rede eines Sprechers eine individuelle stilistische Färbung verleihen. Als derartige stilistische Individualisierung sei jede Abweichung vom schriftlichen Standard anzusehen, die ihren

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Niederschlag auf allen sprachlichen Ebenen finden könne.31 Am auffälligsten sei sie zweifellos im Bereich der Lexik etwa durch die Verwendung von Kolloquialismen, Dialektismen, schichten- oder berufsspezifischem Jargon sowie durch ideolektalen Sprachgebrauch (gehäufte Wiederholung bestimmter Lexeme oder Phraseologismen, fehlerhafter Wortgebrauch, Volksetymologien etc.). Neben einer derartigen Lexik, die zu einer indirekten Charakterisierung des Sprechers beiträgt, gehöre zu den dialektalen Merkmalen aber auch die Verwendung von Diminutiven und Partikeln, die der Rede ganz allgemein den Anschein von Mündlichkeit verleiht. Auf der Ebene der Syntax müsse jede Konstruktion als markiert gelten, die von der grammatischen Norm abweicht. Der in dieser Hinsicht wohl am häufigsten auftretende Fall sei die Unvollständigkeit eines Satzes, egal ob diese pragmatisch motiviert ist wie etwa bei der Ellipse bzw. dem Satzabbruch oder ob sie auf die Unfähigkeit des Sprechers verweist, den begonnenen Satz korrekt zu Ende zu führen. Im Bereich der Morphologie sei an regionale Besonderheiten in Deklination und Konjugation zu denken und auf der Ebene der Phonetik an eine dialektale oder ideolektale Aussprache, soweit diese mit den Mitteln des normierten schriftlichen Standards überhaupt adäquat darstellbar ist. Zu nennen sei in diesem Zusammenhang schließlich noch eine Markierung der Rede durch paralinguistische Signale wie etwa Sprachfehler (Lispeln, Stottern usw.), die im geschriebenen Text repräsentiert sein können, oder durch die Unterbrechung der Rede durch onomatopoetische Wiedergabe von Lachen, Räuspern, Seufzen usw. Ein solcher individueller Stil sei erneut lediglich in Text P zu finden, wo er zur indirekten Charakterisierung der Figuren beiträgt, nicht aber in Text A. Diese sich anhand der linguistischen Kriterien ergebende Maximalopposition zwischen einem unmarkierten Erzähler in der dritten Person mit der Funktion des Berichtens und der markierten Figurenrede, die gerade aufgrund dieser Markierung ihren Status als berichtete signalisiert, wird von Titunik, wie oben bereits angedeutet, zu einer ahistorischen Norm erhoben: Die Norm narrativer Struktur, die dadurch erstellt wird, reserviert alle Redeereignis-Merkmale für das System von Text P und schließt ihre Verwendung in Text A aus, dessen einziger Brennpunkt in dem erzählten Ereignis liegt. (Titunik 1977, 135)

Die Interferenz beider Redekontexte erlaube nun aber nicht nur eine Bestimmung des Phänomens der Erlebten Rede, sondern auch des skaz. Der zentrale Unterschied zwischen beiden Formen der Interferenz be-

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Vgl. hierzu auch McLean (1954, 303–315).

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stehe darin, dass sie im Falle der Erlebten Rede die normative Struktur des Erzähltextes nicht verletze. Zwar werde bei ihr die formale Unterscheidungsmöglichkeit, d. h. die graphische Markierung durch Anführungszeichen, zwischen Text A und Text P eliminiert, doch seien die Merkmale von Text P durch den Kontext immer noch dem Bewusstsein der Figur zuzuordnen und verweisen deshalb in der Rede des Erzählers auch weiterhin auf ihren Status des Berichtetwerdens. Beim skaz hingegen komme es zu einer Verletzung der Norm, da „Merkmale des Texts P in Text A erscheinen und nicht durch Kontext dem Text P zuzuweisen sind, sondern mit einer Funktion des Berichtens korreliert sind.“ (Titunik 1977, 136) Auf diese Weise entstehe gleichsam ein zwitterhafter Text, der die linguistische Markierung von Text P mit der Funktion von Text A verbindet: Das Ergebnis für die narrative Struktur ist, daß das normative Zwei-Text-Verhältnis zerstört und die normative Geschlossenheit der Texte durch die Interpolation eines dritten aufs Spiel gesetzt wird, durch einen zugleich berichteten und berichtenden Text, der weder ganz Text A noch ganz Text P ist, sondern eine Zusammensetzung beider, und die Funktion des Berichtens mit Text A, die Merkmale des Berichtetwerdens mit Text P teilt. (Titunik 1977, 136)

Im Falle von skaz geht Titunik also nicht von zwei Redekontexten aus, sondern von dreien, die in folgendem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen: 1. die Rede des neutralen Erzählers (Text A), 2. der interpolierte skaz-Text im eigentlichen Sinne und 3. die Figurenrede (Text P).32 Das Hierarchieverhältnis begründet sich daraus, dass der interpolierte skaz-Text durch seine berichtende Funktion der Figurenrede übergeordnet ist, seinerseits aber selbst von der berichtenden Rede eines neutralen Erzählers abhängt. Demzufolge ließen sich in der Praxis zwei verschiedene Erscheinungsweisen von skaz unterscheiden, je nachdem, welche seiner Qualitäten im Vordergrund stünde. Erfolge eine Interpolation unter dem Aspekt von Text P, so würden alle drei Redekontexte realisiert, da der skaz-Text dann in einem offensichtlich berichteten Verhältnis zu Text A steht und gleichzeitig in einem berichtenden zu seinem eigenen Text P. Mit dieser reichlich komplizierten Ausdrucksweise ist letztlich jener Fall gemeint, bei dem eine Figur im Laufe des dargestellten Geschehens selbst beginnt, eine Geschichte zu erzählen, d. h. also jede explizit eingeführte Erzählerfigur. Eine Interpolation unter dem Aspekt von Text A führe hingegen dazu, dass in einem Werk der Erzählliteratur lediglich der skaz-Text selbst und der von ihm berichtete Text P realisiert würden, während die dem skaz-Text übergeordnete

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„The skaz text has the status of a reported text in reporting function interpolated into a work of narrative fiction which itself consists basically of a reporting and a reported text.“ (Titunik 1963, 88)

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Rede eines neutralen Erzählers fehle, weshalb Titunik (1963, 88) hier von einem „‘zero’ text A“ spricht. Bezeichnet werden damit all jene Fälle von skaz, die mit einem Ich-Erzähler operieren, der nicht explizit eingeführt worden ist. Aus dieser Argumentation leitet Titunik schließlich seine Definition von skaz ab: Skaz ist in dieser Interpretation des Problems eine narrative Struktur genau dieses Typs mit einem interpolierten berichtet-berichtenden Text, dessen Status von einem offenen Verhältnis direkter Rede mit einem expliziten berichtenden Text bis zu einer zweideutigeren impliziten oder „absoluten direkten Rede“ reichen kann, Verhältnissen also ohne jeden expliziten berichtenden Text. Endlich läuft das unterscheidende Kennzeichen aller Formen des skaz auf die Markierung des Redeereignisses in Verbindung mit der Funktion des Berichtens hinaus. Daher kann man die oben beschriebenen Merkmale des Textes P, d. h. die Merkmale, die das Redeereignis markieren und Berichtetwerden signalisieren, in dieser Umgebung als Zeichen von skaz ansehen. (Titunik 1977, 136)

Bei dieser Formulierung könnte der Eindruck entstehen – und in Tituniks Aufsatz von 1977 entsteht er in der Tat –, dass für die Bestimmung des skaz alle Merkmale von Text P gleichwertig sind. Diese fehlende Differenzierung ist aber offenbar dem bei einer derartigen Publikationsform notgedrungen eingeschränkten Umfang geschuldet, da Titunik in seiner Monographie in dieser Hinsicht durchaus eine deutliche Gewichtung vornimmt. Denn natürlich ist sich auch Titunik bewusst, dass nach der oben gegebenen Definition jeder Text mit einem Ich-Erzähler bereits als skaz zu gelten hätte. Deshalb trifft er in Bezug auf den zwischen Text A und Text P interpolierten dritten Text weitere Unterscheidungen. Werde die Funktion des Berichtens lediglich mit den grammatischen Merkmalen von Text P, also der Verwendung aller drei Personen und aller drei Tempusformen des Verbums, kombiniert, so handle es sich um einen pseudo-interpolierten Text, dessen Markierung noch zu gering sei, um von skaz sprechen zu können. Gleiches gelte auch für den quasi-interpolierten Text, der dann zustande komme, wenn zu den grammatischen Merkmalen auch noch situative und semantische hinzutreten. Dieser quasi-interpolierte Text wäre dann in Tituniks Terminologie das Äquivalent zu Bachtins einstimmigem skaz (Titunik 1963, 143f., Endnote 18). Die grammatischen, situativen und semantischen Merkmale allein können demnach noch keinen skaz begründen: The speech event features which lend themselves to manipulation in a way basically consonant with the functioning of a norm reporting text A are grammatical and situational and, to a certain extent, also semantic features. These features may play a distinctive role as signals of skaz but that role is significantly conditioned by their association with expressive, allocutional and dialectical features, as the examples so far cited amply testify. It is the implementation of these latter features that the level of perceptibility of speech event is achieved whereby speech event itself becomes an independent factor as stylistic structure.

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Accordingly, in the stylistics of skaz expressive, allocutional and dialectical features play a decisive role. (Titunik 1963, 65)

Notwendige und hinreichende Kriterien für skaz sind demnach die expressiven, allokutionalen und dialektalen Merkmale, da nur sie eine deutliche Wahrnehmbarkeit des Redeereignisses erzeugen und es auf diese Weise von den erzählten Ereignissen abheben. Sind damit auch die Bestimmungskriterien für den skaz benannt, so bleiben sie an dieser Stelle doch auf die Ich-Erzählsituation beschränkt. Da Titunik selbst aber auch Texte mit einem Er-Erzähler als Beispiele für skaz anführt, ist er zwangsläufig genötigt, eine weitere Differenzierung hinsichtlich seiner Merkmalliste vorzunehmen: Generally, the grammatical forms of first person in skaz appear together with other, more distinctive features, as many of the above-cited examples show. Moreover, in numerous instances of skaz such forms are largely or even entirely lacking, the ‘quality’ of first person being carried by expressive features. (Titunik 1963, 51)

Durch expressive Merkmale werde also auch der Sprecher in der Er-Erzählsituation in einer Weise individualisiert, dass beim Leser ein konkretes Bild von ihm entsteht. Auf diese Weise werde er durchaus mit einem Ich-Erzähler vergleichbar. Es erweist sich mithin, dass das grammatische Merkmal der Person nicht nur kein hinreichendes, sondern auch kein notwendiges Kriterium für den skaz darstellt. Tituniks Position lässt sich damit folgendermaßen zusammenfassen: Skaz liege unabhängig von der Erzählsituation immer dann vor, wenn Rede in berichtender Funktion durch expressive, allokutionale und dialektale Merkmale ausgezeichnet ist, wodurch das Redeereignis selbst wahrnehmbar und in der Folge davon auch von den erzählten Ereignissen abgehoben wird. Die Konsequenz einer derartigen Verknüpfung von linguistischer Markierung und Funktion sei das Zustandekommen eines zwischen Text A und Text P interpolierten berichtend-berichteten dritten Textes, des skaz-Textes im eigentlichen Sinne des Wortes, der mit Text P die Merkmalhaftigkeit teilt und mit Text A die Funktion des Berichtens. Dieser Text A wiederum, also die Rede eines neutralen Erzählers, könne im jeweiligen konkreten Werk selbst repräsentiert sein, müsse dies aber nicht zwangsläufig. Da es sich beim skaz demnach um ein von der Komposition unabhängiges, rein stilistisches Phänomen handle, sei dieser Begriff auch auf alle jene Formen anwendbar, in denen die linguistische Markierung in Erzählformen auftrete, die als dezidiert schriftlich ausgewiesen sind, also beispielsweise in Briefen, Tagebüchern, Aufzeichnungen usw. (Titunik 1977, 139). Mag eine solche Definition des skaz auf den ersten Blick auch recht plausibel erscheinen, so erweist sie sich bei näherer Betrachtung doch in

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vielerlei Hinsicht als nicht unproblematisch. Bereits den der Theorie zugrunde gelegten Prämissen mangelt es an Plausibilität. Da Titunik sie von Bachtin übernimmt, kann es nicht verwundern, dass sich hier wie dort dieselben Ungereimtheiten ergeben. So lässt sich für die Verknüpfung des Redekriteriums mit dem Merkmal der stilistischen Markiertheit bzw. Unmarkiertheit schlichtweg keine nachvollziehbare Begründung anführen. Einerseits finden sich in der Geschichte der Literatur zahlreiche Beispiele für einen stilistisch besonders ausgezeichneten Erzähler – und genau darum geht es ja letztendlich auch beim skaz –, andererseits, und noch häufiger, sind die Fälle, in denen die Figurenrede stilistisch nicht markiert ist.33 Anders als Bachtin und Titunik insinuieren, ist die Verbindung von Redekriterium und Stil eben keine systematische, vielmehr ist sie bedingt von den epochalen oder individuellen Vorlieben eines Autors. Während etwa die klassizistische Regelpoetik sowohl für die Erzähler- wie auch für die Figurenrede die ausschließliche Verwendung des schriftlichen Standards vorsah, waren deren jeweilige Stilisierung außerhalb dieser Norm im Realismus und besonders im Naturalismus nicht nur möglich, sondern unter dem Aspekt der individuellen Charakterisierung durch Sprache auch durchaus üblich, wenn auch nicht zwangsläufig. Wenn Titunik also von einer grundsätzlichen Unmarkiertheit von Text A und einer grundsätzlichen Markiertheit von Text P ausgeht, dann erhebt er fälschlicherweise Vorlieben einzelner Epochen zu einer ahistorischen Norm. Als ebenso problematisch wie die normative Verknüpfung von Redekriterium und Stil erweist sich die daraus abgeleitete Verbindung von stilistischer Markiertheit bzw. Unmarkiertheit mit einer jeweiligen Funktion. Aus den bisherigen Ausführungen geht bereits hervor, dass es ebenso wenig eine zwangsläufige Korrelation zwischen stilistischer Neutralität und der Funktion des Berichtens gibt wie zwischen stilistischer Merkmalhaftigkeit und Berichtetwerden. Dieser Annahme liegt die Vorstellung eines statischen Form-Funktions-Gefüges zugrunde, die dem Formalismus und dem Strukturalismus, auf die sich Titunik (1977, 115) ja dezidiert bezieht, vollkommen fremd ist. Auch hier verstellt Tituniks Ansatz den Blick dafür, dass das Verhältnis von Form und Funktion historisch bedingt und somit wandelbar ist. Das eigentliche Problem von Tituniks Theorie ist aber darin zu sehen, dass er den skaz in Anlehnung an die Erlebte Rede definiert.34 Er negiert damit nämlich den zentralen Unterschied zwischen beiden Phä-

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33 34

So bereits Schmid (2008a, 188). Völlig zu Recht weist deshalb auch Schmid (2008a, 174, Fußnote 15) Tituniks skaz-Definition zurück, freilich ohne näher auf dessen Argumentation einzugehen.

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels

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nomenen, der darin besteht, dass die Erlebte Rede aus einer Interferenz zweier Redekontexte resultiert, wohingegen der skaz sich immer nur auf einen einzigen Redekontext bezieht, nämlich auf den des Erzählers. Infolgedessen sieht sich Titunik genötigt, jenen dritten, nämlich interpolierten Redekontext einzuführen, dessen Existenz nun aber gerade mit der nicht haltbaren normativen Verknüpfung von Redekriterium, stilistischer Markiertheit bzw. Unmarkiertheit und Funktion begründet wird. Aus diesem Grunde kommt es auch zu der letztlich absurd anmutenden Postulierung eines nicht im Werk repräsentierten Norm-Textes A im Falle eines jeden nicht eingeführten Ich-Erzählers. Stattdessen ist davon auszugehen, dass jedes Werk der Erzählliteratur lediglich aus zwei Redekontexten besteht, dem des Erzählers und dem der Figuren.35 Und diese beiden Redekontexte können stilistisch markiert sein oder auch nicht. Trotz dieser Kritik bleibt festzuhalten, dass Tituniks Ansatz im Vergleich zu den bisher behandelten einen entscheidenden Fortschritt darstellt, da er mit der Einführung relativ präziser linguistischer Kriterien den Versuch unternimmt, den skaz, verstanden als Stilphänomen, einer exakteren Beschreibung zuzuführen. Unklar bleibt dabei allerdings, ob die expressiven und die allokutionalen Merkmale einerseits und die dialektalen andererseits jeweils für sich bereits als hinreichende Signale für skaz anzusehen sind oder ob erst deren gemeinsames Auftreten das Phänomen skaz begründen kann.

2.5 Die Erzählertypologie Lubomír Doležels Im Lichte der vorausgegangenen Überlegungen müsste es bei einer Neukonzeptualisierung von skaz darum gehen, die von Doležel für die Bestimmung der Erlebten Rede eingeführten und von Titunik übernommenen linguistischen Kriterien auf die Instanz des Erzählers anzuwenden. Zwar hat Doležel dies in seinen Arbeiten zur Typologie des Erzählers (1967 bzw. 1972, 1973, 1993) bereits selbst getan, ohne dabei aber das Phänomen skaz genauer in den Blick zu nehmen. Dieser Um-

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Die Postulierung eines dritten Redekontextes steht auch in eklatantem Widerspruch zum Kommunikationsmodell für Erzähltexte. Zwar gehen Kahrmann, Reiß und Schluchter (1991, 43–53) hier tatsächlich von drei textinternen Kommunikationsniveaus aus, von denen aber lediglich zweien eine eigene Stimme zukommt, eben den Figuren und dem Erzähler. Der abstrakte Autor als das übergeordnete und letzte Sinnzentrum des Textes äußert sich dagegen direkt lediglich in den Paratexten und ist ansonsten das Konstrukt des jeweiligen Lesers, welches auf den konkretisierten Strukturmerkmalen des Textes basiert. Ein dritter Redekontext jedenfalls hat in diesem Modell der Logik nach keinen Platz.

Zur Theorie des skaz

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stand mag daher rühren, dass sich dieses Phänomen, wenn es rein stilistisch verstanden wird, nicht allein auf einen der beschriebenen Erzählertypen beschränken lässt.36 Die Grundlage von Doležels Typologie ist die Verknüpfung von 1. linguistischen und 2. funktionalen Kriterien, die er in beiderlei Hinsicht aus einer angenommenen Maximalopposition zwischen der Rede der Figuren auf der einen und derjenigen eines nicht als Figur auftretenden Erzählers auf der anderen Seite gewinnt. 1. Bezüglich der linguistischen Kriterien unterscheidet Doležel deshalb zwischen einer maximal markierten Figurenrede und der völlig unmarkierten Rede eines Er-Erzählers bzw., wie er es nennt, zwischen einem sprecherorientierten und einem referenzorientierten Text.37 Während die Figurenrede – zumindest potenziell – alle drei Funktionen von Bühlers Organon-Modell realisiere, also Ausdruck, Appell und Darstellung, sei in der Rede des objektiven Er-Erzählers die Relation zum Sprecher (Ausdruck) und zum Hörer (Appell) unterdrückt, so dass hier lediglich die Darstellungsfunktion zum Tragen komme (Doležel 1973, 17). Die linguistische Maximalopposition zwischen beiden Redeformen

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37

An anderer Stelle ist Doležel auf den skaz jedoch eingegangen. Hatte er in seiner frühen Studie zur Erlebten Rede skaz noch pauschal als Synonym für die Ich-Erzählung verwendet (Doležel 1958, 25, Fußnote 12), entwickelte er bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1961 einen differenzierteren skaz-Begriff. Ausgangspunkt ist zwar auch hier die Ich-Erzählung, doch könne von skaz im eigentlichen Sinne erst dann gesprochen werden, wenn die Rede dieses Erzählers durch Dialekt, Soziolekt oder Jargon gekennzeichnet ist. Von dieser Art der Stilisierung, die dem Text den Anschein von Mündlichkeit verleihe, unterscheidet Doležel dann eine entgegengesetzte Art, nämlich einen skaz, der sich durch seine dezidierte „Buchsprachlichkeit“ auszeichne („knižní skazové vyprávění“; Doležel 1961, 22). Schließlich könnten beide Arten der Stilisierung nicht nur in Mischformen auftreten, sondern auch in die Rede eines Er-Erzählers eindringen, die damit eine skazFärbung erhalte und den Erzähler hier, wie auch in der Ich-Erzählsituation, indirekt charakterisiere. Letztlich vertritt Doležel damit eine Position, die mit derjenigen in Ėjchenbaums Aufsatz zu Leskov vergleichbar ist, ohne sie aber anhand der für die Bestimmung der Erlebten Rede verwendeten linguistischen Kriterien näher zu präzisieren. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Monographie von 1973 (Doležel 1973, 3–55) bzw. ihre leicht überarbeitete und um das Konzept der fiktiven Welten erweiterte tschechische Version aus dem Jahr 1993 (Doležel 1993, 9–54). In ihnen korrigierte Doležel auch eine Unstimmigkeit in seiner früheren Arbeit aus dem Jahr 1967 (dt. 1972), wo er noch unterschieden hat zwischen Texten mit einem Sprecher und Texten ohne Sprecher (Doležel 1967, 544). Ist bereits die Annahme von Texten ohne Sprecher für sich genommen höchst problematisch, weil sie den Umstand vernachlässigt, dass jeder Erzähltext von einer vermittelnden Instanz, und sei sie noch so unauffällig, präsentiert wird, führt sie Doležel selbst geradezu ad absurdum, wenn dieselben Texte nur einige Seiten weiter als solche mit einem objektiven Erzähler (Doležel 1967, 547f.) bezeichnet werden. Durch die Unterscheidung von referenz- und sprecherorientierten Texten (Doležel 1973, 16) wird dieser Widerspruch aufgelöst. In der tschechischen Version (Doležel 1993, 12) ist in diesem Zusammenhang dann allerdings von einem objektiven bzw. einem subjektiven Text die Rede, was die Sache nicht unbedingt klarer macht.

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels

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lasse sich deshalb anhand eines Katalogs distinktiver Merkmale folgendermaßen darstellen:38 System der Personen

System der Zeiten

Deixis

Allokution

Expression

subjektive Semantik

individueller Stil

objektive Er-Form

0

0

0

0

0

0

0

Figurenrede

1

1

1

1

1

1

1

Als Teil der dargestellten Welt verfügten die Figuren über ein individuelles Bewusstsein, also eine Ich-Origo im Bühlerschen Sinne, welches ihnen eine Orientierung in dieser Welt erlaube. Seinen sprachlichen Ausdruck finde dieses Bewusstsein in der Verwendung der drei grammatischen Personen (ich, in Bezug auf die Figur selbst; du, in Bezug auf eine andere Figur; er/sie/es, in Bezug auf die in der direkten Rede geäußerten Sachverhalte), der drei Tempora des Verbums (Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in Bezug auf die sprechende Figur, realisiert durch die jeweilige Tempusform) und der deixis (Raum-Zeit-Angaben in Bezug auf die Position der sprechenden Figur). Zudem gäben die Figuren in ihrer Rede durch expressive Verfahren wie Interjektionen, Ausrufesätze oder Ausdrücke mit einer emotionalen Färbung ihre eigene Gefühlslage kund und wendeten sich damit gleichzeitig an ein Gegenüber, welches auch in Form von Bitten, Fragen oder Befehlen direkt angesprochen werden könne. Unter subjektiver Semantik versteht Doležel (1993, 17f.) den Umstand, dass in der Figurenrede die jeweiligen Sachverhalte nicht nur entworfen, sondern zugleich auch beurteilt und kommentiert werden. Auf diese Weise entstehe eine idiosynkratische Sicht der einzelnen Figuren auf die Welt, die sich anhand der Subkategorien Haltung, Modalität und Argumentation genauer beschreiben lasse. Mit Haltung ist die persönliche Beziehung des Sprechers zum Gegenstand der Äußerung gemeint, die in dessen Bewertungen als gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm etc. zum Ausdruck komme. Auffälligste Signale hierfür seien demnach qualifizierende Adjektive und Adverbien sowie Diminutivformen. Weniger auffällig, dafür aber grundsätzlicher, zeige sich diese Beziehung in der gesamten Art des sprachlichen Ausdrucks einer Figur, v. a. in Bildern, Vergleichen, idiomatischen Wendungen, syntaktischen

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38

Es handelt sich hierbei um eine adaptierte Darstellung aus Doležel (1973, 41), aus der zum Zwecke der Übersichtlichkeit das Phänomen der Erlebten Rede getilgt worden ist.

42

Zur Theorie des skaz

Figuren usw. Durch die subjektive Modalität wiederum bewerte der Sprecher einen Sachverhalt als möglich oder unmöglich, wirklich oder unwirklich, erforderlich, erwünscht etc. Ausgedrückt werde sie durch Modalverben, modale Partikeln und Modalsätze. Die subjektive Argumentation schließlich bringe Gedanken (Urteile) in logische Beziehungen, in die sie nach der persönlichen Meinung bzw. Überzeugung des Sprechers gehören. Am deutlichsten sei die subjektive Argumentation in jenen Fällen zu erkennen, in denen sie in Widerspruch zur allgemeinen Meinung oder einer als objektiv gesetzten Kausalität gerät. Nach Doležel erschöpft sich die subjektive Semantik jedoch nicht in Haltung, Modalität und Argumentation, vielmehr handle es sich um eine komplexe Kategorie, in der sich die gesamte gedankliche Persönlichkeit einer Figur niederschlage, d. h. ihre mehr oder minder bewusste und in sich geschlossene Weltsicht. Schließlich führt Doležel noch das Merkmal des individuellen Stils ein. Im Rahmen der angenommenen Maximalopposition bezeichnet es den markierten Stil der Figuren, der sich einerseits generell durch Elemente der mündlichen Varietät des Standards auszeichne und andererseits durch die Verwendung von Dialekt, Soziolekt, Idiolekt oder Jargon auf indirekte Weise zur Charakterisierung des jeweiligen Sprechers beitrage. Da beim referenzorientierten Text die Relation zu dessen Sprecher unterdrückt sei, könne in diesem Falle ein individuelles Bewusstsein im Sinne einer Ich-Origo nicht ausgemacht werden, weshalb auch die genannten Merkmale nicht auftreten könnten. Der Sprecher beziehe sich hier lediglich auf die dargestellten Sachverhalte (er/sie/es), und dies in der Vergangenheitsform. Raum-zeitliche Angaben seien nur in Bezug auf eben diese Sachverhalte möglich (elenxis). Da Ausdrucks- und Appellfunktion unterdrückt seien, müssten deren sprachliche Realisierungen notwendigerweise fehlen. Unter semantischem Aspekt erwecke die Abwesenheit eines individualisierten Subjekts den Eindruck einer anonymen und unparteilichen Nachricht, die zudem in stilistischer Hinsicht neutral sei, d. h. dem schriftlichen Standard entspreche. Auf der Basis dieser Maximalopposition seien dann unterschiedliche Mischformen möglich, von denen sich in Bezug auf den Erzählvorgang vor allem die Erlebte Rede als relevant erweise. Sie ergebe sich aus der Kombination der grammatischen Merkmale des objektiven Erzählens (System der Personen und Zeiten) mit den übrigen Merkmalen der Figurenrede:

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels System der Personen Erlebte Rede

0

System der Zeiten 0/1

39

43

Deixis

Allokution

Expression

subjektive Semantik

individueller Stil

1

1

1

1

1

Durch diese Kombination von Merkmalen überbrücke die Erlebte Rede auf spezifische Weise die Kluft zwischen der Erzähler- und der Figurenrede, da sie aus einer Konzentration der figurenbezogenen Merkmale auf der Grundlage des objektiven Erzählers resultiert. Die Qualifizierung einer Äußerung als Erlebte Rede sei deshalb abhängig von der Dichte und der Intensität der in ihr vorkommenden figurenbezogenen Merkmale. Bereits diese Einschränkung macht deutlich, dass im Zweifelsfall eine Entscheidung nur unter Berücksichtigung des Kontextes getroffen werden kann. Jenen Fall schließlich, bei dem die figurenbezogenen Merkmale als selbständige und bewegliche Signale in unterschiedlicher Dichte und Konstellation auftreten, bezeichnet Doležel (1993, 33) als Gemischte Rede (smíšená řeč). Die für sie charakteristische unterschiedlich starke Markierung durch figurenbezogene Merkmale führe zu einem doppeldeutigen, inkonstanten und veränderbaren sprachlichen Aufbau, der zwischen den Polen des objektiven Erzählens und der Erlebten Rede oszilliere. 2. Wie bereits erwähnt, bildet die Maximalopposition zwischen den Figuren und dem nicht als Figur auftretenden Erzähler auch den Ausgangspunkt für die Gewinnung der funktionalen Kriterien. Doležel geht davon aus, dass die primären Funktionen der Figuren darin bestehen, als Handlungsträger in der dargestellten Welt aufzutreten (Aktionsfunktion) und diese aus ihrer subjektiven Sicht heraus zu deuten und zu bewerten (Interpretationsfunktion). Dem Erzähler komme dagegen primär die Aufgabe zu, diese Welt allererst zu erschaffen (Konstruktionsfunktion) und zu strukturieren. Mit dieser Strukturierung ist die hierarchische Ordnung zwischen der Erzähler- und der Figurenrede gemeint, die sich daraus ergibt, dass Letztere in Erstere integriert ist. Doležel (1993, 44) bezeichnet diesen Umstand als Kontrollfunktion. Einen Erzähler, der lediglich über die Konstruktions- und die Kontrollfunktion verfügt, nennt Doležel objektiv. Wie aber bereits bei den linguistischen Merkmalen könne diese Maximalopposition durch die Vermischung der funktionalen Kriterien auf-

––––––––––––

39

Das Tempus der Erlebten Rede ist zwar in der Regel das Präteritum, doch macht Doležel (1993, 25f.) darauf aufmerksam, dass sie zumindest im Tschechischen auch im Präsens möglich ist.

Zur Theorie des skaz

44

gehoben werden. So könne sich etwa ein Erzähler, ohne seine primären Funktionen aufzugeben, diejenigen der Figuren aneignen. Durch die Übernahme der Interpretationsfunktion, also der Kommentierung und Bewertung des dargestellten Geschehens, werde der objektive Erzähler zu einem rhetorischen. Tritt dann auch noch die Aktionsfunktion hinzu, so handle es sich um einen persönlichen (subjektiven) Erzähler, der in der dargestellten Welt selbst agiert und damit zu einem Teil des erzählten Geschehens wird. Diese letzte Verschiebung lasse sich auch aus der umgekehrten Richtung beschreiben als die Übernahme der primären Funktionen des Erzählers durch eine bestimmte Figur der dargestellten Welt. Das Ergebnis sei in beiden Fällen dasselbe, nämlich die Konzentration der Funktionen von Erzähler und Figur in nur einer Instanz. In Anlehnung an Doležel (1973, 8) ergibt sich daraus für den Erzähler unter funktionalem Aspekt das folgende Schema: Konstruktions- und Kontrollfunktion

Interpretationsfunktion

Aktionsfunktion

objektives Erzählen

+





rhetorisches Erzählen

+

+



subjektives Erzählen

+

+

+

Durch die Verbindung dieser drei Typen des Erzählens mit der traditionellen Unterscheidung zwischen Er- und Ich-Form ergeben sich schließlich sechs Erzählertypen. Das funktionale und das linguistische Modell ergänzen sich nun darin, dass Letzteres es erlaube, den jeweiligen Erzählertypen spezifische sprachliche Merkmale zuzuordnen, wodurch eine Identifizierung des Erzählertyps im konkreten Einzelfall ermöglicht werde. Graphisch lässt sich diese Verbindung nach Doležel (1973, 10) folgendermaßen darstellen:40

–––––––––––– 40

In der tschechischen Version fehlt, aus welchen Gründen auch immer, diese Tabelle. Ich übernehme deshalb die Terminologie der älteren Arbeit, auch wenn sie sich von derjenigen aus dem Jahr 1993 teilweise unterscheidet, doch fallen diese Unterschiede nicht ins Gewicht.

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels system of persons

system of tenses

deixis

allocution

emotive function

45 subjective semantics

specified speech level

personal Ich-form

1

subjective Er-form

0

0

a 1 /0

a 1 /0

a 1 /0

a 1 /0

a 1 /0

objective Er-form

0

0

0

0

0

0

0

rhetorical Er-form

0

0

1

1

1

1

1

observer’s Ich-form

1

1

0

0

0

0

0

rhetorical Ich-form

1

1

1

1

1

1

1

a

1

a

1

a

1

a

1

a

1

a

1

a

Zum besseren Verständnis der Tabelle seien kurz die Erläuterungen Doležels (1993, 44–48) zu den einzelnen Erzählertypen angeführt. Bei der objektiven Er-Form, das ist aus den bisherigen Erläuterungen bereits deutlich geworden, verfügt der Erzähler lediglich über die Konstruktions- sowie die Kontrollfunktion und ist zudem sprachlich unmarkiert. Bei der rhetorischen Er-Form hingegen tritt zu den beiden primären Funktionen des Erzählers noch die Interpretationsfunktion hinzu, wodurch die neutrale Position aufgegeben wird. Mit anderen Worten, der Er-Erzähler entwirft in diesem Falle die dargestellte Welt nicht nur, sondern kommentiert und bewertet sie auch. Das Besondere an dieser Form sei nun aber, dass die dadurch zustande kommende subjektive Perspektive nicht einer Figur zuzuschreiben ist, sondern einem Erzähler, der – ebenso wie der objektive – außerhalb der von ihm erzählten Welt steht. Da ein Er-Erzähler nicht gleichzeitig auch Teil der von ihm dargestellten Welt sein könne, stelle die subjektive Er-Form schließlich gleichsam eine hybride Form dar, da auf der Basis des objektiven Erzählens das Geschehen aus der Perspektive einer Figur (in der Tabelle gekennzeichnet mit a für Aktionsfunktion) entworfen wird. Grundlage der subjektiven Er-Form ist demnach die Erlebte Rede, die durch die freie Verfügbarkeit und unterschiedliche Dichte der figurenbezogenen Signale in die Gemischte Rede übergehen kann. Wird diese ihrerseits mit den primären Funktionen des Erzählers kombiniert, entsteht daraus die subjektive Er-Form. Im Gegensatz dazu entstehen die Ich-Formen dadurch, dass eine Figur auch die primären Funktionen des Erzählers übernimmt. Eine solche Übernahme impliziert aber nicht automatisch den Verlust der pri-

46

Zur Theorie des skaz

mären Funktionen der Figur. So ist ein Ich-Erzähler stets selbst ein Teil des dargestellten Geschehens (Aktionsfunktion) und natürlich kann er es auch kommentieren und bewerten (Interpretationsfunktion). Allerdings können die primären Funktionen der Figur bei einem Ich-Erzähler in unterschiedlich starkem Ausmaß unterdrückt sein, woraus dann die verschiedenen Arten der Ich-Form entstehen. So sind beispielsweise bei der Ich-Form des Beobachters sowohl die Aktions- als auch die Interpretationsfunktion nicht aktiviert. In der damit verbundenen künstlich und unnatürlich anmutenden Entsubjektivierung der erzählenden Figur sei die Ursache dafür zu sehen, dass diese Form äußerst selten anzutreffen ist. Der Ich-Erzähler nehme in diesem Falle die Rolle eines distanzierten Beobachters ein, der nicht nur nicht in das dargestellte Geschehen eingreift, sondern sich auch jeden Kommentars enthält. Zwar steht auch der rhetorische Ich-Erzähler außerhalb der eigentlichen Handlung, doch nutzt er seine Möglichkeit, das von ihm geschilderte Geschehen mehr oder weniger ausführlich zu kommentieren. Die Unterdrückung der Aktionsfunktion bei der Ich-Form des Beobachters und der rhetorischen Ich-Form bedeute allerdings nicht, dass sich der Erzähler völlig passiv verhalten könne. Vielmehr müsse er in beiden Fällen auf irgendeine Weise in Kontakt mit den von ihm berichteten Ereignissen gelangen, indem er sich beispielsweise an den Ort des Geschehens begibt, sich mit einem der Protagonisten bekannt macht oder auf eine andere Weise zum Empfänger der Information wird, die er dann als Erzähler an den fiktiven Adressaten weitergibt. Dadurch wird nach Meinung Doležels (1993, 48) die behauptete Unterdrückung der Aktionsfunktion allerdings nicht infrage gestellt. Bei der persönlichen Ich-Form schließlich ist der Erzähler eine Figur, die sich am dargestellten Geschehen aktiv beteiligt, wobei das Ausmaß dieser Beteiligung unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. In vielen Fällen aber ist er selbst der Haupthandlungsträger, d. h. er berichtet über seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, die er darüber hinaus auch kommentiert. Durch die sich hier vollziehende Introspektion erlaube die persönliche Ich-Form die größtmögliche psychologische Durchdringung des Erzähler-Protagonisten. Betrachtet man nun diese Erzählertypologie Doležels und ruft sich gleichzeitig in Erinnerung, dass Titunik als notwendige Kriterien für skaz die expressiven und die allokutionalen Merkmale sowie die dialektalen (d. h. den individuellen Stil) bestimmt, so sieht man sich zu dem Schluss genötigt, dass alle persönlichen und rhetorischen Ich-Erzähler sowie der rhetorische Er-Erzähler auch als skaz-Erzähler anzusehen

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels

47

sind.41 Eine solche Sichtweise ist höchst problematisch, da sie die vorgenommene Differenzierung unterschiedlicher Erzählertypen anhand einzelner Merkmale wieder aufheben würde, was seinerseits zu einer sinnentleerenden Ausweitung des skaz-Begriffes führen würde (die in der Forschung allerdings nicht selten anzutreffen ist, wie die bereits vorgestellten Ansätze belegen). Doch auch bei der konkreten Textanalyse zeigt sich, dass diese Position nicht haltbar ist, wie an drei Beispieltexten, die den in Rede stehenden Erzählertypen entsprechen, im Folgenden gezeigt werden soll. Auf diese Weise wird deutlich werden, dass zum einen Doležels Erzählertypologie nicht dem Gebot der Widerspruchsfreiheit genügt und gleichzeitig an der Realität der Texte vorbeigeht, weshalb sie einiger nicht unwesentlicher Modifikationen bedarf, und dass zum anderen die von Titunik als notwendige und hinreichende Kriterien für skaz angesehenen sprachlichen Merkmale für dessen Bestimmung nicht ausreichen. Als Beispiel für die rhetorische Er-Form soll Nikolaj Gogol’s berühmte Erzählung Šinel’ (Der Mantel) aus dem Jahr 1842 dienen. Zunächst gilt es freilich darauf hinzuweisen, dass der Erzähler der tragikomischen Geschichte vom kleinen Beamten Akakij Akakievič Bašmačkin, der seines neuen Mantels beraubt wird, sich daraufhin verkühlt, bald darauf stirbt und schließlich in Petersburg scheinbar als mantelraubendes Gespenst umgeht, hin und wieder die Formen der ersten Person Singular und der ersten Person Plural verwendet, wie etwa in den folgenden Beispielen: „ne pomnju kakogo-to goroda [ich erinnere mich nicht aus welcher Stadt]“ (109);42 „(ibo u nas prežde vsego nužno ob’’javit’ čin) [(denn bei uns muss man zuallererst den Rang angeben)]“ (109); „naš severnyj moroz [unser nordischer Frost]“ (114); „naš Akakij Akakievič [unser Akakij Akakievič]“ (129); „bednaja istorija naša [unsere armselige Geschichte]“ (132); „No my, odnako že, soveršenno ostavili odno značitel’noe lico [Aber indessen haben wir jene bedeutende Person völlig außer Acht gelassen]“ (133); „no takie už zadači byvajut na svete, i sudit’ ob nich ne naše delo [aber solche Probleme gibt es nun einmal auf der Welt, und über sie zu urteilen, ist nicht unsere Angelegenheit]“ (134).

–––––––––––– 41

42

Die subjektive Er-Form kommt hier trotz des Vorhandenseins der genannten Merkmale natürlich nicht in Betracht, weil bei ihr die Funktion des Erzählens einerseits und die subjektive Perspektive andererseits auf zwei verschiedene Instanzen aufgeteilt sind, nämlich auf den Erzähler und eine oder im Verlauf des Textes sogar mehrere Figuren. An dieser Stelle offenbart sich noch einmal der grundlegende Denkfehler Tituniks, der den skaz ja gerade in Anlehnung an die Erlebte Rede bestimmt hat, die ihrerseits die Grundlage der subjektiven Er-Form bildet. Die Seitenzahlen beziehen sich auf Gogol’ (1994).

Zur Theorie des skaz

48

Damit wird er allerdings nicht automatisch zu einem Ich-Erzähler,43 denn weder berichtet er über seine eigenen Erlebnisse, wie es in der persönlichen Ich-Form der Fall ist, noch steht er in irgendeiner Weise in Kontakt mit dem von ihm geschilderten Geschehen wie bei der IchForm des Beobachters und der rhetorischen Ich-Form.44 Mit Blick auf den objektiven Er-Erzähler hat bereits Doležel (1967, 549 bzw. 1972, 387) darauf hingewiesen, dass das vereinzelte Auftreten der ersten Person in der Regel keinen Wechsel des Erzählertyps anzeigt, sondern als traditionelles episches Klischee, z. B. im Sinne eines auktorialen Plurals, anzusehen sei.45 In Gogol’s Šinel’ hingegen haben diese Wechsel eine klar erkennbare Funktion, denn die angeführten Beispiele zeigen, dass sie häufig dazu genutzt werden, um den Erzählvorgang selbst zu kommentieren und damit die Präsenz des Erzählers hervorzuheben. Bei einer solchen Gestaltung des Erzählers handelt es sich wohl um die direkteste Möglichkeit, die rhetorische Er-Form im Sinne Doležels allererst zu etablieren. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass sich der Erzähler, ohne als Figur aufzutreten, als Teil der Sprechergemeinschaft konstituiert, der auch die Figuren angehören („naš severnyj moroz“, „ibo u nas“) und damit gleichzeitig eine intime Kommunikationssituation kreiert, die den fiktiven Adressaten mit einbezieht. Bereits der sporadische Wechsel in die erste Person ist daher als eines der expressiven Merkmale zu betrachten. Zu ihnen zählt auch das durch drei Punkte markierte Verstummen des Erzählers (109, 111, 121,

–––––––––––– 43 44

45

So bereits Rice (1975, 417). Die These von Michael Moser (1994, 64 und 70), dass es sich bei dem Erzähler um den Protagonisten Akakij Akakievič selbst handelt, halte ich für wenig plausibel. Schon die Annahme, dass Akakij Akakievič seine eigene Geschichte, in deren Verlauf er zudem stirbt, in der Er-Form erzählt, wirkt reichlich konstruiert. Moser begründet diese Ineinssetzung mit Übereinstimmungen in der Redeweise der Figur und des Erzählers, die zweifellos vorhanden sind, übersieht dabei aber, dass der Erzähler über ein weitaus größeres stilistisches Repertoire verfügt als Akakij Akakievič, der sich „meistens mittels Präpositionen, Adverbien und schließlich solcher Partikel ausdrückt, die einfach überhaupt keine Bedeutung haben. [iz’’jasnjalsja bol’šeju čast’ju predlogami, narečijami i, nakonec, takimi častnicami, kotorye rešitel’no ne imejut nikakogo značenija.]“ (116) Bereits Dmitrij Tschižewskij (1966, 110) hat es deshalb für abwegig gehalten, dass Akakij Akakievič „eine solch komplizierte Begebenheit erzählen“ könnte. Nicht zuletzt aus der Uneindeutigkeit des Stils resultieren ja die Schwierigkeiten bei der stilistischen Einordnung des Erzählers, worauf weiter unten noch einzugehen sein wird. In vergleichbarer Weise argumentiert auch Franz K. Stanzel (1985, 259f.), und zwar unter direkter Bezugnahme auf Šinel’: „Eine solche vorübergehende, meist auch nicht weiter ausgeführte Lokalisierung des Standortes des auktorialen Erzählers in der Welt der Charaktere ist eine im 19. Jahrhundert weit verbreitete Erzählkonvention [...]. In den meisten Fällen dient diese Erzählkonvention der Verifikation des Erzählten, ist also Teil der ‚rhetoric of dissimulation‘, die darauf zielt, die Grenze zwischen der Welt der Charaktere und der des Erzählers zu verwischen.“

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels

49

132). In diesem Zusammenhang sind ferner die Einschübe, die, wie in einem der oben angeführten Beispiele, teilweise noch durch Klammern besonders hervorgehoben sind (109, 117, 127) und Digressionen zu nennen, die der Erzähler für Erläuterungen oder längere Räsonnements nutzt. Aus der Vielzahl der Beispiele sei hier lediglich eines herausgegriffen, welches wegen seiner Länge und seiner Position unmittelbar am Beginn der Erzählung besonders ins Auge fällt: V departamente... no lučše ne nazyvat’, v kakom departamente. Ničego net serditee vsjakogo roda departamentov, polkov, kanceljarij i, slovom, vsjakogo roda dolžnostnych soslovij. Teper’ uže vsjakij častnyj čelovek sčitaet v lice svoem oskorblennym vse obščestvo. Govorjat, ves’ma nedavno postupila pros’ba ot odnogo kapitana-ispravnika, ne pomnju kakogo-to goroda, v kotoroj on izlagaet jasno, čto gibnut gosudarstvennye postanovlenija i čto svjaščennoe imja ego proiznositsja rešitel’no vsue. A v dokazatel’stvo priložil k pros’be preogromnejšij tom kakogo-to romantičeskogo sočinenija, gde črez každye desjat’ stranic javljaetsja kapitan-ispravnik, mestami daže soveršenno v p’janom vide. Itak, vo izbežanie vsjakich neprijatnostej, lučše departament, o kotorom idet delo, my nazovem odnim departamentom. (109) In einer Ministerialabteilung… aber es ist besser, nicht zu sagen in welcher Ministerialabteilung. Es gibt nichts Reizbareres als jede Art von Ministerialabteilungen, Regimentern, Kanzleien und, mit einem Wort, jede Art von Dienststellen. Heutzutage hält schon ein jeder durch die Beleidigung seiner eigenen Person die gesamte Gesellschaft für verunglimpft. Man sagt, gerade erst ging das Gesuch irgendeines Kreispolizeichefs im Hauptmannsrang, ich erinnere mich nicht mehr aus welcher Stadt, ein, in dem er klar darlegt, dass die staatlichen Verordnungen missachtet würden und dass sein geheiligter Name ausnahmslos ohne Grund im Mund geführt würde. Und zum Beweis legte er dem Gesuch den gewaltigen Band irgendeines romantischen Werks bei, in dem alle zehn Seiten ein Kreispolizeichef im Hauptmannsrang auftritt, stellenweise sogar in vollkommen betrunkenem Zustand. Und so werden wir, um alle Unannehmlichkeiten zu vermeiden, die Ministerialabteilung, um die es geht, lieber eine Ministerialabteilung nennen.

Derartige Reflexionen des Erzählers über seine eigene Rolle lenken die Aufmerksamkeit des Rezipienten immer wieder weg vom dargestellten Geschehen und hin auf das Redeereignis.46 Gleiches gilt auch für die vom Erzähler selbst bekundeten Erinnerungslücken sowie für sein wiederholtes Eingeständnis, über einzelne Sachverhalte schlichtweg nicht

–––––––––––– 46

So ruft der Erzähler beispielsweise an anderer Stelle die Konvention in Erinnerung, Informationen über die einzelnen Figuren zu liefern, nur um sie dann nicht zu erfüllen (114, 115) oder beteuert den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte (133). Hierher gehören aber auch Formulierungen wie „Itak, vot kakim obrazom proizošlo vse ėto. [Und genau so hat sich das alles zugetragen.]“ (110) und Floskeln wie „Nadobno znat’ [Man muss wissen]“ (114), „Nužno znat’ [Man muss wissen]“ (127), „Zdes’ nadobno skazat’ [Hier muss gesagt werden]“ (129) und „Prežde vsego dolg spravedlivosti trebuet skazat’ [Um der Gerechtigkeit willen muss vor allem gesagt werden]“ (133).

50

Zur Theorie des skaz

informiert zu sein (109, 110, 116, 122, 123, 124, 127, 131). Dieselbe Funktion haben Ausrufe des Erzählers wie „Čto ž delat’! [Was soll man denn machen!]“ (109) oder „Tak sil’no inogda byvaet nadležaščee raspekan’e! [So stark pflegt manchmal eine gehörige Rüge zu wirken!]“ (131) Neben diesen expressiven Merkmalen, die auf unterschiedliche Weise auf die Funktion des Erzählers im Erzählvorgang hinweisen, findet sich als allokutionales Verfahren die indirekte Anrede des Lesers: „Možet byt’, čitatelju ono pokažetsja neskol’ko strannym i vyiskannym [Vielleicht erscheint dem Leser dies ein wenig seltsam und weit hergeholt]“ (110); „čtoby čitatel’ mog sam videt’ [damit der Leser selbst sehen kann]“ (110); „No prežde čitatelju dolžno uznat’ [Aber zuvor muss der Leser erfahren]“ (119). Am schwierigsten ist zweifellos die Frage nach dem individuellen Stil des Erzählers in Šinel’ zu beantworten. Michael Moser geht ihr dezidiert unter dem Aspekt des skaz nach, worunter er die Imitation mündlicher Rede, genauer eine Inszenierung des narrativen Monologs versteht, die „eine ‚natürliche‘, dialogische, Gesprächssituation vorspiegelt.“ (Moser 1994, 64) Signale, die den hierfür notwendigen Eindruck der Spontaneität des Erzählvorgangs vermitteln, seien in Gogol’s Erzählung vor allem auf morphologischer und syntaktischer Ebene zu finden. Im Bereich der Morphologie sei neben der umgangssprachlichen Aktionsartbildung (Moser 1994, 66) in erster Linie die hohe Frequenz von Diminutivformen bei Substantiven, Adjektiven und Verben zu nennen, die auf eine nichtoffizielle Sprechsituation hindeuten, da sie eine emotionale Beziehung des Sprechers zum Erzählten einerseits und zum Zuhörer andererseits implizieren (Moser 1994, 65). Im Bereich der Syntax wiederum seien die Ellipsen, die Partikeln und die Häufung von Schaltwörtern und Schaltfügungen auffällig, „die den Erzähler als gegenwärtig erscheinen lassen, da er seine Vertextung laufend selbst thematisiert.“ (Moser 1994, 68) Auf 28 Druckseiten findet sich neben „kak izvestno [bekanntermaßen]“ (115, 134) und „kak govoritsja [wie man so sagt]“ (116) allein sechsmal „slovom [mit einem Wort]“ (113, 120, 122, 132, 134) und elfmal „vpročem [im Übrigen]“ (112, 114, 127, 128, 129, 131, 133, 134, 135). Diese Einschaltungen leiten in der Regel eine der zahlreichen Parenthesen und Kommentare des Erzählers ein. All diese stilistischen Besonderheiten, zu denen ebenso Kursivierungen zu rechnen sind, die auf ikonische Weise die Satzbetonung in der Erzählerrede signalisieren (109, 127, 133), führen dazu, dass der Erzähler nicht hinter seinem Text verschwindet, sondern als Sender „integraler und mittelbar thematisierter Teil der Erzählung“ ist (Moser 1994, 68). Im Vergleich zu den Ebenen der Morphologie und der Syntax, von denen die eigentliche skaz-Wirkung ausgehe, sei die der Lexik weitge-

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels

51

hend unmarkiert (Moser 1994, 66). Moser übersieht dabei allerdings die frappierende Häufung des Lexems „daže [sogar]“47, welches durch seine permanente Wiederholung den Eindruck der Mündlichkeit der Rede noch verstärkt. Andererseits finden sich mit „gemorroidal’nyj [hämorrhoidal]“ (109) und „posibaritstvovat’ [leben wie ein Sybarit]“ (123) zwei Lexeme, die aus dem Kotext aufgrund ihrer Gewähltheit besonders herausstechen. Bereits hierin zeigt sich ein grundlegender Charakterzug des Textes, nämlich die Stilisierung der Erzählerrede in Richtung Mündlichkeit durch buchsprachliche Elemente zu konterkarieren. Maßgeblich hierfür ist vor allem die syntaktische Komplexität ganzer Textpassagen, die in der häufigen Verwendung von Partizipien sowie den zahlreichen hypotaktischen Konstruktionen zum Ausdruck kommt.48 Šinel’ weist demnach zwei divergierende stilistische Tendenzen auf, die bereits Boris Ėjchenbaum zur Grundlage seiner Analyse der Erzählung gemacht hat. Die eine erwecke den Eindruck einer naiven Plauderei, die nicht selten „den Charakter familiärer Redseligkeit“ (Ėjchenbaum 1994a, 145) [„charakter famil’jarnogo mnogoslovija“ (Ėjchenbaum 1986, 56)] annehme. Deren Basis sind die Abschweifungen und Erinnerungslücken, die in erster Linie zur Erzeugung komischer Effekte genutzt werden, gleichzeitig aber auch den skaz in Gogol’s Erzählung begründen, d. h. eine scheinbare Improvisation des Erzählens, bei der die Illusion entsteht, dass der Erzähler eine wahre Begebenheit zum Besten gibt, deren Einzelheiten ihm jedoch nicht genau bekannt sind (Ėjchenbaum 1994a, 145). Als skaz-Signale hätten demnach in erster Linie die expressiven Merkmale zu gelten, zumal eine Stilisierung des Erzählers in charakterologischer Hinsicht, d. h. im Sinne einer milieuüblichen Sprache ebenso wenig vorliegt wie bei den Figuren der Erzählung, worauf bereits Ėjchenbaum (1994a, 143) völlig zu Recht hingewiesen hat. Demgegenüber zeichne sich die andere Tendenz durch eine angespannte Intonation aus, die zu einer melodramatischen bzw. pathetischen Deklamation führe (Ėjchenbaum 1994a, 141). Aus der Verbindung beider resultiert nach Ėjchenbaum (1994a, 147) eine Stilgroteske, „in der die Mimik des Lachens mit der Mimik der Trauer abwechselt“ [„v kotorom mimika smecha smenjaetsja mimikoj skorbi“ (Ėjchenbaum 1986, 57)]. Gerade wegen der sich daraus ergebenden „diffuse[n] Erzählerinstanz, die sich in mannigfachen rhetorischen Gesten manifestiert“ (Schmid 2008a, 180) und verschiedene sprachliche Rollen

–––––––––––– 47 48

Laut Tschižewskij (1966, 100) findet es sich insgesamt 73 Mal im Text. Darauf hat bereits Moser (1994, 66ff.) hingewiesen, offenbar ohne zu bemerken, dass dadurch der von ihm postulierte skaz-Charakter des Textes erheblich modifiziert wird und darüber hinaus auch seine These von der sprachlich begründeten Identität des Protagonisten mit dem Erzähler erheblich an Plausibilität einbüßt.

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Zur Theorie des skaz

durchspielt, sei, so Wolf Schmid (2008a, 180), die Erzählweise in Šinel’ als ornamentaler skaz zu charakterisieren. Die knappe Analyse von Gogol’s Erzählung führt damit zu folgendem Befund: Einerseits weist der Text eine große Dichte an allokutionalen und insbesondere expressiven Merkmalen auf. Andererseits gilt es innerhalb der stilistischen Markierung im engeren Sinn zwischen zwei verschiedenen Varianten zu unterscheiden. Auf der einen Seite finden sich, wie Moser gezeigt hat, vor allem auf morphologischer und syntaktischer Ebene Abweichungen vom schriftlichen Standard, die im Falle der Diminutiva die emotionale Involviertheit des Erzählers indizieren bzw. im Falle der Schaltwörter dessen Digressionen einleiten. Insofern sind sie auf das Engste mit den expressiven Merkmalen verbunden. Andere derartige Abweichungen wie die Häufung von Partikeln, die Ellipsen, die Parenthesen sowie die Kennzeichnung der Satzbetonung repräsentieren ganz generell die mündliche Variante des Standards im geschriebenen Text. Auf der anderen Seite fehlt jegliche stilistische Markierung des Erzählers im Sinne einer indirekten Charakterisierung etwa durch Dialekt, Soziolekt oder Jargon. Nach Moser reicht eine derartige Stilisierung bereits hin, um in Bezug auf Šinel’ von skaz zu sprechen. Eine vergleichbare Position vertritt auch Ėjchenbaum, doch erkennt er in Gogol’s Text eine komplexere Struktur, da der skaz hier mit einer ihm entgegengesetzten stilistischen Schicht verbunden ist. Das daraus resultierende Stilgemisch wiederum fasst Schmid mit dem Begriff des ornamentalen skaz. An diesem Punkt der Argumentation stellen sich somit zwei zentrale Fragen im Hinblick auf den Umgang mit dem skaz-Begriff: 1. Wenn die expressiven, die allokutionalen sowie jene stilistischen Merkmale, die ganz allgemein Mündlichkeit im Schriftlichen indizieren, bereits zur Erzeugung des eigentlichen skaz-Effektes ausreichen, bedarf es dann der in der Forschung immer wieder als notwendiges Merkmal postulierten charakterologischen Stilisierung des Erzählers? 2. Trägt nicht die Rede von einem ornamentalen skaz als Bezeichnung für eine Stilmischung, die u. a. auch skaz-Elemente enthält, aber eben nicht nur solche und die somit auch keine Sonderform des skaz im Sinne einer Untergruppe darstellt, gerade zu jener Begriffsunschärfe bei, die Schmid (2008a, 168) selbst beklagt, und der es eigentlich zu begegnen gilt, wenn der Terminus seine explikatorische Kraft nicht gänzlich einbüßen soll? Nicht zuletzt um diese Fragen zu beantworten, bedarf es zunächst noch der Betrachtung eines rhetorischen und eines persönlichen Ich-Erzählers, die nach der Typologie Doležels in Verbindung mit dem Kriterienkatalog Tituniks skazMerkmale aufweisen müssten.

Die Erzählertypologie Lubomír Doležels

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Nicht minder berühmt als Gogol’s Šinel’ ist Nikolaj M. Karamzins Erzählung Bednaja Liza (Die arme Liza) aus dem Jahr 1792, die hier als Beispiel für die rhetorische Ich-Form dienen soll. Geschildert wird in ihr das traurige Schicksal des siebzehnjährigen Bauernmädchens Liza, das sich in einen Adligen namens Ėrast verliebt, der ihre Liebe zunächst auch erwidert. Allerdings erkaltet sie schon bald nach dem ersten Geschlechtsakt, und als Ėrast im Glücksspiel sein ganzes Geld verliert, sieht er sich gezwungen, eine vermögende Witwe zu heiraten. Als Liza davon erfährt, ertränkt sie sich in einem Teich. Präsentiert wird dieses Geschehen aus der Retrospektive – es handelt sich dabei um einen zeitlichen Abstand von 30 Jahren – von einem namenlosen Ich-Erzähler, der die Geschichte von Lizas Unglück von Ėrast persönlich erfahren hat. Demnach sind unter funktionalem Aspekt die von Doležel genannten Voraussetzungen für einen rhetorischen Ich-Erzähler erfüllt, da er zwar Teil der dargestellten Welt ist, gleichzeitig aber passiv bleibt und nicht in das Geschehen eingreift, sondern lediglich Informationen darüber erhält, die er an den fiktiven Adressaten weitervermittelt. Wie aber steht es um die linguistischen Merkmale? Unter dem Aspekt der Allokution ist vor allem die indirekte Anrede des fiktiven Adressaten zu nennen, wie etwa in den Beispielen „Vsjakij dogadaetsja [Jeder wird erraten]“ (509),49 „Teper’ čitatel’ dolžen znat’ [Nun muss der Leser wissen]“ (510) oder „Čitatel’ legko možet voobrazit’ sebe, čto ona čuvstvovala v siju minutu. [Der Leser kann sich leicht vorstellen, was sie in diesem Augenblick fühlte.]“ (517). Deutlich stärker noch sind die expressiven Merkmale in Bednaja Liza ausgeprägt. Besonders auffällig ist, gerade angesichts des vergleichsweise geringen Umfangs des Textes, die Vielzahl an Interjektionen (hier vor allem das berühmte „Ach!“ [507, 508, 511, 518]) und Exklamationen: „pečal’nye kartiny! [traurige Bilder!]“ (507); „ibo i krest’janki ljubit’ umejut! [denn auch Bäuerinnen können lieben!]“ (507); „no kak vse peremenilos’! [doch wie hatte sich alles verändert!]“ (515); „Kakaja trogatel’naja kartina! [Was für ein rührendes Bild!]“ (517); „Teper’, možet byt’, oni uže primirilis’! [Vielleicht haben sie sich jetzt schon versöhnt!]“ (519) Ebenso findet sich eine nicht unerhebliche Anzahl an rhetorischen Fragen, wie zum Beispiel: „nužno li skazyvat’ gde? [ist es nötig zu sagen, wo?]“ (510) und „No vse sie možet li opravdat’ ego? [Aber kann ihn all das rechtfertigen?]“ (518). Wie die Beispiele zeigen, dienen die Ausrufe und rhetorischen Fragen in der Regel dazu, die emotionale Anteilnahme des Erzählers auszudrücken oder den Erzählvorgang selbst zu kommentieren. Beide

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Die Seitenangaben beziehen sich auf Karamzin (1984).

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Funktionen treten noch deutlicher in jenen Wendungen zutage, die die Schilderung des Geschehens um Liza und Ėrast immer wieder unterbrechen und auf den Rede- bzw. Schreibvorgang selbst aufmerksam machen, wie beispielsweise: „No ja brosaju kist’. Skažu tol’ko [...][Aber ich lasse den Pinsel sinken. Ich sage lediglich (...)]“ (512); „No ja ne mogu opisat’ vsego, čto oni pri sem slučae govorili. [Aber ich kann nicht alles beschreiben, was sie bei dieser Gelegenheit sagten.]“ (516); „Dlja čego pišu ne roman, a pečal’nuju byl’? [Warum schreibe ich keinen Roman, sondern eine traurige wahre Geschichte?]“ (518). Die Emphase des Erzählers, mit der zugleich der Erzählvorgang in den Blickpunkt rückt, zeigt sich jedoch nicht nur in diesen Kommentaren, sondern auch auf der stilistischen Ebene. Hierzu sind etwa all jene Fragen zu zählen, die der Erzähler scheinbar direkt an die Protagonisten richtet. Das Besondere dabei ist, dass Liza und Ėrast bereits tot sind, die Fragen mithin keinen kommunikativen Charakter auf der Figurenebene haben, zu der ja auch der Erzähler gehört. Vielmehr teilt er in ihnen nahezu unmittelbar seine Einschätzung des Geschehens mit, um auf diese Weise den Rezipienten in eine bestimmte Richtung zu lenken, wie etwa in Bezug auf Liza: „Ach, Liza, Liza! Čto s toboju sdelalos’? [Ach, Liza, Liza! Was ist mit dir geschehen?]“ (511) oder „Ach, Liza, Liza! Gde angel-chranitel’ tvoj? Gde – tvoja nevinnost’? [Ach, Liza, Liza! Wo ist dein Schutzengel? Wo ist deine Unschuld?]“ (515f.). Und in Bezug auf Ėrast in unmittelbarer Abfolge: „Bezrassudnyj molodoj čelovek! Znaeš’ li ty svoe serdce? Vsegda li možeš’ otvečat’ za svoi dviženija? Vsegda li rassudok est’ car’ čuvstv tvoich? [Du unbesonnener junger Mensch! Kennst du denn dein Herz? Kannst du denn für alle deine Regungen die Verantwortung übernehmen? Ist denn die Vernunft immer Herr über deine Gefühle?]“ (513). Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch Wiederholungen zu nennen, die den Erzählvorgang ins Bewusstsein heben und die durch ihre verstärkende Wirkung die emotionale Involviertheit des Erzählers signalisieren, so beispielsweise: „I Liza, robkaja Liza [Und Liza, die schüchterne Liza]“ (510) oder „čto ona počti vsjakuju minutu prosypalas’, prosypalas’ i vzdychala. [dass sie fast jede Minute erwachte, erwachte und seufzte.]“ (511). Die gehäufte Verwendung expressiver Verfahren, zu denen, ebenso wie bei Gogol’, auch die vereinzelte Verwendung dreier Punkte gehört, die das Verstummen des Erzählers markieren (511, 512, 514), dürfte somit hinreichend deutlich geworden sein. Abschließend gilt es noch, die Frage nach dem individuellen Sprachstil des Erzählers zu klären. Bereits bei den expressiven Merkmalen sind einzelne stilistische Phänomene erwähnt worden, die den Erzähler aus-

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zeichnen, wie etwa die Wiederholungen und die rhetorischen Fragen, die scheinbar an die Figuren direkt gerichtet sind. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang ferner die bereits aus Šinel’ bekannte Hervorhebung einzelner Wörter oder Satzglieder durch Kursivdruck (511, 515, 519), durch die auf ikonische Weise deren Betonung in der Erzählerrede markiert ist. Alle diese Stilisierungen signalisieren die emotionale Anteilnahme des Erzählers, wodurch erneut die enge Verbindung zwischen den expressiven und den auf Mündlichkeit abzielenden stilistischen Verfahren deutlich wird. Gleichzeitig fehlt in Bednaja Liza – ebenso wie in Šinel’ – jegliche Markierung des Erzählers im Sinne eines Soziolekts, Dialekts oder Idiolekts. Dieser Umstand kann aus zweierlei Gründen nicht verwundern: Zum einen hätte eine solche Kennzeichnung dem Programm des Sentimentalismus mit seinem Anliegen, zu einer ästhetischen wie moralischen Verfeinerung der Leserschaft beizutragen, diametral entgegengestanden, da die Reproduktion etwa einer derben bäuerlichen Ausdrucksweise die geforderte Anmut des Stils zerstört hätte. Zum anderen verfolgte Karamzin mit seinen Erzählungen und seinen Pis’ma russkogo putešestvennika (Briefe eines russischen Reisenden) aus dem Jahr 1791 unter anderem gerade das Ziel, zur Etablierung einer adäquaten russischen Standardsprache beizutragen, von der zu jener Zeit noch keineswegs die Rede sein konnte. Stattdessen tobte vor dem Hintergrund von Michail V. Lomonosovs Lehre von den drei Stilen eine heftige Auseinandersetzung darüber, welcher von ihnen für die Belletristik angemessen sei. Letztendlich ging es dabei um das Mischungsverhältnis von kirchenslavischen und genuin russischen Elementen, und es war gerade Karamzin, der darum bemüht war, dem so genannten mittleren Stil zum Durchbruch zu verhelfen. In der Geschichte der Normierung des russischen Standards ist deshalb sogar die Rede von einer Karamzinschen Stilreform, da sein „neuer Stil [novyj slog]“ für einen gewissen Zeitraum selbst die Norm bildete.50 Somit lässt sich festhalten, dass der rhetorische Ich-Erzähler in Bednaja Liza zwar durch expressive und allokutionale sowie durch Mündlichkeit indizierende stilistische Merkmale gekennzeichnet ist, nicht jedoch durch eine spezifische Stilebene, die im Sinne einer indirekten Charakterisierung zu seiner Individualisierung beiträgt. Damit aber weist er gerade diejenigen Eigenschaften auf, die nach Ėjchenbaum und Moser den skaz in Šinel’ begründen und wäre demzufolge als skaz-Erzähler zu bezeichnen. Vor einer solchen Feststellung gilt es jedoch zwei wesentliche Unterschiede zwischen den Erzählern in beiden Texten kurz zu diskutie-

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Vgl. dazu Brang (1982, 29f.).

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ren. Dabei muss zunächst die Frage geklärt werden, ob der skaz an eine bestimmte Erzählsituation gebunden ist. Wie aus den obigen Ausführungen bereits hervorgeht, besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass skaz als ein rein stilistisches Phänomen anzusehen ist, welches unabhängig von der Kompositionsform eines Textes vorliegen kann. Für das Auftreten von skaz erweist sich die Frage, ob es sich um einen Er- oder um einen Ich-Erzähler handelt, der vielleicht zudem noch durch eine Rahmenerzählung eingeführt wird, somit als völlig irrelevant. Ein Unterschied besteht lediglich in der ästhetischen Wirkung, da bei einem Ich-Erzähler die skaz-Merkmale als motiviert gelten können, weil es sich hier um eine Figur handelt, die die Funktion des Erzählers übernimmt. Bei einem Er-Erzähler hingegen ist die sprachliche Markierung unmotiviert, wodurch die Wirkung des skaz deutlich gesteigert wird. Die Erzählsituation kann demnach gegen eine Qualifizierung des Erzählens in Bednaja Liza als skaz nicht ins Feld geführt werden. Ein Argument dagegen könnte allerdings in dem Umstand gesehen werden, dass die expressiven Merkmale in Karamzins Text nicht dazu genutzt werden, komische Effekte zu erzeugen, wie sie von den Digressionen und Erinnerungslücken des Erzählers in Šinel’ ausgehen. Zwar ist in der Forschung wiederholt auf die komische Wirkung hingewiesen worden, die skaz-Texte hervorrufen können, doch wurde die Komik – völlig zu Recht – bisher nicht zum notwendigen Kriterium für das Phänomen skaz erhoben.51 Angesichts dieses Umstandes einerseits und des Vorhandenseins der von Titunik genannten Merkmale andererseits müsste man also den rhetorischen Ich-Erzähler in Bednaja Liza in der Tat als skaz-Erzähler qualifizieren. Stutzig macht dabei allerdings die Tatsache, dass bisher offenbar niemand auf diese Idee verfallen ist, weshalb doch Zweifel angebracht erscheinen, ob die expressiven, die allokutionalen und die ganz generell mündliche Rede indizierenden stilistischen Merkmale für den skaz allein als konstitutiv angesehen werden können.

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Vgl. etwa Ėjchenbaum (1987, 419): „V svjazi s ėtim skaz očen’ často (no ne vsegda) imeet komičeskij charakter, vosprinimajas’ na fone kanonizovannoj literaturnoj reči kak ee deformacija – kak reč’ defektivnaja, ‚nepravil’naja‘.“ [„Deshalb hat der skaz auch häufig (wenn auch nicht immer) einen komischen Charakter, indem er auf dem Hintergrund der kanonisierten Literatursprache als deren Deformierung wahrgenommen wird – als defektive ‚unnormale‘ Sprache.“ (Ėjchenbaum 1994c, 231)] Ebenso schreibt Titunik (1963, 80) dem skaz in Fällen eines inadäquaten Sprachgebrauchs eine komische Wirkung zu. Bezeichnenderweise geht aber die Komik in Šinel’ nicht von einer derartigen Deformierung der Literatursprache aus, sondern von dem Eindruck, dass der Erzähler seine Rolle nur unzureichend erfüllt. So verweist denn auch Ėjchenbaum (1994a, 135) in diesem Zusammenhang auf die „logische Absurdität“, die die Gedanken des Erzählers in Gogol’s Text kennzeichnen, also nicht in erster Linie auf ein stilistisches Merkmal, sondern auf ein semantisches.

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Weiteren Aufschluss hierüber kann die Betrachtung eines persönlichen Ich-Erzählers geben, wie er etwa in Fedor Dostoevskijs Erzählung (povest’) Krotkaja (Die Sanfte) aus dem Jahr 1876 vorliegt. In ihr rekapituliert ein einundvierzigjähriger namenloser Pfandleiher die Ereignisse des letzten Jahres,52 angefangen von seiner Bekanntschaft mit einer sechzehnjährigen Waise, deren Name ebenfalls ungenannt bleibt, über seine Brautwerbung, die Hochzeit und das gemeinsame Zusammenleben bis hin zu ihrem Freitod, der sich erst wenige Stunden vor dem gegenwärtigen Geschehen, dem Akt des Erzählens also, zugetragen hat. Gleichsam im Angesicht der Toten versucht der Erzähler-Protagonist die Ursache für den Selbstmord seiner Gattin zu ergründen und dabei sein Verhalten ihr gegenüber zu legitimieren. Dies geschieht nun aber nicht, wie in der Forschung häufig zu lesen ist, in Form eines inneren Monologs,53 vielmehr weist der Text, wie bereits Wolf Schmid (1973, 272) zutreffend festgestellt hat, „alle Eigenschaften des spontanen gesprochenen Monologs“ auf 54 und evoziert „die Illusion des augenblicksgebundenen Sprechens.“55 In einem der eigentlichen Erzählung voran-

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Die Dauer des zurückliegenden Geschehens wird im Text nur implizit vermittelt. Eine genaue zeitliche Rekonstruktion findet sich bei Neuhäuser (1982, 77f.). Vgl. etwa Neuhäuser (1982, 75) oder Goller (2003, 88). Zur Beschreibung derart gestalteter Texte, darunter eben auch Krotkaja, verwendet Schmid (1974) den Begriff des „dialogischen Erzählmonologs“. Stanzel hingegen bezeichnet diese Form der Darstellung als „dramatischen Monolog“, der im Grunde allerdings als nicht-narrativ zu qualifizieren sei, „weil er nur aus direkter zitierter Rede besteht.“ (Stanzel 1985, 286) Dem ist in zweifacher Hinsicht zu widersprechen. Zum einen fehlen bei dieser Art von Texten am Beginn und am Ende die Anführungszeichen, so dass die formale Kennzeichnung als direkte zitierte Rede gerade nicht vorhanden ist. Zum anderen kann, wie eben auch in Krotkaja, ganz deutlich zwischen einem erzählenden und einem erlebenden Ich unterschieden werden, so dass das zentrale strukturelle Merkmal der von Stanzel als solcher bezeichneten quasi-autobiographischen Ich-Erzählung durchaus erfüllt ist. Die Spezifik dieser Vermittlungsform ist vielmehr darin zu sehen, dass sie wie keine andere beim Rezipienten den Eindruck erweckt, den Erzählvorgang in actu zu erleben. Genau aus diesem Grund liegt es auf der Hand, den „dramatischen Monolog“ mit dem skaz in Verbindung zu bringen. Was den inneren Monolog mit dieser Art der Präsentation verbindet, ist die scheinbare Unmittelbarkeit der Mitteilung, die freilich in gewissem Maße auch von schriftlichen Aufzeichnungen, etwa einem Tagebucheintrag oder einem Brief, ausgehen kann. Wenn demnach die Funktion einzelner Arten der Informationsvergabe durchaus auch identisch sein kann, sollte um der Genauigkeit willen dennoch zwischen den unterschiedlichen Formen der Vermittlung differenziert werden, im konkreten Fall also zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit bzw. der stummen Gedankenwiedergabe durch den inneren Monolog. Deshalb halte ich auch die Ausführungen von Mirjam Goller (2003, 88 bzw. 89) für wenig plausibel, wenn sie in Bezug auf Krotkaja von einem „lautlosen Monolog“ bzw. einem „Schweigetext“ spricht. Zwar spielt das Schweigen auf der Ebene des dargestellten Geschehens, nämlich als Motiv in der Erinnerung des Erzählers, in der Tat eine zentrale Rolle, auf der Ebene der Darstellung hingegen ist der Text alles andere als „lautlos“, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden.

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gestellten Vorwort hat Dostoevskij (5f.) die Besonderheit der Komposition des Textes selbst erläutert.56 Er weist darauf hin, dass es sich bei Krotkaja weder um eine Erzählung im traditionellen Sinne handelt noch um Aufzeichnungen, sondern um eine Art Selbstgespräch, bei dem sich der Sprecher wiederholt auch an einen unsichtbaren Zuhörer wendet.57 Zur Verdeutlichung dieser Technik, die gerade auf das Mündliche im Schriftlichen abzielt, verwendet Dostoevskij das Bild eines Stenographen, dessen Mitschrift des Selbstgesprächs im Vergleich zur vorliegenden Textgestalt noch rauer und unbearbeiteter hätte ausfallen müssen. Um das Konstruktionsprinzip der Erzählung zu verdeutlichen, sei an dieser Stelle der gesamte erste Absatz des Textes angeführt: ... Vot poka ona zdes’ – ešče vse chorošo: podchožu i smotrju pominutno; a unesut zavtra i – kak že ja ostanus’ odin? Ona teper’ v zale na stole, sostavili dva lombernych, a grob budet zavtra, belyj, belyj grodenapl’, a vpročem, ne pro to... Ja vse chožu i choču sebe ujasnit’ ėto. Vot uže šest’ časov, kak ja choču ujasnit’ i vse ne soberu v točku myslej. Delo v tom, čto ja vse chožu, chožu, chožu... Ėto vot kak bylo. Ja prosto rasskažu po porjadku. (Porjadok!) Gospoda, ja daleko ne literator, i vy ėto vidite, da i pust’, a rasskažu, kak sam ponimaju. V tom-to i ves’ užas moj, čto ja vse ponimaju! (6) ... Solange sie hier ist, ist alles noch gut: jeden Augenblick gehe ich hin und schaue; aber morgen wird man sie wegtragen und – wie soll ich denn allein bleiben? Jetzt ist sie auf dem Tisch im Saal, man hat zwei L’ombre-Tische zusammengerückt, aber morgen kommt der Sarg, mit weißem, weißem Seidengewebe, aber übrigens, nicht davon... Die ganze Zeit gehe ich auf und ab und will mir das erklären. Ganze sechs Stunden schon will ich mir das erklären und es will mir nicht gelingen, meine Gedanken zu sammeln. Die Sache ist die, dass ich immer gehe, gehe und gehe... Das ist so gewesen. Ich werde einfach der Reihe nach erzählen. (Der Reihe nach!) Meine Herrschaften, ich bin wahrlich kein Literat, und sie sehen das, aber egal, ich werde erzählen, wie ich es selbst verstehe. Und gerade das ist ja mein Unglück, dass ich alles verstehe!

Bereits aus diesem kurzen Textabschnitt geht die Erregung des Erzählers und seine Ansprache eines imaginären oder wirklichen Gegenübers deutlich hervor. Auf semantische und stilistische Weise wird der Erzählvorgang in den Vordergrund gerückt, woraus eben der Eindruck der Unmittelbarkeit des Erzählens resultiert. Verantwortlich hierfür sind einmal mehr die allokutionalen, expressiven und stilistischen Merkmale, wie sie auch in den anderen beiden Beispieltexten nachgewiesen werden konnten.

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Die Seitenangaben beziehen sich auf Dostoevskij (1982). Ob dieses Gegenüber wirklich existiert oder nicht, bleibt letztlich unklar. Auch wenn Dostoevskij von einem unsichtbaren Zuhörer spricht, erweckt der Text selbst jedoch bisweilen den Eindruck von dessen Anwesenheit.

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Besonders auffällig sind zweifellos die drei Punkte am Beginn der Erzählung, die den Anschein erwecken, als sei der Monolog bereits vorher im Gange gewesen. Über den gesamten Text verteilt markieren sie immer wieder Sprechpausen, in denen der Pfandleiher offenbar versucht, seine Gedanken zu ordnen.58 Als paralinguistische Signale sind zudem erneut die ikonische Markierung der Sprechdynamik durch Kursivierung zu nennen (7, 10, 14, 16, 17, 21, 23, 26, 28, 30) sowie eine Zeichensetzung, die offenbar nicht nur eine Intensivierung der Aussage, sondern auch des Aussagens selbst anzeigen soll, wie in den folgenden Beispielen: „o, do segodnja, do samogo segodnja!! [oh, bis heute, bis zum heutigen Tag!!]“ (29) und „Opozdal!!! [Ich bin zu spät gekommen!!!]“ (35). Darüber hinaus kann sie auch einen bestimmten Tonfall veranschaulichen, etwa Verunsicherung, wie im folgenden Beispiel: „Nautro?! [Am nächsten Morgen?!]“ (32). Wie bereits in Šinel’ ist eine Stilisierung, die auf die mündliche Variante des Standards verweist – abgesehen von der gehäuften Verwendung von Partikeln wie „nu [nun, nun ja]“ und „že“ bzw. „ž [aber, doch]“ sowie im Satzeingang „Nu vot [Nun also]“ und „Da; [Ja;]“ – ausschließlich auf den Ebenen der Morphologie und der Syntax auszumachen. Im Bereich der Morphologie fallen die vielen Diminutiva bei Substantiven, Adjektiven und Adverbien in der Erzählerrede ins Auge (z. B. „serežečki [Ohrringlein]“, „medal’ončik [kleines Medaillon]“, „veščica [Sächelchen]“, „ličiko [Gesichtchen]“, „golosok [Stimmchen]“, „drjannen’kij [minderwertig]“, blednen’kij [blass]“, „tonen’kij [dünn]“, „chuden’kij [hager]“, „bednen’kij [arm]“ oder „tichon’ko [still]“. Charakteristisch für die Syntax sind Anakoluthe, Ellipsen und Inversionen sowie die Schaltwörter „to est’ [das heißt]“, „odnim slovom [mit einem Wort]“ bzw. „v dvuch slovach [in zwei Worten]“, „tak skazat’ [sozusagen]“ und „vpročem [übrigens]“, die die Präsenz des Sprechers immer wieder in Erinnerung rufen. Gleiches gilt für die große Zahl an Parenthesen, die sich teilweise über mehrere Zeilen erstrecken (z. B. 6, 9, 20), wobei dieses Abschweifen der Gedanken in der Regel noch durch Klammersetzung hervorgehoben wird. In dieser graphischen Markierung könnte man erneut den Versuch einer Umsetzung paralinguistischer Phänomene erblicken, die auf den Erzählvorgang zurückverweisen, etwa ein Zur-Seite-Sprechen bzw. die körperliche Hinwendung an das – freilich nicht dargestellte – Gegenüber, dem bestimmte Details der

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Hierbei lässt sich noch unterscheiden zwischen den drei Punkten innerhalb eines Absatzes und solchen, die am Beginn oder am Ende eines Absatzes stehen (z. B. 7, 8, 12, 14 u. ö.). Erstere indizieren offenbar eine kürzere Pause, letztere eine längere, wobei sich beim Leser eingedenk des ersten Absatzes durchaus die Vorstellung einstellen mag, dass der Pfandleiher in der Zwischenzeit wieder einmal nach seiner toten Gattin gesehen hat.

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Handlung erläutert werden, wie etwa in den folgenden Beispielen: „(u menja vsegda, kak otkryl kassu, lampadka gorela) [(seit der Eröffnung der Kasse brannte bei mir immer ein Öllämpchen)]“ (8) und „Ona sidela na posteli, smotrela v zemlju, ščelkaja pravym noskom po kovriku (ee žest); [Sie saß auf dem Bett, schaute auf die Erde und strich mit der rechten Schuhspitze über den Bettvorleger (ihr Markenzeichen);]“ (17). Noch deutlicher wird dieser Effekt in jenen Fällen, in denen sich der Pfandleiher direkt an sein Gegenüber wendet: „(Zamet’te: revol’ver ėtot byl ej uže znakom. [...] Zamet’te vse ėto.) [(Beachten Sie: diesen Revolver kannte sie bereits. [...] Beachten Sie das alles.)]“ (20) oder „(znaete ėto, kogda smejutsja ot styda) [(kennen Sie das, wenn man vor Scham lacht)]“ (28). Einmal mehr sind es aber vor allem die allokutionalen und expressiven Merkmale, die den Erzählvorgang gegenwärtig erscheinen lassen. Die Anrede des Gegenübers, die in Krotkaja in einer extremen Dichte auftritt, ist im Zusammenhang mit den Parenthesen bereits genannt worden. Gehäuft finden sich Wendungen wie „vidite [sehen Sie]“, „slušajte [hören Sie]“, „znaete [wissen Sie]“ oder auch das umgangssprachliche „postojte [warten Sie mal]“. Zu den allokutionalen Elementen zählen aber auch die vereinzelte Verwendung des lakaienhaften „-s“ („Pozvol’te-s [Erlauben Sie]“ (15) und „Vidite-s [Sehen Sie]“ (15), welches für „sudar’ [gnädiger Herr]“ steht, sowie Fragen, die offensichtlich nicht als rhetorische zu verstehen sind, sondern als direkte Anrede: „A? Kak vy dumaete, mogla byt’ takaja mysl’? [Nicht wahr? Was meinen Sie, wäre so ein Gedanke möglich gewesen?]“ (12) oder „Vy dumaete, ja ee ne ljubil? [Sie denken, ich habe sie nicht geliebt?]“ (16). Die auf diese Weise erzeugte Vorstellung von der Anwesenheit eines Zuhörers wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass ihm vom Pfandleiher verbale und nonverbale kommunikative Akte zugesprochen werden: „Začem vy govorite, čto ja smotrel i ničego ne videl? [Weshalb sagen Sie, dass ich zwar geschaut, aber nichts gesehen habe?]“ (30) oder „I čto ž, povtorjaju, čto vy mne ukazyvaete tam na stole? [Und worauf, wiederhole ich, worauf weisen Sie mich denn dort auf dem Tisch hin?]“ (16). Abschließend sei im Hinblick auf die allokutionalen Verfahren noch auf die wiederholte Anrede „gospoda [meine Herrschaften]“ hingewiesen, die im Zusammenhang mit dem dargestellten Geschehen geradezu

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den Eindruck erweckt, der Pfandleiher stehe vor einem Geschworenengericht, vor dem er sich für sein Verhalten rechtfertigen muss.59 Unter dem Aspekt der Expressivität ist an erster Stelle die Vielzahl an Exklamationen zu nennen, mit denen der Text von Anfang bis Ende durchsetzt ist. Sie dienen entweder dem unmittelbaren Ausdruck der Erregung bzw. der Gefühle des Erzählers oder der Kommentierung des vergangenen Geschehens bzw. des gegenwärtigen Reflexionsvorgangs. Zur ersten Gruppe gehören in erster Linie die Interjektion, darunter das immer wiederkehrende „O“, vereinzelt auch „Ach“, „t’fu [pfuj]“ und das stark umgangssprachliche „naplevat’ [pfeif drauf]“, sowie das Lachen des Erzählers („che-che-che“). Beispiele für die zweite Gruppe sind: „O, nizkij, nelovkij čelovek! O, kak ja byl dovolen! [Oh, du gemeiner, ungeschickter Mensch! Oh, wie war ich zufrieden!]“ (12); „O, ja vsegda byl gord, ja vsegda chotel ili vsego, ili ničego! [Oh, ich war immer stolz, ich wollte immer entweder alles oder nichts!]“ (14); „O, ved’ i ja že byl nesčastliv! Ja byl vybrošen vsemi, vybrošen i zabyt, i nikto-to, nikto-to ėtogo ne znaet! [Oh, aber auch ich war doch unglücklich! Ich war von allen verstoßen, verstoßen und vergessen, und niemand, niemand weiß das!]“ (14). Die bereits in diesen Beispielen zum Ausdruck kommende Aufgewühltheit des Erzählers wird bisweilen zusätzlich noch durch die Aufeinanderfolge mehrerer kurzer Ausrufe oder durch die Wiederholung ein und desselben Wortes verdeutlicht: „Glupo, glupo, glupo i glupo! [Dumm, dumm, dumm und nochmal dumm!]“ (14) oder „O, diko, diko! Nedorazumenie! Nepravdopodobie! Nevozmožnost’! [Oh, absurd, absurd! Missverständnis! Unwahrscheinlichkeit! Unmöglichkeit!]“ (33). Charakteristisch für die dritte Gruppe sind Ausrufe, in denen der Erinnerungsprozess bzw. dessen Resultat thematisiert wird: „O, ja pomnju, ja vse ėti mgnovenija pomnju! [Oh, ich erinnere mich, ich erinnere mich an all diese Augenblicke!]“ (9) oder „Da i teper’ ne ponimaju, i teper’ ničego ne ponimaju! [Und auch jetzt verstehe ich es nicht, auch jetzt verstehe ich gar nichts!]“ (12). Eine letzte Gruppe von Exklamationen schließlich beinhaltet allgemeine Reflexionen, wie beispielsweise: „My prokljaty, žizn’ ljudej prokljata voobšče! [Wir sind verflucht, das Leben der Menschen überhaupt ist verflucht!]“ (16) oder „O, kak užasna pravda na zemle! [Oh, wie schrecklich ist die Wahrheit auf Erden!]“ (16).

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Auf eine vergleichbare Vorstellung hat Dostoevskij (6) in seinem Vorwort selbst aufmerksam gemacht, wenn er den imaginären Zuhörer als „kakoj-to sud’ja [eine Art Richter]“ bezeichnet.

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Als weiteres expressives Merkmal sind auch in Krotkaja die rhetorischen Fragen zu nennen. Sie dienen entweder der Vergegenwärtigung des vergangenen Geschehens (z. B. „Kto u nas togda pervyj načal? [Wer von uns hat damals als Erster angefangen?]“, 14) oder der Selbstvergewisserung bzw. der Selbstrechtfertigung des Pfandleihers wie beispielsweise: „No podlosti li? Kak ved’ tut sudit’ čeloveka? Razve ne ljubil ja ee daže togda uže? [Eine Gemeinheit? Wie soll man denn hier einen Menschen verurteilen? Habe ich sie nicht sogar damals schon geliebt?]“ (12). Zu den expressiven Merkmalen zählen ferner auch die zahlreichen Einschübe, die den Erzählvorgang selbst zum Thema haben, so etwa: „Mne kažetsja, ja vse putajus’... [Mir scheint, ich bringe alles durcheinander...]“ (6); „no ja dolžen pribavit’ [aber ich muss hinzufügen]“ (12); „a vpročem, čto ž ja ob ėtom govorju! [und übrigens, was rede ich überhaupt darüber!]“ (14); „Možet byt’, ėtogo i ne bylo, možet byt’, ja ėtogo i ne myslil togda [Vielleicht war es auch nicht so, vielleicht habe ich das damals gar nicht gedacht]“ (22); „Ja ne sporju, ja ne budu protivurečit’, podobno bezumnomu: [Ich werde nicht streiten, ich werde nicht widersprechen wie ein Wahnsinniger:]“ (29). Das letzte Beispiel macht noch einmal die Bezugnahme des Sprechers auf ein Gegenüber deutlich, die noch stärker zum Ausdruck kommt in vorweggenommenen Fragen: „Vy sprosite: tverdo li ja nadejalsja, čto spasus’? Otveču vam, kak pered bogom: [Sie werden fragen: hoffte ich fest darauf, dass ich gerettet werde? Ich werde antworten wie vor Gott:]“ (21) oder „No vy zadadite opjat’ vopros: začem že ee ne spas ot zlodejstva? [Aber Sie werden wieder die Frage stellen: weshalb ich sie denn nicht vor dem Verbrechen bewahrte?]“ (22). All diese Verfahren tragen das ihre dazu bei, den Erzählvorgang bewusst zu machen. Gleiches gilt, wenn auch weniger explizit, für ein letztes expressives Merkmal in Krotkaja, nämlich die Vielzahl an Wiederholungen, die die Erregtheit des Erzählers kundgeben und auf diese Weise auf eine spontane Sprechsituation hindeuten, wie z. B.: „očen’ sladostno ėto, očen’ sladostno. [das ist sehr süß, sehr süß.]“ (13); „a ja usilivaju molčanie, i ja usilivaju molčanie. [und ich verstärke das Schweigen und ich verstärke das Schweigen.]“ (15); „ėto – ėto aksioma, daže i teper’, daže i teper’ dlja menja aksioma! [das – das ist ein Axiom, sogar jetzt noch, sogar jetzt noch ist es für mich ein Axiom!]“ (15). Aus den angeführten Beispielen dürfte hinlänglich deutlich geworden sein, dass in Dostoevskijs Text die allokutionalen, die expressiven und die Mündlichkeit indizierenden stilistischen Merkmale eine mindestens ebenso prominente Rolle spielen wie in Šinel’ und in Bednaja Liza. Gemeinsam ist diesen drei Texten ferner, dass sich ihre Erzähler nicht durch eine spezifische Lexik auszeichnen, die im Sinne eines Dia-

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lekts, Soziolekts oder Jargons zu deren indirekter Charakterisierung beiträgt. Da bei Titunik die Lexik aber nicht dezidiert als notwendiges skaz-Merkmal genannt wird, müssten sie nach seiner Theorie allesamt als skaz-Texte bezeichnet werden, doch nicht nur sie, sondern alle Erzähltexte, die zusätzlich zum eigentlichen Geschehen auch den Akt der Vermittlung dieses Geschehens direkt oder indirekt mitvertexten.60 Und mehr noch: Verbindet man die Merkmalliste von Titunik mit der Erzählertypologie Doležels – und nur so wird sie, wie oben dargelegt, operationalisierbar –, müssten konsequenterweise alle rhetorischen Ich- und Er-Erzähler sowie alle persönlichen Ich-Erzähler zu skaz-Erzählern erklärt werden. Ein solches Ansinnen wäre ganz offensichtlich Unfug, da der skaz-Begriff auf diese Weise jegliche Trennschärfe verlöre. Wie nicht anders zu erwarten, erweisen sich die expressiven, allokutionalen und auf Mündlichkeit verweisenden stilistischen Merkmale für sich genommen somit als nicht geeignet, das Phänomen skaz zu begründen, wodurch Tituniks Ansatz den letzten Rest an Plausibilität einbüßt. Bevor nun aber weiter der Frage nachgegangen werden kann, worin denn eigentlich die Spezifik des skaz bestehen könnte, gilt es zunächst zu klären, welche Funktion den gerade behandelten Merkmalen für eine allgemeine Typologie des Erzählers zukommt. Zuzustimmen ist Titunik immerhin darin, dass durch sie das Redeereignis von den dargestellten Ereignissen abgehoben wird und auf diese Weise der Erzählvorgang verstärkt in den Blick rückt. Es kommt somit, in der Terminologie Werner Wolfs (1993, 102), zur Erzeugung einer Sekundärillusion, d. h. dass sich der Erzähler vor die von ihm erzählte Geschichte schiebt, so dass das Augenmerk nicht mehr allein den als vergangen dargestellten Ereignissen gilt, sondern auch dem als gegenwärtig erscheinenden Akt des Erzählens. Zum einen wird durch die allokutionalen Merkmale der beim Erzählen implizit immer gegebene Adressatenbezug explizit gemacht, indem der Sprecher sein Gegenüber direkt oder indirekt apostrophiert. Dabei ist dieses angesprochene Gegenüber im Falle des rhetorischen ErErzählers, da dieser selbst nicht als Figur auftritt, immer nur implizit mitgegeben, wie etwa in Šinel’. Beim rhetorischen Ich-Erzähler kann dieses Gegenüber ebenfalls im Impliziten verbleiben, wie in Bednaja Liza, oder aber, im Falle eines eingeführten rhetorischen Ich-Erzählers, eine konkrete Figur des Textes sein. Beispiele hierfür sind alle Rahmenerzählungen, in denen die jeweiligen Erzählerfiguren nicht von sich selbst berichten, wie etwa im Decamerone. Beim persönlichen Ich-Erzähler er-

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Genau aus diesem Grund hat bereits Alex M. Shane (1968, 163) Tituniks skaz-Definition zurückgewiesen.

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geben sich hingegen drei Möglichkeiten: 1. Es bleibt undeutlich, ob das angesprochene Gegenüber tatsächlich anwesend ist, wie in Dostoevskijs Krotkaja. 2. Das angesprochene Gegenüber bleibt implizit, wird aber vom Erzähler ganz offenbar als anwesend vorausgesetzt, wie beispielsweise zu Beginn der Erzählung Banja (Das Badehaus) von Michail Zoščenko (1994, 117): „Govorjat, graždane, v Amerike bani očen’ otličnye. [Bürger, man sagt, in Amerika seien die Badehäuser sehr vortrefflich.]“ 3. Bei einem eingeführten persönlichen Ich-Erzähler ist das angesprochene Gegenüber ebenso eine Figur des Textes wie der Erzähler selbst. Als Beispiel hierfür mag Nikolaj Leskovs Erzählung Tupejnyj chudožnik (Der Toupetkünstler) dienen. Zum anderen verweisen die expressiven Merkmale im Sinne der emotiven Sprachfunktion auf den Erzähler zurück und signalisieren somit – ebenso wie die allokutionalen Merkmale – dessen Präsenz. Wie die Textbeispiele gezeigt haben, lassen sie sich linguistisch formal beschreiben als Interjektion, Exklamation, Digression, rhetorische Frage etc. Die Textbeispiele haben aber auch gezeigt, dass die meisten dieser Verfahren gleichzeitig mit einer bestimmten semantischen Funktion aufgeladen sind, indem sie dazu genutzt werden, das dargestellte Geschehen oder den Erzählvorgang selbst zu kommentieren und zu bewerten. Grundsätzlich lässt sich die Funktion der expressiven Merkmale also dahingehend zusammenfassen, dass sie entweder diese Kommentare und Bewertungen emotional einfärben, wie im Falle der Interjektionen, der Exklamationen und der rhetorischen Fragen, oder das Redeereignis ganz allgemein ins Bewusstsein heben, wie im Falle der Digressionen, der drei Punkte als Anzeichen für eine Sprechpause oder als Hinweis auf die Wort- und Satzbetonung durch Kursivierung bzw. entsprechender Zeichensetzung. Das durch die allokutionalen und expressiven Merkmale verursachte sprachliche Hervortreten des Erzählers impliziert nun aber immer auch die Frage nach der Modalität des Erzählvorgangs. Wird das Medium nicht explizit thematisiert, so legt doch die überwiegende Zahl der expressiven Verfahren wie rhetorische Fragen, Ausrufe, Selbstanrede, Digression etc. bereits eine mündliche Form der Vermittlung nahe. Dieser Effekt kann noch durch einzelne der von Titunik als solche bezeichneten dialektalen Merkmale, also etwa die Verwendung von Diminutiven, Partikeln, Ellipsen usw., verstärkt werden, die ihrerseits, wie aus den oben angeführten Beispieltexten hervorgeht, in unterschiedlicher Dichte und Intensität auftreten können.61 Gerade aber im Falle des persönli-

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Die allokutionalen, expressiven und nicht-individualisierenden stilistischen Merkmale erwecken mithin den Eindruck von razgovornost’ wie dieser Effekt gemeinhin genannt wird.

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chen Ich-Erzählers kann die Form der Vermittlung dezidiert als schriftlich ausgewiesen sein und dies wiederum ohne konkretes Gegenüber wie in Turgenevs Zapiski ochotnika oder mit einem konkreten, aber temporär abwesenden Gegenüber, d. h. einer Figur, wie etwa im Briefroman. Aus genau diesem Grunde ist Titunik dann auch dazu gezwungen, Texte im Medium der Schrift als skaz-Texte anzusehen, da etwa in Tagebüchern, Aufzeichnungen, Memoiren oder Briefromanen etc. das Redeereignis nicht selten auch durch expressive und gegebenenfalls auch durch allokutionale Merkmale hervorgehoben ist.62 Wo aber ist dann ihr Platz in einer allgemeinen Typologie des Erzählers? Einen Hinweis darauf liefert die von Stanzel (1985, 190ff.) vorgenommene Unterscheidung von Erzähler- und Reflektormodus. Diese Dichotomie differenziert die beiden Fälle, in denen der Erzähler als vermittelnde Instanz entweder direkt greifbar ist (Erzählermodus) oder hinter die Figuren der von ihm entworfenen Welt gleichsam zurücktritt (Reflektormodus). Der zweite Fall ist am radikalsten realisiert in der Darstellungsform der Erlebten Rede, in der die Kommentare und Bewertungen sowie auch alle sprachlichen Markierungen der jeweiligen Reflektorfigur zugeschrieben werden können. Im Rahmen von Stanzels Typologie können deshalb alle allokutionalen und expressiven Merkmale in der Erzählerrede im Rahmen der Er-Erzählsituation lediglich beim auktorialen Erzähler auftreten, während sie beim personalen Erzähler fehlen oder aber eben eindeutig einer Figur zuzuweisen sind.63 Vergleichbares gilt konsequenterweise auch für die Ich-Erzählsituation, allerdings mit dem Unterschied, dass hier als dominante Darstellungsform des Reflektormodus der innere Monolog fungiert.64 Bezeichnenderweise kommt Stanzel (1982, 183, Endnote 5) in diesem Zusammenhang unter direkter Bezugnahme auf Ėjchenbaum auch auf den skaz zu sprechen, der „einen zentralen Aspekt des Erzählermodus“ bezeichne. Nun konnotieren die allokutionalen und expressiven Merkmale – wie

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Vgl. dazu beispielsweise Freunek (2007, 156). Zum Phänomen der Mündlichkeit im Russischen ganz allgemein vgl. Krasil’nikova (1984), zur stilisierten Mündlichkeit in der russischen Epik im Besonderen vgl. Koževnikova (1970). Die Dichotomie Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit erweist sich somit als allzu schematisch. Einen Lösungsvorschlag, der der Komplexität des Problems Rechnung trägt, macht Sigrid Freunek (2007), die in Anlehnung an Peter Koch und Wulf Oesterreicher zwischen Nähe- und Distanzsprache mit ihren jeweils spezifischen sprachlichen Merkmalen unterscheidet. Diese Merkmale können dann ihrerseits unterschiedliche Funktionen im Sinne von Evokationen und Konnotationen übernehmen. Diese Dichotomie von Erzähler- und Reflektormodus ist freilich nicht absolut zu verstehen, sondern im Sinne einer Maximalopposition, zwischen deren Polen es eine breite Skala von Übergängen gibt. Vgl. dazu Stanzel (1985, 198f.). Genau aus diesem Grund hat Dorrit Cohn (1981, 179) Stanzels Typenkreis dann auch von drei auf vier Grundformen des Erzählens erweitert, die genau diesen Umstand abbilden.

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oben dargelegt – in der Tat immer dann razgovornost’, wenn die Form der Vermittlung nicht als dezidiert schriftlich ausgewiesen ist. Würde man dies aber bereits als skaz werten, so wäre dieser Begriff letztlich nicht nur ein Synonym für den explizit gemachten Erzählermodus, sondern hätte eben auch, wie anhand von Tituniks Position nachvollziehbar ist, eine sinnentleerende Ausweitung dieses Begriffs zur Folge. Genau diesem Irrtum war ja schon Ėjchenbaum selbst zunächst aufgesessen, wenn er in Illjuzija skaza die Leseranreden, etwa in Turgenevs Zapiski ochotnika, bereits als skaz-Merkmale auffasste, eine Haltung, die angesichts der Häufigkeit dieser Merkmale in der Erzählliteratur nicht haltbar ist und die Ėjchenbaum in Leskov i sovremennaja proza dementsprechend auch korrigiert hat.65 Es zeigt sich somit, dass auch die Umschreibung des skaz als stilisierte Mündlichkeit im Schriftlichen keine zufriedenstellende Erklärung dieses Phänomens liefert. Daraus lässt sich nun aber folgern, dass sich die allokutionalen und expressiven Merkmale als durchaus funktional für eine Differenzierung von Erzähler- und Reflektormodus erweisen, nicht jedoch für eine Typologie des Erzählers, die innerhalb des Erzählermodus zwischen einzelnen Erzählertypen zu unterscheiden sucht. Es stellt sich mithin die Frage, welche Konsequenzen diese Überlegungen für die Erzählertypologie von Doležel haben. Dabei zeigt sich, dass sich die allokutionalen und die expressiven Merkmale potenziell bei vier der sechs Typen finden lassen, nämlich bei der persönlichen und der rhetorischen Ich-Form sowie bei der rhetorischen und der subjektiven Er-Form. Da letztere nun aber auf der Erlebten bzw. auf der von Doležel so bezeichneten Gemischten Rede basiert und damit der personalen Erzählsituation bei Stanzel entspricht, droht hier der Unterschied zwischen Erzähler- und Reflektormodus verwischt zu werden. Zwar zeigt die Sigle a an, dass diese Merkmale, ebenso wie bei der persönlichen Ich-Form, einer Figur zuzuschreiben sind, doch implizieren sie hier gerade nicht wie in der persönlichen Ich-Form und auch in allen anderen Fällen eine Dominanz des Erzählermodus. Die Ursache für dieses Problem ist darin zu sehen, dass in Doležels Matrix zwei verschiedene Typologien miteinander vermengt werden: zum einen die des Modus und zum anderen eben eine Binnendifferenzierung des Erzählers im Rahmen des Erzählermodus. So beschreibt die Unterscheidung von subjektiver und rhetorischer ErForm den Wechsel vom Reflektor- zum Erzählermodus, während die Unterscheidung von rhetorischer und objektiver Er-Form eine Binnendifferenzierung innerhalb des Erzählermodus darstellt, nämlich zwi-

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Dennoch ist ein solch weiter skaz-Begriff auch in der jüngeren Forschung noch anzutreffen, so etwa bei Freunek (2007, 161f.).

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schen einem sprachlich markierten und einem unmarkierten Er-Erzähler, die sich beide der Darstellungsform der Erlebten bzw. der Gemischten Rede nicht bedienen. Beide Unterscheidungen sind grundsätzlich sinnvoll, doch sollten sie um der Plausibilität der Argumentation willen sauber voneinander getrennt werden. Mit anderen Worten: Sollen im Rahmen einer Typologie der Reflektor- und der Erzählermodus abgebildet werden, so ist in erster Linie nach der jeweils dominanten Darstellungsform zu fragen, konkret nach der Erlebten Rede und dem inneren Monolog einerseits und nach Signalen für die Präsenz des Erzählers wie etwa der allokutionalen und der expressiven Merkmale andererseits. Ist hingegen eine Binnendifferenzierung von Erzählertypen im Erzählermodus das Erkenntnisziel, müssen andere Merkmale gefunden werden, wobei hier, wie sich noch zeigen wird, der Markierung der Erzählerrede auf der semantischen und auf der stilistischen Ebene im engeren Sinne eine besondere Funktion zukommt. Da es mit Blick auf den skaz um eben eine solche Binnendifferenzierung gehen muss, kann aus einer unten noch zu erstellenden Erzählertypologie das Kriterium des Modus und damit auch die subjektive Er-Form Doležels bereits an dieser Stelle ausgeschlossen werden. Um zu überprüfen, ob die anderen Typen Doležels zur Lösung dieses Problems beitragen können, gilt es zunächst jedoch, diese auf ihre Plausibilität hin zu untersuchen. Zweifel kommen dabei bereits bei der Ich-Form des Beobachters auf, bei der es sich nach Doležel (1973, 95) lediglich um eine Variante der objektiven Er-Form handelt und bei der die Unterdrückung der Aktions- und Interpretationsfunktion zu einer Entsubjektivierung des Ich-Erzählers führe, die, so Doležel (1993, 47), zwangsläufig künstlich anmuten müsse.66 Doležel selbst hält sie deshalb für einen extremen Ausnahmefall, und es ist sicherlich kein Zufall, dass er weder in seinen Narrative Modes noch in deren tschechischer Version ein Beispiel für diesen Erzählertyp anführt, während die fünf anderen jeweils an einem konkreten Text ausführlich erläutert werden. Es scheint nun allerdings wenig plausibel, eine solche Ausnahme als einen Grundtypus des Erzählers zu postulieren. Doležel (1993, 54, Anm. 5) gibt schließlich sogar zu, dass er dies lediglich aus logischen Erwägungen heraus tut, weil sich diese Form in Analogie zur Verbindung von objektivem Erzählen und Er-Form zwangsläufig ergibt, so dass in einem nächsten Schritt konsequenterweise die Plausibilität der objektiven ErForm zu hinterfragen ist. Doležel selbst weckt hier bereits erste Beden-

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Bezeichnenderweise hat Doležel (1993, 47) in der tschechischen Version seiner Monographie den Begriff „observer’s Ich-form“ aufgegeben und durch „objektivní Ich-forma (objektive Ich-Form)“ ersetzt.

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ken, wenn er konzedieren muss, dass in seinem Beispieltext für diesen Typ – es handelt sich dabei um Karel Václav Rais’ Roman Kalibův zločin (Kalibas Verbrechen) – vereinzelt qualifizierende Adjektive auftreten und im letzten Kapitel vermehrt die Verwendung der Erlebten Rede festzustellen ist (Doležel 1973, 80 und 89 bzw. 1993, 88 und 93). Ist der letztere Fall auch unproblematisch, da er nach der oben vorgenommenen Unterscheidung der Kategorie Modus zuzurechnen ist, und deshalb an dieser Stelle nicht zu interessieren braucht, stellen nach Doležel die qualifizierenden Adjektive eine Form des Kommentars dar, der beim objektiven Erzählen eigentlich ausgeschlossen ist. Unter direkter Bezugnahme auf diese von Doležel selbst gemachte Einschränkung hält Jiří Holý (2000, 579f.) den objektiven Er-Erzähler deshalb insgesamt für eine Randerscheinung, die nur in seltenen Fällen tatsächlich realisiert ist. Auch Wolf Schmid (2008a, 185) sieht in Doležels objektiver dritter Person einen konstruierten Idealtypus, der allenfalls in bestimmten Epochen realisiert wurde, und deshalb keinen Anlass, einen „historischen Grenzfall zur Grundform zu erheben.“ Stanzel (2002, 38f.) schließlich lehnt die, wie er sie nennt, neutrale Erzählweise als eigenständigen Erzählertyp rundweg ab, weil er „nur wenige Textbeispiele finden konnte, die diesen Typus dominant realisierten.“ In der Tat gibt es wohl kaum einen Erzähltext im Erzählermodus, in dem die vermittelnde Instanz nicht auch durch Kommentare und Werturteile hervortritt. Selbst in der Epoche des Realismus, in der der Fokus in der Regel auf den dargestellten Sachverhalten liegt, sind derartige Texte nur selten auszumachen. Als Beleg hierfür seien an dieser Stelle die Eingänge zweier Romane zitiert: V Gorochovoj ulice, v odnom iz bol’šich domov, narodonaselenija kotorogo stalo by na celyj uezdnyj gorod, ležal utrom v posteli, na svoej kvartire, Il’ja Il’ič Oblomov. Ėto byl čelovek let tridcati dvuch-trech ot rodu, srednego rosta, prijatnoj naružnosti, s temno-serymi glazami, no s otsutstviem vsjakoj opredelennoj idei, vsjakoj sosredotočennosti v čertach lica. (Gončarov 1998, 5) In der Gorochovaja-Straße, in einem der großen Häuser, deren Bevölkerung für eine ganze Kreisstadt ausgereicht hätte, lag in seiner Wohnung Il’ja Il’ič Oblomov am Morgen in seinem Bett. Das war ein etwa zweiunddreißig- oder dreiunddreißigjähriger Mann von mittlerem Wuchs, angenehmem Äußeren, mit dunkelgrauen Augen, dem es aber an jedem bestimmten Gedanken, an jeglicher Konzentration in den Gesichtszügen mangelte.

Auffällig in dieser Textpassage aus Ivan A. Gončarovs Oblomov (1859) ist im ersten Satz der hyperbolische Vergleich („für eine ganze Kreisstadt“)

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und im zweiten das qualifizierende Adjektiv („angenehm“).67 Vom ersten Satz an ist der Erzähler also durch seinen Vergleich bzw. seinen Kommentar für den Rezipienten greifbar. Gleiches gilt auch für den berühmten ersten Satz in Lev N. Tolstojs Anna Karenina (1878), durch den der Rezipient anhand einer Erzählerreflexion auf das Thema des Textes eingestimmt wird: Vse sčastlivye sem’i pochoži drug na druga, každaja nesčastlivaja sem’ja nesčastliva po-svoemu. (Tolstoj 1934, 8) Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre eigene Weise.

Es erweist sich mithin, dass Kommentare und Bewertungen in der Regel einen nicht unerheblichen Bestandteil der Rede des Erzählers bilden.68 Im Rahmen einer Erzählertypologie kann es deshalb nicht darum gehen, ob ein Erzähler kommentiert und wertet, ob also eine Interpretations-

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Keine Rolle spielt in diesem Zusammenhang dagegen die unbestimmte Altersangabe, da es sich hierbei um eine Frage der Perspektive – verstanden als Standpunkt der vermittelnden Instanz in Relation zur dargestellten Welt – handelt, die für eine allgemeine Typologie des Erzählers ebenso irrelevant ist wie die Frage nach der medialen Vermittlung, worauf bereits Seymour Chatman (1989, 153) hingewiesen hat, der für die Analyse eines Erzähltextes die konsequente Trennung von point of view und narrative voice einfordert. So muss etwa ein Er-Erzähler nicht zwangsläufig auch ein allwissender Erzähler sein, der sowohl über eine Außen- als auch über eine Innenperspektive verfügt. Vielmehr kann sich ein solcher Erzähler in seiner Rede ganz auf die Darstellung des Äußeren der Figuren und ihrer Umwelt beschränken, während die Innenwelt der Figuren lediglich durch deren direkte Rede vermittelt wird. Ebenso gut kann er aber auch durch unterschiedliche Techniken eine oder mehrere Figuren zum Perspektivzentrum machen. Vergleichbares gilt auch für den persönlichen Ich-Erzähler. In Evgenij Zamjatins berühmter Antiutopie My (Wir) verfügt der Tagebuch schreibende Ich-Erzähler D-503 über eine äußerst eingeschränkte Perspektive, die sich bei diesem Typus aber umso mehr erweitert, je größer der Abstand zwischen erlebendem und erzählendem Ich ist. Die Einschränkung der Perspektive bei einem persönlichen Ich-Erzähler, der seine Eindrücke nahezu unmittelbar wiedergibt, wird in Robert Merles Roman Madrapour (1976, 7) explizit thematisiert: „J’écris cette histoire en même temps que je la vis. De jour en jour. Ou plutôt – ne soyons donc pas si ambitieux – d’heure en heure. [...] Tandis que j’écris ceci, je suis bien incapable de prévoir la fin de mon aventure. [Ich schreibe diese Geschichte zur gleichen Zeit, wie ich sie erlebe. Von Tag zu Tag. Oder eher – um nicht so ambitioniert zu klingen – von Stunde zu Stunde. (...) Solange ich dies schreibe, bin ich noch außerstande, das Ende meines Abenteuers vorherzusehen.]“ Sie ist, so wie im vorliegenden Fall, ein probates Mittel, um eine Finalspannung zu erzeugen. Die Frage der Perspektive ist demnach nicht im Rahmen einer allgemeinen Erzählertypologie zu behandeln, sondern als eigenständiges Problem der Narrativik. Dennoch sind beide Phänomene natürlich in gewisser Weise miteinander verknüpft, da der Typ des Ich-Erzählers zumindest im Prinzip eine engere Perspektive impliziert als der des Er-Erzählers. Die Relevanz der Evaluation der dargestellten Ereignisse für die kommunikative Tätigkeit des Erzählens als solcher zeigt sich auch im nicht-fiktionalen Bereich. So hat Karl N. Renner (2012, 95–102) demonstriert, dass im Journalismus die „Bewertungsfunktion“ als zentrales Differenzkriterium zur Abgrenzung der Textsorten Erzählung und Bericht fungiert.

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funktion im Sinne Doležels vorliegt, vielmehr muss es um das „Wie“, d. h. die Qualität derartiger Kommentare und Wertungen gehen. Dieser Umstand wird von Doležels Konzept im Übrigen selbst bereits nahe gelegt, denn bei seiner Verschränkung der funktionalen und der linguistischen Kriterien kommt es zu einer unzulässigen Gleichsetzung von Interpretationsfunktion und subjektiver Semantik. Nun ist diese subjektive Semantik tatsächlich als merkmalhaft zu betrachten, doch eben nicht vor dem Hintergrund fehlender Kommentare und Werturteile, sondern vor dem Hintergrund gleichsam intersubjektiv akzeptabler Wertungen und Kommentare. Nicht die Interpretationsfunktion als solche fungiert demnach als Unterscheidungsmerkmal, sondern die Art der jeweiligen Kommentare und Werturteile. Aus genau diesem Grunde sind die beiden „objektiven Formen“ in der Typologie Doležels auch nicht haltbar. Wenn es also der Interpretationsfunktion für eine Typologie des Erzählers nicht bedarf, steht Doležels funktionales Modell insgesamt zur Debatte. Denn da dem Erzählen als solchem die Konstruktions- und die Kontrollfunktion ebenso wesensmäßig zu eigen ist wie das Werten und Urteilen, bleibt als letzter Punkt die Aktionsfunktion. Diese scheint beim Ich-Erzähler in der Tat eine Rolle zu spielen, da er selbst Teil der dargestellten Welt ist.69 Doležel benötigt dieses Kriterium aber vor allem auch deshalb, weil im Rahmen seines Modells die linguistischen Merkmale als Kriterien für eine Unterscheidung zwischen der rhetorischen und der persönlichen Ich-Form nicht ausreichen. Dahinter verbirgt sich jedoch ein anderes Problem, welches bereits in den Konzeptionen von Bachtin und Titunik zu beobachten war, nämlich die Vorstellung, dass ein persönlicher Ich-Erzähler sprachlich immer markiert sein muss, was zweifellos nicht der Fall ist. Vielmehr gilt es auch zwischen sprachlich markierten und unmarkierten persönlichen Ich-Erzählern zu unterscheiden, so dass es im Hinblick auf die Ich-Form zu vier verschiedenen Typen kommen muss, ein Umstand, der sich im Übrigen bereits logisch aus der Einführung zweier Kriterien, also der linguistischen Merkmale einerseits und der Aktionsfunktion andererseits, zwangsläufig ergibt (– / –; – / +; + / – ; + / +). Nun ist es aber gerade das Kriterium der Aktionsfunktion, welches Doležel erhebliche Schwierigkeiten bereitet, da dessen geforderte Unterdrückung, wie oben bereits dargelegt, zu der von ihm selbst konstatierten Entsubjektivierung des Subjekts bei der Ich-Form des Beobachters führt. Ursache für dieses Problem ist die Ausschließlichkeit, die das Kriterium der Aktionsfunktion

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Auf die Aktionsfunktion in der subjektiven Er-Form braucht hier nicht mehr eingegangen zu werden, da diese anhand der Kategorie des Modus bereits aus einer allgemeinen Typologie des Erzählers ausgeschlossen wurde.

Mögliche Bestimmungskriterien für skaz

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impliziert. Damit wird es eben jenem Phänomen nicht gerecht, welches es zu beschreiben vorgibt, nämlich der Tatsache, dass der Ich-Erzähler in unterschiedlichem Maße in das von ihm geschilderte Geschehen eingebunden sein kann, ein Umstand, den Gérard Genette (1998, 175f.) mit dem Begriff der Autodiegese konzeptualisiert hat. Autodiegese liegt demnach immer dann vor, wenn der Erzähler selbst im Mittelpunkt seiner Geschichte steht. Liegt der Fokus hingegen auf anderen Figuren, handelt es sich um einen homodiegetischen Erzähler. Demnach wäre der Erzähler in Krotkaja als autodiegetisch zu bezeichnen, derjenige in Bednaja Liza hingegen lediglich als homodiegetisch. Beide Typen können ihrerseits jeweils durch stilistische und semantische Merkmale markiert und die Erzähler dadurch auch indirekt charakterisiert sein oder eben nicht. Durch die Einführung des Kriteriums der Autodiegese wird Doležels Funktionsmodell also endgültig hinfällig. Nach diesem Exkurs zu einer allgemeinen Erzählertypologie auf der Basis des Modells von Doležel, der weiter unten noch einmal aufzugreifen sein wird, kann nun das eigentliche Thema, der skaz, wieder in den Blick genommen werden. Es hat sich gezeigt, dass die von Titunik vorgeschlagenen Kriterien zwar durchaus für eine derartige Typologie fruchtbar gemacht werden können, nämlich bei der Unterscheidung von Erzähler und Reflektor, nicht jedoch für die Bestimmung des skaz. Hierfür wären demnach andere Merkmale notwendig, die es im Folgenden zu diskutieren gilt.

2.6 Mögliche Bestimmungskriterien für skaz 2.6.1 Stilistische Merkmale Will man den skaz ausschließlich auf der stilistischen Ebene bestimmen, so kommen – noch einmal sei es gesagt – die expressiven und allokutionalen Merkmale nicht in Betracht. Aber auch die von Titunik so bezeichneten dialektalen Merkmale scheiden weitestgehend aus, da sie – etwa in Form von Diminutiven, Partikeln, Ellipsen oder Wiederholungen – bei Texten, die nicht dezidiert als schriftlich ausgewiesen sind (Briefe, Tagebücher, Memoiren etc.) zwar den Eindruck der Mündlichkeit im Sinne der razgovornost’ verstärken, mithin jene Wirkung, die dem skaz so häufig zugeschrieben worden ist, damit aber lediglich dazu beitragen, den Erzählermodus explizit zu machen. Wie die kurze Beschreibung der Erzähler in Šinel’, Bednaja Liza und Krotkaja gezeigt hat, treten sie so häufig auf – nach der Typologie Doležels bei allen rhetorischen Er-, rhetorischen Ich- und persönlichen Ich-Erzählern – dass ih-

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nen keine distinktive Kraft mehr zukommt. Für eine mögliche Definition von skaz bleibt von den dialektalen Merkmalen damit lediglich jener lexikalische Bestand, der einen Erzähler individuell charakterisiert, also etwa Dialektismen, Soziolektismen, Kolloquialismen oder eine idiolektale Lexik (Volksetymologien etc.). In seinem Aufsatz Leskov i sovremennaja proza hat Boris Ėjchenbaum (1994c, 231) dieses Kriterium bereits zu einem notwendigen erhoben, wenn er ausführt, dass nur dann von skaz gesprochen werden könne, wenn der Erzähler die „Beherrschung dieser oder jener Phraseologie, dieses oder jenes Wortschatzes“ demonstriert [„kak obladadatel’ toj ili inoj frazeologii, togo ili inogo slovarja“ (Ėjchenbaum 1987, 419)], er also eine Lexik verwendet, die auf einen spezifischen regionalen, sozialen oder beruflichen Hintergrund verweist. Eine vergleichbare Position vertritt auch Lubomír Doležel: právě svým způsobem řeči, svým stylem se vypravěč jednoznačně charakterizuje, hlásí se k určité třidě, sociální skupině nebo profesi [...]. Prvotně je jistě osnovou, z níž vyrůstají osobité styly jednotlivých skazových vypravěčů, jazyk mluvený ve svých nejrozmanitějších formách a útvarech místních i sociálních. (Doležel 1961, 17) gerade durch seine Art der Rede, seinen Stil charakterisiert sich der Erzähler eindeutig, bekennt sich zu einer bestimmten Klasse, sozialen Schicht oder Profession [...]. Primär ist sicherlich die Grundlage, aus der die persönlichen Stile der einzelnen skaz-Erzähler erwachsen, die gesprochene Sprache in ihren mannigfaltigsten Formen und lokalen sowie sozialen Formationen.

In der Analysepraxis jedenfalls scheint sich dieser Ansatz zu bewähren, da in der Regel bei der Beschreibung von Texten, die als skaz qualifiziert werden, die Lexik in den Vordergrund gerückt wird.70 In der Tat trifft dieses Kriterium auf die Ukrainismen Foma Grigor’evičs in Gogol’s Večera na chutore bliz Dikan’ki71 ebenso zu wie auf die Verballhornungen, Volksetymologien und Dialektismen in Leskovs Levša (Der Linkshänder)72 oder die Sowjetismen bei einer Vielzahl der Erzähler in den Kurzgeschichten Michail Zoščenkos.73 In den genannten Fällen liegt der Stilwert im historischen Kontext entweder unterhalb des Standards oder ist im Falle Zoščenkos angesichts der Thematik als inadäquat zu bewerten, so dass die lexikalische Färbung hier jeweils auf die Halbbildung der Erzähler verweist. Allerdings ist in der Forschung immer wieder bestritten worden, dass eine derartige sprachlich indizierte Halbbildung ein notwendiges Kriterium für den skaz darstellt:

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So vertritt beispielsweise auch McLean (1954, 313) die folgende Ansicht: „But the real heart of the Leskovian skaz, the major clue to its successful oralization and individualization of language, is its vocabulary.“ Vgl. dazu Thresher (1992, 76). Vgl. dazu Hodel (1994, 73ff.). Vgl. dazu Grau (1988, 131–135).

Mögliche Bestimmungskriterien für skaz

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The narration reflects the linguistic norms of the narrator’s social, educational, professional, and/or regional background. Although such language often is characterized by the lexical, syntactical, and intonational patterns generally associated with the speech of the lower classes, it may include the speech of any 74 group. (Thresher 1992, 33)

Besonders deutlich wird dieser Umstand im Falle eines Berufsjargons, den Doležel (1961, 17ff.) mit Verweis auf Karel Čapeks Povídky z druhé kapsy (Erzählungen aus der anderen Tasche) als ein Beispiel für skaz anführt. Ginge man also davon aus, dass die lexikalische Färbung, durch die ein Erzähler sprachlich individualisiert wird, ein notwendiges und hinreichendes Kriterium für skaz ist, dann wäre der Begriff nichts weiter als eine Sammelbezeichnung für jede derartige Stilisierung auf der Ebene der Lexik. Angesichts seiner heterogenen Verwendungsweise und der Vielzahl seiner einander widersprechenden Definitionen sollte man dann aber lieber auf ihn verzichten, da er in diesem Fall eher dazu geeignet ist, ein klar zu benennendes Phänomen – die indirekte Charakterisierung des Erzählers durch die stilistische Färbung seiner Rede nämlich – zu verschleiern. Verkompliziert wird die Sachlage noch dadurch, dass er ja nicht nur auf einen sprachlich individualisierten Erzähler angewandt wurde, sondern auch auf Stilmischungen, die gerade keine Rückschlüsse auf ein erzählendes Individuum erlauben: V samom dele, skaz psichologičeski ograničen liš’ togda, kogda on prikreplen k obrazu lica ili ego nominativnomu zamestitelju, t. e. k slovesnomu jarlyku. Togda sozdaetsja i nekotoraja illjuzija bytovoj obstanovki, daže esli predmetnye aksessuary ee ne ukazany. Amplituda leksičeskich kolebanij sužaetsja. Stilističeskoe dviženie zamknuto v uzkoj sfere jazykovogo soznanija, zakrepoščennogo uslovijami predstavljaemogo social’nogo byta. Meždu tem skaz, iduščij ot avtorskogo „ja“ svoboden. Pisatel’skoe „ja“ – ne imja, a mestoimenie. Sledovatel’no, pod nim možno skryt’ čto ugodno. Ono v sostojanii pokryt’ formy reči, skombinirovannye iz konstrukcij raznych knižnych žanrov i skazovo-dialektičeskich ėlementov. [...] V literaturnom maskarade pisatel’ možet svobodno, na protjaženii odnogo chudožestvennogo proizvedenija, menjat’ stilističeskie maski. (Vinogradov 1980, 53) In der Tat ist der skaz psychologisch nur dann begrenzt, wenn er an die Gestalt einer Person oder an ihren nominativen Vertreter, d. h. an ein sprachliches Etikett, gebunden ist. Dann entsteht auch eine gewisse Illusion der Lebenssituation, sogar wenn ihre gegenständlichen Accessoires nicht angegeben sind. Die Amplitude der lexikalischen Schwankungen verkleinert sich. Die stilistische Bewegung ist eingeschlossen in dem engen Bereich eines Sprachbewußtseins, das von den Bedingungen des darzustellenden sozialen Alltags beherrscht wird. Der skaz indessen, der vom Autor-‚Ich‘ geführt wird ist frei. Das ‚Ich‘ des Schriftstellers ist kein Name, sondern ein Pronomen. Folglich kann man darunter verber-

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Ähnlich auch Cox (1978, 17).

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Zur Theorie des skaz

gen, was man will. Es ist in der Lage, die Formen der Rede zu verdecken, die aus den Konstruktionen verschiedener Buchgenres und Dialektelementen des skaz kombiniert sind. [...] In der literarischen Maskerade kann der Schriftsteller innerhalb eines künstlerischen Werks frei die stilistischen Masken wechseln. (Vinogradov 1994, 203)

Eben diese Art der Stilisierung hatte Ėjchenbaum (1994c, 237) als ornamentalen skaz bezeichnet. Als problematisch erweist sich also, dass der skaz-Begriff, so er denn stilistisch definiert wird, einmal auf ein individualisiertes Erzählerbewusstsein angewendet wird, ein anderes Mal aber auf jene Fälle, in denen ein solches Bewusstsein gerade nicht auszumachen ist. Es zeigt sich mithin, dass der skaz-Begriff bereits unter stilistischem Aspekt derart entgrenzt ist, dass er kein spezifisches Phänomen mehr zu bezeichnen vermag. Bei der konkreten Textanalyse muss es deshalb immer darum gehen, die jeweilige Stilisierung, ob sie nun in sich konsistent ist oder auf einem Gemisch unterschiedlicher stilistischer Färbungen beruht, individuell zu bestimmen. Den Begriff skaz braucht es hierfür allerdings nicht. Welche Probleme seine Verwendung hingegen aufwirft, mag noch einmal der Umgang mit Gogol’s Erzählung Šinel’ illustrieren. Galt sie Ėjchenbaum in seinem Aufsatz Kak sdelana „Šinel’“ Gogolja aufgrund der scheinbaren Improvisation des Erzählers noch als ein Musterbeispiel für skaz, würde sie nach dem in seinem späteren Aufsatz Leskov i sovremennaja proza als notwendig erachteten Kriterium einer individualisierten Lexik nicht mehr unter diese Kategorie fallen. Und in der Tat halten Muščenko et al. (1978, 72, Fußnote 14) Šinel’ dementsprechend auch nicht für einen skaz-Text. Nach Moser (1994) wiederum reicht die morphologische und syntaktische Markierung der Erzählerrede durchaus hin, um Šinel’ als skaz zu apostrophieren. Für Wolf Schmid (2008a, 180f.) hingegen ist der Text wegen seiner diffusen Erzählinstanz, deren stilistische Markierung eben nicht auf ein individuelles Bewusstsein schließen lässt, ein Beispiel für den ornamentalen skaz. Klawa N. Thresher (1992, 311f.) schließlich identifiziert einzelne Passagen von Gogol’s Erzählung aufgrund der darin enthaltenen Kolloquialismen zwar durchaus als skaz, doch spricht ihrer Ansicht nach der Wechsel unterschiedlicher Stilebenen in Šinel’ dagegen, den gesamten Text als skaz zu qualifizieren. Die Verwirrung ist also komplett, und da noch nicht einmal im Hinblick auf einen einzelnen, wenn auch zugegebenermaßen äußerst komplexen Text ein gewisser Konsens innerhalb der scientific community erkennbar ist, drängt sich der Eindruck geradezu auf, dass der stilistisch aufgefasste skaz-Begriff, trotz seiner intensiven Diskussion, nichts von

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jener Vagheit eingebüßt hat, mit der ihn Ėjchenbaum vor gut 90 Jahren als literaturwissenschaftlichen Terminus eingeführt hat. Bevor nun auf weitere Kriterien eingegangen werden kann, die möglicherweise zu einer Präzisierung des Phänomens skaz beitragen könnten, ist unter dem Aspekt des Stils noch einmal auf die allgemeine Typologie des Erzählers zurückzukommen. Dabei offenbart sich, wie oben bereits vermerkt, ein Widerspruch in der Argumentation Doležels. Geht er in seiner Typologie davon aus, dass sich jeder persönliche und rhetorische Ich-Erzähler durch einen persönlichen Stil auszeichne, so bezeichnet er einen derartigen Stil in Čapeks Povídky z druhé kapsy, im konkreten Falle also verschiedene Berufsjargons, als skaz. Daraus wäre zu schließen, dass entweder jegliche individualisierende Stilisierung als skaz zu betrachten wäre, hier also jene Synonymität vorliegt, die bereits als nicht zielführend zurückgewiesen wurde, oder aber, dass der Erzähler bei beiden Typen durchaus nicht zwangsläufig durch einen persönlichen Stil markiert sein muss, so dass der Begriff skaz auch bei Doležel eine Differenzqualität impliziert. In der Tat gibt es keinen vernünftigen Grund davon auszugehen, dass die beiden Ich-Formen notwendigerweise stilistisch markiert sein müssen. Einen solchen Befund haben bereits die sprachlichen Analysen der Erzähler in Bednaja Liza und Krotkaja erbracht. Zudem ließen sich problemlos viele weitere Ich-Erzähler anführen, die sich überwiegend oder gar ausschließlich des Standards bedienen, so etwa diejenigen in den Texten von Ivan Turgenev, wie im Zusammenhang mit den Positionen Bachtins und Tituniks bereits deutlich geworden ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass jeder der Erzählertypen auf unterschiedliche Weise stilisiert sein kann, aber eben nicht sein muss. Gerade deshalb kann die stilistische Markierung als Differenzkriterium im Rahmen einer Erzählertypologie fungieren, wobei eine individualisierende Lexik im charakterologischen Sinne in der Regel eher bei einem Ich-Erzähler zu erwarten ist, Ornamentalistik hingegen bei einem Er-Erzähler. Doch sind selbst solche Regeln in der Literatur natürlich keine unbedingten, besteht der Reiz doch gerade darin, mit ihnen und den damit implizierten Konventionen immer wieder zu brechen. Bei der konkreten Textanalyse jedenfalls ist, unabhängig davon, ob es sich um einen Er- oder einen Ich-Erzähler handelt, immer anzugeben, ob eine Stilisierung vorliegt und wenn ja, in welche Richtung. Diese verschiedenen Richtungen können dann ihrerseits wiederum genutzt werden, um innerhalb eines Erzählertyps, je nach Art der Stilisierung, weitere Differenzierungen vorzunehmen (Dialekt, Soziolekt, Jargon, Ornamentalistik etc.).

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2.6.2 Thematische Kriterien und der skaz als Gattung Eine rein stilbezogene Definition von skaz erweist sich nicht nur insofern als problematisch, als sie den Begriff letztlich überflüssig macht, sondern auch deshalb, weil das so bezeichnete Phänomen auf diese Weise seine kulturelle Spezifik endgültig einbüßt und auf eine die Nationalliteratur überschreitende, die Erzählliteratur ganz allgemein betreffende Ebene gehoben wird. Dies scheint der Grund dafür zu sein, warum in der Forschung bisweilen Anstrengungen unternommen worden sind, den skaz und mit ihm offenkundig verwandte Erscheinungen durch thematische Kriterien an eine spezifisch nationale Tradition rückzubinden. In diesem Sinne untersucht Ulrich Steltner (1997) die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem russischen skaz und der polnischen gawęda. Ausgehend von Tituniks Merkmalkatalog konstatiert er, dass sich skaz und gawęda derselben Vertextungsstrategien bedienen, nämlich einer Markierung des Redeereignisses des Erzählers, wobei einerseits den semantischen Merkmalen, d. h. den idiosynkratischen Werturteilen, und andererseits den dialektalen Merkmalen, also der stilistischen Färbung durch die Abweichung vom Standard, eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Da sich also skaz und gawęda auf der Ebene der Verfahren offenbar gleichen, eröffnen sich zwei unterschiedliche Wege im Umgang mit dem Problem: 1. Man geht davon aus, dass es sich bei skaz und gawęda lediglich um verschiedene Bezeichnungen für dasselbe Phänomen in zwei slavistischen Teildisziplinen handelt, wobei dann „das Problem von SKAZ und GAWĘDA unversehens im Strom der [...] pointof-view-Diskussion [mündet] und droht, in ihm unterzugehen.“ (Steltner 1997, 135) 2. Man sucht nach einem Differenzkriterium zwischen skaz und gawęda, welches Steltner in der Thematik zu finden glaubt. Dabei rekurriert er auf die als skaz und gawęda bezeichneten Gattungen in der russischen bzw. der polnischen Literatur, die zunächst außerhalb des Bereichs der Belletristik lagen. Charakteristisch für sie sei ihre jeweilige situative Bindung: Während es sich beim skaz ursprünglich um eine mündliche Volkserzählung handelte, die das Alltagsgeschehen zum Gegenstand hatte, bezeichnete gawęda eine Form des ungezwungenen mündlichen Erzählens innerhalb des polnischen Kleinadels, das sich mit der eigenen Geschichte, insbesondere mit der Zeit der polnischen Teilungen beschäftigte. Diese situative und damit auch thematische Bindung finde sich nun auch in der künstlerischen Epik wieder. Als Beispiel für eine solchermaßen literarische gawęda führt Steltner Henryk Rzewuskis Erzählsammlung Pamiątki Pana Soplicy (Die Denkwürdigkei-

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ten des Herrn Soplica) und für den literarisierten skaz Nikolaj Leskovs Erzählung Levša an.75 Den Vorteil dieser Definition sieht Steltner darin, dass sie, indem sie die nationale Traditionsbildung berücksichtigt, einerseits die Unterschiede zwischen skaz und gawęda benennen kann und andererseits gerade deshalb auch den Blick darauf lenkt, dass skaz und gawęda sowohl in der russischen als auch in der polnischen Literatur vorkommen. So wären etwa die unter dem Namen Koz’ma Prutkov76 1854 erschienenen Vyderžki iz zapisok moego deda (Auszüge aus den Aufzeichnungen meines Großvaters) wegen ihrer Thematisierung der russischen Geschichte als gawęda zu apostrophieren, während Jarosław Iwaszkiewiczs Text Choinki (Die Weihnachtsbäume) als skaz zu bezeichnen wäre. Letzten Endes basiert Steltners Definition also auf einer Unterscheidung zwischen den national nicht gebundenen erzähltechnischen Vertextungsstrategien, die im Russischen als skazovye priemy und im Polnischen als gawędowość bezeichnet werden,77 einerseits und der Kombination dieser Verfahren mit bestimmten thematischen Komponenten andererseits, die ihre spezifischen Ausprägungen ursprünglich im außerkünstlerischen Bereich bestimmter Nationalkulturen fanden, bevor sie auch in die Belletristik eingegangen sind. So verstanden erweisen sich skaz und gawęda als Bezeichnungen für literarische Gattungen, die zwar zunächst eine lediglich nationale Traditionsbildung aufweisen, dann aber auch von anderen Nationalliteraturen adaptiert worden sind. So plausibel dieser Definitionsversuch auf den ersten Blick auch erscheinen mag, erweist er sich bei näherer Betrachtung doch als nicht unproblematisch. Kann man ihm in Bezug auf die gawęda anhand des Beispiels von Rzewuskis Pamiątki Pana Soplicy noch uneingeschränkt folgen, ergeben sich bereits bei Leskovs Levša Schwierigkeiten bei der Zuordnung, wie Steltner selbst einräumen muss: Und man könnte schließlich auch Leskovs Erzählung „Levša“ eine GAWĘDA nennen, weil es in ihr doch offenbar um das historische Trauma der Russen geht, als Nation in der europäischen Entwicklung (im Sinne des berüchtigten West-Ost-Gefälles) immer die letzten zu sein, so daß also „überkompensiert“ werden muß. (Steltner 1997, 137)

Noch problematischer als solche Uneindeutigkeiten bei der Zuordnung im Einzelfall ist aber das thematische Kriterium beim skaz insgesamt,

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In der Tat trägt ja Leskovs Text die Gattungsbezeichnung im Untertitel: „Skaz o tul’skom kosom levše i o stal’noj bloche [Der skaz vom schielenden Linkshänder aus Tula und vom stählernen Floh]“. (Leskov 1958, 26) Es handelt sich dabei um die Mystifikation eines Autors, hinter der sich Aleksej K. Tolstoj sowie die Brüder Aleksej M. und Vladimir M. Žemčužnikov verbergen. In vergleichbarer Weise verwendet Martin P. Rice (1975, 411) den Begriff der skazality.

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denn während das Thema der nationalen Geschichte im Falle der gawęda ein hohes Maß an Spezifik aufweist und deshalb als distinktives Merkmal fungieren kann, erscheint das Thema des Alltags als zu allgemein, um das Phänomen skaz hinreichend eingrenzen zu können. Schließlich hätte dann jeder Text, der die Darstellung eines alltäglichen Geschehens mit der entsprechenden stilistischen und semantischen Markierung der Erzählerrede verbindet, als skaz zu gelten, wodurch nicht nur innerhalb der russischen Literatur das entsprechende Korpus extrem weit gefasst würde, sondern ebenso weit gefasste Korpora in anderen Nationalliteraturen mit dem Begriff skaz zu bezeichnen wären. Deshalb ist gerade die Allgemeinheit der thematischen Bindung im Falle des skaz nicht dazu geeignet zu verhindern, dass die Diskussion um diesen Begriff in eine allgemeine Theorie des Erzählers mündet, wogegen sich Steltner ja ursprünglich gewandt hat. Ebenso wie Steltner definiert Ludvík Štěpán (2003) skaz nicht nur unter Rekurs auf die entsprechende Gattung der Volksliteratur, sondern auch als Gattung der schönen Literatur, wobei er als Vergleichspunkte neben der polnischen gawęda auch die tschechische naranda und die von ihm so genannte slowakische navrávačka heranzieht. Um die dabei auftretenden Probleme aufzeigen zu können, die für die Konzeption des skaz als Gattung weitgehend als exemplarisch anzusehen sind, seien zunächst Štěpáns Definitionen in toto wiedergegeben: 1. Gawęda je specifický žánr polské literatury, zdánlivě amorfní, synkreticky komponovaná epická struktura, vycházející z orálního, šlechtického či lidového projevu, s více konvencionalizovanými autentickými genologickými vrstvami, mnoha odbočkami, digresemi a detaily, která prozaickou nebo veršovou formou očima zainteresovaného, naivně stylizovaného svědka vypráví pro bezprostředního posluchače jemu časově i zkušenostně blízký, většinou nesyžetový, široce rozklenutý, vnitřně dramaticky pojatý, nicméně staticky působící kaleidoskop příběhů, převážně monologického či kvazi-dialogického typu. (Štěpán 2003, 301) 1. Die gawęda ist eine spezifische Gattung der polnischen Literatur, eine scheinbar amorphe, synkretistisch komponierte epische Struktur, die von einer mündlichen, adligen oder volkstümlichen Äußerung ausgeht, mit mehreren konventionalisierten authentischen genologischen Schichten, vielen Exkursen, Digressionen und Details, die in Prosaoder Versform durch die Augen eines interessierten, als naiv stilisierten Zeugen für einen unmittelbaren, ihm zeitlich und erfahrungsmäßig nahen Zuhörer ein zumeist sujetloses, weit gespanntes, innerlich dramatisch aufgefasstes, nichtsdestoweniger statisch wirkendes Kaleidoskop von Begebenheiten, welches überwiegend monologisch oder quasidialogisch erzählt wird. 2. [...] skaz je specifickým prozaickým žánrem ruské literatury, který se vyznačuje naračně orientovanou, otevřenou strukturou, vycházející z orální vypravěčské tradice a v různě volně kompozičně řazených, mnohdy humorných epizodách, s mnoha digresemi a retardačními prvky, prezentuje pro průměrného čtenáře se zdáním autenticity svědectví zainteresovaného svědka jeho zkušenostní optikou. (Štěpán 2003, 305)

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2. [...] skaz ist eine spezifische Prosagattung der russischen Literatur, die sich durch eine am Erzählen orientierte, offene Struktur auszeichnet, die, ausgehend von einer mündlichen Erzähltradition, in häufig humorvollen Episoden, die hinsichtlich der Komposition in unterschiedlichem Maße frei miteinander verknüpft sind, mit vielen Digressionen und retardierenden Elementen für einen durchschnittlichen Leser mit scheinbarer Authentizität einen Zeugenbericht aus der Perspektive des Erfahrungshorizontes eines interessierten Zeugen präsentiert. 3. Naranda je specifický žánr české literatury, prozaická struktura, vycházející z orálních projevů převážně městského folklóru, která očima zainteresovaného, plebejsky nebo intelektuálně stylizovaného svědka vypráví pro bezprostředního posluchače jemu časově i zkušenostně blízký, z reality vycházející, komicky, satiricky, absurdně či groteskně stylizovaný příběh s různě rozvinutým syžetem, nad nímž však dominují kaleidoskopicky prolnuté autentické vrstvy, variantně a improvizačně transformované do synkretického tvaru. (Štěpán 2003, 310f.) 3. Die Naranda ist eine spezifische Gattung der tschechischen Literatur, eine Prosastruktur, die ausgehend von mündlichen Äußerungen überwiegend der städtischen Folklore durch die Augen eines interessierten, als plebejisch oder intellektuell stilisierten Zeugen für einen unmittelbaren, ihm zeitlich und erfahrungsmäßig nahen Zuhörer ein von der Realität ausgehendes, komisch, satirisch, absurd oder grotesk stilisiertes Geschehen mit verschiedenartig entwickeltem Sujet erzählt, über das allerdings kaleidoskopisch durchdrungene authentische Schichten dominieren, die durch Variation und Improvisation in eine synkretistische Gestalt transformiert werden. 4. [...] navrávačk[a], specifický prozaický žánr slovenské literatury, strukturu, která pro kompozici výsledného tvaru užívá modelu orálních projevů, literárních, paraliterárních a publicistických vrstev a prizmatem zainteresovaného svědka na memoárově-esejistickém pozadí rozvíjí vypravěčský proud s různě stylizovanými a časově neohraničenými, kaleidoskopicky prolnutými syžetovými i autentickými sekvencemi, variantně a improvizačně transformovanými do synkretického tvaru. (Štěpán 2003, 313) 4. [...] die navrávačka, eine spezifische Prosagattung der slowakischen Literatur, eine Struktur, die für die Komposition der endgültigen Gestalt das Modell mündlicher Äußerungen, literarischer, paraliterarischer und publizistischer Schichten nutzt und durch das Prisma eines interessierten Zeugen vor einem memoiristisch-essayistischen Hintergrund einen Erzählstrom mit verschiedenartig stilisierten und zeitlich unbegrenzten, kaleidoskopisch durchdrungenen sujethaften und authentischen Sequenzen entwickelt, die durch Variation und Improvisation in eine synkretistische Gestalt transformiert werden.

Hat man sich erst einmal durch die recht gespreizt formulierten Definitionen hindurchgearbeitet, fällt zunächst auf, dass zwar jede der vier Gattungen für die jeweilige Nationalliteratur als spezifisch ausgewiesen wird, dass aber die angeführten Gemeinsamkeiten die Unterschiede deutlich überwiegen. Charakteristisch ist demnach für alle in Rede stehenden Gattungen die Tradition des mündlichen Erzählens, die sich auch in der herausgehobenen Rolle des Erzählers (eines „Zeugen“) widerspiegelt, der sich, im Falle der gawęda und der naranda, und, so ließe sich zweifellos hinzufügen, häufig auch beim skaz, an ein unmittelbares Gegenüber wendet. Damit einher geht eine spezifische Perspektive des

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Erzählers, der die Sachverhalte zumeist vor dem Hintergrund eines eingeschränkten Erfahrungshorizontes entwirft.78 Weiterhin zeichnen sich alle Gattungen durch eine offene bzw. amorphe Struktur aus, die aus der losen Verknüpfung der erzählten Begebenheiten („kaleidoskopisch“) sowie der Vielzahl von Digressionen und Detailschilderungen rührt, wobei letztere zwar lediglich im Zusammenhang mit skaz und gawęda genannt werden, für die naranda aber mindestens ebenso typisch sind.79 Schließlich wird bei den vier Gattungen auch noch eine synkretistische Komposition ausgemacht, worunter Štěpán offenbar eine Mischung von Gattungsmerkmalen versteht, wobei denjenigen eine besondere Rolle zukommt, die die Authentizität des Erzählten verbürgen sollen („konventionalisierte authentische genologische Schichten“ etc.).80 Angesichts all dieser Übereinstimmungen kann es nicht verwundern, dass Štěpán (2003, 304) trotz der behaupteten Spezifik der jeweiligen Gattungen zunächst eine enge systematische und auch genetische Verwandtschaft zwischen skaz und gawęda konstatiert und später dann auch die Definition der naranda als eine Modifikation der vorangehenden Definitionen bezeichnet (Štěpán 2003, 310), die ihre Besonderheit lediglich im Ausgangspunkt der Erzähltradition, der städtischen Folklore, hat, eine Herleitung, die in Bezug auf die Texte Čapeks aber nicht zu überzeugen vermag. Das Problem von Štěpáns Ansatz besteht jedoch nicht nur in der Dominanz der Ähnlichkeiten über die Unähnlichkeiten der als Gattungen aufgefassten Phänomene, sondern auch darin, dass das Konzept der Gattung selbst nicht reflektiert wird, wie ein Vergleich mit den Definitionen Steltners verdeutlicht. Sind dort die gattungskonstitutiven Elemente sowohl hinsichtlich der Gemeinsamkeiten zwischen skaz und gawęda (die spezifische Gestaltung der Erzählfunktion) als auch bezüglich ihrer Unterschiede (Thema)81 klar benannt, erweisen sich Štěpáns Defi-

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Lediglich bei der naranda ist auch von der Möglichkeit eines als intellektuell stilisierten Zeugen die Rede. Konkret verweist Štěpán (2003, 309) hier auf Čapeks Povídky z jedné kapsy a z druhé kapsy, also jene Texte, die von Doležel als skaz bezeichnet wurden, schränkt aber umgehend ein, dass sie sich nicht im eigentlichen Sinne als narandy bezeichnen lassen. Beispielhaft hierfür kann Bohumil Hrabals Text Taneční hodiny pro starší a pokročilé (Tanzstunden für Erwachsene [eigentlich Ältere] und Fortgeschrittene) stehen, den Štěpán (2003, 311) selbst anführt. Im Zusammenhang mit dem skaz werden hier u. a. die Chronik, die Legende und die Apokryphe genannt, sowie weitere Texte, „die von der Faktographie oder von authentischen Begebenheiten ausgehen“ [„které vycházejí z faktografie nebo autentických událostí“] (Štěpán 2003, 306). Das thematische Kriterium ist ein in der Gattungstheorie durchaus übliches, wie etwa im Falle der Differenzierung der Gattung Roman in die Untergattungen Bildungsroman, historischer Roman, Kriminalroman etc.

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nitionen als ein Sammelsurium von Merkmalen, deren jeweiliger Status letztlich undeutlich bleibt. Zudem lassen einige Formulierungen Štěpáns berechtigte Zweifel daran aufkommen, ob es sich bei den von ihm beschriebenen Phänomenen überhaupt um Gattungen handelt, so etwa wenn er schreibt, dass die skaz-Schicht in Leskovs Soboranje (Die Klerisei) einen integralen Bestandteil der Struktur der Romanchronik bildet (Štěpán 2003, 305f.) oder dass in Hašeks Švejk die naranda-Schichten die Romanstruktur frei durchdringen (Štěpán 2003, 308).82 Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass es sich hier um eine Schreibweise im Sinne Klaus W. Hempfers handelt, die in verschiedenen Gattungen realisiert sein kann, zumal Štěpán als Beispiele für skaz und naranda ja auch epische Kurztexte anführt. Nun zeichnet sich aber Hempfers Konzept der Schreibweise gerade dadurch aus, dass es die klassische Trias der „Naturformen“, also Lyrik, Epik und Dramatik, transzendiert, insofern als etwa das Narrative, das Dramatische, das Satirische usw. in allen diesen Grundgattungen zum Tragen kommen kann (vgl. Hempfer 1973, 27f.).83 Im Gegensatz dazu aber verbleiben gawęda, skaz, naranda und navrávačka im Bereich des Epischen, weshalb man wohl nicht umhin kann, in ihnen doch in erster Linie eine Erzählstrategie zu sehen. Eine derartige Erzählstrategie ist nun aber eben nicht national gebunden, weshalb etwa Jiří Holý (1999, 121) unter skaz einen markanten narrativen Typus versteht, der auch in der tschechischen Literatur eine prominente Rolle spielt, so beispielsweise bereits in einigen Werken Božena Němcovás und Alois Jiráseks, v. a. aber im 20. Jahrhundert bei Autoren wie Čapek, Hašek und Hrabal. Dabei bringt auch Holý (1999, 131) die Werke der beiden

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Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht Štěpáns Charakterisierung der Erzählungen Bohumil Hrabals: „Samozřejmě že vnější forma Hrabalovy narandy je různá. Rané texty autor komponoval na půdorysu povídky, s objektivním vypravěčem, s popisy, komentáři a dialogy, přičemž narandové vrstvy na expresivním jazykovém médiu soustřeďoval právě do výpovědí postav (mj. Smrt pana Baltisbergra, Bambini di Praga, Jarmilka). [Natürlich ist die äußere Form von Hrabals narandy verschieden. Die frühen Texte komponierte der Autor auf dem Grundriß der Erzählung, mit einem objektiven Erzähler, mit Beschreibungen, Kommentaren und Dialogen, während er die naranda-Schichten im expressiven Sprachmedium gerade auf die Aussagen der Figuren konzentrierte (u.a. Der Tod des Herrn Baltisberger, Bambini di Praga, Jarmilka).]“ (Štěpán 2003, 311) Als naranda wird hier also die Figurenrede bezeichnet, wodurch das Konzept der Gattung endgültig aufgegeben wird. Ganz zweifellos trifft dies für das Satirische zu, aber ebenso beispielsweise für narrative Strukturen, die sich eben nicht nur in der Epik finden, sondern auch in der Dramatik und selbst in der Lyrik, wie etwa Puškins berühmtes Gedicht Prorok (Der Prophet) belegt. Andererseits zeichnet sich gerade die modernistische Epik dadurch aus, dass sie auf narrative Strukturen weitgehend verzichtet, wie etwa in Boris Pil’njaks Roman Golyj god (Das nackte Jahr) oder, um eines der berühmtesten Beispiele anzuführen, in James Joyces Ulysses.

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letztgenannten Autoren unter Verwendung eines Begriffs von Emanuel Frynta (1966, 321ff.) mit der städtischen Folklore in Verbindung, nämlich mit der sog. hospodská historka (Kneipengeschichte), ohne diese freilich gleich als eigenständige Gattung der tschechischen Literatur etablieren zu wollen. Im Hinblick auf die Konzeption des skaz als Gattung lässt sich somit schlussfolgern, dass es zweifellos in jeder Nationalkultur spezifische vorliterarische mündliche Erzähltraditionen gibt, die auch zu Recht ihre jeweilige nationale Bezeichnung tragen. In der Belletristik hingegen, die ja nicht unwesentlich von transnationalen Rezeptionsprozessen geprägt ist, lassen sich diese nationalen Erzähltraditionen nicht mehr plausibel als Gattung konzeptualisieren, wie das Scheitern der angeführten Versuche in dieser Richtung deutlich gemacht haben sollte. Vielmehr haben sich diese Erzähltraditionen im Laufe der Literaturgeschichte von ihren jeweiligen nationalen Ursprüngen emanzipiert und sind auf diese Weise zu einem Problem der allgemeinen Erzähltheorie geworden. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass die entsprechenden Bezeichnungen, wie etwa im Falle von Leskovs Levša, als Gattungsnamen punktuell wieder auftauchen. Der Versuch einer nationalen Rückbindung ist deshalb geeignet, das allgemeine narratologische Phänomen zu verdecken und damit einer plausiblen Theoriebildung zu entziehen. 2.6.3 Der beschränkte geistige Horizont des Erzählers Da sich also die Konzeption des skaz als Gattung nicht als tragfähig erwiesen hat, müssen mögliche weitere Bestimmungskriterien wohl doch auf der Ebene des Erzählers gesucht werden. Als letztes der auf den Erzähler zurückverweisenden Merkmale gilt es deshalb abschließend, die Ebene der Semantik in den Blick zu nehmen, die bereits in einigen der diskutierten skaz-Definitionen eine prominente Rolle gespielt hat, sei es in Form der so genannten idiosynkratischen Werturteile oder sei es als stilisierte Naivität des Erzählers.84 In der Forschung ist dieses Kriterium schon sehr früh zu finden, so etwa bei Bachtin im Zusammenhang mit dem parodistischen skaz, der u. a. dazu genutzt werden könne, „eine fremde sozial-typische oder individuell-charakterologische Art zu sehen, zu denken und zu sprechen“ zu parodieren (Bachtin 1985, 216) [„parodirovat’ čužuju social’no-tipičeskuju ili individual’no-charakterologičeskuju maneru videt’, myslit’ i govorit’.“ (Bachtin 2002, 216)] Bleibt hier der in-

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Die Naivität, ja geradezu Unbildung des skaz-Erzählers wird etwa auch von Miroslav Drozda (1990, 106) betont.

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tellektuelle Horizont des Erzählers noch weitgehend unbestimmt, wenn auch dessen Beschränkung wohl implizit mitvermeint wird, geht Victor Erlich direkt auf ihn ein: Whenever – as it is so often the case with the skaz – the story-teller’s personality is defined chiefly by limitations of sensibility and intelligence, betrayed by his use of language, we are confronted with what I would like to call “a worm’s eye-view of reality”. (Erlich 1959, 226)

Im Falle einer derart eingeschränkten Perspektive entstehe eine Spannung zwischen der offensichtlich inadäquaten Weltsicht des Erzählers, die dem Leser offen dargeboten wird, und derjenigen des (abstrakten) Autors, die es, gleichsam in Opposition zum Erzähler, erst zu entschlüsseln gilt.85 Unter direkter Bezugnahme auf Erlich konstatiert auch Hans Günther (1979, 328), dass sich der skaz-Erzähler „in der Regel auch durch einen ‚unintelligenten‘ perspektivischen und thematischen Horizont“ auszeichne. Kenntlich werde dieser v. a. in der Bewertung des dargestellten Geschehens durch den Erzähler, die, „[g]emessen am Normalstand des sozialen Wertsystems, auf den man hierbei als Maßstab nicht verzichten kann, [...] den Eindruck der komischen Verzerrung“ hervorruft (Günther 1979, 339). Eine angemessene Deutung der dargestellten Ereignisse sei deshalb nur jenseits der vom Erzähler gegebenen Interpretation möglich. Unter diesem Aspekt lasse sich der skaz dann auch von benachbarten Phänomenen abgrenzen, etwa von der von Michał Głowiński als solcher bezeichneten Erzählung als gesprochenem Monolog (narracja jako monolog wypowiedziany), die sich, wie beispielsweise im Falle von Albert Camus’ La Chute, durch eine intellektuellere Thematik und eine stärker rhetorische Erzählweise auszeichne (Günther 1979, 328).86 Dieselbe Abgrenzung findet sich dann erneut bei Schmid (2008a, 112f.), der, wieder unter Berufung auf Głowiński, die Erzählung als gesprochenen Monolog aufgrund ihrer weltanschaulichen Thematik, der Intellektualität der Argumentation und des Eindringens von rhetorischen Elementen vom skaz unterscheidet. In diesem Sinne wären dann etwa auch Dostoevskijs Zapiski iz podpolja (Aufzeichnungen aus dem Kellerloch) und Krotkaja eben nicht als skaz zu qualifizieren. Bereits dieser kurze Überblick macht deutlich, dass der beschränkte geistige Horizont des Erzählers in dieser oder jener Formulierung in einer Vielzahl von skaz-Definitionen als Bestimmungsmerkmal fungiert.

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Eine vergleichbare Formulierung findet sich, wie oben ausgeführt, bereits in Bachtins Studie Slovo v romane (vgl. Kap. 2.3, S. 28f.). Vgl. dazu Głowiński (1973, 108ff.).

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Dennoch scheinen Zweifel angebracht, ob die semantischen Merkmale hierfür wirklich geeignet sind, und dies aus zwei Gründen. Zum einen dürfte es schwer fallen, eine intersubjektiv zu bestimmende Grenze zwischen der Intellektualität bzw. der Nichtintellektualität eines Erzählers zu ziehen, und es ist bezeichnend, dass eine solche Grenze in den hier angeführten Arbeiten auch nicht gezogen wird. Zum anderen aber zeichnen sich offenbar nicht alle dem skaz zugeordneten Erzähler auch durch einen derart beschränkten Horizont aus. Darauf weisen bereits die Einschränkungen in den Formulierungen von Erlich („as is so often the case in skaz“) und Günther („in der Regel“) hin, ebenso wie der parodistische skaz bei Bachtin nur eine Sonderform eines viel umfassenderen Phänomens darstellt. Und in der Tat werden dem skaz in der Forschung immer wieder Texte zugerechnet, deren Erzähler sich keineswegs durch eine vergleichbare geringe Intellektualität auszeichnen wie etwa diejenigen in den Erzählungen Zoščenkos, auf die Günther rekurriert. Ein Beispiel hierfür wäre etwa der Erzähler aus Nikolaj Leskovs Zapečatlennyj angel (Der versiegelte Engel), der zwar durch eine archaisierende Sprache charakterisiert ist, die mit seiner Weltsicht als Altgläubiger korrespondiert, der deswegen aber keineswegs als beschränkt zu gelten hat. Dementsprechend geht es hier in keiner Weise darum, den Erzähler zu entlarven, wie es Günther (1979, 330) anhand der Texte von Zoščenko beschreibt, vielmehr dient die Stilisierung in diesem Falle dazu, ein bestimmtes thematisches Material, nämlich das Milieu der Altgläubigen, in den Text einzuführen und zu motivieren.87 Anders gelagert ist der Fall in Karel Čapeks Povídky z druhé kapsy, die Doležel als Beispiel für den skaz anführt. In ihnen verweist der Berufsjargon der einzelnen Erzähler auf ihre jeweilige Weltwahrnehmung, doch handelt es sich dabei zumeist gerade um Intellektuelle, etwa einen Dirigenten (Historie dirigenta Kaliny [Die Geschichte des Dirigenten Kalina]) oder einen Arzt (Čintamani a ptáci [Čintamani und die Vögel]). Die sprachliche Stilisierung dient in diesen Fällen zwar der Erzeugung eines komischen Effekts, da der jeweilige Jargon auf andere semantische Felder übertragen wird, doch sieht sich der Rezipient hier – ebenso wenig wie in Leskovs Erzählung – dazu veranlasst, die Bewertung des dargestellten Geschehens durch den Erzähler in Zweifel zu ziehen.88 Es erweist sich mithin, dass auch die so häufig ins Feld geführten semantischen Merkmale für sich genommen nicht als notwendiges Charakteristikum des skaz angesehen werden können.

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Vgl. dazu Setschkareff (1959, 86–89) und McLean (1977, 229–240). In diesem Sinne unterscheiden auch Muščenko et al. (1978, 27) zwischen einem einsinnigen (odnonapravlennyj) und einem zweisinnigen (dvunapravlennyj) skaz, je nachdem ob die Positionen des Erzählers und des abstrakten Autors übereinstimmen oder nicht.

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2.6.4 Merkmalkombinationen Da also keines der im Sinne eines Index auf den Erzähler zurückverweisenden Merkmale für sich genommen als für den skaz konstitutiv angesehen werden kann, besteht die letzte Möglichkeit einer plausiblen skaz-Definition in einer Verbindung mehrerer dieser Merkmale. Eine Definition dieser Art findet sich beispielsweise bei Muščenko, Skobelev und Krojčik: [...] skaz – ėto dvuchgolosoe povestvovanie, kotoroe sootnosit avtora i rasskazčika, stilizuetsja pod ustno proiznosimyj, teatral’no improvizirovannyj monolog čeloveka, predpolagajuščego sočuvstvenno nastroennuju auditoriju, neposredstvenno svjazannogo s demo89 kratičeskoj sredoj ili orientirovannogo na ėtu sredu. (Muščenko et al. 1978, 34) [...] skaz ist ein zweistimmiges Erzählen, das den Autor und den Erzähler in eine Wechselbeziehung zueinander setzt, im Stil eines mündlich vorgetragenen, theatralisch improvisierten Monologs eines Menschen, der eine wohlwollend gestimmte Zuhörerschaft voraussetzt und unmittelbar mit dem demokratischen Milieu verbunden oder auf dieses Milieu hin orientiert ist.

Wie bereits Wolf Schmid festgestellt hat, gehen in dieser Definition Merkmale miteinander eine Verbindung ein, „die einzeln oder gebündelt seit dem Beginn der Skaz-Forschung favorisiert wurden.“ (Schmid 2008a, 170) So gehen die Kategorien der Mündlichkeit und der Improvisation auf Ėjchenbaum zurück, während der Monolog als Definitionskriterium erstmals bei Vinogradov auftaucht und das Konzept des zweistimmigen Wortes von Bachtin stammt. Genau aus diesem Grund wird diese Definition von Marlene Grau (1988, 47, Fußnote 243) als „ein Sammelsurium verschiedener Skaz-Auffassungen“ zurückgewiesen, und es ist in der Tat nicht recht einsichtig, warum gerade diese Merkmalkombination das Phänomen skaz auf den Punkt bringen soll.90 Eine „theatralische Improvisation“ – was auch immer darunter konkret zu verstehen sein mag – findet sich jedenfalls etwa in den Texten Leskovs, die in der Forschung unstrittig als skaz gewertet werden, in der Regel nicht, weder im Očarovannyj strannik (Der verzauberte Pilger) noch im Zapečatlennyj angel oder in Levša, für den auch eine „Verbindung zum demokratischen Milieu“ als klar umrissener Gruppe Gleichgesinnter – sieht man von der russischen Nation als ganzer einmal ab – wohl kaum zu konstruieren ist. Dieses Problems sind sich offenbar auch Muščenko,

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Hinter der reichlich pathetisch anmutenden Formulierung von einem demokratischen Milieu verbirgt sich zweierlei: 1. der Umstand, dass der skaz-Erzähler in der Regel als Vertreter einer größeren Gruppe Gleichgesinnter konzipiert ist und sich 2. seine Sprache durch einen „Stil familiär-nachbarlichen Geschwätzes [stil’ famil’jarno-sosedskoj boltovni]“ auszeichnet (Muščenko et al. 1978, 29). Keine Lösung ist es freilich, dagegen die hochgradig problematische skaz-Definition von Titunik in Stellung zu bringen, auf der die Arbeit von Grau im Wesentlichen basiert.

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Skobelev und Krojčik bewusst und lösen es dadurch, dass sie den skaz letztlich als Gattung konzipieren, von der sich in ihrer Reinform die Texte Leskovs dann, gleichsam als Mischformen, als „skazovye povesti“ (Muščenko et al. 1978, 115) abgrenzen lassen. Welche Probleme bei der Konzeptualisierung des skaz als Gattung jedoch grundsätzlich auftreten, wurde bereits oben (vgl. 2.6.2) im Einzelnen diskutiert. Eine andere Kombination von Merkmalen – und hier auch ohne Rekurs auf die Gattung – findet sich bei Klawa N. Thresher, die den skaz folgendermaßen definiert: A subjective mode of narration presented with the explicitly individualized voice of a narrator who is perceptibly distinct from the author. The narrator’s presence permeates the narration, but he is unself-conscious about his literary function and the form of his narrative. As he relays his account, the narrator reveals his own values and beliefs, and projects an image of his personality through his opinions, evaluations, and choice of words. (Thresher 1992, 33)

Als skaz-Signale fungieren bei Thresher (1992, 33) deshalb wenig überraschend „linguistic, semantic, and expressive means“, weil sie es sind, die auf den Erzähler zurückverweisen und damit seine Wahrnehmbarkeit allererst gewährleisten. Die Vertextungsstrategien, die hier zum skaz führen, sind damit letztlich dieselben, die man bereits bei Titunik findet, mit dem Unterschied allerdings, dass Thresher der Semantik einen höheren Stellenwert beimisst.91 Sie wird in Form von klar zu identifizierenden Werturteilen sogar zu einem notwendigen Merkmal des skaz erhoben,92 welches offenbar mit einer stilistischen Färbung kombiniert ist.93 Leider bleibt einmal mehr unklar, welche Mischungsverhältnisse und Kombinationen den skaz nun eigentlich begründen, so dass der Begriff nur unwesentlich enger gefasst ist als bei Titunik und ebenso wie dort auch hier im Grunde identisch ist mit dem explizit gemachten Erzählermodus, in dessen Rahmen ein stilistisch markierter Erzähler mit einer idiosynkratischen Weltsicht auftritt. Beide Merkmale aber müssen für sich genommen für das Konzept skaz, wie bereits gezeigt wurde, als nicht hinreichend gelten, und ein konkretes Mischungsverhältnis ist angesichts der Heterogenität der als skaz bezeichneten Texte offenbar nicht anzugeben.

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Es ist also keineswegs verwunderlich, dass Thresher bei der Analyse der Texte Gogol’s dann auf die Kategorien Tituniks rekurriert, angefangen bei den grammatischen und situativen, über die expressiven und allokutionalen bis hin zu den semantischen. „The narrator’s personality, as well as his background, is revealed through his candidly expressed point of view. As he reflects reality in a very personal way, the narrator presents information that is more indicative of his perspective than of the world around him.“ (Thresher 1992, 34) „The narration reflects the linguistic norms of the narrator’s social, educational, professional, and/or regional background.“ (Thresher 1992, 33)

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Als letzte Möglichkeit der Eingrenzung bleibt aus der gegebenen Definition die Formulierung, dass der skaz-Erzähler „unself-conscious about his literary function and the form of his narrative“ ist. Aufgrund dieses zusätzlichen Kriteriums würden immerhin Karamzins Bednaja Liza und Dostoevskijs Krotkaja nicht unter die Kategorie skaz fallen, da der Erzähler in letzterem Text wiederholt die Art seines Berichts und der Erzähler in ersterem immerhin einmal den Status seines Berichts reflektiert. Aus dem gleichen Grund wäre dann aber eben auch der Erzähler in Šinel’ wegen seiner wiederholt eingestandenen Nichterfüllung der literarischen Konventionen nicht als skaz-Erzähler anzusehen, wie auch Rudyj Pan’ko aufgrund seines vorhandenen Bewusstseins um seine „literarische Funktion“ als Herausgeber nicht als skaz-Erzähler zu gelten hätte.94 So führt also auch die Merkmalkombination bei Thresher zu keinem befriedigenden Ergebnis. Wolf Schmid schließlich, um ein letztes Beispiel anzuführen, nennt sieben Bestimmungskriterien für den charakterisierenden skaz (in Abgrenzung zum ornamentalen). Diese sieben Merkmale seien aber nicht gleichwertig, sondern ließen sich hinsichtlich ihrer definitorischen Kraft in zwei Gruppen unterteilen. Interessanterweise spricht Schmid gerade jenen Kriterien, die in vielen skaz-Konzeptionen als notwendig erachtet werden, nur eine geringe Relevanz zu, nämlich der Mündlichkeit (im Sinne einer als mündlich fingierten Präsentation), der Spontaneität (im Sinne einer Unvorbereitetheit der Rede), der Umgangssprachlichkeit (im Sinne einer Abweichung vom Standard) und der Dialogizität (im Sinne einer Orientierung am Zuhörer) (Schmid 2008a, 175f.). In der Tat verweisen Mündlichkeit, Spontaneität und Dialogizität ja lediglich auf den Erzählermodus, während die Umgangssprachlichkeit im Sinne einer Abweichung vom Standard doch offenbar einen anderen Stellenwert hat, der hier für die Definition aber nicht fruchtbar gemacht wird. Als obligatorisch für den skaz sieht Schmid (2008a, 174f.) hingegen 1. die Narratorialität, 2. die Begrenztheit des geistigen Horizonts des Erzählers und 3. die Zweistimmigkeit der Erzählerrede an. Unter Narratorialität versteht Schmid, dass skaz sinnvollerweise nur erzählenden Instanzen zugeschrieben werden kann, nicht aber erzählten, wobei natürlich erzählte Instanzen ihrerseits zu erzählenden werden können (im Falle von eingeführten Erzählerfiguren).95 Mag dieser Hinweis auf den ersten Blick auch banal erscheinen, so ist er es doch nicht, solange in der Forschung

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Spätestens hier gerät Threshers Argumentation selbst in eine Aporie, wenn sie einerseits völlig zu Recht behauptet: „Rudyj Pan’ko is also conscious of his literary role“, um im nächsten Satz dann hinzuzufügen: „Rudyj’s idiosyncrasies, however, are not exaggerated and do not take his narration out of the realm of skaz.“ (Thresher 1992, 325) In Schmids (2008a, 85) Terminologie handelt es sich dabei um sekundäre Erzähler.

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Tituniks Konzept tradiert wird, in dem in Anlehnung an die Erlebte Rede skaz als Vermischung zweier Redekontexte verstanden wird (vgl. oben 2.4). Das Kriterium der Begrenztheit des geistigen Horizonts besagt, dass sich der skaz-Erzähler durch eine gewisse Naivität und Ungeschicklichkeit auszeichnet. Dieser unerfahrene Erzähler kontrolliert seine Rede nicht in allen Schattierungen. So entsteht die für den Skaz charakteristische Spannung zwischen dem, was der Erzähler sagen möchte, und dem, was er faktisch, ohne es zu wollen, mitteilt. (Schmid 2008a, 174)

Daraus folgt schließlich auch das dritte Kriterium, die „narratorial-auktoriale Zweistimmigkeit der Erzählerrede“ (Schmid 2008a, 175), d. h. dass der Rezipient in dieser Rede nicht nur die offen zur Schau getragene Naivität des Erzählers konkretisieren kann, sondern zugleich die von der Position des Erzählers abweichende Intention des abstrakten Autors.96 Die Merkmale zwei und drei beschreiben damit im Prinzip dasselbe Phänomen, einmal in Bezug auf die Form (die im Text greifbare Naivität des Erzählers) und einmal in Bezug auf die Funktion (die damit verbundene Textintention). Ihre Problematik hinsichtlich einer Definition des skaz wurde oben (vgl. 2.6.3) bereits erörtert, sei hier aber noch einmal kurz rekapituliert. In allen derartigen Definitionsversuchen bleibt unklar, was unter der Naivität bzw. der mangelnden Intellektualität des Erzählers letzten Endes zu verstehen ist. Umschreibungen, dass es sich bei ihm um einen unerfahrenen bzw. „nicht-professionelle[n] Erzähler aus dem Volk“ (Schmid 2008a, 174) handle, helfen hier nicht weiter, sondern sind eher dazu geeignet, in die Irre zu führen. Worin sollte denn die Professionalität eines Erzählers bestehen? Diese anthropomorphisierende Redeweise verdeckt den Umstand, dass es sich beim Erzähler um ein sprachliches Konstrukt handelt, welches mit derartigen Kategorien überhaupt nicht erfasst werden kann. Worin sollte etwa die Professionalität der Erzähler in Puškins Povesti Belkina, einer Vielzahl von Erzählungen Turgenevs oder Tolstojs gründen? Als professionell im eigentlichen Sinne könnte höchstens ein Erzähler gelten, dem in einem Text explizit die Profession eines Schriftstellers zugesprochen wird und der innerhalb dieses Textes auch selbst als erzählende Figur auftritt. Die Metapher von der Unprofessionalität kann hingegen lediglich zweierlei bedeuten: 1. Ein Erzähler zeichnet sich durch seine Abweichungen vom Standard aus bzw. durch den Verstoß gegen bestimmte Rezeptionserwartungen, die von Literatur in wohlgesetzter Rede ausgehen („Ungeschicklichkeit“, unvollständige Kontrolle der Rede). Diese Abweichung

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Bachtin hatte diese Form der Vermittlung dahingehend auf den Punkt gebracht, dass sich in einem solchen Falle die Textintention nicht in der Erzählerrede realisiere, sondern durch sie (vgl. oben, Kap 2.3, S. 28).

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vom Standard hat Schmid nun aber anhand der Merkmale Mündlichkeit, Spontaneität und Umgangssprachlichkeit für die Bestimmung des skaz als sekundär erklärt, so dass es um sie ganz offenbar nicht gehen kann. 2. Die Naivität rührt aus einer bestimmten Weltsicht, die sich in bestimmten Werturteilen des Erzählers niederschlägt und ihn als „zum Volk gehörig“ ausweist. Was aber ist unter dieser Zugehörigkeit zum Volk genau zu verstehen, bzw. wann genau hat die Weltsicht eines Erzählers als naiv zu gelten? Oder umgekehrt: Ist etwa der erzählende Pfandleiher in Krotkaja, dem jegliche Einsicht in sein eigenes Handeln fehlt, das immerhin seine Ehefrau in den Selbstmord getrieben hat, und der weit davon entfernt ist, seine Rede zu kontrollieren, als Intellektueller zu bezeichnen?97 Auch hier sagt der Erzähler mehr, als ihm eigentlich lieb sein kann, so dass der Leser zweifellos aufgefordert ist, die eigentliche Textintention hinter der Erzählerrede zu rekonstruieren. Gerade aber diesen Text will Schmid (2008a, 112f.) nicht dem skaz zugerechnet wissen. Andererseits schließt seine Definition einmal mehr viele Erzählungen Leskovs aus, die nach Ansicht der überwiegenden Zahl der Forscher als skaz-Texte zu gelten haben. Es bleibt also festzuhalten, dass das aufgrund seiner Pauschalität im Grunde nicht definierbare Merkmal der Intellektualität lediglich eingeführt wurde, um der Ausuferung des skaz-Begriffs entgegenzuwirken, denn ohne dieses Merkmal hätten Krotkaja, aber auch die Zapiski iz podpolja im Rahmen vieler einschlägiger Konzeptionen durchaus als skaz zu gelten. Und in der Tat verbindet diese Texte mit einer Vielzahl der als „klassisch“ erachteten skaz-Texte mehr, als sie von ihnen trennt. Dies betrifft sowohl die sprachliche Gestaltung der Erzählerrede, die auf Mündlichkeit, Spontaneität und Dialogizität intendiert, wie eben auch den Umstand, dass hier wie dort die Textintention „hinter dem Rücken des Erzählers“ rekonstruiert werden muss. Da sich also auch die diversen Merkmalkombinationen als ungeeignet erweisen, das Konzept skaz plausibel zu begründen, gilt es an dieser Stelle die Schlüsse aus den bisherigen Überlegungen sowohl für dieses Konzept als auch für eine allgemeine Typologie des Erzählers zu ziehen. Zwar treten bei einer derartigen Rekapitulation der unterschiedlichen Positionen zwangsläufig einzelne Redundanzen auf, doch eröffnet sie die Möglichkeit, die heterogenen Argumentationslinien einerseits zu bündeln und aus ihnen andererseits die logische Konsequenz zu ziehen, nämlich das Phänomen skaz in einer allgemeinen Typologie des Erzählers aufgehen zu lassen.

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Wie Schmid (2008a, 213) sogar selbst feststellt, fehlt in Krotkaja gerade „die intellektuelle Argumentation“.

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2.7 Rekapitulation und Schlussfolgerungen für das Konzept skaz Als Boris Ėjchenbaum 1918 den Begriff skaz in die Literaturwissenschaft einführte, handelte es sich dabei nicht um ein klar definiertes Konzept für ein fest umrissenes Phänomen. Davon zeugt bereits der Umstand, dass Ėjchenbaum selbst seine anfängliche Auffassung aus dem Aufsatz Illjuzija skaza in seiner späteren Arbeit Leskov i sovremennaja proza zu präzisieren versuchte. Galt ihm zunächst noch jede Form des Erzählens, die die vermittelnde Instanz im Text greifbar werden lässt, als skaz, darunter beispielsweise auch die sprachlich neutral gestalteten Erzähler aus den Texten Turgenevs, die sich lediglich ab und an direkt an den Leser wenden, schränkte er den Begriffsumfang später dahingehend ein, dass nur noch jene Texte als skaz ausgewiesen werden, deren Erzähler sich durch eine stilistische Markierung vor allem im Bereich der Lexik auszeichnen. Worum es Ėjchenbaum dabei eigentlich ging, macht die von ihm zentral gesetzte funktionale Kategorie der Mündlichkeit deutlich: Skaz-Texte sind demnach dadurch charakterisiert, dass sich die vermittelnde Instanz vor die von ihr erzählte Geschichte schiebt, wodurch der Erzählvorgang als solcher als gegenwärtig erscheint. Zwar kann der Eindruck einer solchen Gegenwart ausschließlich auf der Ebene des Dargestellten verbleiben, wenn etwa der Erzähler das Auseinanderfallen von erlebendem und erzählendem Ich explizit thematisiert, doch bedarf es einer solchen Thematisierung nicht notwendigerweise. Der Eindruck der Gegenwart kann nämlich auch implizit hervorgerufen werden, und zwar durch Abweichungen vom schriftlichen Standard. Im Falle eines Er-Erzählers ist dies sogar die einzige Möglichkeit, das Redeereignis in den Vordergrund zu rücken. Bereits durch derartige sprachliche Besonderheiten, seien sie lexikalischer, syntaktischer oder morphologischer Art, wird der Vermittlungsvorgang bewusst gemacht und weckt beim Rezipienten die Vorstellung von einer spontanen, improvisierten und damit eben auch mündlichen Rede, solange diese nicht dezidiert als schriftlich ausgewiesen ist wie im Falle von Briefen, Tagebüchern oder Aufzeichnungen sonstiger Art. Ausschlaggebend für diese Wirkung ist der Umstand, dass sich die neuzeitliche Literatur nahezu ausschließlich des Mediums der Schrift bedient, das um seiner Funktion willen einer Normierung bedarf, die regional, sozial und idiolektal motivierte Formen prinzipiell ausschließt. Indem nach Ėjchenbaum der skaz gerade auf solche Formen zurückgreift, etabliert er eine Konvention des Erzählens, die sich, in der Terminologie Freuneks (2007, 30–33), durch „Nähesprache“ in einer „Distanzsituation“ auszeichnet und auf diese Weise

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mit jener Tradition bricht, die für die Literatur lediglich „Distanzsprache“ vorsieht.98 Die letztgenannte Konvention dominiert weitgehend in der Epoche des Realismus und zeigt sich darin, dass in den entsprechenden Erzähltexten die dargestellte Welt als solche im Mittelpunkt des Interesses steht, nicht aber deren Vermittlung. Das zentrale Anliegen dabei war die Abbildung der zeitgenössischen Welt, mit der sich der Leser auseinander setzen sollte. Davon zeugen nicht zuletzt die meisten Erzähltexte von Autoren wie Ivan Turgenev, Ivan Gončarov und Lev Tolstoj, um nur die berühmtesten zu nennen. Ganz anders stellte sich die Erzählliteratur jener Zeit dar, in der Ėjchenbaum den Begriff skaz als narratologischen Terminus prägte. In Abgrenzung zum epochalen Realismus bestand eine der zentralen Strategien modernistischen Erzählens gerade in der Bewusstmachung der Vermittlungsinstanz, wie man sie in den Texten von Belyj, Vsevolod Ivanov, Fedin, Leonov, Babel’, Pil’njak, Zamjatin, Remizov, Zoščenko und vielen anderen findet und die den Blick auch für vergleichbare Vertextungsstrategien im 19. Jahrhundert schärfte, also v. a. für die Gestaltung der Erzähler in den Texten Gogol’s und Leskovs, aber etwa auch Vladimir Dal’s.99 Da sich dieses Phänomen in den einzelnen Texten durchaus recht unterschiedlich gestaltet, bedarf es selbst einer Systematisierung. Dabei zeigt sich, dass gegen die Erzählliteratur des Realismus im Wesentlichen zwei Erzählstrategien in Anschlag gebracht wurden: Entweder wird im Sinne eines neuen Subjektivismus die Erzählinstanz hochgradig individualisiert oder der Erzähltext wird zunehmend lyrisiert. Diese beiden Tendenzen hat Ėjchenbaum anhand der Begriffe skaz und ornamentaler skaz auf den Punkt zu bringen versucht. Während das Ziel des skaz gerade darin bestehe, dem Leser gleichsam ein konkretes Bild eines Erzählers vor Augen zu führen, zeichne sich der ornamentale skaz dadurch aus, dass er die vermittelnde Instanz durch Rhythmisierung, Klanginstrumentierung, Wieder-

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Diese Spezifik des skaz hat Lena Szilárd (1989, 181) folgendermaßen umschrieben: „The specific nature of ‘skaz’ originates in the confrontation of its two opposing poles: the confrontation of its qualities referring to its relationship to the sphere of the ‘printed word’ and of the forces directed ‘against Gutenberg’, if I may quote the expression of Rozanov.“ Anlass für die Einführung des skaz-Begriffes war also das massenhaft auftretende „foregrounding“ der vermittelnden Instanz in der russischen Literatur jener Zeit. Dagegen sah sich Käte Friedemann 1910 noch genötigt, die „Rolle des Erzählers in der Epik“ gegen die naturalistische Poetik im Allgemeinen und gegen die von Friedrich Spielhagen im Besonderen, die die Transparenz der Vermittlung und die uneingeschränkte Konzentration auf die dargestellten Sachverhalte selbst forderte, zu verteidigen.

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holungen und die Vermischung unterschiedlicher Stilebenen sozusagen poetisiert.100 Schon der Umstand, dass Ėjchenbaum für beide Fälle den Begriff skaz verwendet, zeigt, wie breit dieses Konzept ursprünglich angelegt war. Dieses Problems war sich Ėjchenbaum offenbar durchaus bewusst, weshalb er für den skaz im engeren Sinne, d. h. unter Ausschluss des ornamentalen skaz, weitere Subkategorien vorgeschlagen hat. Bleiben diese in seinem Aufsatz zu Gogol’s Šinel’ durch Formulierungen wie epischer skaz, komischer skaz, der sich seinerseits noch unterscheiden lasse in einen narrativen und einen reproduzierenden skaz, relativ unspezifisch, bemüht er sich in seinem Aufsatz Leskov i sovremennaja proza um eine genauere Bestimmung. Ausgangspunkt hierfür ist die lexikalische Schicht der Texte, anhand derer sich drei verschiedene Arten von skaz voneinander abgrenzen ließen: ein skaz mit folkloristischer Färbung, ein skaz, der sich durch die Verfahren des Wortwitzes und der Volksetymologie auszeichnet, und ein skaz, der auf die Berufsgruppe bzw. den sozialen Stand des Erzählers schließen lässt. Freilich können all diese Versuche der Präzisierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass der skaz-Begriff Ėjchenbaums immer noch ein sehr heterogenes Textkorpus erfasst und damit die nötige Trennschärfe vermissen lässt, so dass Klawa N. Thresher (1992, 6) diese Konzeption völlig zu Recht dafür kritisiert, dass bei einer solchen Verwendung des Begriffs seiner Anwendbarkeit kaum Grenzen gesetzt sind. Trotz dieser Unschärfe wurde der skaz-Begriff sofort von weiteren Forschern aufgegriffen und damit schnell innerhalb der Literaturwissenschaft etabliert. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang v. a. Viktor Vinogradov und Michail Bachtin, die ihrerseits aber nicht zu einer Präzisierung des Begriffs beitragen konnten. Anders als bei Ėjchenbaum

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100 In Bezug auf die russische Erzählliteratur der zwanziger Jahre findet sich eine ähnliche Unterscheidung auch bei Natal’ja A. Koževnikova (1971, 97): „Povestvovatel’naja reč’ v sovetskoj proze 20-ch godov charakterizuetsja, s odnoj storony, gipertrofiej literaturnosti, s drugoj, gipertrofiej charakternosti. [Die Erzählerrede in der sowjetischen Prosa der 20er Jahre wird einerseits charakterisiert durch eine Hypertrophie der Literarizität und andererseits durch eine Hypertrophie des Charakterlichen.]“ Unter Verweis auf Koževnikova differenziert auch Schmid (1992, 18) zwischen skaz und Ornamentalistik: „Als Wortkunst ist die ornamentale Prosa kategorial vom skaz zu unterscheiden, der anderen Abweichung vom neutralen, referenzorientierten Erzähltext, die in der Moderne kultiviert wird. [...] Während der skaz die Referenzfunktion des Erzählens durch eine ‚Hypertrophie des Charakterologischen [характерность]‘ und durch die Dominanz der Kundgabefunktion über die Darstellungsfunktion schwächt, zeichnet sich die ornamentale Prosa durch eine ‚Hypertrophie der Literarizität [литературность]‘ aus, die den Fokus vom Ausgedrückten auf den Ausdruck selbst, das selbstwertige, zum Ding gewordene Wort lenkt. Die charakterologische Perspektivierung ist hier so schwach, daß der Text keine persönliche Erzählinstanz mehr kundgibt.“

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bedarf es nach Vinogradov noch nicht einmal einer sprachlichen Markierung, um von skaz sprechen zu können. Vielmehr könne der mündliche Monolog des narrativen Typs, der die Basis des skaz darstelle, ausschließlich am Standard orientiert sein. Demnach liegt skaz immer schon dann vor, wenn der Erzählvorgang im Text als mündlich ausgewiesen ist. Wie bereits Hans Günther (1979, 326) konstatiert hat, impliziert Vinogradovs Konzeption deshalb, dass es sich bei jeder eingeführten Erzählerfigur um einen skaz-Erzähler handelt. Somit erweist sich Vinogradovs skaz-Begriff als noch weiter als derjenige von Ėjchenbaum. In noch höherem Maße trifft dies auf den skaz-Begriff von Michail Bachtin zu, der nicht nur wie bei Vinogradov den als mündlich ausgewiesenen Monolog einer Erzählerfigur einschließt, sondern darüber hinaus auch jene Fälle, in denen sich solche Erzählerfiguren des Mediums der Schrift bedienen, wie etwa in Turgenevs Erzählung Pervaja ljubov’. Völlig zutreffend urteilt deshalb Natal’ja A. Koževnikova: Pri takom ponimanii skaz isčezaet kak samostojatel’naja forma povestvovanija. (Koževnikova 1971, 100) Bei einem solchen Verständnis verschwindet der skaz als eigenständige Form des Erzählens.

Der Erste, der sich um eine Präzisierung des skaz-Begriffs bemüht hat, war Irwin R. Titunik, der dabei aber gleich in zweifacher Hinsicht scheiterte. Zum einen unterlag er demselben Trugschluss wie vor ihm bereits Bachtin, auf dessen Konzeption sein Ansatz im Wesentlichen auch fußt, nämlich dass die Figurenrede sprachlich stets markiert, die „Autorrede“ dagegen immer neutral gestaltet sei. Dadurch wird nicht nur unzulässigerweise eine Erzählform unter anderen zur ahistorischen Norm erhoben, sondern der skaz auf dieser Basis als Resultat einer Vermischung zweier Redekontexte konstituiert. In Anlehnung an die Erlebte Rede wird er definiert als die Kombination von sprachlicher Markierung aus der Figurenrede mit der Funktion des Berichtens aus der „Autorrede“. Auf diese Weise entstehe ein dritter Redekontext, eben der skaz. Die Postulierung eines solchen dritten Redekontextes erscheint nun aber alles andere als plausibel und ist im Lichte des Kommunikationsmodells für Erzähltexte auch nicht zu halten. Deshalb ist Wolf Schmid (2008a, 174) uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er den Begriff skaz ausschließlich auf einen Redekontext, nämlich den der Erzählerrede angewendet wissen will. Zum anderen ist Titunik bestrebt, sprachliche Signale für den skaz zu definieren, um so die Grundlage für ein intersubjektives Verständnis für das solchermaßen bezeichnete Phänomen herzustellen. Hierfür greift er auf die linguistischen Merkmale zurück, die Lubomír Doležel bereits erfolgreich für die Bestimmung der Erlebten Rede in Anschlag gebracht

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hat. Als wesentlich erachtet er dabei die expressiven, allokutionalen und „dialektalen“ Merkmale, da sie das Redeereignis markieren und es auf diese Weise von den dargestellten Ereignissen abheben. Problematisch ist dabei zweierlei: Einerseits bleibt unklar, ob die jeweiligen Merkmale für sich bereits hinreichen, um skaz zu begründen oder erst deren Kombination. Andererseits sind diese Kriterien so allgemein, dass der unscharfe Begriff skaz damit in keiner Weise präzisiert wird und das damit konstruierte Textkorpus entsprechend weit und heterogen ist, wie bereits Alex M. Shane angemerkt hat: This means that any form of narrative that makes itself perceptible to the reader can be defined as skaz. (Shane 1968, 163)

Da Tituniks skaz-Begriff also im Grunde lediglich die Explizitheit des Erzählermodus konzeptualisiert, war die Forschung in der Folge in erster Linie darum bemüht, diesen Begriff einzugrenzen und ihm somit allererst eine Trennschärfe zu verleihen. Dabei sind zwei unterschiedliche Wege verfolgt worden. Den einen hat bereits Ėjchenbaum vorgegeben, indem er von einem weiten skaz-Begriff ausgeht, der anschließend durch entsprechende Subkategorien spezifiziert wird. Ihm folgt beispielsweise Lena Szilárd (1989, 185–187), indem sie zwischen vier Arten von skaz unterscheidet: 1. durch Abweichungen vom Standard erscheine der Erzähler als Vertreter einer „naiven“ Weltwahrnehmung oder vermittle, wie etwa im Falle der Texte Remizovs, eine „naiv-lyrische Perspektive“; 2. durch die linguistische Diskreditierung des Erzählers werde eine grotesk-ironische Perspektive erzeugt, d. h. es komme zu einem offensichtlichen Auseinanderfallen der Autor- und der Erzählerperspektive; 3. durch die Konfrontation aller möglichen Formen der Schriftkultur mit Phrasen der gesprochenen Sprache entstehe ein „stilisierter skaz“, wie man ihn beispielsweise in den Romanen Belyjs findet; 4. die Inkorporation fremdsprachigen Slangs gerade durch im Ausland lebende russische Schriftsteller führe zu einem „intellektualisierten ironischen skaz“. Mögen diese vier Kategorien auf den ersten Blick vielleicht auch nachvollziehbar erscheinen, halten sie einer genaueren Überprüfung doch nicht stand. Bereits die erste Kategorie erweist sich als höchst problematisch, da sie eine spezifische Form des charakterisierenden skaz (Naivität) mit dem ornamentalen skaz (Lyrisierung) verbindet, die doch in allen anderen Konzeptionen gerade mit dem Ziel einer Präzisierung des Begriffs voneinander unterschieden werden. Bleibt also bereits die erste der vier Arten für sich genommen reichlich unbestimmt, so verstärkt sich dieser Umstand noch dadurch, dass eine klare Abgrenzung zwi-

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schen ihr und der dritten Art nicht möglich ist. Sowohl die Benennungen (naiv-lyrische Perspektive und stilisierter skaz) als auch die Beschreibungen (Abweichungen vom Standard und Konfrontation des Standards mit verschiedenen Phrasen der gesprochenen Sprache) sind jedenfalls eher dazu geeignet, die Unterschiede zwischen beiden Formen zu verwischen und damit die Vagheit des Begriffs insgesamt noch zu verstärken. Die zweite Art erweist sich einmal mehr als nichts anderes als ein Synonym für unreliable narration, während schließlich unklar bleibt, inwiefern die Vermischung des Russischen mit einem fremdsprachigen Slang bei der vierten Art als intellektualisiert-ironische Form zu bezeichnen ist, wobei es sich dabei offenbar aber nur um eine Variante von vielen handelt, die freilich weder erwähnt, geschweige denn beschrieben würden.101 Wie schon zuvor bei Ėjchenbaum bleibt also auch bei Szilárd die Differenzierung eines weiten skaz-Begriffs durch Subkategorien eher intuitiv und damit entsprechend diffus, so dass auf diese Weise ein intersubjektives Verständnis in Bezug auf dieses Phänomen jedenfalls nicht hergestellt werden kann. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Mehrzahl der Forscher den entgegengesetzten Weg eingeschlagen hat, indem sie auf die eine oder die andere Weise versuchten, die Merkmale des skaz einzugrenzen, um so seine Spezifik zu begründen. Auffällig ist dabei allerdings, dass es in dieser Hinsicht nicht auch nur den Ansatz eines Konsenses gibt, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen mögen: Während McLean (1954, 299) den Begriff lediglich auf Erzählungen mit einer eingeführten Erzählerfigur angewendet wissen will, verwendet Rice (1975, 417) ihn ausschließlich für die Er-Erzählsituation, um ihn gerade auf diese Weise von der Ich-Erzählung abzugrenzen. Während die einen, darunter Ėjchenbaum, den skaz-Begriff ausnahmslos auf eine als mündlich stilisierte Präsentation bezogen sehen wollen, sind andere, beispielsweise Thresher (1992, 29), bereit, unter bestimmten Umständen auch eine dezidiert als schriftlich ausgewiesene Präsentationsform als skaz anzuerkennen. Während die einen die Abweichung vom sprachlichen Standard als notwendiges Kriterium für skaz ansehen, lassen andere in seinem Rahmen auch die ausschließliche Verwendung des Standards zu. Für die einen muss sich der skaz-Erzähler durch ein bestimmtes Maß an Naivität auszeichnen, für die anderen wiederum spielt dieses Kriterium nicht die geringste Rolle.

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101 „It seems that totally new variants of intellectualized-ironical ‘skaz’ are being established by contemporary Russian writers living abroad […].“ (Szilárd 1989, 187)

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Zur Theorie des skaz

Aufgrund dieser Uneinigkeit gibt es wohl kaum eine Form des Erzählens, die in der Forschung nicht als skaz apostrophiert worden wäre. Mit anderen Worten, es gibt so viele Verwendungsweisen des Begriffs skaz, wie es Formen des Erzählens gibt, bei denen sich der Erzähler auf irgendeine Art und Weise bemerkbar macht. Dementsprechend groß und heterogen ist das Textkorpus, das im Laufe der Zeit mit Hilfe dieses Begriffs beschrieben wurde und dementsprechend unscharf ist der Begriff selbst bis heute geblieben. Dies zeigt sich beispielweise auch darin, dass es der Forschung noch nicht einmal ansatzweise gelungen ist, Einigkeit darüber zu erzielen, ob und, wenn ja, inwiefern es sich bei Gogol’s Erzählung Šinel’ um skaz handelt. Während die einen meinen, es handle sich bei dem Text um ein Paradebeispiel für skaz, behaupten die anderen, dass nur Teile des Textes als skaz anzusprechen seien. Wieder andere erkennen in ihm einen Fall von ornamentalem skaz, während eine vierte Position dem Text den skaz-Charakter schlicht abspricht. Angesichts dieses Befunds wird man wohl zugeben müssen, dass die folgende Aussage von Martin P. Rice aus dem Jahr 1975 nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat: Today, in spite of its growing international acceptance, the literary term “skaz” is for all practical purposes a useless one. (Rice 1975, 409)

Anstatt nun aber den unzähligen Definitionen eine weitere hinzuzufügen, wie Rice dies tut, scheint es an der Zeit zu sein, innezuhalten und nach den Ursachen für diesen Umstand zu fragen, um daraus dann die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Ausgangspunkt für diese Überlegungen sollte die Feststellung sein, dass ein fehlender Konsens in der Forschung, wie er hier in Bezug auf den skaz konstatiert wurde, in den Philologien nichts Ungewöhnliches darstellt, vielmehr durchaus die Regel ist. So findet sich beispielsweise auch für die Epoche der Romantik oder die Gattung Roman jeweils eine Vielzahl miteinander konkurrierender Definitionen. Ursächlich hierfür ist der Modellcharakter aller derartigen Typologien, der ihre Relativität wesensmäßig bedingt. Relativität darf aber nun keineswegs Relativismus bedeuten, da sonst die Wissenschaft zu einer Glaubensfrage würde. Als Maßstab für die Relevanz eines Modells ist deshalb seine Plausibilität anzusehen, d. h. seine Gegenstandsadäquatheit und die aus ihr folgende Erklärungsmacht für die analytische Praxis. Im Falle des skaz kann aber nun offenbar keines der vorgeschlagenen Konzepte eine solche Plausibilität für sich beanspruchen, da sie entweder zu eng oder zu weit gefasst sind. Der erste Fall tritt immer dann auf, wenn die Merkmale des skaz vom Werk lediglich eines Autors abgeleitet werden. Auf diese Weise können sie zwar klar bestimmt werden, lassen sich jedoch nicht auf Texte übertragen, die von anderen Forschern zur Fundierung des skaz he-

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rangezogen werden. So ist es nur folgerichtig, dass angesichts der Unterschiedlichkeit der Gestaltung der Erzähler in den Texten Gogol’s, Leskovs oder Zoščenkos, um nur einige wichtige Autoren zu nennen, dementsprechend unterschiedliche skaz-Konzepte entwickelt wurden, die nicht miteinander zur Deckung gebracht werden können. In der Forschung finden sich denn auch die entsprechenden Formulierungen wie „der skaz bei Gogol’“, der „skaz bei Leskov“ oder „der skaz bei Zoščenko“. Eine solche Redeweise allerdings setzt ein gewisses Vorverständnis voraus, worum es sich beim skaz eigentlich handelt, also um den kleinsten gemeinsamen Nenner, der die Texte der genannten Autoren bei all ihrer Unterschiedlichkeit dennoch verbindet. Um genau diesen kleinsten gemeinsamen Nenner geht es jenen skaz-Konzeptionen, die nicht vom Einzeltext oder von den Texten lediglich nur eines Autors ausgehen, sondern das Phänomen an sich in den Blick zu nehmen suchen. Die Konsequenz all dieser Versuche ist freilich, dass die auf diese Weise entwickelten skaz-Begriffe die nötige Trennschärfe vermissen lassen und damit auch nicht in der Lage sind, die Spezifik des solchermaßen bezeichneten Phänomens zu begründen. Bereits aus den genannten Gründen bietet es sich an, auf den skazBegriff, der in der Forschung eine so große Verwirrung gestiftet hat, zu verzichten. Dieser Vorschlag gewinnt noch an Plausibilität, wenn man sich die Forschungsgeschichte selbst vor Augen führt. Als der Begriff von Ėjchenbaum in die Literaturwissenschaft eingeführt wurde, stellte er den Versuch dar, ein äußerst verbreitetes, aber gleichzeitig eben auch äußerst heterogenes Phänomen zu konzeptualisieren, für das die erst im Entstehen begriffene Teildisziplin der Erzähltheorie noch keinen adäquaten Terminus zur Verfügung hatte. Es handelt sich dabei um das sprachlich indizierte Hervortreten eines Erzählers, d. h. dass im Erzähltext der Vermittlungsvorgang mitvertextet wird, was eben auf sehr unterschiedliche Weise geschehen kann. Ėjchenbaum erschien dieses sprachlich indizierte Hervortreten als eine Reminiszenz an die der Verschriftlichung der Literatur vorausgehende Form der Tradierung, konkret an das mündliche Erzählen, welches in der russischen Folklore bei Texten mit Alltagsthematik eben als skaz bezeichnet wird. Nun ist die damit bezeichnete Vertextungsstrategie aber alles andere als ein Spezifikum der russischen Literatur, da die mündliche Tradierungsform der schriftlichen ganz grundsätzlich vorausgeht, worauf bereits Käte Friedemann 1910 (1965, 40) hingewiesen hat. Und es reicht ein kurzes Zitat aus ihrem Werk Die Rolle des Erzählers in der Epik, um deutlich zu machen, dass auch sie schon das von Ėjchenbaum als skaz bezeichnete Phänomen im Blick hatte:

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Zunächst: Der Erzähler bezeichnet sich selbst als solchen. Er wendet sich ferner an den Leser, als an denjenigen, für den er die betreffenden Begebenheiten erzählt. Er faßt sodann dementsprechend sich selbst und den Leser zu einer Einheit zusammen und weist in dieser Form auf bereits Bekanntes: „Wie wir wissen“. Die Gestalten seiner Erzählung bezeichnet er nun als unsern „Helden“, unsern „Freund“, er begleitet ihr Geschick mit Ausrufen der Teilnahme, wie „leider“, „ach“, „oh!“ oder verrät durch Humor und Ironie, dass er sich nicht mit ihnen auf eine Stufe stellt, sondern dass er einen Standpunkt über ihnen einnimmt. Auch das attributive Adjektiv ist in diesem Zusammenhang daraufhin zu beachten, wieweit es Tatsachen oder Werturteile ausdrückt. Es ist durchaus nicht gleichgültig für den Stil des Schriftstellers, ob er seinen Substantiven die Bezeichnungen „klein“, „schlank“, „jung“ beilegt, oder ob er sie als „schön“, „heilig“ und „gut“ kennzeichnet. Im ersten Falle weist er auf objektive, von jedem gleichmäßig wahrnehmbare Eigenschaften hin, im zweiten gibt er ein Urteil ab und kennzeichnet sich dadurch als den Urteilenden. Mit den oben behandelten Formen der Darstellung ergeben sich nun die mannigfachsten Kombinationen. (Friedemann 1965, 41f.)

Abgesehen von der lexikalischen Markierung der Erzählerrede im Sinne eines Dialekts, Soziolekts oder Idiolekts und der Naivität finden sich hier alle Merkmale, die mit dem skaz je in Verbindung gebracht wurden, von der Expression über die Allokution bis hin zu qualifizierenden Werturteilen. Wenn dem aber so ist, dann erweist sich skaz endgültig als ein Synonym für das von Doležel als solches bezeichnete rhetorische Erzählen und damit auch als überflüssig. In diese Richtung weist auch Stanzels Anmerkung im Zusammenhang mit seiner Differenzierung zwischen Erzähler- und Reflektormodus, dass nämlich der skaz ein zentraler Aspekt des ersteren sei. Und Stanzel (1982, 173) wird sogar noch deutlicher: „Der Erzählermodus läßt eine gewisse Affinität zum mündlichen Erzählen, aus dem er wahrscheinlich auch historisch herzuleiten ist, erkennen.“ Auch Bachtin (1985, 212f.) hatte diesen Umstand im Prinzip bereits erfasst, wenn er schreibt: „Jede Erzählung erhält notwendigerweise ein skaz-Element, d. h. die Ausrichtung auf mündliche Rede. [Ėlement skaza, to est’ ustanovki na ustnuju reč’, objazatel’no prisušč vsjakomu rasskazu.“ (Bachtin 2002, 213)] Mit anderen Worten, ein Festhalten am skaz-Begriff insinuiert entweder ein Spezifikum der russischen Literatur oder ein spezifisches Analysekonzept der Slavistik. Weder für das eine noch für das andere ist es der Forschung bisher gelungen, einen entsprechenden Beleg zu erbringen. Und ein solcher Beleg kann auch gar nicht erbracht werden, da skaz letztlich nichts anderes meint, als das sprachlich, d. h. stilistisch und/oder semantisch indizierte Hervortreten eines Erzählers, welches

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jedoch im Rahmen einer allgemeinen Typologie des Erzählers darzustellen ist.102 Das Modell von Doležel kann hierfür aus verschiedenen Gründen nicht als Ausgangspunkt dienen. Zum einen sind in ihm zwei Typologien miteinander vermischt, nämlich die des Modus und die einer Binnendifferenzierung innerhalb des Erzählermodus.103 Da es im Folgenden lediglich um die Binnendifferenzierung geht, muss die von Doležel so bezeichnete subjektive Er-Form zwangsläufig unberücksichtigt bleiben. Zum zweiten hat sich gezeigt, dass das objektive Erzählen in der Er- ebenso wie in der Ich-Erzählsituation nur selten realisiert ist, so dass es kaum als ein Grundtypus des Erzählens angesehen werden kann. Zum dritten ist Doležels Typologie in mehrfacher Hinsicht überdeterminiert. Die allokutionalen und expressiven Merkmale haben nämlich lediglich die Funktion, den Erzählermodus explizit zu machen. Nun lassen sich Erzähler zwar danach unterscheiden, ob der Erzählermodus weitgehend im Impliziten verbleibt oder ob er durch die genannten Merkmale offen zur Schau gestellt wird, doch ist dieses Kriterium für eine Typologie, die das Phänomen einer stilistischen oder semantischen Markierung abzubilden sucht, irrelevant. Während diese Markierungen zu einer Individualisierung des Erzählers bzw., im Falle der Ornamentalistik, zu einer Lyrisierung des Erzählens führen, verweisen die allokutionalen und expressiven Merkmale lediglich auf den Erzählvorgang als solchen und müssen deshalb aus der zu erstellenden Erzählertypologie ausgeschlossen werden.104 Auszuschließen ist ferner das Merkmal der Deixis, welches zwar für die Bestimmung der Erlebten Rede relevant ist, für sich genommen aber noch keinen typunterscheidenden Charakter hat. Zu guter Letzt weisen nach Doležel alle persönlichen und rhetorischen Ich-Erzähler notwendigerweise eine stilistische Markierung und eine subjektive Semantik auf. Das trifft keineswegs zu, wie im Gang der Argumentation mehrfach deutlich geworden ist. Gerade deshalb lassen sich die stilistischen und semantischen Merkmale für eine Erzählertypo-

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102 Es scheint mir in diesem Zusammenhang auch kein Zufall zu sein, dass Doležel, der sich in seinem Aufsatz von 1961 noch dezidiert mit dem skaz beschäftigt hat, in all seinen späteren narratologischen Arbeiten, die sich gerade mit einer Typologie des Erzählers beschäftigen, auf dieses Konzept nicht mehr zurückgekommen ist. 103 Besonders deutlich kommt dieser Umstand in der tschechischen Fassung der Monographie zum Ausdruck, wo in einer Art Typenkreis nicht nur die sechs Erzählertypen figurieren, sondern auch einzelne Redeformen, darunter auch die Erlebte Rede (Doležel 1993, 49). 104 Allerdings begleiten sie die stilistischen und semantischen Merkmale in der Regel immer dann, wenn sie zu einer charakterologischen Kennzeichnung des Erzählers genutzt werden, doch ist dies nicht zwangsläufig der Fall. Was sie miteinander verbindet ist der Umstand, dass sie zwar alle in indexikalischer Weise auf den Erzähler zurückverweisen. Doch daraus folgt eben nicht, dass sie auch darüber hinaus alle dieselbe Funktion haben.

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logie fruchtbar machen. Bei Doležel haben sie dagegen ihre Differenzqualität eingebüßt.105 Aus diesen Überlegungen ergeben sich die beiden Grundbedingungen für die zu erstellende Typologie des Erzählers: 1. Sie hat sich ausschließlich auf den Redekontext des Erzählers zu beschränken (im Sinne des Kriteriums der Narratorialität), während die Unterscheidung von Erzähler- und Reflektormodus unberücksichtigt bleibt; 2. Sie hat lediglich solche Merkmale aufzunehmen, die für die Bestimmung der einzelnen Typen sowohl notwendig als auch hinreichend sind. Die sprachliche Tätigkeit des Erzählens zeichnet sich durch die Existenz zweier raum-zeitlicher Koordinatensysteme aus, worauf Matthias Aumüller (2012, 162–164) völlig zu Recht insistiert, und zwar desjenigen des Erzählers in seiner Sprechsituation und desjenigen der Figuren als Teil des vermittelten Geschehens.106 Das erste Differenzkriterium der zu erstellenden Typologie ergibt sich nun aus der Antwort auf die Frage, ob der Erzähler an beiden Koordinatensystemen teilhat, ob er also als sein früheres Ich selbst als Figur auftritt. Lange Zeit wurde diese Unterscheidung anhand der Dichotomie Ich- und Er-Erzählung konzeptualisiert, wobei der Teilhabe an den beiden Koordinatensystemen mit der weiteren Differenzierung zwischen erlebendem Ich und erzählendem Ich bzw. zwischen erzähltem und erzählendem Ich (Schmid 2008a, 87) Rechnung getragen wird. Allerdings weist Schmid die traditionelle Unterscheidung von Ich- und Er-Erzählung mit folgendem Argument zurück: Es ist wenig sinnvoll, einer Typologie des Erzählers die Personalpronomina zugrunde zu legen, da jegliche Erzählung im Grunde von einem Ich ausgeht, selbst wenn die grammatische Person nicht ausgedrückt ist. (Schmid 2008a, 89)

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105 Hierin zeigt sich eine grundsätzliche logische Inkonsistenz von Doležels Typologie. Die Setzung von sechs Merkmalen (grammatische, deiktische, allokutionale, expressive, stilistische und semantische) führt eigentlich zur Konstituierung von insgesamt 64 Typen. Eine derartige Typologie wäre zwar äußerst differenziert, dafür aber nicht mehr funktional. Doležel umgeht diese Konsequenz gerade durch die Kombination der einzelnen Merkmale, die nun aber an der Realität der literarischen Praxis vorbeigeht. 106 Im Anschluss an Dietrich Weber und anderen spricht Aumüller hier freilich von zwei „Orientierungszentren“, was insofern problematisch ist, als auf der Ebene der dargestellten Welt das Orientierungszentrum zwischen den Figuren nicht nur wechseln kann, sondern in der Regel auch wechselt, wie etwa im Falle eines jeden beliebigen Dialogs, so dass insgesamt mehr als zwei Orientierungszentren auszumachen sind. Mit der Rede von zwei Koordinatensystemen, die mit den Kommunikationsniveaus N1 (Figurenebene) und N2 (Erzählerebene) korrespondieren, wird dieses Problem umgangen.

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In der Tat kann sich nach der Logik des Kommunikationsmodells jeder Sprecher durch das Personalpronomen ‚ich‘ auf sich selbst beziehen, unabhängig davon ob er als früheres Ich auch als Figur auftritt.107 Die kurze Besprechung von Šinel’ hat zudem gezeigt, dass dieser Fall in der Erzählliteratur durchaus auch anzutreffen ist. Die Verwendung des Personalpronomens der 1. Person ist hier formal zu den rhetorischen Verfahren zu zählen, die, unter funktionalem Aspekt, den Erzählermodus explizit machen. Somit lässt sich konstatieren, dass das Personalpronomen als Differenzkriterium allein nicht ausreicht. Schmid kombiniert es für seine Unterscheidung von diegetischen und nichtdiegetischen Erzählern deshalb mit dem Merkmal der „Referenz“: Nicht die Personalform selbst, sondern ihre Referenz ist das Entscheidende: Wenn sich das Ich nur auf den Erzählakt bezieht, ist der Erzähler nichtdiegetisch, wenn sich das Ich mal auf den Erzählakt und mal auf die erzählte Welt bezieht, ist er diegetisch [...]. (Schmid 2008a, 89)

Woran aber wäre die jeweilige Referenz festzumachen? Darauf bleibt Schmid die Antwort schuldig. Das Problem wird sogar noch vergrößert, weil Schmid (2008a, 90f.) auch Erzähler als diegetisch bezeichnet, die das Personalpronomen der 1. Person überhaupt nicht verwenden, sondern in ihrer Geschichte von sich in der dritten Person sprechen oder gar nicht von sich sprechen, wie in Alain Robbe-Grillets La Jalousie. Die Kategorie der Referenz verbleibt somit letztlich im Bereich des Intuitiven. Andererseits wird der Erzähler in Bednaja Liza, obwohl er auch Teil der Figurenebene ist,108 als nichtdiegetischer Erzähler apostrophiert, da er nicht Gegenstand der Geschichte um Liza und Ėrast selbst ist, sondern lediglich ein Teil der Nachgeschichte (Schmid 2008a, 93 und 97). Das Merkmal der Referenz bleibt damit nicht nur im Bereich des Intuitiven, sondern ist bis zu einem gewissen Grad auch kontraintuitiv, da der Erzähler aus Bednaja Liza trotz seines Auftretens als Figur in eine Reihe gestellt wird mit den traditionell so bezeichneten Er-Erzählern. Daraus ist zweierlei zu folgern: 1. Das entscheidende Kriterium ist nicht, ob ein Erzähler selbst Gegenstand seiner Geschichte ist, sondern, ob er als Figur in ihr auftritt. Diese Aussage mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, da beide Propositionen dieselbe Extension haben:

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107 So im Grunde bereits Harald Weinrich (1964, 24): „Der Sprecher ist vertreten durch die erste Person, der Hörer durch die zweite Person, die Information selber, soweit sie ein unabhängiges Drittes gegenüber Sprecher und Hörer ist, ist vertreten durch die dritte Person.“ 108 Der Erzähler hat Ėrast persönlich getroffen: „Ja poznakomilsja s nim za god do ego smerti. [Ich hatte ihn ein Jahr vor seinem Tode kennengelernt.]“ (Karamzin 1984, 519) Und erst von ihm hat er die Geschichte um Liza überhaupt erfahren.

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Wenn das frühere Ich des Erzählers als Figur auftritt, ist es automatisch auch Teil der erzählten Geschichte und sei es nur völlig am Rande wie in Bednaja Liza. Doch ist es gerade diese Akzentverschiebung in der Formulierung, die es erlaubt, ein plausibles Abgrenzungsmerkmal in die Typologie einzuführen. 2. Ganz im Sinne Doležels wird daran festgehalten, dass das anzusetzende Differenzkriterium formaler Natur sein soll, damit das Gebot der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Argumentation gewährleistet bleibt. Deshalb geht es nunmehr darum, Schmids funktionales Merkmal der Referenz auf seine formale Basis zurückzuführen. Es liegt nahe, dabei auf Doležels zweites grammatisches Merkmal zu rekurrieren, also auf die Kategorie der Verbaltempora. Allerdings muss Doležel auch hier korrigiert werden, denn das entscheidende Differenzkriterium besteht nicht darin, dass der Ich-Erzähler alle drei Verbaltempora (Präsens, Präteritum und Futur) verwenden kann, der Er-Erzähler hingegen lediglich die Vergangenheitsform. Natürlich kann auch ein ErErzähler das Präsens verwenden, wenn er sich auf den Erzählvorgang als solchen oder auf die Kommunikationssituation ganz allgemein bezieht, wie etwa der Erzähler in Šinel’. Und es ist genau die Verbindung zwischen Präsens und aktueller Kommunikationssituation, die auf den richtigen Weg zur Lösung des Problems führt. Diesen Weg hat im Grunde bereits Harald Weinrich eingeschlagen, wenn er zwischen zwei Tempusgruppen unterscheidet und ihnen jeweils eine spezifische Funktion zuweist. Seiner Ansicht nach dient die Tempusgruppe I, in deren Zentrum das Präsens steht, dazu, sich auf die aktuelle Sprechsituation zu beziehen. Weinrich (1964, 50f.) bezeichnet die Tempora der I. Tempusgruppe als „besprechende[...] Tempora“, die die Funktion haben, dem Kommunikationspartner zu signalisieren: „Tua res agitur“. Im Gegensatz dazu diene die Tempusgruppe II, die sich um das Präteritum gruppiert, dazu, auf eine von der aktuellen Sprechsituation losgelöste Situation Bezug zu nehmen, die Weinrich (1964, 55f.) – im Unterschied zur besprochenen Welt – die „erzählte Welt“ nennt. Eine vergleichbare Position vertritt Tanja Anstatt, die, anders als Weinrich, nicht vom Französischen ausgeht, sondern vom Russischen und vom Deutschen. Demnach sei in beiden Sprachen das Präsens charakteristisch für den „sprechzeitorientierten Redetyp“, das Präteritum hingegen für den „narrativen Redetyp“ (Anstatt 2012, 187–189).109 Somit lässt sich folgern, dass das Präteritum,

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109 Wie bereits Weinrich (1964, 27) deutlich gemacht hat, gilt es hierbei grundsätzlich die Spezifik der jeweiligen natürlichen Sprachen zu berücksichtigen. Die durch das Tempus markierte Unterscheidung zwischen sprechzeitorientiertem und narrativem Redetypus scheint allerdings recht weit verbreitet zu sein, so dass die auf dieser Basis erstellte Typologie eine relativ hohe Reichweite hat.

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ganz unabhängig davon, ob es als Vergangenheitsmarker aufgefasst wird oder nicht, ein von der aktuellen Kommunikationssituation unabhängiges raum-zeitliches Koordinatensystem konstituiert.110 Die Konstitution dieses zweiten Koordinatensystems wiederum ist die Voraussetzung für die sprachliche Tätigkeit des Erzählens. Die Aufspaltung in ein erlebendes und ein erzählendes Ich erfolgt demnach durch die Kombination des Personalpronomens der 1. Person Singular mit den unterschiedlichen Tempusformen des Verbums. Ist es mit dem Präsens kombiniert, befindet man sich auf der Ebene des erzählenden Ich, ist es mit dem Präteritum kombiniert, auf derjenigen des erlebenden Ich. Merkmalhaft ist deshalb nicht das bloße Auftreten des Personalpronomens der 1. Person Singular in Verbindung mit dem Prä-

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110 Mit dieser Unterscheidung scheint der Präteritumstreit tangiert zu sein, den Käte Hamburger mit ihrer 1957 erschienenen Monographie Die Logik der Dichtung ausgelöst hat. Dem ist freilich nicht so, da die Unterscheidung zwischen Präsens und Präteritum hier lediglich für eine Erzählertypologie fruchtbar gemacht werden soll, nicht aber für eine (phänomeno-)logische Fundierung der Literatur als solcher. Aufgeworfen ist allerdings tatsächlich die Frage, ob das Präsens prinzipiell Gegenwart impliziert und das Präteritum Vergangenheit. Weinrich (1964, 22) verneint sie vehement und hält Präsens und Präteritum für zeitlose Tempora, mit denen grundsätzlich alle Zeitstufen zu erreichen seien. Hamburger, die für die Er-Erzählung ebenfalls einen Vergangenheitsbezug bestreitet, sieht immerhin in der Ich-Form die „Vergangenheitsfunktion“ des Präteritums gewahrt (Hamburger 1987, 65 und 291). Letzterem ist zweifellos zuzustimmen, da sich das Auseinanderfallen von erlebendem und erzählendem Ich nur im Rahmen eines zeitlichen Abstands denken lässt. Es gibt gute Gründe, diese Vorstellung per Analogieschluss auch auf den Er-Erzähler zu übertragen. So stellt in beiden Fällen das Präteritum die Grundform dar, während der Wechsel ins Präsens im Sinne einer Vergegenwärtigung (Historisches Präsens) seine Wirkung erst vor dem Hintergrund entfalten kann, dass das Erzählte als vergangen vorgestellt wird. Die Vorstellung von Vergangenheit stellt sich immer dann sogar zwangsläufig ein, wenn der Erzählermodus und damit das raum-zeitliche Koordinatensystem der aktuellen Kommunikationssituation explizit gemacht wird. Aufschlussreich ist auch die Gegenprobe, d. h. jener Fall, in dem in der Er-Form konsequent das Präsens verwendet wird. Hierbei sind zwei Varianten zu unterscheiden, wobei in beiden die vermittelnde Instanz selbst als Teil der dargestellten Welt erscheint, ohne sich selbst als solche zu bezeichnen. In der ersten Variante fallen Perspektivzentrum und vermittelnde Instanz zusammen. Dieser seltene Fall, in dem der Reflektormodus über den ganzen Text hin durchgehalten wird, ist realisiert in Robbe-Grillets La Jalousie, weshalb Brigitta Coenen-Mennemeier (1996, 43) hier nicht von einem Erzähler spricht, sondern von einem „observateur“. In der zweiten ebenfalls recht seltenen Variante sind Perspektivzentrum und vermittelnde Instanz deutlich voneinander getrennt wie in Vladimir Makanins Povest’ Laz („Das Schlupfloch“, eigentlich „Der Durchschlupf“). Der daraus resultierende Eindruck ist der einer Live-Reportage, wie man sie von Radioübertragungen aus einem Fußballstadion kennt. Beide Fälle aber verbindet, dass jeweils nur ein einziges raum-zeitliches Koordinatensystem existiert, wodurch gerade der Eindruck der Unmittelbarkeit hervorgerufen wird. Deshalb liegt es auch nahe, hier nicht mehr von Erzählen im eigentlichen Sinne zu sprechen. Da andererseits Tanja Anstatt (2012, 190–193) gezeigt hat, dass bei der Nacherzählung von Bildergeschichten im Deutschen das Präsens präferiert wird, sollten die vorangegangenen Überlegungen auf den Bereich des literarischen Erzählens beschränkt bleiben.

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sens, das prinzipiell bei allen Erzählern möglich ist, sondern seine Kombination mit dem Präteritum.111 Weil dieses Merkmal allererst dazu führt, dass der Erzähler sich als sein früheres Ich auch als Figur konstituiert, soll ein solcher Erzähler figural heißen. Die attributive Bestimmung ‚figural‘ mag auf den ersten Blick irritieren, wird sie in der Narratologie doch in der Regel in Bezug auf das Phänomen der Perspektive verwendet, so etwa auch bei Schmid (2008a, 137–139). Sie hat jedoch zwei terminologische Vorzüge: Einerseits ist figural im Gegensatz zu diegetisch oder gar homodiegetisch selbsterklärend. Andererseits bringt diese attributive Bestimmung den entscheidenden Umstand auf den Punkt, dass nämlich der Erzähler als früheres Ich auch als Figur auftritt.112 Die erste grundlegende Unterscheidung im Rahmen der hier vorgeschlagenen Erzählertypologie sieht daher folgendermaßen aus: 1. Person Singular & Präteritum nichtfiguraler Erzähler



figuraler Erzähler

+

Da nun aber ein figuraler Erzähler nicht zwangsläufig über sich selbst berichten muss, bedarf es für diesen Fall der Einführung eines weiteren

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111 Dies gilt uneingeschränkt für Sprachen mit einem ausgebauten Tempussystem und einer dementsprechenden consecutio temporum. Für Sprachen, die stattdessen mit einem ausgebauten Aspektsystem operieren, so wie etwa auch das Russische, gilt es hingegen zu präzisieren, dass das Präteritum sich im Sinne der Vorzeitigkeit auch auf die aktuelle Sprechsituation beziehen kann. In solchen Fällen ist das adäquate Verständnis aber in aller Regel durch den Kotext gesichert. 112 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei explizit darauf hingewiesen, dass der figurale Erzähler nicht mit einer erzählenden Figur zu verwechseln ist. Bei letzterer handelt es sich um einen durch einen erzählerischen Rahmen eingeführten Binnenerzähler, bei dem es sich selbst wiederum um einen figuralen oder um einen nichtfiguralen handeln kann, je nachdem ob er in der von ihm erzählten Geschichte selbst als Figur auftritt oder nicht. Die so genannte Du-Erzählung, die Jürgen H. Petersen (2010, 93) – nicht ganz widerspruchsfrei – als Grundform des Erzählens postuliert, obwohl er sie selbst für eine „Randerscheinung“ hält, hat in der hier vorgeschlagenen Typologie keinen Platz. Dabei gilt es zunächst zwischen zwei Verwendungsweisen des Personalpronomens der 2. Person Singular zu unterscheiden. Es kann sich entweder im Sinne der Allokution auf das Gegenüber in der aktuellen Sprechsituation beziehen oder auf eine Figur der dargestellten Welt im Sinne eines Gesprächsgegenstands des zweiten raum-zeitlichen Koordinatensystems. Zwar ist diese Unterscheidung nicht immer klar zu treffen, worauf bereits Schmid (2008a, 92) hingewiesen hat, doch begründet keine der beiden Varianten einen eigenen Erzählertypus. Bei der Ansprache des fiktiven Adressaten liegt dieser Umstand auf der Hand. Ist das Du aber Gegenstand der Erzählung, fungiert es entweder nicht selbst als vermittelnde Instanz, da es sonst ‚Ich‘ sagen müsste, oder aber als eine Reflektorfigur. In beiden Fällen ist sie jedenfalls kein Erzähler. Zur Du-Erzählung in ihren einzelnen Varianten vgl. Fludernik (2011, 105–116).

Rekapitulation und Schlussfolgerungen

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Merkmals, nämlich der von Genette so genannten Autodiegese. Dieses Merkmal bezeichnet den Umstand, dass der figurale Erzähler selbst im Mittelpunkt der Darstellung steht.113 Daraus ergibt sich die folgende Erweiterung der Erzählertypologie: 1. Person Singular & Präteritum nichtfiguraler Erzähler heterothematischer figuraler Erzähler autothematischer figuraler Erzähler

– + +

Autodiegese

– – +

Die Unterscheidung zwischen autothematischem und heterothematischem figuralen Erzähler beschreibt also den Umstand, ob die vermittelnde Instanz dominant ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen zum Gegenstand der Darstellung macht oder diejenigen von anderen Figuren.114 Als weiteres differenzierendes Kriterium tritt nun die stilistische Markierung der Erzählerrede – sei es in Form einer den Erzähler charakterisierenden Abweichung vom Standard beispielsweise durch dialektale, soziolektale oder idiolektale Lexik, durch dialektale Merkmale auf der Ebene der Phonologie und Morphologie oder durch die Repräsentation von Sprachfehlern einerseits oder in Form der Ornamentalistik, die auf kein individuelles Erzählerbewusstsein schließen lässt andererseits – und/oder die semantische Markierung des Erzählers hinzu.115 Für eine Markierung der Erzählerrede sind also die beiden Arten der Markierung jeweils für sich bereits hinreichend, doch treten sie in literarischen Texten nicht selten auch gemeinsam auf.116 Bei der Zuordnung eines Erzäh-

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113 Diese Differenzierung erfasst Stanzel (1985, 263) mit seiner Unterscheidung von autobiographischem und peripherem Ich-Erzähler. 114 Die Einführung des zweiten Merkmals führt im Grunde zur Konstitution von vier Erzählertypen, doch ist die Autodiegese bei einem nichtfiguralen Erzähler (– / +) logisch ausgeschlossen. 115 Was unter der semantischen Markierung des Erzählers genau zu verstehen ist, wird in Kapitel 3 detailliert erläutert. 116 Stanzel (1985, 223) konzeptualisiert dieses Phänomen als Angleichung einer Erzählerfigur an eine Reflektorfigur, die zu einer Personalisierung des Erzählers führe: „Im Zuge der Personalisierung werden einzelne Attribute der Reflektorfigur auf eine Erzählerfigur übertragen: Sie beginnt, genau genommen, bereits dort, wo z. B. ein auktorialer Erzähler erklärt, daß er über einen bestimmten Sachverhalt nicht oder nicht genau Bescheid wisse. Die Personalisierung der Erzählerfigur wird aber erst merkmalhaft, wenn weitere und auffälligere Attribute einer Reflektorfigur an einer Erzählerfigur zu beobachten sind: präliminarloser Erzähleinsatz, Übernahme der Wahrnehmungsweise und Wertungen von Charakteren, Angleichung der Erzählersprache an die Figurensprache, Assoziationsstrukturen u. ä.“ Nun führen diese Signale zwar in der Tat zu einer Personalisierung des Erzählers im Sinne seiner Individualisierung, doch gilt es, diesen Umstand gerade nicht anhand der Unterscheidung von Erzähler- und Reflektormodus zu beschreiben, da auch in den von

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lers zu einem der markierten Typen ist deshalb stets die konkrete Art und Weise der Markierung anzugeben. Schematisch lässt sich diese Typologie dann folgendermaßen darstellen: 1. Person Singular & Präteritum

Autodiegese

stilistische und / oder semantische Markierung

unmarkierter nichtfiguraler Erzähler







markierter nichtfiguraler Erzähler





+

unmarkierter heterothematischer figuraler Erzähler

+





markierter heterothematischer figuraler Erzähler

+



+

unmarkierter autothematischer figuraler Erzähler

+

+



markierter autothematischer figuraler Erzähler

+

+

+

Vor einer kurzen Erläuterung der einzelnen Erzählertypen anhand entsprechender Beispieltexte gilt es noch auf zwei Dinge hinzuweisen: 1. Die Kombination der Merkmale erlaubt im Prinzip die Konstitution zweier weiterer Erzählertypen in den Folgen a) – / + / – und b) – / + / +.

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Stanzel genannten Fällen die Narratorialität voll gewahrt ist und eben keine Vermischung der Vermittlungsformen vorliegt, die allererst eine Mittelposition zwischen Erzähler- und Reflektormodus rechtfertigen würde, die Stanzel hier postuliert. Das Problem bei Stanzel ist also dasselbe wie bei Doležel, dass nämlich zwei Typologien miteinander vermischt werden, wie bereits Schmid (2008a, 94) konstatiert hat. Und ebenso wie Doležel geht ja auch Stanzel von derselben unplausiblen Annahme aus, nämlich der Setzung, dass ein auktorialer Er-Erzähler stilistisch und semantisch grundsätzlich unmarkiert sei. Hier wie dort wird also die fehlende Markierung zur Norm erhoben. Die literarische Praxis hingegen belegt, dass Er- und Ich-Erzähler ebenso markiert wie auch unmarkiert sein können, ohne dass dadurch im einem wie im anderen Falle das Kriterium des Modus tangiert wird. Da Doležel und Stanzel also zwei Typologien miteinander verknüpfen, erfüllen ihre Modelle gerade jene Grundanforderung nicht, die Schmid (2008a, 84) völlig zu Recht für eine Erzählertypologie aufgestellt hat: „Als ein Schema, das lediglich heuristische Bedeutung haben kann, muss eine Typologie des Erzählers einfach sein und darf nur elementare Kriterien zugrunde legen, ohne ein erschöpfendes Bild des zu modellierenden Phänomens anzustreben.“ Neben dem häufigen gemeinsamen Auftreten der beiden Markierungen, ist es deshalb auch ein Gebot der Pragmatik, in der hier vorgeschlagenen Typologie beide zusammenzufassen, da sonst 12 Erzählertypen konstituiert würden. Eine solche Typologie wäre weder übersichtlich noch von der Nomenklatur her handhabbar.

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Allerdings sind diese beiden Typen logisch ausgeschlossen, da sie jeweils zwei unvereinbare Merkmale miteinender verbinden, nämlich die Stellung des Erzählers außerhalb der dargestellten Welt (nichtfigural) und die Autodiegese. 2. Aus den bisherigen Ausführungen dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass sich diese Typologie im Sinne eines Modells als ein heuristisches Instrument versteht, das zum einen natürlich keinen Anspruch auf Absolutheit erhebt, sondern seine Plausibilität und Relevanz in der analytischen Praxis zu erweisen hat. Zum anderen repräsentieren in diesem Sinne die vorgeschlagenen Typen keine Reinformen, vielmehr stellen sie lediglich den Versuch dar, das komplexe Phänomen des Erzählers in der Literatur einer gewissen Ordnung zuzuführen, wobei es im Hinblick auf die Merkmale der Autodiegese und der stilistischen und/oder semantischen Markierung bei der konkreten Analyse lediglich um dominante Tendenzen gehen kann. Aufgrund dieser relativen Ausprägung der stilistischen und semantischen Markiertheit ist es deshalb auch nicht auszuschließen, dass in der Analysepraxis Zuordnungsprobleme auftreten können. Allerdings ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Text mit einer bestimmten kommunikativen Absicht und auf der Basis einer ebenso bestimmten ästhetischen Zielsetzung verfasst wird, so dass die Gestaltung der Erzählinstanz in der Regel relativ eindeutig ausfallen wird. Zum Abschluss dieser Überlegungen seien die einzelnen Erzählertypen kurz erläutert. Da das Merkmal der semantischen Markierung erst im nächsten Kapitel ausführlich erörtert wird, werden hierfür nur solche Texte herangezogen, die eine stilistische Markierung aufweisen: a) der unmarkierte nichtfigurale Erzähler Bei diesem Typus steht der Erzähler außerhalb der von ihm entworfenen Welt und zudem ist seine Rede weder stilistisch noch semantisch markiert, so dass der Leser gleichsam einen ungehinderten Blick auf die dargestellten Ereignisse und Figuren hat, die somit allein im Zentrum des Interesses stehen. Als Beispiel hierfür mag die Erzählung Tri smerti (Drei Tode) von Lev N. Tolstoj aus dem Jahr 1859 stehen, in der der Tod eines Kutschers, einer Gutsbesitzerin und schließlich der eines Baumes geschildert werden. Da auch der bereits durch die allokutionalen und expressiven Merkmale indizierte Erzählermodus weitestgehend im Impliziten verbleibt,117 wird die Aufmerksamkeit des Lesers für das im

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117 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die zweimalige Verwendung dreier Punkte, die ein Verstummen des Erzählers signalisieren (57 und 60), sowie die einmalige Markierung der Satzbetonung durch die Kursivierung des Wortes „umeret’ (sterben)“ (57), doch sind diese Verfahren weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht geeignet, das Redeereignis dauerhaft ins Bewusstsein des Rezipienten zu heben. Vergleichbares gilt

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Text gestaltete Tabuthema des Todes und für den unterschiedlichen Umgang der Figuren mit ihm in keiner Weise beeinträchtigt. Wenn also einerseits, wie es bei Tolstoj die Regel ist, die Stilebene des Erzählers als vollkommen neutral zu qualifizieren ist, müssen andererseits doch bereits hier zwei semantische Phänomene angesprochen werden, die eine Zuordnung von Tri smerti zum Typus des unmarkierten nichtfiguralen Erzählers infrage zu stellen scheinen. Dabei geht es zum einen um die bisweilen festzustellende Verwendung qualifizierender Adjektive in der Erzählerrede, konkret das zweimal gebrauchte „prekrasnyj (herrlich)“ (54) in Bezug auf die Augenfarbe der Gutsbesitzerin sowie das ebenfalls zweimal gebrauchte „krasivyj (schön)“ (53 und 54) in Bezug auf deren Gesichtszüge und Hände. Zweifellos liegen hier also Werturteile vor, die aber, und das ist das Entscheidende, durchaus nicht auf eine idiosynkratische Sichtweise des Erzählers zurückverweisen, die sich schon allein deshalb nicht konstatieren lässt, da die von ihm geäußerten Werturteile weder im Text dementiert werden noch vom Leser überprüft werden können. Die qualifizierenden Adjektive haben hier somit nicht die Funktion, den Erzähler indirekt zu charakterisieren, sondern sollen lediglich eine Vorstellung von Schönheit evozieren, so unterschiedlich diese beim konkreten Rezipienten auch ausfallen mag. Es erweist sich mithin, dass qualifizierende Adjektive nicht grundsätzlich als Ausweis einer subjektiven Semantik zu gelten haben und dass sie deshalb auch problemlos in der Rede eines unmarkierten nichtfiguralen Erzählers verwendet werden können.118 Ähnlich verhält es sich, zum anderen, mit der Anthropomorphisierung der Natur am Ende des Textes. Wenn dort die Blätter eines Baumes zu flüstern beginnen (64) bzw. freudig und still flüstern (65) oder ein Baum unter den Schlägen der Axt erschrocken schwankt (64), dann ist hierin ein spätestens seit der Romantik konventionalisiertes literarisches Verfahren zu sehen, welches zwar möglicherweise als eine punktuelle Poetisierung der Erzählerrede wahrgenommen wird, keinesfalls aber den Erzähler selbst in das Bewusstsein des Lesers hebt. Die Rede von einer subjektiven Semantik bedarf daher einer eigenen theoretischen Fundierung, die im nächsten Kapitel noch zu leisten sein wird.

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auch für die einmalige Verwendung einer rhetorischen Frage („No pominala ona chot’ teper’ velikie slova ėti? [Aber verstand sie wenigstens jetzt diese bedeutenden Worte?]“ (63)), die zudem insofern relativ unauffällig wirkt als sie der impliziten Kommentierung des Geschehens dient und nicht etwa des Erzählvorgangs selbst. Die Seitenzahlen beziehen sich auf Tolstoj (1935). 118 Eine vergleichbare Argumentation hinsichtlich der qualifizierenden Adjektive findet sich bereits bei Gerald Prince (1982, 11f.).

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b) der markierte nichtfigurale Erzähler Ebenso wie der unmarkierte nichtfigurale Erzähler steht auch dieser Typ außerhalb der von ihm dargestellten Welt, doch ist seine Rede im Gegensatz zu jenem durch eine entsprechende sprachliche Gestaltung in besonderer Weise hervorgehoben. Dass hierbei die allokutionalen und expressiven Merkmale allein noch keine distinktive Funktion haben, ist im Gang der Argumentation bereits mehrfach deutlich geworden. Zwar sind diese durchaus geeignet, das Redeereignis vom dargestellten Geschehen abzuheben und es auf diese Weise ins Bewusstsein des Rezipienten zu heben, doch verleihen sie ihm dadurch noch keine spezifische Qualität. Deshalb zählt der Erzähler von Gogol’s Šinel’ nicht schon wegen der gehäuften Verwendung von Partikeln, Schaltwörtern und Ellipsen sowie von rhetorischen Fragen, Parenthesen, Digressionen und gelegentlichen Anreden des fiktiven Adressaten zu diesem Typus, sondern erst deshalb, weil – wie es bereits Ėjchenbaum beschrieben hat – der daraus resultierende Ton naiver Plauderei durchsetzt ist mit Passagen melodramatischer Deklamation. Erst diese Kombination des explizit gemachten Erzählermodus mit einer zweiten Stilebene lässt es also gerechtfertigt erscheinen, hier von einem markierten nichtfiguralen Erzähler zu sprechen, wobei diese Markierung nun aber nicht zu einer Individualisierung des Erzählers in charakterologischer Hinsicht führt, weshalb Schmid in diesem Zusammenhang von einem ornamentalen skaz spricht, der auf kein spezifiziertes Erzählerbewusstsein schließen lasse. Eine solche Spezifizierung kommt vielmehr erst durch die Verwendung einer dialektalen, soziolektalen oder idiolektalen Lexik zustande, die in Šinel’ gerade nicht vorzufinden ist, sieht man von der ungewöhnlichen Häufung des Lexems daže einmal ab, die aber eben keine charakterologische Individualisierung bewirkt. Anders gelagert ist der Fall hingegen in Leskovs Levša aus dem Jahr 1881, wo allokutionale Merkmale gänzlich fehlen und die expressiven relativ sparsam verwendet werden, so dass der Erzählermodus nicht allzu stark hervorgehoben ist.119 So führt denn auch hier nicht die Kombination zweier Stilschichten zu einer Markierung des Redeereignisses, sondern die Lexik, die zu einer Personalisierung des Erzählers genutzt wird, ohne dass dieser selbst Teil des von ihm dargestellten Geschehens wäre. Diese Lexik ist im Wesentlichen nicht als dialektal oder soziolektal zu charakterisieren, sondern als ideolektal, da es sich einerseits um

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119 Am auffälligsten sind in dieser Hinsicht noch die bereits aus Šinel’ bekannte sporadische Verwendung des Personalpronomens in der ersten Person Plural (26, 30, 31, 47, 48, 51, 54), der vereinzelte Gebrauch von Schaltwörtern (33, 44f.) und Kursivierungen (36) sowie zwei längere Erzählerräsonnements (36f., 58f.). Die Seitenzahlen beziehen sich auf Leskov (1958).

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Verballhornungen von Fremdwörtern handelt (z. B. „valdachin“ statt „baldachin“, 27; „verojacija“ statt „variacija“, 31 oder „simfon“ statt „sifon“, 49) und andererseits um Neologismen, die aus einer volksetymologisch zu deutenden Kombination zweier Lexeme rühren (z. B. „buremetr“ aus „barometr“ und „burja [Sturm]“, 27; „melkoskop“ aus „mikroskop“ und „melko- [klein-]“, 31 oder „studing“ aus „puding“ und „studen’ [Sülze]“, 48). Die Liste der Beispiele, die sich über den ganzen Text verstreut finden und auf diese Weise den ideolektalen Sprachgebrauch des Erzählers im Bewusstsein des Rezipienten wach halten, ließe sich noch beträchtlich verlängern.120 Sie alle verweisen auf die Halbbildung des Erzählers, die – vor dem Hintergrund der Thematik der Erzählung, nämlich der Frage nach dem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung in Russland im Vergleich zu England – umso auffälliger wirkt. Der Erzähler erweist sich seinem gleichsam hohen Thema also bereits sprachlich nicht gewachsen, wodurch der Text, ebenso wie durch den phantastisch anmutenden Gegenstand des Vergleichs – die Kunst des Schmiedens im Miniaturbereich, realisiert in einem von den Engländern angefertigten stählernen Floh, den die russischen Schmiede zusätzlich noch mit Hufeisen ausstatten –, trotz der Repräsentation historischer Persönlichkeiten wie etwa der Zaren Aleksandr I. und Nikolaj I. deutlich allegorische Züge erhält. Unter dem Aspekt der reinen Ornamentalistik wären zu diesem Typus schließlich beispielsweise auch die „Symphonien“ Andrej Belyjs zu rechnen. c) der unmarkierte heterothematische figurale Erzähler Dieser Typus ist mit dem unmarkierten nichtfiguralen Erzähler insofern vergleichbar, als er ebenso wie dieser stilistisch und semantisch unauffällig gestaltet und der Vermittlungsvorgang in dieser Hinsicht dementsprechend transparent ist. Im Gegensatz zu jenem ist der Erzähler hier aber Teil der dargestellten Welt, d. h. er ist als Figur im Text direkt greifbar. Eine solche Figur kann nun aber am Geschehen in unterschiedlichem Maße beteiligt sein, wie bereits Genette (1998, 175) bei der Unterscheidung von hetero- und homodiegetischem Erzähler konstatiert hat: „Die Abwesenheit ist absolut, die Anwesenheit hat ihre Grade.“ In diesem Sinne sind der heterothematische und der autothematische figurale Erzähler als die beiden Pole einer Skala zu verstehen, auf der der jeweilige Erzähler in Relation zu anderen eingeordnet werden muss. Der heterothematische figurale Erzähler als eines der beiden Extreme zeich-

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120 Eine detaillierte Analyse der stilistischen Markierung der Erzählerrede in Levša findet sich bei Hodel (1994, 71ff.).

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net sich nun gerade dadurch aus, dass er dominant nicht über sich selbst, sondern über die anderen Figuren berichtet. Ein Beispiel für diesen Typ ist der Erzähler in Ivan Turgenevs Erzählung Kas’jan s Krasivoj Meči (Kas’jan aus Krasivaja Meč’), die aus dem Zyklus Zapiski ochotnika stammt und 1851 publiziert wurde.121 Ihre Fabel lässt sich folgendermaßen umreißen: Bei der Rückkehr von der Jagd hat die Kutsche des namenlosen figuralen Erzählers einen Achsbruch, so dass er und sein Kutscher Erofej gezwungen sind, Ersatz zu beschaffen. Dabei treffen sie in der Siedlung Judiny auf einen wunderlichen, etwa fünfzigjährigen Mann von kleinem Wuchs namens Kas’jan, mit dessen Hilfe ihnen dies auch gelingt, so dass sie die Heimreise fortsetzen können. Im Zentrum des Geschehens stehen nun aber nicht die Schwierigkeiten bei der Behebung des Schadens, die sich sogar als relativ unproblematisch erweist. Stattdessen bildet diese Handlung in erster Linie den Rahmen für die Begegnung mit Kas’jan, der, wie es der Titel des Textes bereits indiziert, als zentrale Figur anzusehen ist. Der figurale Erzähler ist also an der gesamten Handlung zwar direkt beteiligt und berichtet insofern durchaus von seinen eigenen Erlebnissen, die aber gerade dazu dienen, die Figur Kas’jans zu porträtieren. Dies geschieht überwiegend indirekt, d. h. im Dialog des erlebenden Ich mit Kas’jan selbst, und nur teilweise direkt in den Aussagen Erofejs über Kas’jan. Der figurale Erzähler beschränkt sich dabei weitgehend auf die Rolle eines Fragestellers, der die in den Antworten enthaltenen Informationen zwar registriert, aber nicht reflektiert oder gar kommentiert. Auf diese Weise entsteht vor dem Leser das Bild der Titelfigur, eines Sektierers, der sich gemäß seiner religiösen Überzeugungen den gängigen gesellschaftlichen Konventionen entzieht, ganz unmittelbar. Andererseits ist der Erzählermodus in Kas’jan s Krasivoj Meči durch allokutionale, v. a. aber durch expressive Merkmale relativ explizit. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang acht Parenthesen, von denen die meisten aber insofern recht unauffällig sind, als die Klammern lediglich die Erzählerrede innerhalb der Figurenrede absetzen und sich die Proposition der Einschübe auf das Geschehen selbst bezieht und nicht etwa auf das Redeereignis (119, 130, 131, 132).122 Ferner finden sich über den gesamten Text verteilt die drei Punkte als Auslassungszeichen, das ein Verstummen des Erzählers signalisiert, ganz vereinzelt Schaltwörter wie „izvestno [bekanntlich]“ (114), „kak govoritsja [wie man so

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121 Die Gattungsbezeichnung Erzählung scheint hier durchaus gerechtfertigt, da sich Turgenev mit Kas’jan s Krasivoj Meči bereits deutlich von der očerk-Tradition, die noch die früheren Texte der Zapiski ochotnika geprägt hatte, entfernte, wie Jochen-Ulrich Peters (1972, 116–120) gezeigt hat. 122 Die Seitenzahlen beziehen sich auf Turgenev (1963).

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sagt]“ (118, 129) „vpročem [übrigens]“ (122) und „kak govorjat u nas [wie man bei uns sagt]“ (131), ein Ausruf123 sowie eine Anrede des fiktiven Adressaten („Voobrazite sebe karlika [Stellen Sie sich einen Zwerg vor]“) (118).124 Wenn in Turgenevs Text also das Redeereignis des Erzählers auch durchaus betont ist, zeigt sich doch gerade darin die unterschiedliche Qualität der auf den Erzähler zurückverweisenden Signale. Während die stilistischen und semantischen Merkmale eben zu dessen Individualisierung im charakterologischen Sinne führen, bewirken die expressiven und allokutionalen Merkmale lediglich eine scheinbare Lebendigkeit des Erzählvorgangs, ohne dabei den Erzähler individuell näher zu bestimmen. Ganz allgemein gesprochen haben sie also die Funktion, den Erzählvorgang zu authentisieren, indem sie ihm den Anschein der im Zusammenhang mit dem skaz vielbeschworenen Mündlichkeit (im Sinne der razgovornost’) verleihen. Genau dieser Umstand war ja bereits in Karamzins Text Bednaja Liza zu beobachten, der ebenfalls mit einem unmarkierten heterothematischen figuralen Erzähler operiert. d) der markierte heterothematische figurale Erzähler Ebenso wie der unmarkierte heterothematische figurale Erzähler steht auch bei diesem Typus der Erzähler nicht selbst im Mittelpunkt des Geschehens, doch ist er im Text nicht nur durch seinen Status als Figur greifbar, sondern auch durch seine besonders ausgezeichnete Sprache. Ein geradezu klassischer Vertreter dieses Typs ist die Erzählerfigur Foma Grigor’evič aus Gogol’s Zyklus Večera na chutore bliz Dikan’ki, so dass als Beispiel hier die Erzählung Propavšaja gramota (Der verschwundene Brief) aus dem Jahr 1831 dienen kann. Nach einer längeren Reflexion über seine Rolle als Erzähler zu Beginn des Textes berichtet Foma Grigor’evič eine Episode aus dem Leben seines Großvaters. Dieser sollte einmal im Auftrag eines Hetmans der Zarin einen Brief überbringen, der ihm während seiner Reise allerdings vom Teufel entwendet wurde. Erst nachdem er in der Hölle eine Hexe im Kartenspiel besiegt hatte, gelang es ihm, den Brief wieder an sich zu bringen, so dass er seinen Auftrag schließlich doch noch erfüllen konnte. Anders als in Kas’jan s Krasivoj Meči ist der Erzähler hier also kein Augenzeuge des von ihm

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123 „Udivitel’no prijatnoe zanjatie ležat’ na spine v lesu i gljadet’ vverch! [Es ist eine erstaunlich angenehme Beschäftigung, im Wald auf dem Rücken zu liegen und nach oben zu schauen!]“ (124) 124 Auch hierin zeigt sich die Andersartigkeit dieser Erzählung gegenüber den frühen Texten der Zapiski ochotnika, die sich durch die gehäufte Wendung an den fiktiven Adressaten auszeichnen, wie beispielsweise in Ermolaj i mel’ničicha (Ermolaj und die Müllerin). Vgl. hierzu auch Peters (1972, 101f.).

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wiedergegebenen Geschehens, stattdessen ist das Erzählen in diesem Fall durch eine familiäre Überlieferung motiviert. Diese beiden Möglichkeiten, also entweder die Position des Beobachters oder ein wie auch immer gearteter Überlieferungszusammenhang, schaffen allererst die Voraussetzung für das heterothematische Erzählen bei figuralen Erzählern. Erneut ist es nun aber nicht die geradezu überbordende Verwendung allokutionaler und expressiver Merkmale in Propavšaja gramota – von Leseranreden über Parenthesen, Digressionen, rhetorischen Fragen und Exklamationen bis hin zu den drei Punkten, – die es erlauben würde, von einer Markiertheit der Rede Foma Gregor’evičs zu sprechen, da sie, wie schon in Bednaja Liza, im Sinne von Wolfs Sekundärillusion lediglich den Erzählvorgang in actu erscheinen lassen, sondern es sind die Ukrainismen, die entweder Realien bezeichnen, z. B. ukrainische Tänze („gorlica“ und „gopak“, 138) bzw. Kleidungsstücke („svitka“ [ein halblanger Kaftan], 139), oder ohne eine derartige Motivierung im Text auftauchen (z. B. „jatka [Verkaufsstand]“, 137, „ljul’ka [Pfeife]“, 138 oder „peklo [Hölle]“, 141).125 Die exotische Wirkung des Textes, wie der Večera na chutore bliz Dikan’ki insgesamt, geht auf diese Weise nicht allein vom Handlungsraum aus, dem damaligen Kleinrussland, sondern auch von der Sprache des Erzählers selbst, der durch diese Stilisierung darüber hinaus besonders authentisch erscheint, da er bereits sprachlich als Teil der dargestellten Welt ausgewiesen ist.126 e) der unmarkierte autothematische figurale Erzähler Dieser Typus unterscheidet sich vom vorangegangenen in zweierlei Hinsicht. Zum einen steht der Erzähler hier selbst im Zentrum seiner Geschichte und zum anderen weist er keinerlei stilistische oder semantische Signale auf, die ihn näherhin charakterisieren würden. Dieser Typ ist charakteristisch für das erzählerische Frühwerk Ivan Bunins, für das exemplarisch die kurze Liebesgeschichte Osen’ju (Im Herbst) aus dem Jahr 1901 stehen kann. In ihr berichtet ein namenloser figuraler Erzähler von einer Novembernacht, die er gemeinsam mit einer, ebenfalls namenlosen verheirateten Frau verbracht hat. Die Handlung beschränkt sich auf den gemeinsamen Aufbruch der beiden Protagonisten von einer Abendgesellschaft, ihre Fahrt ans Meer und den Austausch erster Zärtlichkeiten. Da das Geschehen in medias res einsetzt und ebenso unvermittelt abbricht, erfährt der Leser ebenso wenig über die Vorgeschichte dieser Begegnung wie über deren Folgen.127 Aufgrund des Fehlens jegli-

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125 Die Seitenzahlen beziehen sich auf Gogol’ (2001). 126 Zur sprachlichen Stilisierung Foma Grigor’evičs im Einzelnen vgl. Thresher (1992, 76ff.). 127 Es wird einerseits lediglich angedeutet, dass sich die Beziehung zwischen den beiden Figuren bereits seit einem Monat entspinnt (249; die Seitenzahlen beziehen sich auf Bunin

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cher Rahmung, die bei diesem Typ freilich keineswegs notwendig ist, konzentriert sich die Schilderung ganz auf die Erlebnisse des figuralen Erzählers, der in sprachlicher Hinsicht völlig merkmallos ist. Ein Beispiel für einen unmarkierten autothematischen figuralen Erzähler mit einer Rahmung wäre Vladimir Petrovič in Turgenevs Pervaja ljubov’. f) der markierte autothematische figurale Erzähler Anders verhält es sich wiederum beim markierten autothematischen figuralen Erzähler, der zwar ebenso wie der unmarkierte selbst im Mittelpunkt seines Berichts steht, der aber zudem eine stilistische und/oder semantische Markierung aufweist. Ein Beispiel für diesen Typ ist der Erzähler aus Michail Zoščenkos Erzählung Aristokratka (Die Aristokratin) aus dem Jahr 1923. In der für Zoščenkos Frühwerk charakteristischen Manier wendet sich hier ein figuraler Erzähler an eine im Text nicht direkt repräsentierte Zuhörerschaft, um sie mit einem Aspekt seiner Weltsicht vertraut zu machen. Im vorliegenden Fall erklärt ein gewisser Grigorij Ivanovič, warum er gegen einen bestimmten Typ von Frau eine Abneigung hegt. Der Text folgt dabei einem Muster, das Hans Günther (1979, 341) für die Erzählungen Zošcenkos aus jener Zeit als charakteristisch ausgemacht hat: Der fiktive Adressat soll anhand eines Exemplums von der Richtigkeit eines Urteils bzw. einer Reflexion des Erzählers überzeugt werden, der mit seiner Erzählung nun aber genau das Gegenteil erreicht. Ursache hierfür ist seine offenkundige Fehldeutung der geschilderten Ereignisse, durch die er seine Naivität bzw. seinen beschränkten Horizont zu erkennen gibt. Die Selbstentlarvung des Erzählers basiert also in erster Linie auf einer falschen Selbsteinschätzung, die sich im konkreten Fall folgendermaßen umreißen lässt: Grigorij Ivanovič, offenbar eine Art Hausmeister mit Parteibuch, gibt den Lebemann, fällt dabei aber immer wieder aus der Rolle, wie nicht zuletzt am Beispiel eines Opernbesuchs veranschaulicht wird, der mit einem Eklat endet. Der Erzähler macht hierfür seine Begleiterin verantwortlich, eben jene „Aristokratin“, die sich in der Pause ungeniert am Buffet bedient. Damit bringt sie Grigorij Ivanovič in finanzielle Schwierigkeiten, die um ein Haar in eine handgreifliche Auseinandersetzung münden. Anders als der Erzähler verhält sich die „Aristokratin“ freilich ihrer Rolle gemäß, indem sie sich als Prostituierte von ihrem Begleiter aushalten lässt. Nicht um diese Selbsteinschätzung und ihre Implikationen soll es hier allerdings gehen, sondern um die stilistische Markierung, die ver-

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1965), und durch die Frage der Frau „A zavtra? [Und morgen?]“ (252) wird andererseits eine Finalspannung erzeugt, die jedoch enttäuscht wird.

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deutlicht, dass Grigorij Ivanovič auf der Ebene der Darstellung seiner Rolle ebenso wenig gerecht zu werden vermag wie auf der Ebene des Dargestellten. Zwar bemüht er sich dezidiert um einen hohen Stil, scheitert aber genau daran, wie die Stilisierung der Erzählerrede signalisiert. Von Anfang bis Ende des Textes ist sie durchsetzt mit Elementen des Substandards (prostorečie), die den Erzähler indirekt charakterisieren. Sie finden sich auf der morphologischen Ebene („vo rte“ statt „vo rtu [im Mund]“, 23) ebenso wie auf der lexikalischen („frja [bedeutende Person]“, 21; „až [sogar]“, 22; „roža [Visage]“, 24; „barachlo [Kram]“, 24 u. a. m.).128 Hinzu kommt die inadäquate Verwendung von Fremdwörtern, wie das folgende Beispiel belegt: A chozjain deržitsja indifferentno – pered rožej rukami krutit. (24) Und der Wirt verhält sich indifferent – er fuchtelt mit seinen Händen vor meiner Visage herum.

Eine derartige Gestik, die wohl sogar als nonverbale Drohung aufgefasst werden muss, ist zweifellos alles andere als indifferent. Bereits die stilistische Markierung signalisiert somit die Halbbildung des figuralen Erzählers.129 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch hinzugefügt, dass auch der Erzähler in Dostoevskijs Krotkaja zu diesem Typus zählt, auch wenn er nicht in vergleichbarer Weise stilistisch markiert ist wie der Erzähler in Aristokratka, aber eben doch semantisch, worauf im nächsten Kapitel noch näher einzugehen sein wird. Betrachtet man diese Erzählertypologie nun unter einem funktionalen Gesichtspunkt, so beschreibt sie – ganz allgemein gesprochen –, ausgehend vom unmarkierten nichtfiguralen Erzähler, eine Authentisierung des Erzählens, die auf zweierlei Arten vor sich geht: 1. Die Funktion des Erzählens wird einer der handelnden Figuren anvertraut. Auf diese Weise wird das Geschehen nicht mehr durch eine anonyme Instanz präsentiert, sondern durch einen individualisierten Handlungsträger, der in die Handlung mehr oder minder stark involviert ist und somit für den Leser konkrete Züge annimmt. Er verbürgt sich für das Erzählte entweder durch seinen Status als dessen Augenzeuge bzw. als autorisierter Gewährsmann im Rahmen eines bestimmten Überlieferungszusammenhangs (unmarkierter heterothematischer figuraler Erzähler) oder dadurch, dass er das berichtete Geschehen selbst erlebt hat (unmarkierter autothematischer figuraler Erzähler).

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128 Die Seitenzahlen beziehen sich auf Zoščenko (1994). 129 Ausführlich zu den stilistischen Merkmalen der Erzählerrede in Aristokratka vgl. Loskutnikova (2002, 67f.).

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2. Durch die stilistische und/oder semantische Markierung seiner Rede wird der Erzähler im Sinne der emotiven Sprachfunktion indirekt charakterisiert, so dass er für den Rezipienten anhand seiner Sprache als Individuum greifbar wird, ohne doch selbst an der Handlung beteiligt zu sein (markierter nichtfiguraler Erzähler). Schließlich können auch beide Formen der Authentisierung miteinander kombiniert werden (markierter hetero- und autothematischer figuraler Erzähler). Zu guter Letzt kann auch dann von einer Authentisierung des Erzählens gesprochen werden, wenn der Erzählvorgang selbst im Sinne einer Sekundärillusion mitvertextet wird. Als besonders geeignet hierfür erweisen sich die allokutionalen und expressiven Verfahren, die das Redeereignis als solches gegenwärtig erscheinen lassen, das dargestellte Geschehen hingegen als dezidiert vergangen, so dass, mit Stanzel gesprochen, in solchen Fällen der Erzählermodus explizit gemacht wird. Abschließend sei noch einmal ausdrücklich betont, dass es gerade diese Verfahren sind, die in nicht als schriftlich ausgewiesenen Vermittlungsformen wie Brief, Tagebuch, Aufzeichnung usw. für den Eindruck von Mündlichkeit im Sinne der razgovornost’ verantwortlich sind und deshalb im Zusammenhang mit dem skaz eine so große Verwirrung gestiftet haben. Unter dem Aspekt einer stilistischen Markierung hingegen sind sie als neutral zu bewerten, so dass sie bei allen der sechs Erzählertypen auftreten können.130 Anhand der allokutionalen und der expressiven Merkmale lassen sich bei den sechs verschiedenen Erzählertypen deshalb – unter Rückgriff auf einen Terminus von Doležel – jeweils noch eine rhetorische und eine nichtrhetorische Variante unterscheiden. In diesem Sinne handelt es sich dann, um nur ein Beispiel anzuführen, bei Foma Grigor’evič aus Gogol’s Erzählung Propavšaja gramota um einen stilistisch markierten heterothematischen figuralen Erzähler mit starker rhetorischer Ausprägung. Auch wenn eine solche Bestimmung ein wenig umständlich anmuten mag, so ist es doch gerade diese Umständlichkeit, die eine präzise Beschreibung der vermittelnden Instanz in Gogol’s Erzählung allererst ermöglicht. Und es handelt sich dabei um eben jene Präzision, die dem skaz-Begriff zwangsläufig fehlen muss, da der Komplexität des zu erfassenden Phänomens ein einzelner Terminus allein nicht gerecht werden kann.

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130 Die Mitvertextung des Redeereignisses bei autothematischen figuralen Erzählern wirft natürlich in besonderer Weise die Frage nach der Relation zwischen erlebendem und erzählendem Ich auf, auf die im Rahmen der hier behandelten Problemstellung allerdings nicht näher eingegangen werden muss. Zu dieser Frage vgl. Lange (2003, 42–56).

3 Zur Theorie von unreliable narration Im vorangehenden Kapitel wurde der Nachweis geführt, dass der skazBegriff für eine Beschreibung des Erzählers nicht zielführend ist. An seiner Stelle wurden deshalb im Rahmen einer allgemeinen Typologie des Erzählers die Begriffe der stilistischen und der semantischen Markierung eingeführt, die eine adäquatere Charakterisierung der vermittelnden Instanz erlauben. Um diese beiden Kategorien für die Analysepraxis operationalisierbar zu machen, bedürfen sie natürlich ihrerseits einer theoretischen Fundierung. Voraussetzung hierfür ist ihre Definition unter Angabe einer Norm, auf deren Folie überhaupt erst von einer Markierung gesprochen werden kann. Im Hinblick auf den Stil scheint die Sache relativ unproblematisch zu sein, kann hierbei doch auf die Ergebnisse der Grammatik, der Lexikologie und der Stilistik zurückgegriffen werden, auf deren Grundlage die Selektion und Kombination sprachlicher Einheiten auf phonetischer, morphologischer, syntaktischer und nicht zuletzt lexikalischer Ebene vor dem Hintergrund des sprachlichen Standards – verstanden als historisch wandelbare Norm – präzise beschrieben werden kann. Komplizierter stellt sich hingegen die Situation in Bezug auf die semantische Markierung dar. Zwar finden sich bereits im Rahmen einzelner skaz-Theorien oder auch in Doležels Typologie Ansätze zu deren Konzeptualisierung (beschränkter geistiger Horizont des Erzählers, idiosynkratische Werturteile, subjektive Semantik etc.), doch kann von einer tragfähigen Definition in all diesen Fällen noch keine Rede sein. Im Bereich der Anglistik/Amerikanistik wird hingegen bereits seit längerer Zeit an einer solchen Definition gearbeitet, und zwar anhand des Konzepts von unreliable narration, welches es deshalb an dieser Stelle aufzugreifen gilt. Da dieses Konzept von Wayne C. Booth erst 1961 in die Literaturwissenschaft eingeführt wurde, ist die Geschichte seiner Erforschung im Vergleich zu der des skaz relativ kurz. Folgt man den diversen Forschungsüberblicken, so lassen sich in ihrem Rahmen aber zwei scheinbar deutlich voneinander abzugrenzende Ansätze unterscheiden: eine gemeinhin als rhetorisch bezeichnete Traditionslinie, die auf Booth selbst zurückgeht und der u. a. Seymour Chatman und Shlomith Rimmon-Kenan folgen. Ihr gegenüber steht eine Position, die sich an den Kognitionswissenschaften orientiert und die u. a. von Tamar Yacobi so-

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wie von Ansgar Nünning und seinen Adepten vertreten wird.1 Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Richtungen besteht darin, dass der rhetorisch genannte Ansatz in erster Linie das Verhältnis der Erzählinstanz zum implied author im Blick hat, während die „Kognitivisten“ ihr Augenmerk v. a. auf die Relation zwischen dem Erzähler und dem konkreten Leser richten. Allerdings wird in Arbeiten aus jüngster Zeit vermehrt darauf hingewiesen, dass die Unterschiede zwischen beiden Positionen nicht so groß sind, wie es die „Kognitivisten“ gerne glauben machen wollen. So konstatiert etwa Greta Olson (2003, 93): „Nünning […] overstates his case and ignores the structural similarities between his and Booth’s models.“2 Auch Dan Shen (Paragraph 24) betont die Vereinbarkeit beider Ansätze: „Significantly, one can take a cognitive approach to unreliability without dropping the rhetorical yardstick.“ Zu dieser Einsicht ist mittlerweile auch Ansgar Nünning selbst gekommen, wie bereits der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 2008 signalisiert: „Reconceptualizing the Theory, History and Generic Scope of Unreliable Narration: Towards a Synthesis of Cognitive and Rhetorical Approaches“ (A. Nünning 2008).3 Angesichts des Umstandes, dass die beiden Ansätze also gar nicht so weit auseinander liegen, sowie der Vielzahl von Arbeiten, die in den letzten Jahren zu diesem Thema publiziert wurden,4 ist es umso befremdlicher, dass der einzige Konsens, der im Hinblick auf das Konzept von unreliable narration zu bestehen scheint, derjenige ist, dass es keinen Konsens gibt. So konstatiert etwa Theresa Heyd: While it is hardly surprising that any account of unreliability would be tinged by the respective scholar’s theoretical credo and background, this history of the concept has left many with the feeling that this decade-old debate has provided open questions rather than a consensus, much less a succinct description of how

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Vgl. dazu beispielsweise Dan Shen (Paragraphen 6–23). Zu einer vergleichbaren Einschätzung gelangt auch Theresa Heyd (2006, 218), die zudem völlig zu Recht darauf hinweist, dass der Rekurs auf die Kognitionstheorie zwar den rhetorischen Anschluss an eine methodische Mode in den Geisteswissenschaften gewährleistet, gleichzeitig aber zu einem dubiosen Relativismus in der Literaturwissenschaft führt. Die hier und andernorts (A. Nünning 2005) von Nünning vorgeschlagene Synthese der beiden Ansätze stellt einen Versuch dar, jene Paradoxien zu eliminieren, die Olson (2003, 97) in Nünnings früherer Position ausgemacht hat. Umso bedauerlicher ist es, dass der von Nünning (1998a) herausgegebene Sammelband in der 2. Auflage aus dem Jahr 2013 unverändert geblieben ist, so dass einzelne der darin vertretenen Positionen längst nicht mehr den neuesten Stand der Forschung repräsentieren. Unter anderem auch aus diesem Grund wird auf die Paradoxien in Nünnings Ansatz weiter unten im Teilkapitel 3.3 noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein. Exemplarisch genannt seien hier lediglich die Monographien von Gaby Allrath (2005), Tom Kindt (2008), Kristian Larsson (2011) und Gislind Rohwer-Happe (2011) sowie der von Elke D’hoker und Gunther Martens (2008) herausgegebene Sammelband und ein Themenheft des Journal of Literary Theory (2011/1).

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to recognize, analyze and model unreliability in literary narrative. (Heyd 2011, 3)

Und Tom Kindt und Tilmann Köppe stellen, um lediglich ein weiteres Beispiel anzuführen, in vergleichbarer Weise fest: As becomes manifest in a series of papers, monographs, and anthologies, the concept of unreliable narration has, since the late 1990s, turned from a marginal into a central issue of narratological debate. However, this increase of scholarly attention has not settled conceptual questions. On the contrary: after a decade of reconsideration, the concept of unreliable narration seems to be more in need of clarification than ever before. (Kindt/Köppe 2011, 1)

Seit Nünnings in der Einleitung zu dieser Arbeit zitierter Klage über den Forschungsstand zu unreliable narration aus dem Jahr 1998 (vgl. oben, S. 5) hat sich also offenbar trotz größter Anstrengungen wenig geändert. Will man für diese, gelinde gesagt, unbefriedigende Situation nicht die an der Debatte beteiligten Forscher verantwortlich machen,5 so liegt es nahe, das Problem in dem debattierten Konzept selbst zu suchen. Genau darum wird es in diesem Kapitel zunächst gehen. Aus den bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass es keinen Sinn hat, sich dabei an der Fülle der Forschungsliteratur abzuarbeiten, weshalb sich dieses Kapitel auch deutlich von demjenigen zum skaz unterscheidet. Nicht zuletzt anhand der Analyse literarischer Texte selbst, deren Erzähler traditionell unter das Verdikt der unreliability fallen, sollen vielmehr drei Fragenkomplexe diskutiert werden, hinsichtlich derer in der Forschung ein mehr oder minder großer Dissens besteht: 1. Auf welche vermittelnden Instanzen lässt sich das Konzept unreliable narration sinnvoll anwenden? Auch wenn es den Anschein haben mag, dass diese Frage unter Verweis auf die Instanz des Erzählers leicht zu beantworten sei, so besteht in der Forschung doch keineswegs ein Konsens dahingehend, welche Formen der Vermittlung mit diesem Konzept näher zu beschreiben sind. 2. Was eigentlich ist unter unreliable narration genau zu verstehen? Bereits bei Booth (1961, 159) ist angedeutet, dass dieses Phänomen eine gewisse Bandbreite aufweist, wenn er ausführt, dass sich ein Erzähler in durchaus unterschiedlichen Richtungen von den Nor-

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Freilich ist es bedauerlich, dass ein ausgewiesener Narratologe wie Ansgar Nünning (u. a. 1998, 1999, 2005, 2007 [zusammen mit V. Nünning] und 2008) seit nunmehr 15 Jahren in einer Vielzahl von Aufsätzen, die nicht selten äußerst redundant sind, im Tentativen verbleibt und immer wieder dieselben Forschungsdesiderate formuliert, anstatt selbst zu deren Erfüllung beizutragen. Wenig hilfreich ist auch die Verknüpfung des ungeklärten Konzepts unreliable narration mit anderen Analysekategorien, wie man sie etwa bei Claudia Hillebrandt (2011) und Tobias Klauk (2011) findet, da damit das Forschungsfeld ausgeweitet wird, statt zur Klärung der eigentlichen Probleme beizutragen.

Zur Theorie von unreliable narration

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men des abstrakten Autors entfernen könne. Dieser Umstand findet seinen Niederschlag u. a. auch in der deutschen Übersetzung des englischen Begriffs, wenn Renate Hof (1984, 55) beispielsweise vorschlägt, zwischen einem unglaubwürdigen und einem unzuverlässigen Erzähler zu differenzieren, eine Unterscheidung, die sich in der deutschsprachigen Forschung mittlerweile auch weitgehend etabliert hat.6 In unmittelbarem Zusammenhang damit ist ferner die Frage nach den Textsignalen der unterschiedlichen Ausprägungen von unreliable narration aufgeworfen. 3. Worin ist der Maßstab zu sehen, der eine Zuweisung von Unglaubwürdigkeit bzw. von Unzuverlässigkeit plausibel erscheinen lässt? Ansgar Nünning (1999) hat dieses Problem auf den Punkt gebracht, wenn er als Titel für einen einschlägigen Aufsatz zum Thema die Frage wählt „Unreliable, compared to what?“ Letztlich geht es hierbei darum, was unter den Normen eines Werkes bzw. des implied author (Booth 1961, 158) zu verstehen ist und welche Rolle der konkrete Rezipient in diesem Zusammenhang spielt. Diese Fragen sind bis heute nicht beantwortet und, so die These, lassen sich aufgrund der mangelnden Spezifik des Konzepts unreliable narration auch gar nicht schlüssig beantworten. Im Anschluss an die Diskussion der drei Fragenkomplexe wird deshalb als Lösungsvorschlag die Kategorie der semantischen Markierung eingeführt, die es im Sinne eines differenzierten Form-Funktions-Gefüges operationalisierbar zu machen gilt.

3.1 Das Problem der Instanz In der Forschung ist, wie bereits angedeutet, bis heute die Frage umstritten, auf welche Formen der Vermittlung in Erzähltexten das Konzept des unreliable narrator sinnvoll angewendet werden kann. Vor der Erörterung dieses Problems soll zunächst aber einem Hinweis nachgegangen werden, den Ansgar Nünning (1998c, 36) lediglich en passant in einer Fußnote gibt. Dieser Hinweis ist dennoch von grundsätzlicher Bedeutung, da er als Symptom dafür verstanden werden kann, dass die Literaturwissenschaft unter dem Signum der Kulturwissenschaften „nicht mehr nur als Kolonialgebiet von Nachbardisziplinen besetzt [wird], sondern [...] selbst als Kolonialmacht [auftritt], die ihre Analysemethoden

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Im englischen Sprachraum hat dann u. a. Dorrit Cohn (2000) für eine terminologische Differenzierung plädiert und hierfür den Begriff discordant narration vorgeschlagen, der in etwa dem unglaubwürdigen Erzählen entspricht. Olson (2003) hingegen unterscheidet zwischen fallible und untrustworthy narrators.

Das Problem der Instanz

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und hermeneutischen Praktiken den Textwissenschaften allgemein anempfiehlt.“ (Ebert 2004, 81f.) Nünning glaubt nämlich, dass das Konzept unreliable narration auch für andere Geistes- sowie für die Sozialwissenschaften von Interesse sein könne, wobei er im konkreten Fall v. a. die Geschichtswissenschaft im Blick hat. Er bezieht sich hierbei u. a. auf Überlegungen, die der Historiker Jörn Rüsen (1983, 76–84) bezüglich des Geltungsanspruchs der akademischen Geschichtsschreibung angestellt hat. In der Tat verwendet Rüsen dabei auch die Kategorie der Glaubwürdigkeit und bringt im Zusammenhang damit die Wirkungsmacht von Werten und Normen ins Spiel, so dass dem ersten Anschein nach eine Analogie zur Definition des literarischen Phänomens bei Booth durchaus nahe liegen mag. Gerade deshalb scheint eine eingehendere Diskussion von Rüsens Ausführungen geboten. Für Rüsen liegt es auf der Hand, dass kein historiographisches Werk per se einen Geltungsanspruch für sich reklamieren kann, sondern diesen jeweils allererst begründen muss. Für die Geschichtswissenschaft, und nur um diese spezielle Form der Geschichtsschreibung geht es im Folgenden, leite sich eine solche Begründung aus ihrer Spezifik ab, die nach Rüsen darin besteht, dass sie unter Bezugnahme auf Normen und Werte der Gegenwart historische Erfahrung in narrativer Form als identitätsstiftendes und damit handlungsleitendes Sinngeschehen präsentiere. Ausgehend von dieser Bestimmung erwachse die Plausibilität einer historiographischen Darstellung und damit ihre Überzeugungskraft aus drei unterschiedlichen Komponenten: Gründe für die Glaubwürdigkeit von Geschichten werden gegeben im Rückgang auf (1) die Erfahrungen, die ihrem Tatsachengehalt zugrunde liegen, (2) auf die Normen und Werte, die ihrem Bedeutungsgehalt zugrunde liegen und schließlich (3) die Sinnbestimmungen, nach denen ihr Erfahrungs- und ihr Bedeutungsgehalt zur Einheit einer identitätsbildenden Kontinuitätsvorstellung vermittelt werden. (Rüsen 1983, 82)

Bei der ersten Komponente geht es darum, dass historiographische Darstellungen nur dann zu überzeugen vermögen, wenn sie den Nachweis erbringen, dass sie das vergangene Geschehen korrekt wiedergeben. Die Basis hierfür ist der Rekurs auf schriftliche oder mündliche Dokumente und Quellen, in denen Informationen über historische Ereignisse mitgeteilt werden, die einen Wahrheitsanspruch im Sinne von „so ist es wirklich gewesen“ geltend machen. Dieser Wahrheitsanspruch wird aber nicht zwangsläufig immer auch eingelöst, da sich beispielsweise Zeitzeugen durchaus auch irren oder sogar bewusst falsche Angaben machen können, etwa um ihre persönlich Rolle im historischen Prozess in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Damit Geschichtsschreibung also jene empirische Triftigkeit erzielen kann, von der Rüsen (1983, 82) in diesem

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Zusammenhang spricht, müssen die Quellen in Form der Quellenkritik auf ihre Vertrauenswürdigkeit hin befragt werden. Letztlich geht es dabei darum, den Wahrheitswert von Behauptungen über das historische Geschehen zu überprüfen. Bereits hier nun zeigt sich eine fundamentale Differenz zu literarischen Texten. Während die Glaubwürdigkeit der Quellen aus der Übereinstimmung der jeweiligen Behauptungen mit den konkreten historischen Begebenheiten resultiert (wie schwierig eine solche Übereinstimmung auch immer zu ermitteln sein mag), reklamieren literarische Texte für sich einen derart begründeten Wahrheitswert gerade nicht. Anders gesagt, die Behauptungen in historischen Quellen erheben den Anspruch auf eine lebensweltliche Referenz, während die Behauptungen in literarischen Texten qua Fiktionalität vom Anspruch auf eine solche Referenz befreit sind, und dies selbst dann, wenn in ihnen historische Persönlichkeiten repräsentiert sind wie etwa im historischen Roman oder im Dokumentartheater. Bereits diese semantische Differenz lässt es unplausibel erscheinen, den literaturwissenschaftlichen Terminus der unreliability auf die Geschichtsschreibung zu übertragen.7 Freilich erschöpft sich Geschichtsschreibung nicht im Zitieren von Quellen und der Einschätzung ihrer Vertrauenswürdigkeit, vielmehr wird das auf der Basis der Quellen geschilderte Geschehen vom jeweiligen Historiker in einer bestimmten Weise perspektiviert. Erst dadurch erlangt die Geschichtsschreibung eine Funktion für die Lebenspraxis des Lesers. Hayden White (1994, 151f.) verdeutlicht diesen Umstand anhand des Beispiels der Französischen Revolution, die auf der Basis derselben historischen Daten von verschiedenen Historikern ganz unterschiedlich beurteilt wurde. Bei der zweiten Komponente der Geschichtsschreibung sind demnach Normen und Werte im Spiel, mit denen der Leser einer historischen Darstellung übereinstimmen kann oder auch nicht, so dass Rüsen (1983, 82) hier von einer normativen Triftigkeit spricht. Da es auch bei unreliable narration zumeist um die Bewertung der vom Erzähler vermittelten Normen und Werte geht, scheint

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Aus diesem Grunde ist auch Paul Ricœur (1991, 261), dem anderen Gewährsmann Nünnings für die Übertragung des unreliability-Konzepts auf die Geschichtsschreibung, zu widersprechen, wenn er ausführt: „Die Frage der ‚reliability‘ ist das fiktionale Gegenstück zum dokumentarischen Beweis in der Geschichtsschreibung.“ Im Übrigen hat sich Ricœur mittlerweile in seinem Vortrag „Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit“ (2002) von derartigen vorschnellen Analogien zwischen der Literatur und der Geschichtsschreibung selbst wieder distanziert und in diesem Zusammenhang dezidiert auch den auf der Referenz einzelner Aussagen beruhenden Wahrheitsanspruch geschichtswissenschaftlicher Texte betont. Seine Argumentation erinnert dabei durchaus an Rüsen, wenn er „drei Phasen“ der Geschichtsschreibung unterscheidet, nämlich eine dokumentarische, eine des Erklärens und Verstehens und schließlich eine schriftstellerische (vgl. Ricœur 2002, 22f.).

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hier am ehesten eine Anwendbarkeit dieses Konzepts auf die Geschichtsschreibung gegeben. Allerdings würde dabei eine weitere fundamentale Differenz zwischen der Literatur und der Geschichtsschreibung übersehen, die aus dem ontologischen Status der jeweiligen Sprecherinstanz resultiert. Während nämlich in der Geschichtsschreibung der psychophysische Verfasser eines Textes und die vermittelnde Instanz im Text – zumindest zum Zeitpunkt seiner Abfassung – als identisch anzusehen sind, besteht im Falle eines literarischen Textes eine solche Identitätsbeziehung gerade nicht.8 Daraus aber folgt, dass die in einem historischen Werk vermittelten Normen und Werte unmittelbar auf den Urheber dieses Textes zurückverweisen, der für diese Normen und Werte dementsprechend auch persönlich einstehen muss. Ganz anders im Falle der Literatur. Hier ist der Autor, auch wenn dies nicht immer hinreichend beachtet wird, lediglich als Urheber für die Positionen haftbar zu machen, die der Erzähler in seinem Text vertritt, nicht aber notwendigerweise im Sinne einer Identifikation mit ihnen. Erst aus dieser Trennung der beiden Instanzen ergibt sich die Möglichkeit zum ästhetischen Spiel mit der Glaubwürdigkeit der vermittelnden Instanz in einem literarischen Text, worauf bereits Martinez/Scheffel (2003, 101) aufmerksam gemacht haben, die das – wie sie es nennen – unzuverlässige Erzählen deshalb zutreffend als ein „genuin literarische[s]“ Phänomen betrachten. Aus demselben Grund hat auch Dorrit Cohn ihr Konzept discordant narration ausdrücklich auf die Literatur beschränkt: We might, moreover, note at this point that the diagnosis of “discordance” can apply only to fictional narrative, not to the kind of story-telling (oral or written) that presumes to refer to real facts: though we often apply the term “unreliable” to voices we regard as wrong-headed in non-fictional works (historical, journalistic, biographical, or autobiographical), the narrator of such a work is the author, the author is the narrator, so that we can not attribute to them a significance that differs from the one they explicitly proclaim. (Cohn 2000, 307)

Auch wenn bereits an dieser Stelle hinreichend deutlich geworden sein sollte, dass die Anwendung des literaturwissenschaftlichen Terminus unreliable narration auf nichtliterarische Texte methodisch mehr als fragwürdig ist, da sie die fundamentalen Unterschiede zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten negiert, soll abschließend trotzdem noch kurz auf die dritte von Rüsen angeführte Komponente der Geschichtsschreibung eingegangen werden, nicht zuletzt deshalb, weil auch auf dieser Ebene von nicht wenigen Kulturwissenschaftlern die soeben angesprochene Differenz in Abrede gestellt wird. In dieser dritten Komponente sieht Rüsen zugleich das Spezifikum der Geschichtsschrei-

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Vgl. dazu auch Martinez/Scheffel (2003, 83f.).

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bung, denn während Tatsachenbehauptungen einerseits und Normvorstellungen andererseits in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen wie auch lebensweltlichen Bereichen je gesondert anzutreffen sind, würden sie nur in der Historiographie in narrativer Weise als Sinnstiftungsprozess miteinander verbunden. Den hieraus ableitbaren Geltungsanspruch eines geschichtswissenschaftlichen Textes bezeichnet Rüsen als „narrative Triftigkeit“: Narrativ triftig sind Geschichten, wenn der von ihnen als Kontinuität im Zeitfluß dargestellte Sinnzusammenhang zwischen Tatsachen und Normen durch Sinnkriterien (Ideen als oberste Gesichtspunkte der Sinnbildung) gesichert ist, die in der Lebenspraxis ihrer Adressaten wirksam sind. (Rüsen 1983, 83)

Aufgrund dieser narrativen Struktur ist die Geschichtsschreibung in verschiedenen poststrukturalistischen Ansätzen fälschlicherweise in die Nähe der Literatur gerückt worden. So verweist etwa Franziska Schößler (2006, 81f.) unter Bezugnahme auf Stephen Greenblatt darauf, dass auch „außer-literarische Bereiche [darunter eben auch die Geschichtsschreibung; A.O.] narrativ verfasst, also gemäß bestimmten Erzählmustern organisiert sind“. Bereits die Formulierung macht stutzig, da zwischen der narrativen Verfasstheit eines Textes und bestimmten Erzählmustern keine ursächliche Verbindung besteht. Narrative Verfasstheit bedeutet nämlich zunächst einmal nicht mehr als die sprachliche Darstellung von Sachverhalten unter dem Aspekt ihrer zeitlichen Ordnung und ist in diesem Sinne neben der Deskription, der Instruktion, der Argumentation und der Exposition eine von fünf grundsätzlich möglichen Vertextungsweisen, die Egon Werlich als anthropologische Konstanten der Welterfassung und deren Versprachlichung ansieht.9 Auf die Narration trifft man demnach in allen Texten, die vergangenes Geschehen zur Sprache bringen, sei es in Form der fiktionalen Aussageweise in der Literatur oder in Form echter Behauptungen in der Historiographie, u. a. etwa auch in der Literaturgeschichtsschreibung. Nur weil die Geschichtsschreibung also narrativ verfährt – und auch gar nicht anders verfahren kann, da sie eben den Ablauf vergangenen Geschehens zur Darstellung bringt –, nähert sie sich damit doch keineswegs der Literatur an, die sich von ersterer durch ihren semantischen Status grundsätzlich unterscheidet.10

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Vgl. Werlich (1979, 30–43). Bezeichnenderweise unterscheidet Werlich (1979, 12) völlig zu Recht auf dieser Ebene gerade nicht zwischen Literatur und anderen Texten: „Die richtungsweisende Hypothese unserer Untersuchung ist, daß allem Textvorkommen [...] einige wenige Grundstrukturen zuzuordnen sein dürften, unabhängig davon, ob sie nun ‚literarische‘ Texte im engeren Sinne oder ‚nicht-literarische‘ Texte sind.“ Genau auf dieser Ebene differenziert dann auch Werlich (1979, 19–22) ganz traditionell, aber deshalb nicht weniger überzeugend, zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten. Zur Spezifik des historiographischen Erzählens vgl. auch Rüth (2012).

Das Problem der Instanz

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Wie aber steht es nun um die in der Geschichtsschreibung anzutreffenden Erzählmuster, bei denen Schößler in erster Linie Hayden Whites Konzept des emplotment im Blick hat? White (1994, 127ff.) geht dabei von dem – in der Geschichtswissenschaft wohl als Konsens geltenden – Umstand aus, dass historische Daten an sich wertneutral sind, solange sie lediglich im Sinne einer Chronologie aneinandergereiht werden. Erst durch die perspektivierende Tätigkeit des jeweiligen Historikers würden sie, im Sinne historischer Fakten, zu einer spezifischen Geschichte geformt. Bei diesem Formungsprozess werde nun, so Whites These, auf bestimmte Plotstrukturen zurückgegriffen, die aus der Tragödie, der Komödie, der Satire und dem Abenteuerroman (romance) bekannt seien.11 In der Tat erscheinen derartige Erzählmuster durchaus geeignet, jene historische Sinnstiftung zu bewirken, von der Rüsen spricht. Dennoch ist Whites Konzeption in mindestens zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen stellt sich die Frage, ob für eine identitätsstiftende und handlungsleitende Sinnbildung durch die Geschichtsschreibung nicht auch andere Erzählmuster infrage kommen, worauf an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen zu werden braucht.12 Zum anderen – und wohl noch wichtiger – tendiert White dazu, sein Konzept des emplotment überzubewerten, wenn er vom historischen Text als literarischem Kunstwerk spricht, so dass bei ihm Geschichte in erster Linie als sprachliche Konstruktion erscheint.13 Nun ist eine geschichtswissenschaftliche Arbeit aber aufgrund der in ihr enthaltenen echten Behauptungen eben keine rein sprachliche Konstruktion wie der literarische Text, sondern der Versuch einer Rekonstruktion eines Geschehens, das sich tatsächlich auch zugetragen hat.14 Deshalb warnt Paul Ricœur (2002, 36ff.), durchaus selbstkritisch in Bezug auf seine eigenen diesbezüglichen Überlegungen in Zeit und Erzählung, v. a. aber gegen Whites Konzeption der

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Diese Kategorien übernimmt White seinerseits von Northrop Frye. Der Begriff romance, für den es in der deutschen literaturwissenschaftlichen Nomenklatur kein präzises Äquivalent gibt, impliziert eine abenteuerliche, nicht selten auch ins Mystische gehende Handlung, in deren Verlauf der Protagonist in der Regel auch einen Initiationsprozess durchlebt (vgl. dazu Frye 1964, 188–209). Ganz grundsätzlich zu dieser Problematik und implizit gegen Whites emplotment-Konzept vgl. Rüsen (1983, 108–116). Vgl. dazu auch Schößler (2006, 101). In diesem Sinne vgl. auch Ricœur (2002, 46), der konstatiert: „In der Geschichtswissenschaft sind unsere Konstruktionen bestenfalls Rekonstruktionen.“ Dabei steht völlig außer Zweifel, dass derartige Rekonstruktionsversuche keinen absoluten Gültigkeitsanspruch erheben können, sondern als miteinander rivalisierende Modelle des historischen Prozesses zu verstehen sind, die jeweils auf ihre Plausibilität und nicht zuletzt auch auf ihr Interesse hin zu hinterfragen sind. Ursächlich hierfür sind eben jene Normen und Werte, die vom jeweiligen Historiker in Anschlag gebracht werden, um den historischen Prozess in spezifischer Weise zu perspektivieren.

Zur Theorie von unreliable narration

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Geschichtsschreibung davor, die narrative Kohärenz eines geschichtswissenschaftlichen Textes, durch welche Erzählmuster sie auch immer gestiftet sein mag, mit dem Erklärungszusammenhang selbst in eins zu setzen. Nach diesem kleinen Exkurs kann somit festgehalten werden, dass weder die Narration noch die Verwendung bestimmter Plotstrukturen je für sich oder zusammen ein grundlegendes Ähnlichkeitsverhältnis zwischen der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und der Literatur zu begründen vermögen. Anstatt also oberflächlichen Analogien nachzujagen, wie dies in kulturologischen Ansätzen leider nur allzu oft der Fall ist, sollte vielmehr jede Disziplin die Spezifik ihres Gegenstands reflektieren und auf dieser Basis dann gegenstandsadäquate Methoden und Beschreibungsinstrumente entwickeln. In diesem Sinne kann nun der unreliable narrator als ein spezifisch literarisches Phänomen mit einer kalkulierten ästhetischen Wirkung in den Blick genommen werden und damit zunächst die Frage, auf welche Formen der Vermittlung in der Erzählliteratur dieses Konzept plausibel angewendet werden kann. Es sind zwei Probleme, die in diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert werden: 1. Sind mit dieser Kategorie lediglich Erzählerinstanzen zu fassen oder auch Reflektorfiguren, aus deren Perspektive das Geschehen präsentiert wird? 2. Ist diese Kategorie auf figurale Erzähler zu beschränken oder können auch nichtfigurale Erzähler mit den Merkmalen der unreliability ausgestattet sein? Ad 1: Die Frage, ob auch ein Reflektor als unreliable narrator angesprochen werden kann, wird zwar in der Studie von Booth nicht explizit thematisiert, doch wird sie implizit von ihr aufgeworfen, und zwar durch eine Begriffsverwendung, die zum einen in sich nicht immer konsistent ist und zum anderen bisweilen nicht differenziert genug erscheint. Diese mangelnde Differenzierung zeigt sich etwa bereits im folgenden Zitat: The most important unacknowledged narrators in modern fiction are the thirdperson “centers of consciousness” through whom authors have filtered their narratives. (Booth 1961, 153)

Derartige von Booth mit Henry James als Reflektoren bezeichnete Vermittlungsinstanzen werden hier wie ein Erzähler und dementsprechend auch unter der Überschrift dramatized and undramatized narrators behandelt, obwohl sie doch überhaupt nicht zum fiktiven Adressaten sprechen, geschweige denn erzählen.15 Verkompliziert wird der Sachverhalt

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Genau aus diesem Grund, also der notwendigen Unterscheidung zwischen Erzähler- und Reflektormodus, wurde im vorangehenden Kapitel (vgl. oben, S. 99). Doležels Typus der subjektiven 3. Person aus der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Erzählertypologie ausgeschlossen.

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zudem noch dadurch, dass Booth den Reflektor nicht nur erzähltechnisch auffasst, sondern ihn darüber hinaus hinsichtlich des Maßes seiner Beteiligung am dargestellten Geschehen festlegt und zwar im Sinne einer absoluten Passivität, wie die folgende Aussage nahe legt: But a reflector whose own jealousy affects the action is no longer a mere reflector. (Booth 1961, 341)

Hinsichtlich dieser Passivität unterscheidet sich der Reflektor dann aber nicht mehr vom Beobachter, einer Kategorie, die Booth (1961, 153f.) zur Unterscheidung der dramatized narrators eingeführt hat. Konsequenterweise findet sich dann neben dem Begriff des unreliable narrator auch die Bezeichnung unreliable observer (Booth 1961, 340) und, etwa in Bezug auf die Figur des Oliver Lyon aus Henry James’ Erzählung The Liar, die Verbindung der Kategorie unreliability mit einem Reflektor (Booth 1961, 352), ohne dass dabei die Differenz zwischen den solchermaßen benannten Phänomenen und damit ihre systematische Stellung hinlänglich deutlich würde. Die Verwirrung ist spätestens dann komplett, wenn Booth (1961, 351) in Bezug auf The Liar nicht nur von Lyon als einem Reflektor spricht, der zumindest teilweise als unreliable anzusehen ist und der nach der oben zitierten Definition aufgrund seines Status als Reflektor ja auch als Erzähler zu gelten hätte, sondern zusätzlich noch von einer weiteren vermittelnden Instanz, nämlich von einem Erzähler, der mit Lyon gerade nicht identisch ist: Finally, one notes that all of the unequivocal intrusions by the reliable narrator – I count four and those very brief – are used to underline the difference between Lyon’s picture of himself and the true picture […]. (Booth 1961, 351)

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich einmal mehr die Notwendigkeit, konsequent zwischen dem jeweiligen Perspektivzentrum (who sees) und der Sprecherinstanz (who speaks) zu differenzieren. Bereits aufgrund dieser mangelnden Differenzierung ist der Ansatz von Booth wiederholt zu Recht kritisiert worden. So hat etwa Stanzel (1985, 202f.) im Rahmen seiner Unterscheidung von Erzähler- und Reflektormodus vorgeschlagen, die Kategorie der unreliability dezidiert dem Erzähler vorzubehalten, da lediglich er ein aktiver Teilnehmer am Kommunikationsprozess sei. Reflektoren hingegen seien das Objekt eines derartigen Kommunikationsvorgangs, dessen sie sich selbst überhaupt nicht bewusst sind. Trotzdem könne deren Wahrnehmung des Geschehens, die vom Erzähler quasi unmittelbar weitergeleitet wird und die damit die Perspektive für den Leser vorgibt, natürlich unzuverlässig oder unglaubwürdig sein, doch sei nach Stanzel in einem solchen Fall im Sinne einer präzisen Terminologie die Rede von einem trüben Reflektor – in Opposition zu einem klaren – vorzuziehen.

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In vergleichbarer Weise übt auch Seymour Chatman Kritik am Ansatz von Booth: We must distinguish between two kinds of “untrustworthiness.” In the first, the narrator’s account of the events (including what any character says or thinks) seems at odds with what the text implies to be the facts. That is what is generally meant by “unreliable narration.” In the second, a character’s perceptions and conceptions of the story events, the traits of the other characters, and so on, seem at odds with what the narrator is telling or showing. I propose that we call the latter effect fallible filter. (Chatman 1990, 149)

Dementsprechend sei dann auch Oliver Lyon aus The Liar kein unreliable narrator „for the simple reason that he is not a narrator at all. He is, rather, a fallible filter.“ (Chatman 1990, 150) Diese Kritik an Booth kann innerhalb der Forschung mittlerweile nahezu als common sense gelten und sie erscheint umso gerechtfertigter, wenn man das für die Beschreibung von Erzählerinstanzen unabdingbare Kriterium der Narratorialität berücksichtigt.16 In diesem Sinne kann die Kategorie der unreliability also lediglich jenen Vermittlungsformen zugesprochen werden, bei denen Perspektivzentrum und Sprecherinstanz zusammenfallen, d. h. potenziell nur figuralen und nichtfiguralen Erzählern, nicht aber Reflektorfiguren. Ad 2: Wenn also prinzipiell jede erzählende Instanz unter den Verdacht der unreliability geraten kann, so ist diese Kategorie in der Analysepraxis dennoch vorzugsweise auf Texte mit einem figuralen Erzähler angewendet worden. Ausschlaggebend hierfür ist der Umstand, dass bei einem figuralen Erzähler andere Konventionen wirksam sind als bei einem nichtfiguralen Erzähler, da für ihn als Teil der dargestellten Welt jene Regeln gelten, denen auch alle anderen Figuren einer solchen Welt unterliegen. Diese Regeln lassen sich sowohl unter dem Aspekt der Perspektive als auch unter einem sprachlogischen Aspekt näher bestimmen. Den zweiten Weg hat Lubomír Doležel (1980) beschritten, wenn er eine kategoriale Unterscheidung zwischen Figuren- und Erzählerrede

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Vgl. dazu etwa D. Busch (1998, 47), Jahn (1998, 91–95) und Allrath (2005, 78f.). Auch Cohn (2000, 311) schließt aus ihrem Konzept discordant narration die Reflektorfiguren aus den genannten Gründen aus. Lediglich Hof (1984, 47) will das Konzept der unreliability auch auf Reflektorfiguren anwenden, ohne hierfür jedoch überzeugende Argumente anführen zu können. Denn dass auch ein passives Medium wie ein Reflektor durchaus nicht die Normen des abstrakten Autors erfüllen muss, wie Hof feststellt, ist völlig unbenommen, doch macht dieser Umstand einen Reflektor eben noch nicht zu einem Erzähler. Und wenn Hof (1984, 47) auch darin zuzustimmen ist, dass die für einen Reflektor charakteristische „scheinbare Unmittelbarkeit der Wiedergabe von Wahrnehmungen und Ereignissen besonders subtile Formen der Manipulation ermöglicht“, so gebietet dennoch die Logik, zwischen den beiden daran beteiligten Instanzen konzeptionell und begrifflich sauber zu trennen.

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vornimmt und diese Unterscheidung terminologisch anhand der Begriffe truth und authenticity fasst. Demnach kann im Rahmen der fiktionalen Aussageweise literarischer Texte die Frage nach dem Wahrheitswert einer Behauptung sinnvollerweise lediglich hinsichtlich der Figurenrede bzw. anderer Formen der Vermittlung von Bewusstseinsinhalten einer Figur gestellt werden. So wird, um ein in diesem Zusammenhang vielzitiertes Beispiel zu verwenden, kein Leser zögern, Sancho Pansa Recht zu geben, wenn er Don Quijote darauf hinweist, dass es sich bei den vermeintlichen Riesen um Windmühlen handelt. Figuren können demnach wahre Behauptungen aufstellen, sie können sich aber – so wie Don Quijote – ebenso gut irren oder gar lügen. Mit anderen Worten, Figuren können all jene Sprechakte zugeschrieben werden, die dem konkreten Leser aus seiner eigenen Lebenswelt geläufig sind. Um nun den Wahrheitswert der Behauptung einer Figur beurteilen zu können, bedarf es eines textinternen Korrektivs, welches in Form des Erzählers auch gegeben ist. Nur weil dieser, um beim gewählten Beispiel zu bleiben, die Windmühlen als solche bezeichnet hat, weiß der Rezipient, dass nicht Don Quijote Recht hat, sondern Sancho Pansa.17 Diese Behauptung des Erzählers wiederum, dass es sich um Windmühlen handelt, lässt sich nun freilich nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen, da in Cervantes’ Roman weder ein textinternes noch, qua Fiktionalität, ein textexternes Korrektiv zur Verfügung steht. Der Leser muss (und wird) diese Behauptung – im Sinne der willing suspension of disbelief – schlicht akzeptieren. Statt einen Wahrheitswert spricht Doležel den Behauptungen eines Erzählers deshalb eine authentisierende Funktion zu.18 Aufgrund seines Status als Figur, die sich ebenso gut täuschen wie auch lügen kann, komme einem figuralen Erzähler diese au-

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18

Der Wahrheitswert gründet in diesem Fall also, anders als beim oben angesprochenen Quellenmaterial des Historikers, nicht in einer lebensweltlichen Referenz, sondern in der Übereinstimmung mit den Behauptungen des Erzählers. Da es also um die Absenz eines Korrektivs geht und nicht um dessen prinzipielle Unmöglichkeit, scheint mir Doležels Begriff der Authentisierung in diesem Zusammenhang plausibler als die These von Félix Martínez-Bonati (1973, 186 bzw. 1981, 29–31), der auch den Behauptungen eines Erzählers einen Wahrheitswert zugesteht, diese Behauptungen gerade wegen der Absenz eines Korrektivs sogar für notwendig wahr hält, eine Auffassung, die dann auch von Martinez/Scheffel (2003, 99f.) übernommen wurde. Dass Texte mit einem solchen Korrektiv aber durchaus existieren (und u. a. genau darum geht es ja beim Konzept der unreliability), wird sich bei der Definition der semantischen Markierung (3.4) erweisen. Spätestens dann wird auch deutlich, dass die Position von Martínez-Bonati nicht zu halten ist. Problematisch bei Doležel (1980, 15) erscheint hingegen die Rede von einer „fictional existence“ der dargestellten Gegenständlichkeiten und Personen, da sie zu einer Essentialisierung der Fiktionalitätsproblematik tendiert, die für alle Theorien charakteristisch ist, die mit der sog. possible worlds semantics operieren (vgl. dazu Ohme 2002, 38–41).

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thentisierende Funktion nun aber nicht in demselben Maße zu wie dem nichtfiguralen Erzähler: However, we are aware that the Ich-form narrator has a privileged position within the set of acting characters. This privileged position is given by the fact that in the absence of the anonymous Er-form narrator, the Ich-form narrator assumes the role of constructing the narrative world. However, the theory of authentication should assign a lower degree of authentication authority to the Ichform narrator than the absolute authority of the Er-form narrator. The world constructed by the Ich-form narrator is relatively authentic. It is not the world of absolute narrative facts, rather, to use our tentative term, an authentic beliefworld of the Ich-narrator. (Doležel 1980, 17)

Diese verminderte authentisierende Kraft erscheint gegenüber dem nichtfiguralen Erzähler zwar als ein Defizit, schafft andererseits aber erst die Voraussetzung für bestimmte ästhetische Phänomene, wie etwa die Phantastik. Nur weil sich in derartigen Texten der figurale Erzähler selbst über den ontologischen Status der von ihm beschriebenen Begebenheiten unsicher ist, kann die nach Tzvetan Todorov (1992, 25–33) für die Phantastik charakteristische Unschlüssigkeit hinsichtlich der Einschätzung dieser Begebenheiten überhaupt aufkommen. An diesem Punkt berührt sich die Fundierung der Konventionen eines figuralen Erzählers unter sprachlogischem Aspekt mit dem Problem der Perspektive. Da der figurale Erzähler, wie es A. Nünning (1998c, 9) formuliert, „den erkenntnistheoretischen, physikalischen und logischen Grenzen realer Individuen“ unterliegt,19 beruht seine Kenntnis der von ihm selbst vermittelten Welt lediglich auf der eigenen Erfahrung sowie auf Informationen anderer Figuren. Seine Perspektive und damit auch seine Information über die dargestellten Gegenständlichkeiten und Sachverhalte sind deshalb notwendigerweise beschränkt, so dass seine Behauptungen über die von ihm vermittelte Welt zwangsläufig unter dem Vorbehalt dieser Beschränkung stehen. Unter dem Aspekt der Perspektive geht es jedoch nicht nur um den eingeschränkten Informationsgrad des figuralen Erzählers, sondern auch um seine Bewertung der von ihm berichteten Ereignisse und anderer Figuren, die sich nicht selten durch eine mehr oder minder ausgeprägte

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In lediglich scheinbarem Widerspruch dazu befinden sich all jene Fälle, in denen diese Grenzen überschritten werden, so etwa wenn der figurale Erzähler in Bohumil Hrabals Ostře sledované vlaky (Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht, in der wörtlichen Übersetzung „Streng überwachte Züge“) von seinem eigenen Tod berichtet. Solche Formen paradoxalen Erzählens, auf die im Zusammenhang mit der Kategorie der semantischen Markierung unter 3.4 noch zurückzukommen sein wird, machen jedoch gerade durch den Bruch der Konventionen deren Existenz bewusst. Wenn also aufgrund ihres konventionellen Charakters eine Sprengung der genannten Grenzen auch durchaus möglich ist, so ändert dieser Umstand doch nichts an deren prinzipieller Gültigkeit.

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subjektive Färbung auszeichnet und die bisweilen sogar als hochgradig idiosynkratisch zu bezeichnen ist.20 So sind etwa bestimmte Norm- und Wertvorstellungen eines figuralen Erzählers, wie einzelne der weiter unten (3.2) angeführten Beispiele anschaulich belegen, zweifellos geeignet, den Widerspruch des konkreten Rezipienten herauszufordern. All die hier genannten Faktoren prädestinieren den figuralen Erzähler geradezu als unreliable narrator. Dennoch gibt es keinen Grund, alle figuralen Erzähler pauschal unter den Verdacht der unreliability zu stellen, wie dies etwa Stanzel tut, wenn er diese Kategorie ursächlich mit dem Kriterium der Perspektive verknüpft: Im Kapitel über den Unterschied zwischen Ich- und Er-Erzählern wurde festgestellt, daß bei Ich-Erzählern auf Grund ihrer existentiellen Motivation zum Erzählen eher eine gewisse Parteilichkeit in der Wiedergabe ihrer Geschichte anzunehmen ist als bei auktorialen Erzählern. Etwas verallgemeinernd und vereinfachend könnte man sagen, daß alle Ich-Erzähler per definitionem parteiliche und somit mehr oder weniger unverläßliche Erzähler sind. (Stanzel 1985, 200)

Wenn nämlich unterschiedslos alle figuralen Erzähler als unreliable narrator anzusehen wären, die sich lediglich im Grad ihrer Unverlässlichkeit unterscheiden, dann verlöre dieser Begriff jegliche Trennschärfe und damit auch seine Funktion.21 An dieser Stelle wird erneut deutlich, wie wichtig es ist, die verschiedenen narratologischen Analysekriterien nicht miteinander zu verknüpfen, sondern die durch sie zu erfassenden Phänomene klar voneinander zu trennen. Zugleich folgt daraus, dass das Konzept der unreliability einer spezifischen, von anderen Analysekriterien wie der Perspektive unabhängigen Fundierung bedarf. Wenn es also einerseits keinen Sinn hat, alle figuralen Erzähler allein aufgrund der für sie geltenden Konventionen als unreliable narrator zu bezeichnen, so gibt es andererseits auch keinen Grund davon auszugehen, dass ein nichtfiguraler Erzähler prinzipiell über jeden Verdacht der unreliability erhaben ist. Wenn dies in der Forschung dennoch umstritten ist, wie Monika Fludernik (2006, 179) im Glossar ihrer „Einführung in die Erzähltheorie“ konstatiert,22 so ist hierfür in erster Linie die

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Zu den verschiedenen unter dem Begriff der Perspektive subsumierten Parametern vgl. Schmid (2008a, 130–137). Eine vergleichbare Kritik an Stanzels Position findet sich bereits bei Allrath (2005, 69f. [Fußnote 6]). Fluderniks eigene Definition scheint sich auf den figuralen Erzähler zu beschränken: „Ein Ich-Erzähler, der sich durch seinen Diskurs als unglaubwürdig erweist, wird als unzuverlässig bezeichnet.“ (Fludernik 2006, 179) Noch deutlicher formuliert Fludernik (1996, 213) an anderer Stelle: „Only first-person narrators can be properly unreliable.“ Das Adverb properly scheint aber zu implizieren, dass für Fludernik bestimmte Aspekte der unreliability auch bei einem nichtfiguralen Erzähler zumindest denkbar sind.

Zur Theorie von unreliable narration

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jeweilige Konzeption des nichtfiguralen Erzählers und damit der heuristische Ausgangspunkt für die Zuweisung der unreliability verantwortlich. In Stanzels Kategorie der Auktorialität etwa ist das persönliche Hervortreten eines nichtfiguralen Erzählers dezidiert möglich und damit auch seine Unverlässlichkeit v. a. in Bezug auf seine Glaubwürdigkeit, worauf Stanzel (1985, 200f.) selbst explizit hinweist. Eine diametral entgegengesetzte Position nimmt Marie-Laure Ryan ein, die bei ihren Überlegungen von einem impersonal narrator ausgeht. Gemeint ist damit ein nichtfiguraler Erzähler, der über keinerlei individuelle Merkmale verfügt und demnach lediglich in seiner vermittelnden Funktion greifbar ist.23 Als reine Funktion, die als logische Notwendigkeit im Prozess der literarischen Kommunikation anzusehen sei, entbehrt dieser impersonal narrator, so Ryan, jeglicher menschlichen Dimension. Deshalb könnten in einem solchen Fall weder Inkonsistenzen bezüglich der dargestellten Welt noch sonderbar anmutende Werturteile und Kommentare einem bestimmten Bewusstsein zugeschrieben und auf diese Weise erklärt werden. Vielmehr habe im ersten Fall die dargestellte Welt schlicht als inkonsistent zu gelten und im zweiten Fall müsse der Leser die Aussagen des Erzählers einfach akzeptieren, wie unerhört sie ihm auch erscheinen mögen.24 Diesem hier kurz umrissenen Dilemma in Bezug auf den nichtfiguralen Erzähler lässt sich freilich dann entgehen, wenn man, wie bereits im vorangehenden Kapitel vorgeschlagen, bei der Beschreibung der vermittelnden Instanz zunächst lediglich von der grundsätzlichen Dichotomie zwischen nichtfiguralen und figuralen Erzählern ausgeht, die dann in jeder Hinsicht, also z. B. in Bezug auf ihren Stil, ihre Perspektive oder auch ihre Weltsicht,25 unterschiedlich gestaltet sein können. Dieser Ansatz, der bewusst auf die Verknüpfung der unterschiedlichen Kategorien verzichtet, wird der Vielfalt der Gestaltung der vermittelnden Instanz in der Erzählliteratur wohl am ehesten gerecht. Nichtfigurale Erzähler können im Rahmen einer solchen Konzeption durchaus unreliable sein, wenn sie eben die entsprechende semantische Markierung aufweisen.26

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Vgl. Ryan (1981, 518f.). Ryan geht also von einer spezifischen Ausprägung des nichtfiguralen Erzählers aus, die in etwa mit Stanzels neutralem Erzählen bzw. mit Doležels objektiver 3. Person zu vergleichen ist. Insofern ist auch Jahn (1998, 99, Fußnote 29) zu widersprechen, da er impersonal narration einfach mit dem heterodiegetischen Erzählen gleichsetzt. Vgl. Ryan (1981, 531–534). Eingeschlossen ist dabei natürlich auch die Möglichkeit, dass überhaupt keine Weltsicht des Erzählers vermittelt wird. Deshalb ist zweifellos Stanzel (1985, 200f.) zuzustimmen, wenn er ausführt: „Der auktoriale Erzähler, sofern er sich als persönlicher Erzähler kundgibt, ist zwar auch nicht über alle Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit erhaben, er kann aber dennoch in der Regel solange

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Und dass solche Markierungen, die zwangsläufig zu einer Individualisierung der vermittelnden Instanz führen und mithin genau jene Vorstellung von einem spezifischen Bewusstsein erzeugen, dem diese Aussagen zugeschrieben werden können, auch bei nichtfiguralen Erzählern existieren, belegen nicht nur entsprechende Texte – beispielsweise Šinel’ oder Levša –, sondern auch der wiederholt unternommene Versuch, diese Texte typologisch zu erfassen, sei es im Rahmen der skaz-Theorien oder sei es in Form einer Erzählertypologie wie derjenigen Doležels. Dennoch ist zweifellos festzuhalten, dass der figurale Erzähler aufgrund der mit ihm verbundenen Konventionen als unreliable narrator prädestiniert ist. Da diese Konventionen die Möglichkeit des Irrtums und der Lüge grundsätzlich mit einschließen, hat darüber hinaus in einem solchen Fall die unreliability als motiviert zu gelten.27 Umso überraschender und damit gleichzeitig auch wirkungsvoller ist eine entsprechende semantische Markierung im Falle eines nichtfiguralen Erzählers, wo sie aufgrund anderer Konventionen nicht motiviert erscheint und damit auch nicht in gleicher Weise erwartbar ist.28 Dass die Kategorie der unreliability zumeist dennoch lediglich auf figurale Erzähler angewendet worden ist und wird, dürfte nicht zuletzt mit der Bedeutung des Begriffs selbst zusammenhängen. Unzuverlässigkeit und Unglaubwürdigkeit bezeichnen Charaktereigenschaften, die in der Alltagskommunikation konkreten Personen zugeschrieben werden. Ihre Übernahme in die literaturwissenschaftliche Terminologie führt deshalb zwangsläufig zu einer Anthropomorphisierung der Erzählinstanz, die den Blick dafür verstellt, dass auch nichtfigurale Erzähler semantisch markiert sein können, wie in 3.4 zu zeigen sein wird. Zudem wird mit diesem Begriff ein Wertungsaspekt in die Diskussion eingebracht, der einer auf intersubjektiv nachvollziehbare Analyse bedachten Literaturwissenschaft diametral entgegengesetzt ist. Gerade um diesen Wertungsaspekt aber war es Booth zu tun, sollte die Kategorie der unreliability doch in erster Linie eine ethische Betrachtungsweise von Literatur ermöglichen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich dann auch der Umstand, warum Booth unter dem Aspekt der unreliability nicht zwischen Erzählern und Reflektoren unterscheidet: Die für ihn relevanten Merkmale finden sich hier ebenso wie dort. Es ist deshalb auch nicht

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Glaubwürdigkeit beanspruchen, als dem Leser nicht ausdrücklich signalisiert wird, daß auch diesem Erzähler gegenüber skeptische Zurückhaltung am Platze ist.“ Nach den obigen Ausführungen wäre allerdings zu ergänzen, dass sich dies bei einem figuralen Erzähler ganz genauso verhält. In vergleichbarer Weise bereits Rimmon-Kenan (1991, 103). Eben dies war ja aus den gleichen Gründen bereits für den skaz bzw. die stilistische Markierung zu konstatieren (vgl. oben, S. 56).

Zur Theorie von unreliable narration

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verwunderlich, dass es Booth letzten Endes gar nicht um die Informationsvermittlung geht, vielmehr zielt bei ihm die unreliability, wie sich v. a. aus seinen Textanalysen ergibt, in erster Linie auf die moralischen Qualitäten des jeweiligen Perspektivzentrums ab, worauf in der Forschung auch wiederholt hingewiesen worden ist (vgl. etwa A. Nünning 1998c, 11).29 Und es sind gerade die moralischen Urteile, die bei Booth die Grundlage ästhetischer Urteile bilden. Zwei Beispiele sollen diese höchst problematische Argumentation verdeutlichen. So konstatiert Booth (1961, 346) in Bezug auf Henry James’ The Turn of the Screw: „few of us feel happy with a situation in which we cannot decide whether the subject is two evil children as seen by a naïve but well-meaning governess or two innocent children as seen by a hysterical, destructive governess.“ Wird hier vom literarischen Kunstwerk implizit „lediglich“ eine eindeutige Moral eingefordert, verurteilt Booth Alain Robbe-Grillets Roman Le Voyeur mit dezidiert moralischen Argumenten: It does, indeed, lead us to experience intensely the sensations and emotions of a homicidal maniac. But is this really what we go to literature for? Quite aside from the question of how such a book might affect readers who already have homicidal tendencies, is there no limit what we will praise, provided it is done with skill? (Booth 1961, 384)

Nun sind solche Fragen nicht prinzipiell von der Hand zu weisen, und der Umgang mit bestimmten Videospielen oder Reality-Shows fordern in der Tat eine entsprechende Diskussion heraus. Gleiches gilt natürlich auch für die Darstellung etwa von Gewalt und Sexualität in der Literatur. So wichtig diese Fragen für ein gedeihliches menschliches Zusammenleben auch sind und so sehr sich an den entsprechenden Debatten auch die Literaturwissenschaftler als Mitglieder der Gesellschaft beteiligen sollten, so sollten sie doch nicht mit den eigentlichen wissenschaftlichen Aufgaben, im konkreten Fall der präzisen Beschreibung von Erzählinstanzen, vermengt werden. Deshalb sollte bereits bei der Begriffsbildung Wert darauf gelegt werden, ethische und ästhetische Kategorien nicht zu vermischen. Schon aus diesem Grunde liegt es nahe, das Konzept der unreliability aufzugeben.

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Lediglich Chatman (1990, 197) stellt diesen Umstand in Abrede: „Booth’s book often adverts to moral values, and it would be foolish to deny their importance to narrative fiction. But after studying the book for many years, I have concluded that in practice it really emphasizes aesthetic rather than ethical values.“ Abgesehen davon, dass Chatmans Hinweis auf sein langjähriges Studium von The Rhetoric of Fiction kein Argument im eigentlichen Sinne ist, hat Booth (1983, 418f.) in einem Nachwort zur zweiten Auflage seiner Studie sein Interesse an ethischen Fragestellungen dezidiert bekräftigt und gegenüber seinen Kritikern lediglich eingeräumt, nicht immer zwischen wissenschaftlicher Analyse und privater moralischer Ansicht differenziert sowie die Komplexität ethischer Fragestellungen im Lektüreprozess ganz allgemein unterschätzt zu haben.

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Will man trotz der vorgebrachten Einwände an diesem Konzept festhalten, so kann man als Resümee dieses Teilkapitels festhalten, dass es lediglich im Bereich der Belletristik sinnvoll zu verwenden ist und hier nur in Bezug auf Erzähler, nicht aber auf Reflektorfiguren. Zudem hat sich erneut gezeigt, dass eine Verknüpfung der narratologischen Analysekriterien nicht zielführend ist. In diesem Sinne hat eben nicht jeder figurale Erzähler als unreliable narrator zu gelten, auch wenn hier eine semantische Markierung am ehesten zu erwarten ist. Andererseits ist deutlich geworden, dass unter bestimmten Umständen auch nichtfiguralen Erzählern das Merkmal der unreliability zugeschrieben werden kann. Um dies aber tun zu können, müsste zunächst geklärt werden, was darunter eigentlich genau zu verstehen ist.

3.2 Das Problem des Gegenstands Die Problematik einer Definition dieser Kategorie erhellt bereits aus der uneinheitlichen Begrifflichkeit, der man in diesem Zusammenhang begegnet und die auch im vorangehenden Teilkapitel schon deutlich geworden ist. So sprechen etwa, um nur zwei Beispiele anzuführen, Martinez/Scheffel (2003, 100ff.) von unzuverlässigem Erzählen, während Stanzel (1985, 202f.) in einem Atemzug „die Frage der Verläßlichkeit, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit“ eines Erzählers aufwirft. Es stellt sich mithin die Frage, ob hier lediglich mit verschiedenen Begriffen ein und dasselbe Phänomen bezeichnet wird oder ob nicht, worauf schon die Redeweise Stanzels hindeutet, unter dem Terminus der unreliability ganz verschiedene Phänomene behandelt werden. Die zweite Hypothese verdichtet sich recht schnell zur Gewissheit, wenn man sich die einschlägige Forschungsliteratur vor Augen führt. Auffällig ist dabei bereits die Heterogenität der Erzähler, die unter diese Kategorie subsumiert werden. Dieser Umstand lässt sich anhand dreier Werke illustrieren, die allesamt in der in A. Nünning (1998a, 287–290) abgedruckten Liste von Texten mit einem unreliable narrator aufgeführt sind. Es handelt sich dabei um die Erzählung The Tell-Tale Heart (1843) von Edgar Allan Poe sowie um die Romane The Murder of Roger Ackroyd (1926) von Agatha Christie und The Grotesque (1989) von Patrick McGrath. Was diese drei Texte in der Tat miteinander verbindet, ist der Umstand, dass die dargestellte Welt jeweils von einem figuralen Erzähler vermittelt wird, der einen Mord begangen hat. Nun ist aber offenbar nicht dieses Spezifikum die Ursache dafür, dass die Erzähler der drei Texte als unreliable angesehen werden, sondern deren jeweilige spezifische Ausgestaltung, die nun aber gerade recht unterschiedlich ausfällt.

Zur Theorie von unreliable narration

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Aus Gründen, die im Gang der Argumentation noch deutlich werden, wird zusätzlich zu den drei genannten Texten zu Vergleichszwecken dann noch Thomas Glavinics Roman Der Kameramörder aus dem Jahr 2001 herangezogen. 3.2.1 Edgar Allan Poe: The Tell-Tale Heart In Poes Kurzgeschichte bemüht sich der namenlose figurale Erzähler bekanntlich darum, mit seiner Geschichte die These zu widerlegen, er sei verrückt. Formuliert hat diese These offenbar sein Kommunikationspartner, der im Text allerdings nicht zur Darstellung gelangt. Was den fiktiven Adressaten zu seiner Annahme hinsichtlich des Geisteszustands des Erzählers bewogen haben mag, wird zwar nicht explizit thematisiert, doch liefert die Argumentation des Erzähler-Protagonisten selbst zwei entscheidende Hinweise darauf. Zum einen kann er für den von ihm begangenen Mord, zu dem er sich gleich am Beginn der Erzählung freimütig bekennt, kein plausibles Motiv anführen. Die herkömmlichen und damit trotz ihrer moralischen Verwerflichkeit nachvollziehbaren Tatmotive wie Leidenschaft, Rache oder Habgier werden von ihm sogar ausdrücklich ausgeschlossen.30 Stattdessen führt der Erzähler als Grund für seine Untat eine Missbildung seines Opfers an:31 I think it was his eye! yes, it was this! He had the eye of a vulture – a pale blue eye, with a film over it. Whenever it fell upon me, my blood ran cold; and so by degrees – very gradually – I made up my mind to take the life of the old man, and thus rid myself of the eye forever. (317)

Diese Entstellung des alten Mannes bringt der Erzähler in Verbindung mit dem Aberglauben vom „bösen Blick“, wodurch bei einem – im philosophischen Sinne – aufgeklärten Leser erste Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Protagonisten geweckt werden dürften. Diese Zweifel erhalten weitere Nahrung dadurch, dass sich der Erzähler-Protagonist selbst als krank bezeichnet. Freilich will er diese Krankheit ausdrücklich nicht als Wahnsinn verstanden wissen, sondern lediglich als besondere Schärfe seiner Sinneswahrnehmung (317 und 319). Durch das zur Illustration für diese Selbsteinschätzung gewählte Beispiel widerlegt sich der Erzähler allerdings selbst:

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„Object there was none. Passion there was none. I loved the old man. He had never wronged me. He had never given me insult. For his gold I had no desire.“ (317) Die Seitenzahlen beziehen sich auf Poe (2004). Es handelt sich bei ihm um einen alten Mann, wobei das Verhältnis zwischen dem Erzähler-Protagonisten und diesem ebenfalls namenlosen Opfer den gesamten Text über im Dunkeln bleibt.

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I heard all things in the heaven and in the earth. I heard many things in hell. 32 How, then, am I mad? (317)

Der hier zum Ausdruck kommende Realitätsverlust des Erzähler-Protagonisten findet seine Bestätigung schließlich auch darin, dass er sich gegenüber den nach dem Mord alsbald eingetroffenen Polizisten lediglich deshalb verrät, weil er das Herz des von ihm getöteten alten Mannes schlagen zu hören glaubt. Auch wenn der Erzähler wiederholt seine Präzision bei der Planung und Durchführung der Tat sowie bei der Beseitigung des Leichnams ins Feld führt, um auf diese Weise den fiktiven Adressaten von der Klarheit seines Verstandes zu überzeugen, so hat sich beim konkreten Leser aufgrund der genannten Umstände doch längst schon der gegenteilige Eindruck verfestigt.33 Die ursprüngliche kommunikative Absicht schlägt somit in ihr exaktes Gegenteil um: Der sich mit seiner Tat geradezu brüstende figurale Erzähler ruft gegen seine eigene Intention beim Rezipienten das Bild eines geistig Verwirrten hervor. 3.2.2 Agatha Christie: The Murder of Roger Ackroyd Vergleichbares lässt sich über den Erzähler in Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd nicht sagen. Weder lassen seine Kommentare und Werturteile auf eine geistige Unzurechnungsfähigkeit schließen noch sein Tatmotiv. Der Erzähler-Protagonist, Dr. James Sheppard, begeht den Mord an Roger Ackroyd nämlich, um ein anderes Verbrechen, seine Erpressung von Mrs Ferrars, von der Ackroyd Kenntnis erhalten hat, zu vertuschen. Seinem Vorgehen ist somit, ungeachtet der moralischen Verwerflichkeit, eine gewisse Plausibilität durchaus nicht abzusprechen. In Christies Roman geht es deshalb auch nicht darum, den Leser mit einem geistig verwirrten Erzähler zu konfrontieren, vielmehr rührt die Wirkung dieses Textes in erster Linie daher, dass der figurale Erzähler hier seine Täterschaft konsequent verschweigt. Ganz in der Tradition des klassischen Kriminalromans wird er demzufolge erst am Ende des Textes vom belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot in dessen gewohnt souveräner Manier überführt und gesteht schließlich auch, den Mord begangen zu haben. Was James Sheppard mithin als Erzähler auszeichnet, ist das bewusste Zurückhalten der für den Leser entscheiden-

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Durch diese Allmachtsphantasie, die noch durch die Allusion an die Verse 5–11 im 2. Kap. des Paulus-Briefes an die Philipper verstärkt wird, stellt sich der Erzähler sogar gleichsam auf eine Stufe mit Gott. Ganz in diesem Sinne wird der Erzähler in The Tell-Tale Heart in der Forschung als so genannter mad monologist behandelt. Vgl. dazu etwa Allrath (1998).

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den Informationen. Während dies auf der Ebene der Handlung durch seine Täterschaft fraglos motiviert erscheint, kann sich der Leser dennoch des Eindrucks nicht erwehren, vom Erzähler lange Zeit im Unklaren gelassen und damit hinters Licht geführt worden zu sein. Mit anderen Worten, in The Murder of Roger Ackroyd werden zwei zentrale Konventionen des Kriminalromans gegeneinander ausgespielt, nämlich zum einen die Erwartung des Lesers, vom figuralen Erzähler alle den Fall betreffenden relevanten Informationen umgehend zu erhalten, und zum anderen das Aufrechterhalten der Finalspannung durch den Mangel an Information.34 Aus diesem Umstand rührt freilich der entscheidende Effekt des Textes, und zwar das Spiel mit eben jenen Konventionen des Kriminalromans, wodurch The Murder of Roger Ackroyd zu einem Metakriminalroman avanciert, indem diese Konventionen als solche bewusst gemacht werden. Ein erstes Indiz hierfür ist bereits der vom figuralen Erzähler selbst angestellte Vergleich seiner Rolle mit derjenigen Dr. Watsons (203f.).35 Motiviert ist dieser Vergleich nicht nur durch seine Profession als Arzt, sondern vor allem dadurch, dass er von Poirot bei der Lösung des Falles ins Vertrauen gezogen wird. Anders aber als der leicht vertrottelte Watson aus Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes-Texten, der stets die falschen Schlüsse zieht, kennt Sheppard als Täter alle Fakten von Beginn an. Dafür finden sich im Text sogar zahlreiche indirekte Hinweise. So wird etwa wiederholt die Verschwiegenheit des Erzählers thematisiert (29, 171, 243, 305) und von Poirot wird er sogar als ein „model of descretion“ bezeichnet (346). Das Gegenmodell zu dieser Haltung stellt Sheppards Schwester Caroline dar, die keine Gelegenheit zum Klatsch ungenutzt lässt und sozusagen die zentrale Schaltstelle für Informationen in der kleinen Gemeinde King’s Abbot, dem Schauplatz des Romans, verkörpert. Indem sie ihre Neugier mit dem Satz „People ought to know things.“ rechtfertigt (39), repräsentiert sie im Text gleichsam die Erwartungshaltung des Lesers. Das Motiv der Informationsvergabe, das hier auch den Informationsvorsprung des figuralen Erzählers mit einschließt („But that comes later ...“; 204), ist somit den gesamten Roman über präsent und verweist auf einer Metaebene auf ein wesentliches Merkmal des Kriminalromans.36 So motiviert dieses Motiv im Hand-

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Zum Bruch mit den erzählerischen Konventionen in The Murder of Roger Ackroyd ganz allgemein vgl. Ryan (1981, 525) und Jahn (1998, 100), der sich seinerseits auf Ryan bezieht. Die Seitenzahlen beziehen sich auf Christie (2002). Weitere Beispiele hierfür sind etwa Poirots Bemerkung, dass alle bei einer Befragung anwesenden Personen inklusive des Erzähler-Protagonisten etwas zu verbergen hätten (190) oder sein gegenüber Dr. Sheppard geäußerter Satz: „You know that it is so – but how am I to know?“ (196) Im Laufe dieser Episode zieht Poirot sogar die Möglichkeit in Betracht, dass Sheppard lügen könnte (196), doch kann dieser am Ende des Textes zu Recht darauf

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lungsgefüge jeweils auch sein mag, so liefert es implizit doch gleichzeitig Rückschlüsse auf die Täterschaft Sheppards. Dass diese Rückschlüsse vom Leser letztlich nicht gezogen werden, liegt nun aber gerade daran, dass dieser nicht erwartet, vom Mörder selbst durch die Handlung geführt zu werden. 3.2.3 Thomas Glavinic: Der Kameramörder Mit derselben Rezipientenerwartung operiert auch ein anderer Roman, der in Nünnings Liste von Texten mit einem unreliable narrator allerdings schon deshalb fehlen muss, weil er erst im Jahr 2001 erschienen ist. Mit Christies The Murder of Roger Ackroyd verbindet Thomas Glavinics Der Kameramörder nicht nur der Umstand, dass der figurale Erzähler ein Mörder ist, der seine Informationen und damit auch sein Bekenntnis zur Täterschaft bis kurz vor Ende des Textes konsequent zurückhält, sondern auch die kompositorische Motivation hierfür, die darin besteht, das Geschehen in chronologischer Form schriftlich niederzulegen.37 In anderer Hinsicht gibt es zwischen den beiden Erzählerfiguren jedoch beträchtliche Unterschiede. Anders nämlich als James Sheppard hat der namenlose figurale Erzähler in Glavinics Roman, der sich erst im letzten Satz des Textes zu seiner Schuld bekennt, für seinen Doppelmord an zwei sieben bzw. acht Jahre alten Jungen namens Franz und Josef kein rational nachvollziehbares Motiv. Verstörender noch als die offenkundige Sinnlosigkeit seiner Tat ist aber deren sadistische Durchführung.38 Mit der wahrheitswidrigen Drohung, ihre in seiner Gewalt befindlichen Eltern qualvoll zu töten, schüchtert der Erzähler-Pro-

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verweisen, dass dies nicht der Fall war (367). Was den Erzähler auszeichnet, ist eben nicht die bewusste (Lüge) oder unbewusste (Irrtum) Falschinformation, sondern das Zurückhalten von Informationen. In Glavinics Roman ist der daraus resultierende Effekt sogar noch stärker als bei Christie, da das Verschweigen der wesentlichen Information in einem eklatanten Widerspruch zu der bisweilen absurd anmutenden Detailversessenheit im Bericht des figuralen Erzählers steht. Umso größer ist dann die Überraschung, wenn sich die auch stilistisch um äußerste Präzision bemühte schriftliche Einlassung nicht als Zeugenaussage, sondern als Mordgeständnis entpuppt. Der sich beim Leser einstellende und schließlich als falsch erweisende Eindruck von der Funktion des Erzählers als Zeuge ist nicht zuletzt darin begründet, dass dieser konsequent die Perspektive eines Beobachters einnimmt und somit nach der in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Erzählertypologie als heterothematischer figuraler Erzähler zu gelten hat. Die Wahl dieses Erzählertyps impliziert nun aber gerade die weitgehende Unbeteiligtheit der vermittelnden Instanz am dargestellten Geschehen, während im Hinblick auf die Täterschaft genau das Gegenteil der Fall ist. In beiderlei Hinsicht erinnert Glavinics Roman damit an Michael Hanekes Film Funny Games aus dem Jahr 1997, der allerdings noch verstörender wirkt, nicht zuletzt aufgrund der mit diesem Medium verbundenen Möglichkeit zu plastischerer Darstellung.

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tagonist drei auf einer Waldlichtung spielende Brüder ein und zwingt sie, alles zu tun, was er von ihnen verlangt. Den ältesten von ihnen, einen Neunjährigen, bindet er zudem mit einem Seil an sich fest und droht mit dessen Tötung für den Fall, dass die beiden anderen fliehen sollten oder sich ihm nicht fügen. Unter diesen Vorzeichen nötigt er zunächst Franz, das jüngste der Geschwister, auf einen Baum zu klettern und sich aus einer Höhe von etwa 10 Metern in den Tod zu stürzen. Da der Junge sich zunächst natürlich weigert, lässt der Erzähler noch drastischere Einschüchterungen folgen. Für den Fall einer Nichtbefolgung seiner Aufforderung droht er Franz damit, dem ältesten der Brüder den Bauch aufzuschneiden und ihn „einzusalzen“ sowie die Mutter an Bauch und Rückgrat zu „operieren“. Geradezu perfide ist sein Angebot an den mittleren Bruder Josef, er könne Franz retten, indem er dem Ältesten ein Auge aussteche (49f.).39 Infolge seiner Hilflosigkeit springt Franz schließlich tatsächlich in den Tod. Derselbe Vorgang wiederholt sich dann noch einmal mit Josef, bevor das älteste Kind trotz weiterer massiver Drohungen die erste Gelegenheit zur Flucht ergreift und damit die Strafverfolgung des Täters in Gang setzen kann, die schlussendlich mit dessen Ergreifung endet.40 Die Ungeheuerlichkeit der Handlungsweise des Erzähler-Protagonisten manifestiert sich nicht zuletzt auch darin, dass er seine Untaten mit einer Videokamera festhält. Was den namenlosen figuralen Erzähler in Glavinics Roman mithin auszeichnet, ist seine absolute Amoralität, über deren Ursachen der Text aber keinerlei Auskunft gibt. Er vermittelt lediglich die Einschätzungen des Täters durch andere Figuren, in denen jeweils mehr oder weniger explizit eine psychische Störung des Mörders unterstellt wird (29 und 59). Auch der Leser wird zu einem solchen Urteil neigen, da sich nur auf diese Weise die ungeheuerlichen Taten rational erklären lassen. Während der Erzähler in Der Kameramörder also einerseits im Hinblick auf das Zurückhalten der entscheidenden Information demjenigen aus Christies Roman gleicht, ähnelt er andererseits gleichzeitig demjenigen aus The Tell-Tale Heart hinsichtlich der offenkundigen Persönlichkeitsstörung.41

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Die Seitenzahlen beziehen sich auf Glavinic (2001). Aufgrund der konsequent durchgehaltenen eingeschränkten Erzählerperspektive bleibt der Leser über die Ermittlungstätigkeit der Polizei allerdings zwangsläufig im Dunkeln, da er die dargestellte Welt stets nur mit den Augen des figuralen Erzählers sieht, der erst bei seiner Verhaftung in Kontakt mit der Polizei gerät. Am Ende des Textes wird jedoch angedeutet, dass das Auto des Täters offenbar gesehen wurde und dessen Kennzeichen zu seiner Identifikation geführt hat (119). Diese Persönlichkeitsstörung manifestiert sich in Der Kameramörder allerdings lediglich in der Sinnlosigkeit und Brutalität der Tat. Einen weiteren Hinweis auf sie könnte man vielleicht noch darin sehen, dass sich der Erzähler der Strafverfolgung nicht zu entziehen ver-

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Glavinics Roman ist aber weder ein Metakrimi – dafür werden die Gattungskonventionen nicht ausreichend stark in den Vordergrund gerückt – noch steht die Entlarvung der krankhaften Persönlichkeit des Erzählers im Mittelpunkt. Sein eigentliches Thema ist vielmehr die Sensationslust der Menschen und deren Befriedigung durch die Medien. Gestaltet wird dieses Thema in erster Linie mithilfe des Motivs des Voyeurismus, das anhand der vom Mörder angefertigten etwa vierstündigen Videoaufzeichnung seiner Untaten eingeführt wird. Dieses Material wird an einer Autobahnraststätte aufgefunden und einer privaten Fernsehanstalt zugespielt.42 Mit seiner Entscheidung, die Videoaufnahme tatsächlich auszustrahlen, löst der Sender eine kontroverse Debatte aus, die im Text auf zwei Ebenen verhandelt wird: Zum einen als öffentliche Diskussion um die gesellschaftliche Verantwortung der Medien und zum anderen als Auseinandersetzung der Figuren im privaten Kreis, wie man mit dieser Ausstrahlung umgehen solle. Auf der ersten Ebene wird vorgeführt, dass weder eine kritische Öffentlichkeit, die in Form einer Demonstration vor dem Sendergebäude die Nichtausstrahlung des Videos fordert, noch die hilflos agierende Politik in der Lage ist, der ausschließlich an ihren finanziellen Interessen orientierten Fernsehanstalt, die freilich darum bemüht ist, ihr Profitstreben mit dem Deckmantel der Aufklärung zu tarnen,43 Einhalt zu gebieten. In höchstem Maße zynisch erscheinen zudem nicht nur die Werbeunterbrechungen jeweils unmittelbar bevor die Jungen in den Tod springen, sondern auch der Umstand, dass selbst aus dem vom Sender offenbar durchaus einkalkulierten Schock der Zuschauer in Form einer kostenpflichtigen Beratungshotline Kapital geschlagen werden soll („max. 0,97 DM die Minute“; 44). Angeprangert wird der Sensationsjournalismus auch dadurch, dass einerseits gezeigt wird, wie er die Grenzen der Intimsphäre verletzt,44 und dass andererseits vermittelt wird, wie er an die niedrigsten Instinkte im Menschen appelliert. Entsprechende Reaktionen wie etwa der Ruf nach Selbstjustiz oder der nach Wiedereinführung der Todesstrafe, für die

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sucht. Anders als in Poes Text finden sich dagegen keine Behauptungen oder Werturteile des Erzählers, die vom Weltwissen des Lesers abweichen. Die Frage, warum sich der Mörder der Videoaufnahme auf diese Weise entledigt, lässt der Text ebenso unbeantwortet wie die, auf welche Weise der Sender das Material erhalten hat. Die Vielzahl solcher ungelöster Fragen macht noch einmal deutlich, dass in Glavinics Roman trotz der bis zum Ende des Textes anhaltenden Finalspannung gerade nicht die Auflösung des Kriminalfalls im Vordergrund der Handlung steht wie in The Murder of Roger Ackroyd. So behauptet der Sender wiederholt, dass es sich bei dem ausgestrahlten Material nicht um ein Sensationsvideo handle, sondern um den hilflosen „Versuch zur Aufarbeitung einer unfaßbaren Tragödie“ (45). So etwa, wenn sich ein als Pfleger verkleideter Fotograf Zutritt zum Krankenzimmer der unter Schock stehenden Mutter der Geschwister verschafft (68).

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alsbald auch eine rechtspopulistische Partei wirbt, lassen nicht lange auf sich warten. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang abschließend noch das Streben nach absoluter Aktualität, etwa in Form einer Live-Übertragung der Verfolgung und Verhaftung eines Tatverdächtigen (82), die an die mediale Vermarktung des Geiseldramas von Gladbeck im Jahr 1988 erinnert. Auf der zweiten Ebene wird nun der Umgang der Figuren – es handelt sich dabei um die Lebensgefährtin des Erzählers sowie um ein befreundetes Paar, bei dem die beiden die Osterfeiertage in der Weststeiermark verbringen – mit der Ausstrahlung des Videos vorgeführt. Deren Reaktion schwankt zwischen Medienschelte und Abscheu für den Täter einerseits sowie lustvollem Voyeurismus andererseits. Diese gleichsam schizophrene Haltung zeigt sich etwa in der dem Sender unterstellten Amoralität, während die häuslichen Vorbereitungen auf die Ausstrahlung des Videos eher an die bevorstehende Übertragung eines Fußballspiels denken lassen: In der Küche entnahm meine Lebensgefährtin einem Kästchen ein ca. 100 cm langes und 50 cm breites Tablett. Sie stellte 3 Päckchen Soletti, 2 Päckchen Chips, eine kleine Schüssel Erdnüsse, eine Plastikschüssel grüne Weintrauben, 4 viel zu winzige Portionen Vanilleeiscreme, 4 Päckchen Waffeln sowie einen frischen Aschenbecher darauf. (42)

Noch deutlicher kommt diese Widersprüchlichkeit zum Ausdruck, wenn der Gastgeber die Konsumenten von Snuff-Videos als abartig und krank bezeichnet (61), er selbst jedoch das ausgestrahlte Video aufzeichnet, um nur ja keine Sekunde des Tathergangs zu verpassen.45 Glavinics Roman ist damit nicht nur eine harsche Kritik an der medialen Ausbeutung menschlichen Leids, sondern er führt dem Leser zugleich vor Augen, wie fragil doch die zivilisatorischen Errungenschaften sind, auf die sich die Figuren berufen. Er tut dies nun aber nicht allein auf der Ebene der dargestellten Handlung, vielmehr involviert er den Leser durch die Struktur des Textes unmittelbar. Indem er ihn zwingt, das Geschehen ausschließlich mit den Augen eines amoralischen Sadisten zu betrachten, macht er ihm ein Identifikationsangebot, das der Leser erst ganz am Ende des Textes von sich weisen kann, wenn sich der Erzähler selbst als Täter zu erkennen gibt. Aus der Rückschau wird der Rezipient dadurch in eine Situation gedrängt, die derjenigen der Figuren nicht unähnlich ist: Einerseits wartet er gespannt auf die Lösung des Kriminalfalls, andererseits sieht er sich mit der Amoralität des Erzählers

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Am offenkundigsten wird diese schizophrene Haltung in folgendem Zitat: „Heinrich stellte fest, es sei widerlich. Er fragte, ob ich etwas einzuwenden hätte, wenn er die Aufnahme kurz anhalte, da er sich aus der Küche noch eine Portion Vanilleeis zu holen beabsichtige.“ (58)

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konfrontiert, dessen Perspektive er sich höchstens durch den Abbruch der Lektüre hätte entziehen können. Das Zurückhalten der Information führt in Der Kameramörder also, wie bereits angemerkt, nicht zu einem unterhaltsamen Spiel mit den Konventionen der Gattung wie in The Murder of Roger Ackroyd, sondern fordert den Leser zu einer kritischen Reflexion seiner eigenen Sensationslust heraus. Und anders als in The Tell-Tale Heart steht der offenbar an einer Persönlichkeitsstörung leidende figurale Erzähler nicht im Zentrum des Interesses, sondern dient lediglich als Vehikel für die Auseinandersetzung mit der Rolle der Medien in der zeitgenössischen Gesellschaft. 3.2.4 Patrick McGrath: The Grotesque Noch einmal anders gelagert ist der Fall in McGraths Roman The Grotesque. In ihm schildert der figurale Erzähler Sir Hugo Coal die Ereignisse, die sich auf seinem Landsitz Crook in der Zeit zwischen Herbst 1949 und Frühjahr 1950 zugetragen haben. Diese Schilderung muss dem Rezipienten jedoch in zweifacher Hinsicht problematisch erscheinen. Zum einen liegt ein Bruch der Erzähllogik vor, wenn der Erzähler-Protagonist Sir Hugo Coal sich einerseits fortlaufend an ein im Roman nicht näher bezeichnetes Gegenüber wendet in der Absicht, diesem seine eigene Rolle innerhalb des aus seiner Perspektive erst jüngst vergangenen Geschehens zu erklären,46 und er andererseits wiederholt darauf hinweist, dass er aufgrund einer Katalepsie infolge eines schweren Schlaganfalls überhaupt nicht mehr in der Lage ist, zu sprechen.47 Lässt bereits diese Paradoxie den Erzähler in seiner Funktion fragwürdig erscheinen, so verdichtet sich dieser Eindruck im Verlauf der Schilderung, zum anderen, zusätzlich noch durch den Umstand, dass es Sir Hugo offensichtlich nur unzureichend gelingt, den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse wie-

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Indikatoren hierfür sind die den gesamten Text durchziehenden allokutionalen und expressiven Verfahren, die die Vorstellung von einem unmittelbar anwesenden Kommunikationspartner erwecken, wie beispielsweise: „What else should you know before we go on?“ (14), „I should tell you“ (26 und 36), „as you know“ (43), „As you may imagine (68), „you will say“ (83) und viele mehr. Die Seitenzahlen beziehen sich auf McGrath (1990). Dieser Widerspruch wird offenkundig, wenn Sir Hugo zunächst feststellt, nicht einmal mehr nonverbal mit seiner Umwelt kommunizieren zu können (8), nahezu unmittelbar darauf aber konstatiert: „This, then, is the ‘I’ who speaks: cocooned in bone, I pupate behind a blank and lizardlike stare, as my body is slowly consumed by its own metabolism.“ (9) Diese erzählerische Unlogik wird dem Leser auch immer wieder in Erinnerung gerufen, wie etwa im folgenden Zitat: „I am sitting not in my grotto under the stairs as I tell you this, but in the kitchen, with Doris and Cleo, having my fingernails clipped.“ (144) Durch die Katalepsie des Erzählers ist zugleich aber auch eine schriftliche Form der Vermittlung ausgeschlossen.

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derzugeben.48 Um dies zu verdeutlichen, sei zunächst die Fabel von The Grotesque kurz umrissen. Der mittellose Sidney Giblet hält um die Hand von Sir Hugos jüngerer Tochter Cleo an, verschwindet jedoch kurz darauf spurlos, als er einen Brief zur Post bringen will. Nach geraumer Zeit werden im nahe gelegenen Moor zunächst sein Fahrrad und bald darauf auch seine Gebeine gefunden, die zum Schrecken aller säuberlich abgenagt sind. Deswegen gerät der in Sir Hugos Diensten stehende George Lecky unter Tatverdacht, der auf Crook nicht nur als Gärtner arbeitet, sondern zudem für die zum Gut gehörende Schweinefarm verantwortlich ist. Schließlich kommt es auch zur Anklageerhebung gegen ihn, und im Zuge des Prozesses gesteht Lecky, den Leichnam Sidneys an die Schweine verfüttert zu haben. Allerdings bestreitet er vehement, den Mord begangen zu haben. Da ihm die Geschworenen aber keinen Glauben schenken, wird Lecky zum Tode verurteilt und auch gehängt. Vor seiner Hinrichtung offenbart Lecky Sidneys Mutter gegenüber allerdings noch, dass ihm dessen sterbliche Überreste von niemandem anderen übergeben worden seien als von Sir Hugo, um sie unauffällig verschwinden zu lassen. Hinsichtlich der Informationsvergabe ist nun entscheidend, dass auch Sir Hugo seine Täterschaft konsequent leugnet, so dass auf der Ebene des dargestellten Geschehens – anders als in den drei bisher besprochenen Texten – der Mord letztlich unaufgeklärt bleibt. Im Mittelpunkt des Romans steht stattdessen der Versuch Sir Hugos, den Tathergang zu rekonstruieren und das Motiv des Täters aufzudecken. Dieser Rekonstruktionsversuch ist allerdings aus verschiedenen Gründen zum Scheitern verurteilt. So wird sich Sir Hugo im Fortgang des Erzählprozesses in zunehmendem Maße bewusst, dass es ihm nicht gelingt, die Sachverhalte richtig zu ordnen, was er auch offen eingesteht.49 Zudem vergisst er mitunter, welche Informationen er seinem fiktiven Kommu-

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Zu Sir Hugo als einem unreliable narrator vgl. u. a. Allrath (1998, 68f.), Sims (1998, 124f.) und Antor (2001, 363–367). Vgl. etwa die folgenden Aussagen des Erzählers: „You must forgive me if I appear at times to contradict myself, or in other ways violate the natural order of the events I am disclosing; this business of selecting and organizing one’s memories so as to describe precisely what happened is a delicate, perilous undertaking, and I’m beginning to wonder whether it may not be beyond me.“ (145); „I’m afraid I got these two events – the Giblet visit and Fledge’s new clothes – rather muddled, and lost track of causation, agency, and empirical precision.“ (197); „Forgive me if I’m being tendentious. I do feel, though, that in the interests of candor I should warn you of the distortions to which the passive and isolated mind is prone; you will perhaps take this into account, should I slip unwittingly into anomalous or contradictory positions.” (207f.). Für diese eingestandene Unfähigkeit Sir Hugos, die Sachverhalte sinnvoll zu ordnen, ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen.

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nikationspartner bereits mitgeteilt hat und welche nicht.50 Schließlich bekennt Sir Hugo sogar freimütig, keinen objektiven Bericht der Ereignisse geben zu können, sondern lediglich seine Vorstellung von ihnen: Bear with me, please, but those occasions when I was able to observe the events occurring around me with any vestige of objectivity were growing increasingly rare. In fact, I began to find that the only events that I could record with any real precision were not those that happened outside myself but, rather, the operations that my own mind performed upon the fragmentary stimuli that now con51 stituted reality for me. (207)

Überhaupt verwirren sich gegen Ende des Textes in den Schilderungen Sir Hugos zunehmend Fakt und Phantasie, wofür der Erzähler seinen sich verschlechternden Gesundheitszustand verantwortlich macht (208, 213, 214). All die genannten Faktoren führen also dazu, dass Sir Hugo mit seiner explizit formulierten Kommunikationsabsicht, die darin besteht, eine möglichst präzise Darstellung jener Ereignisse zu geben, die sich auf Crook abgespielt haben, scheitern muss.52 Allein aus diesem Grund erscheinen auch Sir Hugos Hypothesen bezüglich des Mordes zwangsläufig als fragwürdig. Basis dieser Hypothesen ist eine von Sir Hugo heimlich beobachtete Begegnung zwischen seinem Schwiegersohn in spe und dem Butler Fledge, die er dahingehend deutet, dass es zwischen den beiden zu homosexuellen Handlungen gekommen ist. Sidneys Verschwinden erklärt er sich deshalb zunächst damit, dass dieser nun ob seiner sexuellen Neigungen von Fledge erpresst wird (74). Nachdem diese Erklärung mit

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So ist sich Sir Hugo etwa nicht mehr sicher, ob er seine ältere Tochter Hilary bereits erwähnt hat (99), obwohl er erst kurz zuvor davon berichtet hat, bei ihr zu Mittag gegessen zu haben (75). Und obwohl Sir Hugo im Laufe seiner Erzählung bereits mehrfach darauf hingewiesen hat, dass er an Arteriosklerose leidet, fragt er nach, ob er diesen Umstand bereits erwähnt habe (212). Im folgenden Zitat wird die Erinnerungsproblematik sogar selbst thematisch: „Have I spoken to you of the unreliability of memory?“ (154) Mit diesem Befund bestätigt Sir Hugo freilich nur das, was der Leser ohnehin schon wusste, zum einen, weil der Erzähler seine Schilderungen bisweilen dezidiert als Vermutungen markiert, zum anderen weil gerade dort, wo diese Markierungen fehlen, deutlich wird, dass Sir Hugo hier die durch die Erzählsituation vorgegebenen Grenzen seiner eingeschränkten Perspektive überschreitet. Dies gilt etwa für die zweifache Beschreibung des nackten Körpers seines Dieners Fledge, die als Fakt ausgegeben wird, obwohl sie ganz offensichtlich Sir Hugos Phantasie entspringt (213). „So I sit here enjoying the sunshine, and the attention of Doris and Cleo, and try to construct for you as full and coherent an account as I can of how things got this way.“ (144) Zudem ist es Sir Hugos Ziel, dass sich sein fiktiver Kommunikationspartner selbst ein objektives und unparteiisches Urteil über das seinem Butler unterstellte doppelte Spiel bilden soll (83). Dass er auch in dieser Hinsicht scheitert, wird nach den bisherigen Ausführungen nicht mehr überraschen und zudem in der weiteren Textanalyse noch deutlich werden.

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der Nachricht von Sidneys Ermordung obsolet geworden ist, gelangt Sir Hugo zum genau entgegengesetzten Schluss, dass nämlich Sidney Fledge erpresst und dieser ihn deshalb umgebracht habe (103f.). Allerdings hat er für diese Annahme nicht nur keinerlei Beweise, vielmehr liefern seine Ausführungen dem Leser zahlreiche Hinweise, die eine Täterschaft Sir Hugos nahe legen. Hierzu zählt nicht nur die Aussage George Leckys, sondern auch Sir Hugos eigene Andeutung, eine Nacht im Moor verbracht zu haben (122). Der Verdacht, dass es sich bei dem Mörder um niemanden anderen handelt als um Sir Hugo selbst, wird zudem auf einer symbolischen Ebene erhärtet, wie bereits Heinz Antor (2001, 362) festgestellt hat. Grundlage hierfür ist ein Traum des Erzähler-Protagonisten, in welchem ein Phlegmosaurus ein Brontosaurierkalb reißt und auffrisst (126–130). Während einerseits der junge pflanzenfressende Brontosaurus mühelos mit dem Vegetarier Sidney in Verbindung zu bringen ist,53 steht der Phlegmosaurus ganz eindeutig für Sir Hugo selbst. Er ist es nämlich, der als Hobbypaläontologe einen solchen Phlegmosaurus nach entsprechenden Knochenfunden in Afrika zu rekonstruieren versucht und mit Stolz darauf hinweist, dass dieser Saurier nach ihm benannt ist.54 Dieser Phlegmosaurus ist nun aber mit einem spitzen Stachel ausgestattet, von dem Sir Hugo annimmt, dass er dazu gedient habe, die Beute zu reißen, so dass er zu folgendem Schluss kommt: „Oh, he was a ripper, my Phlegmosaurus“ (58). Damit wiederum korrespondiert der Umstand, dass nach Leckys Aussage Sidneys Kehle durchschnitten war. Auf der Basis dieser offenkundigen Analogien erscheint Sir Hugos Traum als Sublimierung seiner Mordtat. In diesem Kontext lässt sich der Stachel allerdings noch in einer anderen Weise deuten, nämlich als Phallus. Eine solche Deutung wird gestützt durch Leckys Aussage, dass es Sir Hugo war, der von Sidney erpresst wurde (242) und deshalb ein Mordmotiv hatte. Auch wenn der Text keine Auskunft darüber gibt, womit Sir Hugo erpresst wurde, so liegt doch die Annahme nahe, dass er es war, der sich Sidney in eindeutiger Absicht genähert hatte. Sir Hugos Verdacht gegen Fledge wäre dann als eine Projektion zu erklären, um auf diese Weise seine eigene Täterschaft ebenso wie seine latente Homosexualität zu verdrängen.55

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Dass Sidney Vegetarier ist, wird von Sir Hugo gleich zu Beginn des Textes mit Geringschätzung konstatiert (3). „[T]he beast that bore my name, P. carboniensis.“ (43). Der Ironie dieser Benennung ist sich Sir Hugo dabei offenbar nicht bewusst, wie die Schreibweise des Namens an dieser Stelle nahe legt. Während die Abkürzung die Aufmerksamkeit auf die Entsprechung carboniensis – Coal lenkt, besteht die eigentliche Übereinstimmung in dem im ersten Namensteil zum Ausdruck kommenden Phlegma des Protagonisten. Für diese latente Homosexualität liefert der Text zahlreiche Hinweise. So teilt Sir Hugo bei insgesamt 28 Ehejahren bereits seit 25 Jahren nicht mehr das Bett mit seiner Frau

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Auch hierfür hält der Text zahlreiche Indizien parat, denn bisweilen ist sich Sir Hugo durchaus bewusst, dass seinen Überlegungen derartige Projektionen zugrunde liegen: And one of the most pernicious of these operations was the tendency to, as it were, cast nets of my own thought outward onto those close to me, and see them not as separate and distinct from myself but rather as extensions or mani56 festations of elements of my own mind. (207)

Auch die Ursache für derartige Denkoperationen kann aus dem Text indirekt erschlossen werden. An einer Stelle äußert Sir Hugo nämlich, dass ausnahmslos alle Coals verrückt seien (121). Mag diese Aussage in der konkreten Situation auch ironisch gemeint sein, so wird sie doch über eine andere von Sir Hugos Projektionen implizit bestätigt. Sein Verdacht nämlich, Fledge sei geistesgestört und leide an einer paranoiden Schizophrenie (179) erweist sich als zutreffende Selbstbeschreibung Sir Hugos, ist es doch gerade er, der ständig eine Verschwörung gegen sich wittert, sei es zwischen seiner Frau Harriet und Fledge (52), sei es zwischen Harriet und dem Priester Patrick Pin (92) oder sei es die Vorstellung von gegen ihn gerichteter Machinationen von Mrs Giblet (233). Wenn also – motiviert durch die Verdrängungsleistung Sir Hugos – in The Grotesque die Schilderung des Tathergangs ebenso ausgespart ist wie die Nennung des Täters und seines Motivs, so kann der Leser dennoch alle relevanten Fakten – ganz im Sinne der Definition von Booth – gleichsam hinter dem Rücken des Erzähler-Protagonisten relativ problemlos rekonstruieren, freilich ohne über sie letzte Gewissheit zu haben. Patrick McGraths Roman gewährt mithin einen Einblick in das Seelenleben seines figuralen Erzählers und lässt dessen psychische Deformation anschaulich werden. Vor den Augen des Lesers entsteht im Zuge der Lektüre das Bild einer Persönlichkeit, die in allen Lebensbereichen gescheitert ist. Einerseits ist Sir Hugo in der Öffentlichkeit isoliert, weil seine wissenschaftliche Arbeit, der er alles unterordnet und die in der kruden These kulminiert, dass es sich bei den Vögeln um lebende

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(92), richtig wohl fühlt er sich nur in der Gesellschaft von Männern (36) und in einem erotischen Traum des Erzähler-Protagonisten trägt Doris, die Frau des Butlers, eine Männerunterhose (56), um nur einige Beispiele zu nennen. Aufgrund seiner konservativen Moralvorstellungen, auf deren Basis er Homosexualität sogar als kriminell verdammt (84), kann sich Sir Hugo zu seinen sexuellen Vorlieben allerdings nicht bekennen. Auf Sir Hugos unterdrückte Homosexualität hat bereits Sims (1998, 125) hingewiesen. Vgl. etwa auch die folgenden Aussagen Sir Hugos: „It occurs to me, in retrospect, that perhaps I was merely finding echoes in the outside world for that which I intuitively understood to be happening within my own body.“ (205) oder noch deutlicher: „Phantom, of course, projection of a crumbling mind“ (213).

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Saurier handelt (70), von der scientific community schlicht ignoriert wird.57 Andererseits versagt er sowohl als Ehemann wie auch als Vater wegen seiner verschütteten Emotionalität.58 Zudem ist er aufgrund seiner konservativen Moralvorstellungen nicht in der Lage, sich seine Homosexualität einzugestehen. Die aus all diesen Gründen resultierende Frustration kompensiert er durch seine immer wieder thematisierte Misanthropie sowie seine Trunksucht, die wohl auch bei seiner sexuellen Annäherung an Sidney eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat.59 Die Schuld an seiner Situation sowie seine Täterschaft projiziert er nun aber konsequent auf die Außenwelt, da er aufgrund seiner psychischen Disposition keine Einsicht in seine eigene Verantwortlichkeit und sein Fehlverhalten hat. Auch wenn er die eigentlichen Ursachen seiner Probleme durchaus ahnt, so weigert er sich dennoch vehement, ihnen auf den Grund zu gehen. Diese Haltung findet ihren prägnanten Ausdruck in folgendem Satz Sir Hugos: „Coals don’t go to shrinks, I said.“ (122)60 Auf diese Weise erscheint Sir Hugo dem Leser weniger als Gefangener seines gelähmten Körpers denn als Gefangener seiner kranken Psyche, dem es nicht gelingt, sich aus dieser Gefangenschaft zu befreien. Die beklemmende Wirkung von The Grotesque rührt nun gerade daher, dass dem Rezipienten dieser Umstand nicht durch eine Außenperspektive oder gar expressis verbis vermittelt wird, sondern dass er sich, nachdem er vom Erzähler gleichsam ins Vertrauen gezogen worden ist, allmählich dessen psychischer Probleme bewusst wird. 3.2.5 Zwischenfazit Nach der kurzen Beschreibung der vier Texte von Poe, Christie, Glavinic und McGrath lässt sich nun ein erstes Fazit unter dem Aspekt der unreliability ihrer Erzähler ziehen. Vier Faktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle: a) die Informationsvergabe, b) die Plausibilität des Vermittlungsvorgangs, c) die Umsetzung der Kommunikationsabsicht des Erzählers und d) dessen Geisteszustand.

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Besonders deutlich wird dies, wenn er seinen diesem Thema gewidmeten Vortrag an der Royal Society of Paleontology vor einem fast leeren Auditorium halten muss. Das Scheitern seiner Ehe gesteht Sir Hugo selbst ein (92) und in Bezug auf seine ältere Tochter Hilary konstatiert er, dass sie von Kindesbeinen an Angst vor ihm hatte (99). Der bereits erwähnte erotische Traum, in dem Doris Fledge ganz offensichtlich die Stelle von Sidney einnimmt, lässt sich verstehen als ein Erinnerungsrest an jenen Vorfall, der sich offenbar nach massivem Alkoholmissbrauch zugetragen hat (54–57). Sir Hugos Vorbehalte gegen die Psychoanalyse manifestieren sich bereits kurz zuvor in seiner an seinen Neffen gerichteten Empfehlung, statt Freud lieber Darwin zu lesen (121).

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a) Hinsichtlich der Informationsvergabe ist zu konstatieren, dass sich die Erzähler-Protagonisten in The Tell-Tale Heart, The Murder of Roger Ackroyd und Der Kameramörder nicht nur zu ihrer Tat bekennen, sondern auch den Tathergang explizit schildern, sei es unmittelbar wie in den Texten von Poe und Christie, sei es vermittelt durch die Beschreibung der Videoaufzeichnung bei Glavinic. In The Grotesque hingegen bleiben aufgrund von Sir Hugos Verdrängungsleistung Täterschaft und Tathergang unausgesprochen und müssen vom Leser deshalb selbst rekonstruiert werden. Dennoch unterscheiden sich auch die drei erstgenannten Texte unter dem Aspekt der Informationsvergabe und zwar darin, dass der namenlose figurale Erzähler bei Poe seine Schuld gleich zu Beginn bekennt, während James Sheppard in Christies Roman und der namenlose figurale Erzähler in Der Kameramörder die für den Rezipienten entscheidende Information bezüglich der Täterschaft erst am Ende des jeweiligen Textes preisgeben. Schematisch lassen sich diese Unterschiede folgendermaßen darstellen: Schilderung des Tathergangs The Tell-Tale Heart Murder of R. Ackroyd Der Kameramörder The Grotesque

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Bekenntnis zur Tat am Beginn des Texts

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Bekenntnis zur Tat am Ende des Texts

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b) Unter dem Aspekt der Plausibilität des Vermittlungsvorgangs steht McGraths Roman erneut allein. Lediglich in ihm trifft man auf eine paradoxe Form der Vermittlung, da Sir Hugo aufgrund seiner Lähmung weder des Sprechens noch des Schreibens mächtig ist und dennoch zweifellos erzählt und seinen fiktiven Kommunikationspartner sogar fortlaufend apostrophiert.61 Die anderen drei Texte lassen hingegen keinen Zweifel an der Kommunikationsfähigkeit ihrer Erzähler aufkommen. c) In Bezug auf die Umsetzung der jeweiligen Kommunikationsabsicht der vier Erzähler ergibt sich allerdings eine andere Gruppierung. Im Falle der Romane von Christie und Glavinic kann sie als gelungen bezeichnet werden, weil die schriftlich festgehaltenen Geständnisse der Erzähler-Protagonisten alle wesentlichen Konventionen dieser Textsorte

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Rüdiger Imhof (1993, 90), der The Grotesque unter dem Aspekt der Gattungszugehörigkeit untersucht und den Roman der Tradition der New Gothic zugeordnet hat, wertet diese erzählerische Unlogik als eine Schwäche von McGraths Text. Sie ist jedoch insofern als funktional zu bezeichnen, als sie den Leser bereits frühzeitig auf die Problematik des Vermittlungsvorgangs aufmerksam macht.

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erfüllen.62 Durch diese schriftliche Form der Vermittlung ist zudem der Umstand motiviert, dass die Nennung des Täters erst am Ende der Texte erfolgt, da auf der Ebene der Handlung zum Zeitpunkt der Abfassung der Geständnisse der Mord jeweils bereits aufgeklärt ist. Innerhalb der dargestellten Welt geht es also nicht mehr um die Lösung des Falls, sondern lediglich um die Rekonstruktion des Tathergangs. Ganz anders in The Grotesque. Hier versucht Sir Hugo, Fledge als Sidneys Mörder zu entlarven und auf diese Weise gleichzeitig den fiktiven Adressaten von seiner Unschuld zu überzeugen. Auch wenn er sich dabei bisweilen seiner eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten bewusst ist, hält er doch bis zum Schluss an seiner Version des Geschehens fest. Anstatt aber die Täterschaft seines Butlers zu beweisen, liefert er ungewollt recht eindeutige Hinweise darauf, den Mord selbst begangen zu haben. Sein Bericht konterkariert damit unbeabsichtigt die ursprüngliche Kommunikationsintention. An seiner Täterschaft wiederum lässt der Erzähler in The TellTale Heart keinen Zweifel, doch kann auch er seine Kommunikationsabsicht nicht verwirklichen, da es ihm nicht gelingt, den angestrebten Nachweis für seine geistige Gesundheit zu erbringen. Anhand der Ausführungen des Erzählers gelangt der Leser vielmehr zum gegenteiligen Schluss. d) Damit ist die Frage nach dem Geisteszustand des Erzähler-Protagonisten in Poes Text bereits geklärt. Sein Realitätsverlust wird durch sein absurdes Mordmotiv sowie seine krude Selbsteinschätzung offenkundig. Die Ursache für den Wahnsinn des Erzählers bleibt allerdings im Dunkeln und ist für eine adäquate Konkretisation des Textes auch irrelevant. Im Gegensatz dazu geht es in McGraths Roman gerade darum, die Ursachen für Sir Hugos psychische Störung sukzessive offenzulegen, indem der Leser die Projektionen des figuralen Erzählers als Ergebnis seiner psychischen Disposition, seines privaten und beruflichen Scheiterns sowie seiner verdrängten Homosexualität allmählich als solche erkennt. Auch der Erzähler-Protagonist in Der Kameramörder leidet offenbar an einer Persönlichkeitsstörung, die sich allerdings lediglich in der Sinnlosigkeit und Brutalität seiner Handlungen manifestiert. Anders als in The Grotesque stellt nun aber diese Persönlichkeitsstörung und damit der Erzähler selbst nicht das zentrale Thema von Glavinics Roman dar, der stattdessen die menschliche Sensationslust ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. In Christies Metakriminalroman hingegen kann von

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Ursprünglich sollten die Aufzeichnungen Sheppards freilich einem anderen Zweck dienen, nämlich dazu, das vom Erzähler vorausgesetzte Scheitern von Poirots Bemühungen zur Lösung des Falles zu dokumentieren. Erst nach der Entlarvung des Mörders nimmt sein Text die Form eines Geständnisses an.

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einer Geistestrübung des figuralen Erzählers James Sheppard keine Rede sein. Will man nun die Kategorie der unreliability auf diese vier Erzähler anwenden, so ergeben sich hierfür unterschiedliche Ansatzpunkte. Legt man das Kriterium der Vollständigkeit der Information zugrunde, dann hätte lediglich Sir Hugo als unreliable zu gelten. Lässt man die Frage nach der Vollständigkeit hingegen außer Acht und erhebt stattdessen den Zeitpunkt der Informationsvergabe zum entscheidenden Merkmal, dann wäre der Erzähler in The Tell-Tale Heart durchaus als reliable anzusehen, nicht aber James Sheppard und der namenlose figurale Erzähler in Der Kameramörder. Unter diesem Gesichtspunkt müsste McGraths Roman dann allerdings zwangsläufig unberücksichtigt bleiben, weil in ihm, wie bereits mehrfach betont, ein explizites Bekenntnis zur Täterschaft fehlt. Setzt man hingegen das Kriterium der Plausibilität des Vermittlungsvorgangs an, dann wäre wiederum allein Sir Hugo als unreliable zu betrachten. Geht es bei der Kategorie der unreliability allerdings um die erfolgreiche Umsetzung der kommunikativen Absicht des Erzählers, dann wären diejenigen in den Texten Poes und McGraths unreliable, diejenigen in den Romanen von Christie und Glavinic reliable. Unter dem Aspekt der geistigen Gesundheit schließlich handelte es sich nur bei James Sheppard um einen reliable narrator. Da nun aber – mit Ausnahme von Glavinics Roman – all diese Texte auf A. Nünnings Liste zu finden sind, sich diese Texte aber jeweils in mindestens einem der genannten Kriterien unterscheiden, ist man zu dem Schluss genötigt, dass die Zuschreibung der unreliability eines Erzählers auf der Basis von verschiedenen Merkmalen erfolgen kann. Ein solcher Schluss führt allerdings, zum einen, zu recht absurd anmutenden Konsequenzen, da er nahe legt, dass bei einer Kombination dieser Merkmale der entsprechende Erzähler als mehrfach unreliable anzusehen wäre. Wenn nämlich bereits das Zurückhalten der Information wie im Falle von James Sheppard für eine solche Typisierung ausreicht, dann hätte der Erzähler in Der Kameramörder als doppelt unreliable zu gelten, hält er doch nicht nur in vergleichbarer Weise die für den Leser entscheidende Information zurück, sondern leidet überdies offenbar noch an einer Persönlichkeitsstörung. Und Sir Hugo wäre dann in mindestens vierfacher Hinsicht unreliable und zwar als psychisch Kranker, dem es in einer paradoxen Form der Vermittlung nicht gelingt, die relevanten Informationen zu vergeben, weshalb er auch im Hinblick auf seine selbst formulierte Kommunikationsabsicht scheitert. Was diesen Erzähler – abgesehen von dem Umstand, einen Mord begangen zu haben – noch mit James Sheppard verbindet, ist dabei nicht mehr ersichtlich. Der oben formulierte Schluss führt deshalb, zum anderen, zur Konstituierung ei-

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nes extrem heterogenen Textkorpus, wie bereits die vier bisher behandelten Texte belegen. Ihre Erzähler sind nämlich recht unterschiedlich gestaltet und erfüllen auch ganz verschiedene Funktionen im jeweiligen Text. Vorläufig lässt sich somit festhalten, dass die Kategorie der unreliability bereits deshalb problematisch erscheinen muss, weil unter diesen Begriff offensichtlich eine Vielzahl von Textphänomenen subsumiert wird, die sich gerade durch ihre Andersartigkeit auszeichnen. Dieser Umstand wird noch deutlicher, wenn man weitere Texte aus der in A. Nünning 1998a abgedruckten Liste von Romanen und Erzählungen mit einem unreliable narrator zum Vergleich heranzieht. 3.2.6 Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day Als ein erstes Beispiel hierfür kann Kazuo Ishiguros Roman The Remains of the Day aus dem Jahr 1989 dienen, in dem der in die Jahre gekommene Butler Stevens Rückschau auf sein Leben hält.63 Allerdings geschieht dies nicht in der Art von Memoiren, d. h. von einem fixen Erzählzeitpunkt aus, auf den das vergangene Geschehen im Prozess des Erinnerns dann in chronologischer Folge gleichsam zuläuft, sondern in Form von einzelnen Rückblenden während einer sechstägigen Reise von Oxfordshire nach Cornwall und Dorset, die Stevens im Sommer des Jahres 1956 unternimmt, um die ehemalige Hauswirtschafterin von Darlington Hall, Miss Kenton, verheiratete Mrs Benn, nach nunmehr 20 Jahren für eine erneute Zusammenarbeit zu gewinnen. Stevens’ Hoffnung auf ihre Rückkehr nach so langer Zeit speist sich aus einem Briefwechsel, dem er entnehmen zu können glaubt, dass ihre Ehe nach mehreren Krisen nun endgültig gescheitert ist. Diese Annahme erweist sich allerdings als Irrtum, da Mrs Benn nach einer temporären Trennung mittlerweile wieder zu ihrem Mann zurückgekehrt ist. Nach dieser für ihn enttäuschenden Nachricht, die er von Mrs Benn bei ihrem Treffen in Little Compton am vierten Tag seiner Reise erhält, kehrt Stevens allerdings nicht umgehend nach Darlington Hall zurück, sondern macht noch einen Abstecher nach Weymouth, wo seine Schilderung abbricht. Auffällig an dieser Schilderung ist nun, dass der Erzählvorgang mehrfach unterbrochen wird, da Stevens am Ende einer jeden Etappe dieser Reise das unmittelbar zuvor Erlebte rekapituliert. Diese Erlebnisse ihrerseits, zusammen mit der Aussicht auf ein Wiedersehen mit Mrs Benn, bilden wiederum den An-

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Das genaue Alter von Stevens wird zwar nicht genannt, doch lassen die Zeitangaben im Text sowie einzelne Bemerkungen anderer Figuren darauf schließen, dass er die 60 bereits deutlich überschritten hat.

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lass für Erinnerungen an die Geschehnisse in Darlington Hall in den 20er und 30er Jahren, in deren Mittelpunkt eben die damals noch unverheiratete Miss Kenton sowie sein 1953 verstorbener ehemaliger Dienstherr Lord Darlington stehen.64 Während durch diese recht unspektakuläre äußere Handlung der Vorgang des Erinnerns und damit auch der beständige Wechsel zwischen der Schilderung des jüngst Erlebten und der bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit dezidiert motiviert erscheint, kann dies für den Vorgang des Erzählens selbst, der in vielerlei Hinsicht auf markante Weise hervorgehoben ist, nicht behauptet werden. Bereits die mehrfache Unterbrechung des Vermittlungsvorgangs, indiziert durch das wiederkehrende Präsens in Verbindung mit unterschiedlichen deiktischen Zeitangaben sowie die Bezugnahme des erzählenden Ich auf den Ort, an dem es sich zum Zeitpunkt des Erzählens jeweils gerade befindet,65 hebt diesen in das Bewusstsein des Lesers und wirft damit auch die Frage nach der Form der Vermittlung auf, die sich aber nicht eindeutig beantworten lässt. Im Hinblick auf diese Unterbrechungen des Erzählvorgangs ist zunächst einmal zu konstatieren, dass eine derartige Textgestaltung durchaus nichts Ungewöhnliches darstellt. Man findet sie etwa im Tagebuchoder im Briefroman, so dass aufgrund dieser Konvention auch für The Remains of the Day die Vermutung einer schriftlichen Form der Vermittlung auf den ersten Blick nahe zu liegen scheint. Hierfür sprechen auch weitere Indizien. So deutet das Verbum „record“66 ebenso auf die Form schriftlicher Aufzeichnungen hin wie die mehrfachen längeren Zitate aus einem Brief von Mrs Benn (49f.). Auf die Konvention eines Reisetagebuchs verweisen ferner die Kapitelüberschriften mit ihren Zeit- und Ortsangaben („Day one – evening, Salisbury“, „Day two – morning, Salisbury“, „Day two – afternoon, Mortimer’s Pond, Dorset“ usw.). Allerdings kann in diesen Angaben bereits ein erster Bruch mit eben jenen Konventionen gesehen werden, da bei einem Reise-Tagebuch nicht die Nennung der Anzahl der Reisetage zu erwarten ist, sondern die genaue

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Der Text operiert also mit drei Zeitebenen – dem Geschehen in den 20er und 30er Jahren, Stevens’ Reise 1956 und dem zeitnahen, immer wieder unterbrochenen Bericht über diese Reise. Diese Verdoppelung des erlebenden Ich und der daraus resultierende beständige Wechsel zwischen den drei Ebenen trägt maßgeblich zur Komplexität von Ishiguros Roman bei. Vgl. etwa „Tonight, I find myself here in a guest house in the city of Salisbury.“ (23) oder „I have finally arrived at Little Compton, and at this moment, am sitting in the dining hall of the Rose Garden Hotel having recently finished lunch.“ (205; die Seitenzahlen beziehen sich auf Ishiguro 1989). Aus diesen Unterbrechungen des Erzählvorgangs ergibt sich auch die äußere Gliederung des Romans in einzelne Kapitel. „In fact, I notice I have yet to record here anything of my journey to this city [...].“ (67)

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Datumsangabe.67 Zweifel an der Form schriftlicher Aufzeichnungen werden zudem durch einzelne der Orte genährt, an denen Stevens seine Innenwelt ausbreitet. So befindet er sich dabei einmal an einem Teich (2. Tag, Nachmittag), ein andermal sitzt er am Pier von Weymouth auf einer Bank (6. Tag, Abend). Eine schriftliche Form der Vermittlung würde also implizieren, dass Stevens Block und Stift stets bei sich trägt, um seine Eindrücke und Gedanken niederschreiben zu können. Nun ist dies freilich nicht ausgeschlossen, doch gibt es darauf weder einen Hinweis im Text, noch würde es, wie im Gang der Argumentation noch zu zeigen sein wird, zu Stevens’ Persönlichkeit passen, im öffentlichen Raum private Aufzeichnungen anzufertigen. Letztlich aber ist es Stevens’ ständige Bezugnahme auf ein Gegenüber, die die Vorstellung von einer schriftlichen Form der Vermittlung nachhaltig stört. Zwar ist eine derartige Orientierung am Kommunikationspartner in schriftlichen Aufzeichnungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen – etwa als Anrede des Adressaten in einem Brief – doch vermittelt die schiere Anzahl der Allokutionen sowie deren mangelnde Spezifizierung, d. h. die fehlende Nennung eines Namens oder einer Verwandtschaftsbezeichnung o. ä., den Eindruck der unmittelbaren Präsenz des angesprochenen Gegenübers.68 Zwar ist auch bei einer mündlichen Form der Vermittlung eine Unterbrechung des Erzählvorgangs durchaus denkbar, doch bedarf sie in einem solchen Fall, um plausibel zu erscheinen, einer entsprechenden Motivierung, wie man sie beispielsweise im Rahmen von Erzählzyklen findet. Eine häufig anzutreffende Variante ist dabei der Wechsel der Erzählerfiguren – so etwa in Vladimir Odoevskijs Russkie noči (Russische Nächte).69 Diese Variante kommt als Modell für Ishiguros Roman aber allein deshalb nicht infrage, weil in ihm zweifelsfrei nur Stevens als Erzähler figuriert. Eine andere Spielart ist die durch Pausen unterbrochene Wiederholung ein und derselben Kommunikationssituation, wie man sie

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Irritierend ist in dieser Hinsicht bereits die Überschrift des Eingangskapitels „Prologue: July 1956, Darlington Hall“. Der auf die Komposition des gesamten Textes verweisende Terminus „Prolog“ lässt es höchst unwahrscheinlich erscheinen, dass die Zwischenüberschriften von Stevens selbst stammen, wie es bei Tagebucheintragungen der Fall wäre. Da es sich bei ihnen also offenbar nicht um integrale Bestandteile des Textes handelt – worauf übrigens bereits ihre Absetzung im Druckbild hindeutet –, sondern um Paratexte im Sinne Genettes, muss als ihr Urheber zweifellos der abstrakte Autor angenommen werden. Mike Petry (1999, 89) macht es sich deshalb zu leicht, wenn er behauptet, formal handle es sich bei dem Text um „notes to a butler’s memoir“. Vgl. etwa „As you might expect“ (4), „I think you will understand“ (5), „but as you know“ (6), „But you will no doubt agree“ (8), „You may be amazed“ (9), „but then you will agree“ (9), „I hope you do not think me unduly vain“ (11) usw. Im abendländischen Kulturkreis ist als Prototyp dieser Textgestaltung zweifellos Giovanni Boccaccios Decamerone anzusehen.

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etwa aus den Märchen aus 1001 Nacht kennt. Ebenso wie für die erste Variante ist allerdings auch für diesen Fall die Anwesenheit mindestens zweier Figuren grundlegend, eine Voraussetzung, die in The Remains of the Day aber offenbar nicht erfüllt ist, denn nichts deutet darauf hin, dass Stevens seine Reise in Begleitung unternimmt.70 Für die Annahme einer mündlichen Form der Vermittlung fehlt also schlicht die Figur eines Zuhörers.71 Die letzte denkbare Möglichkeit wäre mithin die Form eines Selbstgesprächs von Stevens, d. h. dass das angesprochene Gegenüber lediglich in seiner Imagination existiert. Doch auch diese Annahme erscheint sowohl aufgrund der wiederholten Unterbrechungen des Erzählvorgangs als auch angesichts einzelner Orte, an denen sich das erzählende Ich dabei befindet, etwa im tearoom eines kleinen Hotels (132) oder im Speisesaal eines anderen Hotels (205), wenig plausibel. In Ishiguros Roman finden sich somit zum einen Verfahren, die auf eine mündliche Form der Vermittlung hindeuten und zum anderen solche, die Schriftlichkeit indizieren, wobei der Text selbst keine Anhaltspunkte liefert, um diesen Widerspruch aufzulösen. Wenn der Vermittlungsvorgang damit zwar auch nicht als paradox zu gelten hat wie in The Grotesque, so ist er doch zumindest als ambivalent zu bezeichnen und geeignet, den Leser zu verwirren. Die Funktion ist trotz dieses Unterschieds in beiden Fällen dieselbe: Bereits durch die mangelnde Plausibilität des Vermittlungsprozesses wird der Rezipient auf diesen selbst und infolgedessen auch auf seinen Urheber, also den figuralen Erzähler, aufmerksam gemacht.72 Anders aber als bei Sir Hugo in The Grotesque (und auch anders als in den übrigen unter dem Aspekt der unreliability bisher behandelten Texten) enthalten die Ausführungen von Stevens Informationen, die es dem Leser erlauben, sich zumindest ein grobes Bild des fiktiven Adressaten zu machen. Stevens wendet sich nämlich ganz offensichtlich an Seinesgleichen, wie die Formulierungen „such as you and I“ (199) und „the likes of you and I“ (201, 244) belegen. Das Merkmal, das ihn und sein angesprochenes Gegenüber verbindet, ist die Profession, ein Umstand, der auf unterschiedliche Weise im Text vermittelt wird. So setzt Stevens bei ihm beispielsweise ein bestimmtes Wissen um den Beruf des Butlers und dessen Geschichte in England voraus und geht sogar von

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Stevens weist ganz im Gegenteil explizit darauf hin, dass er seine Reise alleine zu unternehmen gedenkt (3). Gegen eine Kommunikationssituation mit zwei anwesenden Teilnehmern sprechen auch die von Stevens gemachten Ortsangaben (vgl. Fußnote 65), bei denen es sich in einem solchen Fall um redundante Informationen handeln würde. Eine vergleichbare Erzählstrategie, bei der die disparaten Merkmale für Mündlichkeit und Schriftlichkeit allerdings noch nicht so stark ausgeprägt sind, findet sich bereits in Ishiguros Roman An Artist of the Floating World aus dem Jahr 1986.

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der Annahme aus, dass ihrer beider Ansichten zu diesem Thema übereinstimmen.73 Noch deutlicher wird dieser Umstand immer dann, wenn Stevens in Bezug auf die Butler-Thematik von der ersten Person Singular in die erste Person Plural wechselt, wie im folgenden Beispiel: Let us establish this quite clearly: a butler’s duty is to provide good service. It is not to meddle in the great affairs of the nation. The fact is, such great affairs will always be beyond the understanding of those such as you and I, and those of us who wish to make our mark must realize that we best do so by concentrating on what is within our realm; that is to say, by devoting our attention to providing the best possible service to those great gentlemen in whose hands the destiny of civilization truly lies. (199)

Auf diese Weise wird verhindert, dass sich der Leser, der in der Regel eben kein Butler ist, unmittelbar angesprochen fühlt, eine Wirkung, die aus der Allokution des fiktiven Adressaten und der Verwendung des Personalpronomens in der ersten Person Plural ansonsten gewöhnlich resultiert. Stattdessen wird er scheinbar in die Rolle eines distanzierten Zeugen eines Fachgesprächs zwischen zwei Butlern gedrängt. Dass sich eine solche Assoziation trotz des Fehlens einer Zuhörerfigur geradezu aufdrängt, liegt nicht zuletzt daran, dass derartige Gesprächssituationen wiederholt Gegenstand des erzählten Geschehens sind. So entpuppt sich zum einen ein Passant, der Stevens auf dem Pier in Weymouth anspricht, als ein Butler im Ruhestand, und Stevens nutzt die Gelegenheit, seinem zufälligen Bekannten aus seinem Berufsleben zu erzählen (241ff.). Hier wird also genau jene Situation des erlebenden Ich dargestellt, die sich auf der Ebene des erzählenden Ich, nun allerdings ohne identifizierbaren Zuhörer, kurz darauf erneut abzuspielen scheint. Zum anderen erinnert sich Stevens mehrfach wehmütig an die lange zurückliegenden Abende, an denen er sich mit Kollegen über berufliche Belange ausgetauscht hat (18, 31). Mittlerweile hat er allerdings den Kontakt zu ihnen verloren, ein Umstand, den er ausdrücklich bedauert (31, 170). Schließlich und vor allem sind in diesem Zusammenhang auch noch seine abendlichen Treffen mit Miss Kenton bei einer Tasse Kakao in deren Zimmer in Darlington Hall zu nennen, die laut Stevens rein beruflicher Natur waren (147). Vor diesem Hintergrund erlangt die Absenz eines Kommunikationspartners eine symbolische Bedeutung: Sie

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Vgl. etwa die folgenden Aussagen, aus denen ersichtlich wird, dass Stevens unterstellt, sein Gegenüber teile die eigenen Präsuppositionen: „but as you know, finding recruits of a satisfactory standard is no easy task nowadays“ (6); „But you will no doubt agree that the very best staff plans are those which give clear margins of error to allow for those days when an employee is ill or for one reason or another below par.“ (8); „You will not dispute, I presume, that Mr Marshall of Charleville House and Mr Lane of Bridewood have been the two great butlers of recent times.“ (34) Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele dieser Art anführen.

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veranschaulicht die Einsamkeit des Erzähler-Protagonisten, wodurch die fehlende Motivierung des Erzählgeschehens und damit auch die mangelnde Plausibilität des Vermittlungsvorgangs eine zusätzliche Funktion erhält und infolgedessen auf der Ebene des abstrakten Autors eine zweite Begründung findet. Die im Text evozierte Vorstellung von einem Gespräch mit seinesgleichen wirft schließlich auch die Frage nach der Kommunikationsabsicht von Stevens auf. Anders als beispielsweise in The Grotesque oder in The Tell-Tale Heart wird sie vom Erzähler-Protagonisten in Ishiguros Roman aber nicht selbst beantwortet, so dass der Rezipient auch in dieser Hinsicht zu eigenen Schlussfolgerungen herausgefordert wird. Kathleen Wall (1994, 24) geht – allerdings ohne Angabe von Gründen – davon aus, dass es sich bei dem Angesprochenen um einen jungen Kollegen handelt, der demnach zwar nicht über den gleichen Erfahrungsschatz wie Stevens verfügt, aber immerhin über das nötige Vorwissen, um dessen Überlegungen, die im Wesentlichen um den Beruf des Butlers kreisen, adäquat beurteilen zu können. Stevens befände sich somit in der Rolle eines Mentors, und in der Tat stellt er mehrfach seine Butlergeneration als vorbildlich hin (u. a. 18, 133). Zudem ist ihm offenbar daran gelegen, sein Fachwissen weiterzugeben: In the main, I tried to convey to him some of the “know-how”, as he put it, involved in overseeing large events we used often to have. Indeed, I believe I even revealed to him several of my professional “secrets” designed to bring that extra bit out of staff, as well as the various “sleights-of-hand” – the equivalent of a conjuror’s – by which a butler could cause a thing to occur at just the right time and place without guests even glimpsing the often large and complicated manoeuvre behind the operation. (242)

Da es sich in der konkreten Gesprächssituation bei dem Zuhörer allerdings um jenen Butler im Ruhestand handelt, dem Stevens ganz zufällig in Weymouth begegnet ist, läuft sein pädagogischer Impetus bereits auf der Ebene der Handlung ins Leere. Zudem wird Stevens’ Rolle als Mentor auf der Ebene des Erzählens durch seine dominante rhetorische Strategie, die Wall (1994, 24) zutreffend als defensiv bezeichnet hat, infrage gestellt. Indikatoren für diese Strategie sind Wendungen wie „I should point out“ (3), „and why should I hide it“ (4), „But let me make it immediately clear“ (5) oder „But let me explain further“ (5), die den gesamten Text durchziehen und Stevens’ Ausführungen den Charakter einer Verteidigungsrede verleihen, der nicht recht zur Rolle eines weisen Mentors passen will.74 Auch im Hinblick auf die Kommunikationsabsicht des Erzähler-Protagonisten herrscht in The Remains of the Day also

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David Lodge (1993, 187) spricht in diesem Zusammenhang sogar, wenn auch vielleicht etwas übertrieben, von einem flehenden Tonfall.

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eine gewisse Ambivalenz, die allerdings insofern unproblematisch erscheint, als trotz der auch hier vorhandenen Widersprüchlichkeit die Intention für Stevens’ Einlassungen unmissverständlich erkennbar ist: Egal ob Belehrung oder Verteidigung, Stevens geht es um die Rechtfertigung seines Lebensentwurfs, ein Unterfangen, das jedoch misslingt, denn während Stevens zu Beginn seiner Reise noch den Eindruck erweckt, mit sich im Reinen zu sein, muss er an deren Ende eingestehen, dass sein Leben gescheitert ist. Ursache für dieses Scheitern ist eine Über-Ich-Fixierung, die es ihm unmöglich macht, eine eigenständige Persönlichkeit auszubilden. Infolgedessen führt Stevens gleichsam ein Second-Hand-Life,75 das von den zwei zentralen Autoritätspersonen in seinem Leben bestimmt ist, nämlich seinem Vater William einerseits und Lord Darlington andererseits. Sie repräsentieren jeweils eines der beiden Prinzipien, auf denen Stevens sein Berufsethos und damit letztlich seine gesamte Existenz gründet. Beim ersten Prinzip handelt es sich darum, den Dienst in Würde zu versehen, worunter Stevens eine unbedingte Professionalität versteht, der alles andere unterzuordnen ist, wie das folgende Zitat belegt: The great butlers are great by virtue of their ability to inhabit their professional role and inhabit it to the utmost; they will not be shaken out by external events, however surprising, alarming or vexing. They wear their professionalism as a decent gentleman will wear his suit: he will not let ruffians or circumstance tear it off him in the public gaze; he will discard it when, and only when, he wills to do so, and this will invariably be when he is entirely alone. It is, as I say, a mat76 ter of “dignity”. (42f.)

Als Vorbild in dieser Hinsicht dient Stevens sein eigener Vater, von dem er selbst zum Butler ausgebildet worden ist und den er für „the embodiment of ‘dignity’“ (34) bzw. „the personification [...], of what the Hayes Society terms ‘dignity in keeping with his position’“ (42) hält. Um zu illustrieren, bis zu welcher Perfektion sein Vater die Fähigkeit entwickelt hat, die eigene Befindlichkeit hinter die dienstlichen Obliegenheiten zurückzustellen, führt Stevens zwei Anekdoten an. In der ersten

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Als realisierte Metapher kehrt das Motiv des Lebens aus zweiter Hand im Text immer wieder. So berichtet Stevens nicht ohne Stolz davon, im Besitz mehrerer abgelegter Anzüge von Lord Darlington und einzelner seiner Gäste zu sein (10), seine Heimat England und andere Teile der Welt kennt er nicht aus eigener Anschauung, sondern lediglich aus Büchern bzw. dem National Geographic Magazine (11f. und 28) und die Lektüre von Liebesromanen dient ihm als Surrogat für die fehlende emotionale Bindung zu einer Lebensgefährtin (167f.). Wie bereits Brian W. Shaffer (1998, 65f.) festgestellt hat, fungiert in Ishiguros Roman das Motiv der Bekleidung als zentrales Symbol für Stevens’ Verdrängungsleistung. Zwar steht die Kleidung als Gegensatz zur Nacktheit per se für Unnatürlichkeit, doch wird in diesem Zitat das Symbol auch explizit gestiftet.

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wird davon berichtet, wie sich Stevens senior von betrunkenen Gästen seines Dienstherrn widerspruchslos beschimpfen lässt, und in der zweiten geht es darum, dass er bei einem anderen Gast freiwillig für dessen erkrankten Kammerdiener einspringt. Bemerkenswert ist das Verhalten von Stevens’ Vater im zweiten Fall deshalb, weil es sich bei diesem Gast um jenen General handelt, der für den sinnlosen Tod seines älteren Sohnes im Burenkrieg verantwortlich war (37ff.). Stevens erweist sich als gelehriger Schüler seines Vaters und stellt sich explizit in dessen Tradition (110). Als Beleg dafür, wie weit er selbst es in der Kunst gebracht hat, ganz in der Rolle des Butlers aufzugehen, führt er seinerseits zwei Episoden aus seinem eigenen Leben an. Die erste handelt davon, dass er bei einer von Lord Darlington organisierten informellen Zusammenkunft hochrangiger in- und ausländischer Politiker im März 1923 seine Pflicht erfüllt, anstatt zu seinem im Sterben liegenden Vater zu eilen. Diese Entscheidung begründet er bezeichnenderweise mit dem Argument, sein Vater hätte dies zweifellos so gewollt (106). Eine vergleichbare Situation wiederholt sich im Jahr 1936. Als Miss Kenton Stevens nach 14 Jahren gemeinsamer Dienstzeit zu verstehen gibt, dass es ganz allein an ihm liegt, ob sie in Darlington Hall bleiben oder auf den Heiratsantrag von Mr Benn eingehen soll, entzieht er sich einem klärenden Gespräch mit dem Hinweis, dass er angesichts der Anwesenheit bedeutender Politiker als Butler gerade unabkömmlich sei (214ff.). In beiden Fällen wird auf der Ebene des dargestellten Geschehens eine Verbindung zur zweiten Maxime von Stevens’ Berufsauffassung hergestellt. Um als großer Butler gelten zu können, reicht seiner Meinung nach nämlich ein Dienst in Würde alleine noch nicht aus. Vielmehr muss eine weitere Voraussetzung erfüllt sein, die darin besteht, dass dieser Dienst in einem distinguished household versehen wird. Dahinter verbirgt sich eine Art Stellenphilosophie, wie sie in dem weiter oben angeführten Zitat (S. 158) bereits angedeutet ist. Da nach Stevens’ Ansicht der Horizont eines Butlers gleichsam von Natur aus begrenzt ist, kann er den Gang der Geschichte nur insofern positiv beeinflussen, als er sich in den Dienst eines echten Gentlemans stellt, der für das Wohl der Menschheit eintritt (114ff.).77 In Lord Darlington meint Stevens nun die Verkörperung eines derartigen Gentlemans zu erkennen, weshalb ihm seine unbedingte Loyalität gilt. Auf diese Weise verknüpft er sein eigenes Schicksal untrennbar mit dem seines Dienstherrn.

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Bezeichnenderweise ist es nach Stevens wiederum die Würde, die einen echten Gentleman als solchen ausweist (184f.).

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Stevens’ Berufsethos erweist sich hinsichtlich der beiden hier kurz umrissenen Prinzipien, auf denen es gründet, als fatal. Während das Konzept der Würde zu einer emotionalen Selbstverleugnung führt, die die Aufnahme bzw. die Pflege persönlicher Beziehungen unmöglich macht,78 hat die kritiklose Haltung seinem Dienstherren gegenüber zur Folge, dass dessen gesellschaftliche Ächtung auf Stevens selbst abfärbt. Ursache für diese Ächtung ist Lord Darlingtons politische Naivität, aufgrund derer er ungewollt zum Handlanger der Nationalsozialisten wird.79 Stevens’ Leben ist damit im privaten Bereich ebenso gescheitert wie im beruflichen. Stevens ist sich dieses Scheiterns auch bewusst, wie sein diesbezügliches Eingeständnis gegen Ende des Textes belegt. So gibt er zu erkennen, dass er durchaus von einem gemeinsamen Leben mit Miss Kenton

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Deutlich wird dies zunächst darin, dass Vater und Sohn, die seit 1922 beide in Darlington Hall ihrer Arbeit nachgehen, einen rein dienstlichen Umgang miteinander pflegen, der zudem dadurch verkompliziert wird, dass der Erzähler-Protagonist nun in der Hierarchie über seinem einstigen Mentor rangiert, so dass die auf das Nötigste reduzierte Kommunikation in einer Atmosphäre gegenseitiger Verlegenheit stattfindet. Signifikant ist in diesem Zusammenhang bereits der Umstand, dass Stevens seinen Vater in der direkten Anrede nicht bei seinem Namen nennt und von ihm bisweilen auch in der 3. Person spricht: „The fact is, Father has become increasingly infirm.“ (65) Zudem weicht Stevens einem Gespräch mit seinem bereits todkranken Vater, in welchem dieser von der professionellen Ebene auf eine persönliche zu wechseln versucht, aus (97). Noch gravierender sind die Auswirkungen dieser Haltung aber auf Stevens’ Verhältnis zum weiblichen Geschlecht. Denn so wie er eine emotionale Verbindung zwischen zwei Hausangestellten prinzipiell ablehnt, da durch sie die Ordnung im Haus infrage gestellt werde (51), so weist er auch einen vorsichtigen Annäherungsversuch von Miss Kenton brüsk zurück und führt als Begründung hierfür sein Konzept der Würde im Dienst an. Wie tief dieses Konzept in seiner Weltsicht verankert ist, erhellt bereits daraus, dass Stevens dabei nahezu identische Formulierungen gebraucht wie in dem oben (S. 158) angeführten Zitat: „And of course, any butler who regards his vocation with pride, any butler who aspires at all to a ‘dignity in keeping with his position’, […] should never allow himself to be ‘off duty’ in presence of others. It really was immaterial whether it was Miss Kenton or a complete stranger who had walked in at that moment. A butler of any quality must be seen to inhabit his role, utterly and fully; he cannot be seen casting it aside one moment simply to don it again the next as though it were nothing more than a pantomime costume. There is one situation and one situation only in which a butler who cares about his dignity may feel free to unburden himself of his role; that is to say, when he is entirely alone.“ (168f.) So vermittelt er nicht nur Kontakte zwischen Nationalsozialisten und einflussreichen englischen Persönlichkeiten, sondern organisiert auch ein geheimes Treffen zwischen dem damaligen deutschen Botschafter von Ribbentrop und der englischen Führung. Auf diese Weise erscheint Lord Darlington als wesentlich mitverantwortlich für die AppeasementPolitik Englands gegenüber Nazi-Deutschland. Darüber hinaus pflegt er, zumindest temporär, Umgang mit Sir Oswald Mosley, dem Anführer der englischen Faschisten, und lässt sich in dieser Zeit auch von antisemitischen Affekten affizieren. Bisweilen bekundet Lord Darlington sogar ganz grundsätzlich eine gewisse Sympathie für totalitäre Herrschaftsformen (198).

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geträumt hat (179) und in Bezug auf seine berufliche Karriere gelangt Stevens zu folgendem Schluss: ‘Lord Darlington wasn’t a bad man. He wasn’t a bad man at all. And at least he had the privilege of being able to say at the end of his life that he had made his own mistakes. His lordship was a courageous man. He chose a certain path in life, it proved to be a misguided one, but there, he chose it, he can say that at least. As for myself, I cannot even claim that. You see, I trusted. I trusted in his lordship’s wisdom. All those years I served him, I trusted I was doing something worthwhile. I can’t even say I made my own mistakes. Really – one has to ask oneself – what dignity is there in that?’ (243)

Der Rezipient ist freilich nicht auf dieses späte Eingeständnis von Stevens angewiesen, um dessen Scheitern als solches zu erkennen. Stevens’ emotionale und intellektuelle Selbstverleugnung, die einer zeitgemäßen Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben ohne Zweifel zuwiderläuft, führt vielmehr dazu, dass sich der Leser aufgrund seiner eigenen weltanschaulichen Überzeugungen in aller Regel schon frühzeitig von dieser Erzähler-Figur distanziert.80 Diese kritische Haltung wird zudem textseitig durch verschiedene Verfahren gestützt. Auf der Ebene des abstrakten Autors, d. h. im konkreten Fall vermittelt durch die Struktur des Textes, geschieht dies anhand von Äquivalenzbeziehungen der Ähnlichkeit und des Kontrasts in der Figurenkonstellation, aufgrund derer die Beurteilung des Protagonisten durch den Rezipienten in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Die entscheidende Ähnlichkeitsrelation besteht dabei – nach den bisherigen Ausführungen kaum überraschend – zwischen Stevens und seinem Vater William. Sie resultiert nicht nur daraus, dass Stevens dieselbe berufliche Laufbahn einschlägt wie sein Vater und dabei unhinterfragt dessen Be-

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Ein Distanz erzeugender Effekt findet sich zudem bereits auf der Ebene des Stils. Stevens bedient sich nämlich einer förmlichen und höchst umständlichen Ausdrucksweise, die zwar seinem Beruf als Butler durchaus angemessen sein mag, nicht aber der Vermittlung der eigenen Lebensgeschichte, worauf auch Lodge (1993, 188) und Wall (1994, 23) aufmerksam gemacht haben. Bereits dieser Stil ist somit ein Indikator dafür, dass Stevens – ganz in Übereinstimmung mit seinem Berufsethos – auch als Erzähler die Rolle des Butlers nicht abgelegt hat. Vor diesem Hintergrund wird dann auch plausibel, warum der fünfte Tag seiner Reise von ihm mit keinem Wort erwähnt wird. Offenbar hat ihn die Begegnung mit Mrs Benn emotional derart aufgewühlt, dass Stevens als Erzähler diese Rolle nicht aufrecht zu erhalten vermag und deshalb in Schweigen verfällt. Demnach hätte er sich dann erst mit dem Abstand eines weiteren Tages wieder so weit in der Gewalt, dass er mit der seiner Meinung nach gebotenen Sachlichkeit von diesem Treffen berichten kann. Ohne jeden direkten Ausdruck emotionaler Beteiligung kommentiert Stevens dann auch Mrs Benns Bekenntnis ihrer früheren Liebe zu ihm folgendermaßen: „I do not think I responded immediately, for it took me a moment or two to fully digest these words of Miss Kenton. Moreover, as you might appreciate, their implications were such as to provoke a certain degree of sorrow within me. Indeed – why should I not admit it? – at that moment, my heart was breaking.“ (239)

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rufsethos übernimmt, sondern sie manifestiert sich darüber hinaus auch in der Parallelität einzelner Sachverhalte, die schon deshalb besonders augenscheinlich ist, weil diese Sachverhalte in sprachlich identischer Weise vermittelt werden. So erinnert Stevens das Zimmer seines Vaters an eine Gefängniszelle (64), und mit genau demselben Wort charakterisiert dann später wiederum auch Miss Kenton das Zimmer von Stevens (165). Noch aussagekräftiger ist in diesem Zusammenhang aber der Umstand, dass Stevens im Alter dieselben Fehler unterlaufen wie seinem Vater,81 und dass sich beide weigern, als Ursache für diese Fehler das eigene Alter zu akzeptieren.82 Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass Stevens das Leben seines Vaters geradezu wiederholt, wodurch dessen Leben für den Leser zu einer Art Folie wird, vor deren Hintergrund er zu einer Einschätzung von Stevens gelangen kann. Stevens senior zeichnet sich nun aber v. a. durch seine Einsamkeit, seine Gebrechlichkeit und seinen Starrsinn aus, mithin durch Eigenschaften, die geeignet sind, beim Rezipienten Mitleid bzw. sogar Antipathie hervorzurufen. Aufgrund von Stevens’ Ähnlichkeit mit seinem Vater kann sich der Leser also bereits ein Bild des Erzähler-Protagonisten machen, noch bevor dieser seine eigene Weltsicht ausbreitet und damit die Möglichkeit zu deren Beurteilung eröffnet. Aufgrund dieser Parallelität der Lebenswege scheint ferner auch das Ende von Stevens, d. h. ein einsamer Tod infolge von Überarbeitung, bereits vorgezeichnet. Verstärkt wird dieser Effekt zudem durch die Figur jenes Butlers, den Stevens zufällig in Weymouth kennen lernt. Dieser steht zu ihm insofern in einer Kontrastrelation als er nicht von einem falsch verstandenen Berufsethos geleitet wird und gerade deshalb in der Lage ist, seinen wohlverdienten Lebensabend zu genießen (243f.). Offenkundiger noch als diese Äquivalenzverhältnisse sind für den Leser aber einzelne Szenen, in denen Stevens’ Positionen in Äußerungen anderer Figuren direkt infrage gestellt werden. Beispielsweise wird Stevens von Miss Kenton dafür kritisiert, dass er die Entscheidung von Lord Darlington, im Jahr 1932 die beiden Dienstmädchen Ruth und Sarah zu entlassen, weil sie Jüdinnen sind, widerspruchslos hinnimmt

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So entgeht beispielsweise beiden, dass das Tafelsilber nicht richtig geputzt ist (56 und 139f.). So wie Stevens senior statt seiner Hinfälligkeit die kaputten Stufen im Garten für seinen Sturz verantwortlich macht (66), so führt sein Sohn als Ausrede für seine Irrtümer mehrfach die gegenwärtige Personalknappheit in Darlington Hall an. Auch hier wird die Parallelität der Ereignisse bereits durch sprachlich identische Formulierungen indiziert, da in beiden Fällen die Fehler als „trivial in themselves“ bezeichnet werden (5, 60).

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(148f.).83 Grundsätzlicher noch wird Reginald Cardinal, der Patensohn Darlingtons: In einem Gespräch mit Stevens bekundet er sein Unverständnis dafür, dass dieser nicht sehen wolle, wie sein Dienstherr sich für dumm verkaufen lasse und ungewollt zu einer Schachfigur der Nationalsozialisten werde (222f.). Demnach wird Stevens bereits frühzeitig mit der Fragwürdigkeit seiner Haltung konfrontiert. Zudem gibt die Geschichte seinen Kritikern uneingeschränkt Recht, wie dem Gespräch zwischen Stevens und Mrs Benn im Jahr 1956 zu entnehmen ist, in dem auf eine Verleumdungsklage Darlingtons gegen eine Zeitung angespielt wird, die er verloren hat, wodurch sein guter Ruf endgültig ruiniert worden ist (235). Stevens ist sich dieser Tatsache also durchaus bewusst. Belegt wird dies ferner dadurch, dass er während seiner Reise einem Chauffeur gegenüber, der seinen Wagen mit Kühlwasser versorgt, leugnet, in den Diensten Lord Darlingtons gestanden zu haben (120). Dass Stevens über dieses Bewusstsein bereits seit geraumer Zeit verfügt, zeigt sich darin, dass er seinen ehemaligen Dienstherrn auch schon früher verleugnet hat (123). Wann genau Stevens zu dieser Einsicht gelangt ist, geht aus seinen Ausführungen allerdings nicht hervor. Darauf aber kommt es auch gar nicht an, denn ganz offensichtlich geht es in Ishiguros Roman nicht darum, Stevens’ Erkenntnisprozess nachvollziehbar zu machen, der zum Zeitpunkt seines Reiseantritts ja bereits abgeschlossen ist.84 Vielmehr wird dem Leser anhand dieser Reise und des Berichts über sie vor Augen geführt, dass sich Stevens als Figur und, da erlebendes und erzählendes Ich hinsichtlich der Reise nahezu zusammenfallen, als Erzähler weigert, die Realität als solche zu akzeptieren und damit auch die Unhaltbarkeit seiner Positionen endgültig anzuerkennen. Als erstes Indiz hierfür kann das Faktum angesehen werden, dass er als erzählendes Ich Mrs Benn stets bei ihrem Mädchenna-

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Gerade in dieser Episode kommt die falsch verstandene Loyalität von Stevens besonders deutlich zum Ausdruck. Offenbar kann er die Entscheidung Darlingtons zwar selbst nicht nachvollziehen, wie seine irritierte Nachfrage auf die entsprechende Anweisung (147) ebenso belegt wie sein Statement „my every instinct opposed the idea of their dismissal“ (148), doch setzt er sich im Gespräch mit Miss Kenton über seine Zweifel mit folgender Begründung hinweg: „The fact is, the world of today is a very complicated and treacherous place. There are many things you and I are simply not in a position to understand concerning, say, the nature of Jewry. Whereas his lordship, I might venture, is somewhat better placed to judge what is for the best.“ (149) Bezeichnenderweise ist ihm deshalb in erster Linie daran gelegen, die unangenehme Aufgabe in Würde zu erfüllen (148). Deshalb ist auch Phelan/Martin (1999, 98f.) zu widersprechen, wenn sie ausführen: „In the authorial audience, our knowledge of Stevens’ character and situation has been greater than his own throughout the whole course of the narrative. As the trip has progressed, however, Stevens has gradually, albeit inconsistently, moved toward what we know.“ Dieselbe Sichtweise wie Phelan/Martin vertritt auch D’hoker (2008, 153).

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men Miss Kenton nennt, so als hätte die Hochzeit mit Mr Benn niemals stattgefunden. Seine Begründung hierfür scheint zunächst recht plausibel: ‘Miss Kenton’ is properly speaking ‘Mrs Benn’ and has been for twenty years. However, because I knew her at close quarters only during her maiden years and have not seen her once since she went to the West Country to become ‘Mrs Benn’, you will perhaps excuse my impropriety in referring to her as I knew her, and in my mind have continued to call her throughout these years. Of course, her letter has given extra cause to continue thinking of her as ‘Miss Kenton’, since it would seem, sadly, that her marriage is finally to come to an end. (47f.)

Vor diesem Hintergrund bekommt jedoch der Umstand, dass Stevens auch nach seinem Treffen mit Mrs Benn, bei dem sie ihm eindeutig zu verstehen gibt, dass sie mittlerweile wieder zu ihrem Mann zurückgekehrt ist, von ihr auch weiterhin als Miss Kenton spricht, eine besondere Aussagekraft. Noch deutlicher wird seine Realitätsverweigerung freilich immer dann, wenn er Lord Darlington wider besseres Wissen zu verteidigen sucht, indem er die über ihn geäußerten Meinungen als Unwahrheiten und Nonsens qualifiziert (z. B. 61, 125f., 136f.). Mit Stevens tritt dem Leser somit ein Erzähler gegenüber, der alles daransetzt, den Anschein zu erwecken, ein geglücktes Leben geführt zu haben,85 dem dies angesichts der Konfrontation mit der Welt außerhalb von Darlington Hall im Jahr 1956 aber immer weniger gelingt.86 Dementsprechend wechseln auf der Ebene des Erzählens Rechtfertigungen des eigenen Lebensentwurfs einerseits und Eingeständnisse seines Scheiterns andererseits einander ab.87 Für den Leser hingegen steht das

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Das Motiv der Diskrepanz zwischen Schein und Sein wird auch auf der Ebene der Handlung in unterschiedlicher Weise thematisiert. So wird Stevens während seiner Reise aufgrund seiner Kleidung, seines Auftretens sowie des von seinem neuen Dienstherren geborgten Autos fälschlicherweise für einen Mann von Welt gehalten. Und Miss Kenton bringt das Problem auf den Punkt, wenn sie fragt: „Why, Mr Stevens, why, why, why do you always have to pretend?“ (154) Die Kursivierung, die zunächst lediglich eine besondere Betonung des Wortes in der Figurenrede indiziert, lässt sich dabei auch als Hervorhebung der zentralen Charaktereigenschaft von Stevens insgesamt verstehen. Unter diesem Aspekt hat eine von Stevens zu Beginn seiner Reise geäußerte Befürchtung durchaus eine doppelte Bedeutung: „But then eventually the surroundings grew unrecognizable and I knew I had gone beyond all previous boundaries. […] The feeling swept over me that I had truly left Darlington Hall behind, and I must confess I did feel a slight sense of alarm – a sense aggravated by the feeling that I was perhaps not on the correct road at all, but speeding off in totally the wrong direction and wilderness.“ (23f.) In der Tat hat Stevens allen Grund zur Sorge, doch nicht etwa deshalb, weil er in der Gegenwart möglicherweise die falsche Straße genommen hat, sondern weil ihn die Reise mit seiner Lebenslüge konfrontieren wird. In diesem Sinne hat er den falschen Weg bereits Jahrzehnte zuvor eingeschlagen. Diese offensichtlichen Widersprüche in der Bewertung seines Lebensentwurfs haben dazu geführt, dass in der Forschung bisweilen davon die Rede ist, dass Stevens’ unreliability

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Scheitern von Stevens außer Frage, so dass er im Zuge der Lektüre mitvollziehen kann, wie es Stevens immer schwerer fällt, seine Lebenslüge aufrecht zu erhalten, an der er freilich letztendlich festhalten muss, will er den Sinn seiner Existenz nicht endgültig in Zweifel ziehen. Im Hinblick auf die unreliability des Erzählers von The Remains of the Day lässt sich somit Folgendes festhalten: Anders als bei Sir Hugo geht es bei Stevens nicht darum, gleichsam hinter seinem Rücken zu rekonstruieren, was sich in der dargestellten Welt tatsächlich zugetragen hat. Die entscheidenden Fakten werden von Stevens vielmehr sogar bereitwillig geliefert, will er doch gerade mit ihrer Hilfe die Richtigkeit seiner Weltsicht belegen. Keine Kenntnis hingegen erhält der Leser über den Erkenntnisprozess, den Stevens durchlaufen hat und der dazu geführt hat, dass er schließlich doch zu der Einsicht gelangt ist, dass diese Weltsicht inadäquat ist. Der Text liefert noch nicht einmal indirekte Hinweise, die es erlauben würden, Rückschlüsse über diesen Erkenntnisprozess zu ziehen. Auf diese Weise bleibt letztlich auch im Dunkeln, wie tief Stevens’ Einsicht eigentlich reicht und wie weit er sich demzufolge der Widersprüche in seinen Ausführungen selbst bewusst ist.88 Stevens er-

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gewissen Schwankungen unterliegt (vgl. etwa Wall 1994, 36f. und Phelan/Martin 1999, 98). Vergleichbare Schwankungen der unreliability konstatiert auch Chatman (1989, 234f.) in Bezug auf den namenlosen Pfandleiher in Dostoevskijs Krotkaja, und Olson (2003, 100) stellt ganz grundsätzlich fest, dass sich die (un)reliability eines Erzählers im Laufe eines Textes verändern könne. In derartigen Formulierungen wird die bereits oben (S. 133ff.) beklagte begriffliche Unzulänglichkeit dieser Kategorie greifbar. Da sie Charaktereigenschaften bezeichnet, bewertet sie die jeweiligen Sprecher in ihrer ganzen Persönlichkeit, wo es doch vielmehr um einzelne ihrer Aussagen geht. Dabei ist es einerseits keineswegs ausgeschlossen, dass ein Erzähler im Verlauf eines Textes seine Meinung ändert oder zwischen zwei Sichtweisen auf ein Problem schwankt. Andererseits ist es geradezu die Regel, dass man die Meinung eines Sprechers zu einem bestimmten Sachverhalt teilt, die Meinung desselben Sprechers zu einem anderen Sachverhalt hingegen nicht. Schon terminologisch erweist sich das Konzept der (un)reliability mithin als zu pauschal und somit für die Beschreibung der Erzählinstanz als inadäquat. Um nicht, wie bei der Rede von einer schwankenden (un)reliability, auf Umschreibungen zurückgreifen zu müssen, die eine sinnvolle Typologisierung des Erzählers erschweren, wenn nicht gar verhindern, sollten deshalb keine charakterologischen Termini verwendet werden, sondern Begriffe, die den jeweiligen sprachlichen Akt so exakt wie möglich beschreiben. Diesen zielführenden Ansatz verfolgt bislang allerdings lediglich Heyd (2006, hier v. a. 234). Auf diesen Umstand hat bereits Wall (1994, 37) hingewiesen und daraus den zutreffenden Schluss gezogen, dass sich deshalb auch einzelne Aussagen von Stevens einer eindeutigen Bewertung durch den Leser entziehen, weil ihm dafür schlicht die notwendigen Informationen über bestimmte Ereignisse in der dargestellten Welt fehlen. Es geht wohl aber zu weit, wenn Wall daraus folgert, Ishiguros Roman wolle zeigen, dass es grundsätzlich keine autobiographische Schilderung geben könne, die über jeden Zweifel erhaben ist, ganz einfach deshalb, weil jede Version eines Geschehens zwangsläufig unvollständig und perspektivisch eingefärbt sei. Bestünde die Intention des Textes darin, eine derart allgemeine Erkenntnis zu vermitteln, dann wäre es plausibler gewesen einen Erzähler zu wählen, der sich nicht so offenkundig durch idiosynkratische und unzeitgemäße

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scheint deshalb als innerlich zerrissene Persönlichkeit, die verzweifelt darum ringt, ihrem Leben in der Rückschau einen Sinn zu verleihen.89 Weil diese Sinngebung auf der Basis unzeitgemäßer bzw. sogar grundsätzlich fragwürdiger Werte erfolgt, kann sie nur durch die partielle Leugnung der Realität gelingen. Da der Leser sich dessen im Lektüreprozess frühzeitig bewusst wird, wird er zu einem Zeugen dieses Ringens, das ob seiner Aussichtslosigkeit ein Gefühl der Beklommenheit auslöst, wenn nicht sogar Mitleid für den an seinem falschen Berufsethos gescheiterten Butler. In diesem Scheitern nun scheint auf den ersten Blick eine Parallele zu Sir Hugo in The Grotesque vorzuliegen. In der Tat ist die Existenz beider Erzähler gescheitert, doch besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass Sir Hugo an einer psychischen Krankheit leidet und deshalb ohne professionelle Hilfe, die er bezeichnenderweise grundsätzlich ablehnt, nicht in der Lage ist, Einsicht in seine verfehlte Sicht auf die Welt zu erlangen. Stevens hingegen ist nicht krank. Er hat sich trotz bestehender Alternativen für bestimmte Werte entschieden und ist sich darüber hinaus deren Fragwürdigkeit im Grunde auch bewusst.90 Und es ist gerade der aus diesem Bewusstsein resultierende, aber letztlich unge-

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Wertvorstellungen auszeichnet. Eine vergleichbare Kritik an Walls Schlussfolgerung üben auch Phelan/Martin (1999, 108, Endnote 2). Diese Zerrissenheit wird sprachlich bereits dadurch indiziert, dass Stevens häufig gerade dann, wenn er von Situationen berichtet, in denen er einer besonderen emotionalen Spannung ausgesetzt war, von der 1. Person Singular in das neutrale „man (one)“ wechselt (z. B. 64, 211 oder 243), worauf bereits Wall (1994, 23) hingewiesen hat. Erhard Reckwitz (1993, 213) deutet diese Zerrissenheit im Rahmen einer postkolonialen Betrachtungsweise folgendermaßen: „Wahrscheinlich bedarf es des geschärften Blicks des in der jeweiligen Kultur, der japanischen wie der englischen, nur partiell heimischen Außenseiters Ishiguro, um zu erkennen, welche (Un-)Heimlichkeiten gerade in solchen Gesellschaften am Werk sind, die in der Kolonisierung des inneren wie des äußeren Anderen besonders erfolgreich waren, wobei gerade die stiff upper lip-Attitüde Stevens’ und die immensen emotionalen Opfer, die er ständig erbringt, verraten, wie sehr sich das Bewußte anstrengen muß, um das unbewußte Andere beherrschen zu können. Daraus erwächst dann, als (psycho-)logische Folge, die Aggression gegenüber dem fremden Anderen, den man dominiert.“ Zwar findet eine solche Sichtweise textseitig eine Stütze darin, dass auch in Stevens’ eigenem Weltbild nationale Auto- und Heterostereotypen durchaus eine Rolle spielen – wobei sein Lob der englishness bzw. britishness (28f. und 43) bezeichnenderweise gerade an seiner eigenen Person ad absurdum geführt wird –, doch verkürzt sie die Sinndimension des Textes in unzulässiger Weise. Das dem Leser vor Augen geführte eigentliche Problem, nämlich die Folge des Eingeständnisses eigener Fehler und die Infragestellung persönlicher Ansichten nicht für die kollektive, sondern für die individuelle Identitätskonstruktion, ist zweifellos ein allgemein menschliches und damit unabhängig von einer kolonialen Tradition welcher Form auch immer. Es ist daher noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar, dass Allrath (1998, 64) es für grundsätzlich möglich hält, Stevens in die Reihe der mad monologists zu stellen.

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nutzte Handlungsspielraum, der das Schicksal von Stevens noch um einiges beklemmender erscheinen lässt als dasjenige von Sir Hugo. 3.2.7 Jerome D. Salinger: The Catcher in the Rye Um einen unreliable narrator handelt es sich, um lediglich ein weiteres Beispiel aus der Liste in A. Nünning (1998a) anzuführen, auch bei Holden Caulfield, dem 17-jährigen autothematischen figuralen Erzähler in Jerome D. Salingers Roman The Catcher in the Rye aus dem Jahr 1951. Das darin geschilderte Geschehen ist nahezu in der Gegenwart des zeitgenössischen Rezipienten angesiedelt: Der Akt des Erzählens ist auf das Jahr 1950 zu datieren, die erzählte Handlung selbst auf das Jahr 1949,91 so dass die zeitliche Distanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich relativ gering ist. Ein weiteres Spezifikum des Textes besteht darin, dass lediglich ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem Leben des Erzähler-Protagonisten unmittelbar zur Darstellung gelangt, genauer gesagt nur ca. 48 Stunden. Die Handlung setzt am Samstagnachmittag eines Adventswochenendes ein und endet am Nachmittag des darauf folgenden Montags. Zunächst verbringt Holden einen durchaus nicht außergewöhnlichen Nachmittag und Abend an seiner bisherigen Internatsschule Pencey Prep in Agerstown, Pennsylvania,92 bevor er diese nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit seinem älteren Zimmergenossen Ward Stradlater noch vor dem offiziellen Beginn der Weihnachtsferien mitten in der Nacht endgültig verlässt. Die Endgültigkeit dieses Abschieds resultiert daraus, dass er von ihr aufgrund ungenügender Leistungen relegiert worden ist. Es folgt eine fast zweitägige Odyssee durch New York, die in erster Linie eines deutlich macht, nämlich dass sich Holden in einer schweren existentiellen Krise befindet, die am Ende des Romans allerdings zumindest partiell überwunden scheint, da Holden aufgrund einer Behandlung in einer nicht näher spezifizierten medizinischen Einrichtung in Kalifornien bereits mit einer gewissen Distanz auf diese Krise zurückschauen und auch einigermaßen positiv in die Zukunft blicken kann.

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Die beiden Jahreszahlen ergeben sich indirekt aus den Alters- und Zeitangaben im Text. Als Holdens Bruder Allie im Jahr 1946 im Alter von nur elf Jahren an Leukämie verstirbt, ist Holden 13 Jahre alt (49f.; die Seitenzahlen beziehen sich auf Salinger 2001). Als erlebendes Ich ist er hingegen 16 Jahre alt und als erzählendes Ich bereits 17 (13). Da die Handlung im Dezember spielt, der Text aber nahe legt, dass der Abstand zwischen erzählendem und erlebendem Ich mehrere Monate beträgt, ist der Jahreswechsel mit einzukalkulieren. Es handelt sich dabei um einen fiktiven Ort.

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Ebenso wie in The Remains of the Day hat der Leser auch in diesem Fall keinerlei Anlass, die vom Erzähler-Protagonisten berichteten „Fakten“ in Zweifel zu ziehen. Diese Feststellung wird auch dadurch nicht infrage gestellt, dass nicht wenige Aussagen Holdens zweifellos unwahr sind. Es handelt sich dabei um hyperbolische Verzerrungen bestehender Sachverhalte, die dazu beitragen, die Perspektive des Erzählers zu akzentuieren.93 Holden setzt diese Verzerrungen ganz gezielt ein, d. h. er ist sich zum einen der Unwahrheit der jeweiligen Behauptungen wohl bewusst und zum anderen will er mit ihnen sein Gegenüber auch gar nicht hinters Licht führen. Es handelt sich hierbei also schlicht um ein rhetorisch konventionalisiertes Verfahren, dessen Konventionen den Kommunikationsteilnehmern auch vertraut sind, so dass durch derartige Aussagen im Grunde keine Missverständnisse entstehen können. Hinsichtlich der dargestellten Sachverhalte und des Ablaufs der Ereignisse ist Holden also durchaus glaubwürdig, wie in der Forschung auch zutreffend festgestellt worden ist (vgl. Cowan 1991, 54f., Endnote 3). Dem Leser wird dies nicht zuletzt dadurch zu Bewusstsein gebracht, dass Holden sich selbst zwar als „the most terrific liar you ever saw in your life“ (22) bezeichnet und diese Selbsteinschätzung durch seine Handlungsweise auf der Ebene des erlebenden Ich wiederholt nachdrücklich bestätigt.94 Auf der Ebene des Erzählens hingegen ist kein einziger Hinweis dafür zu finden, dass Holden die Unwahrheit sagt, worauf ebenfalls Cowan (1991, 43) bereits hingewiesen hat. Holdens Bericht besticht viel-

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Wenn nach Holdens Auskunft, die Rede von Ossenburger, einem ehemaligen Schüler von Pencey, ungefähr zehn Stunden dauert (23), dann wird hier in erster Linie das bei dieser Rede aufkommende Gefühl der Langeweile veranschaulicht. Wenn der „terrific fart“ (23) von Edgar Marsalla beinahe das Dach der Schulkapelle wegbläst, dann erlaubt diese Formulierung eine recht plastische Vorstellung von dem Geräusch, um das es in der in Rede stehenden Szene geht. Wenn Phoebe, Holdens jüngere Schwester, bei der Suche nach ihrem Geld im Schreibtisch „a million drawers“ öffnet (232), dann kennzeichnet diese Zuspitzung treffend Holdens Ungeduld. Und wenn die Sekretärin von Phoebes Schule laut Holden rund 100 Jahre alt ist (261), dann markiert der Erzähler-Protagonist hier den Altersunterschied zwischen ihm und ihr auf drastische Weise. Der Roman enthält eine Fülle derartiger hyperbolischer Charakterisierungen, die einen nicht unerheblichen Anteil an seiner komischen Wirkung haben. Zu Holdens Sprache im Allgemeinen und ihrem Beitrag zur komischen Wirkung des Romans im Besonderen vgl. Costello (1990). So benutzt Holden mehrfach falsche Namen wie Rudolf Schmidt oder Jim Steele. Ferner belügt er auf seiner Zugfahrt nach New York die Mutter eines Mitschülers über dessen Ansehen und Stellung unter den anderen Schülern und er nimmt den Bericht dieser Episode gleich zum Anlass, um den fiktiven Adressaten noch einmal darauf hinzuweisen, dass er derartige Lügengeschichten stundenlang erzählen könne, wenn ihm danach sei (76). Schließlich schwindelt er noch der Prostituierten Sunny vor, erst unlängst eine schwere Operation überstanden zu haben. Auch in diesem Fall vergisst Holden nicht, seine Lüge als solche kenntlich zu machen: „She made me so nervous, I just kept on lying my head off.“ (126)

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mehr ganz grundsätzlich durch seine entwaffnende Aufrichtigkeit und durch eine Offenheit, die auch ihn selbst nicht verschont, so dass der Text in einzelnen Passagen bisweilen einen Bekenntnischarakter annimmt. Beispielsweise bezeichnet sich Holden als den einzig Dummen in seiner Familie (88) und bezichtigt sich selbst wiederholt der Feigheit (115, 132). Weiterhin gesteht er freimütig ein, in sexuellen Dingen völlig unerfahren und deshalb auch noch Jungfrau zu sein (82, 120).95 Ebenso offenherzig spricht Holden über seinen Gemütszustand im zurückliegenden Dezember. Seine Nerven seien damals zerrüttet gewesen (67), er habe sich permanent niedergeschlagen gefühlt (79, 110, 118, 119, 123, 198 u. ö.), sei des Lebens überdrüssig gewesen und habe sogar Selbstmordabsichten gehegt (118, 136). Ursache hierfür ist ein an Verzweiflung grenzendes Gefühl von Einsamkeit (110, 193, 198), das ihn auf der Ebene des erlebenden Ich beherrscht und sein gesamtes Handeln motiviert. Während der geschilderten 48 Stunden ist Holden nämlich ständig auf der Suche nach Kontakt, eine Suche, die bisweilen extrem skurrile und hilflose Züge annimmt, so etwa wenn er zwei Taxifahrer jeweils auf einen Drink einlädt (79, 109), was die beiden natürlich ablehnen, oder wenn er den Nachtclubbesitzer Ernie (112) und später dann Valencia, die Sängerin in einer Bar, an seinen Tisch bitten lässt (194) – freilich jeweils ohne Erfolg. Häufig wird dieses Gefühl der Einsamkeit zudem mit dem Motiv der Sexualität verknüpft. Beispielsweise nimmt Holden telefonisch Kontakt zu der ehemaligen Striptease-Tänzerin Faith Cavendish auf (83). Trotz seiner Überredungsversuche lehnt sie jedoch angesichts der späten Stunde ein Treffen mit ihm ab. Unbefriedigend für Holden verläuft auch seine Begegnung mit drei jungen weiblichen Versicherungsangestellten aus Seattle, die er zufällig in der Bar des Hotels, in dem er abgestiegen ist, kennen lernt. Über einen Tanz mit jeder von ihnen kommt er nicht hinaus, bleibt dafür aber auf der gesamten Getränkerechnung sitzen. Schließlich lässt Holden tief in der Nacht dann tatsächlich noch eine Prostituierte namens Sunny auf sein Zimmer kommen, die ihm der Fahrstuhlführer Maurice vermittelt. Doch auch mit dieser Prostituierten, die nach Holdens Einschätzung etwa in seinem Alter ist, kommt es zu keinem sexuellen Kontakt, da ihn – seinen Angaben zufolge – die ganze Situation zu sehr deprimiert (125).96

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Auch bei diesem Thema bedient sich Holden einmal mehr einer hyperbolischen Ausdrucksweise mit komischer Wirkung, um seine Ungeschicklichkeit zu illustrieren: „Take this girl that I just missed having sexual intercourse with, that I told you about. It took me about an hour to just get her goddam brassière off. By the time I did get it off, she was about ready to spit in my eye.“ (122) Auch wenn der von Holden angeführte Grund wie eine Ausrede für seine Unerfahrenheit und seine Nervosität klingen mag, die beide in der gegebenen Situation ohne Frage mit einzukalkulieren sind und die Holden ja auch explizit eingesteht (120 bzw. 126), er-

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Auch bei den Treffen mit Sally Hayes und Carl Luce am Sonntag spielt das Thema Sexualität eine nicht unerhebliche Rolle. Mit Sally kommt es im Taxi auf der Fahrt ins Theater zum Austausch von Zärtlichkeiten, doch endet das gemeinsame Sonntagsvergnügen mit einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Mit dem drei Jahre älteren Carl ist Holden dann am Abend in der Wicker Bar verabredet. Luce war Student Adviser in Whooton, einer Schule, von der Holden einst ebenfalls relegiert worden ist. Die Erfüllung seiner Aufgabe sah Luce allerdings in erster Linie darin, den jüngeren Schülern Geschichten sexuellen Inhalts zu erzählen, die sich v. a. um Homosexualität und auffälliges Sexualverhalten drehten.97 Wohl deshalb gilt Holdens Interesse ausschließlich Carls Sexualleben, was allerdings zur Folge hat, dass dieser die Bar alsbald wieder verlässt, da Holden seinen wiederholten Aufforderungen, das Thema zu wechseln, nicht nachkommt. Daraufhin betrinkt sich Holden hemmungslos und ruft mitten in der Nacht noch einmal Sally an, die ihm allerdings unter Hinweis auf seinen Zustand lediglich den Rat gibt, nach Hause und ins Bett zu gehen. Vor lauter Einsamkeit versucht Holden sogar, die Garderobenfrau zu einer Verabredung mit ihm zu überreden, ein Angebot, dass diese allerdings mit dem Hinweis ablehnt, dass sie seine Mutter sein könnte. Holden begibt sich daraufhin in den Central Park, wo er seinen Tod infolge einer Lungenentzündung imaginiert. In dieser Krise wendet sich Holden zunächst an die einzige Person, zu der er uneingeschränktes Vertrauen hat, seine zehnjährige Schwester Phoebe, bevor er schließlich – um nicht seinen Eltern zu begegnen – zu seinem mittlerweile in New York lebenden ehemaligen Englischlehrer in Elkton Hills, Mr Antolini, weiterzieht, um bei ihm und dessen Frau die Nacht zu verbringen. Als er im Morgengrauen allerdings davon aufwacht, dass er Antolinis Hand auf seinem Kopf spürt, verlässt Holden fluchtartig die Wohnung. Nach einem weiteren Treffen mit Phoebe am Nachmittag bricht die Handlung abrupt ab. Wenn Salingers Roman mithin die Krise eines Sechzehnjährigen zum Thema hat, die in der Einsamkeit des Protagonisten ebenso ihren sinnfälligen Ausdruck findet wie in seiner geradezu obsessiven Beschäftigung mit seiner Sexualität, dann stellt sich mit Nachdruck die Frage nach der Ursache für diese Krise. Der Erzähler, also Holden selbst, gibt

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langt dieser Grund im noch zu rekonstruierenden Motivationsgefüge für die psychische Verfassung des Erzähler-Protagonisten gerade wegen dieses Eingeständnisses eine gewisse Plausibilität. „He knew quite a bit about sex, especially perverts and all. He was always telling us about a lot of creepy guys that go around having affairs with sheep, and guys that go around with girls’ pants sewed in the lining of their hats and all. And flits and Lesbians.“ (185f.)

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darauf keine Antwort – falls er denn überhaupt eine hat.98 Indem Holden außerdem die Vorgeschichte jener krisenhaften 48 Stunden sowie die Zeit zwischen dem dargestellten Geschehen und der Erzählgegenwart explizit ausklammert, macht er es seinem fiktiven Adressaten und damit auch dem Leser noch schwerer, selbst eine Antwort auf diese Frage zu finden.99 Bei der Sinnzuweisung ist der Rezipient folglich auf indirekte Hinweise in Holdens Bericht angewiesen und deren Deutung vor dem Hintergrund seines eigenen Weltwissens.100 Die nahe liegendste Antwort auf die Frage nach der Ursache für Holdens Krise ist zweifellos die, dass er schlicht „die Hölle der Pubertät“ (Gerigk 1983, 37) durchlebt. In der Tat liefert der Text für eine solche Erklärung eine Vielzahl gewichtiger Indizien. An erster Stelle ist in diesem Kontext Holdens Auflehnung gegen die Welt der Erwachsenen zu nennen. Für ihn ist das entscheidende Charakteristikum dieser Welt ihr eklatanter Mangel an Authentizität. In seinen Augen handelt es sich vielmehr um eine Schein-Welt, deren Repräsentanten – die phonies – lediglich auf ihre Außenwirkung bedacht sind. Dazu gehört nicht nur die übertriebene Wertschätzung des äußeren Erscheinungsbildes,101 sondern auch die sklavische Einhaltung gesellschaftlich vorgegebener Konventionen.102 Unter Holdens Verdikt fallen folgerichtig auch die Bildungseinrichtungen, die sich die Vermittlung eben dieser Konventionen zum

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Am Ende seines Erzählerberichts wiederholt Holden dem fiktiven Adressaten gegenüber jedenfalls genau das, was er bereits seinem Bruder D.B. auf die Frage geantwortet hat, was er denn nun über seine damaligen Erlebnisse in New York denke: „If you want to know the truth, I don’t know what I think about it.“ (276f.) 99 Dieser Ausschluss erfolgt gleich mit dem ersten Satz des Romans: „If you really want to hear about it, the first thing you’ll probably want to know is where I was born, and what my lousy childhood was like, and how my parents were occupied and all before they had me, and all that David Copperfield kind of crap, but I don’t feel like going into it, if you want to know the truth.“ (3) Das letzte, nur eine Seite umfassende Kapitel wiederum eröffnet mit dem Satz: „That’s all I’m going to tell about. I could probably tell you what I did after I went home, and how I got sick and all, and what school I’m supposed to go to next fall, after I get out of here, but I don’t feel like it. I really don’t. That stuff doesn’t interest me too much right know.“ (278) 100 Dies ist einer der Gründe dafür, warum Salingers Roman zu zahlreichen und bisweilen extrem heterogenen Deutungen herausgefordert hat. Auf andere Ursachen hierfür, wie etwa den komplexen Charakter Holdens oder die reichhaltige Symbolik des Textes, hat bereits Eberhard Alsen (2008, 171) hingewiesen. 101 In Holdens typisch hyperbolischer Ausdrucksweise erscheint Stradlater als eitler Geck, der sich nicht nur eine Stunde lang die Haare kämmt, sondern sogar sein halbes Leben vor dem Spiegel zubringt (42 bzw. 43). Sally wiederum geht es beim Schlittschuhlaufen, das sie im Übrigen auch gar nicht beherrscht, nicht um die sportliche Betätigung oder um eine angenehme Freizeitgestaltung, sondern lediglich darum, ihren Körper möglichst gut zur Geltung zu bringen (167). 102 Im Gespräch mit Sally weist Holden die Ausdrucksformen einer bürgerlichen Existenz dezidiert als inadäquat zurück (172f.).

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Ziel gesetzt haben, sowie die Berufsbilder, die mit einer entsprechenden Ausbildung gewöhnlich verbunden werden. Holdens Kritik zielt dabei auf die Internatsschulen, die er besucht hat, ebenso wie auf die so genannten Ivy-League-Universitäten, die sich unterschiedslos durch ihren Snobismus auszeichneten. In einem solchen Umfeld gehe das Gespür für Authentizität spätestens im Zuge der beruflichen Laufbahn verloren, wie Holden am Beispiel des Anwaltsberufs verdeutlicht (223f.). Die Wahl dieses Beispiels ist nicht zufällig, da Holdens Vater selbst Anwalt ist. Diese für die Pubertät charakteristische Abgrenzung vom eigenen Elternhaus erhält durch den mit dem Anwaltsberuf verbundenen sozialen Status allerdings eine deutlich größere Dimension, sind Holdens Eltern doch Angehörige jener oberen Mittelschicht, die sich mit Hilfe elitärer Bildungseinrichtungen beständig selbst reproduziert und ihrem Selbstverständnis nach den Kern der modernen amerikanischen Gesellschaft ausmacht.103 Dass Holdens Antihaltung tatsächlich weit über das familiäre Umfeld hinausreicht und die Repräsentanten dieser Gesellschaft allesamt im Visier hat, ist zum einen daran erkennbar, dass er den Begriff phony – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – auf alle Personen anwendet, mit denen er zu tun hat.104 Zum anderen ist es für Holden die Kultur dieser Gesellschaft insgesamt, die nichts weiter vermittelt als einen schönen Schein.105

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103 Bezeichnenderweise hat Holdens Vater für ihn ein Studium in Yale oder Princeton vorgesehen (112). Zum gesellschaftskritischen Aspekt von Holdens rebellischer Haltung vgl., mit durchaus unterschiedlicher Akzentsetzung, French (1988, 58) und Brookeman (1991, 69). In ihrer marxistischen Lesart haben Carol und Richard Ohmann (1990) diese Gesellschaftskritik zum eigentlichen Thema des Romans erhoben, übersehen dabei aber die universelleren Implikationen, die die Darstellung der Pubertätsproblematik mit sich bringt (vgl. dazu auch French 1988, 56). Gerade hierin ist auch ein zentraler Unterschied zu Mark Twains Huckleberry Finn zu sehen, mit dem The Catcher in the Rye so häufig verglichen wurde, steht in Twains Roman doch ohne Zweifel nicht so sehr die Persönlichkeit Hucks im Mittelpunkt. Dessen kindlich-verfremdender Blick wird dagegen in der Tat in erster Linie dazu genutzt, die zeitgenössischen gesellschaftlichen und moralischen Übel zur Anschauung zu bringen. 104 Wie Aleksandar Flaker (1975, 36) gezeigt hat, verläuft der zentrale Konflikt in der von ihm so genannten Jeans-Prosa, für die Salingers einziger Roman das Paradigma bildet, eben nicht in traditioneller Weise zwischen den Generationen (etwa im Sinne von Turgenevs Otcy i deti [Väter und Söhne]), vielmehr sei für diesen Prosatypus die Opposition „zur institutionalisierten und strukturierten Welt in ihrer Gesamtheit“ charakteristisch. 105 So geißelt Holden beispielsweise die Unnatürlichkeit der Schauspieler in den BroadwayShows mit den folgenden Worten: „In the first place, I hate actors. They never act like people.“ (152) Auch wenn man an dieser Stelle einwenden könnte, dass eine Stilisierung welcher Art auch immer zum Wesen einer Bühneninszenierung gehört, so trifft dieser Vorwurf Holden nur bedingt, da an anderer Stelle deutlich wird, dass er sich dessen durchaus bewusst ist. Ihn stört vielmehr die Affektiertheit und Selbstverliebtheit der Schauspieler, die noch in ihrem Spiel auf der Bühne durchscheint (164). Im Übrigen ist es bezeichnend, dass Holdens Vater gerade in derartige Broadway-Shows Geld investiert

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Dieser Schein-Welt setzt Holden das Konzept einer bedingungslosen Authentizität entgegen. Für Holden liegt es auf der Hand, dass im Rahmen der bestehenden Verhältnisse eine authentische Existenz unmöglich ist. Konsequenterweise denkt er deshalb mehrfach über seine Flucht aus der Zivilisation nach, zunächst im Gespräch mit Sally, später dann noch einmal für sich selbst. Dabei ist ihm offenbar bewusst, dass auch ein weitgehend natürliches Umfeld keinen endgültigen Schutz vor den Fährnissen der Schein-Welt bietet. Es ist nämlich durchaus kein Zufall, dass Holden in einer dieser Phantasien sich selbst und seine zukünftige Lebensgefährtin als taubstumm imaginiert und damit eben jenes Werkzeug aus seinem Leben verbannt, das in höchstem Maße konventionell geregelt ist und gleichzeitig ein entscheidendes Instrument darstellt, um die Schein-Welt aufrecht zu erhalten – die Sprache (257f.).106

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(140). Ferner zeiht Holden die Bühnenshows der Verkitschung und Kommerzialisierung selbst existentieller Themen wie etwa der Religion (178). Im Zentrum seiner Kritik aber steht die Traumfabrik Hollywood, die mit ihren auf das breite Publikum abzielenden Melodramen die Menschen dazu bringt, die reale Welt aus dem Blick zu verlieren. Als Beispiel hierfür führt Holden eine Kinobesucherin an, die sich angesichts der dargestellten Emotionen fast die Augen ausweint, das Bedürfnis ihres kleinen Kindes aber, die Toilette aufzusuchen, schlicht ignoriert (181). 106 Wie sehr die sprachlichen Konventionen mit den gesellschaftlichen Umgangsformen verbunden sind, zeigt sich in der Blasiertheit der Konversation zwischen Sally und George, nach Holden ein typischer Ivy-League-Student, während der Theaterpause sowie im Austausch von ritualisierten Höflichkeitsfloskeln zwischen Holden und einem Marineangehörigen am Ende seines Besuchs in Ernies Bar. Zudem wird die Diskrepanz zwischen den Äußerungen einzelner Figuren und den tatsächlich bestehenden Sachverhalten von Holden mehrfach thematisiert, so etwa in Bezug auf die Werbung für Pencey, die Rede von Ossenburger, aber auch die floskelhafte Antwort seiner Mutter auf Phoebes Frage, wie ihr Abend gewesen sei. Wie sehr sich Holden dieser Sprachverwendung widersetzt, verdeutlicht der Umstand, dass er – obwohl er ausgerechnet im Fach Englisch keine Probleme hat und in einzelnen Situationen nachweist, die Regeln der gesellschaftlichen Konversation zu beherrschen, – gerade in „Oral Expression“ durchgefallen ist (237). Wie groß wiederum der Konformitätsdruck hinsichtlich der Sprachverwendung in der Schule ist, verdeutlicht jene Episode, in der Richard Kinsella von seinen Mitschülern niedergebrüllt wird, weil er sich nicht an die Spielregeln des Konversationsunterrichts hält (238f.). Das Gegenmittel ist für Holden auch in diesem Bereich eine unbedingte Authentizität, die sich auf der Ebene des erlebenden Ich u. a. darin niederschlägt, dass er seine Gefühle ohne Rücksicht auf sein Gegenüber ausspricht, selbst wenn damit eine Beleidigung verbunden ist, wie beispielsweise am Ende des Treffens mit Sally, der er schlicht mitteilt: „You give me a royal pain in the ass, if you want to know the truth.“ (173) Auf der Ebene des erzählenden Ich schlägt sich das Bemühen um eine authentische Sprachverwendung in unterschiedlicher Weise nieder. Es zeigt sich beispielsweise in der oben bereits dargelegten Offenheit Holdens seinem fiktiven Adressaten gegenüber. Von Relevanz sind in diesem Kontext auch Holdens Floskeln der Beglaubigung, wie das bereits zitierte „if you really want to know the truth“, „I swear to God“, „I really am“, „I really do“, „I admit it“, „I’m not kidding“ etc., mit denen Holdens Erzählbericht durchsetzt ist. Als Versuch einer authentischen Sprachverwendung kann auch seine hyperbolische Ausdrucksweise angesehen werden, versucht sie doch jenseits konventionalisierter Bedeutungskonzepte den ent-

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Deshalb will Holden auch seine Kinder später einmal verstecken und ihnen selbst das Lesen und Schreiben beibringen. Vor diesem Hintergrund erscheint nicht nur das titelgebende Motiv, also Holdens Vorstellung, ein Fänger im Roggen zu sein, der die Kinder davor bewahrt von einer Klippe zu stürzen, motiviert, vielmehr wird auch klar, warum ein authentischer zwischenmenschlicher Umgang für Holden nur mit Kindern, im konkreten Fall mit Phoebe, möglich ist: Sie sind noch nicht im gleichen Maße von den gesellschaftlichen Konventionen affiziert wie die Erwachsenen, agieren spontan und bringen ihre Gefühle unverstellt zum Ausdruck.107 Als ein wesentlicher Bestandteil von Holdens pubertärer Auflehnung ist ferner der Umstand anzusehen, dass seine Kommentare und Werturteile, die seine kritische Distanz gegenüber der Welt der Erwachsenen allererst greifbar werden lassen, einseitig zugespitzt sind und höchst apodiktisch ausfallen. Am offensichtlichsten zeigt sich dies in seinen Generalisierungen, die in ihrer Pauschalität nicht selten durchaus fragwürdig erscheinen. So wird man Holdens folgenden Urteilen kaum umstandslos zustimmen können: „People always clap for the wrong things.“ (110) oder „People are always ruining things for you.“ (114) Bei anderen generalisierenden Aussagen wird deren Bewertung durch den Rezipienten nicht zuletzt von dessen lebensweltlichen Erfahrungen bzw. seiner Weltsicht abhängen, so etwa in den folgenden Fällen: „The more expensive a school is, the more crooks it has – I’m not kidding.“ (7) oder „You don’t have to think too hard when you talk to a teacher.“ (18) Wiederum anderen Pauschalurteilen schließlich ist ein gewisses Maß an Plausibilität zumindest nicht grundsätzlich abzusprechen: „You

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sprechenden Sachverhalt besonders anschaulich zur Geltung zu bringen. Das auffälligste Merkmal für Holdens Ringen um eine authentische Sprachverwendung ist aber zweifellos stilistischer Natur. Es handelt sich um seine Idiosynkrasien (vgl. etwa den Gebrauch des Adjektivs old und sein ständig wiederkehrendes and all) sowie um die Vielzahl von Slangausdrücken (dough, flit usw.) und Vulgarismen in seinem Bericht, die ja selbst auf der textexternen Ebene ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Auf Holdens Streben, seine Sprache aufrichtig erscheinen zu lassen, hat bereits Alan Nadel (2008, 56) hingewiesen. Er sieht darin allerdings nur ein Ritual, das letztlich nichts über die Glaubwürdigkeit des Erzählers aussage. Die mangelnde Plausibilität einer solchen Sichtweise wird spätestens dann erkennbar, wenn Nadel Holdens Erzählerbericht mit Aussagen vor Untersuchungsausschüssen in der McCarthy-Ära in Verbindung bringt. Aufgrund einer Überbewertung kontextueller Faktoren, die vom Text in keiner Weise nahe gelegt werden (der damalige Antikommunismus in den USA ist noch nicht einmal ansatzweise, etwa auf der symbolischen Ebene, im Text zu greifen), wird hier die existentielle Problematik des heranwachsenden Holden einfach ausgeblendet. Ein weiteres Gegenargument gegen Nadel ist die bereits angesprochene stilistische Markierung von Holdens Sprache, die gerade nicht auf eine offizielle Kommunikationssituation hindeutet, wie sie ein Untersuchungsausschuss zweifellos darstellt. 107 In vergleichbarer Weise bereits Furst (1990, 175).

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can’t stop a teacher when they want to do something. They just do it.“ (16); „All morons hate it when you call them a moron.“ (57) oder „You take somebody’s mother, all they want to hear about is what a hot-shot their son is.“ (73) Egal wie sehr die Zustimmung bzw. Ablehnung dieser Urteile im Einzelfall vom jeweiligen Erfahrungs- und Wertehorizont des konkreten Lesers abhängen mag, so sind diese generalisierenden Aussagen – ebenso wie die hyperbolischen Zuspitzungen – allesamt geeignet, Holdens Weltsicht prägnant auf den Punkt zu bringen. Natürlich gilt dies nicht nur für Holdens Pauschalurteile, sondern auch für seine Beurteilung individueller Sachverhalte sowie einzelner Gegenständlichkeiten und Figuren. So wirft er beispielsweise seinem älteren Bruder D.B. vor, sich mit dem Verfassen von Hollywood-Drehbüchern zu prostituieren (4). Pencey hält er schlicht für „terrible“ (5), die Schule als Institution hasst er ebenso wie das Leben in New York ganz generell (169), sein Mitschüler Ernest Morrow ist so sensibel wie ein „goddam toilet seat“ (72), Sally mangelt es nicht nur an Intelligenz, vielmehr ist sie die „queen of the phonies“ (152) und Carl Luce wiederum ist „strictly a pain in the ass“ (193).108 Auch wenn Holdens Urteile in der Regel extrem harsch ausfallen, so ist seine Haltung gegenüber der ihn umgebenden Welt im Grunde aber höchst ambivalent. Seiner Beleidigung Sallys und auch ihrer Beurteilung in der Erzählgegenwart etwa steht die Tatsache gegenüber, dass er gerade ihr vorgeschlagen hat, mit ihm in die Wildnis zu fliehen und ihr sogar eine Liebeserklärung gemacht hat. Zwar bekennt Holden im Nachhinein, dass er in beiden Fällen Unsinn geredet habe, doch beharrt er auf der Authentizität seiner Äußerungen zum damaligen Zeitpunkt (163 bzw. 174). Carl Luce wiederum konzediert er immerhin, nicht nur einen hohen I.Q. zu haben, sondern bisweilen auch intellektuell sehr anregend auf ihn zu wirken (177). Derartige Ambivalenzen finden sich auch hinsichtlich zahlreicher anderer Figuren, so etwa in Bezug auf seinen Geschichtslehrer Spencer und seinen Mitschüler Ackley, die er beide aus unterschiedlichen Gründen verabscheut, gleichzeitig aber auch bemitleidet. Um ihm die Situation emotional zu erleichtern, äußert Holden Spencer gegenüber sein Verständnis dafür, dass er ihn hat durchfallen lassen, und Ackley lädt er sogar ein, ihn und einen Freund ins Kino zu begleiten. Gerade in Bezug auf das Medium Film erweist sich Holdens Einstellung als äußerst widersprüchlich. Einerseits betont er wiederholt, das Kino zu hassen (4, 38) und verflucht Hollywood (212), wo sich sein Bruder, wie bereits erwähnt, seiner Meinung nach prostituiert, anderer-

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108 Die Liste derartiger Urteile ließe sich beträchtlich verlängern.

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seits ist er ein passionierter Kinogänger – Hitchcocks The 39 Steps hat er sich sogar mehrfach angesehen (88) – und zudem imitiert er für sein Leben gerne Filmszenen.109 Selbst dem von ihm so geschmähten Anwaltsberuf gesteht Holden eine positive Seite zu, nämlich dass durch ihn das Leben unschuldiger Menschen gerettet werden kann (223). Holden ist sich der Widersprüchlichkeit seiner Empfindungen und Ansichten bisweilen durchaus bewusst, wie an seinen diesbezüglichen Kommentaren abzulesen ist.110 Ebenso klarsichtig verortet er sich selbst in der Übergangsphase zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein wie das folgende Zitat belegt, in dem seine diesbezügliche Gespaltenheit zudem auf einer symbolischen Ebene an seinem Äußeren festgemacht wird: The one side of my head – the right side – is full of millions of gray hairs. I’ve had them ever since I was a kid. And yet I still act sometimes like I was only about twelve. Everybody says that, especially my father. It’s partly true, too, but it isn’t all true. People always think something’s all true. I don’t give a damn, except that I get bored sometimes when people tell me to act my age. Sometimes I act a lot older than I am – I really do – but people never notice it. 111 People never notice anything. (13)

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109 In diesem Fall ist Holdens Gespaltenheit insofern durchaus nachvollziehbar, als die Filme selbst zwar lediglich eine Schein-Welt erschaffen, diese Schein-Welt ihrerseits aber die Flucht aus der realen Schein-Welt erlaubt, mithin genau das, was Holden an jener Kinobesucherin mit ihrem Kleinkind kritisiert. Wenn Holden also bisweilen auch ein Verhalten an den Tag legt, das ihn an seinen Mitmenschen gerade stört – wie sollte es im Übrigen auch anders sein, da er doch in eben jenem gesellschaftlichen Umfeld sozialisiert wurde, gegen das er nun aufbegehrt, ein Umstand, mit dem sich Brookeman (1991) ausführlich beschäftigt hat –, so bleibt doch ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen und ihm bestehen, nämlich seine Authentizität. French (1988, 39) hat dies folgendermaßen umschrieben: „Although Holden, as critics have thronged to point out, shares much of the phoniness he complains of in others, he differs from those he meets in that he still has genuinely passionate feelings that have atrophied in what we would now call conformist clones.“ So offensichtlich die Bezugnahmen auf das Medium Film in Salingers Roman auch sind, so scheint mir doch John Seelyes (1991) Betrachtungsweise, im Film, genauer in den Verfilmungen der hard-boiled Kriminalromane von Chandler und Hammett mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle, einen zentralen Prätext für The Catcher in the Rye zu sehen, hochgradig spekulativ. Auch wenn die Art des Erzählens in den in Rede stehenden Texten in gewisser Weise durchaus vergleichbar ist, wie Seelye (1991, 26) anmerkt, ist die Parallele zwischen Holden und dem gutherzigen Detektiv mit der rauen Schale, der dem Schmutz der Großstadt und der Korruption gegenüber steht, nicht besonders plausibel, da sie die uneinheitliche Perspektive des Heranwachsenden und damit auch die jeweils recht unterschiedliche Motivation für die Distanz des Erzähler-Protagonisten zur Gesellschaft nicht berücksichtigt. 110 Seine zwiespältige Haltung gegenüber Sally kommentiert er beispielsweise folgendermaßen: „I swear to God I’m crazy. I admit it.“ (162; in vergleichbarer Weise auch 163) und „I swear to God I’m a madman.“ (174) 111 Von seiner Umwelt wird Holden dieser Übergangsstatus auch immer wieder schmerzlich ins Bewusstsein gerufen, so wenn er mehrfach in Restaurants oder Bars keinen Alkohol

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Holdens innerer Zwiespalt ist einerseits ein typisches Symptom der Pubertät, worauf in der Forschung auch mehrfach hingewiesen worden ist.112 Andererseits macht das Zitat aber auch deutlich, dass Holden zumindest im Prinzip bereits erkannt hat, dass der Komplexität der menschlichen Existenz mit einem manichäischen Weltbild nicht beizukommen ist. Zieht man allerdings in Betracht, dass Holden in bestimmten Kontexten dezidiert zu einer Schwarz-Weiß-Malerei neigt, so zeigt sich gerade im Hinblick auf seine Weltsicht die Vielschichtigkeit des Erzähler-Protagonisten, die nicht nur einer tendenziösen Darstellung der Adoleszenz trefflich entgegenwirkt, sondern gleichzeitig auch einen breiten Spielraum für unterschiedlichste Konkretisationen der Hauptfigur des Romans eröffnet. Ein weiteres zentrales Kennzeichen der Pubertät ist schließlich noch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität mitsamt der aus ihr resultierenden Bedürfnisse und Frustrationen. Als Pubertierender mit seiner rebellischen Attitüde, seiner in sich widersprüchlichen Weltsicht und seiner Suche nach sexueller Orientierung fungiert Holden als uneingeschränktes Identifikationsangebot, da jeder erwachsene Leser diese Entwicklungsphase selbst durchlaufen hat.113 In dieser Hinsicht ist die Thematik von Salingers Roman aufgrund ihres universellen Zuschnitts existentiell, wenn auch nicht existentialistisch.114 In diesem Sinne ist The Catcher in the Rye dann in der Tat

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ausgeschenkt bekommt oder wenn Faith Cavendish darauf hinweist, dass seine Stimme doch recht jung klinge. 112 Peter Shaw (1991, 99) spricht in diesem Zusammenhang von „the peculiar dynamics of adolescent psychology“, die geradezu schizophrene Züge aufweise. In vergleichbarer Weise argumentiert auch Alsen (2008), der die Widersprüche in Holdens Persönlichkeit detailliert herausarbeitet. 113 Wie dauerhaft und breit dieses Identifikationsangebot angenommen wird, belegt die sich in den Verkaufszahlen widerspiegelnde Popularität des Romans ebenso wie die große Zahl seiner Übersetzungen in andere Sprachen. Diese Wirkung basiert freilich nicht allein auf der von allen Lesern geteilten Erfahrung der Pubertät, sondern auch auf der im Text vermittelten Wertperspektive, wie French (1988, 36f.) anhand eines Vergleichs des Romans mit Salingers Erzählung I’m Crazy aus dem Jahr 1945 verdeutlicht, in der bereits ein Holden Caulfield als Erzähler-Protagonist fungiert: „A significant difference between the novel and the earlier short story is that, whereas in ‘I’m Crazy,’ as the title indicates, Holden repeatedly puts the blame for what has happened on his own inadequacies, in the novel he shifts the blame to the ‘morons’ he encounters. The deprecatory description of himself as ‘crazy’ in the story indicates Holden’s acceptance of an external conventional standard to which he cannot measure up – it is a defeatist admission of inferiority due to abnormality. In the novel, Holden’s blanket use of ‘morons’ to describe others indicates a contemptuous condescension toward the failure of his society to measure up to his expectations. The shift ist one of the techniques that enabled Salinger to charm readers of the novel who identify with Holden by assuring them of their own inherent superiority.“ 114 Eine existentialistische Lesart des Romans vertritt dagegen David Galloway, der zwar – völlig zu Recht – auf die Unterschiede zwischen Holden und den Protagonisten aus den

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eine Case History of All of Us, wie der Titel einer Rezension des Romans von Ernest Jones aus seinem Erscheinungsjahr lautet. Darin vergleicht er den Roman mit einem Spiegel: „It reflects something not at all rich and strange but what every sensitive sixteen-year-old since Rousseau has felt, and of course what each one of us is certain he has felt.“ (Jones 1990, 24)115 Auch wenn dem zweifelsohne so ist, bleibt bei einer solchen Betrachtungsweise allerdings unberücksichtigt, dass nicht alle Rezipienten mehrfach vorzeitig von einer Schule abgegangen sind. Ebenso wenig haben wohl alle Leser in ihrer Pubertät Selbstmordgedanken gehegt oder die Angst verspürt, beim Überqueren der Straße die andere Straßenseite nicht zu erreichen und einfach zu verschwinden (8 und 256f.). Angesichts solch drastischer Symptome drängt sich die Vermutung geradezu auf, dass es für Holdens Krise tiefer liegende Ursachen gibt, die einer uneingeschränkten Identifikation des Rezipienten mit dem ErzählerProtagonisten entgegenstehen. In diesem Sinne ist Holden dann, wie bereits Peter Shaw (1991, 97) angemerkt hat, eben nicht bloß „a case history of all of us“, sondern „a psychological case in his own right“, so dass die von Ackley (29) und Luce (187) an Holden gerichtete Aufforderung, endlich erwachsen zu werden, doch zu kurz zu greifen scheint.

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Texten von Camus hinweist, trotzdem aber auf dem Standpunkt beharrt, „Holden, as a frustrated, disillusioned, anxious hero, stands for modern man rather than merely for the modern adolescent.“ (Galloway 2008, 27) Nun ist es aufgrund der geringen Distanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich zwar so, dass der Leser nicht erfährt, welche Richtung Holdens Entwicklung nimmt, doch ist die Möglichkeit einer solchen Entwicklung zumindest impliziert, während im Konzept des Absurden das Empfinden der Entfremdung und der Verlust der transzendentalen Gewissheit irreversibel ist. Bezeichnenderweise grenzt auch Flaker (1975, 230ff.) den Typus der Jeans-Prosa von jenen Texten ab, die einen universellen philosophischen Anspruch haben, wie er für die Prosa des Existenzialismus gerade charakteristisch ist. Eben wegen dieser Entwicklung Holdens, die am Ende des Romans nach dem Besuch bei Antolini in der Karussell-Szene ja auch bereits ihren Anfang nimmt, ist ferner Helen Weinbergs Interpretation zurückzuweisen, die in Holden eine rein passive Figur sieht, die unschuldig zum Opfer der Gesellschaft wird. Weinberg meint daher eine Analogie zur Passion Christi erkennen zu können: „The closed, literary, prestructured character of Holden is embodied in the archetypal figure of Christ, the incongruously ironic hero who, according to Northrop Frye, appears increasingly innocent the more he is punished by society.“ (Weinberg 1987, 65) Bei Holden handle es sich deshalb eher um „a formula for ideal being rather than an urgent existence.“ (Weinberg 1987, 66) Auch wenn Holdens Odyssee durchaus Züge einer Leidensgeschichte aufweist und die Handlung in der Weihnachtszeit angesiedelt ist, so ist der Verweis auf das archetypische Muster doch eher geeignet, den Blick für die Spezifik der Figur zu verstellen als diese zu erhellen. 115 Eben wegen dieser Allgemeinheit der Thematik, die für den Leser wenig Überraschendes biete, kommt Jones (1990, 25) zu dem Schluss, der Roman sei „predictable and boring“, ein Urteil, das durch den anhaltenden Erfolg des Textes eindeutig widerlegt worden ist.

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Zur Appellstruktur des Textes gehört es mithin, den Leser zum Nachdenken über Holdens psychische Verfassung anzuregen. Eine nahe liegende Erklärung für seinen Zustand ist der traumatische Verlust seines jüngeren Bruders Allie, in dessen Folge er auch psychotherapeutisch behandelt werden sollte.116 In der Tat legt der Text nahe, dass dieses einschneidende Erlebnis bei Holden bleibende Spuren hinterlassen hat und immer noch nachwirkt. So weiß er nicht nur das Datum von Allies Todestag auswendig, sondern hütet auch dessen Baseball-Handschuh nahezu wie eine Reliquie. Zudem ist es – wiederum in einem beinahe religiösen Sinn – gerade Allie, den Holden anruft, wenn er sich allzu niedergeschlagen fühlt. Dennoch erscheint es aus verschiedenen Gründen wenig plausibel, in Allies Tod die dominante Ursache für Holdens Krise zu suchen, wie dies beispielsweise Edwin H. Miller in seiner psychoanalytischen Lektüre des Textes tut.117 Zum einen sind seitdem immerhin drei Jahre vergangen, und es ist nicht recht ersichtlich, in welchem ursächlichen Zusammenhang der Ausbruch der Krise mit Allies Tod stehen soll. Zum anderen würde bei einer derartigen Interpretation von Holdens psychischem Zustand der gesamte Motivkomplex der Sexualität ausgeblendet, der den Roman aber ganz wesentlich prägt.118 Eine dementsprechend große Rolle spielt dieser Motivkomplex daher auch in der Forschung, wenn es darum geht, Holdens Verhalten und seine Reaktionen auf die Umwelt zu erklären. Aufgrund der konsequent durchgehaltenen figuralen Perspektive des Romans, in deren Rahmen zudem die Rede anderer Figuren als mögliches Korrektiv stark reduziert ist, sowie des bereits angesprochenen weitgehenden Ausschlusses der

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116 Wie stark dieser Verlust auf ihn gewirkt hat, zeigt sich beispielsweise daran, dass Holden in der Nacht von Allies Tod alle Fenster der Garage mit der bloßen Hand eingeschlagen und sich dabei derart verletzt hat, dass ihn auch drei Jahre danach die Hand bisweilen noch schmerzt und er sie nicht zu einer Faust ballen kann (50). 117 Vgl. Miller (1982). Gegen eine Überbewertung von Allies Tod als Grund für Holdens Zustand wendet sich bereits Shaw (1991, 100f.). 118 Wie dominant dieser Motivkomplex ist, zeigt sich auch in einer der produktiven Rezeptionen von Salingers Roman, wenn nämlich Edgar Wiebeau, der Protagonist aus Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. aus dem Jahr 1972 gerade diesen Aspekt besonders hervorhebt: „Dieser Salinger ist ein edler Kerl. Wie er da in diesem nassen New York rumkraucht und nicht nach Hause kann, weil er von dieser Schule abgehauen ist, wo sie ihn sowieso exen wollten, das ging mir immer ungeheuer an die Nieren. Wenn ich seine Adresse gewußt hätte, hätte ich ihm geschrieben, er soll zu uns rüberkommen. Er muß genau in meinem Alter gewesen sein. Mittenberg war natürlich ein Nest gegen New York, aber erholt hätte er sich hervorragend bei uns. Vor allem hätten wir seine blöden sexuellen Probleme beseitigt. Das ist vielleicht das einzige, was ich an Salinger nie verstanden habe.“ (Plenzdorf 1973, 24f.) Auch wenn das Zitat aus einem fiktionalen Text stammt, so deutet es doch immerhin an, dass eine bedingungslose Identifikation mit Holden, der hier von Wiebeau unzulässigerweise mit dem Autor gleichgesetzt wird, gerade am Motivkomplex der Sexualität in The Catcher in the Rye scheitert.

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Vor- und Nachgeschichte von Holdens zweitägigen Erlebnissen, haben derartige Erklärungsversuche bis zu einem gewissen Grad zwangsläufig einen spekulativen Charakter. Ihre Plausibilität bemisst sich deshalb an der Erklärungsmacht, die sie für die Sinnkonstitution des Textes entfalten. Von entscheidender Relevanz sind hierbei in erster Linie die folgenden Fragen: 1. Wird die Wahl des erzählten Ausschnitts aus Holdens Leben, dem durch eben diese Auswahl ganz offenbar eine symptomatische Bedeutung zukommt, entsprechend berücksichtigt? Dabei geht es nicht allein um die Abfolge der einzelnen Handlungssequenzen und ihre Motivation, sondern ebenso um zwischen ihnen möglicherweise bestehende Äquivalenzrelationen sowie um Handlungsbeginn und Handlungsende als besonders herausgehobene Textsignale. 2. Wird der Text in seiner Gesamtheit in den Blick genommen oder werden lediglich einzelne Strukturmerkmale bzw. Motive herausgegriffen, während andere unberücksichtigt bleiben? 3. Da nun aber grundsätzlich nicht alle Elemente eines Textes in seine Interpretation eingehen können, geht es nicht nur um die Quantität der ausgewählten Merkmale, sondern auch um deren Qualität. Mit anderen Worten: Welche Aussagekraft und Signifikanz haben die ausgewählten Strukturmerkmale und Motive für die Sinnkonstitution? Unter diesen Gesichtspunkten ist zu konstatieren, dass die bisherigen Erklärungsversuche zwar jeweils relevante Hinweise für das Textverständnis geliefert haben, für sich genommen jedoch in allen Fällen zu kurz greifen. So macht etwa Shaw (1991, 104f.) auf die erotische Komponente von Holdens Catcher-Phantasie aufmerksam, da die ihr zugrunde liegende Gedichtzeile von Robert Burns eben nicht „if a body catch a body coming through the rye“ lautet, sondern „if a body meet a body coming through the rye“, worauf im Roman von Phoebe ja auch explizit hingewiesen wird (224). Das falsche Zitat lasse sich demnach als Ausdruck für verdrängte Bewusstseinsinhalte verstehen, die mit dem Thema Sexualität zu tun haben. Gleiches gelte für Holdens Drang, die „Fuck you“-Graffiti zu entfernen, die er u. a. an Phoebes Schule findet. Hierin einen „adolescent messianism“ (Shaw 1991, 107) zu sehen, der aus einer „adolescent repression of sexuality“ (Shaw 1991, 109) resultiert, erscheint zwar durchaus plausibel, doch bleibt bei Shaw die Ursache für diese „repression“ ungeklärt. Dieser Umstand erscheint umso unbefriedigender, als Holdens Messianismus im Hinblick auf die „Fuck you“-Graffiti geradezu manische, mithin also krankhafte Züge annimmt, wodurch der Rezipient zu einer Erklärung nachdrücklich herausgefordert wird.119 Eben-

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119 Übertrieben scheint Holdens Verhalten in dieser Hinsicht nicht zuletzt auch deshalb, weil seine eigene Redeweise mit Vulgarismen durchsetzt ist. Vor diesem Hintergrund erhält

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so verhält es sich mit Holdens übertrieben erscheinender körperlicher Reaktion, nachdem er durch die Berührung Antolinis geweckt worden ist: „Boy, I was shaking like a madman. I was sweating too.“ (251) Auch darauf geht Shaw nicht ein, so wie er das mit Antolini verbundene Motiv der Homosexualität, welches bereits vorher bei Holdens Treffen mit Luce als Gesprächsgegenstand eingeführt wird, nicht angemessen würdigt. Der ganzen Dimension des Problems wird Shaw (1991, 112) deshalb nicht gerecht, wenn er unter Verweis auf Holdens unterdrückte Sexualität zu folgendem Fazit gelangt: „Holden represents an extreme, but readers have sensed that he nevertheless connects with common experience.“ Auf die Szene mit Antolini und Holdens körperliche Überreaktion wiederum fokussiert Duane Edwards. Dieser Episode kommt in der Tat eine herausragende Bedeutung zu, stellt sie doch einen Kulminationsund Wendepunkt innerhalb der Handlung dar, weshalb eben auch das mit ihr verknüpfte Motiv der homoerotischen Sexualität einen besonderen Stellenwert erhält. Nun aber allein darauf eine Erklärung für Holdens psychische Verfassung zu gründen – Edwards (1990, 154) meint, Holden, der sich seiner sexuellen Orientierung noch nicht gänzlich sicher sei, projiziere seine latenten homosexuellen Wünsche auf Antolini –, stellt erneut eine Verkürzung des Textes dar. Zum einen stützt sie sich lediglich auf eine einzelne Episode, die trotz ihrer bereits angesprochenen Bedeutung nicht isoliert betrachtet werden darf, und zum anderen erscheint auf diese Weise die immerhin titelgebende CatcherPhantasie Holdens und der mit ihr verbundene Messianismus letztlich unmotiviert. Genau von dieser Phantasie wiederum leitet James Bryan seine Erklärung für Holdens problematische Sexualität ab, wobei bereits er auf die in Holdens falschem Zitat zum Ausdruck kommende Verdrängungsleistung hingewiesen hat. Bryan sieht die Substitution des Verbums und damit die Substitution des sexuellen Verlangens durch die Funktion eines Bewahrers der kindlichen Unschuld motiviert in Holdens unbewusstem inzestuösen Begehren, welches auf Phoebe gerichtet sei.120 Allerdings vernachlässigt auch Bryan (1990, 114) die mit der AntoliniEpisode verbundene homosexuelle Komponente, wenn er – wenig

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die Frage, warum ihn gerade dieses „Fuck you“ so sehr stört, eine besondere Brisanz. Noch drastischer äußert sich Holdens Überreaktion freilich darin, dass er gegenüber dem Urheber dieser Graffitis sogar Mordgedanken hegt: „I kept wanting to kill whoever’d written it. [...] I kept picturing myself catching him at it, and how I’d smash his head on the stone steps till he was good and goddam dead and bloody.“ (260f.) 120 „I am suggesting that the urgency of Holden’s compulsions, his messianic desire to guard innocence against adult corruption, for example, comes of a frantic need to save his sister from himself.“ (Bryan 1990, 107)

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plausibel – ausführt, Holdens Reaktion auf Antolinis körperliche Annäherung quäle ihn „most for its parallels to his own unconscious designs on a child.“ Auch Holdens Übereifer hinsichtlich der „Fuck you“-Graffiti als unmäßige Reaktion zu deuten, die auf eine Angst vor sich selbst hinweise, erscheint wenig überzeugend. Nicht zuletzt ist Holdens Verhalten gegenüber Phoebe in den Kapiteln 21 bis 23, auf die sich Bryan im Wesentlichen stützt, von keinerlei Zweideutigkeit überschattet, worauf bereits Vail (1990) in einer direkten Erwiderung auf Bryan aufmerksam gemacht hat. Auch wenn Bryans Erklärung aus den genannten Gründen zurückzuweisen ist, so ist doch immerhin der Hinweis bedenkenswert, dass die Inzestthematik in einer anderen Figurenkonstellation zumindest aufscheint, nämlich zwischen Jane Gallagher, die früher in Holdens Nachbarschaft gelebt hat, und deren Stiefvater. Gerade aber, weil es sich um den Stiefvater handelt, kann hier nicht von Inzest im wörtlichen Sinne gesprochen werden, vielmehr geht es um sexuellen Missbrauch. Und genau eine solche Missbrauchserfahrung scheint die adäquate Erklärung für Holdens psychische Verfassung und damit auch für sein Verhalten zu liefern.121 Die Missbrauchshypothese erlaubt zunächst einmal eine plausible Erklärung dafür, warum Holden die Vor- und Nachgeschichte seiner 48-stündigen Erlebnisse verschweigt: Auch wenn es augenscheinlich noch viel mehr zu erzählen gäbe, so fühlt er sich anscheinend nicht in der Verfassung, all dies seinem fiktiven Adressaten zu offenbaren, zumal er sich auch seinem eigenen Bruder gegenüber bisher nicht weiter zu öffnen gewagt hat. Dieser Umstand wird im ersten Kapitel explizit angesprochen und im Schlusskapitel noch einmal aufgegriffen, so dass er den erzählerischen Rahmen ganz wesentlich mitprägt.122 Da der Miss-

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121 Ebenso wie der Autor dieser Studie ist auch der intendierte Leser – ganz zu schweigen von der überwiegenden Mehrzahl der realen Rezipienten – natürlich kein Psychologe. Aufgrund der zahlreichen und auch deutlichen Hinweise im Text bedarf es aber nicht erst einer fachwissenschaftlichen Expertise, vielmehr geht es bei der Erklärung von Holdens Verhalten, wie bereits weiter oben dargelegt, um eine mehr oder minder plausible Spekulation, die vom Roman selbst eingefordert wird. Wie ausgeprägt dieses Erklärungsbedürfnis ist, belegt auch der unlängst erschienene Band „Depression in J. D. Salingers The Catcher in the Rye“ (Bryfonski 2009), der eine Vielzahl bisheriger Erklärungsversuche versammelt, leider zumeist nur in gekürzter Form. 122 „Besides, I’m not going to tell you my whole goddam autobiography or anything. I’ll just tell you about this madman stuff that happened to me around last Christmas just before I got pretty run-down and had to come out here and take it easy. I mean that’s all I told D.B. about, and he’s my brother and all.“ (3) „D.B. isn’t as bad as the rest of them, but he keeps asking me a lot of questions, too.“ (276) Eine solche Motivation für Holdens Verschwiegenheit ist jedenfalls nahe liegender als Jonathan P. Lewis’ Verweis auf Lyotards Zurückweisung aller „großen Erzählungen“, die im Bereich der Literatur von Salingers Roman quasi bereits vorweggenommen worden sei (vgl. Lewis 2002).

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brauch noch nicht verarbeitet ist, kann er eben auch nicht direkt benannt werden. Dafür aber enthält Holdens Bericht ein dicht gespanntes Netz aus Motiven, Handlungsmotivationen und Strukturmerkmalen, die die Missbrauchshypothese stützen. An erster Stelle steht dabei das Motiv der sexuellen Verfügbarkeit von Kindern und Jugendlichen, durch das auf der Basis einer Ähnlichkeitsrelation vier Figuren miteinander verbunden sind, nämlich Holden, Jane Gallagher, die Prostituierte Sunny und James Castle, ein ehemaliger Mitschüler Holdens in Elkton Hills. An erster Stelle im Textgefüge steht Jane, mit der sich Holden auf das Innigste verbunden fühlt, obwohl er sie bereits seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hat und von der er nicht einmal weiß, welche Schule sie derzeit besucht (40f.). Wird bei ihr die Missbrauchsthematik im 4. Kapitel lediglich angedeutet – Holden berichtet davon, dass Mr Cudahy, Janes Stiefvater, in ihrer Gegenwart nackt im Haus herumgelaufen sei und sie eine schreckliche Kindheit gehabt habe (42) –, so wird sie im 11. Kapitel direkt angesprochen.123 Auch wenn Jane Holdens Frage, ob sich Cudahy ihr sexuell genähert habe, verneint, so deutet ihre nonverbale Reaktion doch auf das Gegenteil hin, beginnt sie doch hemmungslos zu weinen (102f.).124 Diese Erinnerung Holdens, die auf der Sujetebene erst nach seiner vorzeitigen und überstürzten Abreise von Pencey präsentiert wird, liefert gleichzeitig einen wichtigen Hinweis auf die Motivation für diese Abreise. Deren Ursache ist nämlich eine von Holden vom Zaun gebrochene Prügelei mit seinem Zimmergenossen Stradlater, die wiederum in unmittelbarem Zusammenhang mit Jane steht. Stradlater hat eine Verabredung mit Jane, die er gerade erst kennen gelernt hat, und Holden vermutet, dass es ihm dabei lediglich um Sex geht. Deshalb sorgt er sich um sie, und diese Sorge ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen ist Holdens Reaktion auf Stradlaters Verabredung mit Jane derart ausgeprägt, dass seine tiefere emotionale Involviertheit sichtbar wird.125 Zum anderen aber kann Eifersucht als

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123 Der besondere Stellenwert Janes für Holden wird dem Leser bereits dadurch vermittelt, dass das ganze 11. Kapitel seiner Erinnerung an sie gewidmet ist. Darüber hinaus gibt es nur wenige Kapitel, in denen Holden nicht daran denkt, mit Jane Kontakt aufzunehmen. Auch wenn dies letztlich nicht geschieht, bleibt auf diese Weise die Figur und das mit ihr verbundene Motiv den gesamten Text über präsent. 124 Hierin kommt eine weitere Ähnlichkeit zwischen den beiden Figuren zum Ausdruck, da Holdens Unfähigkeit, über die eigene Missbrauchserfahrung zu sprechen, in dieser Erinnerung an Jane bereits indirekt thematisiert wird. Matt Evertson (2002, 126) spricht mit Blick auf diese Szene von einem „emotional (if not sexual) abuse“, ohne jedoch die Missbrauchshypothese weiter zu denken. 125 Holden beschreibt diese Reaktion mit folgenden Worten: „It made me so nervous I nearly went crazy.“ (45) Und den Umstand, nicht mehr genau zu wissen was er tat, als Stradlater nach seiner Verabredung zurückkehrte, kommentiert er folgendermaßen: „I probably was still looking out the window, but I swear I can’t remember. I was so damn worried, that’s

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nachvollziehbare Erklärung für diese Involviertheit ausgeschlossen werden, da Holden, wie bereits erwähnt, zu Jane schon länger keinen Kontakt mehr hatte. Dennoch ist allein die Vermutung, dass Stradlater mit Jane geschlafen haben könnte, für Holden Anlass genug, um über ihn herzufallen. Eine zentrale Rolle spielt dabei gerade das Motiv der sexuellen Verfügbarkeit: „I told him he thought he could give the time to anybody he felt like.“ (57)126 Holdens Attacke gegen Stradlater erscheint damit als inadäquater, weil verspäteter Versuch, Janes sexuelle Integrität zu verteidigen. Das daraus resultierende Gefühl der Hilflosigkeit führt schließlich sogar dazu, dass Holden bei der Vorstellung sexueller Handlungen zwischen Stradlater und Jane, an Suizid denkt: „Every time I thought about it, I felt like jumping out the window.“ (63) Stattdessen verlässt er mitten in der Nacht die Schule und bricht zu seiner verzweifelten Odyssee durch New York auf. Im Laufe dieser Odyssee trifft Holden auf die zweite Figur, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, nämlich die Prostituierte Sunny. Auch wenn die Prostitution per se als Sinnbild für die Verfügbarkeit des Körpers gesehen werden kann, so ist sie doch nicht zwangsläufig mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in Verbindung zu bringen. In Salingers Roman geschieht dies erst dadurch, dass Holden darauf hinweist, Sunny sei in seinem Alter und damit minderjährig. In Holdens Augen verhält sich Sunny auch ganz generell eher wie ein Kind (123). Anhand von Sunny wird außerdem noch ein weiterer Aspekt der Missbrauchsthematik in den Text eingeführt, und zwar die Tatsache, dass der Missbrauch so häufig unbemerkt bleibt: I took her dress over to the closet and hung it up for her. It was funny. It made me feel sort of sad when I hung it up. I thought of her going in a store and buying it, and nobody in the store knowing she was a prostitute and all. The salesman probably just thought she was a regular girl when she bought it. It made me feel sad as hell – I don’t know why exactly. (125)

Auch in diesem Fall erscheint Holdens Reaktion in der gegebenen Situation eher ungewöhnlich und verweist damit erneut auf seine persön-

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why. When I really worry about something, I don’t just fool around. I even have to go to the bathroom when I worry about something. Only, I don’t go. I’m too worried to go. I don’t want to interrupt my worrying to go. If you knew Stradlater, you’d have been worried, too. I’d double-dated with that bastard a couple of times, and I know what I’m talking about. He was unscrupulous.“ (52) 126 Im Zusammenhang mit dieser Vorstellung von der sexuellen Verfügbarkeit wiederum steht das Motiv der Könige, die Jane beim Checkers, einer amerikanischen Variante von Dame, grundsätzlich in der letzten Reihe stehen lässt. Carl F. Strauch (1990, 71) deutet dieses Motiv, durchaus überzeugend, als Symbol für die Abwehr von sexuellen Übergriffen.

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liche Involviertheit.127 Seine Weigerung, mit Sunny zu schlafen, kann somit als ein Akt des Mitleids gedeutet werden, als Weigerung, sich am Missbrauch der jugendlichen Prostituierten zu beteiligen und auf diese Weise ihre sexuelle Integrität zu wahren, wie bereits Jonathan Baumbach (1990, 61) bemerkt hat. Die Unschuld einer Prostituierten zu beschützen, ist freilich ebenso widersinnig wie Holdens Verteidigung Janes nach ihrer Verabredung mit Stradlater. Beide Episoden sind jedoch nicht nur durch die Missbrauchsthematik und die mit ihr einhergehende emotionale Reaktion Holdens miteinander verbunden, sondern auch dadurch, dass Holden in ihnen jeweils selbst zum Opfer von Gewalt wird. Im ersten Fall, in dem die Gewalt freilich von ihm selbst ausgeht, schlägt ihm Stradlater die Nase blutig, im zweiten Fall wird er von Maurice, dem Zuhälter Sunnys, der ihn fälschlicherweise beschuldigt, zu wenig für Sunny bezahlt zu haben, malträtiert. Auffällig dabei ist, dass dies erst geschieht, nachdem sich Sunny weitere fünf Dollar aus Holdens Portemonnaie genommen hat, so dass die Situation, wenn auch zu seinen Ungunsten, eigentlich bereits geklärt zu sein scheint. Auf diese Weise wird die Willkürlichkeit der Gewalt und der mangelnde Schutz vor ihr besonders hervorgehoben. Zudem ist die Gewalt auch hier sexuell konnotiert: „Then what he did, he snapped his finger very hard on my pajamas. I won’t tell you where he snapped it, but it hurt like hell.“ (135) Eine letzte Analogie zu der Episode mit Jane besteht schließlich darin, dass Holden nach seiner Begegnung mit Sunny und Maurice erneut an Suizid denkt, wobei zusätzlich ins Auge fällt, dass die Methode der Selbsttötung in beiden Fällen dieselbe ist: „What I really felt like, though, was committing suicide. I felt like jumping out the window.“ (136) Dass es sich dabei mitnichten um einen Zufall handelt, wird dem Leser im Zusammenhang mit der dritten Figur in dieser Reihe, James Castle, zu Bewusstsein gebracht, der sich gerade auf diese Weise das Leben genommen hat. Castle, der einen Mitschüler in Elkton Hills als eingebildet bezeichnet hat, wird von ihm und dessen Clique unter Anwendung von Gewalt dazu genötigt, diese Aussage zurückzunehmen. Doch anstatt dies zu tun, nimmt er sich durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben. Um welche Form von Gewalt es sich dabei gehandelt hat, bleibt im Dun-

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127 Die emotionale Reaktion Holdens wird bereits erkennbar, als sich Sunny das Kleid auszieht: „I know you’re supposed to feel pretty sexy when somebody gets up and pulls their dress over their head, but I didn’t. Sexy was about the last thing I was feeling. I felt much more depressed than sexy.“ (123) Die Intensität dieses Gefühls kommt auch darin zum Ausdruck, dass Holden noch ein weiteres Mal darauf hinweist: „I felt more depressed than sexy, if you want to know the truth. She was depressing. Her green dress hanging on the closet and all.“ (125)

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keln, da Holden zwar weiß, was damals vorgefallen ist, den konkreten Hergang aber aus Gründen des Takts verschweigt.128 Gerade dieses Schweigen aber scheint auf einen sexuellen Übergriff hinzudeuten. Mag eine solche Vermutung zunächst auch ein wenig weit hergeholt erscheinen, so wird sie durch zwei Aussagen Holdens durchaus nahe gelegt: „I’ve known quite a few real flits, at schools and all [...].“ (186) „I know more damn perverts, at schools and all, than anybody you ever met […].“ (249)129 Entscheidend ist nun, dass Holden nicht nur durch die Vorstellung, sich zu Tode zu stürzen, mit James Castle in Verbindung steht, sondern darüber hinaus durch weitere nicht unerhebliche Details. Ebenso wie Jane fühlt er sich auch Castle in einer besonders intensiven Weise verbunden. Zum Ausdruck kommt dies darin, dass ihm auf Phoebes Frage, ob es etwas gebe, was ihm wirklich am Herzen liege, zunächst nichts in den Sinn kommt außer zwei Nonnen, die er am Morgen nach der Episode mit Sunny und Maurice beim Frühstück in einer Sandwich-Bar in der Grand Central Station zufällig kennen gelernt hat, und eben James Castle (220). Diese enge emotionale Bindung mutet durchaus seltsam an, da Holden laut eigener Auskunft Castle kaum gekannt hat.130 Dieser Widerspruch, der von Holden sogar selbst thematisiert wird,131 verleiht der Figur Castles ein besonderes Gewicht, auch wenn sie lediglich als Erinnerungsinhalt des Erzähler-Protagonisten und, etwa im Vergleich zu Jane, nur sporadisch erwähnt wird. Erhöht wird dieses Gewicht noch durch einzelne Parallelen zwischen Holden und Castle, die gleichsam zu einer Identifikation beider Figuren führen. Nicht nur folgt beim Schulappell der Name Caulfield unmittelbar auf Castle, sondern beide sind auch ausgesprochen dünn.132 Letzteres wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass sich Castle einen Pullover von

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128 „I won’t even tell you what they did to him – it’s too repulsive [...].“ (221) 129 Es ist wohl kaum ein Zufall, dass in beiden Fällen scheinbar beiläufig „at schools and all“ eingefügt ist. Jedenfalls wird zum einen durch die Wiederholung und zum anderen durch den dabei verwendeten Plural die Schule als prädestinierter Tatort für den Missbrauch ausgewiesen. Ebenso wenig zufällig sind es gerade die Motive der Homosexualität und der Perversion, die in der Episode mit Luce auch im Zusammenhang mit Whooton ins Spiel gebracht werden. 130 In noch größerem Maße gilt dies freilich für die Nonnen, denen er nur ein einziges Mal begegnet ist. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 131 „The funny part is, I hardly even know James Castle, if you want to know the truth.“ (221) 132 „That’s why I’m so damn skinny.“ (140) „He was a skinny little weak-looking guy, with wrists about as big as pencils.“ (221) Holden ist sogar ziemlich untergewichtig, weshalb er ein spezielles Ernährungsprogramm befolgen soll (140). Auch wenn Holdens Gewichtsprobleme möglicherweise mit seiner Körpergröße in Zusammenhang stehen – immerhin misst er über 1,80 m (13) – so kann hier ebenso gut eine Essstörung assoziiert werden, wie sie nicht selten als Folge sexuellen Missbrauchs auftritt.

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Holden borgen kann, den er bezeichnenderweise trägt, als er sich zu Tode stürzt. Wird durch diese Identifikation der Missbrauch Holdens zunächst lediglich auf symbolische Weise vermittelt, so wird er in der Episode mit Antolini vergleichsweise direkt thematisiert. Zunächst aber wird über Antolini eine weitere Verbindung zwischen Holden und Castle etabliert. Antolini genießt Holdens Vertrauen nämlich nicht zuletzt deshalb, weil er es war, der den toten Castle auf seinen Armen in die Krankenstation getragen hat. Gerade aber wegen seiner körperlichen Annäherung wird dieses Vertrauen nun massiv erschüttert. Auch wenn sich Holden keine Klarheit darüber verschaffen kann, ob Antolini tatsächlich homosexuell veranlagt ist, so deutet im Text doch einiges darauf hin.133 Zwar ist Antolini verheiratet, doch erscheint diese Ehe in erster Linie als Versuch, eine bürgerliche Fassade aufrecht zu halten. So berichtet Holden einerseits davon, dass sich Antolini und seine Frau in der Öffentlichkeit häufig küssen (241), andererseits konstatiert er aber, dass sich die beiden niemals gemeinsam in einem Raum aufhalten (236).134 Auch der Umstand, dass Antolini seine Tätigkeit in Elkton Hills aufgegeben hat und nun an der University of New York unterrichtet, lässt Raum für verschiedene Spekulationen, zumal er in seiner Zeit als Schullehrer noch unverheiratet gewesen ist (235). Trotz allem hat auch der Leser keine absolute Gewissheit hinsichtlich der sexuellen Orientierung Antolinis, worauf bereits James Dahl (1983, 10) hingewiesen hat. Offen bleibt damit zwangsläufig auch, ob sich Antolini eines sexuellen Übergriffs schuldig macht. Darauf aber kommt es gar nicht an, viel entscheidender ist, was die Berührung Antolinis bei Holden auslöst. Auf die heftige körperliche Reaktion wurde in einem anderen Zusammenhang bereits hingewiesen. Noch aussagekräftiger aber sind die dadurch bei Holden wachgerufenen Erinnerungen, die zwar nicht detailliert ausgebreitet werden, bereits in ihrer summarischen Präsentation aber recht eindeutig

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133 Selbst Holdens Versuch, Antolinis Verhalten nachträglich zu rechtfertigen, wirkt ob der Abseitigkeit des hierbei gebrauchten Arguments wenig überzeugend: „I mean I wondered if just maybe I was wrong about thinking he was making a flitty pass at me. I wondered if maybe he just liked to pat guys on the head when they’re asleep.“ (253) 134 Zudem wird bereits anlässlich des Treffens mit Luce die geringe Aussagekraft einer Ehe für die tatsächliche sexuelle Orientierung der Eheleute thematisiert: „Some of the ones he said were flits were even married, for God’s sake. [...] He said it didn’t matter if a guy was married or not.“ (186) Auch wenn diese Aussage zunächst zweifellos ganz allgemein zu verstehen ist und im nächsten Atemzug sogar auf Männer angewendet wird, die sich ihrer Homosexualität überhaupt nicht bewusst sind, so erhält sie im Hinblick auf Antolini doch eine sehr konkrete Bedeutung. Auf die Möglichkeit, Antolinis Verhalten als das eines Homosexuellen zu deuten, hat bereits Baumbach (1990, 57) hingewiesen. Ein weiteres von ihm in diesem Zusammenhang angeführtes Argument, dass nämlich dessen Frau deutlich älter und auch nicht besonders attraktiv ist, erscheint dagegen äußerst fragwürdig.

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sind, wie die folgenden beiden Zitate belegen, die weiter oben, dort allerdings jeweils noch unvollständig, bereits angeführt worden sind: „I know more damn perverts, at schools and all, than anybody you ever met, and they’re always being perverty when I’m around.“ (249) „Boy, I was shaking like a madman. I was sweating, too. When something perverty like that happens, I start sweating like a bastard. That kind of stuff’s happened to me about twenty times since I was a kid. I can’t stand it.“ (251) Auch wenn letztlich unklar bleibt, wer sich an Holden vergangen hat, so scheint die Missbrauchshypothese spätestens durch diese beiden Zitate hochgradig plausibel. Der episodische und damit scheinbar zufällige Handlungsablauf von Salingers Roman erhält durch die auf der Missbrauchsthematik gegründete Äquivalenzrelation der Ähnlichkeit eine innere Stringenz, die durch den Charakter einer gradatio zusätzlich verstärkt wird. Figuriert Jane lediglich als Erinnerungs- und Vorstellungsinhalt Holdens, so ist Sunny als weiteres Missbrauchsopfer Teil der erzählten Handlung, wobei Holden in diesem Fall sogar beinahe selbst zum Täter wird. Anhand von James Castle, der wiederum nur als Erinnerungsinhalt im Text auftaucht, wird die Missbrauchsthematik dann auch auf Jungen übertragen, bevor schließlich der Erzähler-Protagonist in der Episode mit Antolini selbst als Missbrauchsopfer kenntlich wird. Darüber hinaus konstituiert das Äquivalenzprinzip zusätzlich zum erzählerischen Rahmen auch einen Rahmen auf der Handlungsebene, da sich die Episoden mit Spencer und Antolini in wesentlichen Punkten ähneln, so dass der Handlungsbeginn in einer klar erkennbaren Relation zum Höhepunkt von Holdens Odyssee steht. Gleichzeitig wird damit auch dem Ausgangspunkt der Romanhandlung der Charakter des Zufälligen genommen. Zunächst einmal handelt es sich bei beiden Figuren um Lehrer. Als ihr ehemaliger bzw. derzeitiger Schüler ist Holdens Verbindung zu ihnen im Rahmen der Figurenkonstellation motiviert und somit nicht weiter auffällig. Umso markanter wirken deshalb die Parallelen, die über diese bloße Motivierung hinausgehen. Dabei fällt ins Auge, dass Holden Spencer und Antolini jeweils in deren Privatwohnung aufsucht, so dass die Grenze einer professionellen Lehrer-Schüler-Beziehung klar überschritten wird. Mag dies durch die jeweiligen Umstände vielleicht noch gerechtfertigt erscheinen – einerseits sind die Grenzen des Privaten in einer Internatsschule ebenso fließend wie in der Familie, andererseits besteht zwischen Holden und den Antolinis bereits seit längerem auch ein privater Kontakt –, so kann man diese Rechtfertigung für das Faktum, dass beide Lehrer Holden jeweils im Bademantel empfangen, nur noch sehr eingeschränkt gelten lassen. Zwar gibt es auch hierfür im Handlungsgefüge jeweils eine situationsbezogene Motivation

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– Spencer ist krank, und der Besuch bei den Antolinis findet mitten in der Nacht statt, – doch wird dadurch zweifellos gleichzeitig eine gewisse Intimität erzeugt, zumal im Falle Spencers das Moment der Körperlichkeit besonders hervorgehoben wird.135 Zudem ist es bezeichnend, dass schon bei den Spencers wie dann später auch bei den Antolinis auf die räumliche Distanz zwischen den Eheleuten hingewiesen wird,136 worauf bereits Jean Méral (1970, 56f.) aufmerksam gemacht hat. Auch wenn die Szene mit Spencer für sich genommen keine sexuellen Untertöne erkennen lässt, so erhält sie sie doch ex post durch die Analogie mit der Antolini-Episode. Vor diesem Hintergrund bekommt dann auch das bereits weiter oben zitierte Diktum Holdens „You can’t stop a teacher when they want to do something. They just do it.“ (16) einen durchaus doppeldeutigen Sinn. Eine letzte und im gegebenen Zusammenhang entscheidende Parallele besteht schließlich darin, dass Holden in beiden Episoden belehrt wird. Auch in dieser Hinsicht ist der Besuch bei Spencer zunächst unauffällig, da dieser offenbar nur darum bemüht zu sein scheint, Holden dabei zu helfen, den richtigen Weg im Leben zu finden. Holden allerdings empfindet die von Spencer geäußerte Maxime lediglich als leere Phrase, und als Leser wird man kaum umhin können, sich dieser Sicht anzuschließen: “Life is a game, boy. Life is a game that one plays according to the rules.” “Yes, sir. I know it is. I know it.” Game, my ass. Some game. If you get on the side where all the hot-shots are, than it’s a game, all right – I’ll admit that. But if you get on the other side, where there aren’t any hot-shots, then what’s a game about it? Nothing. No game. (12f.)

Als Pädagoge desavouiert sich Spencer durch seine Plattitüde jedenfalls selbst.137 In noch größerem Maße gilt dies für Antolini, wobei hier erneut pädophile Konnotationen ins Spiel kommen. Vermittelt werden diese nicht direkt, sondern durch den intertextuellen Bezug zu Platons Symposion, jenem Text also, in dem Bildung und Eros auf das Engste

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135 „What made it even more depressing, old Spencer had on his very sad, ratty old bathrobe that he was probably born in or something. I don’t much like to see old guys in their pajamas and bathrobes anyway. Their bumpy old chests are always showing. And their legs.“ (11) Dabei legt Holdens Formulierung die Vermutung nahe, dass er mit einer derartigen Situation nicht zum ersten Mal konfrontiert wird. 136 „They each had their own room and all.“ (10) 137 Baumbach (1990, 58) meint in dieser Szene sogar einen Tausch der traditionellen Rollen erkennen zu können: „In this confrontation between Holden and Spencer, there is an ironic inversion of the traditional student-teacher, son-father relationship which extends throughout the novel and throughout Salinger’s fictional world. While Spencer, out of a childish need for personal justification, insensitively embarrasses Holden (already wounded by his expulsion from Pencey), the boy is mature enough to be kind to his conspicuously vulnerable antagonist.“

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miteinander verknüpft sind. Hergestellt wird dieser Bezug über verschiedene motivische Parallelen, wobei bereits die Ausgangssituation vergleichbar ist. So wie die Antolinis selbst und ihre Wohnung noch gezeichnet sind von einer vorausgegangenen Party (236f.), so leiden auch die Teilnehmer an Agathons Trinkgelage noch an den Nachwirkungen der letzten Nacht.138 Ebenso findet sich das Ende von Platons Text in Salingers Roman in leicht abgewandelter Form wieder. Redet im Symposion Sokrates Agathon und Aristophanes geradezu in den Schlaf (Platon 1998, 143), so versucht Holden in vergleichbarer Weise, zunächst noch Antolinis Ausführungen zu folgen, bevor ihn aber schon bald die Müdigkeit endgültig übermannt und er sogar gähnen muss, so dass Antolini seine Belehrung unterbricht und Holdens Nachtlager bereitet. Die solcherart etablierte Parallele zwischen Antolini und Sokrates erstreckt sich darüber hinaus auf weitere Motive. Laut Holdens Einschätzung ist Antolini nicht nur „very intellectual“ und „witty“ (235), sondern auch „a pretty sophisticated guy and [...] a pretty heavy drinker.“ (236) So absonderlich die Kombination dieser beiden Eigenschaften zunächst auch anmuten mag, so ist doch auch Sokrates nicht nur klug, sondern gleichzeitig dem Wein, durchaus auch in größeren Mengen, nicht abhold (vgl. Platon 1998, 17f.). Ferner rät Antolini Holden die Gelehrtenlaufbahn einzuschlagen, um die Möglichkeiten und die Grenzen seines Verstandes auszuloten. Schließlich sei Holden „in love with knowledge“ (245), eine Formulierung, die durchaus als eine mögliche Übersetzung des Begriffs „Philosophie“ verstanden werden könnte. Schließlich erweist sich Antolini auch als Bewunderer der Schönheit und damit eben jener Qualität, die im Zentrum von Platons Text steht. Gerade im Zusammenhang damit aber wird deutlich, dass die intertextuellen Bezüge zum Symposion genutzt werden, um Antolini als Karikatur von Sokrates zu zeichnen. Instruktiv für diese Einschätzung ist die Argumentation der Diotima, die Sokrates in seiner Rede während des Trinkgelages wiedergibt. Diotima unterscheidet darin zunächst zwei Möglichkeiten, bleibende Spuren in der Welt zu hinterlassen: Einerseits durch leibliche Nachkommen, wobei diejenigen Männer, die diesem Weg folgen, sich dem weiblichen Geschlecht zuwenden werden. Andererseits könne man aber auch dem geistigen Trieb folgen, der sich in der

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138 Vgl. etwa die folgende Feststellung von Pausanias: „Ich muß euch schon sagen, daß mir wirklich ziemlich übel ist von dem gestrigen Zechen und ich einiger Erholung bedarf [...].“ (Platon 1998, 17) In der Rede des Aristophanes wiederum findet sich bereits der Gedanke, dass die Eheschließung für Homosexuelle aufgrund der sozialen Konventionen schlicht eine Notwendigkeit darstellt, so wie dies auch bei den Antolinis der Fall zu sein scheint: „Noch als reife Männer lieben sie Knaben, und für Ehe und Kinderzeugung haben sie von Natur nicht viel Sinn, sondern lassen sich nur von der Sitte dazu zwingen;“ (Platon 1998, 57).

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Weitergabe der eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen an die Jugend Bahn breche, wobei im antiken Griechenland hierbei ausschließlich Knaben gemeint sind. Die Beschreibung, die Diotima von den Vertretern dieser zweiten Richtung gibt, trifft nun ganz und gar auf Antolini zu: Da wird er denn die schönen Körper lieber sehen als die häßlichen, da er ja vom Zeugungsdrang erfüllt ist, und wenn er auf eine schöne und edle und wohlgestaltete Seele trifft, dann wird er das Zusammentreffen von beiden durchaus begrüßen und zu einem Menschen wie diesen sofort von Reden überströmen, über die Tugend und darüber, wie ein trefflicher Mann sein und was 139 er treiben soll, und wird versuchen, ihn zu bilden. (Platon 1998, 105)

Eben dies tut Antolini, wenn er Holden nicht nur gute Ratschläge, sondern auch die folgende Aussage des Psychoanalytikers und Sexualwissenschaftlers Wilhelm Stekel mit auf den Weg gibt: „The mark of the immature man is that he wants to die nobly for a cause, while the mark of the mature man is that he wants to live humbly for one.“ (244) Holden wiederum erfüllt die von Diotima genannten Voraussetzungen, denn schließlich ist er laut Antolini nicht nur „in love with knowledge“, sondern er übt ganz offenbar auch eine körperliche Attraktion auf seinen ehemaligen Lehrer aus, wie sich aus dessen Gute-Nacht-Gruß schließen lässt: „Good night, handsome.“ (248) Darüber hinaus antwortet er auf Holdens Frage, was er mitten in der Nacht neben seinem Bett mache, folgendermaßen: „Nothing! I’m simply sitting here, admiring –“. (249) Bei Platon geht es nun aber im Sinne seiner Ideenlehre gerade darum, das Körperliche zu transzendieren und zu der Idee des Schönen an sich vorzudringen: Wenn also jemand durch wahre Knabenliebe von den Dingen hier emporsteigt und jenes Schöne zu schauen beginnt, dann berührt er wohl fast schon das Ziel. Denn das heißt den rechten Weg zur Welt des Eros gehen oder sich von einem anderen führen lassen, daß man, von diesem irdischen Schönen beginnend, um jenes Schönen willen immer weiter aufsteigt, wie auf Stufen, von einem zu zwei und von zwei zu allen schönen Körpern, und von den schönen Körpern zu den schönen Tätigkeiten, und von den Tätigkeiten zu den schönen Erkenntnissen, und daß man von den Erkenntnissen zu jener Erkenntnis endlich gelangt, die nichts anderem gilt als jenem Schönen an sich, damit man schließlich erfahre, was das Schöne selbst ist. (Platon 1998, 109)

Eben diesen Zustand hat Sokrates erreicht, wie in der Rede von Alkibiades deutlich wird, der sich bitterlich darüber beklagt, dass sich jener ihm trotz speziell hierfür arrangierter Situationen nicht körperlich ge-

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139 Diotima verwendet den Begriff des Zeugens auch für die Heranbildung einer geistigen Nachkommenschaft.

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nähert hat. Selbst noch als Sokrates bei ihm übernachtet hat, ist es zu keinen sexuellen Handlungen gekommen: Als ich das aber getan hatte, zeigte dieser Mensch eine solche Überlegenheit, verachtete und verlachte meine Schönheit und spottete ihrer, und gerade darin meinte ich, etwas Besonderes zu sein, ihr Herren Richter; denn Richter seid ihr über Sokrates’ Hochmut. Denn laßt euch sagen, bei den Göttern, bei den Göttinnen, nicht einen Deut anders hatte ich, als ich jetzt aufstand, mit Sokrates geschlafen, als wenn ich bei meinem Vater oder älteren Bruder geschlummert hätte. (Platon 1998, 131)

Antolini hingegen nähert sich Holden in dessen Schlaf körperlich und gibt auf diese Weise zu erkennen, dass er hinsichtlich der Erkenntnis des Schönen über die unterste Sprosse der Stufenleiter bisher nicht hinausgelangt ist.140 Um Antolinis pädagogisches Versagen zu erkennen, bedarf es natürlich nicht erst der intertextuellen Folie von Platons Symposion, wie ein Blick in die Forschungsliteratur belegt.141 Die Kenntnis dieses Textes aber legt den missgedeuteten pädagogischen Eros bei Antolini offen und stützt auf diese Weise die Missbrauchshypothese. Schließlich gilt es noch auf eine letzte Analogie zwischen den Besuchen Holdens bei Spencer und Antolini hinzuweisen. Hierbei geht es um Holdens Angst, beim Überqueren der Straße einfach zu verschwinden, die er erstmals auf seinem Weg zu Spencer verspürt.142 An dieser Stelle bleibt diese Angst für den Leser völlig unverständlich. Erneut befällt sie Holden, als er am Morgen nach der Episode mit Antolini die Fifth Avenue entlanggeht, diesmal allerdings in noch viel ausgeprägterer Weise.143 Auch hier bleibt die Ursache dieser Angst letztlich im Dun-

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140 Die Karikatur manifestiert sich übrigens auch darin, dass Sokrates trotz größerer Mengen Alkohols niemals betrunken wird (vgl. Platon 1998, 117), während Holden mehrfach darauf hinweist, dass Antolini die Folgen des Alkoholkonsums an diesem Abend deutlich anzumerken sind. 141 So hat etwa bereits Gerigk (1983, 45), der die Annäherung Antolinis als eindeutig homosexuell bewertet, darauf hingewiesen, dass dieser „seinen eigenen vernünftigen Lebensregeln offenbar nicht gewachsen“ ist. Auch Baumbach (1990, 57) sieht in Antolinis Annäherung einen Vertrauensbruch mit homosexuell-päderastischer Motivation, wobei er zudem eine Verbindung zur Episode mit James Castle herstellt: „Antolini represents Holden’s last chance to find a catcher-father. But his inability to save Holden has been prophesied in his failure to save James Castle; the episode of Castle’s death provides an anticipatory parallel to Antolini’s unwitting destruction of Holden.“ Auch Méral (1970, 58) hat bereits das Versagen Antolinis konstatiert: „One may say that Antolini plays an adult, schoolmasterish, alcoholic and highly ambiguous version of the ‘catcher in the rye’ for Holden’s benefit. Such a poor performance proves to the boy that no such performance can be played as simply as he imagined it.“ 142 „After I got across the road, I felt like I was sort of disappearing. It was that kind of crazy afternoon, terrifically cold, and no sun out or anything, and you felt like you were disappearing every time you crossed a road.“ (8) 143 „Then all of a sudden, something very spooky started happening. Every time I came to the end of a block and stepped off the goddam curb, I had this feeling that I’d never get to the

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keln, doch assoziiert das Verschwinden die Vorstellung, von der Umwelt nicht mehr wahrgenommen zu werden. Eben diese Vorstellung liegt auch einzelnen von Holdens Pauschalurteilen zugrunde wie etwa „People never notice anything.“ (13), „People never believe you.“ (48), „People never give your message to anybody.“ (194) oder „People never think anything is anything really.“ (223) Vor dem Hintergrund der Missbrauchshypothese kann Holdens Angst somit gedeutet werden als Folge davon, dass all seine Versuche, auf seine Situation aufmerksam zu machen, gescheitert sind. Umgekehrt erklärt sich daraus auch das folgende Urteil „If somebody at least listens, it’s not too bad.“ (224) Die Missbrauchshypothese macht aber nicht nur die spezifische Struktur von Salingers Roman sichtbar, sondern sie erhellt auch Holdens Messianismus, der seinen Ausdruck in der Catcher-Phantasie ebenso findet wie in seiner neurotischen Reaktion auf die „Fuck you“-Graffiti, auf die er bezeichnenderweise erst nach der Antolini-Episode stößt, mithin an einem Punkt des Textes, an dem der Leser Holden bereits als Missbrauchsopfer konkretisieren kann. Holden versteht diese Graffiti nicht als zwar äußerst rüdes, aber dennoch konventionalisiertes Schimpfwort, sondern nimmt sie als Beschreibung des sexuellen Aktes wörtlich.144 In Phoebes Schule stellen diese Graffiti für Holden mithin die verbale Form eines sexuellen Übergriffs dar, weshalb er auch glaubt, sie unbedingt beseitigen zu müssen. Holdens Vorstellung wiederum, dass auch auf seinem Grabstein dereinst ein solches Graffiti zu finden sein wird (264), macht ihn einmal mehr als Opfer sexuellen Missbrauchs kenntlich. Aus dieser Position des Opfers heraus erklärt sich schließlich auch Holdens Catcher-Phantasie. Als Betroffener ist es ihm ein besonderes Bedürfnis, andere Kinder vor demselben Schicksal zu bewahren. Holden stellt sich dabei vor, Kinder aufzufangen, die in einem Roggenfeld spielen und aus Unachtsamkeit über eine Klippe stürzen: What I have to do, I have to catch everybody if they start to go over the cliff – I mean if they’re running and they don’t look where they’re going I have to come out from somewhere and catch them. That’s all I’d do all day. (224f.)

Zwar betont Holden, dass in seiner Phantasie keine Erwachsenen anwesend sind, doch lässt sich gerade hierin eine Korrespondenz zu jener Verdrängungsleistung sehen, die auch die erotische Komponente des

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other side of the street. I thought I’d just go down, down, down, and nobody’d ever see me again.“ (256) 144 „It drove me damn near crazy. I thought how Phoebe and all the other little kids would see it, and how they’d wonder what the hell it meant, and then finally some dirty kid would tell them – all cockeyed, naturally – what it meant, and how they’d all think about it and maybe even worry about it for a couple of days.“ (260)

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Gedichts von Robert Burns ausblendet. Zudem ist diese Phantasie auf das Engste verknüpft mit der Episode um James Castle. Nicht nur steht sie im Text in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihr, vielmehr ist es der ganz konkrete Sturz Castles, der als ein wesentlicher Auslöser für diese Phantasie angesehen werden kann: I was in the shower and all, and even I could hear him land outside. But I just thought something fell out the window, a radio or a desk or something, not a boy or anything. (221)

Zudem wird über diese Phantasie eine weitere Verbindung zu der Antolini-Episode hergestellt, da in dessen Sermon das Bild des Sturzes nun auf Holden selbst übertragen wird: Then he said, “This fall I think you’re riding for – it’s a special kind of fall, a horrible kind. The man falling isn’t permitted to feel or hear himself hit bottom. He just keeps falling and falling.” (243)

Erneut wird auf diese Weise eine Identifikation zwischen Holden und Castle etabliert, so dass dessen Ende auch das seinige zu präfigurieren scheint. Antolini aber, der bereits Castle nicht aufzufangen vermochte, erweist sich durch seine nächtliche körperliche Annäherung selbst als ein Teil des Problems statt als dessen Lösung.145 Diese bittere Erfahrung Holdens bildet den Höhepunkt eines Desillusionierungsprozesses, der der gesamten Romanhandlung zugrunde liegt. Ebenso wenig wie Holden Jane vor Stradlater beschützen kann, kann er auch Sunny durch seine Enthaltsamkeit vor den anderen Freiern bewahren. Schließlich muss er sogar einsehen, dass er nicht einmal sich selbst schützen kann, da sich auch der einzige Erwachsene, zu dem er Vertrauen hat, als potenzieller Täter entpuppt. Reagiert Holden auf diese persönliche Erfahrung noch mit seinem Plan, aus der Zivilisation zu fliehen, wird anhand der „Fuck you“-Graffiti diese Erfahrung zum Grundsätzlichen hin ausgeweitet: „It’s hopeless, anyway. If you had a million years to do it in, you couldn’t rub out even half the ‘Fuck you’ signs in the world. It’s impossible.“ (262) Diese Einsicht scheint nun der Auslöser dafür zu sein, dass Holden seine Fluchtpläne schlussendlich ebenso aufgibt wie seine Catcher-Phantasie, wie in der abschließenden Szene vermittelt wird, wobei kaum zufällig wieder das Bild des Sturzes aufgegriffen wird: All the kids kept trying to grab for the gold ring, and so was old Phoebe, and I was sort of afraid she’d fall off the goddam horse, but I didn’t say anything or do anything. The thing with kids is, if they want to grab for the gold ring, you have

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145 Eine in diesem Punkt vergleichbare Argumentation findet sich bereits bei Rosen (1990, 168).

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to let them do it, and not say anything. If they fall off, they fall off, but it’s bad if you say anything to them. (273f.)

Indem Holden seinen Plan aufgibt, von zu Hause wegzulaufen und von seiner Catcher-Phantasie Abstand nimmt, stellt er sich der Realität, gegen die er bisher vergeblich angerannt ist und befolgt auf diese Weise gleichsam die Maxime Stekels. Daraus erklärt sich einerseits sein Glücksgefühl am Ende der Handlung, da er von einer übermenschlichen Last befreit ist, andererseits aber auch der Umstand, dass er in der Erzählgegenwart keinen Deut von seinem vernichtenden Urteil über die Erwachsenenwelt abgewichen ist.146 Unter dem Aspekt der Missbrauchshypothese erscheint auch Holdens Vorwurf, die Erwachsenen seien phonies, in einem neuen Licht, da es zu dieser Schein-Welt ganz wesentlich gehört, die sexuellen Übergriffe zu vertuschen und die Fassade einer bürgerlichen Moral aufrechtzuerhalten. Nachvollziehbar wirkt vor diesem Hintergrund auch Holdens Weigerung, dem ihn betreuenden Psychoanalytiker auf die Frage zu antworten, ob er sich denn nun Mühe geben werde, wenn er ab September wieder in die Schule gehen wird.147 Als Missbrauchsopfer muss Holden eine Antwort notgedrungen schuldig bleiben, da im Roman die Schule als bevorzugter Tatort für die sexuellen Übergriffe erscheint und er schlicht nicht vorhersehen kann, was ihm in der neuen Schule widerfahren wird. Aus der Missbrauchshypothese erklärt sich dann auch Holdens schulisches Versagen ebenso wie sein grundlegender Hass auf diese In-

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146 Auf die Konstanz der Wertperspektive zwischen erlebendem und erzählendem Ich ist in der Forschung mehrfach verwiesen worden. So schreibt beispielsweise French (1988, 48): „His ‘initiation’ is actually a deinitiation that confirms his dissociation from a world that he has come to understand better. He has not abandoned his defience, however; he is still a ‘hater’, but he is no longer blinded by his own romantic vision – he has cleared the smoke from his eyes.“ Und Cowan (1991, 45) stellt fest: „Certainly his irritation at others’ phoniness and abuse of power is as strong when he looks back at Pencey and New York as it was when he first encountered such abuses.“ 147 Wie so vieles in diesem Text bleibt auch offen, um welche Art von Einrichtung es sich handelt, in der Holden seine Geschichte erzählt. Die Missbrauchshypothese legt freilich den Gedanken an eine psychiatrische Einrichtung nahe, in der Holden versucht, sein Trauma aufzuarbeiten. Hierfür gibt es ein Indiz im Text, welches allerdings in einem anderen Kontext eingeführt wird. Es geht dabei um das Gespräch zwischen Holden und Luce, der offenbar um dessen Probleme weiß, was insofern durchaus möglich erscheint, als er in seiner Funktion als Student Adviser in Whooton als Ansprechpartner für Holden fungiert haben könnte. Holden berichtet ihm nun zunächst davon, dass er sich zu einem Mädchen körperlich nur hingezogen fühlen könne, wenn er sie auch wirklich mag und beendet seine Ausführungen mit der in diesem Zusammenhang doch eher überraschenden Feststellung: „My sex life stinks.“ (191) Luce verweist daraufhin auf einen Rat, den er Holden offenbar bereits vor einiger Zeit gegeben hat: „‘Naturally it does, for God’s sake. I told you the last time I saw you what you need.’ ‘You mean to go to a psychoanalyst and all?’ I said. That’s what he’d told me I ought to do. His father was a psychoanalyst and all.“ (191f.)

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stitution und hieraus wiederum seine Idee, später einmal seine Kinder von der Schule fernzuhalten und sie selbst zu unterrichten.148 Erst in diesem Kontext erschließt sich auch Holdens überraschende Wertschätzung für die beiden Nonnen, die er lediglich zufällig kennen lernt und denen er auch nur ein einziges Mal in seinem Leben begegnet. Zwar handelt es sich bei ihnen um Lehrerinnen, doch geht von ihnen als Frauen keine Gefahr für ihn aus, so dass er spontan Vertrauen zu ihnen fassen kann. Hiermit wiederum korrespondiert Holdens auf der Sujetebene bereits früher geäußerte Überlegung, sich an einen Ort zu begeben, der – zumindest von der Idee her – völlig frei von sexuellen Kontakten ist: ein Kloster. Seine gegen einen solchen Schritt geltend gemachten Bedenken deuten erneut auf eine Missbrauchserfahrung hin, wie in einer Replik Holdens an Ackley zum Ausdruck kommt: „‘Aah, go back to sleep. I’m not gonna join one anyway. The kind of luck I have, I’d probably join one with all the wrong kind of monks in it. All stupid bastards. Or just bastards.’“ (65) Die Missbrauchshypothese wirft schließlich noch ein erhellendes Schlaglicht auf weitere Episoden des Textes. In dem New Yorker Hotel, in dem Holden absteigt, beobachtet er aus seinem Fenster einen Transvestiten und ein Paar, das sich beim Sex gegenseitig mit einer Flüssigkeit bespuckt. Auch wenn diese Beobachtungen Holden sexuell erregen, wertet er das Verhalten in beiden Fällen doch als pervers und kommt zu folgendem Schluss: „It’s really too bad that so much crumby stuff is a lot of fun sometimes.“ (81)149 Da Holden nun aber eingestandenermaßen kaum über aktive sexuelle Erfahrungen verfügt, lässt sich diese Formulierung vor allem als ein Beklagen der eigenen Opferrolle verstehen. Ganz generell scheint für Holden Sexualität mit dem Stigma der Perversion behaftet zu sein, da er Stradlater, der doch lediglich an heterosexuellem Geschlechtsverkehr ohne ausgefallene Praktiken interessiert ist, indirekt zum König der Perversen erklärt (81). Ausschlaggebend für dieses Urteil ist wohl, dass Stradlater bei den Mädchen den Anschein erweckt, ernsthaft an ihnen interessiert zu sein und sich zudem von ihren Bitten, von ihnen abzulassen, nicht abhalten lässt, ganz egal wie diese

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148 Ohne weiteres plausibel wirkt somit auch das folgende Urteil Holdens, das über eine von der Adoleszenz bedingte Ablehnung der Schule deutlich hinausgeht: „You can’t trust anybody in a goddam school.“ (260) 149 In einer noch drastischeren Variante findet sich dieses Motiv bereits am Beginn von Salingers Erzählung A Perfect Day for Bananafish. In ihr liest Muriel Glass in einer Frauenzeitschrift einen Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Sex Is Fun – or Hell“ (Salinger 1953, 3). Es wäre durchaus lohnenswert, auch diesen Text unter dem Aspekt des sexuellen Missbrauchs einer Relektüre zu unterziehen, doch ist hier nicht der geeignete Ort dafür.

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Bitten motiviert sein mögen (64).150 Ganz anders Holden: „The thing is, most of the time when you’re coming pretty close to doing it with a girl – a girl that isn’t a prostitute or anything, I mean – she keeps telling you to stop. The trouble with me is, I stop. Most guys don’t. I can’t help it.“ (120) Auch wenn hier zweifellos ein gewisser Neid den anderen Jungen gegenüber mitschwingt, die nicht so sehr von Skrupeln geplagt werden wie er selbst, sowie die Enttäuschung darüber, sexuell bisher noch nicht in gleichem Maße zum Zug gekommen zu sein wie einzelne seiner Mitschüler, so lässt sich Holdens Verhaltensweise einmal mehr mit der Opferrolle erklären: Er respektiert die Aufforderung, innezuhalten, so wie er es sich gewünscht hätte, dass seine Aufforderungen in dieser Hinsicht respektiert worden wären. Nach der ausführlichen Betrachtung Holdens als erlebendes Ich gilt es nun, noch einmal auf seine Rolle als Erzähler zurückzukommen. Dabei fällt zunächst ins Auge, dass Holdens Bericht eine Vielzahl von Signalen aufweist, die auf eine mündliche Form der Vermittlung hindeuten.151 Da der fiktive Adressat aber ungenannt bleibt, zählt Furst (1990, 182) ihn zu den vielen Rätseln, die Salingers Roman seinen Lesern aufgibt. Mit der Lösung dieses Rätsels hat sich bisher lediglich Michael Cowan ausführlich beschäftigt, indem er den Versuch unternommen hat, auf der Basis der im Text gegebenen Informationen ein möglichst konkretes Bild des fiktiven Adressaten zu zeichnen. Angesichts der Signale für Mündlichkeit und seines Aufenthaltsortes dränge sich, so Cowan (1991, 41), die Vorstellung auf, dass sich Holden an einen Besucher oder an einen anderen Patienten wendet. Die Möglichkeit, dass es sich um einen Besucher handelt, erscheint allerdings wenig überzeugend. Zum einen befindet sich Holden nicht in seiner gewohnten Umgebung an der

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150 Holden selbst jedenfalls geht davon aus, dass diese Bitten unterschiedlich motiviert sein können: „You never know whether they really want you to stop, or whether they’re just scared as hell, or whether they’re just telling you to stop so that if you do go through with it, the blame’ll be on you, not them.“ (120f.) 151 Hierzu gehören die kaum zu zählenden Allokutionen, die Interrogativsätze, die teilweise rhetorisch zu verstehen sind, bisweilen aber auch direkt an den fiktiven Adressaten gerichtet sind (z. B. „You remember I said before that Ackley was a slob in his personal habits?“ [35]), einzelne Exklamationen sowie die vielen Kursivierungen als graphischer Ausdruck für Satzbetonungen. Ein starkes Indiz für den mündlichen Charakter des Erzählvorgangs ist auch das Adverb „really“ gleich im ersten Satz des Romans („If you really want to hear about it, the first thing you’ll probably want to know [...].“ [3]), das zusammen mit dem „it“ eine anaphorische Bezugnahme signalisiert, so dass bei der Lektüre der Eindruck entsteht, Zeuge einer Kommunikationssituation zu werden, die bereits früher ihren Anfang genommen hat. Auf die Stilisierung in Richtung Mündlichkeit ist in der Forschung wiederholt hingewiesen worden. Vgl. etwa Costello (1990, 51f.), Rosen (1990, 167), Furst (1990, 182) und Cowan (1991, 41). Lediglich William Riggan (1981, 159) spricht – freilich ohne jegliche Begründung und gegen die textuelle Evidenz – davon, dass Holden seinen Bericht für einen imaginierten Leser niederschreibe.

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Ostküste, wo alle seine Bekannten sind, sondern in Kalifornien. Zum anderen kann es sich bei dem Zuhörer nicht um ein Familienmitglied handeln, wie der folgende, bereits weiter oben zitierte Satz belegt: „I mean that’s all I told D.B. about, and he’s my brother and all.“ (3) Setzt man als fiktiven Adressaten also einen Mitpatienten an, so erlaubt es Holdens Redeweise, diesen noch konkreter zu fassen. Während der Jugendjargon darauf hindeutet, dass sein Gegenüber etwa im selben Alter ist wie Holden, legt die Verwendung der Vulgarismen den Schluss nahe, dass dieses Gegenüber männlich ist, wie erneut bereits Cowan (1991, 41f.) festgestellt hat. Aus Holdens Offenheit zieht Cowan noch eine weitere Schlussfolgerung: [...] but his “male” talk stays away for the most part from macho posturings. Holden is able to admit to his listeners that he is still “a virgin” and to talk about his awkwardness and confusion in approaching women sexually […]. He would not have made such admissions to Ackley, Stradlater, or Carl Luce. Such reticence suggests another attribute to his nominal audience, namely its sensitivity. (Co152 wan 1991, 42)

Diese Offenheit Holdens, die ein erhebliches Maß an Vertrauen in den Zuhörer voraussetzt,153 führt schließlich unmittelbar zur Frage nach der

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152 Auch Carl Freedman (2008, 181) charakterisiert Holdens Haltung als dezidiert maskulin, nicht aber machistisch. 153 Eine plausible Erklärung für dieses Vertrauen liefert einmal mehr die Missbrauchshypothese. Offenbar teilen die beiden Kommunikationspartner dasselbe Schicksal, d. h. der Zuhörer ist selbst Opfer sexueller Übergriffe, so dass Holden bei ihm mit einem gewissen Verständnis für seine Probleme rechnen kann. Erneut scheint damit die Annahme gerechtfertigt, Holden befinde sich in einer speziellen psychiatrischen Einrichtung, um sein Trauma zu verarbeiten. Allerdings muss noch einmal dezidiert darauf hingewiesen werden, dass es sich dabei eben nur um eine Hypothese handelt. Der Text lässt prinzipiell auch die Möglichkeit offen, dass die Ursache für Holdens medizinische Betreuung physischer Natur ist, wenn es etwa im letzten Kapitel des Romans heißt: „I could probably tell you what I did after I went home, and how I got sick and all [...].“ (276) Zudem verschlechtert sich im Laufe des dargestellten Geschehens Holdens körperlicher Zustand zusehends, so dass er im Museum of Art sogar kurzzeitig das Bewusstsein verliert (265). Bereits zu Beginn des Textes spricht Holden seinen Gesundheitszustand explizit an, wobei auch hier der Schwerpunkt auf der Physis liegt: „I have no wind, if you want to know the truth. I’m quite a heavy smoker, for one thing – that is, I used to be. They made me cut it out. Another thing, I grew six and a half inches last year. That’s also how I practically got t.b. and came out here for all these goddam checkups and stuff.“ (8) Freilich wird dieses Urteil umgehend wieder relativiert: „I’m pretty healthy, though.“ (8) Auf diese Weise scheint Holdens Aufenthalt in einer medizinischen Einrichtung doppelt motiviert. Die aus dieser doppelten Motivierung resultierende Unbestimmtheit ist zugleich auch das zentrale Charakteristikum von Salingers Roman. So drängt sich einerseits an der Textoberfläche eben die Adoleszenz in einer besonders ausgeprägten Form als Erklärung für Holdens psychische Verfassung auf, während, quasi als Subtext, die Missbrauchsthematik als eigentliche Ursache für Holdens Probleme den Text durchzieht. Im prüden Amerika der 50er Jahre, in dem eine offene Thematisierung sexuellen Missbrauchs kaum möglich gewesen wäre, erscheint diese Unbestimmtheit als eine spezifische Form äsopischer Rede

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(un-)reliability Holdens, für deren Zuweisung es nun allerdings ganz unterschiedliche Ansatzpunkte gibt. In diesem Zusammenhang ist zunächst einmal daran zu erinnern, dass Holden trotz dieser Offenheit eine Vielzahl von Informationen bewusst zurückhält, ein Umstand, der bereits anhand der diesbezüglichen Äußerungen im erzählerischen Rahmen greifbar wird.154 Der Grund für diese Zurückhaltung bleibt unausgesprochen. Fokussiert man die Adoleszenz des Erzähler-Protagonisten, dann bleibt sie darüber hinaus auch unmotiviert. Sieht man in Holden hingegen das Missbrauchsopfer, dann hätte seine Verschwiegenheit immerhin eine durchaus nachvollziehbare Ursache. Des Weiteren ist im Hinblick auf die Informationsvergabe zu konstatieren, dass Holden bisweilen auch seine Erinnerung im Stich lässt, wie er selbst eingesteht.155 Bei diesen Erinnerungslücken entsteht allerdings nie der Eindruck, dass dem Leser hier wesentliche Informationen vorenthalten werden, wie in der Forschung (Cowan 1991, 55) bereits festgestellt wurde. Als Erzähler zeichnet sich Holden somit trotz der zurückgehaltenen Informationen durch eine uneingeschränkte Aufrichtigkeit aus. Nicht nur gibt es für den Leser keinerlei Anlass, die Richtigkeit der dargestellten Ereignisse in Zweifel zu ziehen, wie bereits eingangs der Analyse von Salingers Roman dargelegt wurde, vielmehr schildert Holden seine 48-stündigen Erlebnisse auch äußerst detailliert und mit schonungsloser Offenheit. Darüber hinaus wird der Leser sogar dezidiert darauf hingewiesen, dass er nicht die ganze Geschichte zu hören bekommt, wobei die gewollten und ungewollten Auslassungen auch noch als solche gekennzeichnet sind. Diese Aufrichtigkeit unterscheidet den Erzähler-Protagonisten in The Catcher in the Rye kategorial von Dr. Sheppard in Aga-

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als adäquate Strategie, um dieses Tabuthema überhaupt literarisch gestalten zu können. Zur Unbestimmtheit von Salingers Roman und ihren Folgen für das Textverständnis vgl. Ohme (2013). 154 Auch auf der Ebene des erlebenden Ich wird wiederholt erkennbar, dass Holden bestimmte Ereignisse aus seiner Kindheit nicht preisgeben will. Vgl. etwa Holdens Reaktion auf die Frage Spencers, warum er von Elkton Hills abgegangen sei: „I didn’t feel like going into the whole thing with him.“ (18) Noch interessanter in dieser Hinsicht ist Holdens Bericht davon, dass er sich nach seiner Flucht aus Antolinis Wohnung gedanklich abzulenken versucht: „There was this magazine that somebody’d left on the bench next to me, so I started reading it, thinking it’d make me stop thinking about Mr. Antolini and a million other things for at least a little while.“ (254) Es sind eben diese kryptischen Anspielungen wie „a million other things“, die maßgeblich dazu beitragen, im Sinne einer Appellstruktur beim Leser das Bewusstsein zu wecken, dass sich hinter Holdens Geschichte etwas verbirgt, das es erst noch zu ergründen gilt. 155 Vgl. etwa Holdens pauschalisierende Aussage: „Some things are hard to remember.“ (52) Darüber hinaus gibt Holden über den Text verstreut vereinzelte Erinnerungs- und Wissenslücken zu erkennen.

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tha Christies The Murder of Roger Ackroyd, dessen ursprüngliche Intention es ja war, sein Gegenüber bezüglich der Faktenlage durch das Zurückhalten der entscheidenden Information hinters Licht zu führen. Von noch größerer Relevanz für die Beurteilung von Holdens (un-)reliability als die Frage nach der Vollständigkeit und der Richtigkeit der berichteten „Fakten“ aber scheint – vergleichbar mit Stevens in The Remains of the Day – dessen Weltsicht zu sein, wobei unter diesem Aspekt zwei Ansatzpunkte zu unterscheiden sind. Als Grundlage für eine Zuweisung der unreliability können beispielsweise ganz pauschal bestimmte Figurenmerkmale herangezogen werden, wie dies in der Forschung auch wiederholt geschehen ist. So meint etwa Cowan (1991, 43), dass man nicht erwarten könne, ein von der Adoleszenz verwirrter Jugendlicher verfüge über die Intelligenz, die Einsicht und die Weisheit, um das Informationsbedürfnis des Lesers adäquat zu befriedigen. Insofern sei es auch konsequent, dass Kritiker immer wieder auf Holdens sich widersprechende Meinungsäußerungen, auf die Differenz zwischen den von ihm proklamierten Werten und seinen Handlungen oder auf seine unterschiedlich tiefgehende Einsicht in seine eigene Motivation hingewiesen haben. In vergleichbarer Weise argumentiert auch William Riggan (1981, 163), wenn er als Gründe für Holdens unreliability seine mangelnde Erfahrung in bestimmten sozialen Feldern anführt, die seine diesbezüglichen Urteile zwangsläufig fragwürdig erscheinen lassen müssen, sowie seine noch ungenügend ausgeprägte Einsicht in seinen eigenen Charakter.156 In der Tat lassen sich im Text zahlreiche Belege

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156 Als ein weiteres Argument in diesem Zusammenhang dient Riggan (1981, 163) auch Holdens Stil: „Holdens language is, then, for the most part typical teenage slang, ‘versatile yet narrow, expressive yet unimaginative, imprecise, often crude, and always trite,’ and therefore indicative of a mind which is not yet sufficiently perceptive or discriminating to render a reliable account of its experiences.“ Problematisch erscheint in diesem Kontext freilich weniger Holdens Jugendslang als vielmehr die von Riggan hergestellte Kausalität von Stil und Glaubwürdigkeit des Sprechers. Zum einen übersieht Riggan, der ja auch als einziger und ohne jegliche Begründung von einer schriftlichen Form der Vermittlung ausgeht, dass Holden sich durchaus gemäß der gesellschaftlichen Konvention auszudrücken vermag, wenn die Situation dies erfordert. Gerade aber der informelle Charakter der Kommunikationssituation, in der Holden als Erzähler auftritt, lässt eine solche Ausdrucksweise unangebracht erscheinen. Zum anderen resultiert aus der von der kodifizierten Norm abweichenden Stilebene allererst der Eindruck von Authentizität auch im Hinblick auf die Erfahrungen Holdens, da sie anscheinend ungefiltert vermittelt werden. Zwar werden Dialekt und bisweilen auch Soziolekt und Idiolekt mit einem eher niedrigen Bildungsniveau assoziiert, doch lassen sich aus diesen sprachlichen Erscheinungen nicht generell Rückschlüsse auf die Intelligenz des Sprechers ziehen. Bezeichnenderweise rechnet Flaker (1975, 53) Holden in seiner Binnendifferenzierung der Erzähler in der Jeans-Prosa zu den gebildeten und intelligenten Erzählern, die in dieser Untergattung aus folgendem Grund auch am häufigsten anzutreffen seien: „Wenn die Opposition wir ↔ sie also nicht auf der Ebene einer sozialen Gegenüberstellung gegeben ist, wie wir sie von Dickens,

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finden, die eine solche Position stützen, beginnend mit Holdens eingestandener Unerfahrenheit im sexuellen Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht, über seine widersprüchlichen Äußerungen beispielsweise zum Medium Film, bis hin zu dem Umstand, dass er bekennen muss, schlicht nicht zu wissen, wie er seine Erlebnisse in New York bewerten soll. Dennoch entsteht durch diese Defizite, wie Riggan völlig zu Recht bemerkt, beim Leser kein negatives Bild von Holden: Rather, the portrait that results is one of a compassionate spirit undergoing the painful and disorienting process of physical and emotional maturation, of the development of self-consciousness with all the attendant confusions, agonies, and extremes of mood and perception. (Riggan 1981, 167)

Vielmehr ist gerade umgekehrt in diesen Schwächen Holdens eine wesentliche Ursache für die mögliche Identifikation des Lesers mit dem Erzähler-Protagonisten zu suchen, worüber in der Forschung auch ein weitgehender Konsens besteht.157 Es stellt sich allerdings die Frage, ob man mit derartigen Figurenmerkmalen die (un-)reliability eines Erzählers sinnvoll erfassen kann, da sich hinter Holdens grundsätzlichen Defiziten ein weitaus komplexeres Bild hinsichtlich seiner Weltsicht abzeichnet, wie weiter oben im Zusammenhang mit Holdens Kommentaren und Werturteilen bereits angedeutet wurde. Auf ihnen selbst nämlich basiert die zweite Möglichkeit, Holdens (un-)reliability unter dem Aspekt seiner Weltsicht zu beurteilen. Dabei zeigt sich dann, dass Holdens Urteile über die dargestellte Welt trotz seiner soeben konstatierten Schwächen in der Regel höchst plausibel sind.158 So sind seine Charakterisierung von Ward Stradlater und Sally Hayes als phonies durchaus nachvollziehbar. Das Gleiche gilt u. a. auch für Spencer, für Ossenburger oder für Mr Haas, den Direktor von Elkton Hills, die allesamt durch ihre Handlungen Holdens Urteile bestätigen. Bei anderen Figuren fehlt eine solche Möglichkeit, Holdens Urteile zu verifizieren, so dass sie schlicht akzeptiert werden müssen, wie dies etwa bei Holdens Einschätzung des Aussehens der drei jungen Frauen aus Seattle sowie ihrer Qualität als Tanzpartnerinnen der Fall ist. Anders als bei Stevens finden sich aber keine Wert-

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Balzac oder von neueren Varianten Gor’kijs (wir denken hier an die autobiographische Trilogie) und Ostrovskijs her kennen, sondern auf der Ebene eines kulturellen und sprachlichen Opponierens, dann ist es natürlich, dass der junge Erzähler vor allem ein intelligenter Erzähler sein muß, der die kulturellen Texte kennt.“ (Flaker 1975, 54) 157 Vgl. dazu etwa Rowe (1991, 82f.) und Alsen (2008, 153). 158 Ganz in diesem Sinne kommt auch Baumbach (1990, 59) zu dem Schluss, dass Holden bisweilen zwar „silly, irritating, thoughtless, irresponsible“ und demnach nicht ohne Fehler ist, dass hingegen seine Werturteile über andere Figuren und über die verschiedenen Schauplätze des Romans der Wertperspektive des abstrakten Autors entsprechen.

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urteile, die von den anderen Figuren explizit oder implizit infrage oder gar in Abrede gestellt werden. Deutlich komplizierter ist die Lage allerdings in Bezug auf Holdens gnomische Aussagen, die sich ja nicht auf einzelne Sachverhalte der dargestellten Welt beziehen, sondern einen universellen Geltungsanspruch erheben. Wie bereits weiter oben dargelegt, gibt es eine Vielzahl solcher Aussagen, gegen die man kaum etwas wird einwenden können wie z. B. „I didn’t care, except that it’s pretty disgusting to watch somebody pick their nose.“ (14) oder „Real ugly girls have it tough.“ (111), um lediglich zwei weitere Beispiele anzuführen. Ein Problem bereiten hingegen all jene Pauschalurteile, die die Welt der Erwachsenen im Allgemeinen und die Institution Schule im Besonderen betreffen. Auch wenn die Bewertung einzelner dieser Urteile stark von den individuellen Erfahrungen des jeweiligen Lesers abhängen, so gilt doch zumindest in der Regel, dass Holdens Urteile entweder problemlos nachvollziehbar sind oder ob ihrer Radikalität mehr oder minder exaltiert wirken. Eben deshalb spricht Shaw (1991, 107) Holden „a range of reliability among his opinions“ zu, wobei die Schwankungsbreite aus der mit der Adoleszenz grundsätzlich verbundenen ambivalenten Haltung der Welt gegenüber resultiere. Holden hätte demnach also häufig Recht, immer wieder aber auch Unrecht. Bereits an dieser Stelle wird also eine Zuweisung des Kriteriums der (un-)reliability deutlich verkompliziert. Noch schwieriger wird die Lage, wenn man die Motivation für Holdens Urteile als Kriterium für die Einschätzung seiner (un-)reliability mit berücksichtigt. Die schwankende Überzeugungskraft seiner Urteile hat in der Forschung nämlich unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Eine Tendenz geht dahin, Holden auf der Basis seiner als angemessen erachteten Urteile schlicht als Pubertierenden zu betrachten, dessen Fehleinschätzungen zwar bisweilen recht krass erscheinen, durchaus aber noch altersbedingt erklärt werden können. Damit ist dann auch, neben Holdens allzu menschlichen Schwächen, der zweite Grund dafür benannt, warum der Erzähler-Protagonist in Salingers Roman so breit und dauerhaft als Identifikationsangebot angenommen wird. Die andere Tendenz geht hingegen von jenen Urteilen aus, die in ihrer Überzogenheit unangemessen erscheinen. Bei einer solchen Betrachtungsweise entsteht dann, wie Shaw (1991, 100) es treffend formuliert hat, das Bild von Holden als „a disturbed youth even though he often talks sense.“ Holdens Antihaltung wird dann prinzipiell negativ bewertet, bestenfalls als Renitenz (Seng 2009), schlimmstenfalls als pathologisch (Irving 2009). Die Argumentation in der vorliegenden Arbeit nun versucht, zwischen diesen beiden Extremen zu vermitteln. Sie charakterisiert Holden einerseits, wie in der ersten der beiden genannten Richtungen, als Pu-

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bertierenden, dessen Urteile häufig nicht nur altersangemessen, sondern darüber hinaus auch zutreffend sind. Andererseits gelingt es ihr anhand der Missbrauchshypothese auch jene gnomischen Aussagen Holdens nachvollziehbar zu machen, die zunächst exaltiert erscheinen: Mögen sein maßloser Hass auf die Schule und seine pauschale Charakterisierung der Erwachsenenwelt als phony auf den ersten Blick noch so sehr irritieren, so sind sie aus der Perspektive eines Opfers sexuellen Missbrauchs ohne Zweifel gerechtfertigt. Es zeigt sich mithin, dass für eine Beurteilung der (un-)reliablity Holdens unter dem Aspekt seiner Weltsicht die Wertperspektive des konkreten Lesers zwar durchaus nicht zu vernachlässigen ist, dass eine mindestens ebenso große Rolle aber spielt, wie die Appellstruktur des Textes im Zuge seiner Konkretisation insgesamt mit Sinn erfüllt wird. Im Hinblick auf die (un-)reliability des Erzähler-Protagonisten kommt man dann zu dem folgenden, reichlich unbefriedigenden Schluss: Als 17-jähriger ist Holden aufgrund seiner Unerfahrenheit und Unreife per se unreliable. Als Pubertierender, der den schwierigen Übergang aus der Jugend in das Erwachsenenalter bewältigen muss, unterliegt Holdens reliability extremen Schwankungen. Als „disturbed youth“ ist Holden die reliability wiederum weitgehend abzusprechen. Als Missbrauchsopfer steht Holdens reliability hingegen völlig außer Frage. Zwar zeichnen sich die diesen Einschätzungen von Holdens (un-)reliability zugrunde liegenden Lesarten von Salingers Roman durch ein unterschiedlich hohes Maß an Plausibilität aus, doch lässt sie das Textschema aufgrund seiner Offenheit in bestimmten Grenzen immerhin alle zu. Eine Konsensbildung in Bezug auf die (un-)reliability Holdens hinsichtlich seiner Weltsicht scheint damit grundsätzlich ausgeschlossen. 3.2.8 Schlussfolgerungen Anhand der Textanalysen konnte gezeigt werden, dass das mit dem Begriff der unreliability konzeptualisierte Phänomen bei weitem komplexer ist als die stilistische Markierung eines Erzählers, und dies in doppelter Hinsicht, wie ein kurzer diesbezüglicher Vergleich verdeutlichen wird. Zum einen ist der mit stilistischer Markierung bezeichnete sprachliche Aspekt der vermittelnden Instanz trotz seiner möglichen unterschiedlichen Ausprägungen (Individualisierung durch Dialekt, Soziolekt oder Idiolekt bzw. Ornamentalistik) klar umrissen. Zum anderen ist die jeweilige stilistische Markierung in den entsprechenden Texten konstant, wie etwa die beiden Extrembeispiele Holden Caulfield (Jugendslang, Idiosynkrasien, Verstöße gegen die Grammatik) und Stevens (förmliche

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Ausdrucksweise) belegen.159 Ganz anders verhält es sich hingegen mit der unreliability, wie anhand dieser beiden Erzähler-Protagonisten sinnfällig wird. Holdens und Stevens’ Meinungsäußerungen sind keineswegs immer konsistent, wie die zwiespältige Haltung des ersteren zum Thema Film bzw. die sich widersprechenden Einschätzungen des letzteren bezüglich seines früheren Arbeitgebers veranschaulichen. Zudem kann hier auch von einem klar umrissenen Gegenstandsbereich keine Rede sein, da für eine Zuweisung der (un-)reliability mehrere Ansatzpunkte möglich sind. Bei Holden war dies etwa seine Aufrichtigkeit in Bezug auf die vergebenen Informationen und die Kenntlichmachung seiner Auslassungen aufgrund derer er zweifellos als reliable anzusehen ist. Gerade aber wegen dieser Informationsverweigerung kann er ebenso gut als unreliable qualifiziert werden. Noch komplizierter wird die Angelegenheit, wenn man seine Weltsicht und ihre Motivierung ins Kalkül zieht, da dann noch weitere Kriterien für seine (un-)reliability ins Spiel kommen, die wiederum unterschiedliche Urteile in dieser Hinsicht zulassen. Ein solches Durcheinander allein in Bezug auf einen Text reicht bereits aus, um die Fragwürdigkeit dieser Kategorie deutlich zu machen, doch wird die Situation noch problematischer, wenn man andere Texte vergleichend heranzieht, die in der Forschung ebenfalls unter diese Kategorie fallen. Ein 17-jähriger Pubertierender gehört dann zu demselben Typus wie ein verrückter Mörder (The Tell-Tale Heart), ein unter paranoider Schizophrenie leidender Misanthrop (The Grotesque) oder ein serviler und deshalb unmündiger alter Butler (The Remains of the Day). Ebenso heterogen ist das Textkorpus, wenn man es unter dem Aspekt der Informationsvergabe konstituiert. Hier finden sich dann Erzähler, die ihre Information bereitwillig preisgeben (The Tell-Tale Heart), andere, die ihre Information zunächst zurückhalten, um sie schlussendlich doch noch zu kommunizieren (The Murder of Roger Ackroyd, Der Kameramörder), und schließlich solche, die die entscheidenden Informationen konsequent aussparen (The Grotesque, The Catcher in the Rye), wobei die Aussparung im ersten Fall aus einer unbewussten Verdrängungsleistung resultiert, im zweiten hingegen aus einer bewussten Auswahl der vergebenen Informationen. Fokussiert man wiederum das Kriterium der Aufrichtigkeit, so ergeben sich sogar kontradiktorische Zuweisungen: Dr.

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159 Konstanz meint in diesem Fall also, dass der einmal gewählte Grad der individualisierenden stilistischen Markierung über den gesamten Text hin durchgehalten wird. Vergleichbares gilt auch für Stilmischungen. Auch wenn hier natürlich ganz unterschiedliche Register herangezogen und konfrontiert werden können, wird doch die einmal getroffene Auswahl in der Regel nicht wieder verändert, um den auf ihr basierenden Effekt nicht zu zerstören. Texte mit ständig wechselnden Stilregistern haben eher experimentellen Charakter und bilden eine Ausnahme.

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Sheppard aus Agatha Christies Roman etwa ist unaufrichtig und infolgedessen unreliable, Holden hingegen ist aufrichtig und trotzdem unreliable. Die Zuweisung der unreliability erhält dadurch beinahe den Charakter der Beliebigkeit, so dass eine terminologische Begriffsverwendung prinzipiell unmöglich erscheint. Die Ursache für all diese Probleme liegt darin, dass dem zu konzeptualisierenden Phänomen ob seiner Komplexität mit der Kategorie der (un-)reliability schlicht nicht beizukommen ist. Zwar ist es Aufgabe einer jeden Typologie, Komplexität zu reduzieren und auf diese Weise eine überschaubare Ordnung allererst zu schaffen, doch geht im Falle der (un-)reliability die Reduktion von Komplexität so weit, dass sich das typologische Merkmal als dysfunktional erweist. Ausschlaggebend hierfür ist, dass es dabei ganz offensichtlich nicht um ein einzelnes Phänomen geht, sondern um durchaus verschiedene Aspekte der Vermittlung von Information. Eine simple Dichotomie kann deshalb dem Facettenreichtum bestimmter Erzähler prinzipiell nicht gerecht werden und konstituiert infolgedessen ein Textkorpus anhand eines diffusen Merkmals, weshalb sich dieses Korpus vor allem durch seine Heterogenität auszeichnet. Kehrt man von der abstrakten Ebene der Typologie zurück zur Produktion und Rezeption der konkreten Texte, so ist daraus zu folgern, dass das Merkmal der unreliability aufgrund mangelnder Klarheit in der literarischen Kommunikation keine wie auch immer geartete Funktion innehaben kann. Schließlich wird jede Entscheidung eines Autors für eine bestimmte Textgestaltung unter dem Aspekt getroffen, sich in eine bestimmte Tradition zu stellen oder mit dieser Tradition zu brechen. Eine derartige Tradition resultiert ihrerseits aus der Zusammengehörigkeit einzelner Texte aufgrund von Merkmalsübereinstimmungen. Warum aber sollte ein Autor auf die Idee kommen, den Erzähler seines Textes als unreliable zu konzipieren, wenn weder er noch seine Leser wissen können, was damit recht eigentlich gemeint ist? Eine Zusammengehörigkeit von Texten aufgrund des Merkmals der unreliability und infolgedessen eine entsprechende Traditionsbildung ist damit per se ausgeschlossen. Lediglich solche Merkmale aber, die in der literarischen Kommunikation eine entsprechende Rolle spielen und demzufolge an einer derartigen Traditionsbildung beteiligt sind, können plausiblerweise zur Grundlage einer Typologie gemacht werden, da nur auf diese Weise die Gegenstandsadäquatheit eines Modells gewährleistet ist. Bei der Kategorie der unreliability ist diese Mindestvoraussetzung schlicht nicht erfüllt. Dieser Befund wirft zwei Fragen auf, wobei die erste von ihnen forschungsgeschichtlicher Natur ist: Woher rührt in der Narratologie die mangelnde Differenzierung in Bezug auf die Kategorie der (un-)reliabili-

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ty? Die Antwort hierauf hat ihrerseits Auswirkungen auf die Beantwortung der zweiten Frage, nämlich, welche Konsequenzen aus dem Befund, also der diagnostizierten Unterkomplexität dieser Kategorie, zu ziehen sind. Für die Beantwortung der ersten Frage ist es hilfreich, sich noch einmal die ursprüngliche Definition von Booth zu vergegenwärtigen: For lack of better terms, I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not. (Booth 1961, 158f.)

Im gegebenen Kontext ist die Formulierung „when he speaks for or acts in accordance with“ von entscheidender Bedeutung, da sie auf das Grundproblem der Kategorie der (un-)reliability bei Booth verweist. Sie verdeutlicht nämlich, dass diese Kategorie ihre Begründung keineswegs primär im Erzählakt selbst findet, sondern ganz generell in den Eigenschaften jener Figur, die zugleich auch Erzähler ist. Diese Eigenschaften finden ihren Ausdruck in der Tat, wie dies Booth in seiner Definition ja auch völlig zutreffend formuliert hat, sowohl in den verbalen wie auch in den nonverbalen Handlungen einer Figur, woraus zu folgern ist, dass es sich bei der (un-)reliability nicht um eine dezidiert narratologische Kategorie handelt, sondern um eine Figurencharakteristik, in die alles eingeht, was diese Figur auszeichnet, unabhängig davon, ob hierbei ihre Funktion als Informationsvermittler tangiert ist oder nicht. Hieraus leitet sich wiederum das nächste Problem ab: Die dabei infrage kommenden relevanten Figurenmerkmale sind zwar nicht unbegrenzt, doch immerhin recht zahlreich und von ganz unterschiedlicher Art. In Betracht zu ziehen sind hier beispielsweise das Alter, die soziale Stellung, der Bildungsgrad, die religiöse Orientierung, sexuelle Präferenzen, die kognitiven Fähigkeiten im Allgemeinen und der Geisteszustand im Besonderen, das Erinnerungsvermögen und nicht zuletzt Charaktereigenschaften wie Aufrichtigkeit, Empathie, Boshaftigkeit, Jähzorn usw. sowie die Desiderate der Figuren mit den aus ihnen resultierenden Handlungsmotivationen.160 Diese Figureneigenschaften können sich ihrerseits auf unterschiedliche Weise auf die Informationsvergabe auswirken (Informationsverweigerung aus Scham, Boshaftigkeit, Arglist; eingeschränkte Informiertheit beispielsweise aufgrund geringer Erfahrung, die wiederum mit dem Alter in Verbindung stehen kann, aber durchaus nicht muss, oder aufgrund psychischer bzw. physischer Handicaps), können aber auch lediglich den Bereich der Meinungsbildung betreffen, so

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160 Es sind gerade diese Kategorien, nach denen ein Autor seine Erzählerfigur konzipieren wird, und eben nicht anhand eines diffusen Konzepts von (un-)reliability.

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dass sich insgesamt eine Gemengelage ergibt, die sich einer einsinnigen Definition zwangsläufig entziehen muss.161 Die Heterogenität der genannten Figurenmerkmale führt zu einem weiteren Problem im Umgang mit der Kategorie der (un-)reliability. Bei

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161 Eine vergleichbare Aufzählung von Figureneigenschaften, die für die (un-)reliability eines Erzählers in Anschlag gebracht werden können, findet sich bereits bei Chatman (1989, 233): „The narrator’s unreliability may stem from cupidity (Jason Compson), cretinism (Benjy), gullibility (Dowell, the narrator of The Good Soldier), psychological and moral obtuseness (Marcher in ‘The Beast in the Jungle’), perplexity and lack of information (Marlow in Lord Jim), innocence (Huck Finn), or a whole host of other causes, including some ‘baffling mixtures.’“ Auch A. Nünning (1998c, 6f.) konstatiert angesichts der Heterogenität des auf diese Weise konstituierten Textkorpus folgerichtig, dass es „dem Konzept des unreliable narrator in seiner bisherigen Form an theoretischer Präzision, methodischer Operationalisierbarkeit und typologischer Differenzierung mangelt.“ Allerdings ist er nicht bereit, daraus die logische Konsequenz zu ziehen und dieses Konzept ob seiner unübersehbaren Mängel aufzugeben. Stattdessen bemüht er sich um dessen Neukonzeptualisierung, die aber wegen ihres totalisierenden Anspruchs aus den bereits genannten Gründen ebenfalls zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Scheitern manifestiert sich auf unterschiedliche Weise. So fordert A. Nünning (1998c, 16 und 27) beispielsweise zwar wiederholt eine systematische Zusammenstellung jener Signale, die dem Leser die unreliability eines Erzählers signalisieren, doch erweist sich seine Liste derartiger Signale (A. Nünning 1998c, 27f.) als alles andere als systematisch, da sie die verschiedenen Kommunikationsniveaus eines Erzähltextes nicht voneinander trennt (paratextuelle Signale, Handlungsweise der Figuren, verschiedene Aspekte des Erzählers wie gehäufte Leseranreden, seine Kommentare zum Geschehen aber auch zum Erzählvorgang selbst, seine emotionale Involviertheit und Parteilichkeit, die freilich genau in diesen Kommentaren zum Ausdruck kommt, Erinnerungslücken sowie kognitive Einschränkungen und vieles andere mehr). Die Unverbindlichkeit dieses Sammelsuriums von Merkmalen zeigt sich aber auch darin, dass es Nünning nicht für erforderlich hält anzugeben, welche von ihnen für eine Zuweisung der unreliability notwendig oder gar hinreichend sind. Die Ursache, warum es ihm prinzipiell unmöglich ist, eine solche Angabe zu machen, wird in Kapitel 3.3 deutlich werden. Auch A. Nünnings (1998c, 17) pauschale Bestimmung der unreliability als eine Spielart der dramatischen Ironie wird der Heterogenität des Phänomens nicht gerecht. Nach Pfister (1988, 88) resultiert dramatische Ironie aus einem Informationsvorsprung des Lesers/Zuschauers gegenüber einer Figur des Dramas. Nun hat sich allerdings gezeigt, dass bestimmte als unreliable ausgewiesene Erzähler auf Nünnings Liste gerade umgekehrt über einen Informationsvorsprung gegenüber dem Leser verfügen. So weiß beispielsweise Dr. Sheppard von Beginn seines Erzählberichts an um seine Täterschaft und Holden Caulfield kann als Erzähler nicht zuletzt deshalb problematisch erscheinen, weil er wesentliche Informationen über seine Kindheit ebenso zurückhält wie er die Umstände verschweigt, die zu seinem Aufenthalt in einer medizinischen Einrichtung in Kalifornien geführt haben. Im Übrigen erscheint es ganz grundsätzlich problematisch, bei der Definition von unreliability mit der Kategorie der dramatischen Ironie zu arbeiten, geht es bei ersterer doch häufig um Meinungen und moralische Standards, d. h. um Wertvorstellungen, die sich mithilfe des Konzepts diskrepanter Informiertheit gerade nicht beschreiben lassen und die bei Pfister (1988, 177ff.) deshalb auch unter den Kategorien der expliziten und impliziten Selbstdarstellung einer Figur abgehandelt werden. Jedenfalls wird bei einer solchen Verwendungsweise der Umfang des Begriffs dramatische Ironie derart aufgebläht, dass er als Analyseinstrument ebenso unbrauchbar wird wie die Kategorie der unreliability selbst. Eine vergleichbare Kritik an Nünnings Ausweitung des Konzepts der dramatischen Ironie findet sich bereits bei Larsson (2011, 19, Fußnote 45).

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einer solchen Vielfalt kann es nämlich nicht ausbleiben, dass es zu Überschneidungen mit anderen Konzepten kommt. So stellen etwa der Grad der Informiertheit des Erzählers einerseits und seine Weltsicht andererseits Aspekte jenes Phänomens dar, das traditionell unter dem Begriff der Perspektive behandelt wird.162 Instruktiv ist in dieser Hinsicht der Ansatz von James Phelan und Mary Patricia Martin. Zwar sind sie sich der Notwendigkeit einer Präzisierung des unreliability-Begriffs bewusst und führen deshalb sechs Subkategorien ein, doch betreffen vier von ihnen, nämlich misreading, underreading, misregarding und underregarding (Phelan/Martin 1999, 93–96), nichts anderes als eben die Perspektive des Erzählers.163 Solche Überschneidungen aber sind in der Wissen-

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162 Vgl. hierzu ausführlich Uspenskij (1970) bzw. als Überblicksdarstellung Schmid (2008a, 123–137). Wie komplex allein dieses Phänomen ist, erhellt aus seiner Definition bei Schmid (2008a, 128): „Perspektive sei hier definiert als der von inneren und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen von Geschehen.“ 163 Spätestens an dieser Stelle erweist sich endgültig die Überflüssigkeit des unreliability-Konzepts, konnte doch bereits oben (S. 131) gezeigt werden, dass es nur dann Plausibilität für sich beanspruchen könnte, wenn es unabhängig von der Kategorie der Perspektive begründet wird. Aus der Riege der unreliability-Forscher scheint sich lediglich Bruno Zerweck dieser Problematik hinreichend bewusst zu sein. Seiner Ansicht nach sind Erzähler mit einer eingeschränkten Perspektive keinesfalls notwendigerweise auch unreliable. Dazu würden sie erst, wenn ein weiteres Merkmal hinzutritt: „On the other hand, readers can be confronted with personalized narrators who unintentionally give themselves away. In this case readers can naturalize the narrator as unreliable.“ (Zerweck 2001, 157) Notwendig ist demnach, dass sich der Erzähler selbst verrät bzw., wie Zerweck (2001, 156) dieses Phänomen auch nennt, „[the] unintentional self-incrimination of the personalized narrator“. Zwangsläufig denkt man bei dieser Formulierung an die geheime Verständigung des Autors mit dem Leser hinter dem Rücken des Erzählers (Booth 1961, 300) bzw. an Bachtins (1979, 204f.) Rede von einer zweiten Erzählung hinter der Erzählung des Erzählers, in der dieser sich selbst unbeabsichtigt in den Fokus seiner Darstellung rückt. Doch was ist eigentlich damit gemeint, wenn ein Erzähler sich, wie man ebenso häufig lesen kann, unfreiwillig selbst entlarvt? Leider wird diese Frage in der Regel nicht konkret beantwortet, auch nicht von Zerweck. Jedenfalls ist absolut unklar, inwiefern bei Huck Finn oder bei Holden Caulfield von einer „unintentional self-incrimination“ die Rede sein kann. Beide erzählen immerhin so gut sie es verstehen, auch wenn sie dies aus der Sicht eines Kindes bzw. eines Jugendlichen tun. Ihre Unerfahrenheit in bestimmten Lebensbereichen kann ihnen jedenfalls kaum angelastet werden, wie bereits Riggan (1981, 180) festgestellt hat: „The dissimulation is unconscious in both Huck and Holden, however, a product of their worldly inexperience, immarturity, and naïveté. It therefore does not work to their detriment, but rather enhances the positive image of them which the reader takes from the perusal of their accounts.“ Nach der Definition von Zerweck dürfte es sich bei ihnen demnach nicht um unreliable narrators handeln. Selbst bei einem Erzähler wie Stevens ist die Sachlage offenbar nicht ganz so einfach, wie es zunächst möglicherweise den Anschein hat. Jedenfalls weist A. Nünning (1998c, 19) darauf hin, dass Stevens „denkbar zuverlässig die Illusionen, Selbsttäuschungen und Harmonisierungsversuche“ schildert, die sich aus seiner Lebenslüge ergeben. Zu ergänzen wäre freilich noch, dass er sich und seinem fiktiven Adressaten gegenüber diese Lebenslüge zumindest punktuell auch eingesteht, so dass auch hier im Sinne Zerwecks nicht eindeutig von einem unreliable narrator gesprochen werden könnte. Durch Zerwecks einschränkendes Kriterium würde das Kor-

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schaft in der Regel wenig hilfreich, da sie allzu oft lediglich zu rivalisierenden Nomenklaturen führen.164 Noch problematischer sind sie allerdings dann, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – das zu untersuchende Phänomen verdunkeln anstatt es zu erhellen. Resümierend lässt sich für dieses Teilkapitel somit festhalten: Die fehlende Spezifik des unreliability-Konzepts führt, ähnlich wie im Falle des skaz, zu einer mangelnden Trennschärfe des Begriffs, wodurch es ihm in zweifacher Hinsicht an Plausibilität gebricht. Zum einen versagt es als wissenschaftliches Analyseinstrument sowohl bei der Beschreibung komplexer Erzähler als auch bei der Konstituierung eines intersubjektiv nachvollziehbaren Textkorpus. Zum anderen steht es in Konkurrenz zu anderen Konzepten – beispielsweise bestimmter Aspekte der Perspektive eines Erzählers – die ihrerseits den Vorzug haben, dass ihr Untersuchungsgegenstand deutlich begrenzter und infolgedessen vergleichsweise klar definiert ist. Im Sinne einer um Präzision bemühten

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pus der Texte mit einem unreliable narrator also deutlich verringert, ein Umstand, der nach den obigen Ausführungen zwar durchaus zu begrüßen wäre. Zweierlei erscheint dabei jedoch problematisch. Zum einen steht Zerweck mit dieser Position innerhalb der unreliability-Forschung völlig allein, was an sich nicht schlimm wäre, wenn er denn die von ihm zu einem notwendigen Kriterium erhobene Einschränkung plausibel erklären würde. Gerade aber eine solche Erklärung fehlt. Zum anderen widerspricht sich Zerweck letztlich selbst, wenn diese Einschränkung de facto wieder aufgehoben wird, so etwa in der Feststellung, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zahl der unreliable narrators praktisch endlos sei (Zerweck 2001, 162). Schlussendlich scheint sich der Erzähler demnach doch schon dadurch zu verraten, dass er in seinen Ausführungen eine subjektive Weltwahrnehmung zu erkennen gibt, ganz unabhängig davon, ob er dies beabsichtigt oder unbeabsichtigt tut. Was aber verbirgt sich eigentlich hinter den metaphorisierenden Redeweisen einer heimlichen Verständigung hinter dem Rücken des Erzählers, einer zweiten Erzählung hinter der Erzählung, einer unfreiwilligen Selbstentlarvung des Erzählers oder eben seiner „unintentional self-incrimination“? Es sind offenbar drei Faktoren, die hier zusammenwirken: 1. die in welcher Weise auch immer eingeschränkte Perspektive des Erzählers; 2. der Versuch dieses Erzählers, seine Perspektive als allgemeingültige Norm zu etablieren und 3. die Zurückweisung dieser Norm durch den Leser, der die Perspektive des Erzählers aufgrund textinterner oder textexterner Faktoren als inadäquat konkretisiert. Entscheidend ist hier also, dass es dem Erzähler nicht gelingt, seine Kommunikationsabsicht umzusetzen. Genau in diesem Sinne entlarven sich die ErzählerProtagonisten in The Tell-Tale Heart und in The Grotesque, aber beispielsweise auch der Pfandleiher in Dostoevskijs Krotkaja oder Pozdnyšev in Lev Tolstojs Krejcerova sonata selbst. Bei Huck und Holden ist dies hingegen nicht der Fall. Bei Stevens ist die Situation in der Tat komplizierter, da er sich des Scheiterns seiner ursprünglichen Kommunikationsabsicht zumindest partiell bewusst ist. Einmal mehr zeigt sich an Zerwecks Position also, dass die Kategorie der unreliability lediglich dazu geeignet ist, die Komplexität bestimmter narratologischer Sachverhalte zu verdecken. 164 In vergleichbarer Weise argumentiert Alice Jedličková (2008, 300) in Bezug auf Erzähler mit kognitiven Einschränkungen: „But I do not see any reason in classifying this phenomenon as unreliable narration: it might be easily referred to as a particular narrative perspective, resulting from a particular cognitive horizon of the narrating character.“

Zur Theorie von unreliable narration

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Wissenschaft ist es deshalb höchste Zeit, die Kategorie der unreliability aufzugeben.

3.3 Das Problem des Maßstabs Angesichts der vorausgehenden Überlegungen könnte dieses Teilkapitel aus zwei Gründen überflüssig erscheinen, denn wenn unter unreliability ganz Verschiedenes verstanden werden kann, dann kann die logische Schlussfolgerung nur lauten, dass zu deren Beurteilung auch ganz unterschiedliche Maßstäbe herangezogen werden müssen.165 Geht man aber noch einen Schritt weiter und stellt, wie im vorangehenden Teilkapitel geschehen, die Plausibilität dieser Kategorie wegen ihrer mangelnden Spezifik insgesamt in Abrede, dann erübrigt sich auch die Frage nach dem Maßstab. Da die entsprechende Diskussion jedoch von einer ganz grundsätzlichen Bedeutung für die derzeitige Entwicklung der Narratologie im Besonderen sowie der Literaturwissenschaft im Allgemeinen ist und somit weit über die unreliability-Problematik hinausreicht, soll an dieser Stelle zumindest kurz auf sie eingegangen werden. Bei Booth fungiert als Maßstab für die (un-)reliability eines Erzählers der implied author. Booth versteht darunter die oberste Sinn- und Werteinstanz eines literarischen Textes, die für jedes Detail seiner Gestaltung und damit natürlich auch für die Wahl eines bestimmten Erzählertyps verantwortlich ist: The “implied author” chooses, consciously or unconsciously, what we read; we infer him as an ideal, literary, created version of the real man; he is the sum of his own choices. (Booth 1961, 74f.)

Bereits aus diesem kurzen Zitat wird ersichtlich, dass Booth den implied author rein intentionalistisch konzipiert („the sum of his own choices“). Es handelt sich bei ihm um die in den Text eingegangene Autorintention, die es im Zuge des Lektüreprozesses zu erschließen gelte, um zu einem adäquaten Textverständnis zu gelangen. Auch wenn Booth grundsätzlich eine Differenz zwischen dem konkreten und dem impliziten Autor postuliert, geht er doch für den Zeitpunkt der Abfassung eines Textes von deren Identität aus, so dass er etwa auch von einem „implied Shakespeare“ sprechen kann (Booth 1961, 76). Besonders deutlich wird diese Gleichsetzung immer dann, wenn Booth bei der Analyse ein-

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165 Hierin ist eine der Ursachen dafür zu sehen, warum einzelne Erzähler von bestimmten Forschern als reliable eingeschätzt werden, von anderen hingegen als unreliable: Zu prüfen wäre in solchen Fällen zunächst jeweils, ob aus dem Pool heterogener Merkmale für die Bestimmung der (un-)reliability eines Erzählers in beiden Fällen überhaupt dasselbe herangezogen wurde.

Das Problem des Maßstabs

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zelner Werke direkt auf den konkreten Autor rekurriert und letztlich diesen selbst zum Maßstab der in den jeweiligen Texten zum Ausdruck kommenden Wertvorstellungen macht. Booth spricht dann nicht mehr von einem „implied Swift“, einem „implied Joyce“ oder einem „implied Bellows“, sondern schlicht von Swift, Joyce und Bellows.166 Bezeichnenderweise ist dann auch wieder vom Autor selbst die Rede, wie etwa in Bezug auf A Portrait of the Artist as a Young Man von Joyce: „the relationship of the ironic narrator to the author’s norms is an extremely complex one, and the norms are themselves subtle and private;“ (Booth 1961, 324). Dass damit nun in der Tat die Normen des konkreten Autors gemeint sind, erhellt aus folgendem Zitat: „Whatever intelligence Joyce postulates in his readers – let us assume the unlikely case of its being comparable to his own – will not be sufficient for precise inference of a pattern of judgements which is, after all, private to Joyce.“ (Booth 1961, 335) Aufgrund der mangelnden Allgemeingültigkeit der in diesem Roman vermittelten Wertvorstellungen fällt Booth (1961, 335) dann sogar ein negatives Werturteil über ihn: „We simply cannot avoid the conclusion that to some extent the book itself is at fault, regardless of its great virtues.“ Es kann deshalb im Grunde nicht überraschen, wenn ein Fazit von The Rhetoric of Fiction folgendermaßen lautet „And yet, difficult as it is to argue, and with the complications carefully noted, one must say that an author has an obligation to be as clear about his moral position as he possibly can be.“ (Booth 1961, 389) Ungeachtet der höchst fragwürdigen Vermischung von ästhetischen und moralischen Kriterien, die in dieser Argumentation zum Ausdruck kommt, ist diese Konzeption des implied author in verschiedener Hinsicht problematisch. Eine Lösung des komplexen Problems von textexternem und textinternem Bereich erfolgt nämlich nur scheinbar, da sie rein auf der Ebene des Begrifflichen verbleibt. An die Stelle einer theoretischen Ausarbeitung des implied author tritt im Umgang mit den einzelnen Texten umstandslos wieder der konkrete Autor, weshalb Ansgar Nünning (1998c, 15) durchaus zuzustimmen ist, wenn er hier von einem anthropomorphisierenden Konzept spricht, das zur Klärung des eigentlichen Problems nichts beitragen kann. Die fehlende theoretische Ausarbeitung ihrerseits bedingt, dass letztlich unklar bleibt, wie die Erschließung der Normen und Werte des implied author eigentlich vonstatten geht, worauf Nünning an gleicher Stelle ebenfalls bereits hingewie-

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166 Vgl. hierzu insbesondere die Kapitel 11 und 12 in The Rhetoric of Fiction (Booth 1961, 311– 374).

Zur Theorie von unreliable narration

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sen hat. Nünning (1998c, 15) schlägt deshalb vor, auf das Konzept des impliziten Autors gänzlich zu verzichten.167 Demzufolge bedarf es für die Zuweisung der (un-)reliability eines anderen Maßstabs, den Nünning zunächst direkt aus seiner Kritik an Booth ableitet: Verzichtet man auf den implied author, dann ist die etablierte Explikation des unreliable narrator somit in einer Weise zu modifizieren, die in Booths (1961: 74) Definition des implied author als „the core of norms and choices“ bereits vorgezeichnet ist: Als unreliable narrators sind solche Erzählinstanzen zu bezeichnen, deren Perspektive im Widerspruch zum Werte- und Normensystem des Gesamttextes steht. In jedem Fall muss der Rezipient zwar die semantische Gesamtstruktur des Textes hinzuziehen, um eine Erzählinstanz als unzuverlässig erkennen zu können, eines implied author bedarf es dafür jedoch nicht, weil das Werkganze, und nicht eine anthropomorphisierte Senderinstanz, als relevante 168 Bezugsgröße dient. (A. Nünning 1998c, 17f.)

Nünnings Definition wirft allerdings mehr Fragen auf, als sie zu lösen imstande ist. Zwar wird durch sie die Kategorie des implied author eliminiert, doch bleibt das Problem weitgehend identisch, da Nünning es versäumt zu erläutern, was unter dem „Werte- und Normensystem des Gesamttextes“ zu verstehen ist. Gleiches gilt für die ebenfalls verwendeten Umschreibungen wie die „semantische Gesamtstruktur des Textes“ oder das „Werkganze“. Ebenso wie bei Booth fehlt auch bei Nünning die Angabe von Auffindungsprozeduren für dieses Werte- und Normensystem bzw. diese semantische Gesamtstruktur, wobei beide Redeweisen, wiederum wie bei Booth, einen textinternen Maßstab für die (un-)reliability implizieren. Umso überraschender mutet deshalb Nünnings Vorschlag für eine Neukonzeptualisierung dieser Kategorie an: Deren Ausgangspunkt bildet die Einsicht, daß es sich bei unreliable narration nicht um ein rein textimmanentes – sei es strukturelles oder semantisches – Phänomen handelt, sondern um ein relationales bzw. interaktionales, bei dem die Informationen und Strukturen des Textes und das vom Rezipienten an den Text herangetragene Weltwissen und Werte- und Normensystem gleichermaßen zu berücksichtigen sind. (A. Nünning 1998c, 23)

Schließlich kommt Nünning dann sogar ganz ohne die semantische Gesamtstruktur des Textes bzw. das Werte- und Normensystem des Gesamttextes aus, wie die folgende Formulierung belegt: Ob ein Erzähler als unglaubwürdig eingestuft wird oder nicht, hängt somit nicht von der Distanz zwischen seinen Werten und Normen und denen des implied author ab, sondern davon, inwiefern die Weltsicht des Erzählers mit dem

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167 Ganz grundsätzlich dazu vgl. A. Nünning (1997). 168 Dieses Zitat verdeutlicht einmal mehr, dass die Frage nach der Perspektive eines Erzählers und das Problem seiner (un-)reliability zumeist als identisch angesehen werden.

Das Problem des Maßstabs

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Wirklichkeitsmodell des Rezipienten zu vereinbaren ist. (A. Nünning 1998c, 25)

In Nünnings Argumentation findet also eine Verschiebung des Maßstabs für die (un-)reliability eines Erzählers vom textinternen zum textexternen Bereich statt, die seine Position in zweierlei Hinsicht problematisch erscheinen lässt. Zum einen gehorcht sie nicht dem Postulat der Widerspruchsfreiheit, das für jede Wissenschaft grundlegend ist. Zum anderen mutiert durch diese Verschiebung die (un-)reliability von einem typologischen Merkmal zu einer Rezeptionskategorie, wenn letztlich „das Phänomen des unreliable narrator als eine Interpretationsstrategie des Rezipienten“ konzeptualisiert wird, „der auf diese Weise textuelle Widersprüche oder Inkonsistenzen zwischen Textwelt und seinem Wirklichkeitsmodell auflöst.“ (A. Nünning 1998c, 26)169 Diese Mutation ist durchaus intendiert, geht es der als kognitiv bezeichneten Narratologie doch nicht in erster Linie um eine präzise Textbeschreibung, die freilich noch immer die Grundlage einer jeden professionellen Beschäftigung mit Literatur sein muss, die sich mit Fug und Recht als wissenschaftlich bezeichnen will, sondern um die bei der Literaturproduktion und -rezeption wirksamen Kontexte. Programmatisch hat diese Position beispielsweise Bruno Zerweck (2002, 223f.) formuliert, wenn er das Hauptanliegen dieser Richtung charakterisiert als „die Ergründung von Mechanismen der Interpretation und von Naturalisierungsstrategien, auf die Leserinnen zur kognitiven Verarbeitung textueller Phänomene zurückgreifen.“ Auf diese Weise reiht sich dann die kognitive Narratologie auch ein in das breite Feld der so genannten Kulturwissenschaften:170

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169 Nünning beruft sich hierbei in erster Linie auf Tamar Yacobi, die fünf Prinzipien unterscheidet, die es dem Leser erlauben, Diskrepanzen zwischen der Textwelt und der eigenen Lebenswelt plausibel aufzulösen, nämlich das genetische, das generische, das existentielle, das funktionale und das perspektivische. Die unreliability falle unter das letztgenannte Prinzip, da es sich um jene Technik handle „whose perspectival basis enables us to define it as an inference that explains and eliminates tensions, incongruities, contradictions and other infelicities the work may show by attributing them to a source of transmission.“ (Yacobi 1981, 119) (Un-)reliability sei demnach keine Eigenschaft des Erzählers, sondern, wie Yacobi (2001, 224) an anderer Stelle formuliert, „an interpretative, hypothetical move“. Auf diese Weise rückt die Entscheidung des Lesers für eines der genannten Prinzipien in den Mittelpunkt des Interesses. In einem weiteren Aufsatz expliziert Yacobi (2005) ihren Ansatz am Beispiel der unterschiedlichen Lesarten von Tolstojs Erzählung Krejcerova sonata, die sich in erster Linie aus dem umstrittenen Verhältnis des konkreten Autors zu seinem Erzähler-Protagonisten Pozdnyšev ergeben. 170 Von so genannten Kulturwissenschaften ist hier deshalb die Rede, weil es sich bei der Literaturwissenschaft per se um eine Kulturwissenschaft handelt, allein schon deshalb, weil sie sich mit einer spezifischen kulturellen Praxis beschäftigt. Bei dem, was derzeit gerne unter dem Begriff der Kulturwissenschaft subsumiert wird, handelt es sich vielmehr um motiv- und themenspezifische Ansätze, deren Relevanz sich im Sinne eines Erkennt-

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Aus heutiger Perspektive erscheint die kognitive Narratologie als Vorläuferin einer kulturwissenschaftlichen Narratologie, die die historischen und kulturellen Bedingungen von narrativen Phänomenen und kognitiven frames erforscht und so auch der kulturellen und sozialen Bedeutung narrativer Texte gerecht wird. (Zerweck 2002, 239)

Sieht man einmal davon ab, dass diese Formulierung impliziert, alle bisherigen Forschungsansätze hätten die kulturellen und historischen Kontexte ignoriert und seien der kulturellen und sozialen Bedeutung narrativer Texte deshalb grundsätzlich nicht gerecht geworden, muss sich die Plausibilität derartiger Behauptungen zunächst einmal in der Praxis erweisen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, soll abschließend an einem Aufsatz exemplarisch untersucht werden, der in diesem Zusammenhang immer wieder als mustergültiges Beispiel angeführt wird, so auch von Zerweck (2002, 237). In ihm geht Vera Nünning der Frage nach der (un-)reliability des figuralen Erzählers Dr. Primrose in Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakefield aus dem Jahr 1766 nach. Eine Antwort auf diese Frage sucht sie in der Rezeptionsgeschichte des Textes, innerhalb derer sich unter dem Aspekt der Bewertung von Primroses (un-)reliability drei verschiedene Phasen unterscheiden ließen, wie V. Nünning anhand der Auswertung entsprechender Rezeptionsdokumente zeigt. In der ersten Phase, die vom Erscheinen des Vicar of Wakefield bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reiche, werde Goldsmiths Roman als typisch empfindsamer Text wahrgenommen, wobei Primrose die für diese literarische Strömung charakteristischen Werte verkörpere und dementsprechend als höchst glaubwürdig konkretisiert werde. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts habe sich die Einschätzung des Erzähler-Protagonisten allerdings massiv verändert. Nun dominiere die folgende Bewertung: Ein Charakter wie Primrose könne fast niemandem gefallen; er sei ein Heuchler, ein fehlgeleiteter Prinzipienreiter, ein selbstgefälliger und eingebildeter Tölpel, der von kaum jemandem ernst genommen werden könne. Primrose sei ein typischer unreliable narrator, den Goldsmith ganz offensichtlich als Opfer auktorialer Ironie konzipiert habe. (V. Nünning 1998, 269)

In den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts seien dann in erster Linie gegensätzliche und ambivalente Urteile über Primrose an-

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niszugewinns anhand des jeweiligen Gegenstandes allererst erweisen muss. Unabhängig davon, ob dies gelingt oder nicht, bleibt somit festzuhalten, dass der schlichten Juxtaposition von Literatur- und Kulturwissenschaft grundsätzlich eine Verwechslung der Ebenen zugrunde liegt: Entweder ist die Literaturwissenschaft als Beschäftigung mit einer spezifischen kulturellen Praxis Teil einer übergeordneten Kulturwissenschaft oder die Literaturwissenschaft ist der Oberbegriff für die kulturwissenschaftlichen und die anderen methodischen Ansätze (etwa der Positivismus, die Geistesgeschichte, der Formalismus, der Strukturalismus, die Rezeptionsästhetik, die empirische Literaturwissenschaft etc.), die miteinander im Sinne der Gegenstandsadäquatheit rivalisieren.

Das Problem des Maßstabs

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zutreffen. Als Grund für die divergente Beurteilung führt V. Nünning einen Wandel kultureller Wertesysteme und des Menschenbildes insgesamt an, der sich eben auch in der Konkretisation von Primrose niederschlage. Deshalb gelangt sie zu folgendem Schluss: Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang nicht, ob die eine oder andere Deutung eine „Fehlinterpretation“ darstellt. Vielmehr sollten die Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte des Romans und die Analyse der unterschiedlichen Lesarten zeigen, daß die Beurteilung von unreliable narration abhängig ist von dem jeweiligen Werte- und Normensystem und daß dieser außertextuelle Maßstab zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Erzählers historischen Wandlungen unterliegt. (V. Nünning 1998, 278)

Dass die Wahrnehmung eines literarischen Textes historisch bedingt ist, ist freilich eine Binsenweisheit, die spätestens seit Roman Ingarden und seiner Unterscheidung zwischen dem Textschema und dessen Konkretisation einerseits und Jan Mukařovský mit seiner Differenzierung von Artefakt und ästhetischem Objekt andererseits hinlänglich bekannt ist.171 Im Anschluss daran wurde von der Rezeptionsästhetik diese Interdependenz von Text und sich historisch wandelndem Kontext mithilfe des Konzepts des Erwartungshorizonts bereits vor geraumer Zeit auch theoretisch erfasst.172 Die an der Kommunikationstheorie orientierte Literaturwissenschaft, wie sie Siegfried J. Schmidt maßgeblich mitgeprägt hat, der seinerseits zwischen dem Textformular und dem Text-in-Funktion unterscheidet und dabei gerade die Prässuppositionen des Lesers mit ins Kalkül zieht, hat sich um die Berücksichtigung kontextueller Faktoren bei der Sinnkonstitution in literarischen Texten ebenfalls verdient gemacht.173 Das eigentliche Problem ist deshalb nicht eine ahistorische Auffassung des Konzepts der unreliability, gegen die V. Nünning (1998, 262) argumentiert, sondern die Dysfunktionalität des Konzeptes selbst. Schließlich hat es überhaupt keinen Sinn, eine unzureichend definierte und, wie die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben sollten, auch undefinierbare Kategorie auf den Text zu projizieren, wie V. Nünning dies tut. Vielmehr muss es zunächst darum gehen, eine möglichst präzise Beschreibung des Textformulars zu geben, ohne dabei die Möglichkeit unterschiedlicher Konkretisationen und deren Ursachen aus dem Blick zu verlieren. In diesem Sinne ist Primrose dann weder reliable noch unreliable, sondern schlicht naiv. Dieser Umstand wird vom Text unzweifelhaft vermittelt, zum einen implizit dadurch, dass sich der Er-

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171 Vgl. dazu Ingarden (1972, 354–380) und Mukařovský (1970, 105–108). 172 Vgl. dazu Jauß (1970, 173–189). Einen Überblick über verschiedene Versuche, das Verhältnis von Text und Leser intersubjektiv zu bestimmen gibt Warning (1994). 173 Ganz allgemein dazu vgl. Schmidt (1976a) und unter dem Aspekt der konkreten Anwendung Schmidt (1976b).

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Zur Theorie von unreliable narration

zähler-Protagonist immer wieder von anderen Figuren hinters Licht führen lässt, und zum anderen explizit, wenn ihm der Gauner Jenkinson, der ihn zuvor beim Verkauf eines Pferdes selbst übers Ohr gehauen hat, bescheidet: „‘Sir,’ answered he, ‘you are little acquainted with the world;’“ (Goldsmith 1928, 172). Die Naivität von Primrose steht somit außer Frage. Die Bewertung dieser Naivität unterlag nun aber in der Tat einem historischen Wandel: Galt sie im Sentimentalismus im Sinne von Natürlichkeit, Unverstelltheit und Unverdorbenheit als uneingeschränkt positiv, so wirkt sie nach der Einsicht, dass für die Gesellschaft als ganze eine Rückkehr zu einem natürlichen Zustand nicht mehr möglich ist, in zunehmendem Maße weltfremd. Um diesen historischen Wandel festzustellen, bedarf es freilich weder der Kategorie der (un-)reliability noch einer kognitiven Narratologie, der es nicht mehr länger um die Erarbeitung intersubjektiv nachvollziehbarer Analysekriterien zu tun ist, sondern um die textexternen Faktoren, die bei der Konkretisation literarischer Texte wirksam sind. Die Konsequenz eines solchen Ansatzes ist mithin eine Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die subjektiven Konkretisationsbedingungen, die im folgenden Zitat paradigmatisch zum Ausdruck kommt: Im Prozeß der naturalization eines Erzähltext [sic!] und bei einer Interpretation desselben als reliable oder unreliable werden diese Parameter [was als verrückt zu gelten hat oder nicht; A.O.] daher von jedem Leser individuell festgelegt, wobei das Ziel der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit nur durch Offenlegung der Kriterien des Rezipienten erreicht werden kann. (Allrath 1998, 78)

Die oben konstatierte Etablierung der (un-)reliability als Rezeptionskategorie führt demnach dazu, dass Prozesse der Kulturation und Sozialisation in den Fokus des Interesses rücken, wie ja auch aus dem Zitat von Zerweck (vgl. oben, S. 214) hervorgeht. Das hat zwar nicht mehr viel mit Literaturwissenschaft zu tun, entspricht aber in der Tat der allgemeinen Tendenz der so genannten Kulturwissenschaften. Zielen diese, zumeist unter dem Banner der political correctness, auf den Entstehungskontext eines literarischen Textes ab, weshalb sie auch mit Recht als neopositivistisch bezeichnet werden können, so rückt die kognitive Literaturwissenschaft parallel dazu den konkreten Leser in den Fokus der Aufmerksamkeit. Auf die tiefere Ursache für diese Interessensverlagerung vom Text zum Kontext hat bereits Alan Liu im Zusammenhang mit dem New Historicism hingewiesen: „Wie alle Autoren, Wissenschaftler und andere Intellektuelle“, so hört man den Interpreten sagen, „möchte ich mich mit allgemeiner Kultur und Geschichte beschäftigen. Aber ich möchte auch Literatur untersuchen. Deshalb habe ich keinen Einfluss.“ So macht die Nostalgie für Geschichte den Sinn für Literatur verlegen; der Sinn für Literatur macht den Historismus verlegen; und am Schnittpunkt dieser chiastisch fließenden Gekränktheit bilden sich das Subjekt

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und die Handlung, die einzig noch möglich sind: der Wissenschaftler (und der historische Autor, der für ihn als die Urform des Intellekts fungiert), der über 174 Subversion nachdenkt. (Liu 1995, 126)

Die Fokussierung auf Prozesse der Kulturation und Sozialisation ist demnach der Versuch, an Legitimation zu gewinnen, da man nicht mehr in erster Linie über einen in weiten Teilen der Gesellschaft offenbar als randständig empfundenen Gegenstand spricht, sondern anhand dieses Gegenstands über die Kultur als solche, was auch immer darunter jeweils verstanden werden mag. Dieser Versuch ist freilich von Beginn an zum Scheitern verurteilt, da man in Konkurrenz tritt zu einer Vielzahl von anderen Disziplinen, die sich ebenfalls die Erforschung dieser Kultur zur Aufgabe gemacht haben und die dabei nicht erst dem Umweg über fiktionale Texte gehen müssen.175 Die ureigensten Aufgaben der Literaturwissenschaft hingegen, nämlich die Definition der Spezifik des Gegenstandes und das Ringen um angemessene Beschreibungskonzepte für diesen spezifischen Gegenstand und seine historische Entwicklung in Relation zu den verschiedensten Kontexten geraten dabei aus dem Blick.176 Für die Neukonzeptualisierung der (un-)reliability im Rahmen der kognitiven Literaturwissenschaft gilt deshalb im Prinzip genau das, was Wolf Schmid ganz generell für die jüngsten unter kulturwissen-

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174 Diese Problematik ist freilich keineswegs neu, weshalb sie einer Feststellung Roman Jakobsons aus dem Jahr 1921 zu einer ungewollten Aktualität verhilft. Jakobsons Zustandsbeschreibung des damaligen wissenschaftlichen Umgangs mit der Literatur in seinem Aufsatz O chudožestvennom realizme (Über den künstlerischen Realismus; in der deutschen Übersetzung als „Über den Realismus in der Kunst“) liest sich geradezu wie ein Kommentar zu den so genannten Kulturwissenschaften: „Bojko perebegala ot temy k teme, ot liričeskich slovoizlijanij ob isjaščestve formy k anekdotam iz žizni chudožnika, ot psichologičeskich trjuizmov k voprosu o filosofskom soderžanii i social’noj srede. Govorit’ o žizni, ob ėpoche na osnovanii literaturnych proizvedenij – takaja blagodarnaja i legkaja zadača: kopirovat’ s gipsa prošče i legče, neželi zarisovyvat’ živoe telo. Causerie [im Original lateinisch] ne znaet točnoj terminologii. Naprotiv, raznoobrazie naimenovanij, ėkvivokacija, dajuščaja povod k kalamburam, – vse ėto často pridaet bol’šuju prelest’ razgovoru.“ (Jakobson 1981, 723) [„Gewandt sprang sie von Thema zu Thema, von lyrischen Wortergüssen über die Schönheit der Form zu Anekdoten aus dem Leben des Künstlers, von psychologischen Binsenweisheiten zur Frage nach dem philosophischen Gehalt und dem sozialen Milieu. Über Leben und Epoche aufgrund literarischer Werke zu reden, ist eine so dankbare und leichte Aufgabe; nach einer Skulptur zu kopieren, ist dankbarer und leichter als einen lebenden Körper zu zeichnen. Die causerie kennt keine exakte Terminologie. Im Gegenteil, die Verschiedenartigkeit der Benennungen, die Aequivocatio, die Möglichkeiten zu calembours bietet, all das verleiht dem Gespräch oft große Anmut.“ (Jakobson 1994, 373)]. 175 In vergleichbarer Weise argumentiert auch Ina Schabert (1999, 336) angesichts der in der kulturwissenschaftlichen Genderforschung häufig anzutreffenden Nivellierung der Differenz zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten. 176 Zur Kritik an den so genannten Kulturwissenschaften allgemein vgl. Ohme (2010, insbesondere 289–295).

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schaftlichen Vorzeichen operierenden Richtungen der Narratologie festgestellt hat: Seit den 1990er Jahren tendiert die Narratologie zu einer Ausdifferenzierung in die sogenannten New oder Hyphenated Narratologies wie zum Beispiel die feministische Narratologie, die Lesbian and Queer Narratology, die postkoloniale, postmodernistische oder poststrukturalistische Narratologie und viele andere. Es handelt sich hierbei jedoch nicht eigentlich um neue Kategoriensysteme oder gar um neue systematische Konzepte, sondern lediglich um Anwendungen der Narratologie auf unterschiedliche thematische Gebiete. Spezifisch für die Narratologie im Plural ist ein ideologiekritischer und manchmal auch ideologischer, auf jeden Fall ein thematischer und nicht strukturbezogener Zugang. Die für die klassische Narratologie charakteristische Analytik wird ersetzt durch eine eher ethische Fragestellung und den Kampf mit traditionellen Wertungspositionen. (Schmid 2008b, 35)

Ob auf diese Weise die Literaturwissenschaft vorangebracht werden kann, erscheint allerdings mehr als zweifelhaft.

3.4 Die semantische Markierung Da also auch die Kategorie der (un-)reliability nicht als plausibles Merkmal im Rahmen einer Erzählertypologie fungieren kann, gilt es in diesem abschließenden Teilkapitel auf der Basis der vorausgegangenen Überlegungen die Kategorie der semantischen Markierung zu definieren und für eine solche Typologie fruchtbar zu machen. Dabei hat die vorangegangene Diskussion der Konzepte skaz und unreliable narration gezeigt, dass es v. a. um eine Eingrenzung und damit Spezifizierung des solchermaßen benannten Phänomens gehen muss, soll dieser Definitionsversuch nicht in Beliebigkeit und damit auch in Dysfunktionalität enden. Die in 3.3 besprochenen Texte sowie die sich daran anschließende Diskussion der Kategorie der unreliability hat verdeutlicht, dass es unter dem Aspekt der Semantik des Erzählers um zweierlei geht, nämlich 1. um die vergebenen Informationen als solche und damit 2. implizit auch um die Informationsvergabe durch die vermittelnde Instanz.177 Es stellt

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177 Der Begriff der Semantik wird hier also nicht im linguistischen Sinne als Lehre von der Bedeutung verwendet, auch wenn bestimmte Aspekte der Bedeutungsgenese wie etwa die daran beteiligten Präsuppositionen der Kommunikationsteilnehmer oder die Frage der Kohärenz im Folgenden eine nicht unerhebliche Rolle spielen werden. Zur Definition der Semantik als linguistischer Teildisziplin vgl. Löbner (2003, 1f.). Ebenso wenig betrifft er die Kategorie der Fiktionalität als grundsätzlichen semantischen Status der Literatur. Die Fiktionalität ist nämlich nicht anhand einer Markierung im Text selbst zu greifen, sondern resultiert aus einer durch Konventionen geregelten Zuweisung durch die Leserschaft.

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sich mithin die Frage, welche Normen hierfür jeweils sinnvoll angesetzt werden können. Da es sich beim Erzählen nicht um ein spezifisch literarisches Phänomen handelt, ist es für die Beantwortung dieser Frage hilfreich, auf den Akt des Erzählens als allgemeine sprachliche Tätigkeit zu rekurrieren. Unter Erzählen versteht man gemeinhin die Information eines Kommunikationsteilnehmers über vergangenes Geschehen in monologischer Form, wobei zunächst völlig unerheblich ist, ob der Erzählende dieses vergangene Geschehen selbst erlebt oder nur von einem Dritten gehört hat. Diese Sprachhandlung kann dann als geglückt betrachtet werden, wenn der Kommunikationspartner über dieses vergangene Geschehen vollständig und korrekt informiert worden ist.178 Die Kategorien der Vollständigkeit und der Korrektheit fungieren dementsprechend als unmarkierte Norm, während die Abweichung von dieser Norm hier als semantische Markierung einzuführen ist.179 Auch wenn das Erzählen als sprachliche Tätigkeit durch die Informationsvergabe über vergangenes Geschehen ganz wesentlich konstituiert wird, beschränkt sich der Erzählvorgang in der Regel doch nicht auf die bloße Berichterstattung. Wie die Diskussion von Doležels Erzählertypologie gezeigt hat, wird diese gegenstandsbezogene Informationsvergabe vielmehr in der Regel von Kommentaren und Bewertungen des

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178 In vergleichbarer Weise argumentiert bereits Theresa Heyd (2006, 224) unter Bezugnahme auf das Kooperationsprinzip von Paul H. Grice mit seinen Maximen der quantity und der quality. Das nun vorzustellende Konzept der semantischen Markierung stimmt in vielerlei Hinsicht mit Heyds pragmatischem Ansatz überein. Dessen Vorzug besteht darin, dass er auf einer linguistischen Basis operiert und damit das zu konzeptualisierende Phänomen sprachlich exakt zu beschreiben vermag. Allerdings greift Heyds Ansatz in dreierlei Hinsicht zu kurz: 1. Sie expliziert ihn ausschließlich anhand von figuralen Erzählern. 2. Zwar gibt sie, wie das folgende Zitat belegt, relevante Kriterien für die Zuweisung von unreliability an: „The procedure for detecting and pinpointing UN is therefore conceivably simple: one needs to identify utterances that are either manifestly false, or which explicitly correct, clarify or contradict utterances made earlier in the discourse, or else which belatedly convey information that would have been salient at an earlier stage in the narration.“ (Heyd 2006, 226) In Bezug auf Poes Erzählung The Tell-Tale Heart spricht sie dann aber von einem „irrational discourse“ (Heyd 2006, 233), ohne zu explizieren, was unter „irrational“ zu verstehen ist. 3. Indem sie am Begriff von unreliable narration festhält, wird bei ihr die terminologische Problematik verdeckt. 179 In eine ähnliche Richtung zielen bei Phelan/Martin (1999, 95) die letzten beiden Subkategorien ihrer Ausdifferenzierung des unreliability-Konzepts, nämlich underreporting und misreporting. Leider versäumen die beiden Autoren es jedoch, klare Kriterien für diese Kategorien zu benennen, so dass sie letztlich nicht operationalisierbar sind. Dasselbe gilt für die Definition der mimetischen unreliability (im Gegensatz zur axiologischen) bei Köppe/Kindt (2011, 90). Nach ihr liegt unreliability dann vor, wenn beim Leser der Eindruck entsteht, dass die Sachverhalte „not completely accurate“ dargestellt seien. Wodurch dieser Eindruck entsteht, bleibt freilich ungesagt, so dass mithin kein Maßstab für die unreliabilty angegeben wird. Der Hinweis auf die Notwendigkeit einer „complex interpretation“ (Köppe/Kindt 2011, 89) reicht in diesem Zusammenhang zweifellos nicht aus.

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Erzählers begleitet. Wenn das Erzählte also einerseits in der überwiegenden Zahl der Fälle in einer bestimmten Weise perspektiviert wird,180 so liegt es andererseits doch auf der Hand, dass in der Praxis des Erzählens Quantität und Qualität der entsprechenden Kommentare einer beträchtlichen Schwankungsbreite unterliegen. Somit ist zu fragen, wie für diese Schicht der Erzählerrede eine plausible Norm aussehen könnte.181 Im Hinblick auf die Quantität ist festzustellen, dass es eine derartige Norm nicht geben kann, da es ausschließlich im Ermessen des Erzählers liegt, wie sehr er seinen Bericht mit eigenen Stellungnahmen anreichert. Dabei gilt jedoch der Grundsatz: Je weniger es sind, desto stärker ist der Fokus auf das vergangene Geschehen selbst gerichtet. Umgekehrt rückt der Erzähler mit der Zunahme seiner Stellungnahmen auch verstärkt sein eigenes Weltbild in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Einschätzung dieses Weltbilds durch den Rezipienten hängt nun ihrerseits maßgeblich von der Qualität der Kommentare und Urteile des Erzählers ab. Da es sich hierbei um Meinungsäußerungen handelt und diese Meinungsäußerungen zwangsläufig mehr oder minder subjektiv sind, scheint auch das Kriterium der Korrektheit in diesem Falle nicht zu greifen. Für solche Meinungsäußerungen erscheint vielmehr das Kriterium der Plausibilität angemessen zu sein. Ob allerdings ein relatives Kriterium wie das der Plausibilität zu einer Grundkategorie einer Erzählertypologie gemacht werden sollte, wird weiter unten noch zu diskutieren sein. Bevor diese Kriterien nun im Einzelnen besprochen und damit als Norm für die semantische Markierung des Erzählers endgültig etabliert werden, gilt es zunächst ganz generell auf zweierlei hinzuweisen: 1. Die fehlende Vollständigkeit und mangelnde Korrektheit reichen jeweils für sich bereits hin, um von einer semantischen Markierung zu sprechen, weil in beiden Fällen ein notwendiges Kriterium für das Gelingen des Erzählens als sprachlicher Handlung nicht erfüllt ist. 2. Da die Kategorien der Vollständigkeit und der Korrektheit für das Erzählen allgemein verbindlich sind, gelten sie für den nichtfiguralen Erzähler ebenso wie für den figuralen. Weil sich aber ihre Wirkung unter den spezifischen Bedingungen beider Grundtypen deutlich voneinander unterscheidet, müssen sie jeweils gesondert auf ihre Funktion hin befragt werden.

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180 Schmid (2008a, 132) bezeichnet diesen Aspekt der Erzählerperspektive als „ideologisch“ und definiert ihn folgendermaßen: „Die ideologische Perspektive umfasst verschiedene Faktoren, die das subjektive Verhältnis des Beobachters zu einer Erscheinung bestimmen: das Wissen, die Denkweise, die Wertungshaltung, den geistigen Horizont.“ 181 Nicht zuletzt um diese Frage drehen sich ja auch die meisten Beiträge zu skaz und unreliable narration.

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3.4.1 Das Kriterium der Vollständigkeit der Information Um Missverständnissen vorzubeugen, sei zunächst betont, dass die Unvollständigkeit der Erzählerrede in einem literarischen Text, anders als in der nichtliterarischen Kommunikation, keineswegs als Defizit zu gelten hat. Während sich hier der Kommunikationspartner im Falle der Unvollständigkeit zu Recht unzureichend informiert fühlen kann und wird, handelt es sich in der Literatur um einen genau kalkulierten ästhetischen Effekt. Die Unvollständigkeit der Erzählerrede gehört somit zur Textintention und ist in diesem Sinne Bestandteil eines vollständigen Textes, in welchem auf spezifische Weise der Vermittlungsvorgang und damit zwangsläufig auch die vermittelnde Instanz in den Blickpunkt gerückt wird.182 Anders als bei der stilistischen Markierung, bei der die Norm anhand des kodifizierten sprachlichen Standards positiv bestimmt werden kann, ist dies im Hinblick auf die Vollständigkeit der vergebenen Information nicht möglich. Es gibt, mit anderen Worten, kein spezifisches Kriterium für die Vollständigkeit einer Erzählung, die sich deshalb nur ex negativo bestimmen lässt. Vollständigkeit ist demzufolge immer dann gegeben, wenn im Text selbst nicht das Gegenteil indiziert wird. Um das Kriterium der Vollständigkeit unter dem Gesichtspunkt der semantischen Markierung eines Erzählers operationalisierbar zu machen, müssen deshalb im Folgenden die Indikatoren für Unvollständigkeit bestimmt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese Indikatoren expliziter oder impliziter Natur sein können. Der einzige implizite Indikator für die Unvollständigkeit der Erzählerrede ist deren Absenz im Text.183 Da umgekehrt jedoch nicht jede

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182 Auch wenn dies aus dem Gang der Argumentation hinlänglich deutlich geworden sein sollte, so sei an dieser Stelle noch einmal explizit darauf hingewiesen, dass sich das Kriterium der Vollständigkeit hier ausschließlich auf die Informationsvergabe durch die vermittelnde Instanz bezieht. Andere stilisierte Formen der Unvollständigkeit, wie etwa das Fragment, spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. 183 In dieser Bestimmung zeigt sich eine grundlegende Differenz zu Phelan/Martins Kategorie des underreporting, die, wie das folgende Zitat belegt, bereits immer dann zur Anwendung kommen kann, wenn der Erzähler den betreffenden Sachverhalt nicht direkt benennt, sondern ihn lediglich verklausuliert mitteilt: „Ishiguro uses the extreme formality and self-distancing rhetoric of the statement, the ‘implications [of Miss Kenton’s words] were such as to provoke a certain degree of sorrow in me,’ to mark it as underreporting.“ (Phelan/Martin 1999, 98) Die Problematik dieser Sichtweise wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt, wie direkt Stevens seine Gefühle denn hätte versprachlichen müssen, damit nicht mehr von underreporting gesprochen werden kann. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich, dass Phelan/Martin für ihre Kategorie des underreporting kein plausibles Kriterium angeben können und zwar ganz einfach deshalb, weil es keine Norm gibt, wie direkt ein Erzähler den jeweiligen Sachverhalt zu benennen hat. Stevens’ Understatement ist

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Abwesenheit der Erzählerrede zwangsläufig Unvollständigkeit signalisiert, bedarf dieses Merkmal der weiteren Spezifizierung, wie an einem bereits behandelten Phänomen verdeutlicht werden kann. So sind etwa die unter dem Aspekt der Rhetorizität behandelten drei Punkte in der Rede eines Erzählers nicht als eine Auslassung von Information zu werten, sondern als graphische Umsetzung eines situativ bedingten punktuellen Verstummens, als Sprechpause also. Soll die Abwesenheit der Erzählerstimme hingegen als das Zurückhalten von Information wahrnehmbar sein, muss hierfür im jeweiligen Text selbst zunächst eine entsprechende Norm etabliert werden. Mit anderen Worten, der Text muss einen bestimmten Erwartungshorizont allererst schaffen, der dann an einem bestimmten Punkt nicht erfüllt wird. Für den figuralen Erzähler lässt sich dieser Umstand am Beispiel des Tagebuchromans explizieren. So hat etwa der Tagebuchschreiber D-503 aus Evgenij Zamjatins My (Wir) unter dem Aspekt der Vollständigkeit als unmarkiert zu gelten, da seine 40 Einträge durchnummeriert sind und keine dieser Nummern ausgelassen ist. Die Frage der Vollständigkeit wird damit vom Text überhaupt nicht aufgeworfen. Gleiches gilt für die Aufzeichnungen des 42-jährigen Titularrats Aksentij Ivanovič Popriščin aus Gogol’s Erzählung Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) aus dem Jahr 1835, auch wenn der Fall hier etwas anders liegt, da die Einträge nicht nummeriert, sondern mit einer Datumsangabe versehen sind. Da anhand dieser Datumsangaben von Beginn an aber eine lose Folge der Einträge signalisiert wird (3. Oktober, 4. Oktober, 6. November, 8. November, 9. November, 11. November usw.), kann das Fehlen einzelner Tage nicht als Markierung angesehen werden.184 Genau das aber ist der Fall bei dem bereits besprochenen Roman The Remains of the Day von Kazuo Ishiguro, wie die Auflistung der Eintragsüberschriften verdeutlicht: — Prologue: July 1956; Darlington Hall; — Day One – Evening; Salisbury; — Day Two – Morning; Salisbury; — Day Two – Afternoon; Mortimer’s Pond, Dorset; — Day Three – Morning; Taunton, Somerset; — Day Three – Evening; Moscombe, near Tavistock, Devon; — Day Four – Afternoon; Little Compton, Cornwall; — Day Six – Evening; Weymouth.

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deshalb auch nicht mit der Kategorie der semantischen Markierung zu fassen, sondern mit der der stilistischen Markierung. 184 Eine semantische Markierung liegt allerdings beim Wechsel von diesen Datumsangaben zu reinen Phantasieangaben vor, worauf weiter unten unter dem Aspekt der Korrektheit noch näher einzugehen sein wird.

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Unabhängig davon, dass hier die Urheberschaft für diese Überschriften, wie oben (S. 154, Fußnote 67) argumentiert wurde, nicht der vermittelnden Instanz selbst zuzuschreiben ist, wird aufgrund ihrer Regelmäßigkeit beim Leser die Erwartung geweckt, dass der Erzähler über alle Tage seiner Reise in vergleichbarer Weise berichtet. Umso auffälliger ist deshalb das Fehlen des fünften Tages, das ob dieser Auffälligkeit nach einer Erklärung, sprich einer textinternen Motivation, verlangt. Diese ist auch nicht allzu schwer zu finden. Da sich Stevens nach seinem Treffen mit Mrs Benn am vierten Tag von all seinen Illusionen bezüglich ihrer Rückkehr nach Darlington Hall verabschieden muss, liegt die Vermutung nahe, dass er sich ob seiner daraus resultierenden emotionalen Aufgewühltheit einerseits und seiner Maxime, niemals seine durch Würde definierte Außenwirkung aufzugeben, andererseits außerstande sieht, seine Erlebnisse und Eindrücke in ihm adäquat erscheinender Form darzulegen. Interessant ist dabei nun, dass dem Leser durch diese Absenz der Erzählerrede keine Informationen im Hinblick auf die „Fakten“ der dargestellten Welt vorenthalten werden. Vielmehr liefert Stevens die entsprechenden Informationen über sein Treffen mit Mrs Benn im Eintrag des sechsten Tages in seiner gewohnt präzisen und sachlichen Art vollständig nach. Was Stevens aber verschweigt, ist seine enorme emotionale Betroffenheit. Eben weil der Erzähler extrem darauf bedacht ist, seine Gefühlswelt in seiner Rede selbst nicht zu thematisieren, kann der Leser erst aufgrund dieser Auslassung auf sie zurückschließen und sie auf diese Weise auch adäquat konkretisieren.185 Die Unvollständigkeit der Erzählerrede trägt somit maßgeblich dazu bei, die Befindlichkeit von Stevens zu veranschaulichen und fungiert folglich als ein zentraler Baustein bei der indirekten Charakterisierung des ErzählerProtagonisten. Eine solche indirekte Charakterisierung durch die Unvollständigkeit der Erzählerrede ist in erster Linie bei einem autothematischen figuralen Erzähler von Relevanz, da er per definitionem im Mittelpunkt des von ihm dargestellten Geschehens steht. Welche Wirkung eine derartige Textgestaltung bei den anderen Erzählertypen entfalten kann, sei kurz am Beispiel von Aleksandr S. Puškins Versroman Evgenij Onegin aus dem Jahr 1833 dargelegt.

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185 Zumindest in diesem Sinne „entlarvt“ sich Stevens dann auch unfreiwillig selbst, da der Leser aufgrund der Unvollständigkeit der Rede des Erzählers dessen emotionale Involviertheit eben gegen dessen zwar nicht ausgesprochene, aber doch aufgrund anderer Textelemente klar erkennbare Intention erschließen kann. Im Übrigen korrespondiert die semantische Markierung bei Stevens von der Funktion her durchaus mit der stilistischen, die Phelan/Martin (1999) mit underreporting beschreiben, doch sind die ihr zugrunde liegenden sprachlichen Formen, Auslassung hier, Understatement dort, sehr verschieden und sollten deshalb auch nicht unter einen Begriff subsumiert werden.

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Der textseitig evozierte Erwartungshorizont im Hinblick auf die Vollständigkeit der Erzählerrede und damit auch die diesbezügliche Norm könnte kaum eindeutiger vorgegeben sein als in diesem Text. Ursächlich hierfür ist seine strenge äußere Gliederung in acht durchnummerierte Kapitel, die ihrerseits aus jeweils durchnummerierten Strophen bestehen. Zwar schwankt die Anzahl der Strophen von Kapitel zu Kapitel nicht unerheblich (60, 40, 41, 51, 45, 46, 55, 51), aber gerade diese Schwankung verhindert von Beginn an, dass der Leser mit einer bestimmten Anzahl von Strophen rechnet. Für die Beurteilung der Vollständigkeit ist also nicht die Zahl der Strophen pro Kapitel relevant, sondern deren fortlaufende Nummerierung. Auch auf der Ebene der Strophen selbst wird, wie bereits J. Thomas Shaw (1994, 273) konstatiert hat, eine klar definierte Erwartungshaltung geweckt, da die berühmte Onegin-Strophe grundsätzlich aus 14 Versen besteht. Vor dem Hintergrund dieser Norm sind sowohl Auslassungen einzelner Verse bzw. Versgruppen als auch ganzer Strophen festzustellen. So fehlen in 3.3 und 8.25 jeweils die Verse 9–14 und in 8.2 die Verse 5–14, wobei dieses Fehlen durch punktierte Linien jeweils graphisch kenntlich gemacht ist.186 In Strophe 37 des vierten Kapitels ist dies hingegen nicht der Fall. Hier bricht der 13. Vers einfach in der Mitte ab, wobei das Fehlen der zweiten Vershälfte ebenso wenig durch Punkte angezeigt ist wie der gänzlich fehlende 14. Vers.187 Noch häufiger ist allerdings die Auslassung ganzer Strophen, die teilweise sogar vorliegen, jedoch nicht in die Endfassung des Textes aufgenommen worden sind. Ihre Absenz wird dadurch indiziert, dass zwar die jeweilige Strophennummer angeführt wird, der Text selbst jedoch fehlt. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Strophen 1.9, 1.13 und 1.14 sowie 1.39 bis 1.41, wobei jeder fehlende Block, egal ob er nun aus einer, zwei oder drei Strophen besteht, durch drei punktierte Zeilen ersetzt ist. Auf eine derartige graphische Markierung wird im weiteren Verlauf des Textes allerdings verzichtet, so im vierten Kapitel bei den fehlenden Strophen eins bis sechs sowie 36 und 38. Im fünften Kapitel sind es die Strophen 37, 38 und 48, im sechsten Kapitel die Strophen 15 und 16 sowie 38. Im siebten Kapitel schließlich sind die Strophen 8, 9 und 39 ausgelassen, so dass angesichts der oben bereits angesprochenen fehlenden Verse im dritten und im

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186 Die erste Zahl dieser Angaben bezieht sich jeweils auf das Kapitel, die zweite auf die Strophe. 187 Der Versabbruch wird hier lediglich durch drei Punkte signalisiert: „I odevalsja... [Und er zog sich an...]“ (89; die Seitenzahlen beziehen sich auf Puškin 1977), die auch sonst recht häufig in der Erzählerrede zu finden sind. Während sie im Stropheninneren ganz traditionell als Sprechpausen aufzufassen sind, fungieren sie hier am Strophenende zusammen mit dem Fehlen von Vers 14 hingegen als Zeichen für die Auslassung von Informationen.

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achten Kapitel lediglich das zweite Kapitel als vollständig angesehen werden kann. Für das Verständnis dieser Auslassungen ist es unumgänglich, sich den Erzähler und seine Rolle im Text vor Augen zu führen. Es handelt sich bei ihm um einen durch Allokutionen, Exklamationen, Digressionen und Parenthesen rhetorisch extrem ausgeprägten namenlosen heterothematischen figuralen Erzähler, der von wegweisenden Erlebnissen des Titelhelden berichtet, der nicht nur sinnlos seinen Freund Lenskij im Duell tötet, sondern auch die aufrichtige Liebe der Nachbarstochter Tat’jana verschmäht. Als er seinen Irrtum erkennt, ist es freilich schon zu spät, da Tat’jana mittlerweile verheiratet ist. Das weitere Schicksal Onegins und damit auch der Schluss des Textes bleibt allerdings offen.188 Als heterothematischer figuraler Erzähler ist die vermittelnde Instanz selbst ein Teil des von ihr dargestellten Geschehens, ein Umstand, der in Puškins Versroman an jener Stelle besonders deutlich zutage tritt, als der Erzähler auf seine beginnende Freundschaft mit Onegin zu sprechen kommt (1.45). Beide schmieden sogar gemeinsame Reisepläne, die jedoch durch den Tod von Onegins Vater jäh zunichte gemacht werden (1.51): Onegin byl gotov so mnoju

Onegin war bereit mit mir

Uvidet’ čuždye strany; No skoro byli my sud’boju

ferne Länder anzusehen; aber bald wurden wir durch das Schicksal

Na dolgoj srok razvedeny. Otec ego togda skončalsja. (26)

für lange Zeit voneinander getrennt. Sein Vater verschied damals.

Zwar impliziert diese Formulierung ein späteres Wiedersehen, doch wird ein solches Wiedersehen im weiteren Verlauf des Textes mit keinem Wort erwähnt. Bei einem heterothematischen figuralen Erzähler stellt sich allerdings ganz zwangsläufig die Frage, aus welcher Quelle dieser seine Informationen bezieht, wenn er dem Geschehen nicht selbst als Beobachter beigewohnt hat. Diese Frage aber lässt der Text unbeantwortet, weil in ihm eben weder Onegin noch eine andere Figur als Gewährsmann für die berichteten Ereignisse angeführt wird. Umso erstaunlicher mutet es deshalb an, dass der Erzähler intimste Kenntnisse über Lenskijs Innenleben hat (2.7ff.). Ebenso weiß er bestens über die Vorlieben von Tat’janas Mutter Bescheid (2.30ff.) sowie über Sachverhalte, die sich selbst der Kenntnis Onegins entziehen müssen. Hierzu gehören beispielsweise Tat’janas Besuche in Onegins verwaistem Haus und ihre dabei aufkommenden Empfindungen (7.17ff.). Der Erzähler lässt es sich

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188 Zu dieser existentiellen Thematik des Versromans vgl. U. Busch (1979, 53–64).

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nicht einmal nehmen, auf vollkommen nebensächliche Sachverhalte hinzuweisen, wie z. B. dass die Pirogge, die an Tat’janas Namenstag gereicht wurde, versalzen war (111). In Evgenij Onegin gerät somit die eingeschränkte Perspektive des heterothematischen figuralen Erzählers in Konflikt mit seiner scheinbaren Allwissenheit, über die lediglich ein nichtfiguraler Erzähler verfügen kann. Soll dieser Widerspruch nicht als kompositorischer Mangel wahrgenommen werden, bedarf es einer vom Text selbst nahe gelegten Möglichkeit seiner Aufhebung, die in Puškins Versroman auch zu finden ist.189 Sie ergibt sich aus den Informationen, die der Erzähler über sich selbst mitteilt. Dieser Erzähler entwirft sich nämlich als Schriftsteller, der zudem deutliche Parallelen zur historischen Person Puškins aufweist. Sie beginnen bereits in 1.2 mit dem Hinweis darauf, der Erzähler des vorliegenden Textes sei auch der Autor von Ruslan i Ljudmila, eines von Puškin verfassten Versepos. Weitere Parallelen ergeben sich durch die wiederholten Hinweise auf die Verbannung des Erzählers sowie seine Begegnung mit Deržavin während der Lyzeumszeit (165). Nicht zuletzt stimmt, um ein weiteres Beispiel anzuführen, das Alter des Erzählers mit dem Puškins überein.190 Als derart im Text repräsentierter historischer Autor kann der Erzähler natürlich nach Belieben über sein Material verfügen, wie er es an einzelnen Stellen des Textes auch immer

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189 Um einen Text, bei dem dieser Widerspruch nicht aufgelöst wird, handelt es sich bei Karamzins Bednaja Liza. Hier behauptet der heterothematische figurale Erzähler, das von ihm berichtete Geschehen von der Figur Ėrasts erfahren zu haben, verfügt aber gleichzeitig über Informationen, die Ėrast nicht gehabt haben kann, etwa aus der Zeit als dieser im Krieg war. Da Ėrast Liza danach aber nur noch einmal ganz kurz begegnet ist und dies unter Umständen, die einen längeren Austausch ausschließen, können diese Informationen auch nicht von Liza selbst stammen. Dieser Widerspruch lässt sich durchaus erklären. Zum einen braucht Karamzin einen allwissenden Erzähler, der den fiktiven Adressaten mit dem entsprechenden Hintergrundwissen ausstattet. Zum anderen benötigt er für die Rezeptionslenkung im sentimentalistischen Sinne einerseits die Rhetorizität des Erzählers, hier insbesondere seine emotionalen Kommentare und die Allokutionen, und andererseits die Beglaubigung des Geschehens als authentisch, zu der neben dem scheinbaren Wissen aus erster Hand auch die explizite Authentizitätsfiktion gehört („Dlja čego pišu ne roman a pečal’nuju byl’? [Warum schreibe ich keinen Roman, sondern eine traurige wahre Geschichte?]“ (518)) Der Bruch der Erzähllogik, der sich in der Überschreitung der Perspektive des heterothematischen figuralen Erzählers manifestiert, wird hier unter dem Aspekt einer bestimmten Wirkungsabsicht also bewusst in Kauf genommen (und hat der Wirkung des Textes zugegebenermaßen auch keinen Abbruch getan). Er ist deshalb auch als intentional anzusehen, doch wird er eben, anders als bei Puškin, nicht auf einer höheren textinternen Ebene aufgehoben und damit in ein kohärentes Gesamtkonzept integriert. Zur Erzählerproblematik in Bednaja Liza im Allgemeinen und zum Bruch der Erzähllogik und seiner Funktion für den Text im Besonderen vgl. Garrard (1975). 190 Im 1828 publizierten sechsten Kapitel bezeichnet sich der Erzähler als fast 30 (136) und ist damit genauso alt wie der 1799 geborene Puškin zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Kapitels.

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wieder demonstriert, so etwa bei der Wahl von Tat’janas Namen (42), am deutlichsten aber am Ende in Strophe 8.50, in der die Figuren des Romans als bloße Fiktion kenntlich gemacht werden. Die Beglaubigung des Geschehens durch den heterothematischen figuralen Erzähler, die durch seine Bekanntschaft mit Onegin zunächst implizit erfolgt, und der dadurch erweckte Anschein der Authentizität erweist sich solchermaßen als metafiktionales Spiel mit den literarischen Konventionen und trägt damit zum selbstreflexiven Charakter des Textes ebenso bei wie etwa die bereits erwähnte Offenlegung der Fiktivität der Handlung, die Inszenierung der Autorpersona oder die immer wiederkehrenden Erzählerräsonnements über die zeitgenössische russische Literatur und die auf sie wirkenden internationalen Einflüsse. In diesem der romantischen Ironie verpflichteten metafiktionalen Spiel erfüllen nun auch die Auslassungen eine spezifische Funktion. Zum einen thematisieren sie indirekt die romantische Vorliebe für das Fragment, und dies ganz unabhängig davon, ob Puškins Versroman als solcher als vollständig angesehen wird oder nicht.191 Zum anderen kokettieren sie mit dem Phänomen der Zensur, die im Text sogar explizit erwähnt wird (30). In diesem Zusammenhang ist etwa von Bedeutung, dass der Erzähler darauf hinweist, Lenskij lese Ol’ga, seiner Braut und Tat’janas Schwester, aus Romanen vor, überblättere dabei aber errötend immer wieder einzelne Seiten (84). Da in 1.11 und 1.12 der Erfolg Onegins bei den Frauen zur Sprache kommt, wird nun gerade der Eindruck erweckt, bei den fehlenden Strophen 13 und 14 könnte es sich um solche Stellen handeln, die den Leser möglicherweise erröten ließen. Noch interessanter ist unter dem Aspekt des metafiktionalen Spiels die fehlende Strophe 1.9. Da in 1.8 die Verbannung von Ovid erwähnt wird, liegt die Annahme zumindest nicht fern, dass hier auf Puškins eigene Situation angespielt wird, die Auslassung mithin aus politischer Opportunität erfolgt. Dass Ovid hier aber nicht in erster Linie als Verbannter angesprochen wird, sondern als Verfasser der Ars amatoria erhellt einerseits durch den Kotext, das bereits angesprochene Motiv von Onegins Verführungskunst, und andererseits durch die Strophe 9 selbst, die ja vorliegt (226) und eben die Überleitung zu diesem Motivkomplex darstellt. Es zeigt sich mithin, dass es bei den Auslassungen in Puškins Versroman nicht darum geht, bestimmte Sachverhalte zu inferieren, sondern schlicht um eben jenes metafiktionale Spiel, das bei den Lesern durchaus unterschiedliche Assoziationen hervorrufen kann. Es brauchen hier nicht alle Auslassungen je für sich diskutiert werden, vielmehr sollte anhand von Evgenij Onegin lediglich der Nachweis

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191 Zu der entsprechenden Diskussion vgl. beispielsweise Koževnikov (1988).

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geführt werden, dass die implizit indizierte Unvollständigkeit der Erzählerrede nicht nur bei einem autothematischen figuralen Erzähler anzutreffen ist, sondern auch bei anderen Erzählertypen. Während hier jedoch die indirekte Charakterisierung des Erzählers keine Rolle spielt, gilt dies nicht automatisch auch umgekehrt für die soeben besprochene Funktion. Das bekannteste Beispiel für das metafiktionale Spiel mit einer Auslassung bei einem autothematischen figuralen Erzähler ist zweifellos die berühmte weiße Seite im 38. Kapitel des sechsten Buchs von Tristram Shandy (451),192 die der Aufforderung an den Leser folgt, das selbstgemalte Bild seiner jeweiligen Geliebten, nicht jedoch seiner Ehefrau einzufügen. Auch hier fungiert die Unvollständigkeit der Erzählerrede neben vielen anderen Verfahren als ein probates Mittel, um die Konventionalität der Literatur in das Bewusstsein des Rezipienten zu heben. Häufiger noch als die implizite Indizierung der Unvollständigkeit der Erzählerrede findet sich aber der explizite Hinweis des Erzählers auf Auslassungen in seinem Bericht.193 Ein Text, in dem dieses Verfahren eine zentrale Rolle spielt, nämlich Salingers The Catcher in the Rye, wurde bereits ausführlich besprochen, doch seien die für die Erzählertypologie relevanten Gesichtspunkte an dieser Stelle noch einmal zusammengefasst. An exponierter Stelle, nämlich gleich zu Beginn des Romans und an dessen Ende, lässt Holden Caulfield seinen fiktiven Adressaten unmissverständlich wissen, dass er ihm wesentliche Teile seiner Geschichte vorenthält: If you really want to hear about it, the first thing you’ll probably want to know is where I was born, and what my lousy childhood was like, and how my parents were occupied and all before they had me, and all that David Copperfield kind of crap, but I don’t feel like going into it, if you want to know the truth. (3) That’s all I’m going to tell about. I could probably tell you what I did after I went home, and how I got sick and all, and what school I’m supposed to go to next fall, after I get out of here, but I don’t feel like it. I really don’t. That stuff doesn’t interest me too much right know. (278)

Nun sind es aber gerade diese ausgesparten Teile der Geschichte, die Auskunft über die Ursachen für Holdens körperlichen und geistigen Zustand geben könnten und damit auch über die Motivation für seine 48-stündige Odyssee, mit der der Leser im Zuge der Lektüre des Romans konfrontiert wird. Der Rezipient kann deshalb gar nicht anders,

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192 Die Seitenangaben beziehen sich auf Sterne (1970). 193 Durch die weiße Seite einerseits und andererseits durch die Aufforderung an den Leser, sich das Bild der Witwe Wadman im wahrsten Sinne des Wortes selbst auszumalen, sind bei Sterne die beiden Arten der Indizierung sogar miteinander kombiniert.

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als Spekulationen über diese Motivation anzustellen. Die explizit markierten Auslassungen sind somit zentraler Bestandteil der Appellstruktur des Textes, die den Leser dazu herausfordert, sich mit dem Schicksal Holdens und folglich auch mit seiner eigenen Lebenswelt, in der die Handlung angesiedelt ist, auseinander zu setzen. Auch wenn wegen der Unvollständigkeit der Erzählerrede der Grund für Holdens existentielles Problem nicht eindeutig eruiert werden kann, sind dieser Auseinandersetzung durch das Textschema doch gewisse Grenzen gesetzt. Aus genau diesem Grund können weder alle Konkretisationen noch alle unterschiedlichen professionellen Erklärungsversuche für Holdens Zustand in der Forschungsliteratur das gleiche Maß an Plausibilität für sich beanspruchen. Maßstab für deren Beurteilung ist die politisch-ideologische, moralische und auch psychoanalytische Theorien betreffende Unvoreingenommenheit der jeweiligen Position einerseits sowie eine möglichst präzise Lektüre andererseits, die sich in der Begründung für die Auswahl und die Relevanz der als Belege dienenden Textstellen bemisst. Auch wenn die implizit und/oder explizit indizierte Unvollständigkeit der Erzählerrede also zwangsläufig eine erhöhte Rezipientenaktivität erfordert, bedeutet dies keineswegs, dass die daraus resultierenden Spekulationen in wissenschaftliche Beliebigkeit münden müssten. Vielmehr ist gerade in einem solchen Fall höchste Sorgfalt der Argumentation geboten. Die explizit indizierte Unvollständigkeit der Erzählerrede muss jedoch nicht notwendigerweise einem intentionalen Akt entspringen. Während Holden nämlich einerseits ganz entscheidende Begebenheiten aus seinem Leben wohl aus Schamgefühl, wie in 3.2.7 argumentiert wurde, verschweigt, hat er andere, vergleichsweise irrelevante Sachverhalte schlicht vergessen. So weiß er beispielsweise nicht mehr, was genau er tat, als er darauf wartete, dass Stradlater von seinem Date mit Jane zurückkehrt, wobei er als Grund hierfür seine Besorgnis um Jane anführt (52). Ganz allgemein ist zu konstatieren, dass sich unwillkürliche Auslassungen in der Rede des Erzählers in dessen Eingeständnis von Wissensbzw. Erinnerungslücken manifestieren. Diese Lücken können ihrerseits höchst unterschiedlich motiviert sein. Wenn beispielsweise der Erzähler von lange zurückliegenden Ereignissen berichtet, so kann es vorkommen, dass er nicht mehr jedes einzelne Detail rekapitulieren kann. Die bruchstückhafte Erinnerung ist dann in der Regel der großen zeitlichen Distanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich und/oder dem fortgeschrittenen Alter des Erzählers geschuldet. Solche Auslassungen sind aufgrund ihrer Analogie zur lebensweltlichen Problematik des Erinnerns und Vergessens geeignet, dem Erinnerungsprozess und damit

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auch dem Vermittlungsvorgang ein höheres Maß an Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Ursache für solche Ausfälle können aber auch, ganz unabhängig von der zeitlichen Distanz und vom Alter, die psychische oder die physische Befindlichkeit des erlebenden Ich sein. Ersteres ist in dem oben angeführten Beispiel bei Holden der Fall, letzteres in Venedikt Erofeevs im Untertitel als Poem bezeichnetem Text Moskva – Petuški. Hier leidet der ebenfalls Venedikt Erofeev genannte autothematische figurale Erzähler wiederholt an alkoholbedingten Blackouts, die eine präzise Erinnerung schlicht unmöglich machen, wie das folgende Beispiel belegt: [...] ja tol’ko čto podsčital, čto s ulicy Čechova i do ėtogo pod’’ezda ja vypil ešče na šest’ rublej – a čto i gde ja pil? i v kakoj posledovatel’nosti? Vo blago li sebe 194 ja pil ili vo zlo? Nikto ėtogo ne znaet, i nikogda teper’ ne uznaet. (18) [...] ich habe gerade nachgerechnet, dass ich von der Čechovstraße bis zu diesem Aufgang noch sechs Rubel versoffen habe – aber was und wo habe ich getrunken? Und in welcher Reihenfolge? Habe ich zu meinem Wohl getrunken oder zu meinem Übel? Niemand weiß das und wird es jetzt jemals erfahren.

Der Grund für die Unfähigkeit, sich zu erinnern, kann aber ebenso gut auf der Ebene des erzählenden Ich angesiedelt sein, wie ein Beispiel aus Dostoevskijs Krotkaja veranschaulichen mag: Delo v tom, čto ja teper’ vse ėto choču pripominat’, každuju ėto meloč’, každuju čertočku. Ja vse choču v točku mysli sobrat’ i – ne mogu, a vot ėti čertočki, čertočki... (8) Die Sache ist die, dass ich mich jetzt an all das erinnern will, an jede Kleinigkeit, jeden Zug. Ich will alles gedanklich auf den Punkt bringen – und kann es nicht, diese Züge, diese Züge...

Bestürzung und Verwirrung über den erst wenige Stunden zurückliegenden Freitod seiner Ehefrau erlauben es dem Pfandleiher in diesem Falle nicht, seine Gedanken und Erinnerungen zu ordnen und dementsprechend mitzuteilen. In all den angeführten Beispielen tragen die ungewollten Auslassungen des Erzählers dazu bei, den Erinnerungsprozess zu thematisieren und geben anhand der jeweils angeführten Motive für die Erinnerungslücken Einblick in die Befindlichkeit entweder des erlebenden oder des erzählenden Ich.195 Eine solche Wirkung ist bei einem nichtfiguralen Erzähler aus dem einfachen Grund prinzipiell ausgeschlossen, da hier per definitionem kein individuelles Bewusstsein im Text vorhanden ist, welches überhaupt näher bestimmt werden könnte. Dennoch sind Fälle mit unbeab-

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194 Die Seitenzahlen beziehen sich auf Erofeev (2000). 195 Ausführlich zur komplexen Problematik des Erinnerns in Bezug auf den Erzähler vgl. Lange (2003).

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sichtigten Wissens- und Erinnerungslücken auch hier nicht nur denkbar, sondern auch vorzufinden, so etwa in Nikolaj Gogol’s Erzählung Šinel’. Mehrfach bekennt der Erzähler in diesem Text seine Informationsdefizite, wie aus den folgenden Beispielen ersichtlich wird: Govorjat, ves’ma nedavno postupila pros’ba ot odnogo kapitana-ispravnika, ne pomnju kakogo-to goroda [...]. (109) Man sagt, gerade erst ist das Gesuch irgendeines Kreispolizeichefs im Hauptmannsrang eingegangen, ich erinnere mich nicht aus welcher Stadt [...]. Neizvestno, kakim obrazom v departamente vse vdrug uznali, čto u Akakija Akakieviča novaja šinel’ [...]. (122) Es ist nicht bekannt, auf welche Weise in der Abteilung plötzlich alle in Erfahrung gebracht hatten, dass Akakij Akakievič einen neuen Mantel hatte [...]. Gde imenno žil priglasivšij činovnik, k sožaleniju, ne možem skazat’: pamjat’ načinaet nam sil’no izmenjat’, i vse, čto ni est’ v Peterburge, vse ulicy i domy slilis’ i smešalis’ tak v golove, čto ves’ma trudno dostat’ ottuda čto-nibud’ v porjadočnom vide. (123) Wo genau der gastgebende Beamte wohnte, können wir leider nicht sagen: das Gedächtnis beginnt uns massiv im Stich zu lassen, und alles in Petersburg, alle Straßen und Häuser haben sich im Kopf derart vermengt und vermischt, dass es äußerst schwierig ist, aus ihm etwas in der richtigen Gestalt hervorzuholen. A možet byt’, daže i ėtogo ne podumal – ved’ nel’zja že zalest’ v dušu čeloveka i uznat’ vse, čto on ni dumaet. (124) Und es kann sein, dass er nicht einmal das dachte, schließlich kann man sich nicht in die Seele eines Menschen einschleichen und alles erfahren, was er denkt.

Das letzte Beispiel ist besonders bemerkenswert, da der Erzähler in anderen Passagen die Gedanken der Figuren kommentarlos wiedergibt und damit nolens volens den Eindruck erweckt, uneingeschränkten Zugang zu ihnen zu besitzen. Verbleibt dieser Widerspruch der Perspektive und damit auch das daraus resultierende Spiel mit den entsprechenden Darstellungskonventionen hier noch im Bereich des Impliziten, wird eben dieses Spiel in anderen Partien des Textes direkt in das Bewusstsein des Lesers gehoben: Ob ėtom portnom, konečno, ne sledovalo by mnogo govorit’, no tak kak uže zavedeno, čtoby v povesti charakter vsjakogo lica byl soveršenno označen, to, nečego delat’, podavajte nam i Petroviča sjuda. (114) Es wäre natürlich unnötig, viel über diesen Schneider zu sagen, aber da es nun einmal üblich ist, dass in einer Erzählung der Charakter einer jeden Figur vollständig angegeben wird, kann man nichts machen; gebt uns auch den Petrovič her.

Statt der angesprochenen umfangreichen Charakterzeichnung folgen allerdings lediglich einige wenige Angaben, die sich auf die Vergangenheit Petrovičs beziehen, so dass er als Figur keineswegs konkrete Kon-

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turen annimmt, sondern eher geheimnisvoll erscheint. Noch deutlicher zeigt sich dieser Widerspruch bei der Beschreibung von Petrovičs Frau: Tak kak my uže zaiknulis’ pro ženu, to nužno budet i o nej skazat’ slova dva; no, k sožaleniju, o nej ne mnogo bylo izvestno, razve tol’ko to, čto u Petroviča est’ žena, nosit daže čepik, a ne platok; no krasotoju, kak kažetsja, ona ne mogla pochvastat’sja; [...]. (115) Da wir nun schon einmal von der Frau angefangen haben, sollte man auch über sie ein, zwei Worte sagen; aber leider wusste man über sie nicht viel, außer vielleicht, dass Petrovič eine Frau hatte, dass sie sogar eine Haube trug und nicht ein Tuch; als Schönheit konnte sie aber, wie es scheint, nicht gerühmt werden; [...].

In beiden Fällen verweist der Erzähler also auf eine bestimmte Darstellungstradition und auf die aus ihr resultierende Erwartungshaltung des Lesers, nur um diese dann nicht zu erfüllen. Unter dem Aspekt der Perspektive stehen sich in Šinel’ somit zwei einander ausschließende Konventionen gegenüber: Einerseits die Allwissenheit des nichtfiguralen Erzählers, die sich nicht nur in der Schilderung der Gedanken der Figuren manifestiert, sondern bereits in der Digression am Texteingang insinuiert wird, wenn der Erzähler ganz bewusst verschweigt, in welcher Abteilung sich die Ereignisse um Akakij Akakievič zugetragen haben,196 und andererseits die eingeschränkte Perspektive des figuralen Erzählers mit ihren Erinnerungs- und Wissenslücken. Letzteres wirkt in Gogol’s Text umso überraschender, da der Erzähler selbst nicht Teil der dargestellten Welt ist.197 Das Oszillieren zwischen diesen beiden Polen lässt den Erzähler in seiner Funktion als Informationsvermittler fragwürdig erscheinen, da der Leser letztlich im Unklaren darüber bleibt, inwiefern auf seine Aussagen, aber auch auf seine Kommentare Verlass ist.198 Infolgedessen wird die rezeptionslenkende Kraft des Erzählers massiv unterminiert, so dass der Leser in einem erhöhten Maße dazu herausgefordert wird, dem Gelesenen selbst einen Sinn beizulegen.

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196 Diese intentionale Zurückhaltung der Information ist hier freilich nicht in derselben Weise Teil der Appellstruktur des Textes wie Holdens Auslassung seiner Vorgeschichte, da es in Šinel’ nicht darum geht, Spekulationen über diese fehlende Information anzustellen. In diesem Falle trägt sie vielmehr zu dem beschriebenen Spiel mit den literarischen Konventionen bei. 197 Wie in Kapitel 2.5 argumentiert wurde, ist die Verwendung der Personalpronomina der 1. Person im Singular und im Plural in Šinel’ als Verfahren zu werten, welches die Rhetorizität des Erzählers besonders unterstreicht. 198 Auf diese beiden Aspekte wird unter dem Gesichtspunkt der Korrektheit der Erzählerrede noch einmal zurückzukommen sein. Nebenbei sei bemerkt, dass dieses Oszillieren zwischen den unterschiedlichen Perspektiven mit dem Oszillieren zwischen den beiden unterschiedlichen stilistischen Schichten in Šinel’ korrespondiert, die Ėjchenbaum in seinem Aufsatz Kak sdelana „Šinel’“ Gogolja beschrieben hat.

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Auch wenn es sich im Grunde von selbst versteht, sei zum Abschluss dieser Überlegungen der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass der Zeitpunkt der Informationsvergabe unter dem Aspekt der Unvollständigkeit der Erzählerrede keine Rolle spielt. Auch wenn sie ihr Wissen über die Täterschaft bis zum Ende des jeweiligen Textes zurückhalten, kann deshalb weder bei Dr. Sheppard in The Murder of Roger Ackroyd noch bei dem namenlosen figuralen Erzähler in Der Kameramörder von einer semantischen Markierung die Rede sein. Ebenso ist auch Sir Hugo in The Grotesque unter dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit seines Erzählerberichts semantisch unmarkiert, obwohl er sich nicht zu seinem Mord an Sidney bekennt. Da er nämlich aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht sich selbst, sondern seinen Butler Fledge für den Mörder hält, ist sein Fall nicht unter dem Aspekt der Vollständigkeit zu behandeln, sondern bereits unter dem der Korrektheit der Erzählerrede. 3.4.2 Das Kriterium der Korrektheit der Information Die Beurteilung der Korrektheit der Erzählerrede erweist sich als ungleich schwieriger als die Feststellung ihrer Vollständigkeit. Ausschlaggebend hierfür ist, dass in diesem Fall nicht nur mit einer textinternen Norm zu rechnen, sondern ebenso eine textexterne Norm einzukalkulieren ist. Dieser textexterne Bezug ergibt sich daraus, dass der Leser die in einem literarischen Text dargestellten Sachverhalte unwillkürlich zu seinen eigenen lebensweltlichen Erfahrungen in Relation setzt. Im Hinblick auf das Kriterium der Korrektheit der Erzählerrede sind dabei jene Fälle von Belang, bei denen Elemente der Textwelt mit dieser Erfahrung nicht in Einklang zu bringen sind. Um diese Diskrepanz genauer beschreiben zu können, erweist es sich als hilfreich, auf ein Konzept zurückzugreifen, welches Marianne Wünsch für ihre Definition der phantastischen Literatur eingeführt hat. Es handelt sich dabei um ihr Konzept des Realitätsbegriffs, wobei dieser Realitätsbegriff nach Wünsch einen Teil des übergeordneten kulturellen Wissens einer Gesellschaft darstellt und damit ebenso wie dieses Wissen historisch bedingt und kulturspezifisch ist. Der Realitätsbegriff umfasse die Gesamtheit aller Gesetzmäßigkeitsannahmen über die „Realität“ [...], die bewußt oder nicht bewußt, explizit oder implizit, intuitiv oder theoretisch begründet, in wissenschaftlicher oder nicht-wissenschaftlicher Form gemacht werden [...]. (Wünsch 1991, 19)

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Diese Formulierung lässt bereits erkennen, dass die in Rede stehenden Gesetzmäßigkeitsannahmen zwar teilweise auf Spezialwissen beruhen, dass sie über die jeweiligen Spezialistengruppen hinaus jedoch in alltagssprachlicher bzw. populärwissenschaftlicher Form im Prinzip Verbindlichkeit für die gesamte Gemeinschaft beanspruchen. Der jeweils für eine Kultur zu einer bestimmten Zeit gültige Realitätsbegriff seinerseits setzt sich nach Wünsch (1991, 20f.) durch fundamental-ontologische Basispostulate zusammen, wobei sie hier drei Gruppen unterscheidet, nämlich 1. die formalen Basispostulate, zu denen etwa elementare Annahmen über Raum und Zeit ebenso gehören wie die Gesetze der Logik, 2. die theologischen Basispostulate, d. h. Annahmen über die (Nicht-)Existenz ontologisch verschiedener Seinsbereiche, und schließlich 3. die naturphilosophischen bzw. naturwissenschaftlichen Basispostulate. Verstöße gegen einzelne dieser Basispostulate und damit auch gegen den herrschenden Realitätsbegriff – und nur um solche Verstöße geht es hier – sind in der Literatur zwar nicht die Regel, aber doch alles andere als selten.199 Wie bereits in 3.1 im Zusammenhang mit der von Doležel so genannten Authentisierungsfunktion deutlich geworden ist, steht die Akzeptanz solcher Verstöße dabei in Relation zum jeweiligen Erzählertypus. So kann, wie Marie-Laure Ryan (1981, 518f.) völlig zu Recht konstatiert hat, ein nichtfiguraler Erzähler im Prinzip alles erzählen, ohne den Widerspruch des Lesers herauszufordern. Wie sehr auch immer die dargestellte Welt von dessen Weltwissen abweichen mag, so sind diese Abweichungen doch durch bestimmte Gattungs- bzw. Darstellungskonventionen (Märchen, Sage, Legende etc. bzw. Groteske und Allegorie) ‚legitimiert‘. Umgekehrt ließe sich auch formulieren, dass diese Gattungen bzw. Darstellungsweisen ihre je spezifische Wirkung nur deshalb entfalten können, weil sie sich eines nichtfiguralen Erzählers bedienen, dem ob eines fehlenden individuellen Bewusstseins die jeweiligen Abweichungen vom Realitätsbegriff nicht ‚angelastet‘ werden können. Wenn jedoch bei einem nichtfiguralen Erzähler durch eine individualisierende stilistische Markierung und/oder Rhetorizität die Vorstellung eines solchen vermittelnden Bewusstseins hervorgerufen wird, ist die Lage bereits eine andere. Damit nämlich ist die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der Leser eben diesem Bewusstsein, selbst wenn es nicht als Figur im Text greifbar ist, die Verantwortung für jene Aussagen zuschreiben kann, denen es vor dem Hintergrund des eigenen

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199 Nicht zu berücksichtigen sind an dieser Stelle deshalb Abweichungen von der lebensweltlichen Erfahrung, die im Rahmen des jeweiligen Realitätsbegriffs verbleiben, wie dies etwa in der Utopie oder in der Science Fiction der Fall ist. Vgl. dazu ausführlich Ohme (2005).

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Weltwissens an Plausibilität gebricht. Dies ist etwa der Fall in Levša (stilistische Markierung) und Šinel’ (Rhetorizität).200 Die daraus resultierende Konsequenz für die Wahrnehmung des Erzählers sei am Beispiel von Gogol’s Erzählung kurz expliziert. In Šinel’ wird die mangelnde Plausibilität einzelner Aussagen des Erzählers in erster Linie durch semantische Kollisionen und logische Brüche hervorgerufen. Eine semantische Kollision liegt beispielsweise vor, wenn der Erzähler davon berichtet, dass der Schneider Petrovič den neuen Mantel in einem Taschentuch verpackt überbringt: On vynul šinel’ iz nosovogo platka, v kotorom ee prines; platok byl tol’ko čto ot prački, on uže potom svernul ego i položil v karman dlja upotreblenija. (121) Er holte den Mantel aus einem Taschentuch heraus, in dem er ihn gebracht hatte; das Taschentuch kam gerade erst von der Wäscherin; er legte es dann zusammen und steckte es zum späteren Gebrauch in die Tasche.

Allein die Vorstellung, dass ein Mantel in ein Taschentuch passt, ist abwegig. Akzeptierte man sie aber dennoch, so entstünde das nächste Problem dadurch, dass ein derart großes Taschentuch kaum in der Tasche eines Kleidungsstücks Platz finden könnte.201 Bereits an diesem Beispiel lässt sich die Wirkung einer solchen Textgestaltung demonstrieren. Einerseits indizieren der Titel der Erzählung und ihr ganzer Handlungsaufbau, dass es um einen Mantel geht, gleichzeitig aber wird durch die semantische Kollision eben dies infrage gestellt. Entscheidend ist nun, dass sich die daraus resultierende Ambivalenz nicht auflösen lässt, denn offensichtlich ist der Erzähler zwar der Urheber des Problems, doch geht es genauso offensichtlich nicht darum, ihn näher zu charakterisieren. Schließlich steht nicht er im Mittelpunkt seiner Darstellung, ein Umstand der in diesem Fall bereits durch seine nichtdiegetische Position indiziert wird, sondern Akakij Akakievič. Aus diesem Grund wird man trotz der mangelnden Plausibilität seiner Aussage kaum nach dem Geisteszustand des Erzählers fragen. Andererseits

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200 Im Falle von Šinel’ ist die Sachlage freilich noch komplizierter, da hier zwar auch eine stilistische Markierung vorliegt, allerdings in Form einer Stilmischung, deren einer Bestandteil im Sinne des Ornamentalismus dem Hervortreten eines erzählerischen Bewusstseins gerade entgegenwirkt. Auch wenn in diesem Text somit zwei widerstreitende Tendenzen miteinander verbunden sind, ist dieser Umstand doch keinesfalls als Inkonsistenz von Gogol’s Erzählung zu werten. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Beispiel dafür, wie kunstvoll mit den verschiedenen Elementen zur Ausgestaltung der vermittelnden Instanz umgegangen werden kann. In Šinel’ bewirkt die spezifische Kombination dieser Gestaltungsmittel ein hohes Maß an Komplexität, in dem auch die Ursache dafür zu suchen ist, dass bereits die stilistische Ebene der Erzählung zu äußerst heterogenen und nicht selten auch kontradiktorischen Beschreibungen des Textes geführt hat. 201 Allerdings wird die Aufmerksamkeit des Lesers durch den Erzähler in eine ganz andere Richtung gelenkt. Nicht die mit dem Gegenstand assoziierte Größe wird als Problem in den Fokus gerückt, sondern der mögliche Mangel an Sauberkeit.

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verhindert eben das durch rhetorische Verfahren indizierte Hervortreten der vermittelnden Instanz, dass der Leser diejenigen Propositionen, die von seinem Weltwissen abweichen, umstandslos hinnimmt. Da also weder auf der Ebene des Erzählers noch auf der des abstrakten Autors, hier in Form von konventionalisierten Gattungs- und Darstellungstraditionen, eine plausible Motivation für die semantische Kollision zu erkennen ist, ist der Rezipient selbst in einem erhöhten Maße dazu aufgefordert, ihr eine Funktion für die Sinnkonstitution des Textes zuzuweisen.202 Es ist eben diese, übrigens auch für die Figurenebene charakteristische,203 fehlende Rezeptionslenkung, die im Falle von Šinel’ zu einer Vielzahl einander nicht selten diametral widersprechender Sinnzuweisungen in der Forschung geführt hat. Der Vollständigkeit halber sei noch ergänzt, dass die logischen Brüche in Gogol’s Erzählung einen vergleichbaren Effekt haben. Wenn etwa der Erzähler darauf hinweist, dass alle Bašmačkins, deren Name vom Wort Schuh abgeleitet ist, Stiefel trügen, sogar der Schwager (109f.), oder dass der Schneider Petrovič trotz seiner Pockennarben sein Handwerk recht erfolgreich ausübe (114), um lediglich zwei Beispiele anzuführen,204 dann wird zwar bereits anhand einzelner von ihm entworfener Sachverhalte seine Kompetenz und damit auch seine rezeptionslenkende Autorität infrage gestellt, doch führt dies nicht zu einer spürbaren Individualisierung der vermittelnden Instanz,205 wie dies bei einem figuralen Erzähler der Fall ist. Bei einem solchen Erzähler stellt sich die Situation nämlich noch einmal anders dar. Da hier im Text durch den figuralen Status die vermittelnde Instanz automatisch mit einem individuellen Bewusstsein ausgestattet ist, sind in diesem Fall die Abweichungen vom Realitätsbegriff für den Leser nur dann akzeptabel, wenn sie der Erzähler selbst als solche kenntlich macht. Eben dies ist das zentrale Charakteristikum der phantastischen Literatur, da der figurale Erzähler hier seine Unentschlossenheit hinsichtlich der Ursache eines Phänomens, das gegen ein fundamental-ontologisches Basispostulat verstößt, unumwunden einge-

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202 Eine solche Zuweisung ist an sich nicht weiter schwierig, da durch die semantische Kollision der Mantel aus dem Bereich des Gegenständlichen in den Bereich des Symbolischen überführt wird. Strittig kann allenfalls sein, wofür dieses Symbol steht. 203 Auch hier zeigt sich die für den Text insgesamt charakteristische Ambivalenz: Einerseits mangelt es den Figuren an Individualisierung (z. B. heißt Akakij ebenso wie sein Vater und die „bedeutende Persönlichkeit“ hat überhaupt keinen Namen), andererseits sind sie im Sinne von Karikaturen derart überzeichnet, dass sie nicht plausibel als Repräsentanten bestimmter sozialer Typen angesehen werden können. 204 Eine Vielzahl weiterer Beispiele findet sich bei Tschižewskij (1966, 104–109). 205 Hiermit wiederum korrespondiert, dass die stilistische Markierung in Šinel’ eben nicht charakterologischer Natur ist.

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steht.206 Auf diese Weise fungiert der figurale Erzähler, um einen weiteren Begriff von Wünsch (1991, 36) zu borgen, als „Klassifikator der Realitätskompatibilität“. Phantastische Phänomene in diesem terminologischen Sinne fordern deshalb den figuralen Erzähler und mit ihm den Leser, den er gleichsam im Text vertritt, zu einer Erklärung heraus. Als ein Beispiel hierfür kann Aksentij Ivanovič Popriščin aus der bereits erwähnten Erzählung Zapiski sumasšedšego von Gogol’ dienen. Als er zu hören glaubt, wie sich zwei Hunde miteinander unterhalten, reagiert er als Klassifikator der Realitätskompatibilität zunächst völlig adäquat, indem er seine eigene Wahrnehmung infrage stellt: „Ėge! – skazal ja sam sebe, – da polno, ne p’jan li ja? [Oho, sagte ich zu mir selbst, bin ich nicht vielleicht betrunken?]“ (149)207 Da Popriščin diese Möglichkeit als Erklärung für das Phänomen jedoch umgehend von sich weist und stattdessen das Gespräch der Hunde als Realität akzeptiert, muss er dem Leser als vermittelnde Instanz zwangsläufig zum Problem werden: Ach ty ž, sobačonka! Priznajus’, ja očen’ udivilsja, uslyšav ee govorjaščeju po-čelovečeski. No posle, kogda ja soobrazil vse ėto chorošen’ko, to togda že perestal udivljatsja. Dejstvitel’no, na svete uže slučilos’ množestvo podobnych primerov. (149) Ach, du verdammtes Hündchen! Ich gestehe, dass ich mich sehr wunderte, es nach Menschenart sprechen zu hören. Aber danach, als ich all das recht bedachte, da hörte ich auf, mich zu wundern. Wirklich, auf der Welt ist schon eine Menge ähnlicher Beispiele vorgekommen.

Kann sich der Leser mit Popriščins ursprünglichem Zweifel an seiner Wahrnehmung durchaus noch identifizieren, wird er sich spätestens aufgrund seines Sinneswandels und der von ihm angeführten weiteren Beispiele von einem sprechenden Fisch und zwei Kühen, die in einem Laden ein Pfund Tee erstehen wollen, endgültig von ihm distanzieren. Weil also Popriščin als Klassifikator der Realitätskompatibilität „versagt“, kann das vom Realitätsbegriff abweichende Phänomen nicht mehr länger als phantastisch gedeutet werden, sondern ist ganz eindeutig dem offenbar getrübten Geisteszustand des Erzählers zuzuschreiben.208 Das Gleiche gilt etwa auch für den namenlosen figuralen Erzähler in The Tell-Tale Heart, wenn er behauptet, alle Dinge im Himmel und auf der Erde sowie viele Dinge in der Hölle hören zu können. Durch seine vom

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206 Vgl. hierzu auch Todorovs (1992, 26) Definition des Phantastischen, bei der diese „hésitation“ die maßgebliche Rolle spielt. 207 Die Seitenangaben beziehen sich auf Gogol’ (1994). 208 Mit dem Fortgang der Erzählung verfestigt sich beim Leser genau dieser Eindruck, so etwa durch Popriščins Behauptungen, Spanien und China seien im Grunde identisch und der Mond würde gewöhnlich in Hamburg hergestellt.

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Realitätsbegriff nicht gedeckte Aussage wird der Erzähler somit als verrückt ausgewiesen. Auch wenn Popriščin und der Erzähler in Poes Text von der Richtigkeit ihrer jeweils problematisch erscheinenden Behauptungen überzeugt sind, werden sie vom Leser vor dem Hintergrund des gültigen Realitätsbegriffs als unkorrekt wahrgenommen. Derartige Behauptungen geben somit keine Auskunft über die in der dargestellten Welt bestehenden Sachverhalte, sondern führen dem Rezipienten vor Augen, dass der Erzähler über einen anderen Realitätsbegriff verfügt als er selbst. Ihre Funktion besteht mithin darin, die Weltwahrnehmung des figuralen Erzählers zu veranschaulichen und auf diese Weise zur Konstituierung seiner ideologischen Perspektive beizutragen. Auch wenn für die adäquate Konkretisierung des Erzählers der textexterne Maßstab des Realitätsbegriffs im Grunde völlig ausreicht, wird der Rezipient durch textinterne Faktoren in seiner Einschätzung zumeist bestätigt. In diesem Sinne fungieren etwa in Poes Kurzgeschichte die herbeigerufenen Polizeibeamten, die den Herzschlag des Verstorbenen ganz offensichtlich nicht hören, als Klassifikatoren der Realitäts(in)kompatibilität bezüglich der Behauptung des Erzählers, eben dieses Herz schlagen zu hören. Vergleichbares gilt auch für die Zapiski sumasšedšego, da Popriščin von seiner Umwelt nicht wie der König von Spanien behandelt wird, für den er sich schließlich hält, sondern schlicht wie ein Verrückter. Grundsätzlich anders ist die Ausgangssituation bei Behauptungen des Erzählers, die nicht gegen den Realitätsbegriff des Rezipienten verstoßen. In diesem Fall sind textinterne Korrektive nicht mehr länger nur eine zusätzliche Bestätigung der Wahrnehmung des Lesers, vielmehr fungieren sie hier als einzig möglicher Maßstab zur Beurteilung ihrer Korrektheit. Mit anderen Worten: Alle Behauptungen eines Erzählers, die nicht gegen den Realitätsbegriff verstoßen, haben als korrekt zu gelten, solange vom Text selbst nicht das Gegenteil indiziert wird. Wie bereits beim Kriterium der Vollständigkeit muss demnach die entsprechende Norm im Text selbst verankert sein. Und ebenso wie dort kann die Indikation für die Unkorrektheit der Erzählerrede expliziter oder impliziter Natur sein. Bei der expliziten Indikation sind, abhängig vom jeweiligen Träger der Information, zwei Varianten zu unterscheiden: Zum einen kann sich der Erzähler selbst korrigieren, zum anderen kann seine Darstellung der Ereignisse durch eine konkurrierende Darstellung einer Figur infrage gestellt werden. Beide Varianten, und damit die explizite Indikation insgesamt, sind aus folgenden Gründen auf die Instanz des figuralen Erzählers beschränkt: Die Selbstkorrektur eines Erzählers setzt ein ausgeprägtes individuelles Bewusstsein voraus, des-

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sen Wahrnehmung per se eingeschränkt und damit auch die Voraussetzung dafür ist, im Hinblick auf die darzustellenden Sachverhalte einem Irrtum allererst unterliegen zu können. Rivalisierende Darstellungen ein und desselben Sachverhalts wiederum erscheinen nur dann plausibel, wenn sich der Erzähler auf demselben Kommunikationsniveau befindet wie die entsprechende Figur.209 Die implizite Indikation findet sich hingegen in beiden Erzählsituationen. Sie liegt immer dann vor, wenn einzelne Sachverhalte im Widerspruch stehen zu Sachverhalten, die vom Erzähler bereits zuvor vermittelt worden sind. Ein drastisches Beispiel für sich gegenseitig ausschließende Sachverhalte findet sich in der 1890 publizierten Erzählung An Occurrence at Owl Creek Bridge von Ambrose Bierce. Der relativ kurze Text mit einem nichtfiguralen Erzähler besteht aus drei Teilen, dessen erster nahezu ausschließlich aus deskriptiven Passagen besteht. Geschildert wird hier die Situation kurz vor der Hinrichtung des Zivilisten Peyton Farquhar im amerikanischen Bürgerkrieg, wobei der Schwerpunkt auf der detaillierten Beschreibung der Rahmenbedingungen der Exekution liegt. Erst gegen Ende dieses Teils werden auch die Gedanken des Pflanzers aus Alabama mitgeteilt, die seiner Frau und seinen Kindern gelten sowie der vergeblich erscheinenden Hoffnung auf eine Flucht in letzter Minute. Da im letzten Satz des ersten Teils mitgeteilt wird, dass ein Sergeant die Hinrichtung vollstreckt, scheint diese Hoffnung endgültig zunichte gemacht. In einer Analepse liefert der zweite Teil die Vorgeschichte nach, die überhaupt erst zu dieser Exekution geführt hat. Als überzeugter Südstaatler, der nichts lieber tun würde als der konföderierten Sache in der Armee zu dienen, dies aber aus nicht näher bezeichneten Gründen nicht tun kann, lässt sich Farquhar zu einem Sabotageakt an der Owl Creek Bridge anstiften, ohne zu bemerken, dass er dabei dem Täuschungsmanöver eines Nordstaatenscouts zum Opfer fällt. Nach diesem Einschub setzt der dritte Teil die Schilderung der Exekution fort, nun allerdings dezidiert aus der Sicht des Delinquenten. Nachdem zunächst von seinen Schmerzen im Todeskampf berichtet wird, geschieht das scheinbar Unmögliche doch noch: das Seil reißt, Farquhar stürzt in den Fluss unterhalb der Brücke und entkommt schließlich auch den Schüssen der auf ihn feuernden Soldaten. Unter großen Mühen gelingt es ihm schließlich, sich nach Hause durchzuschlagen, wo ihn seine Frau bereits erwartet. Der Text endet mit den folgenden Worten: Ah, how beautiful she is! He springs forward with extended arms. As he is about to clasp her he feels a stunning blow upon the back of the neck; a blin-

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209 Wie immer in der Literatur handelt es sich auch hier um Konventionen, die gebrochen werden können, doch ist mir kein Text mit einem nichtfiguralen Erzähler bekannt, in dem eine explizite Indikation für die Unkorrektheit der Erzählerrede vorliegt.

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ding white light blazes all about him with a sound like the shock of a cannon – then all is darkness and silence! Peyton Farquhar was dead; his body, with a broken neck, swung gently from 210 side to side beneath the timbers of the Owl Creek bridge. (44f.)

Durch den letzten Satz wird die gesamte vorausgehende Schilderung der Flucht dementiert und damit als unkorrekt ausgewiesen. Auf diese Weise wird sich der Leser bewusst, dass er nicht über Ereignisse informiert worden ist, die in der dargestellten Welt tatsächlich zutreffen, sondern lediglich über die letzten Gedanken Farquhars in seinem Todeskampf. Zwar wird dem Rezipienten durch die mangelnde Plausibilität einzelner geschilderter Sachverhalte immer wieder nahe gelegt, dass es sich bei der Flucht lediglich um eine Phantasie Farquhars handelt,211 doch konkurriert diese Wahrnehmung mit der Hoffnung, der in eine Falle gelockte Pflanzer könne der Exekution vielleicht doch noch entgehen.212 Erst angesichts des Endes des Textes aber lassen sich in der Rückschau einzelne Sinneseindrücke Farquhars eindeutig als in seine Fluchtphantasie integrierte Momente seines Ringens mit dem Tod deuten, so etwa der Versuch, seine Hände von den Fesseln zu befreien (36), seine schier unerträglichen Schmerzen,213 die nachlassende Fähigkeit, Dinge voneinander unterscheiden zu können (41), das Anschwellen seiner Zunge (44), bis hin zum zeitweiligen Verlust des Bewusstseins (44). Be-

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210 Die Seitenzahlen beziehen sich auf Bierce (1909). 211 Wie schon bei Poe spielt auch in diesem Text die Wahrnehmung des Protagonisten, die die Gesetze der Physik überschreitet, eine entscheidende Rolle: „He noted the prismatic colors in all the dewdrops upon a million blades of grass. The humming of the gnats that danced above the eddies of the stream, the beating of the dragon-flies’ wings, the strokes of the waterspiders’ legs, like oars which had lifted their boat – all these made audible music. A fish slid along beneath his eyes and he heard the rush of its body parting the water.“ (38) Zudem glaubt Farquhar, vom Fluss aus die Augenfarbe eines der auf ihn feuernden Schützen erkennen zu können (39). 212 Nur nebenbei sei bemerkt, dass nach demselben Prinzip auch Christian Petzolds Film „Yella“ aus dem Jahr 2007 funktioniert, wie bereits Frank Zipfel (2011, 127, Fußnote 56) bemerkt hat. Scheint sich die von Nina Hoss verkörperte Protagonistin nach einem von ihrem Ex-Freund bewusst herbeigeführten Autounfall zunächst noch retten und all ihre Träume von einem besseren Leben erfüllen zu können, wird am Ende des Films die Unfallszene noch einmal widerholt, nur dass dem Zuschauer dieses Mal gezeigt wird, dass Yella ebenso wie ihr Ex-Freund dabei ums Leben gekommen ist. Dass der Unfallfahrer seinen Wagen von einer Brücke in einen Fluss stürzen lässt, kann durchaus als intertextueller Verweis auf die berühmte Erzählung von Bierce gewertet werden. Im Film ist es jedenfalls u. a. das von Yella immer wieder gehörte Gluckern des Wassers in ihrem Ohr, welches dem Zuschauer signalisiert, dass mit der dargestellten Welt etwas nicht in Ordnung ist. 213 „His neck ached horribly; his brain was on fire; his heart, which had been fluttering faintly, gave a great leap, trying to force itself out at his mouth. His whole body was racked and wrenched with an insupportable anguish!“ (37)

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sonders aufschlussreicht ist allerdings die folgende Textpassage: „The black bodies of the trees formed a straight wall on both sides, terminating on the horizon in a point, like a diagram in a lesson in perspective.“ (43) Bemerkenswert ist hier nicht so sehr die erneute Integration von Realitätsmomenten in die Fluchtphantasie,214 sondern der Vergleich am Ende des Satzes, der sich als metafiktionaler Kommentar zum gesamten Text verstehen lässt. Durch dessen spezifische Gestaltung gelingt es Bierce nämlich nicht nur, dem Leser eine Ahnung vom Todeskampf eines Strangulierten zu vermitteln,215 vielmehr erteilt er ihm in der Tat eine Lektion über Perspektive in der Literatur.216 Hierzu zählt neben dem Wechsel von einer dominanten Außen- zu einer dominanten Innenperspektive und der beständigen Vermischung von Realität und Phantasie auch die nachträgliche Dementierung des vorangegangenen Geschehens. Die Unkorrektheit der Erzählerrede trägt hier also dazu bei, dem Leser die Konsequenzen bestimmter narrativer Techniken für den Lektüreprozess und damit auch ganz grundsätzlich die Möglichkeiten zur Manipulation des Gegenübers mithilfe bestimmter sprachlicher Strategien vor Augen zu führen. Wie bereits Cathy N. Davidson (1984, 45–55) gezeigt hat, entsteht auf diese Weise eine Korrespondenz zwischen textinternem und textexternem Bereich: So wie Farquhar sich von der Kriegsrhetorik und dem Nordstaatenscout hat täuschen lassen, so sieht sich möglicherweise auch der Leser am Ende des Textes getäuscht, wenn er die Signale für die Irrealität der Flucht des Protagonisten nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit wahrgenommen hat.217 Fälle einer impliziten Indikation der Unkorrektheit der Erzählerrede bei einem figuralen Erzähler wurden oben am Beispiel von The Tell-Tale Heart und den Zapiski sumasšedšego bereits angeführt. In beiden Texten bestätigt das geschilderte Geschehen den Leser in seiner Einschätzung des Geisteszustands des jeweiligen Erzähler-Protagonisten, so dass der Widerspruch zwischen den Handlungen der anderen Figuren und den Aussagen des Erzählers zu dessen indirekter Charakterisierung beiträgt. Um eine implizite Indikation der Unkorrektheit der Erzählerrede han-

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214 Die „black bodies of the trees“ korrespondieren mit dem Wald, in dem die Schienen verschwinden: „the railroad ran straight away into a forest for a hundred yards, then, curving, was lost to view.“ (28) 215 Das ausgeprägte Interesse von Bierce an Todeserfahrungen gerade im Zusammenhang mit Exekutionen dokumentiert Blume (2004, 211–243). 216 So bereits Stuart C. Woodruff (1964, 159), ohne jedoch genau auf diese „Lektion“ einzugehen. Vergleichsweise ausführlich beschäftigt sich damit F. J. Logan (1982, 202–206). 217 Auch hier gibt es eine Parallele zwischen der Erzählung von Bierce und dem Film von Petzold. So wie Farquhar der Kriegsrhetorik mit ihrem falschen Heroismus zum Opfer fällt, erliegt Yella den Verheißungen des Neoliberalismus und ist schließlich sogar bereit, für ihren materiellen Erfolg über Leichen zu gehen.

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delt es sich schließlich auch bei den Daten aus Popriščins Tagebuch in den Zapiski sumasšedšego. Erscheinen sie zunächst noch völlig unproblematisch (3. Oktober, 9. November, 5. Dezember usw.) kippen sie im Verlauf des Textes ins Absurde (43. April 2000 [160], 86. Martober [160] etc.). Während dem Erzähler dieser Widerspruch überhaupt nicht bewusst ist, signalisiert er dem Leser, dass Popriščin endgültig den Verstand verloren hat. In The Grotesque von Patrick McGrath wiederum findet sich ein Beispiel für den expliziten Widerspruch zwischen den Aussagen einer Figur und den Behauptungen des Erzählers. Während Sir Hugo davon überzeugt ist, sein Butler Fledge habe Sidney Giblet ermordet, behauptet dagegen George Lecky, dass Sir Hugo der Mörder sei. Zwar liefert Sir Hugo selbst ungewollt nicht wenige Hinweise für die Richtigkeit von Leckys Version des Geschehens, doch wird sie für den Leser erst durch dessen Aussage gleichsam zur Gewissheit.218 Auf diese Weise wird zudem die Intention Sir Hugos, den Leser von seiner Theorie zu überzeugen, unterminiert. In The Grotesque erfüllt der explizite Widerspruch zwischen den Behauptungen des Erzählers und denjenigen einer anderen Figur somit eine doppelte Funktion: Zum einen gibt er – wenn auch nicht für den Handlungsverlauf in der dargestellten Welt, da Lecky ja hingerichtet wird, so doch zumindest für den Rezipienten – den entscheidenden Hinweis zur Lösung des Mordfalls. Zum anderen trägt auch er zur indirekten Charakterisierung des Erzählers bei, da er dem Leser einmal mehr verdeutlicht, dass Sir Hugos Weltwahrnehmung höchst problematisch ist. Das Verfahren rivalisierender Versionen ein und desselben Geschehens kann, wie etwa bei McGrath, punktuell eingesetzt oder aber zum Konstruktionsprinzip eines gesamten Werkes gemacht werden. Ein Beispiel hierfür ist die Erzählung Im Dickicht von Ryūnosuke Akutagawa aus dem Jahr 1921.219 Sie besteht aus sieben Aussagen vor einem Untersuchungsrichter, der den gewaltsamen Tod von Kanazawa no Takehiko aufklären soll, dessen Frau unmittelbar zuvor vor seinen Augen vergewaltigt worden ist. Auf die vier Aussagen eines Holzfällers, eines fah-

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218 Die Einschränkung erfolgt deshalb, weil eine letzte Bestätigung im Text fehlt. Ursache hierfür ist die bis zuletzt dominierende Perspektive von Sir Hugo. Auch wenn die Korrektheit der einen oder der anderen Position in diesem Fall also nicht mit letzter Sicherheit zu bewerten ist, so steht aufgrund der Hinweise im Text völlig außer Zweifel, dass die Version von Lecky ein deutlich höheres Maß an Plausibilität für sich beanspruchen kann. 219 Da der Verfasser dieser Arbeit kein Japanologe ist, sei ihm nachgesehen, wenn er im Fall von Im Dickicht auf die deutsche Übersetzung (Akutagawa 2001) zurückgreift. Auf diesem Text sowie der ebenfalls von Akutagawa verfassten Erzählung Rashomon (1915) basiert, nebenbei bemerkt, der gleichnamige Film von Akiro Kurosawa aus dem Jahr 1951.

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renden Priesters, eines freigelassenen Sträflings und der Schwiegermutter des Toten, in denen u. a. vom Fund der Leiche und der Gefangennahme des mutmaßlichen Täters, des Räubers Tajomaru, berichtet wird, folgen drei Schilderungen des Verbrechens durch die Tatbeteiligten selbst, wobei der Getötete durch ein Medium zu Wort kommt. Diese Schilderungen weichen allerdings in ganz wesentlichen Punkten voneinander ab, nicht zuletzt auch in der Frage, wer den Tod Kanazawa no Takehikos tatsächlich zu verantworten hat. Während Tajomaru behauptet, ihn im Zweikampf getötet zu haben, beteuert die Witwe, ihren Gatten selbst ermordet zu haben, weil sie die Vorstellung nicht ertragen habe, ihr Mann würde als Zeuge ihrer Schändung weiterleben. Der Tote gibt schließlich an, durch seine eigene Hand gestorben zu sein, da seine Frau sich nach dem erzwungenen Beischlaf nicht nur zu Tajomaru bekannt, sondern diesen sogar aufgefordert habe, ihn zu töten. Entscheidend ist nun, dass alle drei Versionen des Tathergangs gleichberechtigt nebeneinander stehen, da sich der Rahmenerzähler darauf beschränkt, die verschiedenen Aussagen mit je einem einzigen Satz einzuleiten. Für eine Beantwortung der Frage, welcher der drei Binnenerzähler die Wahrheit sagt, fehlt somit der Maßstab. Bei einer derart multiperspektivischen Präsentation ein und desselben Geschehens kann deshalb sinnvollerweise nicht von einer semantischen Markierung der Erzählerrede gesprochen werden. Zwar geht es bei einer derartigen Textgestaltung immer noch um die Frage der Korrektheit der verschiedenen Versionen, doch ist diese, anders als bei McGrath, nicht mehr plausibel zu beantworten. Da auf diese Weise der Maßstab der Korrektheit zur Beurteilung unterschiedlicher Versionen indirekt selbst infrage gestellt wird, avanciert zum eigentlichen Thema die Relativität der menschlichen Erkenntnis, die nicht nur in Relation zur individuellen Wahrnehmung steht, sondern auch zu den Interessen der jeweiligen Sprecher.220 Diese

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220 Unter funktionalem Aspekt ist Im Dickicht mit Karel Čapeks Roman Hordubal aus dem Jahr 1933 vergleichbar, in dem aus unterschiedlichen Perspektiven der Mord an der gleichnamigen Hauptfigur geschildert wird. Da diese Schilderung jedoch nicht durch verschiedene figurale Erzähler erfolgt, sondern aus der Figurenperspektive im Rahmen eines nichtfiguralen Erzählers, liegt auch hier fraglos keine semantische Markierung der Erzählerrede vor. Der Vergleich dieser beiden Beispiele veranschaulicht aber erneut das flexible Form-Funktionsgefüge in der Literatur, da Multiperspektivität und in deren Folge auch die Thematisierung der Relativität der Erkenntnis auf ganz unterschiedlicher formaler Basis realisiert werden kann. Ein anderes Beispiel hierfür wäre Karel Čapeks Roman Povětroň (Der Meteor) aus dem Jahr 1934, in dem zwar drei figurale Erzähler unterschiedliche Versionen der Lebensgeschichte eines bis zur Unkenntlichkeit entstellten Patienten zum Besten geben, doch da es sich bei diesen Geschichten um die Imagination des jeweiligen Sprechers handelt, die auch als solche gekennzeichnet ist (die Träume einer Nonne, die Version eines Hellsehers sowie das Material eines Schriftstellers für eine Erzählung) und damit das Kriterium der Korrektheit von Beginn an außer Kraft gesetzt ist, kann auch hier

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funktionale Differenz gegenüber McGraths Roman hat ihre Basis auch in einer formalen Differenz zwischen einer solchen Multiperspektivität und der semantischen Markierung. Während sich Letztere daraus ergibt, dass die zweite Perspektive in die erste integriert ist, dass also Sir Hugo George Lecky in seiner Erzählerrede quasi zitiert, stehen bei Ersterer die jeweiligen Perspektiven für sich und wechseln einander ab.221 Wenn diese spezifische Form der Textgestaltung hier dennoch kurz angesprochen wurde, obwohl sie nicht unter die Kategorie der semantischen Markierung fällt, so lediglich um der Klarheit willen, da in der unreliability-Forschung unter kognitiven Vorzeichen gerne alles ohne große Umstände miteinander vermengt wird.222 Während Sir Hugo auf seiner Version des Geschehens beharrt, obwohl ihm der Widerspruch zu Leckys Behauptung bewusst ist, und er dem Leser als vermittelnde Instanz gerade deshalb problematisch erscheint, signalisiert die Selbstkorrektur des Erzählers dessen Einsicht in seinen Irrtum. Grundsätzlich können sich die korrigierten Sachverhalte entweder auf das vermittelte vergangene Geschehen beziehen oder auf den Vermittlungsvorgang selbst. Ein Beispiel für die Korrektur der Dar-

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von einer semantischen Markierung keine Rede sein. Zu beiden Texten von Čapek vgl. Ohme (1997, 80–83). 221 Gleichsam eine Mittelstellung zwischen The Grotesque und Im Dickicht nimmt Juli Zehs 2012 erschienener Roman Nullzeit ein. Von der Erzählstrategie ähnelt er der Erzählung Akutagawas. Die in ihm geschilderte Dreiecksbeziehung zwischen dem Tauchlehrer Sven Fiedler, seiner Schülerin, der Schauspielerin Jolante von der Pahlen, und deren Lebensgefährten, dem Schriftsteller Theodor Hast, wird parallel aus zwei Perspektiven präsentiert: dem nach Abschluss des eigentlichen Geschehens angefertigten schriftlichen Bericht Fiedlers und dem Urlaubstagebuch von der Pahlens. Beide Darstellungen widersprechen sich in vielen Punkten diametral, nicht zuletzt auch in der zentralen Frage, ob es zwischen beiden zum Geschlechtsverkehr gekommen ist. Der letztlich nicht geglückte Mordanschlag auf Hast, für den Fiedler seine Schülerin verantwortlich macht, wird jedoch nur aus seiner Sicht entworfen, da von der Pahlen aufgrund der überstürzten Abreise ihr Tagebuch nicht mehr weiterführen konnte. Verschiedene Indizien auf der Handlungsebene deuten allerdings darauf hin, dass von den rivalisierenden Perspektiven diejenige von der Pahlens die vorausgegangenen Sachverhalte zutreffend darstellt, so dass der Verdacht, den Mordversuch begangen zu haben, trotzdem auf Fiedler fällt. In dieser Hinsicht ähnelt Nullzeit wiederum The Grotesque, denn auch wenn der Leser letztlich keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Schuldigen erhält, erscheint eine Täterschaft Fiedlers deutlich plausibler, weshalb hier durchaus von einer semantischen Markierung im Sinne der Unkorrektheit gesprochen werden kann. Dennoch steht die indirekte Charakterisierung Fiedlers nicht in demselben Maße im Vordergrund wie bei Sir Hugo. Vielmehr thematisiert der Roman anhand des Fehlens eines eindeutigen textinternen Maßstabs für die Täterschaft mithilfe der Multiperspektivität in erster Linie das Problem von Schein und Sein, Lüge und Wahrheit, das auf der Ebene der Symbolik in den Berufen der Schauspielerin und des Schriftstellers bereits angedeutet ist. 222 So zählt etwa A. Nünning (1998c, 28) die „multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unterschiedlicher Versionen desselben Geschehens“ zu den textuellen Signalen für die unreliability eines Erzählers.

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stellung lange zurückliegender Ereignisse findet sich in The Remains of the Day. Hier stellt Stevens einen Zusammenhang zwischen zwei Situationen her, der sich im fortschreitenden Prozess der Erinnerung als falsch erweist, so dass er ihn revidieren muss. Berichtet er zunächst davon, sich vorgestellt zu haben, Miss Kenton sitze wegen der Nachricht vom Tod ihrer Tante weinend in ihrem Zimmer in Darlington Hall (176), gesteht er sich am nächsten Tag ein, hier etwas verwechselt zu haben: It occurs to me that elsewhere in attempting to gather such recollections, I may well have asserted that this memory derived from the minutes immediately after Miss Kenton’s receiving news of her aunt’s death; that is to say, the occasion when, having left her to be alone with her grief, I realized out in the corridor that I had not offered her my condolences. But now, having thought further, I believe I may have been a little confused about this matter; that in fact this fragment of memory derives from events that took place on an evening at least a few months after the death of Miss Kenton’s aunt – the evening, in fact, when the young Mr Cardinal turned up at Darlington Hall rather unexpectedly. (212)

Genau an diesem Abend aber muss Miss Kenton realisieren, dass Stevens seine Dienstpflichten immer über seine Privatangelegenheiten stellen wird, so dass eine erfüllte persönliche Beziehung mit ihm definitiv ausgeschlossen ist. Die Vorstellung, Miss Kenton habe in ihrem Zimmer geweint, wird von Stevens deshalb nun mit jenem Gespräch in Verbindung gebracht, welches für sie den endgültigen Ausschlag gegeben hat, Darlington Hall zu verlassen und Mr Benn zu heiraten (226f.). Stevens Selbstkorrektur gibt einen zweifachen Einblick in seine Verdrängungsleistung und damit auch in den Versuch, seine Lebenslüge aufrecht zu erhalten: Zum einen macht sie den Gegenstand dieser Verdrängung bewusst, nämlich seine emotionalen Bedürfnisse, die ihren Kristallisationspunkt in der nicht gelebten Beziehung mit Miss Kenton haben, zum anderen aber auch die Mechanismen dieser Verdrängung, da vorgeführt wird, wie Stevens unbewusst versucht, die Verantwortung für sein eigenes Handeln zu leugnen, indem er einen anderen Sachverhalt als Ursache für Miss Kentons Gefühl der Trauer, nämlich den Tod ihrer Tante, vorschützt. Ein Beispiel für die Selbstkorrektur in Bezug auf den Vermittlungsprozess findet sich in Dostoevskijs Krotkaja. Bei dem Versuch, sich den Freitod seiner Frau zu erklären, gibt der Pfandleiher immer wieder Auskunft darüber, wie weit seine Einsicht in das eigene Handeln und das seiner verstorbenen Frau reicht. Diese Kommentare zu seinem Erkenntnisprozess zeichnen sich allerdings in erster Linie durch Widersprüche aus, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen mögen: „V tom-to i ves’ užas moj, čto ja vse ponimaju! [Mein ganzes Unglück besteht darin, dass ich alles verstehe!]“ (6) Kurz danach findet sich hingegen die folgende

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Behauptung: „Da i teper’ ne ponimaju, i teper’ ničego ne ponimaju! [Und auch jetzt verstehe ich es nicht, auch jetzt verstehe ich gar nichts!]“ (12) Vergleichbare Widersprüche gibt es auch hinsichtlich des Erinnerungsprozesses und in Bezug auf einzelne Kommentare zur Darstellung des Geschehens.223 Durch diese Selbstkorrekturen wird der Leser einerseits Zeuge davon, wie der Pfandleiher angesichts des von ihm mitverantworteten Todes seiner Frau mit sich selbst ringt, wobei hier die semantische Markierung und die Rhetorizität des Erzählers trefflich zusammenwirken. Zum anderen signalisieren die Selbstkorrekturen des Erzählers zwar eine punktuelle Einsicht in seine Unfähigkeit zu einer plausiblen Darstellung des vergangenen Geschehens, doch wird sich der Rezipient gerade dadurch bewusst, dass die Einlassungen des Pfandleihers mit Vorsicht zu genießen sind. Die semantische Markierung hat hier also einmal mehr die Funktion, die Aufmerksamkeit des Lesers für die Rolle des Erzählers im Hinblick auf eine mögliche Sinnzuweisung zu erhöhen. Völlig anders stellt sich die Situation bei den Meinungsäußerungen eines Erzählers dar. Da Meinungen stets auf Vorlieben und Überzeugungen beruhen und somit Ausdruck der mehr oder minder individuellen Weltsicht eines Sprechers sind, können sie, anders als die bisher behandelten Existenzaussagen, keine uneingeschränkte Verbindlichkeit für sich beanspruchen. Aus diesem Grund kann es für sie auch keine textinterne Norm geben, wie dies bei den Kriterien der Vollständigkeit und der Korrektheit von Tatsachenbehauptungen der Fall ist. Infolgedessen ist bei Meinungsäußerungen des Erzählers der Leser immer direkt aufgefordert, ihnen gegenüber Stellung zu beziehen. Dies wiederum setzt voraus, dass der Rezipient zum jeweils vom Erzähler beurteilten Gegenstand oder Sachverhalt selbst eine eigene Meinung hat oder sich doch zumindest ad hoc eine bilden kann. Geht es um Fragen weltanschaulicher Provenienz, so ist diese Bedingung per se erfüllt, da hier die Präsuppositionen des jeweiligen Lesers ganz automatisch zum Tragen kommen. Unproblematisch ist die Sachlage auch, wenn es sich um Realien handelt, die der Leser mehr oder weniger gut kennt, so dass er zumindest eine gewisse Vorstellung von ihnen hat. Wenn aber fiktive Gegenstände und Sachverhalte im Fokus der Bewertung stehen, ist die

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223 Im Zusammenhang mit dem Kriterium der Vollständigkeit wurde bereits ein Zitat aus Krotkaja angeführt, in dem der Pfandleiher bekennt, dass er nicht in der Lage ist, sich genau zu erinnern (8). Kurz darauf behauptet er jedoch das glatte Gegenteil: „Pomnju, ničego ne zabyl! [Ich erinnere mich, nichts habe ich vergessen!]“ (10) Hinsichtlich der Darstellung mahnt er sich zunächst selbst, seine Gedanken in wohlgeordneter Rede zu formulieren („Ja prosto rasskažu po porjadku! [Ich werde einfach der Reihe nach erzählen!]“ [6]), nur um gleich darauf zu bekennen, dass ihm eben das nicht gelingt („Mne kažetsja, ja vse putajus’... [Mir scheint, dass ich alles durcheinander bringe...]“ [6]).

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genannte Bedingung keineswegs immer erfüllt. So fehlt dem Rezipienten etwa, wie weiter oben dargelegt wurde (S.108), schlicht die notwendige Information, um selbst einschätzen zu können, ob die Charakterisierung der Hände der alten Gräfin durch den Erzähler in Tri smerti als schön als plausibel anzusehen ist oder nicht. Eine Verwendung von qualitativen Adjektiven in dieser Weise kann deshalb auch nicht auf den Erzähler zurückverweisen und ihn damit näher charakterisieren, sondern hat lediglich die Funktion, beim Leser die Vorstellung von Schönheit zu evozieren, was auch immer dieser sich darunter konkret vorstellen mag. Dass diese Vorstellung aber grundsätzlich von einer gewissen Subjektivität und deshalb relativ ist, wird in Tristram Shandy auf höchst unterhaltsame Weise veranschaulicht. Eben weil es trotz kultureller Codierung einen objektiven Schönheitsbegriff nicht geben kann, ist der Leser aufgefordert, das Bild der Witwe Wadman nach dem Vorbild der eigenen Geliebten selbst zu zeichnen, wobei vorausgesetzt wird, dass die jeweilige Geliebte auch dem eigenen Schönheitsideal entspricht. Problematisch werden qualitative Adjektive also immer erst dann, wenn der Leser zusätzliche Informationen erhält, die die Einschätzung des Erzählers fragwürdig erscheinen lassen, wie dies etwa in Ladislav Klímas Erzählung Skutečná událost sběhnuvší se v Postmortalii (Eine wahre Begebenheit, die sich in Postmortalien ereignet hat) der Fall ist. Über das Aussehen des Protagonisten Genor heißt es dort: Byl to mladík duše nešlechetné, zevnejšku však půvabného, nehledíme-li k tomu, že tváří svou byl nápadně podoben psu neb i kryse, že nos jeho byl rakovinou zcela sežrán, a že z věčně otevřené, bezzubé huby visel mu stále až na bra224 du zelený jazyk, z něhož ustavičně hnis kapal [...]. Er war ein junger Mann von unedler Seele, dafür aber von anmutigem Äußeren, sieht man davon ab, dass sein Gesicht auffällig dem eines Hundes oder auch einer Ratte glich, dass seine Nase vom Krebs ganz zerfressen war und dass ihm aus dem ewig geöffneten, zahnlosen Mund ständig die grüne Zunge bis zum Kinn herab hing, von der fortwährend Eiter tropfte [...].

Schließt man die Möglichkeit aus, dass der Erzähler seine Aussage ironisch verstanden wissen will, zumal sich im Text auch sonst keine Ironiesignale finden, ist trotz der von ihm selbst gemachten Einschränkung (nehledíme-li k tomu [sieht man davon ab]) der Widerspruch zwischen Beschreibung und Bewertung immens. Selbst wenn es kein zeitloses und kulturübergreifendes Schönheitsideal gibt, so ist doch zweifellos davon auszugehen, dass angesichts der Drastik der Schilderung kein Spielraum

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224 Zitiert nach Klímas Manuskript der Erzählung (S. 2), welches mir freundlicherweise von der Gedenkstätte für nationales Schrifttum in Prag (Památník národního písemnictví) zur Verfügung gestellt wurde.

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bleibt, um der Wertung des Erzählers folgen zu können. Wie verstörend ein solch eklatanter Widerspruch wirken kann, zeigt sich daran, dass er dem Herausgeber der erst postum publizierten Erzählung, Vojtěch Zelenka, offenbar nicht tolerabel erschien, so dass er den Text kurzerhand emendierte. Jedenfalls lautet der erste Satz des Zitats in der veröffentlichten Fassung folgendermaßen: „Byl to mladík duše nešlechetné, odpuzuícího zevnejšku; [Er war ein junger Mann von unedler Seele, abstossendem Äußeren;]“ (Klíma 1998, 191). Da das abwegig anmutende Urteil bei einem nichtfiguralen Erzähler keine Motivation in einem individuellen Bewusstsein und somit auch keine plausible Legitimation finden konnte, hielt es Zelenka offenkundig für nötig, es zu revidieren. Dabei ist ein solcher Widerspruch durchaus kein Einzelfall. Ein vergleichbares Beispiel findet sich erneut in Gogol’s Šinel’, wobei es sich hier nicht um ein Qualitätsurteil handelt, sondern um die Bewertung von Handlungen der Figuren. Es geht um die absurd erscheinende Namensfindung für Akakij Akakievič, die der Erzähler mit den folgenden Worten einleitet: Možet byt’, čitatelju ono [imja] pokažetsja neskol’ko strannym i vyiskannym, no možno uverit’, čto ego nikak ne iskali, a čto sami soboju slučilis’ takie obstojatel’stva, čto nikak nel’zja bylo dat’ drugogo imeni, i ėto proizošlo imenno vot kak. (110) Es kann sein, dass er [der Name] dem Leser ein wenig seltsam und allzu gesucht erscheinen mag, aber man darf versichert sein, dass man ihn überhaupt nicht gesucht hat, und dass sich von selbst derartige Umstände ergaben, dass es überhaupt nicht möglich war, einen anderen Namen zu geben, und das trug sich folgendermaßen zu.

Zunächst werden der Mutter von den Taufpaten aus dem Heiligenkalender die drei Namen Mokkij, Sossij und Chozdazat vorgeschlagen, die ihr jedoch aus verständlichen Gründen nicht zusagen, sind sie doch alle im russischen Kulturraum höchst ungebräuchlich. Gleiches gilt für die drei anderen Namen, die die Taufpaten erneut dem Heiligenkalender entnehmen, nämlich Trifilij, Dula und Varachasij. Auch die daraufhin vorgeschlagenen Namen Pavsikachij und Vachtisij gefallen der Mutter nicht, so dass sie sich am Ende dazu entschließt, den Sohn einfach nach dem Vater zu nennen. Zum Abschluss der Taufszene bekräftigt der Erzähler noch einmal seine Einschätzung der Namensgebung mit den folgenden Worten: My priveli potomu ėto, čtoby čitatel’ mog sam videt’, čto ėto slučilos’ soveršenno po neobchodimosti i drugogo imeni dat’ bylo nikak nevozmožno. (110) Wir haben dies angeführt, damit der Leser selbst sehen kann, dass dies ganz aus Notwendigkeit heraus geschah, und es völlig unmöglich war, einen anderen Namen zu geben.

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Da aber, anders als der Erzähler insinuiert, zwischen der Ablehnung der altertümlich klingenden Heiligennamen und der Benennung nach dem Vater keinerlei logische Beziehung und mithin auch keine Notwendigkeit besteht – schließlich hätte man das Kind ohne weiteres auch auf den Namen Petr oder Michail taufen können –, wird der Leser diesem Urteil in aller Regel seine Zustimmung verweigern. Ähnlich wie bei einem Verstoß gegen den Realitätsbegriff wird bei einem nichtfiguralen Erzähler auch durch solche unplausiblen Meinungsäußerungen seine rezeptionslenkende Kraft nachhaltig unterminiert. Beim figuralen Erzähler wiederum tragen sie als Ausdruck der ideologischen Perspektive erneut zu dessen indirekter Charakterisierung bei, wie anhand des Pfandleihers aus Krotkaja kurz gezeigt werden kann. Wenn gleich zu Beginn dieser Erzählung der Pfandleiher die von ihm selbst provozierte Erregung seiner zukünftigen Frau als Rebellion (bunt) bezeichnet (9), dann erscheint eine derartige Charakterisierung nicht nur überzogen, sondern ist zugleich Ausdruck seiner vom Militär geprägten Denkweise. Die unehrenhafte Entlassung aus dem Militärdienst aufgrund eines nicht geforderten Duells nach der Beleidigung seines abwesenden Vorgesetzten und das daraus resultierende Bedürfnis, sich an der Gesellschaft zu rächen, ist zudem die psychologische Motivation für das gesamte Verhalten des Pfandleihers und damit auch für den Umgang mit seiner Frau. Da diese aber zweifellos das falsche Objekt für seine Rache ist und seine Verweigerung von emotionaler Zuwendung ihr gegenüber darüber hinaus die entscheidende Ursache für ihren Suizid darstellt, vermögen alle Versuche des Erzählers, sein Handeln zu rechtfertigen, nicht zu überzeugen, auch wenn er selbst durchaus als Opfer eines unsinnigen militärischen Verhaltenskodexes erscheint. Die meisten der vom Pfandleiher in dieser Konstellation geäußerten Meinungen sind für den Leser jedenfalls kaum akzeptabel, seien sie gnomischer Art, etwa wenn er meint, Frauen, zumal recht junge, würden sich gerne einem Mann unterwerfen (15), oder seien sie auf die fiktive Welt bezogen, so beispielsweise wenn sich der Pfandleiher selbst als großmütig charakterisiert (16). Bietet der Erzähler im zweiten Fall durch die Schilderung seiner eigenen Handlungen dem Leser die Möglichkeit, dieses Urteil in Zweifel zu ziehen, so dass es auch recht eindeutig zu widerlegen ist, vertritt er im ersten eine Position, die mit dem historischen Wandel des Frauenbilds weitgehend obsolet geworden ist. Dennoch ist es notwendig, hier diese Einschränkung vorzunehmen, da nicht einfach davon ausgegangen werden kann, dass sich alle damaligen oder heutigen Leser von der Haltung des Pfandleihers distanzieren, wodurch einmal mehr deutlich wird, dass es in Bezug auf Meinungsäußerungen keine

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Norm geben kann, sondern höchstens Mehrheits- und Minderheitsvoten.225 Nicht selten wird dem Leser diese Relativität auch vor Augen geführt, etwa indem in ein und demselben Text verschiedene Weltsichten miteinander konfrontiert sind, so dass sich der Rezipient gezwungen sieht, die einzelnen Standpunkte zu reflektieren und gegeneinander abzuwägen. Als Beispiel für diese Darstellungsform führt Jurij M. Lotman den Briefroman an, speziell Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses aus dem Jahr 1782. Da er die Wirkung der so erzeugten Perspektivstruktur äußerst treffend beschreibt, sei er an dieser Stelle ausführlich zitiert: Vzaimonaloženie tekstov pisem sozdaet principial’no novoe predstavlenie ob istinnosti: ona ne otoždestvljaetsja s kakoj-libo odnoj neposredstvenno vyražennoj v tekste poziciej, a sozdaetsja peresečeniem vsech ich. Tekstual’no zafiksirovannye pis’ma obrazujut neskol’ko grupp, iz kotorych každaja – opredelennyj mir, sistemnyj vnutri sebja, so svoej vnutrennej logikoj i svoim predstavleniem ob istine. Každaja iz ėtich grupp imeet svoju, opredelenno ej prisuščuju točku zrenija. Istina, s avtorskoj pozicii, voznikaet kak nekotoryj nadtekstovnyj konstrukt – peresečenie vsech toček zrenija. Zadannost’ povedenija (naprimer, obol’ščenie ili samozaščita ot nego), predvzjatost’ ocenok mysljatsja kak nečto ložnoe. Istina že – v vychode za ograničennost’ každoj iz ėtich struktur: ona voznikaet vne teksta kak vosmožnost’ vzgljanut’ na každogo iz geroev i na každyj, pisannyj ot pervogo lica tekst s pozicii drugogo (drugich) geroev i drugich tekstov. (Lotman 1970, 327) Die Projektion der Briefe aufeinander schafft eine grundsätzlich neue Vorstellung vom Wahrheitsgehalt: er wird nicht mehr mit irgendeiner der im Text unmittelbar fixierten Positionen gleichgesetzt, sondern entsteht durch die Überschneidung aller Positionen. Die im Text fixierten Briefe bilden einige

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225 Dies gilt auch dann, wenn die betreffende Meinung als idiosynkratisch zu bezeichnen ist, die Minderheit also lediglich aus einer Person besteht. Ein Beispiel hierfür ist der Binnenerzähler aus Lev Tolstojs Krejcerova sonata, Pozdnyšev, der u. a. folgende Ansicht vertritt: „Kak morfinist, p’janica, kuril’ščik uže ne normal’nyj čelovek, tak i čelovek, poznavšij neskol’kich ženščin dlja svoego udovol’stvija, uže ne normal’nyj, a isporčennyj navsegda čelovek – bludnik. Kak p’janicu i morfinista možno uznat’ totčas že po licu, po priemam, točno tak že i bludnika. [Wie der Morphinist, der Trinker und der Raucher kein normaler Mensch mehr ist, so ist auch der Mensch, der zu seinem Vergnügen mit einigen Frauen Verkehr gehabt hat, kein normaler, sondern ein für immer verdorbener Mensch – ein Wüstling. So wie man den Trinker und den Morphinisten sofort am Gesicht, an den Manieren erkennen kann, so auch den Wüstling.]“ (19; die Seitenzahlen beziehen sich auf Tolstoj 1933) Oder ein anderes Beispiel: „Sočtite vse fabriki. Ogromnaja dolja ich rabotajut bespoleznye ukrašenija, ėkipaži, mebeli, igruški na ženščin. Milliony ljudej, pokolenija rabov gibnut v ėtom katoržnom trude na fabrikach tol’ko dlja prichoti ženščin. Ženščiny, kak caricy, v plenu rabstva i tjaželogo truda deržat 0,9 roda čelovečeskogo. [Nehmen Sie alle Fabriken. Ein riesiger Teil von ihnen stellt unnützen Zierrat, Equipagen, Möbel und Spielzeug für Frauen her. Millionen von Menschen, Generationen von Sklaven starben bei der Zwangsarbeit in den Fabriken nur für die Laune von Frauen. Wie Zarinnen halten Frauen neun Zehntel des Menschengeschlechts unter dem Joch der Sklaverei und der Schwerarbeit.]“ (26)

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Gruppen, deren jede eine bestimmte in sich systemhafte Welt mit einer eigenen inneren Logik und einer eigenen Vorstellung von der Wahrheit darstellt. Jede dieser Gruppen hat damit einen nur ihr eigenen besonderen Blickpunkt. Vom Autor her gesehen entsteht die Wahrheit als eine Art Konstrukt oberhalb des Textes – als Mengendurchschnitt aller Blickpunkte. Die Vorgegebenheit des Verhaltens (z. B. der Verführung oder des Selbstschutzes dagegen), die Vorgefaßtheit der Bewertungen erscheinen als nicht wirklich wahr. Die Wahrheit liegt vielmehr im Hinaustreten aus der Begrenztheit jeder dieser Einzelstrukturen: sie entsteht außerhalb des Textes als die Möglichkeit, jeden der Helden und jeden der in der ersten Person abgefaßten Texte vom Standpunkt eines anderen (der anderen) Helden und der anderen Texte zu betrachten. (Lotman 1993, 382f.)

Macht die Konfrontation verschiedener Weltsichten zunächst lediglich deren Relativität deutlich und fordert den Rezipienten dadurch auf, die Positionen der einzelnen Figuren und in der Folge davon auch seine eigene zu hinterfragen, so kann andererseits durch verschiedene Formen der Rezeptionslenkung die eine oder die andere dieser Positionen als plausibler gekennzeichnet sein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn im Text selbst ein Vertreter der herrschenden Mehrheitsmeinung auftritt und dem Erzähler-Protagonisten als dem Vertreter der Minderheitsmeinung offen widerspricht, wie dies etwa in The Remains of the Day zu beobachten ist. Während Stevens anlässlich eines Gesprächs im Kreise der Bekannten seiner Herbergsleute die Meinung vertritt, Würde sei genau das, was den wahren Gentleman auszeichne, plädiert Harry Smith für einen weiteren Begriff von Würde: ‘That’s what we fought Hitler for, after all. If Hitler had had things his way, we’d just be slaves now. The whole world would be a few masters and millions upon millions of slaves. And I don’t need to remind anyone here, there’s no dignity to be had in being a slave. That’s what we fought for and that’s what we won. We won the right to be free citizens. And it’s one of the privileges of being born English that no matter who you are, no matter if you’re rich or poor, you’re born free and you’re born so that you can express your opinion freely, and vote in your member of parliament or vote him out. That’s what dignity’s really about, if you’ll excuse me, sir.’ (186)

Dieses Plädoyer für Demokratie und freie Meinungsäußerung stellt den gesamten Lebensentwurf von Stevens infrage und bestätigt damit indirekt auch den Eindruck, den sich der Leser vom Erzähler-Protagonisten bis zu diesem Zeitpunkt bereits gemacht hat. Die letzten Zweifel hinsichtlich der Bewertung von Meinungsäußerungen eines Erzählers sind allerdings erst dann ausgeräumt, wenn dieser seine Position selbst revidiert. Auch hierfür kann Stevens als Beispiel dienen. Während er lange Zeit noch die Fiktion aufrecht zu halten sucht, Lord Darlington habe stets das Richtige getan, stellt sich ihm dessen Leben später dar als „at best, a sad waste“ (201). Da er aber sein eige-

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nes Schicksal untrennbar mit dem von Darlington verknüpft hat, impliziert diese Korrektur seiner Meinung auch eine veränderte Einschätzung hinsichtlich des Gelingens des eigenen Lebens. Spätestens als Stevens am Ende des Romans diese Meinungsänderung selbst explizit formuliert (243), ist für den Leser die Frage nach der Bewertung von Stevens’ zuvor formulierter Weltsicht endgültig geklärt. Nun hat aber die Diskussion von Salingers The Catcher in the Rye gezeigt, dass eine solche Eindeutigkeit bei der Bewertung der Weltsicht des Erzählers keineswegs immer gegeben ist. Auch wenn, wie oben dargelegt wurde, nicht alle Einschätzungen bezüglich des Erzählers in den entsprechenden Rezeptionsdokumenten und in der Forschungsliteratur das gleiche Maß an Plausibilität für sich beanspruchen können, ist ein Konsens hier dennoch kaum herzustellen. Gerade derartige Beispiele belegen, dass es in höchstem Maße unplausibel ist, Meinungsäußerungen und damit letztlich die Weltsicht eines Erzählers zur Grundlage einer Typologie zu machen. Greifbar wird dieses Problem jedoch nicht nur in der kontroversen Diskussion um einzelne Texte, sondern v. a. auch in der Kategorienbildung, die mit einem solchen Typologisierungsversuch zwangsläufig einhergeht. Bereits im Zusammenhang mit der Diskussion des unreliability-Konzepts ist dabei eine höchst problematische Tendenz erkennbar geworden, und zwar eine sinnentleerende Begriffsausweitung. Eine solche ist freilich unvermeidbar, wie am Beispiel des figuralen Erzählers veranschaulicht werden kann. Wenn Johann Wolfgang von Goethe „die Darstellung der Sitten, Charaktere, Leidenschaften, kurz, des inneren Menschen“ (Goethe 1986, 289) für die vorzüglichste Aufgabe der Dichtkunst hält, dann sind auf der Ebene des Erzählens für die Erfüllung dieser Aufgabe in erster Linie die introspektiven und damit figurenbezogenen Präsentationsweisen, zu denen neben dem figuralen Erzähler auch die Erlebte Rede gehört, prädestiniert. Es ist deshalb wenig überraschend, dass gerade sie im 19. und 20. Jahrhundert einen immensen Aufschwung erlebten. Weiteren Auftrieb erhielten sie durch die sich in Opposition zum Positivismus am Ende des 19. Jahrhunderts vollziehende Wendung zum Inneren, die sich im Aufkommen der Psychoanalyse ebenso niederschlägt wie in den literarischen Strömungen der Jahrhundertwende, die sich, auch wenn sie in den einzelnen Nationalliteraturen ganz unterschiedliche Bezeichnungen tragen wie etwa Symbolismus, Dekadenz, Młoda Polska etc., gerade in diesem Punkt ähneln.226

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226 Als einer von vielen möglichen Belegen für diese These sei hier der letzte Absatz aus der Vorrede zu der Erzählung Totenmesse des deutsch-polnischen Autors Stanisław Przybyszewski aus dem Jahr 1893 angeführt: „Die Erzählung, in der dies individuelle Leben speziell in Rücksicht auf den Geschlechtswillen untersucht wird, ist in der Ichform geschrieben,

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Nun wird dieses Innenleben des Menschen aber seit der Romantik als zunehmend problematisch empfunden, weshalb gerade Charaktere zur (Selbst-)Darstellung gelangen, die von der Vorstellung psychischer und sozialer Normalität abweichen. Als Beispiele hierfür können nahezu alle Texte mit einem figuralen Erzähler, die in dieser Arbeit mehr oder minder ausführlich behandelt worden sind, herangezogen werden: Zapiski sumasšedšego, The Tell-Tale Heart, Krotkaja, Aristokratka, The Murder of Roger Ackroyd, The Catcher in the Rye, The Grotesque, The Remains of the Day und Der Kameramörder. Wenn also spätestens seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Darstellung des Unkonventionellen, des Abseitigen, ja des Abnormen gleichsam zur Regel geworden ist, so hat dieser Umstand für einen Typologisierungsversuch eine doppelte Konsequenz. Zum einen hätte aufgrund der eben charakterisierten Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beinahe jeder figurale Erzähler als markiert zu gelten. Zum anderen sind die individuellen Weltanschauungen der Charaktere in ihrer jeweiligen Problematik so verschieden, dass ein Textkorpus, das auf der Basis von ideologischen Perspektiven, die von einem mehr oder minder ausgeprägten gesellschaftlichen Konsens abweichen, zwangsläufig höchst heterogen ausfallen muss. Aufgrund dieser Heterogenität aber würde eine entsprechende Typologie ihre Trennschärfe und damit ihre Funktion einbüßen. Deshalb könnte die Überlegung nahe liegen, kleinteiligere Textgruppen zu bilden, die auf je spezifischen weltanschaulichen Positionen basieren. Einen solchen Versuch unternimmt etwa Riggan (1981), wenn er – freilich immer noch im Rahmen des unreliability-Konzepts – zwischen Picaros, Clowns, Wahnsinnigen und Naiven unterscheidet. Ist diese Unterscheidung schon in sich nicht unproblematisch,227 so kann allein an der Kategorie der Naivität gezeigt werden, dass sich mit einem derartigen Versuch die oben angesprochenen Probleme keineswegs lösen lassen. Unter dieser Kategorie behandelt Riggan (1981, 144–170) Huck Finn und Holden Caulfield. Wird man bei Twains Titelfigur hinsichtlich dieser Zuordnung noch problemlos zustimmen können, so ist dies, wie die Diskussion von Salingers Roman gezeigt hat, bei Holden Caulfield nicht mehr ohne weiteres möglich. Riggan (1981, 169f.) begründet die Naivität der beiden Erzähler-Protagonisten mit deren Jugend und der damit verbundenen Unerfahrenheit in sozialen Belangen. Diese Feststel-

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weil man in ihr den intimsten Puls am besten erfassen, das leiseste Zittern des neuen, aus den Plazentahüllen des Unbewußten sich sehnenden Geistes am deutlichsten vernehmen kann.“ (Przybyszewski 1990, 10) 227 Bei Naivität und Wahnsinn handelt es sich um charakterologische Phänomene, beim Picaro steht im Hintergrund dagegen eine Gattungskonvention und der Clown passt weder in die eine noch in die andere Kategorie.

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lung wirft allerdings die Frage auf, ab welchem Alter eine Figur über genügend Lebenserfahrung verfügt, um nicht mehr als naiv zu gelten. Eine Antwort auf diese Frage ist alles andere als einfach, zumal wenn man sich den Familienvater Dr. Primrose aus The Vicar of Wakefield vor Augen führt, der ebenso naiv auf die Welt blickt wie Huck Finn, obwohl er sich in den besten Mannesjahren befindet. Ein noch drastischeres Beispiel ist Stevens aus The Remains of the Day, der sich bereits dem Greisenalter nähert und dem dennoch ein hohes Maß an Naivität nicht abgesprochen werden kann. Diese Fälle belegen, dass es bei der Bewertung der ideologischen Perspektive immer auch darum gehen muss, deren je spezifische Motivierung mit ins Kalkül zu ziehen. Wegen dieser Motivierung erscheint Hucks Perspektive dem Leser, auch wenn er diese selbst nicht teilen wird, durchaus angemessen, während dies bei Stevens keineswegs der Fall ist. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit: Der figurale Erzähler kann aus erzählstrategischen Gründen ganz bewusst die Perspektive des erlebenden Ich einnehmen. Handelt es sich bei diesem erlebenden Ich aber um einen Jugendlichen, dann wird diese Perspektive zwar möglicherweise naiv erscheinen, doch ist sich der Leser bewusst, dass die vermittelnde Instanz zum Zeitpunkt des Erzählens bereits über ein weitaus größeres Weltwissen verfügt und die Dinge, die ihr damals noch unverständlich erschienen sind, mittlerweile durchschaut. Ein Beispiel hierfür wäre Vladimir Petrovič aus Turgenevs Pervaja ljubov’, ein anderes Kathy H. aus Ishiguros Never Let Me Go.228 Selbst unter dem bereits eingegrenzten Aspekt der Naivität entsteht auf diese Weise also ein höchst heterogenes Textkorpus, weil die Reduzierung der ideologischen Perspektive auf ein bestimmtes charakterologisches Merkmal der Komplexität dieses Phänomens nicht gerecht zu werden vermag. Zudem wirft die Typologie von Riggan noch eine weitere Frage auf, nämlich warum er gerade diese vier Kategorien auswählt und keine anderen. Da es sich bei ihnen – zumindest in der Tendenz – um charakte-

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228 Auch wenn es mittlerweile im Grunde unnötig ist, können am Beispiel von Turgenevs Erzählung noch einmal sehr schön die Aporien des unreliability-Konzepts aufgezeigt werden. Aufgrund der dominierenden Perspektive des 16-jährigen, der weder das Verhältnis seines Vaters zu der von ihm angebeteten Zinaida durchschaut noch die sexuellen Implikationen versteht, die mit dem Peitschenhieb verbunden sind, den sein Vater Zinaida versetzt, hätte Vladimir Petrovič als unreliable zu gelten. Da er diese Perspektive bewusst wählt, obwohl er als Mann von etwa 40 Jahren mittlerweile über das entsprechende Verständnis verfügt, macht ihn erst recht unreliable, weil er seine Geschichte eben nicht auf der Basis seines heutigen Kenntnisstandes vermittelt. Da er dies aber nicht in Täuschungsabsicht tut, sondern um die damalige Situation möglichst authentisch zu vergegenwärtigen und damit auch die Spannung zu erhöhen, hätte er dann doch wieder als reliable zu gelten. Noch einmal also wird deutlich, dass diese Kategorie mehr Verwirrung stiftet, als dass sie dazu beiträgt, Erzähler präzise zu beschreiben.

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rologische Merkmale und damit um Figureneigenschaften handelt, mit denen die jeweilige Weltsicht korrespondiert, könnten natürlich auch ganz andere Kategorien gebildet werden. Wie wäre es beispielweise mit katholischen oder protestantischen, mit heterosexuellen oder homosexuellen, mit politisch eher links oder rechts orientierten Erzählern?229 Schließlich wird es immer Leser geben, die sich mit der einen oder der anderen Position nicht identifizieren können. Auch wenn die Anzahl derartiger Merkmale eines Erzähler-Protagonisten nicht unbegrenzt ist, so ist sie doch sehr groß und zeichnet sich durch ihr breites Spektrum an weltanschaulichen Themen aus. Demgemäß könnte auch eine entsprechende Zahl an Kategorien gebildet werden, die ihrerseits extrem heterogen sind. Eine darauf aufbauende Typologie hätte deshalb zwangsläufig, wie schon bei Riggan zu konstatieren war, den Charakter der Beliebigkeit, und führte sich deshalb selbst ad absurdum. Es konnte mithin der Nachweis geführt werden, dass das Phänomen der ideologischen Perspektive nicht nur wegen der fehlenden Norm für eine Erzählertypologie völlig ungeeignet ist, sondern auch wegen seiner erzählstrategischen Komplexität und der Vielfalt der hierfür infrage kommenden Merkmale. Auch wenn die ideologische Perspektive bei der Erfassung und Beschreibung von Erzählerfiguren eine zentrale Kategorie darstellt, so ist sie aus den genannten Gründen doch nicht im Rahmen der semantischen Markierung des Erzählers zu behandeln. Vor einem kurzen Resümee gilt es um der Präzision und der Vollständigkeit willen noch drei weitere Phänomene aus der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Erzählertypologie auszuschließen. Es gibt Texte, die das Kriterium der Korrektheit in Bezug auf Existenzaussagen dezidiert außer Kraft setzen, ganz unabhängig davon, ob sie von einem figuralen oder einem nichtfiguralen Erzähler getroffen werden. Ein Beispiel für einen solchen Text mit einem figuralen Erzähler wurde weiter oben bereits angeführt, nämlich Akutagawas Erzählung Im Dickicht, in der verschiedene Varianten ein und desselben Geschehens gleichberechtigt nebeneinander stehen, ohne dass der Text einen Maßstab bereithält, der es dem Leser erlauben würde zu beurteilen, welche der Versionen die zurückliegenden Sachverhalte zutreffend wiedergibt. Eine vergleichbare Erscheinung findet sich in Genrich Sapgirs kurzem Text Očernitel’ (Der Anschwärzer), in dem der Suizid eines Redakteurs durch einen nichtfiguralen Erzähler in unmittelbarer Folge zweimal entworfen wird:

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229 Die genannten Kategorien haben keinen exklusiven Charakter. Man könnte hier genauso gut jede andere Konfession, sexuelle Orientierung oder politische Überzeugung anführen. Eine vergleichbare Problematik zeichnet sich im Übrigen auch bei Flaker (1975, 51–82) ab, wenn er im Rahmen seines Konzepts der Jeans-Prosa zwischen intelligenten, infantilen und brutalen Erzählern unterscheidet.

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Redaktor vzjal černyj pistolet i zastrelilsja. (Variant.) Redaktor nasypal černyj jad v svoj černyj kofe, upal so stula – srazu počernel. (Sapgir 1997, 241) Der Redakteur nahm eine schwarze Pistole und erschoss sich. (Variante.) Der Redakteur schüttete sich schwarzes Gift in seinen schwarzen Kaffee, fiel vom Stuhl und wurde sofort schwarz.

Auch wenn in beiden Fällen das Verfahren dasselbe ist, nämlich die Konfrontation miteinander nicht vereinbarer Darstellungen ein und desselben Sachverhalts, ist dessen Wirkung je nach der spezifischen Erzählsituation eine andere. Bei figuralen Erzählern signalisieren die unterschiedlichen Varianten deren Interessengeleitetheit, da sie das Geschehen jeweils so wiedergeben, dass sie selbst in einem möglichst vorteilhaften Licht erscheinen. In diesem Sinne ist die Multiperspektivität in Akutagawas Text auch als motiviert zu bezeichnen. Bei einem nichtfiguralen Erzähler hingegen fehlt das Interesse, sich in einer bestimmten Weise zu präsentieren. Die beiden voneinander abweichenden Darstellungen der Selbsttötung des Redakteurs machen dem Rezipienten deshalb in erster Linie bewusst, dass das Kriterium der Korrektheit der Aussagen nicht nur für die Figurenrede gilt, sondern auch für die Rede des Erzählers, und dass er die Korrektheit von dessen Aussagen normalerweise einfach voraussetzt. Da nun aber zwei Varianten angeboten werden, ohne dass der Text Hinweise dafür enthält, welche von beiden stimmt, verdeutlicht er, dass diese Korrektheit keineswegs per se gegeben ist, sondern nichts anderes als eine Konvention der literarischen Kommunikation. Daraus resultiert nicht nur ein metafiktionales Spiel, das den Leser zum Nachdenken über die Funktionsweise von Literatur anregen kann, sondern ganz allgemein zum Nachdenken über die Funktionsweise von Sprache und ihre Fähigkeit, die außersprachliche Realität zu repräsentieren. In diesem Sinne ist Sapgirs Erzählung zweifellos als typisch postmodern zu bezeichnen. Da die beiden kurz besprochenen Texte also die Frage nach der Korrektheit der unterschiedlichen Varianten zwar stellen, die Möglichkeit ihrer Beantwortung aber ausgeschlossen ist, weil der Text den hierfür notwendigen Maßstab nicht mitliefert, können die jeweiligen Erzähler nicht als semantisch markiert gewertet werden. Dasselbe trifft, wenn auch aus einem anderen Grund, ebenso für Karol Sidons Erzählung Maminka zpívá druhý hlas (Mutter singt die zweite Stimme) zu. In ihr schildert ein namenloser figuraler Erzähler eine Reihe von Begebenheiten, die massiv gegen den Realitätsbegriff des Lesers verstoßen. So muss er zunächst feststellen, dass ihm sein Spiegelbild abhanden gekommen ist, nur um sich daraufhin in einem anderen Spiegel als neunjährigen Jungen zu sehen, der dann auch noch durch den Spiegel in jene Welt hinübertritt, in der sich der erwachsene Be-

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trachter bereits befindet. Nach einer gemeinsamen Autofahrt durch Prag, in deren Zusammenhang die Anwesenheit des Kindes durch eine weitere Figur auch beglaubigt wird, kehrt der Junge schließlich wieder in seine eigene Welt zurück, in die nun allerdings auch der erwachsene Erzähler Einblick nehmen kann, so dass er, und damit endet der Text, den Jungen, also sich selbst, und seine Mutter singen hört. Entscheidend ist dabei nun, dass der figurale Erzähler auf diese Ereignisse zunächst mit der für die Phantastik charakteristischen Unschlüssigkeit reagiert, alsbald jedoch diese Ereignisse als real akzeptiert, auch wenn er sie sich nicht erklären kann. Nachdem aufgrund dieses Sinneswandels des Klassifikators der Realitätskompatibilität die Konventionen der Phantastik außer Kraft gesetzt sind und der Text zudem keinen anderen Konventionen folgt, die das Unerklärliche erklärbar machen könnten,230 bleibt für den Rezipienten als letzte Erklärungsmöglichkeit die Annahme, dass der Erzähler, so wie etwa auch Popriščin, nicht bei Verstande ist. Dem steht jedoch entgegen, dass sich der Erzähler der eigentlichen Ausgeschlossenheit seiner Erlebnisse durchaus bewusst ist, wie er gleich in den ersten Sätzen des Textes zu erkennen gibt: Někdo řekne, že jsem si tento příběh vymyslel. Neříkám ani tak, ani tak. Možná vymyslel, možná nevymyslel. Nějak se v poslední době zapomíná, že se ledacos stává. (Sidon 1980, 171) Irgendjemand wird sagen, dass ich mir diese Geschichte ausgedacht habe. Ich sage dazu weder ja noch nein. Vielleicht habe ich sie mir ausgedacht, vielleicht habe ich sie mir nicht ausgedacht. Irgendwie wird in der letzten Zeit vergessen, dass sich so allerhand zuträgt.

Dadurch, dass der Erzähler die Möglichkeit einräumt, sich die Geschichte selbst ausgedacht zu haben, wird im vorliegenden Fall der außertextuelle Maßstab des Realitätsbegriffs außer Kraft gesetzt, da in der Imagination grundsätzlich alles möglich ist. Der erste Absatz von Sidons Erzählung kann somit als Leseanweisung verstanden werden, die dem Leser keine abbildhafte, sondern eine allegorische Lesart des Textes nahe legt. In diesem Sinne evoziert die Erzählung also nicht in illusionsbildender Weise eine zweite Welt, in die der Rezipient gleichsam eintauchen könnte, vielmehr handelt es sich um eine sinnbildliche Auseinandersetzung mit dem Vergehen der Zeit, mit enttäuschten Hoff-

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230 So sind Zeitreisen, die die Begegnung einer Figur mit sich selbst beinhalten, in der Science Fiction durchaus keine Seltenheit. In Sidons Text hingegen fehlen für eine derartige Erklärung ganz einfach die hierfür nötigen technischen Möglichkeiten. Auch wenn die Zeit, in der sich das Geschehen abspielt, in der Erzählung nicht benannt ist, gibt es keinen Hinweis darauf, dass das dargestellte Prag nicht auch das des zeitgenössischen Rezipienten ist.

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nungen und dem Wunsch, in den Zustand der eigenen Kindheit zurückkehren zu können.231 Die angeführten Beispiele machen ex negativo noch einmal deutlich, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit das Kriterium der Korrektheit überhaupt zur Anwendung gelangen kann: 1. Der Erzähler muss die klar erkennbare Intention verfolgen, Existenzaussagen zu treffen, die eine Beurteilung nach dem Kriterium ihrer Korrektheit erlauben. 2. Der Leser muss, je nach dem Gegenstand der Aussage, über einen textexternen oder textinternen Maßstab verfügen, der eine solche Beurteilung zweifelsfrei ermöglicht. Alle anderen Fälle entziehen sich dem Kriterium der Korrektheit und sind infolgedessen auch nicht mit der Kategorie der semantischen Markierung zu erfassen. Auch einem anderen Phänomen, nämlich der Überschreitung der Perspektive eines figuralen Erzählers, verstanden hier als Standort der vermittelnden Instanz, ist mit dieser Kategorie deshalb nicht beizukommen. Bezeichnet werden damit all jene Fälle, in denen der figurale Erzähler trotz der mit seinem figuralen Status verbundenen Einschränkungen über jene Allwissenheit verfügt, die lediglich einem nichtfiguralen Erzähler zukommen kann. Auch wenn alle hier zu behandelnden Perspektivüberschreitungen diesem einen Muster folgen, lassen sich doch hinsichtlich der Intensität ihrer Überschreitung deutliche Unterschiede feststellen. Am unauffälligsten ist zweifellos jene Form der Perspektivüberschreitung, bei der ein figuraler Erzähler mit einem Erinnerungsvermögen ausgestattet ist, das die Grenzen des Vorstellbaren übersteigt. Greifbar wird sie in jenen Textpassagen, in denen der Erzähler die Rede anderer Figuren direkt wiedergibt, diese Textpassagen aber gleichzeitig so umfangreich sind, dass sie als wortwörtliches Zitat unplausibel erscheinen. So erstreckt sich beispielsweise in Huckleberry Finns Erzählbericht die direkte Rede einer einzelnen Figur bisweilen über eine ganze oder sogar mehrere Seiten.232 Wie kurz die zeitliche Distanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich auch immer sein mag, so ist die korrekte Erinnerung an derart lange Gesprächsausschnitte oder sonstige Formen direkter Rede ohne mnemotechnische Hilfsmittel ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch werden derartige Passagen im Bericht eines Erzählers vom Leser einfach toleriert, da sie lediglich die Funktion haben, das vergangene Geschehen möglichst plastisch zu vergegenwärti-

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231 Unter thematischem Aspekt steht Sidons Erzählung damit in einer Reihe etwa mit Max Frischs Stück Biographie: Ein Spiel aus dem Jahr 1967. 232 Vgl. etwa Jims Bericht von seiner Flucht (65–67) oder Sherburns Ansprache an den Mob, der gekommen ist, um ihn zu lynchen (147). Die Seitenzahlen beziehen sich auf Twain (2004).

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gen, und nicht die, den Erzähler in seiner Rolle als vermittelnde Instanz näher zu charakterisieren oder gar infrage zu stellen.233 Das Gleiche gilt für eine andere Form der Perspektivüberschreitung, auch wenn sie im Prinzip deutlich auffälliger ist, da bei ihr nicht nur das Erinnerungsvermögen des Erzählers über Gebühr strapaziert wird, sondern er sogar über ein Wissen verfügt, über das er nach der Handlungslogik eigentlich nicht verfügen dürfte. Es handelt sich hierbei in aller Regel um heterothematische figurale Erzähler, die von Sachverhalten berichten, an denen sie selbst nicht beteiligt waren, so dass sie auf die Information anderer Figuren angewiesen sind. Mit den Erzählern aus Bednaja Liza und Evgenij Onegin wurden weiter oben bereits entsprechende Beispiele angeführt. Da aber der in beiden Texten vorliegende Bruch mit der Erzähllogik der Versorgung des Lesers mit Hintergrundinformationen dient, ohne die er dem Gang der Handlung überhaupt nicht folgen könnte, wird er – so er denn überhaupt bemerkt wird – im Normalfall akzeptiert. Problematisch wird die Perspektivüberschreitung deshalb immer erst dann, wenn der figurale Erzähler von Sachverhalten berichtet, die weder ihm noch einer anderen Figur bekannt sein können. Ein solches Beispiel findet sich in Jiří Grušas Roman Dotazník aneb Modlitba za jedno město a přítele (Der Fragebogen oder Gebet für eine Stadt und einen Freund).234 In diesem Text, in dem der figurale Erzähler Jan Chrysostom Kepka anhand seiner eigenen Biographie und der Geschichte seiner Familie eine höchst idiosynkratische Chronik der Stadt Chlumec entwirft, die bis in die Zeit der so genannten Normalisierung nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 hineinreicht, findet sich gegen Ende des ersten Kapitels der folgende Satz: „Spím, zpívám a necítím žadnou bolest. [Ich schlafe, singe und habe keine Schmerzen.]“ (12)235 An sich hat dieser Satz, abgesehen von der Präsensform, die sich aber problemlos als historisches Präsens verstehen lässt, nichts Außergewöhnliches. Durch den darauf folgenden Satz verändert sich diese Wahrnehmung allerdings dramatisch. Er lautet: „Ještě 77 dní a budu. [Noch 77 Tage, und ich werde sein.]“ (12) Rückwirkend wird erkennbar, dass der Erzähler hier aus der Perspektive des erle-

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233 So beispielsweise bereits Zipfel (2011, 123). 234 In der deutschen Übersetzung lautet der Titel Der 16. Fragebogen. 235 Die Seitenzahlen beziehen sich auf Gruša (1990). Der Vorname des figuralen Erzählers spielt auf den Heiligen Johannes (354–407) an, der 397 zum Patriarchen von Konstantinopel ernannt wurde. Aufgrund seiner Redegewandtheit erhielt er den Beinamen „Chrysostomus“, also Goldmund. Die religiöse Konnotation des Namens korrespondiert auch mit dem Originaltitel von Grušas Roman, in dem der figurale Erzähler seine Redegewandtheit freilich nicht zur Bibelexegese nutzt, sondern ganz profan zu dem Versuch, den Genossen Pavlenda davon zu überzeugen, ihn in seinem Betrieb einzustellen.

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benden Ich von der Zeit vor seiner Geburt berichtet. Die mangelnde Plausibilität einer solchen Erinnerung kommt noch drastischer in all jenen Passagen zum Ausdruck, in denen der Erzähler aus der Perspektive des Ungeborenen akustische und optische Eindrücke wiedergibt, die sich seinem Gesichtsfeld zwangsläufig entziehen müssen: Ja slyším kabelku, jak tluče mamince do nohy, cítím vlání sukně, ale vůbec mi není zima. Edvín má v kapse kabátu složené České slovo, ale datum lze dobře číst, a proto si ho taky pamatuju. (9) Ich höre die Handtasche, wie sie Mutter gegen die Beine schlägt, ich spüre das Wehen des Rockes, aber mir ist überhaupt nicht kalt. Edvín hat in der Manteltasche eine zusammengefaltete „České slovo“, aber das Datum ist gut lesbar, und deshalb merke ich es mir auch.

Eine derart verfremdende Darstellung macht den Leser unwillkürlich stutzig und verhindert aufgrund der illusionsdurchbrechenden Form der Vermittlung dessen „Eintauchen“ in das Geschehen. In seiner Wirkung ist das zuletzt angeführte Beispiel einer Perspektivüberschreitung vergleichbar mit einem weiteren Phänomen, welches es aus der Kategorie der semantischen Markierung auszuschließen gilt, nämlich den grotesken und paradoxen Formen der Vermittlung. Der illusionsstörende Effekt resultiert hier nicht aus der Unmöglichkeit der vermittelten Erinnerungsinhalte, sondern aus der Unmöglichkeit des Vermittlungsvorgangs selbst. Dabei sind groteske und paradoxe Formen der Vermittlung dahingehend vergleichbar, dass beide gegen den Realitätsbegriff des Lesers verstoßen, doch besteht zwischen ihnen ein Unterschied in der Art dieses Verstoßes. Im Falle der paradoxen Vermittlungsform wird das Geschehen zwar von einer menschlichen Figur erzählt, obwohl für sie diese Vermittlerfunktion aus dem einen oder dem anderen Grund prinzipiell ausgeschlossen ist. Ein Beispiel hierfür war Sir Hugo aus Patrick McGraths The Grotesque, der aufgrund seiner körperlichen Verfassung nicht mehr in der Lage ist, schriftlich oder mündlich zu kommunizieren. Noch drastischer verfahren all jene Texte, in denen der figurale Erzähler seinen eigenen Tod berichtet wie etwa in Bohumil Hrabals Ostře sledované vlaky, in Venedikt Erofeevs bereits im Zusammenhang mit dem Kriterium der Vollständigkeit angesprochenem Roman Moskva – Petuški oder in dem 2004 erschienenen zweiten Teil von Vladimir Sorokins „Eis-Trilogie“ mit dem Titel Put’ Bro („Der Weg Bro“, in der Übersetzung lediglich als „Bro“).236

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236 Weitere Beispiele finden sich bei Deutschmann (2001), der anhand poststrukturalistischer Ansätze auch den „philosophischen, anthropologischen und literaturtheoretischen Implikationen dieses narratologischen Skandalons“ nachgeht (Deutschmann 2001, 414). Unter Zuhilfenahme der Voice-over-Technik findet dieses Verfahren immer wieder auch Anwendung im Medium Film, so etwa in Sam Mendes’ American Beauty oder in Dagmar

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Im Gegensatz dazu tritt bei der grotesken Vermittlungsform im Rahmen einer an sich abbildhaften Grundsituation ein Erzähler auf, der mit diesem Rahmen nicht zu vereinbaren ist. Ein Beispiel hierfür wäre der Binnenerzähler in Lev Tolstojs Cholstomer (Der Leinwandmesser), also das gleichnamige Pferd, welches im Laufe mehrerer Nächte den anderen Pferden auf dem Gut seine wechselvolle Lebensgeschichte mitteilt. Ließen sich die unterschiedlichen Formen der Perspektivüberschreitung noch dadurch unterscheiden, wie stark die Plausibilität des Vermittlungsvorgangs unterminiert wird, erscheinen die paradoxen und grotesken Formen der Vermittlung vor dem Hintergrund des Realitätsbegriffs allesamt abwegig. Unabhängig davon aber, in welchem Grad die Plausibilität der Vermittlung eingeschränkt ist, wird doch in keinem Fall die Frage nach der Korrektheit der vermittelten Sachverhalte selbst aufgeworfen. Auch wenn sich der Leser aufgrund der auffälligen Gestaltung des Erzählers der Konstruiertheit des jeweiligen Textes bewusst wird, so führt dieses Bewusstsein doch nicht zu einer Infragestellung der vermittelten Geschehnisse, sondern verhindert lediglich deren distanzlose Vergegenwärtigung, wodurch der Rezipient zu einer aktiven Mitwirkung am Prozess der Sinnbildung aufgefordert wird. Auch wenn die Vorzüge der Rede von einer semantischen Markierung des Erzählers gegenüber dem überkommenen Konzept der unreliability im Zuge dieses Kapitels deutlich geworden sein sollten, seien sie an dessen Ende abschließend noch einmal zusammengefasst. Ein erster Vorteil besteht darin, dass aus der Narratologie ein anthropomorphisierendes Konzept verabschiedet wird, das einer konsistenten Theoriebildung schon begrifflich alles andere als zuträglich gewesen ist. In jeglicher Verwendungsweise, also auch im wissenschaftlichen Kontext, implizieren die Lexeme „Unzuverlässigkeit“ und „Unglaubwürdigkeit“ einen Wertungsaspekt, der bei Booth in einem moralisierenden Sinn sogar in den Vordergrund gerückt worden ist. Dieser ethisch-moralische Aspekt ist nun aber in höchstem Maße problematisch, da mit ihm nicht der Erzähler in seiner Funktion als vermittelnde Instanz erfasst wird, sondern unter dem Aspekt seiner „Persönlichkeit“. Wie auch immer man als Leser zu Holden Caulfield oder Stevens stehen mag, sind sie in ihrer Funktion als Erzähler doch weder unglaubwürdig noch unzuverlässig im moralischen Sinne. Bereits anhand dieses Beispiels lässt sich folgern, dass mehr oder weniger explizit wertende Begriffe für eine Theorie, die auf eine möglichst präzise Beschreibung eines Phänomens

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Knüpfels Durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern, in dem das Leben Božena Němcovás nachgezeichnet wird.

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abzielt, grundsätzlich unangebracht sind. Die Kategorie der semantischen Markierung trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie den Konstruktcharakter der Literatur im Sinne von künstlerisch gestalteter Sprache in den Vordergrund rückt und damit den Fokus auf die Ebene des Textschemas lenkt, das jeglicher Konkretisation vorausliegt. Die semantische Markierung nimmt, mit anderen Worten, die sprachliche Faktur des literarischen Kunstwerks in den Blick, rückt dabei spezifische formale Elemente der Erzählerrede in den Fokus der Aufmerksamkeit und bestimmt im Anschluss daran deren jeweilige Funktion für die Konkretisation der vermittelnden Instanz. Gerade dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Zuweisung der Kategorie der semantischen Markierung den Anspruch auf eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Argumentation erfüllen kann. Die anthropomorphisierende Redeweise hat zudem unzulässigerweise den Blick auf die figuralen Erzähler eingeschränkt. Dieser Umstand korrespondiert freilich mit jenen Tendenzen in der Narratologie, die in erster Linie Anschluss an die derzeit modischen so genannten Kulturwissenschaften suchen, denen es zuvorderst um die Verhandlung ethischer Fragestellungen anhand von Literatur zu tun ist. Hierfür ist die moralisierende Redeweise von der unreliability eines Erzählers bestens geeignet. Die Kategorie der semantischen Markierung hingegen öffnet den Blick dafür, dass die zu konzeptualisierenden Phänomene sowohl bei figuralen als auch bei nichtfiguralen Erzählern auftreten und dementsprechend im Hinblick auf beide Formen zu bestimmen sind. Auf diese Weise lassen sich die zu beschreibenden Phänomene auch in eine allgemeine Typologie des Erzählers überführen, die als Analyseinstrument über einen universellen Anspruch und damit auch über eine entsprechend große Erklärungsmacht verfügt. Der Begriff der unreliability impliziert ferner eine kategoriale Unterscheidung nach dem Prinzip des Entweder-oder, auch wenn in Bezug auf die unreliability selbst häufig unterschiedliche Grade angesetzt werden. Eine solche schematische Dichotomie wird dem zu konzeptualisierenden Phänomen aber nicht gerecht, weshalb dann immer wieder zu Formulierungen der Art Zuflucht gesucht wird, dass die Glaubwürdigkeit bzw. die Zuverlässigkeit eines Erzählers im Laufe eines Textes durchaus erheblichen Schwankungen unterliegen könne. Das Konzept der Markierung hat demgegenüber den Vorteil, dass mit ihm bereits begrifflich die Vorstellung einer Dichotomie unterlaufen wird, da es nicht vom Charakter des Erzählers ausgeht, sondern von seinen einzelnen Äußerungen. In diesem Sinne kann die Markierung lediglich punktuell oder über den gesamten Text verstreut auftreten. Im Zusammenhang mit dieser Verteilung lässt sich die semantische Markierung dann auch

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nach der Unterschiedlichkeit ihrer Dichte beschreiben. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Bei Holden Caulfield ist die semantische Markierung – hier unter dem Aspekt der Vollständigkeit des berichteten Geschehens – lediglich punktuell anzutreffen, nämlich zu Beginn und am Ende des Textes, unabhängig davon, dass die Aussparungen mehrere Jahre bzw. mehrere Monate umfassen. Der Bericht über seine 48-stündigen Erlebnisse jedenfalls ist, von einigen wenigen unerheblichen Erinnerungslücken einmal abgesehen, als vollständig zu werten. Bei Popriščin wiederum nimmt die Dichte der semantischen Markierung, hier unter dem Aspekt der Korrektheit der vermittelten Sachverhalte, im Lauf der Erzählung zu, so dass der Leser anhand der Erzählerrede mitvollziehen kann, wie der kleine Beamte langsam dem Wahnsinn verfällt. Die der Kategorie der semantischen Markierung innewohnende Flexibilität erweist sich damit dem zu konzeptualisierenden Phänomen als deutlich angemessener. Der größte Vorteil besteht aber zweifellos darin, dass anhand der Kategorie der semantischen Markierung zwei klare Normen für die Erzählerrede formuliert werden können, eben die Vollständigkeit und die Korrektheit der vermittelten Sachverhalte, während die Zuweisung der unreliability weitgehend im Bereich der Intuition verbleibt. Deshalb bietet die Kategorie der semantischen Markierung ein größtmögliches Maß an Präzision bei der Beschreibung der Erzählinstanz, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist sie in der Lage, der Komplexität der vermittelnden Instanz gerecht zu werden, indem sie zwischen unterschiedlichen Phänomenen differenziert und all jene ausschließt, die eine Erzählertypologie zwangsläufig überfordern müssen. In erster Linie handelt es sich dabei um die Weltsicht eines Erzählers, die in vielen narratologischen Arbeiten und Textanalysen mit dem Begriff der (un-)reliability nahezu gleichgesetzt wurde und noch immer wird. Zum anderen gestatten die klar definierten Maßstäbe eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Argumentation, die für jede wissenschaftliche Tätigkeit unabdingbar ist. Last but not least erlauben diese Normen – erneut im Sinne einer größtmöglichen Präzision – eine Binnendifferenzierung der Kategorie der semantischen Markierung, die der Formen- und Funktionsvielfalt bei der Gestaltung der vermittelnden Instanz gerecht zu werden vermag und auf diese Weise allererst zu einem operationalisierbaren Analyseinstrumentarium führt. Und die Erarbeitung eben solcher Analyseinstrumente stellt immer noch eine der vornehmsten Aufgaben der Literaturtheorie dar, da ohne sie der Literaturwissenschaft jegliche Legitimation verloren geht.

4 Zusammenfassung In seinem Aufsatz O chudožestvennom realizme aus dem Jahr 1921 insistiert Roman Jakobson (1981, 723 bzw. 1994, 373) völlig zu Recht darauf, dass die Literaturwissenschaft – will sie nicht zur Causerie verkommen – einer präzisen Terminologie bedarf. In genau diesem Sinne war es die ursprüngliche Absicht der vorliegenden Arbeit, zur begrifflichen Klärung zweier Konzepte beizutragen, die als literaturwissenschaftliche Beschreibungsinstrumente weit verbreitet, in ihren jeweiligen Disziplinen, der Slavistik (bzw. der Russistik) und der Anglistik/Amerikanistik, jedoch heftig umstritten sind, nämlich skaz und unreliable narration. Dieser kontrastierende Zugriff drängte sich geradezu auf, da unterschiedliche Definitionen dieser beiden narratologischen Konzepte zahlreiche Überschneidungen aufweisen. Allerdings können bereits diese Überschneidungen als erstes Indiz für das grundlegende Problem in Bezug auf beide Fälle angesehen werden, das darin besteht, dass mit diesen Begriffen erzähltechnische Phänomene konzeptualisiert werden sollen, die überaus komplex sind. Die unter diesen Begriffen jeweils subsumierten Textmerkmale erweisen sich bei eingehender Betrachtung jedenfalls als durchaus vielfältig und heterogen, so dass bei jeder Definition andere von ihnen in den Vordergrund gerückt werden können. Deshalb ist es im Grunde auch nicht verwunderlich, dass es in beiden Disziplinen nicht gelingen konnte, zu einer tragfähigen intersubjektiven Übereinkunft in Bezug auf skaz bzw. unreliable narration zu kommen. Stattdessen wurde mit jedem neuen Definitionsversuch die Verwirrung größer und eine präzise literaturwissenschaftliche Terminologiebildung erschwert. Ein weiteres Problem besteht darin, dass diese Konzepte aus anderen Kontexten gelöst und auf den Erzähler übertragen wurden, sei es ein Gattungsbegriff aus der Folklore wie im Falle des skaz, sei es eine psychologisierende Kategorie aus der Lebenswelt im Falle der unreliability. Adäquate Beschreibungskategorien können aber lediglich vom Untersuchungsgegenstand selbst abgeleitet werden, so dass am Anfang einer jeden literaturwissenschaftlich orientierten narratologischen Theoriebildung die Einsicht stehen muss, dass ein Erzähler zunächst nichts anderes ist, als das Produkt seiner Äußerungen und mithin ein rein sprachliches Phänomen. Da die hierbei zum Tragen kommenden sprach-

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lichen Formen und Funktionen aber äußerst vielfältig sind, muss die Entwicklung eines gegenstandsadäquaten Analyseinstrumentariums für die vermittelnde Instanz entsprechend differenziert ausfallen. Als vielversprechender Ausgangspunkt hierfür hat sich die Erzählertypologie von Lubomír Doležel erwiesen, da sie mit all jenen sprachlichen Merkmalen operiert, die er bereits für die Bestimmung der Erlebten Rede erfolgreich in Anschlag gebracht hat. Doležel unterscheidet dabei zwischen den grammatischen (System der Personen und Tempora), den allokutionalen, den expressiven, den stilistischen und den semantischen Merkmalen, wobei er zudem noch das Merkmal der Deixis einführt, welches zwar für die Bestimmung der Erlebten Rede von Relevanz ist, nicht aber für eine Erzählertypologie, so dass es an dieser Stelle unberücksichtig bleiben kann. Freilich erweist sich die Kombination all dieser Merkmale aus zwei Gründen als dysfunktional. Zum einen sind nicht alle von ihnen typunterscheidend, da sie nicht zu einer Spezifizierung des Erzählers beitragen. Zum anderen geht die Kombination der Merkmale nicht selten an der Realität der literarischen Texte vorbei, so etwa wenn mit dem objektiven Er-Erzähler ein Grundtypus postuliert wird, der in der literarischen Praxis kaum anzutreffen ist, oder wenn umgekehrt eine Vielzahl von Erzählern mithilfe der Typologie nicht adäquat abgebildet werden kann. Wenn es dennoch richtig sein soll, an den sprachlichen Merkmalen nicht nur festzuhalten, sondern sogar von ihnen auszugehen, so kann die Lösung nur darin bestehen, sie nicht umstandslos miteinander zu verknüpfen, sondern sie nach ihrer jeweiligen Spezifik zu ordnen und auf der Basis dieser Ordnung dann eine Erzählertypologie zu etablieren. Aus einer solchen Typologie sind all jene Merkmale auszuschließen, die keinen typunterscheidenden Charakter haben, da sie nicht grundsätzlich zu einer Individualisierung oder doch zumindest Spezifizierung der Erzählinstanz beitragen und deshalb unterschiedslos bei allen Erzählertypen auftreten können. In dieser Hinsicht sind an erster Stelle die allokutionalen und die expressiven Merkmale zu nennen, die durch die direkte oder indirekte Apostrophe des fiktiven Adressaten bzw. durch Exklamationen, rhetorische Fragen, Selbstkommentare etc. des Erzählers zwar den Vermittlungsvorgang als solchen bewusst machen, den Sprecher aber nicht näher charakterisieren. Hierher gehören ferner weitere stilistische Elemente, die im Sinne einer Individualisierung des Sprechers als neutral zu bewerten sind wie Ellipsen, die Verwendung von Partikeln und Schaltwörtern, Sprechpausen sowie Kursivierungen als Signale für die Satzbetonung. Die aufgrund all dieser Verfahren erzeugte Sekundärillusion im Sinne Werner Wolfs, bei der sich der Erzähler je nach ihrer Dichte mehr oder minder stark zwischen das erzählte Ge-

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schehen und den Rezipienten schiebt, wirft zugleich immer auch die Frage nach der Form der Vermittlung auf. Wird diese nicht als dezidiert schriftlich ausgewiesen, so entsteht aufgrund der Spezifik der genannten Verfahren stets der Eindruck von Mündlichkeit, da alle Formen der Anrede die Anwesenheit des Kommunikationspartners implizieren und die expressiven Verfahren sowie die anderen genannten stilistischen Mittel entweder den Anschein unmittelbarer emotionaler Involviertheit des Erzählers erwecken, der in schriftlichen Texten in der Regel vermieden wird, oder bestimmte pragmatische Implikationen haben, die für die schriftliche Kommunikation nicht gelten. Diese Verfahren treten zumeist in Verbindung miteinander auf, doch reichen sie je für sich bereits hin, um den Erzähler, mit einem Begriff von Doležel, als rhetorisch auszuweisen. Bei der Textanalyse ist demnach jeder Erzähler auf seine Rhetorizität hin zu untersuchen, wobei diese natürlich mehr oder minder stark ausgeprägt sein kann. Danach lässt sich jeder Erzähler nach dem binären Schema des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins rhetorischer Verfahren qualifizieren. Ähnlich verhält es sich mit jenem Merkmal, das Doležel als semantisch bezeichnet. Er meint damit die Weltsicht einer Erzählers, also seine ideologische Perspektive, die sich in erster Linie in seinen Kommentaren und Werturteilen kundtut. Da es aber kaum Texte gibt, in denen der Erzähler nicht wertet und kommentiert, erscheint es, anders als im soeben behandelten Fall, nicht sinnvoll, für diesen Aspekt der vermittelnden Instanz eine Dichotomie auf der Basis des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins entsprechender Kommentare und Werturteile zu etablieren. Entscheidend ist hier vielmehr die Qualität dieser Kommentare und Urteile, die sich einer binären Einordnung entzieht. Plausibler erscheint es daher, von einer breiten Skala an Möglichkeiten auszugehen, an deren einem Ende die idiosynkratische Weltsicht des Erzählers steht und am anderen eine Weltsicht, die von allen Lesern geteilt werden kann. Dazwischen befindet sich ein Spektrum von Urteilen und Kommentaren, die als gruppenspezifisch bezeichnet werden können, wobei die Größe der jeweiligen Gruppe beträchtlichen Schwankungen unterliegt. Demzufolge können Werturteile und Kommentare zwar durchaus zu einer mehr oder minder großen Individualisierung des Erzählers beitragen, müssen dies aber nicht zwangsläufig. Wenn sie sich im Rahmen des common sense bewegen, tun sie dies jedenfalls nicht. Anders gelagert ist der Fall bei jenen Merkmalen, die in der vorliegenden Arbeit anhand der Konzepte der stilistischen und der semantischen Markierung gefasst worden sind, da sie grundsätzlich zu einer Individualisierung bzw. Spezifizierung der Erzählinstanz führen. Dabei ist bei der stilistischen Markierung zu unterscheiden zwischen einer In-

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dividualisierung in einem charakterologischen Sinne in Form von Dialekt, Soziolekt sowie Idiolekt und einer Spezifizierung in Form der Ornamentalistik, die nicht auf eine Individualisierung der vermittelnden Instanz im charakterologischen Sinne abzielt, sondern auf deren Poetisierung. Das Konzept der semantischen Markierung bildet hingegen eine andere Art der Individualisierung bzw. Spezifizierung des Erzählers ab. Es zeigt anhand der Kriterien der Vollständigkeit und der Korrektheit der vermittelten Sachverhalte, ob er seine Funktion als vermittelnde Instanz adäquat erfüllt oder nicht. Da die Formen der Unvollständigkeit und Unkorrektheit der Erzählerrede vielfältig sind und zudem je nach Erzählsituation in ihren Funktionen zumeist differieren, wurden anhand ihrer expliziten und impliziten Indikatoren weitere Unterscheidungen getroffen. So trägt die semantische Markierung in bestimmten Fällen dazu bei, psychische Vorgänge und Sachverhalte zu veranschaulichen, wie etwa Prozesse der Verdrängung und des Erinnerns, oder den Geisteszustand eines Erzählers. Darüber hinaus kann sie einen wesentlichen Teil der Appellstruktur eines Textes bilden, indem sie den Rezipienten zu einer erhöhten Mitarbeit bei der Sinnkonstitution auffordert. Und nicht zuletzt kann sie dem Leser bestimmte literarische Konventionen ins Bewusstsein rufen oder gar Teil eines metafiktionalen Spiels sein, um nur einige Beispiele anzuführen. Zusammen mit den grammatischen Merkmalen, die die Dichotomie von figuralem und nichtfiguralem Erzähler begründen – wobei der figurale Erzähler anhand von Gérard Genettes Kriterium der Autodiegese noch einmal in autothematische und heterothematische figurale Erzähler differenziert werden kann – ergibt sich daraus die folgende Erzählertypologie:

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1. Person Singular & Präteritum

Autodiegese

stilistische und / oder semantische Markierung

unmarkierter nichtfiguraler Erzähler







markierter nichtfiguraler Erzähler





+

unmarkierter heterothematischer figuraler Erzähler

+





markierter heterothematischer figuraler Erzähler

+



+

unmarkierter autothematischer figuraler Erzähler

+

+



markierter autothematischer figuraler Erzähler

+

+

+

Mithilfe dieser Typologie und in Verbindung mit dem Kriterium der Rhetorizität sowie des Konzepts der ideologischen Perspektive lassen sich die Erzählerinstanzen in epischen Texten hinsichtlich ihrer spezifischen sprachlichen Merkmale differenziert und präzise analysieren, und dies in einer Differenziertheit und Präzision, die von der skaz- sowie der unreliability-Forschung zwar angestrebt, aber nie erreicht worden ist.

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Register Akutagawa, Ryūnosuke 242–244, 255– 256 Im Dickicht 242–244, 255 Rashomon 242 Allrath, Gaby 118, 128, 131, 137, 144, 166, 216 Alsen, Eberhard 171, 177, 201 Anstatt, Tanja 102–103 Antor, Heinz 144, 146 Aumüller, Matthias 100 Babel’, Isaak E. 91 Bachtin, Michail M. 7, 20–29, 30, 36, 38, 70, 75, 82–85, 88, 92–93, 98, 208 Balzac, Honoré de 201 Baumbach, Jonathan 185, 187, 189, 192, 201 Belinskij, Vissarion G. 10 Bellow, Saul 211 Belyj, Andrej 7, 91, 94, 110 Bierce, Ambrose 239–241 An Occurrence at Owl Creek Bridge 239–241 Blume, Donald T. 241 Boccaccio, Giovanni 13, 154 Decamerone 13, 63, 154 Booth, Wayne C. 2–3, 117–121, 126– 128, 133–134, 147, 206, 208, 210– 212, 261 Brang, Peter 55 Brookeman, Christopher 172, 176 Bryan, James 181–182 Bryfonski, Dedria 182 Bühler, Karl 22, 32–33, 40–41

Bunin, Ivan 113 Osen’ju 113 Burns, Robert 180, 194 Busch, Dagmar 128 Busch, Ulrich 28, 225 Camus, Albert 83, 178 La Chute 83 Čapek, Karel 73, 75, 80–81, 84, 243– 244 Čintamani a ptáci 84 Historie dirigenta Kaliny 84 Hordubal 243 Povětroň 243 Povídky z druhé kapsy 73, 75, 80, 84 Povídky z jedné kapsy 80 Cervantes Saavedra, Miguel de 129 Don Quijote 129 Chandler, Raymond 176 Chatman, Seymour 69, 117, 128, 134, 165, 207 Christie, Agatha 135, 137–140, 148–151, 199–200, 205 The Murder of Roger Ackroyd 135, 137–139, 141, 143, 149, 200, 204, 233, 253 Coenen-Mennemeier, Brigitta 103 Cohn, Dorrit 65, 120, 123, 128 Conrad, Joseph 207 Lord Jim 207 Costello, Donald P. 168, 197 Cowan, Michael 168, 195, 197–200 Cox, Gary D. 73

288 Dahl, James 187 Dal’, Vladimir 91 Davidson, Cathy N. 241 Deutschmann, Peter 260 D’hoker, Elke 118, 163 Dickens, Charles 200 Doležel, Lubomír 30–31, 33, 39–73, 75, 80, 84, 93, 98–100, 102, 106, 116– 117, 126, 128–130, 132–133, 219, 234, 266–267 Dostoevskij, Fedor M. 16, 20–21, 24– 25, 28–29, 57–62, 64, 83, 87, 115, 165, 209, 230, 245 Brat’ja Karamazovy 16 Idiot 16 Krotkaja 57–62, 64, 71, 75, 83, 87, 89, 115, 165, 209, 230, 245–246, 249, 253 Zapiski iz podpolja 83, 89 Doyle, Arthur Conan 138 Drozda, Miroslav 3, 82 Ebert, Christa 121 Edwards, Duane 181 Ėjchenbaum, Boris 3, 7–16, 18–20, 29, 40, 51–52, 55–56, 65–66, 72, 74–75, 85, 90–95, 97, 109, 232 Erlich, Victor 83–84 Erofeev, Venedikt 230, 239, 260 Moskva – Petuški 230, 260 Evertson, Matt 183 Fedin, Konstantin 7, 91 Flaker, Aleksandar 172, 178, 200–201, 255 Fludernik, Monika 104, 131 Ford, Ford Madox 207 The Good Soldier 207 Freedman, Carl 198 Freise, Matthias 20–21, 27 French, Warren 172, 176–177, 195 Freunek, Sigrid, 65–66, 90

Register

Friedemann, Käte 11, 91, 97–98 Frisch, Max 258 Biographie: Ein Spiel 258 Frye, Northrop 125, 178 Frynta, Emanuel 82 Furst, Lilian R. 174, 197 Galloway, David D. 177–178 Garrard, John G. 226 Genette, Gérard 1, 12, 71, 105, 110, 154, 268 Gerigk, Horst-Jürgen 171, 192 Glavinic, Thomas 136, 139–143, 148– 151 Der Kameramörder 136, 139–143, 149–151, 204, 233, 253 Głowiński, Michał 83 Goethe, Johann Wolfgang von 252 Gogol’, Nikolaj V. 3, 7–12, 18, 29, 47– 54, 56, 72, 74, 86, 91–92, 96–97, 109, 112–113, 116, 222, 231–232, 235–237, 248 Mertvye duši 18 Propavšaja gramota 112–113, 116 Šinel’ 3, 8–12, 18, 47–53, 55–56, 59, 62–63, 71, 74, 87, 92, 96, 101–102, 109, 133, 231–232, 235–236, 248 Večera na chutore bliz Dikan’ki 18, 29, 72, 112–113 Zapiski sumasšedšego 222, 237–238, 241–242, 253 Goldsmith, Oliver 214, 216 The Vicar of Wakefield 214, 254 Goller, Mirjam 57 Gončarov, Ivan A. 68, 91 Oblomov 68 Gor’kij, Maxim 201 Grau, Marlene 72, 85 Greenblatt, Stephen 124 Grice, Paul H. 219 Grübel, Rainer 21–22

Register

Gruša, Jiří 259 Dotazník aneb Modlitba za jedno město a přítele 259 Günther, Hans 2–4, 9, 19, 83–84, 93, 114 Hamburger, Käte 103 Hammett, Dashiell 176 Haneke, Michael 139 Funny Games 139 Hašek, Jaroslav 81 Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války 81 Hempfer, Klaus W. 81 Heyd, Theresa 118, 165, 219 Hillebrandt, Claudia 119 Hitchcock, Alfred 176 The 39 Steps 176 Hodel, Robert 2, 30, 72, 110 Hof, Renate 120, 128 Holý, Jiří 2, 68, 81 Hrabal, Bohumil 80–81, 130, 260 Bambini di Praga 81 Jarmilka 81 Ostře sledované vlaky 130, 260 Smrt pana Baltisbergra 81 Taneční hodiny pro starší a pokročilé 80 Imhof, Rüdiger 149 Ingarden, Roman 215 Irving, Joanne 202 Ishiguro, Kazuo 152–167, 221–222, 254 An Artist of the Floating World 155 Never Let Me Go 254 The Remains of the Day 152–168, 200, 204, 222, 245, 251, 253–254 Ivanov, Vsevolod V. 14, 91 Iwaszkiewicz, Jarosław 77 Choinki 77

289 Jahn, Manfred 2, 128, 132, 138 Jakobson, Roman 3, 217, 265 James, Henry 126–127, 134 The Beast in the Jungle 207 The Liar 127–128 The Turn of the Screw 134 Jauß, Hans Robert 215 Jedličková, Alice 209 Jirásek, Alois 81 Jones, Ernest 178 Joyce, James 81, 211 A Portrait of the Artist as a Young Man 211 Ulysses 81 Kafka, Franz 4 Die Verwandlung 4 Kahrmann, Cordula 30, 39 Karamzin, Nikolaj M. 53–56, 87, 101, 112, 226 Bednaja Liza 53–56, 62–63, 71, 75, 87, 101–102, 112–113, 226, 259 Pis’ma russkogo putešestvennika 55 Kindt, Tom 2, 118–119, 219 Klauk, Tobias 119 Klíma, Ladislav 247–248 Skutečná událost sběhnuvší se v Postmortalii 247 Knüpfel, Dagmar 260–261 Durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern 261 Koch, Peter 65 Köppe, Tilmann 119, 219 Koževnikov, Viktor 227 Koževnikova, Kveta 65 Koževnikova, Natal’ja A. 92–93 Krasil’nikova, Elena V. 65 Krojčik, Lev E. 74, 84–86 Kurosawa, Akiro 242 Rashomon 242

290 Laclos, Pierre Choderlos de 250 Les liaisons dangereuses 250 Lange, Ulrike 116, 230 Larsson, Kristian 118, 207 Leonov, Leonid M. 91 Leskov, Nikolaj S. 7, 13–14, 21, 27, 40, 64, 72, 77, 81–82, 84–86, 89, 91, 97, 109 Leon, dvoreckij syn 14 Levša 14, 72, 77, 82, 85, 109–110, 133, 235 Očarovannyj strannik 85 Soboranje 81 Tupejnyj chudožnik 64 Zapečatlennyj angel 84–85 Žitie odnoj baby 14 Lewis, Jonathan P. 182 Liu, Alan 216–217 Lodge, David 157, 161 Löbner, Sebastian 218 Logan. F. J. 241 Lomonosov, Michail V. 55 Loskutnikova, Marija 115 Lotman, Jurij M. 250–251 Lyotard, Jean-François 182 Makanin, Vladimir 103 Laz 103 Manns, Sophia 2, 30 Martens, Gunther 118 Martin, Mary Patricia 163, 165–166, 208, 219, 221, 223 Martinez, Matias 123, 129, 135 Martínez-Bonati, Félix 129 McGrath, Patrick 135, 143–151, 242– 244, 260 The Grotesque 135, 143–150, 155, 157, 166, 204, 209, 233, 242, 244, 253, 260 McLean, Hugh 34, 72, 84, 95 Mendes, Sam 260 American Beauty 260

Register

Méral, Jean 189, 192 Merle, Robert 69 Madrapour 69 Mihailović, Dragoslav 2 Miller, Edwin H. 179 Moser, Michael 48, 50–52, 55, 74 Müller, Hans-Harald 2 Mukařovský, Jan 215 Muščenko, Ekaterina G. 74, 84–86 Nadel, Alan 174 Němcová, Božena 81, 261 Neuhäuser, Rudolf 57 Nünning, Ansgar 3–5, 118–122, 130, 134–135, 139, 151–152, 167, 207– 208, 211–213, 244 Nünning, Vera 119, 214–215 Odoevskij, Vladimir 154 Russkie noči 154 Oesterreicher, Wulf 65 Ohmann, Carol 172 Ohmann, Richard 172 Olson, Greta 118, 120, 165 Ostrovskij, Nikolaj A. 201 Ovid 227 Ars amatoria 227 Peters, Jochen-Ulrich 111–112 Petersen, Jürgen H. 104 Petry, Mike 154 Petzold, Christian 240–241 Yella 240 Pfister, Manfred 207 Phelan, James 163, 165–166, 208, 219, 221, 223 Pil’njak, Boris 7, 14, 81, 91 Golyj god 81 Pisemskij, Aleksej F. 21 Platon 189–192 Symposion 189–190, 192

Register

Plenzdorf, Ulrich 179 Die neuen Leiden des jungen W. 179 Poe, Edgar Allan 135–137, 141, 148– 151, 219, 238, 240 The Tell-Tale Heart 135–137, 140, 143, 149–151, 157, 204, 209, 219, 237, 241, 253 Prince, Gerald 108 Prutkov, Koz’ma 77 Vyderžki iz zapisok moego deda 77 Przybyszewski, Stanisław 252–253 Totenmesse 252 Puškin, Aleksandr S. 11–12, 25, 81, 88, 223–227 Evgenij Onegin 223–227, 259 Povesti Belkina 11, 25, 27, 88 Prorok 81 Ruslan i Ljudmila 226 Rais, Karel Václav 68 Kalibův zločin 68 Reckwitz, Erhard 166 Reiß, Gunter 30, 39 Remizov, Aleksej M. 7, 11, 91, 94 Renner, Karl N. 69 Rice, Martin P. 48, 77, 95–96 Ricœur, Paul 122, 125 Riggan, William 197, 200–201, 208, 253–255 Rimmon-Kenan, Shlomith 117, 133 Robbe-Grillet, Alain 101, 103, 134 La Jalousie 101, 103 Le Voyeur 134 Rohwer-Happe, Gislind 118 Rosen, Gerald 194, 197 Rousseau, Jean-Jaques 178 Rowe, Joyce 201 Rozanov, Vasilij V. 91 Rüsen, Jörn 121–125 Rüth, Axel 124 Ryan, Marie-Laure 132, 138, 234

291 Rzewuski, Henryk 76–77 Pamiątki Pana Soplicy 76–77 Salinger, Jerome D. 2, 167–203, 228, 252–253 A Perfect Day for Bananafish 196 I’m crazy 177 The Catcher in the Rye 2, 167–204, 228, 252–253 Sapgir, Genrich 255–256 Očernitel’ 255 Saussure, Ferdinand de 21 Schabert, Ina 217 Scheffel, Michael 123, 129, 135 Schluchter, Manfred 30, 39 Schmid, Wolf 4–5, 12, 21, 23, 30, 38, 51–52, 57, 68, 74, 83, 85, 87–89, 92–93, 100–102, 104, 106, 109, 131, 208, 217–218, 220 Schmidt, Siegfried J. 215 Schößler, Franziska 124–125 Schultze, Brigitte 1 Seelye, John 176 Seng, Peter J. 202 Setschkareff, Vsevolod 84 Shaffer, Brian W. 158 Shakespeare, William 210 Shane, Alex M. 63, 94 Shaw, J. Thomas 224 Shaw, Peter 177–181, 202 Shen, Dan 118 Sidon, Karol 256–258 Maminka zpívá druhý hlas 256–258 Sims, Dagmar 3, 144, 147 Skalicky, Wiebke 2 Skobelev, Vladimir P. 74, 84–86 Sorokin, Vladimir 1, 260 Očered’ 1 Put’ Bro 260 Spielhagen, Friedrich 91 Stanzel, Franz K. 1, 48, 57, 65–66, 68, 98, 105–106, 116, 127, 131–132, 135

292 Steltner, Ulrich 76–78, 80 Štěpán, Ludvík 78–81 Sterne, Laurence 228 The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman 228, 247 Strauch, Carl F. 184 Striedter, Jurij 19 Swift, Jonathan 211 Szilárd, Lena 91, 94–95 Tausendundeine Nacht 155 Thresher, Klawa N. 72–74, 86–87, 92, 95, 113 Titunik, Irwin R. 4, 8–9, 29–39, 46– 47, 52, 56, 63–66, 70–71, 75–76, 85–86, 88, 93–94 Todorov, Tzvetan 130, 237 Tolstoj, Aleksej K. 77 Tolstoj, Lev N. 21, 24, 69, 88, 91, 107– 108, 209, 213, 250, 261 Anna Karenina 69 Cholstomer 261 Krejcerova sonata 209, 213, 250 Tri smerti 107–108, 247 Tschižewskij, Dmitrij 48, 51, 236 Turgenev, Ivan S. 11–13, 16, 18, 24, 26– 28, 65–66, 75, 88, 90–91, 93, 111– 112, 114, 172, 254 Andrej Kolosov 18, 26 Ermolaj i mel’ničicha 112 Kas’jan s Krasivoj Meči 111–112 Otcy i deti 172 Pervaja ljubov’ 27–28, 93, 114, 254 Tri portreta 18 Zapiski ochotnika 11–12, 65–66, 111– 112 Žid 16 Twain, Mark 2, 172, 253, 258 Adventures of Huckleberry Finn 2, 172 Uspenskij, Boris A. 208

Register

Vail, Denis 182 Vasmer, Max 7 Vinogradov, Viktor V. 7, 15–20, 27, 29, 73–74, 85, 92–93 Vološinov, Valentin N. 30 Wall, Kathleen 157, 161, 165–166 Warning, Rainer 215 Weber, Dietrich 100 Weinberg, Helen 178 Weinrich, Harald 101–103 Werlich, Egon 124 White, Hayden 122, 125 Wolf, Werner 63, 113, 266 Woodruff, Stuart C. 241 Wünsch, Marianne 233–234, 237 Wutsdorff, Irina 21 Yacobi, Tamar 117, 213 Zamjatin, Evgenij 7, 69, 91, 222 My 69, 222 Zelenka, Vojtěch 248 Žemčužnikov, Aleksej M. 77 Žemčužnikov, Vladimir M. 77 Zeh, Juli 244 Nullzeit 244 Zerweck, Bruno 208–209, 213–214, 216 Zimmermann, Silke Cathrin 2 Zipfel, Frank 240, 259 Zoščenko, Michail 4, 7, 64, 72, 84, 91, 97, 114–115 Aristokratka 114–115, 253 Banja 64